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German Pages [543]
HistorischTheologische Auslegung
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Gerhard Maier
SCM R.Brockhaus Brunnen
Historisch-Theologische Auslegung
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Neues Testament Herausgegeben von Gerhard Maier ٠ Rainer Riesner ٠ Heinz-Werner Neudorfer ٠ Eckhard J. Schnabel
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1 - 11
Gerhard Maier
SCM R.Brockhaus, Witten BRUNNEN VERLAG GIESSEN
© 2009 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg Druck: Finidr s.r.o., Tschechien ISBN 978-3-417-29727-0 (Brockhaus) 978-3-7655-9727-5 (Brunnen) Bestell-Nr. 229.727 Datenkonvertierung: Stephan Maier, Achern
INHALT
Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Datum der Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Verfasser der Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sprache und Verwandtschaft mit dem vierten Evangelium . . . . . . . 5. Zur Einheit der Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die literarische Eigenart der Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Frage nach der „Echtheit“ der Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Theologische Inhalte der Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Apokalypse in ihrem Verhältnis zum übrigen Neuen Testament 10. Text und Stellung im Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Zur Geschichte der Auslegung der Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . 12. Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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13 13 16 18 26 30 33 36 39 52 55 59 76
Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Der Eingangsteil der Apokalypse 1,1– 3,22 . . . . . . . 1. Der gebräuchliche Buchtitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überschrift 1,1-3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bucheingang 1,4-8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zu „Asien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Auferstandene beauftragt Johannes, 1,9-20 . . . . . 5. Das erste Sendschreiben: nach Ephesus 2,1-7 . . . . . . 6. Das zweite Sendschreiben: nach Smyrna 2,8-11 . . . . . 7. Das dritte Sendschreiben: nach Pergamon 2,12-17 . . . 8. Das vierte Sendschreiben: nach Thyatira 2,18-29 . . . . 9. Das fünfte Sendschreiben: nach Sardes 3,1-6 . . . . . . . 10. Das sechste Sendschreiben: nach Philadelpia 3,7-13 . 11. Das siebte Sendschreiben: nach Laodizea 3,14-22 . . Exkurs: Einige abschließende Beobachtungen zu den Sendschreiben insgesamt . . . . . . . . . . . . . B. Die Zukunft, 4,1– 22,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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77 77 77 77 88 92 105 133 150 164 180 202 216 233
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1. Die Zukunft entscheidet sich am Thron Gottes, 4,1– 5,14 . . . . . . 1.1 Am Thron Gottes, 4,1-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zu den „Wesen“, den „Cherubim“ und den „Serafim“ 1.2 Das Lamm empfängt das Buch mit den sieben Siegeln, 5,1-14 . . 2. Das Lamm öffnet die ersten sechs Siegel, 6,1-17 . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gemeinde wird bewahrt, 7,1-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der erste Teil: Die Versiegelung der Knechte Gottes, 7,1-8 . . . . . 3.2 Der zweite Teil: Die ungezählte Schar der Erlösten, 7,9-17 . . . . . 4. Das siebte Siegel, 8,1-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die sieben Posaunen, 8,6 –14,20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die ersten sechs Posaunen, 8,6 – 9,21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der Engel mit dem Büchlein, 10,1-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Messung des Tempels und die beiden Zeugen, 11,1-14 . . . . Exkurs: Deutungen von Offb 11 in der Kirchengeschichte . . . 5.4 Die siebte Posaune, 11,15-19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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255 255 274 285 316 349 351 362 375 385 386 432 451 454 494
Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis zu Band 1 Autorenverzeichnis . . . . . . . . Stichwortverzeichnis . . . . . . .
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507 507 517 525
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Vorwort der Herausgeber Die Kommentarreihe „Historisch-theologische Auslegung des Neuen Testaments“ will mit den Mitteln der Wissenschaft die Aussagen der neutestamentlichen Texte in ihrer literarischen Eigenart, im Hinblick auf ihre historische Situation und unter betonter Berücksichtigung ihrer theologischen Anliegen erläutern. Dabei sollen die frühere wie die heutige Diskussion und neben den traditionellen auch neuere exegetische Methoden berücksichtigt werden. Die gemeinsame Basis der Autoren der einzelnen Kommentare ist der Glaube, dass die Heilige Schrift von Menschen niedergeschriebenes Gotteswort ist. Der Kanon Alten und Neuen Testaments schließt den Grundgedanken der Einheit der Bibel als Gottes Wort ein. Diese Einheit ist aufgrund des Offenbarungscharakters der Heiligen Schrift vorgegeben und braucht nicht erst hergestellt zu werden. Die Kommentatoren legen deshalb das Neue Testament mit der Überzeugung aus, dass die biblischen Schriften vertrauenswürdig sind und eine Sachkritik, die sich eigenmächtig über die biblischen Zeugen erhebt, ausschließen. Wo Aussagen der biblischen Verfasser mit außerbiblischen Nachrichten in Konflikt stehen oder innerhalb der biblischen Schriften Spannungen und Probleme beobachtet werden, sind Klärungsversuche legitim und notwendig. Bei der Behandlung umstrittener Fragen möchten die Autoren vier Regeln folgen: 1. Alternative Auffassungen sollen sachlich, fair und in angemessener Ausführlichkeit dargestellt werden. 2. Hypothesen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen auch dann nicht als Tatsachen ausgegeben werden, wenn sie weite Zustimmung gefunden haben. 3. Offene Fragen müssen nicht um jeden Preis entschieden werden. 4. Die Auslegung sollte auch für denjenigen brauchbar sein, der zu einem anderen Ergebnis kommt. Unser Kommentar will keine umfassende Darstellung der Auslegung eines neutestamentlichen Buches in Geschichte und Gegenwart geben. Weder bei der Auflistung der Literatur noch in der Darstellung der Forschungsgeschichte oder der Auseinandersetzung mit Auslegungspositionen wird Vollständigkeit angestrebt. Die einzelnen Autoren haben hier im Rahmen der gemeinsamen Grundsätze die Freiheit, beim Gespräch mit der früheren und aktuellen Exegese eigene Akzente zu setzen. Die Kommentarreihe unternimmt den Versuch einer „geistlichen Auslegung“. Über die möglichst präzise historisch-philologische Erklärung hinaus soll die Exegese die Praxis von Verkündigung, Seelsorge sowie Diakonie im Blick behalten und Brücken in die kirchliche Gegen-
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wart schlagen. Die Autoren gehören zu verschiedenen Kirchen und Freikirchen der evangelischen Tradition. Unterschiede der Kirchen- oder Gemeindezugehörigkeit, aber auch unterschiedliche exegetische Meinungen wollen sie weder gewaltsam einebnen noch zum zentralen Thema der Auslegung machen. Der Nähe zur gemeindlichen Praxis wird dadurch Rechnung getragen, dass neben griechischen bzw. hebräischen Texten die entsprechenden Begriffe noch einmal in Umschrift erscheinen. Auf diese Weise kann auch dem sprachlich nicht entsprechend ausgebildeten Laien zumindest eine Andeutung der Sprachgestalt der Grundtexte vermittelt werden. Die Auslegung folgt einem gemeinsamen Schema, das durch römische Ziffern angezeigt wird. Leserinnen und Leser finden unter I eine möglichst genaue Übersetzung, die nicht vorrangig auf eine eingängige Sprache Wert legt. Unter II ist Raum für Bemerkungen zu Kontext, Aufbau, literarischer Form oder Gattung sowie zum historischen und theologischen Hintergrund des Abschnitts. Unter III folgt dann eine Vers für Vers vorgehende Exegese, die von Exkursen im Kleindruck unterbrochen sein kann. Abschließend findet man unter IV eine Zusammenfassung, in der das Ziel des Abschnitts, seine Wirkungsgeschichte und die Bedeutung für die Gegenwart dargestellt werden, soweit das nicht schon im Rahmen der Einzelexegese geschehen ist. Alle Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift ist letztlich Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde. Auch wenn die „Historisch-theologische Auslegung“ keine ausdrückliche homiletische Ausrichtung hat, weiß sie sich dem Ziel verpflichtet, der Gemeinde Jesu Christi für ihren Glauben und ihr Leben in der säkularen Moderne Orientierung und Weisung zu geben. Die Herausgeber hoffen, dass die Kommentarreihe sowohl das wissenschaftlich-theologische Gespräch fördert als auch der Gemeinde Jesu Christi über die Konfessionsgrenzen hinaus dient. Im Frühjahr 2004 Bischof Dr. Gerhard Maier, Stuttgart Dr. Heinz-Werner Neudorfer, Weil im Schönbuch Prof. Dr. Rainer Riesner, Dortmund Prof. Dr. Eckhard J. Schnabel, Deerfield/Chicago
Abkürzungen
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Abkürzungen ABD AGJU ALGHJ AncB ANRW AThANT BA BAR BASOR Bauer-Aland
BBB BBR BDAG
BDB BDR BEThL Bib. BiKi Bill. BJRL BJS BNot BS BWANT
Anchor Bible Dictionary. Hg. D.N. Freedman Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums Arbeiten zur Literatur und Geschichte des hellenistischen Judentums Anchor Bible Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Hg. W. Haase, H. Temporini Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments Biblical Archaeologist Biblical Archaeology Review Bulletin of the American Schools of Oriental Research Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Hg. W. Bauer, K. Aland, B. Aland Bonner Biblische Beiträge Bulletin for Biblical Research A Greek-English Lexicon of the New Testament and Other Early Christian Literature. Third Edition. Hg. W. Bauer, F.W. Danker, W.F. Arndt, F.W. Gingrich Hebrew and English Lexicon. Hg. F. Brown, S.R. Driver, C.A. Briggs Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. F. Blass, A. Debrunner, F. Rehkopf Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium Biblica Bibel und Kirche Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Hg. H.L. Strack, P. Billerbeck Bulletin of the John Rylands Library Brown Judaic Studies Biblische Notizen Bibliotheca Sacra Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament
8 Byz BZAW BZ BZNW CBQ CBQ.MS DJD DJG DLNT DNP DNTB DPL DSD EB EdF EKK ESV EtB ET EThL EÜ Elb.Ü EvQ EvTh EWNT FilN FRLANT fzb GBL GN GNB HAL Hfa
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Byzantinischer Text oder Mehrheitstext Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Biblische Zeitschrift Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft Catholic Biblical Quarterly Catholic Biblical Quarterly Monograph Series Discoveries in the Judaean Desert (of Jordan) Dictionary of Jesus and the Gospels. Hg. J.B. Green u.a. Dictionary of the Later New Testament and Its Developments. Hg. P.H. Davids u.a. Der Neue Pauly. Hg. H. Cancik, H. Schneider Dictionary of New Testament Background. Hg. C.A. Evans u.a. Dictionary of Paul and His Letters. Hg. G.F. Hawthorne u.a. Dead Sea Discoveries Echter Bibel Erträge der Forschung Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament English Standard Version Études Bibliques Expository Times Ephemerides Theologicae Lovanienses Einheitsübersetzung. Revision 1979 Elberfelder Bibel. Revision 1985 Evangelical Quarterly Evangelische Theologie Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. H. Balz, G. Schneider Filologia Neotestamentaria Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Forschungen zur Bibel Das Große Bibellexikon. Hg. H. Burkhardt Gute Nachricht Bibel. Revision 1997 Good News Bible Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament. Hg. W. Baumgartner, L. Koehler, J.J. Stamm Hoffnung für alle. Die Bibel
Abkürzungen
HNT HS HThK HThR HUCA ICC IDB IEJ Int. ISBE JAC JBL JBTh JETh JETS JJS JSHRZ JSJ JSNT JSNT.SS JSP JSP.SS JThS Jud. KEK KG KJV KP KuD LN LSJ LThK LÜ
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Handbuch zum Neuen Testament Griechische Grammatik zum Neuen Testament. E. Hoffmann, H. v. Siebenthal Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Harvard Theological Review Hebrew Union College Annual International Critical Commentary Interpreter’s Dictionary of the Bible Israel Exploration Journal Interpretation International Standard Bible Encyclopedia. Hg. G. W. Bromiley Jahrbuch für Antike und Christentum Journal of Biblical Literature Jahrbuch für Biblische Theologie Jahrbuch für Evangelikale Theologie Journal of the Evangelical Theological Society Journal of Jewish Studies Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Journal for the Study of Judaism in the Persian, Hellenistic and Roman Period Journal for the Study of the New Testament Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series Journal for the Study of Pseudepigrapha Journal for the Study of Pseudepigrapha. Supplement Series Journal of Theological Studies Judaica Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Zweiter Teil: Satzlehre. R. Kühner, B. Gerth King James Version Der Kleine Pauly. Hg. K. Ziegler, W. Sontheimer, H. Gärtner Kerygma und Dogma Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains. J.P. Louw, E.A. Nida A Greek-English Lexikon. H.G. Liddell, R. Scott, H.S. Jones Lexikon für Theologie und Kirche Lutherbibel. Revision 1984
10 LXX Menge MM
MNT NA27 NGÜ NIV NEB Neot. NewDocs NICNT NIGTC NRSV NSS NTA NTD NT NTOA NTS NT.S NW OBO OCD ÖTK OTP PEQ Preisigke PW RAC
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Septuaginta Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments. Übersetzt von H. Menge The Vocabulary of the Greek Testament Illustrated from the Papyri and Other Non-Literary Sources. J.H. Moulton, G. Milligan Münchener Neues Testament. Hg. J. Hainz, M. Schmidl, J. Sunckel Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 27. Auflage Neue Genfer Übersetzung New International Version Neue Echter-Bibel Neotestamentica New Documents Illustrating Early Christianity. Hg. G.H. R. Horsley, S.R. Llewelyn New International Commentary on the New Testament New International Greek Testament Commentary New Revised Standard Version Neuer sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament. W. Haubeck, H. von Siebenthal Neutestamentliche Abhandlungen Das Neue Testament Deutsch Novum Testamentum Novum Testamentum et Orbis Antiquus New Testament Studies Novum Testamentum Supplement Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Hg. G. Strecker, U. Schnelle Orbis biblicus et orientalis Oxford Classical Dictionary. Hg. S. Hornblower, A. Spawforth Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament Old Testament Pseudepigrapha. Hg. J.H. Charlesworth Palestine Exploration Quarterly Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden. F. Preisigke Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft. Hg. A.F. Pauly, G. Wissowa Reallexikon für Antike und Christentum
Abkürzungen
RB RdQ RGG RNT RSV SBB SBLDS SBLMS SBL.SP SBS SKKNT SNTSMS SNTU StANT StNT StUNT SÜ TANZ THAT ThBeitr ThBLNT ThHK ThLZ ThR ThWAT ThWNT ThZ TNIV TRE TU TynB VF VT VT.S WBC WdF
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Revue Biblique Revue de Qumran Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Auflage Regensburger Neues Testament Revised Standard Version Stuttgarter Biblische Beiträge Society of Biblical Literature Dissertation Series Society of Biblical Literature Monograph Series Society of Biblical Literature Seminar Papers Stuttgarter Bibelstudien Stuttgarter Kleiner Kommentar Neues Testament Society of New Testament Studies Monograph Series Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt Studien zum Alten und Neuen Testament Studien zum Neuen Testament Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Schlachter-Übersetzung. Revision 2002 Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament. Hg. E. Jenni, C. Westermann Theologische Beiträge Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Neubearbeitete Ausgabe. Hg. L. Coenen, K. Haacker Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament Theologische Literaturzeitung Theologische Rundschau Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Theologische Zeitschrift Today’s New International Version Theologische Realenzyklopädie Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur Tyndale Bulletin Verkündigung und Forschung Vetus Testamentum Vetum Testamentum Supplements Word Biblical Commentary Wege der Forschung
12 WMANT WUNT ZAW ZBK ZNW ZPE ZThK ZB
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Zürcher Bibelkommentare Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik Zeitschrift für Theologie und Kirche Zürcher Bibel. Revision 1971
Abk. biblischer Bücher: Gen Ex Lev Num Dtn Jos Ri Ruth 1Sam 2Sam 1Kön 2Kön 1Chron 2Chron Esr Neh Esth Hiob Ps Prov Koh Hld Jes Jer Klgl Ez Dan Hos Joel Am Ob Jona Mi Nah Hab Zeph Hag Sach Mal Mt Mk Lk Joh Apg Röm 1Kor 2Kor Gal Eph Phil Kol 1Thess 2Thess 1Tim 2Tim Tit Phlm 1Petr 2Petr 1Joh 2Joh 3Joh Hebr Jak Jud Offb Kommentare werden lediglich mit dem Namen des Verfassers zitiert. Die übrige Sekundärliteratur wird mit dem Namen des Verfassers sowie einem abgekürzten Titel angeführt. Siehe weitere Abkürzungen bei S. Schwertner. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Berlin 21992. Siehe ferner L. Coenen / K. Haacker. Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Wuppertal 1997. Der Autor gebraucht das Wort „pace“ im Sinne von „im Frieden gegen jmd.; ohne jmd. zu nahetreten zu wollen“.
1. Die Aufgabe
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Einleitung 1. Die Aufgabe Eine kleine Story, die Greg Beale erzählt,1 wirft ein bezeichnendes Licht auf das Vorhaben, die Offb zu kommentieren. Als Martin Kiddle daranging, seinen Kommentar zu schreiben, habe James Moffat, der Herausgeber der Reihe, zu ihm gesagt: „Niemand weiß, wie schwierig diese Aufgabe ist, bevor er es nicht selbst versucht hat.“ Da ist der Ozean von Tausenden von Abhandlungen und Kommentierungen, die im Lauf von beinahe 2000 Jahren entstanden sind. „Die Forschung ist kaum noch zu überblicken“, stellte Heike Omerzu 2006 fest.2 Heute wird niemand mehr behaupten können, er habe die gesamte Literatur einer überreichen Auslegungsgeschichte berücksichtigt. Da sind oft unglaublich divergierende Deutungen. Alle Arten spiritueller Deutung wurden auf die Johannesoffenbarung angewandt, sie wurde unzählige Male „aktualisiert“, sie wurde allen möglichen Methoden unterworfen, die sich im Laufe der Forschungsgeschichte einstellten. Man hat sie fast in den Himmel gehoben, man hat sie als schlimme Ausgeburt menschlicher Fantasie total verworfen. Kein Buchschicksal, das die Offb nicht erlitten hätte: manchmal auch das Vergessen. Erstaunlich war auch ihre Lebenskraft. Man konnte sie Jahrzehnte an den Rand drängen. Doch dann meldete sie sich mit umwerfender Energie zurück, und sei es durch ein Zauberwort namens „Apokalyptik“.3 Sie hat ganze Strömungen und Bewegungen der Kirchengeschichte genährt, so im Täufertum der Reformationszeit, im Pietismus, in den angelsächsischen revivals (Erweckungen). Wer eine Anschauung von dieser Lebenskraft zu erhalten wünscht, braucht sich nur der Kunstgeschichte zuzuwenden. Allein die Werke der Kunstgeschichte sind in dieser Hinsicht unübersehbar.4 Erstaunlich ist dann wiederum im Verhältnis zur Wirkungsgeschichte die ständige Klage, die Johannesoffenbarung sei schwer zu verstehen. Was Johann Salomo Semler 1771 formulierte: er finde „keine res divinas in diesem 1 2 3 4
Beale Com S. XIX. Omerzu S. 167, 1. Vgl. Aune S. xii; Beale Com S. XIX. Ein gutes Beispiel Apokal. (WUNT, 2,214) von 2006. Manche Kommentare, z.B. der von Charles Brütsch, legen aber Wert auf deren Berücksichtigung.
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finstern und albernen Buche“,5 entsprach der Auffassung Vieler. Dass die Offb dunkel und unverständlich sei, ist ein Vorwurf, der sich immer neu in der Kirchengeschichte wiederholt, von Dionysius Alexandrinus über die Gegner Augustins, ja sogar bei Spener, bis hin zur Aufklärung und nicht zuletzt in der Gegenwart.6 Interessant ist es, wie sich dieser Sachverhalt auch in der säkularen Literatur spiegelt. Als Beispiel sei das Konversations-Lexikon von Brockhaus in seiner 14. Auflage von 1901 genannt. Ihm zufolge war die Offb, „solange man in ihr nur ein prophetisches Kompendium der Welt- und Kirchengeschichte sah und die Zukunft aus ihr herauslesen wollte, eine der dunkelsten Schriften der Bibel“.7 Erst die neuere zeitgeschichtliche Erklärung habe dies geändert. Eine besondere Problematik ergab sich durch die theologiegeschichtlichen Auswirkungen der Aufklärung. Einerseits steht auch für moderne Exegeten fest: „Bis zur Aufklärung des 18. Jh. war sie [= die Offb] das beliebteste, meistgelesene, meistillustrierte Buch der Bibel.“8 Andererseits sieht man ebenso deutlich, dass sich die Offb gegen die seit der Aufklärung entwickelten historisch-kritischen Methoden sperrt. Nach Otto Böchers Worten „setzt dieses Buch des Neuen Testaments noch immer der historisch-kritischen Auslegung beachtliche Schwierigkeiten entgegen“.9 Infolgedessen divergieren jetzt die Auslegungen noch stärker als früher. Teilweise gibt man sogar den Versuch einer Verständigung auf. So schreibt Friedrich Niebergall 1923: „Über dieses Buch werden wir [= die historisch-kritischen Exegeten] uns niemals mit der Gemeindeorthodoxie, den Gemeinschaften und den Sekten verständigen können.“10 Offen ist nach wie vor auch innerhalb der historisch-kritischen Exegese die Methodenfrage. Was Traugott Holtz 1962 feststellte, gilt im Grunde heute noch: „Es ist bis jetzt nicht gelungen, zu einer Übereinstimmung über einen wenigstens im allgemeinen anerkannten Auslegungskanon für die Apc zu kommen … Es gibt keine Einigung über die Methode.“11
5 Semler I S. 123. Vgl. das Zitat von Eduard Reuß 1843 in Apokal. S. 30: „Produkt der menschlichen Phantasie“. 6 Vgl. meine Offb S. 99.158f.363.454f.458.471, andeutend auch Martin Leutzsch 2006 in BigS S. 2254; vgl. Morris S. 15. 7 Brockhaus KL S. 740. 8 Böcher Sp. 596. 9 Böcher JohApk S. IX. 10 Niebergall S. 627. 11 Holtz S. 1.
1. Die Aufgabe
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Über all den Problemen darf jedoch eins nicht vergessen werden: Die Apokalypse bleibt „das spannendste Buch der Welt“.12 Aber nicht nur „das spannendste“, sondern auch eines der einflussreichsten: „Ihr Einfluss auf die christl. Vorstellungen … aber auch auf die kirchliche Kunst und Architektur kann nicht hoch genug eingeschätzt werden“.13 In diesem Lob treffen sich moderne Exegeten mit einem der hervorragendsten Ausleger der letzten Jahrhunderte, nämlich Campegius Vitringa (1659–1722), der hier das Schlusswort haben soll: „Apocalypsis Joannis inter Prophetias omnes vere divinas hoc nomine eximia est.“14 Die Aufgabe eines Kommentars bleibt es unveränderlich, die Botschaft der Offb für die eigene Gegenwart verständlich zu machen. Dazu sind alle tauglichen Mittel einzusetzen. Eine vorherige Zensur der Methoden ist deshalb wenig sinnvoll. Wir versuchen in unserem Kommentar, möglichst viele methodische Zugänge im Auge zu behalten und sie miteinander zu kombinieren.15 Selbstverständlich gilt auch der Offb gegenüber, was Martin Luther im Blick auf die Heilige Schrift im Ganzen äußerte: „Wir müssen die Propheten und Apostel lassen auf dem Pult sitzen und wir hinieden zu ihren Füßen hören, was sie sagen, und nicht sagen, was sie hören müssen.“16 Das bedeutet das unbedingte Primat des Textes, wie er uns von der frühen Kirche überliefert wurde. „Hören“ heißt nicht: Alles muss erklärbar oder verstanden sein. „Hören“ bedeutet jedoch die eigene Offenheit des Auslegenden für die Botschaft, die er nicht durch seine überlegen auftretende Kritik oder Besserwisserei infrage stellen darf. Je länger ich an diesem Kommentar arbeitete, desto mehr neigte ich dazu, Johann Albrecht Bengel recht zu geben, der seine Erklärung mit der Feststellung begann: „Das Buch schleußt sich selbs auf.“ (§1)17
12 13 14 15
Ritt S. 5. Böcher Sp. 596. Vitringa S. 1. Ähnlich Wikenhauser S. 19; Beckwith S. 335; Charles I S. cl XXXIIIff; Carson/Moo/ Morris S. 483. 16 In seiner Vorrede zum ersten Bande seiner deutschen Schriften (1539) nach Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. von H.H. Borcherdt und Georg Merz, 3. Aufl., 1. Band, München, 1951, S. 15. 17 Bengel S. 56.
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2. Das Datum der Apokalypse Für das Datum der Abfassung der Offb sind im Laufe der Auslegungsgeschichte verschiedene Vorschläge gemacht worden.18 Sie reichen von Johannes dem Täufer, den J. Massyngberde Ford in ihrem Kommentar vorschlägt19, bis zur Zeit Domitians. Hauptsächlich geht es aber um zwei Datierungsmöglichkeiten, nämlich die Zeit Neros oder die Zeit Domitians. Für die neronische Datierung hat sich in jüngerer Zeit vor allem John A.T. Robinson eingesetzt, und zwar im Anschluss an Hort, Lightfoot und Westcott.20 Er selbst kommt auf ein Datum ca. 6 Monate nach Neros Selbstmord, „late in 68“, während der Regierung des Galba.21 Ein solcher Zeitansatz taucht schon früher auf , z.B. bei Beyschlag, Hirscht und Hilgenfeld,22 dann Wilhelm Hadorn (1928)23, Karl Heim (1937)24, Charles C. Torrey (1958)25 und Karl August Eckhardt (1961: zwischen Februar und Mai 6926). Schließlich vertritt auch Klaus Berger (1994) die Datierung im „Vierkaiserjahr“ (68/69 n.Chr.).27 Über die Gründe können wir hier nicht ausführlich handeln. Jedoch spielt die Meinung, dass die Offb noch nichts von der Eroberung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr. erkennen lasse, eine wesentliche Rolle. Mehr Anhänger findet die Ansicht, die Offb sei in der Zeit Domitians geschrieben. Als Gründe für diesen Zeitansatz nennt man u.a. die zeitgeschichtliche Situation28, vor allem die Entwicklung des Kaiserkultes in Kleinasien29, die erkennbare Christenverfolgung30, nicht zuletzt aber auch die äußere Bezeugung. Was die Entwicklung des Kaiserkultes anbelangt, so ist allerdings große Vorsicht geboten. Man muss hier Aune zustimmen: „The significance of the imperial cult in the persecution of Christians however, has frequently been overemphasized.“31 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Vgl. Carson/Moo/Morris S. 473f. Ford S. 28ff. Robinson S. 224ff. Robinson S. 248. Ihnen folgend Brockhaus KL S. 740 (vgl. dort). Hadorn S. 221. Heim Weltvollender S. 211. Torrey S. 58.85. Eckhardt S. 66ff. Berger S. 571. Andere Beispiele bei Beale Com S. 4. Vgl. Hemer S. 5. Guthrie S. 949ff; Morris S. 35ff. Vgl. Guthrie S. 949; Goppelt S. 510; Behm S. 4; Beckwith S. 201. Vgl. Guthrie S. 951ff; Zahn Einl. S. 600; Strobel S. 187. Aune S. lxiv. Auch Guthrie gibt das zu (S. 950ff).
2. Das Datum der Apokalypse
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Geht man von den Zeugnissen der Kirchengeschichte (external witnesses) aus, dann dürfte es eigentlich keinen Streit geben. „Das erste ganz gesicherte und schwerwiegende Zeugnis für die Offb liefert“ auch nach kritischen Exegeten Justinus Martyr (ca. 110–165 n.Chr.?) in seinem „Dialog mit dem Juden Tryphon“, 81,4.32 Er nennt explizit „Johannes, einer der Apostel Christi“, als Verfasser der „Apokalypse“. Diese gehört demnach in die Lebenszeit des Johannes, auch wenn Justinus kein genaueres Datum angibt. Wie Caird bemerkt, wiegt sein Zeugnis besonders schwer: „The evidence of a man who lived in Ephesus only forty years after the possible date of the writing of Revelation might seem to be unassailable.“33 Die folgende Generation gibt uns dann in Gestalt des Irenäus (ca. 115 n.Chr. geb.34) ein genaueres Datum an die Hand. Er bemerkt zunächst in Adv. haer. II, 22,5, Johannes habe „bis zu den Zeiten Trajans“ gelebt.35 Später schreibt er, die Offb sei „am Ende der Regierung des Domitian“ entstanden (Adv. haer. V, 30,3).36 Irenäus verfasste sein Hauptwerk „Gegen die Häresien“ um 185 n.Chr.37 Darin bezeichnet er sich als Schüler des Bischofs Polykarp von Smyrna, der noch mit Johannes und anderen Aposteln verkehrt habe.38 Wenn jemand, dann muss Irenäus als Angehöriger der „johanneischen Schule“ zuverlässige Nachrichten über die Entstehung der Offb besessen haben. Folgt man ihm, dann ist die Offb um 95 n.Chr. niedergeschrieben worden. Origenes39, Victorinus von Pettau (gest. wohl 303 n.Chr.)40 und Eusebius von Caesarea41 vertreten dieselbe Datierung wie Irenäus.42 Bei allen diesen Zeugnissen ist zu beachten, dass vermutlich niemand in der alten Kirchengeschichte ein Interesse daran haben konnte, das Datum einer kanonischen Schrift möglichst weit herabzudrücken – z.B. von Nero zu Domitian. Aufgrund des eindrucksvollen frühchristlichen Zeugnisses hat sich die sog. domitianische Datierung weitgehend durchgesetzt. Typisch ist, dass z.B. Kümmel und Conzelmann/Lindemann in ihren Einleitungen sagen können: Irenäus hat recht.43 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Bousset S. 20; Beckwith S. 320. Caird S. 3. So Zahn FGNK S. 31. Vgl. Euseb H.E. III, 23,3. Vgl. Euseb H.E. III, 18,3; V, 8,6. So Zahn a.a.O. S. 28. Adv. haer. III, 3,4. vgl. Zahn a.a.O. S. 35ff. Hom in Matth. 16,6. Comm in Apc 10,11; 17,10. H.E. III, 18,3; 23,3; V, 8,6. Vgl. Aune S. lix. Kümmel S. 312; Conzelmann/Lindemann S. 319.
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Auch wir gehen in unserem Kommentar davon aus, dass die Offb in der Regierungszeit Domitians (81–96 n.Chr.), also ca. 95 n.Chr., verfasst wurde.44
3. Der Verfasser der Apokalypse Während die Datumsfrage durchaus konsensfähig erscheint, ist die Verfasserfrage gegenwärtig durchaus nicht konsensfähig. In englischem Understatement formuliert: Sie ist „certainly one of great difficulty“.45 Die Antwort von McDonald und Porter, wir wüssten nicht, wer der Verfasser ist,46 bleibt dennoch unbefriedigend. Unbefriedigend ist auch das Offenlassen der Verfasserfrage.47 Man wird auch kaum mit Hadorn sagen können, die Verfasserfrage sei „peripherisch und sekundär“.48 Notieren wir zunächst diejenigen Punkte, in denen wenigstens ein relativer Konsens besteht. Kein Zweifel besteht darüber, dass „Nach der altkirchlichen Überlieferung … kein anderer als der Sohn des Zebedäus, der Jünger Jesu“, also der Apostel Johannes, der Verfasser der Offb war.49 Dies ist so offensichtlich, dass I.T. Beckwith sagen kann: „So much external testimony to the personality of the author, traceable back to almost contemporaneous sources, is found in the case of almost no other book of the New Testament.“50 Deutlich ist auch, dass vor allem wegen der semitischen Sprachfärbung und der Fundierung im AT der Verfasser ein Judenchrist51, genauer ein „palästinischer Jude“52 gewesen sein muss.
44 Aus der großen Reihe derer, die dies ebenfalls vertreten, seien hier nur genannt: Beale Com S. 4; Beckwith S. 201; Behm S. 4; Böcher Sp. 526; Bousset S. 135; Caird S. 6; Carson/Moo/Morris S. 476; Dormeyer S. 235; Elwell/Yarbrough S. 376; Flusser S. 390; Goppelt S. 510; Guthrie S. 956; Hemer S. 5; Hirschberg S. 15ff; Leclercq Sp. 2434f; Lohmeyer 3 S. 199; Lohse S. 6; McDonald/Porter S. 554; Morris S. 34.40; Schnelle S. 563; Strobel S. 187; Vielhauer S. 503; Wikenhauser S. 516; Zahn Einl. S. 585.600; Giesen S. 11; Kretschmar S. 24; Marxsen S. 233; Hinds S. IX; Mounce S. 31ff; Kiddle S. XXXVIff; Charles I S. XCIff; Piper Sp. 830. 45 Morris S. 26. 46 McDonald/Porter S. 558. Ähnlich Goppelt S. 510; Conzelmann/Lindemann S. 392. 47 So bei Schelkle S. 225ff; Barclay S. 20f. 48 Hadorn S. 222. 49 Lohse S. 4; Stuhlmacher BiblTh S. 200. 50 Beckwith S. 351. vgl. Aune S. lff. 51 Flusser S. 390; Hemer S. 2; Kümmel S. 417; Marxsen S. 232. 52 Aune S. l; Kretschmar S. 23; Lohse S. 6; Lohmeyer 3 S. 199; Hadorn S. 224.
3. Der Verfasser der Apokalypse
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Drittens steht die enge Verknüpfung und der bewusste Rückgriff auf das Alte Testament außer Frage.53 G.K. Beale konstatiert: „There is general acknowledgement that the Apocalypse contains more Old Testament references than any other New Testament book.“54 Als Viertes nötigt die Offb zu dem Schluss, dass die schlichte Verfasserangabe „Johannes“ = Jochanan (1,1.4.9; 22,8) einen Autor mit unbezweifelter Identität und höchster Autorität in Kleinasien voraussetzt.55 David E. Aune beobachtete beim Verfasser eine eindrucksvolle Bekanntschaft mit dem Alten Testament, sogar eine Kenntnis des hebräischen Textes des AT56, eine Bekanntschaft mit dem jüdischen Tempel und Kult in Jerusalem, ein semitisierendes Griechisch, eine Focussierung mancher Abschnitte auf Palästina oder Jerusalem, und meinte, schon das literarische Genre „Apokalypse“ weise auf frühes Judentum palästinischer Prägung hin.57 Er meinte, der Verfasser der Offb sei „wahrscheinlich ein Flüchtling aus Palästina in Gefolge der ersten jüdischen Revolte der Jahre 66–73 n.Chr.“58 Alle diese Beobachtungen führen auf Johannes den Zebedaiden. Gleichwohl lässt Aune diesen Schluss nicht zu. Derselbe Vorgang lässt sich bei Martin Hengel beobachten. Er rückt den Verfasser der Offb so nahe an den Zebedaiden Johannes heran, dass er sogar von einem „Doppelantlitz“ spricht: „einerseits das des Zebedaiden Johannes …, andererseits das des Gründers und Schulhauptes der johanneischen Schule, des Alten (= Presbyters) Johannes“, der eben auch der Verfasser der Offb gewesen sei.59 Peter Stuhlmacher muss feststellen: „Heute wird“ das Urteil der Alten Kirche „fast generell angezweifelt“.60 Dabei unterstellt man mitunter der Alten Kirche, ihre Identifizierung des Verfassers mit dem Apostel Johannes sei nur „eine dogmatische Aussage“.61 Ist jedoch die Bestreitung der Verfasserschaft des apostolischen Johannes weniger dogmatisch? Wir kommen nun zu den Gründen, die viele Forscher veranlassen, einen zweiten, einen „ephesinischen“ Johannes als Verfasser der Offb anzunehmen. 53 Aune a.a.O.; Lohmeyer 3 S. 191ff; Hemer a.a.O. und S. 13; Elwell/Yarbrough S. 3ff; Kraft S. 16; Rissi S. 11; Guthrie S. 964f; Torrey S. 3; Gnilka S. 398; Beckwith S. 221; Charles I S. lXV; Carson/Moo/Morris S. 477; Piper Sp. 828. 54 Beale Use S. 60. 55 Vgl. Aune a.a.O. 56 Ebenso Kretschmar S. 23. 57 Aune a.a.O. 58 Aune a.a.O. Vor ihm schon Charles I S. xl III. 59 Hengel S. 317. 60 Stuhlmacher BiblTh S. 200. 61 So Lohse S. 4.
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Es sei „unwahrscheinlich“, sagt der sonst so vorsichtige Caird („improbable“), dass es Johannes, der Sohn des Zebedäus, war.62 Warum? Caird gibt hauptsächlich zwei Gründe an: a) die einzige Autorität, die der Verfasser der Offb für sich reklamiere, sei die eines Propheten und nicht eines Apostels63, b) er spreche in Offb 21,14 so von den zwölf Aposteln, dass diese nur noch der Vergangenheit angehören könnten.64 Als weitere Gründe, die gegen eine Verfasserschaft des Zebedaiden sprechen, werden genannt: 1) Nach Offb 18,20 und 21,14 seien die Apostel lediglich eine „abgeschlossene Gruppe der Vergangenheit“65, 2) im Hauptteil der Offb gehe „der Verfasser nicht so auf die aktuelle Wirklichkeit der Gemeinden ein, wie wir das von einem in Vollmacht redenden urchristlichen Propheten erwarten“, der Verfasser könne deshalb erst aus „der dritten Generation“ stammen66, 3) wegen der verschiedenen Sprache und Theologie sei es „schlechterdings unmöglich“, dass der Verfasser der Offb mit dem Verfasser des vierten Evangeliums identisch sei67, 4) der Apostel Johannes wäre zur Zeit Domitians „schon uralt gewesen“68, 5) aus Mk 10,38f gehe hervor, dass der Apostel schon früh als Märtyrer verstarb und deshalb als Verfasser der Offb nicht mehr in Frage kommt69, 6) in der Offb sei „keine Bekanntschaft mit dem historischen Jesus erkennbar“70, 7) Irenäus sei als Hauptzeuge für eine Verfasserschaft des Zebedaiden wertlos („worthless“), weil er den Presbyter Johannes und den Apostel Johannes verwechsle oder eben ganz allgemein „kein ganz zuverlässiger Zeuge“ sei71, 8) in der frühen Kirchengeschichte gebe es Bedenken gegen eine apostolische Verfasserschaft bezüglich der Offb, so bei Papias72, Marcion73, den Alogern und Gaius von Rom74 und Dionysius Alexandrinus75. Gerade dieser Dionysius von Alexandria (Bischof ca. 247–265 n.Chr.) äußerte zum ersten Mal in der Kirchengeschichte die Meinung, ein zweiter Johannes in Ephesus habe die 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Caird S. 14. Vgl. Brütsch S. 18; Charles I S. xl III. Caird a.a.O. Kraft S. 9; Lohse S. 5f; Lohmeyer 3 S. 199; Bousset S. 35ff; Wilckens I, 4 S. 257; Aune S. l; Vielhauer S. 502. Kraft a.a.O. Kraft S. 9f. Ebenso Kümmel S. 417; Conzelmann/Lindemann S. 319; Lohse S. 5; Wickens a.a.O.; Wikenhauser S. 15. Kraft S. 10. Kraft a.a.O.; Bousset a.a.O.; Charles I S.xlvff. Conzelmann/Lindemann a.a.O.; Lohse a.a.O. Torrey S. 78; Hadorn S. 222. Vgl. Euseb H.E. III, 39; Aune S. liii. Tertullian Adv. Marc. IV, 5. Vgl. meine Offb S. 69ff. Euseb H.E. VII, 25. Vgl. insgesamt Bousset S. 22ff; Beckwith S. 340.
3. Der Verfasser der Apokalypse
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Offb verfasst. Es lohnt, hier den Wortlaut bei Dionysius festzuhalten: „Ich glaube (οἶμαι [oimai]), dass irgendein anderer von denen, die in Asien weilten, der Verfasser der Apokalypse war, da man auch sagt (φασίν [ phasin]), in Ephesus seien zwei Gräber gewesen, und jedes davon heiße Johannesgrab (καὶ ἑκατέρον Ἰωάννου λέγεσθαι [kai hekateron Ioannu legesthai]).“76 Eine große Zahl moderner Forscher hat Dionysius recht gegeben und demzufolge einen „zweiten“, „ephesinischen“ oder einen „Presbyter Johannes“ zum Verfasser der Offb erklärt.77 Dass „Johannes“ nur ein Pseudonym darstellt, wird allgemein ausgeschlossen.78 Aber sind die genannten Gründe tragfähig? 1) Dass Johannes nur die Autorität eines Propheten, aber nicht die eines Apostels für sich in Anspruch nehmen wolle, ist durch nichts gerechtfertigt. Wollte man aus Offb 22,9 einen solchen Schluss ziehen („deine Brüder, die Propheten“), dann müsste man auch aus 1Petr 5,1 den Schluss ziehen, dass Petrus nur Presbyter und nicht Apostel gewesen sei. Im Gegenteil: Der schlichte Name „Johannes“ und die Form einer Enzyklika in Offb 1,4 deuten weit mehr auf einen Apostel als auf einen der zahlreichen Propheten oder Presbyter. Überdies fehlt jedes altkirchliche Zeugnis, dass Johannes nur ein Prophet gewesen wäre.79 2) Dass Offb 18,20 und 21,14 nur den Schluss zulassen, die Apostel gehörten alle schon der Vergangenheit an, ist ebenso wenig begründet. Vielmehr liegt die Aussage dieser Stellen darin, dass die Apostel eine Sonderstellung innehaben. Aber hat die Sonderstellung des Apostolats etwa dazu geführt, dass sich Paulus aus Gründen der Bescheidenheit nicht unter die Apostel eingereiht hätte? Röm 1,1; 1Kor 15,9ff und viele andere Stellen bezeugen das Gegenteil, erst recht Eph 2,20, wenn man dessen paulinische Verfasserschaft akzeptiert. Auch die Art, wie der Verfasser des vierten Evangeliums seine Zeugenschaft betont (Joh 19,25; 21,24), spricht dafür, dass sich der Verfasser der Offb durchaus als Mitglied des Apostel-Kreises betrachten konnte.80 76 Nach Euseb H.E. VII, 25,16. Dazu Bordenhewer: reine „Vermutung“ (S. 446,1). 77 So Bousset S. 38; Conzelmann/Lindemann S. 319f; Dormeyer S. 236; Hengel S. 275ff; Kraft S. 11; Kretschmar S. 23f; Kümmel a.a.O.; Lohmeyer 3 S. 199; Lohse S. 5f; Marxsen S. 232; Schnackenburg S. 261; Stuhlmacher BiblTh S. 203; Torrey S. 78; Vielhauer S. 502; Wikenhauser S. 16; Wilckens I,4 S. 256ff; auch Joseph Ratzinger S. 265ff; Charles S. xlIIIff. 78 Vgl. Hirschberg S. 12; Dormeyer S. 235; Hadorn S. 222; Mounce S. 25. Nur vereinzelte Stimmen wie Aune S. xlix halten dies für möglich. 79 Gegen Caird S. 14; Satake S. 73. Wie wir Zahn Einl S. 613 unter Hinweis auf Mt 19,28; 1Kor 12,28; Eph 2,20 u.a. 80 So auch Beckwith S. 351. Gegen Caird a.a.O.; Hengel S. 33,65.311; Kraft S. 9; Lohse a.a.O.; Lohmeyer a.a.O., Bousset a.a.O., Aune a.a.O.; Vielhauer a.a.O. Vgl. wieder Zahn Einl S. 615; FGNK S. 176; Piper Sp. 829.
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3) Dass der Verfasser auf die damalige Situation der Gemeinden nicht so eingeht, „wie wir das … erwarten“,81 darf kein Argument bilden. Denn nicht die Erwartung irgendwelcher Leser oder Leserinnen nach 1900 Jahren, sondern der von Johannes wahrgenommene Auftrag kommt als Motiv und Maßstab seines Schreibens in Frage. 4) Die Beurteilung von Sprache und Inhalt der Offb in ihrem Verhältnis zum vierten Evangelium schwankt in der modernen Forschung. Hengel, dem niemand philologische Nachlässigkeit vorwerfen kann, sagt: „Auf jeden Fall gehört die Apokalypse zum Corpus Johanneum“.82 Jörg Frey moniert, dass bei der Beobachtung von Sprache, Stil und Inhalt die „Auswertung“ der Beobachtungen in der Forschung „in völlig gegensätzlicher Weise erfolgen konnte“.83 Er selbst ordnet nach einer Untersuchung von Vokabular, Phraseologie, Syntax, Stil, Motiven und theologischen Parallelen beides, die Offb und das vierte Evangelium, vorsichtig dem „Presbyter“ Johannes zu84. Auch andere Forscher wie Lohmeyer, Carson/Moo/Morris, Eckhardt, Feine, Schlatter und Zahn nehmen eine gemeinsame Autorschaft für die Offb und das vierte Evangelium an.85 Es kann also keine Rede davon sein, dass eine solche gemeinsame Verfasserschaft „schlechterdings unmöglich“ sei.86 Wir selber versuchen im nächsten Paragrafen noch einmal zu Sprache und Verhältnis zum vierten Evangelium Stellung zu nehmen. 5) Zum Alter des Apostels Johannes, wie es Irenäus Adv. haer. V. 30,3 voraussetzt, ist Folgendes anzumerken: Dass Johannes noch bis zur Regierungszeit Trajans (98–117 n.Chr.) lebte, wird einmütig durch die kleinasiatischen Presbyter, Irenäus, Clemens Alexandrinus und Euseb überliefert.87 Joh 21,20ff deutet ebenfalls darauf hin, dass Johannes lange lebte.88 Ist Johannes, der Sohn des Zebedäus, ca. 10 n.Chr. geboren, dann wäre er bei der Abfassung der Offb um 95 n.Chr. ca. 80 Jahre gewesen und am Beginn de Regierungszeit Trajans zwischen 85 und 90 Jahren. Warum er als „uralt“ nicht mehr für die Abfassung der Offb in Frage kommen sollte, ist nicht ganz plausibel.89 81 82 83 84 85 86 87 88 89
So Kraft S. 9. Hengel S. 312. Bei Hengel S. 331. A.a.O. S. 415f. Lohmeyer 3 S. 195; Carson/Moo/Morris S. 470; Eckhardt S. 58; Feine S. 389.391; Schlatter S. 1; Zahn Einl S. 614. Gegen Kraft a.a.O. Vgl. Irenäus Adv. haer. II, 22,5; III, 3,4; V, 30,3; Eusebius H.E. III, 23,1ff. Vgl. Zahn FGNK S. 184; H.-W. Neudorfer, Art.: Johannes, Apostel, GBL, 2, S. 697f. Gegen Kraft S. 10. Guthrie S. 946 nennt als Beispiel George Bernard Shaw, der noch in seinen 90er-Jahren schrieb.
3. Der Verfasser der Apokalypse
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6) Mk 10,38f reicht nicht aus, um einen Märtyrertod des Johannes vor Abfassung der Offb zu beweisen. Warum sollte die frühe Überlieferung der Christen ein solches apostolisches Martyrium unterdrückt haben? Späte Quellen, z.B. Märtyrerlisten, genügen hier nicht als Beweis. Das NT schweigt völlig von einem Martyrium des Apostels Johannes. Man wird hier Heinz-Werner Neudorfer zustimmen müssen: „Auch der gemeinsame Tag der beiden Apostel Jakobus und J. (= Johannes) in alten Märtyrerkalendern beweist nicht, dass beide zugleich gestorben sind. Ebenso bedeutet das Wort vom Trinken des Kelches Christi und vom Getauftwerden mit der Taufe Christi nicht notwendigerweise, dass beiden ein gewaltsames Ende bestimmt war.“90 7) Dass in der Offb „keine Bekanntschaft mit dem historischen Jesus erkennbar“ sei91, kann mehrere Gründe haben. Übrigens bezweifelt Zahn den Sachverhalt. Er meint stattdessen: „Dass er (= der Verfasser der Offb) ehedem Jesum im Fleisch gesehen hatte, scheint sich aus 1,17 bei sorgfältiger Auslegung zu ergeben.“92 Jedenfalls lässt sich aus solcher Perspektive die Verfasserschaft des Apostels Johannes nicht ausschließen. 8) Irenäus soll „wertlos“ oder wenigstens „kein ganz zuverlässiger Zeuge“ sein.93 Martin Hengel warnt jedoch vor solchen abschätzigen Urteilen „heutiger kritischer Forschung“: „Sie macht es sich dabei vielleicht doch zu leicht“.94 Es empfiehlt sich nicht, mit pauschalen Wertungen zu arbeiten. Die Zeugenschaft des Irenäus ist vielmehr in jedem Einzelfall zu prüfen. 9) Dass die Verfasserschaft des Apostels Johannes bezüglich der Offb im Verlauf der Kirchengeschichte bestritten wurde, ist richtig. Das trifft, wie oben bemerkt, für Marcion (hauptsächliche Wirkungszeit ca. 135–150 n.Chr.)95, für Gaius von Rom und die Aloger (ca. 200 n.Chr.)96 sowie für Dionysius von Alexandrien zu.97 Für Papias jedoch, der manchmal zu den Bestreitern der apostolischen Verfasserschaft der Offb gerechnet wird98, ergibt eine genauere Nachprüfung, dass er in Wirklichkeit Johannes den Apostel als diesen Verfasser betrachtet.99 Papias gehört zu den Traditionsträgern, auf die sich Ire-
90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
Neudorfer a.a.O. S. 698; ebenso Piper Sp. 829. Gegen Bousset S. 35ff; Kraft S. 10. So Conzelmann/Lindemann S. 319; Lohse S. 5. Zahn FGNK S. 176. Torrey a.a.O.; Hadorn a.a.O.; Eckhardt S. 58. Hengel S. 15, vgl. S. 13,10. Vgl. Tertullian Adv. Marc. IV,5. Vgl. Eusebius H.E. II, 25,5ff; III, 28,1ff. Vgl. Eusebius H.E. VII, 25. So Bousset S. 38. Sogar von Charles (I S. xl). Vgl. meine Offb S. 62ff; Mounce S. 26.
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näus, aber auch Eusebius von Cäsareä berufen.100 Irenäus nennt ihn „den Hörer des Johannes“ (ὁ Ἰωάννου μὲν ἀκουστής [ho Ioannu men akustes]).101 Demnach zählt Papias zu den hervorragenden Vertretern der zweiten apostolischen Generation in Kleinasien. Dass Irenäus so selbstverständlich in Johannes dem Apostel den Verfasser der Offb gesehen haben sollte, wenn Papias anderer Meinung gewesen wäre, ist schwer vorstellbar. Den Mangel einer überlieferungsgeschichtlichen Basis bei Dionysisus von Alexandrien haben wir oben schon angemerkt. Alles in allem reichen also die relativ späten Zeugnisse einer Bestreitung der Verfasserschaft des Apostels Johannes nicht aus, um eine solche Verfasserschaft tatsächlich auszuschließen. Im Ergebnis ist festzustellen, dass die Annahme eines zweiten „ephesinischen“ Johannes als Verfasser der Offb auf viel zu schwachen Füßen steht. Was spricht nun für den Apostel und Zebedäussohn Johannes als Verfasser? Da ist das klare Zeugnis des Justinus Martyr um 150 n.Chr., der in seinem „Dialog mit dem Juden Tryphon“ (81,4) „Johannes, einen der Apostel des Christus (Ἰωάννης, εἷς τῶν ἀποστόλων τοῦ Χριστοῦ [Ioannes, heis ton apostolon tu Christu])“ als Verfasser der Offb nennt. Schon Caird hat darauf hingewiesen, dass Justinus ja nur 40 Jahre nach Abfassung der Offb in Ephesus lebte und seinem Zeugnis auch deshalb ein hoher Wert zukommt.102 Da ist das ebenso eindeutige Zeugnis des Irenäus, Bischof von Lyon, in Kleinasien aufgewachsen (geb. ca. 115 n.Chr.). Als Schüler Polykarps von Smyrna, der Johannes noch persönlich kannte103, und prominentes Mitglied der „kleinasiatischen Schule“ weiß er sich im Besitz gesicherter Tradition.104 Für ihn ist es selbstverständlich, dass die Offb vom Apostel Johannes geschrieben wurde.105 Auch das Zeugnis des Polykrates, Bischof in Ephesus ca. 190 n.Chr., ist von Bedeutung. Er schreibt, dass der Apostel Johannes seine letzte Ruhestätte in Ephesus gefunden habe.106 Von einem zweiten Johannes von Ephesus wissen alle diese Kleinasiaten nichts! Da Irenäus sich auch auf Papias und „die Presbyter“ stützt, die Johannes noch persönlich kannten107, müssen wir annehmen, dass schon die Generation vor Irenäus von keinem zweiten Johannes 100 Vgl. Eusebius H.E. II, 15,2. 101 Adv. haer. V, 33,4. 102 Caird S. 3. Vgl. Eckhardt S. 58; Beckwith S. 320; Wikenhauser S. 13; Hadorn S. 225; Morris S. 26; Carson/Moo/Morris S. 468. 103 Irenäus Adv. haer. III, 3,4. 104 A.a.O. III, 1,1. 105 A.a.O. IV, 14,2; 17,6; 18,6; 20,11; 21,3; V, 26,1; 28,2; 30,3; 34,2. Vgl. Guthrie S. 932; Morris a.a.O.; Carson/Moo/Morris a.a.O. 106 Eusebius H.E. III, 31,2ff; V, 24,1ff. 107 Adv. haer. V, 33,4; 36,1.
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von Ephesus wusste und einmütig die Abfassung der Offb durch den Apostel Johannes vertrat. Morris kam deshalb zu dem Urteil: Die „early literature“ der Kirche sei „unanimous in ascribring this work to John the apostle“.108 Dieses Urteil erhärtet sich, wenn man weitere Zeugnisse mit einbezieht. Sowohl der Kanon Muratori (ca. 200 n.Chr.) als auch Clemens von Alexandria (ebenfalls ca. 200 n.Chr.)109 und Tertullian (ca. 150–222/223 n.Chr.)110 bezeugen für die Offb eine apostolische Verfasserschaft. Selbst Bousset, der im Endergebnis eine solche apostolische Verfasserschaft ablehnt, bemerkt zu Tertullian: „Auch Tertullian kennt nur einen Johannes, den Apostel, und zitiert besonders in seinen montanistischen Schriften die Offb sehr häufig“.111 Die Reihe lässt sich fortsetzten mit Hippolyt (ca. 160/170–238 n.Chr.)112, Origenes (ca. 185–254 n.Chr.)113 und dem ziemlich widerwilligen Zeugnis des Eusebius114. Halten wir noch einmal fest: Bis zur Mitte des 3. Jh. n.Chr., bis zu Dionysius von Alexandrien, kennt man keinen zweiten Johannes von Ephesus.115 Außer der Zuweisung an Kerinth, die Gaius von Rom und die Aloger vorgenommen haben, ist neben dem Apostel Johannes kein zweiter menschlicher Verfassername im Spiel. Und noch für den mit Dionysius zeitgleichen Origenes stellt Bousset fest: „Für Origenes existieren keinerlei Bedenken“ hinsichtlich der Verfasserschaft des Apostels Johannes.116 Beckwith behält also recht: „the theory of a fictitious John … raises difficulties of which no satisfactory solution is given“.117 Die äußeren Kriterien müssen immer die Priorität vor den inneren behaupten. Aber auch die inneren Kriterien schließen eine Verfasserschaft des Apostels nicht aus.118 Deshalb gehen wir in unserm Kommentar davon aus, dass Johannes, Sohn des Zebedäus und Apostel, der Verfasser der Offb ist.119 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119
Morris a.a.O. Paed II, 108.119; Quis dives 42; Strom VI, 106.107. Z.B. Adv. Marc. III, 14,3; 24,4. Bousset S. 21. Vgl. Beckwith S. 339; Guthrie S. 933; Morris a.a.O.; Carson/Moo/Morris S. 468; Aune a.a.O.; Strobel S. 187. De Antichr 36-42. Vgl. Aune a.a.O.; Guthrie S. 934; Carson/Moo/Morris a.a.O.; Wikenhauser S. 13. In Ioann V, 3; Eusebius H.E. VI, 25,9. Vgl. Guthrie S. 933. H.E. III, 18,1f; 24,18; V, 8,5ff; VI, 25,9; VII, 25,1ff. Ebenso Morris S. 26; Zahn S. 62ff; Bardenhewer S. 446f. Wie Aune S. liii zu der Meinung kommt, für den Zebedaiden spreche nur „little actual evidence“, ist unverständlich. Bousset S. 22. Beckwith S. 346. Ähnlich Hadorn S. 225. Carson/Moo/Morris S. 469. Ebenso z.B. Beckwith S. 394.351ff; Carson/Moo/Morris S. 468ff; Bardenhewer S. 446f; Guthrie S. 948; Rissi S. 21; Behm S. 5; Frey S. 23; Elwell/Yarbrough S. 376f; Leclercq
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Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
4. Sprache und Verwandtschaft mit dem vierten Evangelium Bisher ist schon deutlich geworden, dass die Ausleger über die Sprache der Offb und ihre Verwandtschaft mit dem vierten Evangelium (JohEv) verschiedener Meinung sind. Zum Teil wird die Unterschiedlichkeit so stark betont, dass man es als „ausgeschlossen“ betrachtet, dass JohEv und Offb „denselben Autor“ haben sollen.120 Träfe diese These zu, dann wäre a) die altkirchliche Tradition über den Verfasser der Offb widerlegt, b) die Verfasserfrage folglich neu aufzurollen und c) die neutestamentliche Theologie eben von dieser These her zu konzipieren. Eine Unterscheidung der Verfasser von Evangelium und Offb birgt überdies die Gefahr, der Offb eine judaisierende Tendenz zu unterstellen. Es genügt, hier wenige Stimmen zu zitieren. 1912 konnte man im „Lehrbuch der evangelischen Dogmatik“ von Friedrich August Berthold Nitzsch, bearbeitet von Horst Stephan, lesen, die Offb enthülle, „dass in diesen judenchristlichen Kreisen die jüdische Vorstellungsform und der neue christliche Gedankeninhalt sich nicht klar sonderten“.121 Im Hintergrund stand Ferdinand Christian Baurs Überzeugung, dass die Offb der „Inbegriff des Judenchristentums“ sei.122 Auch Bultmanns Urteil, die Offb enthalte „ein schwach christianisiertes Judentum“,123 gehört letztlich in diese Linie. Noch schärfer äußerte sich 1923 Friedrich Niebergall, der zu Offb 7,1-8 anmerkte: Dieses Stück „judenzt“ zu sehr, um eine Verwendung zu ermöglichen.124 Das Brockhaus KonversationsLexikon von 1901 spiegelt denselben Vorwurf der Judaisierung, wenn es die Offb in Sprache und Inhalt vom vierten Evangelium absetzt wegen des „specifisch judaisierenden Standpunktes der A.“125 Wir haben in der knapp bemessenen Einleitung dieses Bandes nicht die Möglichkeit, das Sprachproblem und die Verwandtschaft mit dem JohEv in extenso zu erörtern. Wenige Hinweise mögen genügen.
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Sp. 2434; Strobel S. 186; Zahn Einl S. 615; Feine S. 389; Eckhardt S. 58; Hadorn S. 223ff; Hinds S. IX; vorsichtig Mounce S. 31. Kümmel S. 416,49 nennt noch: Alberts, Höpfl-Gut, Mariani, Michaelis, de Zwaan, Stauffer. Beckwith S. 347 nennt: Sanday; Stanton; Reynolds; Drummond; Simcox; Batifol. So Conzelmann/Lindemann S. 392; Kraft S. 9f; Wilckens I,4 S. 257. Schon Ferdinand Christian Baur (Christophersen S. 371f). Weiter Kiddle S. XXXVf. Für zwei verschiedene Verfasser auch Ratzinger S. 265ff. Nitzsch S. 722. Christophersen S. 367. Bultmann NT S. 525. Niebergall S. 635. Brockhaus KL S. 740.
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Wir versuchen zunächst wieder, den relativen Konsens nachzuzeichnen. Der „Bilinguismus“, von dem August Strobel spricht126, wird in der gesamten Forschung registriert. Die Erkenntnis, dass „der Verf. hebräisch dachte, auch als er griechisch schrieb“,127 wird weithin geteilt. Neuerdings wächst die Neigung, in der Sprache der Offb ein gewollt semitisierendes Griechisch zu sehen, also ein bewusstes Stilmittel, und nicht etwa die sprachliche Unfähigkeit des Verfassers anzunehmen.128 Dazu stimmt die Annahme, dass der Verfasser der Offb „eine eigene Kenntnis des hebr. und aram. Urtextes des AT“ verrät.129 Im Ergebnis ist das Griechisch der Offb „the most peculiar Greek in the NT“.130 Aune zählt in der Offb 128 Hapaxlegomena.131 Ob die ursprüngliche Sprache bzw. die sprachliche Grundlage das Aramäische war,132 muss dagegen zweifelhaft bleiben. Torrey geht soweit, eine ursprüngliche Abfassung in einer semitischen (aram.) Sprache anzunehmen, die dann ins Griechische übersetzt wurde.133 Aber angesichts des Briefstils der Offb ist eine solche Annahme unwahrscheinlich.134 Vor Jahrzehnten (1920) hat R.H. Charles eine umfassende Untersuchung von Grammatik, Diktion, Vokabular und Phraseologie der Offb vorgelegt.135 Dabei kam er zu dem Ergebnis, Offb und JohEv stammten „from different authors“. Er bemerkte ausdrücklich, er vollende hiermit das Werk des Dionysius Alexandrinus.136 Charles kam jedoch auch nicht an der Einsicht vorbei, dass Offb und JohEv trotz der verschiedenen Verfasser irgendwie zusammenhängen.137 Ein dreiviertel Jahrhundert später (1993) hat Jörg Frey noch einmal sorgfältig das „Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum“138 überprüft. Frey zufolge bestehen nach wie vor offene Fragen, sogar Aporien in diesem Verhältnis. Er meint, wir müssten „die An126 Strobel S. 180. Vgl. Stuhlmacher BiblTh S. 203; Torrey S. 13f. 127 So J. Schmid, von Kümmel S. 410 zustimmend zitiert; ebenso Charles I S. X. Vgl. Hengel S. 311 und Aland Texte S. 61 („Judengriechisch“). 128 So z.B. Kraft S. 15. Torrey S. 16 weist darauf hin, dass sich in der Offb für alle Verstöße gegen die griech. Grammatik auch korrekte Beispiele finden. 129 Kümmel a.a.O. 130 Aune S. clxii. Vgl. Blass-Debrunner § 136; Charles a.a.O. 131 Aune S. ccvii. 132 So Torrey S. 5.27ff; Lohmeyer 3 S. 195. 133 Torrey S. 19. 134 Vgl. Carson/Moo/Morris S. 471; Eckhardt S. 59. 135 Charles I S. XXIXff. 136 „completing … the work of Dionysius the Great of Alexandria“ (S. XXXVII). 137 S. XXXII: „related to each other“. 138 Appendix bei Hengel S. 326ff.
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nahme der Komposition beider Werke (= JohEv und Offb) durch denselben Autor als höchst unwahrscheinlich, ja nahezu ausgeschlossen“ betrachten.139 Andererseits sei damit die Frage noch nicht ad acta gelegt. Vielmehr lägen Offb und JohEv so eng beieinander, dass wir „einen irgendwie gearteten Schulzusammenhang“ bzw. einen gemeinsamen Bezug zum ephesinischen Presbyter Johannes annehmen müssten.140 Man kann nicht übersehen, dass Jörg Frey mit diesen Bewertungen in eine Spannung zu Martin Hengel gerät, der ganz bewusst „gegen Dionysios von Alexandrien“141 argumentiert und die Offb gerne demselben Verfasser zuschreiben möchte wie das Johannesevangelium.142 Aufgrund der soeben geschilderten Situation kann man den relativen Konsens in der Forschung noch einmal dahin erweitern, dass Offb und JohEv irgendwie zusammenhängen müssen. Hat Swete nicht doch recht, wenn er „a strong presumption of affinity between the fourth Gospel and the Apocalypse“ beobachtet?143 Und werden nicht doch die Differenzen zwischen dem JohEv und der Offb oft stärker betont als die Gemeinsamkeiten?144 In unserem Kommentar haben wir bisher in Sprache und Inhalt der Offb nichts entdeckt, das einen gemeinsamen Autor von Offb und JohEv ausschließen würde. Jedoch ergab sich eine Reihe von Beobachtungen, die eine Affinität von Offb und JohEv nahelegen. Wir listen einige davon auf: 1) Das Verb δίδωμι [didomi] wird in Offb 1,1 in gleicher Weise gebraucht wie im JohEv (vgl. Joh 3,27.34.35; 5,22.26.27.36). 2) Die Offb spricht eher von „Knechten Gottes“ als von „Knechten Christi“ (vgl. Offb 1,1; 7,3; 10,7; 11,18; 15,3; 19,2.5; 22,3.6 mit 2,20) und entspricht damit Joh 15,12ff. 3) Die Kette der Offenbarungsmitteilung vom Vater über Jesus Christus zum Apostel und Jünger in Offb 1,1 erinnert auffallend an die Offenbarungsund Zeugenketten des JohEv (vgl. Joh 6,57; 14,20.23; 15,1ff; 15,10ff; 17,1ff). 4) Der Verfasser der Offb kennzeichnet sich als „Zeugen“ (1,2.9). Dasselbe tut aber auch der Verfasser des JohEv (vgl. Joh 19,5; 21,24).145
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A.a.O. S. 381. A.a.O. S. 415. Hengel S. 313. Hengel S. 312. Swete S. CXXX, zitiert von Mounce S. 30. Mounce a.a.O. Vgl. dazu Frey bei Hengel S. 389.
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5) Mit dem „Bewahren“ (τηρέω [tereo]) des Wortes stoßen wir in Offb 1,3 auf ein Motiv, das nach Auskunft von Harald Riesenfeld „Bes in den joh Schriften“ wichtig ist (achtzehn mal im JohEv!).146 6) Der casus nominativus nach ἀπό [apo] in Offb 1,4 hat seine nächste Parallele auffallenderweise wieder im JohEv (Joh 13,13).147 7) Das πρωτότοκος [ prototokos] von Offb 1,5 steht inhaltlich in einem engen Bezug zum μονογενής [monogenes] des JohEv (vgl. Joh 1,14.18).148 8) „Dem, der uns liebt“ in Offb 1,5 führt uns erneut in den Bereich der Sprachwelt und Theologie des JohEv (vgl. 3,16; 13,1; 15,9ff). 9) Ein Satzanschluss wie in Offb 1,6, bei dem ein Aorist auf vorausgehende Partizipien folgt, findet sich in allen johanneischen Schriften (vgl. Joh 15,5; 2Joh 2; Offb 1,5f; 2,2.9; 3,7.9).149 Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen. Wir fügen nur noch wenige Beispiele aus dem Schlussteil dieses ersten Bandes an: 10) Das Verb θεωρέω [theoreo], das uns in Offb 11,12 begegnet, ist zwar im NT häufig. Es fällt aber auf, dass die meisten Belege (24 von insgesamt 58) im JohEv zu finden sind. Nach W. Michaelis ist das Präsens θεωρέω [theoreo] „wenigstens bei J an den Platz von ὁράω getreten“.150 Auch in Offb 11,12 bewegen wir uns also in der Sprachwelt des Johannes. 11) Der „Zorn“ (ὀργή [orge]) Gottes ist nicht nur ein Thema in Offb 11,18, sondern auch in der Täuferpredigt des JohEv (Joh 3,36). 12) Selbst der „Lohn“ in Offb 11,18 (und 22,12) hat eine Entsprechung im JohEv (4,36) und im 2Joh (8). 13) In der Wertung der alttestamentlichen Propheten lässt sich Offb 11,18 u.a. mit Joh 8,39ff.56 vergleichen. Die eigenen fortlaufenden Beobachtungen im Kommentar hindern uns daran, für Offb und JohEv verschiedene Verfasser anzunehmen. Vielmehr drängen sie darauf, von einem engen Zusammenhang der Offb mit dem vierten Evangelium auszugehen und nur mit einem Autor zu rechnen, der sowohl die Offb als auch das JohEv (und die Johannesbriefe) verfasst hat. Darin stimmen wir also mit dem altkirchlichen Zeugnis überein.151
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Art. τηρέω usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 141. Vgl. dazu Dionysius Alex. bei Euseb H.E. VII, 25,16. Vgl. W. Michaelis, Art. πρῶτος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 875. Vgl. Blass-Debrunner §468,6. Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, S. 345. Ebenso im Resultat Schlatter BFchTh S. 7.107f; Piper Sp. 829f; Lohmeyer 3 S. 190ff; Feine S. 389ff; Carson/Moo/Morris S. 472; Beckwith S. 354ff; Zahn Einl S. 613ff; Hadorn S. 225; Mounce S. 30f; Strobel S. 186.
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5. Zur Einheit der Apokalypse Die Frage nach der Einheit des Buches bricht vor allem auf zwei Feldern auf: 1) als Frage nach den Quellen, aus denen der Verfasser schöpft, 2) als Frage nach der Herkunft bestimmter Stücke, z.B. Offb 11,1f, die er seinem Werk einverleibt hat. Zunächst ist mit O.A. Piper festzuhalten, dass die Offb „Bis zum Ende des 18. Jh. … allgemein dem Apostel Johannes, dem Zebedaiden, zugeschrieben“ wurde, und zwar als ein einheitliches Werk.152 Ferner ist mit Beckwith festzustellen, dass die Offb nie in einer anderen Form zirkulierte als in der jetzigen. Von daher kann eine bloße Kollektion verschiedener Dokumente ausgeschlossen werden.153 Die Überlieferungsgeschichte („traditional theory“) unterstützt also eindeutig die Annahme der Einheit der Offb.154 Der Versuch, innerhalb der Offb Quellen oder eingearbeitete Stücke herauszuschälen, stößt auf ein gravierendes Hindernis: Das ist die einheitliche Sprache der Offb in allen ihren Teilen.155 Eine ganze Reihe von Forschern äußert deshalb eine generelle Skepsis gegenüber quellenkritischen Schichtungen.156 Dabei spielt seit der Religionsgeschichtlichen Schule (Gunkel, Bousset, Boll u.a.) die postulierte Abteilung bestimmter Stoffe der Offb aus der antiken Mythologie eine Rolle. Diese Problematik wird uns verstärkt im zweiten Band, insbesondere bei der Erklärung von Kapitel 12 und 13, beschäftigen.157 Bei der Arbeit an diesem ersten Band erwies sich jedenfalls eine direkte Ableitung irgendwelcher Aussagen aus der antiken Mythologie nirgendwo als naheliegend, hilfreich oder gar nötig. Wenn überhaupt, dann taucht „mythologisches“ Material höchstens als „gemeinsemitisches Material“ auf, „das der Seher im AT vorgefunden hat“.158 Nach der bisherigen Kommentararbeit können wir weitgehend Charles C. Torrey zustimmen, der nur drei „Quellen“ der Offb entdeckt: 1) AT, 2) jüdische und judenchristliche Eschatologie, 3) „the writers own creative mind“. 159 Unbedingt zu ergänzen ist Torreys These jedoch dadurch, dass der Eschatologie Jesu eine entscheidende Rolle eingeräumt werden muss. 152 153 154 155 156
Piper Sp. 829. Beckwith S. 218 („inconceivable“). Vgl. Guthrie S. 969. Vgl. Piper Sp. 830; Beckwith S. 222. Z.B. Beckwith S. 219; Morris S. 40f; Strobel S. 181; Piper a.a.O.; Guthrie S. 966f; bestätigt von Aune S. cvi. 157 Vgl. Conzelmann/Lindemann S. 317; Omerzu passim. 158 Piper S. 829. 159 Torrey S. 5. Ähnlich hat schon Schlatter Theol S. 127 argumentiert.
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Die sog. „Fragmentenhypothese“, die das Buch als Zusammenfügung verschiedener Fragmente oder Quellen versteht, dürfte heute nicht mehr ernstlich in Frage kommen.160 Aber sind nicht doch Einzelstücke in die Offb aufgenommen worden, die ursprünglich anderer Herkunft waren?161 Für Offb 1–11 stellt sich diese Frage besonders im Blick auf 11,1-2. W. Bousset hat mit dem Gewicht seiner wissenschaftlichen Reputation dafür plädiert, Offb 11,1f als ein zelotisches Flugblatt aufzufassen, das einer zelotischen Gruppe kurz vor der Tempelzerstörung des Jahres 70 n.Chr. versichere, dass die Römer das Innere des Tempels nicht erobern dürften. Gelehrte wie E. Lohse, U.B. Müller, G. Kretschmar, H.T. Robinson und neuerdings (1988) auch D. Flusser sind ihm darin gefolgt.162 Flusser sieht im ganzen Abschnitt Offb 11,1-13 „a fragment of one Jewish apocalyptical writing“.163 E. Lohmeyer veränderte Boussets These dahin, dass Offb 11,1f einer judenchristlichen Gruppe entstammt, die an der Erhaltung des Tempels interessiert war.164 Aber beide Male lässt es sich nicht plausibel machen, weshalb Johannes ca. 25 Jahre nach der Tempelzerstörung eine solche Meinung in Form einer himmlischen Botschaft in sein Werk aufgenommen haben sollte, wenn er doch a) selbst nicht dieser Meinung war, und b) die Geschichte längst über sie hinweggeschritten war. Überdies lässt sich Offb 11,1f viel besser deuten, wenn man den Tempel, den Altar und die Anbeter auf die wahre Gemeinde Jesu Christi bezieht. Ihr wird dann die Bewahrung in den kommenden Schrecknissen zugesichert – analog Offb 7. Im Ergebnis kommen wir deshalb zu dem Urteil, dass auch Offb 11,1f aus der originären Schau des Johannes stammt.165 Auch für andere Einzelstücke lässt sich der Nachweis nicht-johanneischer Herkunft nicht führen. Angesichts der Schwierigkeiten, die Offb auf verschiedene Quellen aufzuteilen, empfahl R.H. Charles, grundsätzlich von einer Einheit des Buches auszugehen. Allerdings modifizierte er diese Einheit nach zwei Richtungen: a) der schlussendliche Verfasser sei ein anderer als der „erste Herausgeber“ („first editor“), b) im Gesamtwerk seien verschiedene Quellen verwertet worden.166 David E. Aune, der sich R.H. Charles in besonderer Weise verpflichtet 160 Vgl. Aune S. cxviff; Torrey a.a.O. 161 Dafür z.B. U.B. Müller S. 158. 162 Vgl. Bousset (1896) S. 373f; Lohse S. 64; U.B. Müller S. 207; Kretschmar S. 38; Robinson S. 240f; Flusser S. 391. 163 Flusser a.a.O. 164 Lohmeyer 3 S. 89f. 165 Ebenso C. Schneider, Art. ῥαβδος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 968; Behm S. 58; Caird S. 131; Hemer S. 215; Kiddle S. 175. 166 Charles I S. lff. lxxxviiff.
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fühlt167, hat in seinem umfassenden Kommentar 80 Jahre später (1998) diese Position weitgehend übernommen.168 Er geht jedoch von verschiedenen Editionen aus169, die derselbe Verfasser besorgte. Er stellt sich die Sache so vor, dass der Verfasser über zwanzig, dreißig Jahre hinweg verschiedene selbstständige „apokalyptische Dokumente“ komponierte, evtl. anonym oder sogar pseudonym, und sie zuletzt als sein „apocalyptic magnum opus“ zusammenfasste.170 Auch andere Forscher rechnen mit einem Wachstumsprozess.171 Wieder ist zu bemerken, dass die Exegese von Offb 1-11 uns nirgendwo nötigte, verschiedene Editionen oder einen solchen Wachstumsprozess anzunehmen. Hinzu kommt, dass die Offb kein wirres Werk darstellt, sondern uns als wohldurchdachte Komposition begegnet.172 Zwar übertreibt Ernst Lohmeyer mit „der strengen Einheit der Form“ und der permanenten Anwendung der „Siebenzahl“.173 Aber unleugbar geben die ineinander verknüpften SiebenerReihen der Siegel-, Posaunen- und Schalengesichte, die Kette der drei Wehe, der vorwärtsschreitende Ablauf bis zur Neuschöpfung, die Kapitel überspannende Rolle der Zahlen (z.B. Offb 11–13) und zahlreiche begriffliche Wiederholungen174 zusammen mit der doxologischen Durchdringung durch die Hymnen175 dem ganzen Werk eine große Geschlossenheit. Besonders hinzuweisen ist auf einen Punkt, den Wilhelm Hadorn 1928 unterstrich, der aber in der Folgezeit nicht immer die angemessene Aufmerksamkeit gefunden hat. Das ist die weitgehende Entsprechung zwischen der Offb und Mt 24/Mk 13.176 Wir haben in unserem Kommentar versucht, eine solche Entsprechung jeweils zu notieren. Sie bedeutet jedenfalls ein starkes Argument zugunsten der Einheit des Buches. Schließlich begründet „die gleichartige eschatologische Sicht“177 und die theologische Einheitlichkeit des Buches178 noch einmal die Einheit der Offb. 167 Aune S. xii. 168 Aune S. xlviii.cxx. 169 Aune S. cxx: „First Edition“ = 1,7-12a + 4,1–22,5; „Second Edition“ = 1,1-3.4-6; 1,12b–3,22; 22,6-21. 170 Aune S. cxxi, vgl. S. xci.cviii. 171 Z.B. Kraft S. 14 („dass ihm der Stoff unter den Händen gewachsen ist“). 172 So auch Strobel S. 175; Elwell/Yarbrough S. 376; U.B. Müller S. 159; Hadorn S. 221; Lohmeyer 3 S. 181f; Beckwith S. 214; sogar Bousset S. 15f. 173 Lohmeyer 3 a.a.O. 174 Piper Sp. 830 vor allem hinsichtlich der Symbole. 175 Charles I S. XIV nennt die Offb „a Book of Songs“. 176 Hadorn S. 224. 177 Piper a.a.O. 178 Hadorn S. 221.
6. Die literarische Eigenart der Apokalypse
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Auch von daher ist Strobels Urteil berechtigt: „Keine Apokalypse des Frühjudentums zeigt eine ähnlich systematische Struktur.“179 Aus den genannten Gründen gehen wir von der Einheit der Offb aus.180
6. Die literarische Eigenart der Apokalypse Die Frage nach der literarischen Eigenart der Offb rührt an verschiedene Themenkreise: Wie ist die literarische Gattung der Offb zu bestimmen? Wie ist das Verhältnis zu den Apokalypsen des frühen Judentums zu beurteilen? Wie zeichnet sich demnach der spezifische Charakter unseres Buches ab? Inwiefern sind Prophetie und Apokalyptik aufeinander bezogen oder voneinander zu unterscheiden? Inwiefern ist dann die Offb in ihrem Charakter als „jüdisch“ oder „christlich“ zu beurteilen? Auch hier müssen wir uns auf einige wesentliche Überlegungen beschränken. Unsere Johannesoffenbarung ist nicht nur „die erste große Apokalypse aus der Feder eines Christen“181, sondern die erste antike Schrift überhaupt, die von ihrem Verfasser selbst als „apocalypsis“ bezeichnet wurde (Offb 1,1).182 Von unserer Offb hat die ganze „Apokalyptik“ ihren Namen erhalten.183 Der Sache nach ist jedoch das, was man als „Apokalyptik“ oder „apokalyptische“ Passagen o.ä. bezeichnet, älter. Hengel nennt hier z.B. Jes 24–27; 65; 66; Sach 9–14; Tobit; das Buch der Jubiläen, die Psalmen Salomos 17 und 18, die Testamente der Zwölf Patriarchen, die Paralipomenae Jeremiae, Vita Adae et Evae und apokalyptische Passagen aus Qumran.184 Hinzu kommen jedenfalls Dan 7–12 und große Teile des Hesekiel-Buches sowie weitere alttestamentliche Texte.185 Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich die Offb einreihen in die frühchristliche und spät-alttestamentliche Tradition.186 Eine solche Einreihung darf jedoch einen ganz wesentlichen Punkt nicht überspielen: das ist der prägende Einfluss der endzeitlichen Verkündigung Jesu auf die Offb. 179 Strobel a.a.O. 180 Ebenso Piper a.a.O.; Hadorn S 220f; Lohse S. 7; Schlatter S. 1; Lohmeyer 3 a.a.O.; Beckwith S. 218ff; Elwell/Yarbrough a.a.O.; Rissi S. 11; Hemer S. 3; Zahn Einl S. 593; Torrey S. 3; Strobel a.a.O.; im Ergebnis auch Kraft S. 11.17. Anders z.B. Bousset S. 122; U.B. Müller S. 158f. 181 Behm S. 2. 182 Aune S. lxxvii; Hengel S. 327. 183 Becker/Öhler S. 5. 184 Hengel Apok S. 327. 185 Vgl. Wikenhauser S. 6; Beckwith S. 172ff. 186 Vgl. Beckwith S. 166; Behm a.a.O.; Strobel S. 175; Kümmel S. 404.407; Flusser S. 390f; Marxsen S. 230f; Wikenhauser S. 9; Bousset S.1.
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Wenn Hengel für die paulinische Parusie-Erwartung den „Ursprung letztlich in der Verkündigung Jesu“187 sieht, dann muss dies erst recht für Johannes in der Offb gelten. Übrigens fällt auf, „daß im ganzen Werk (= der Offb) kein direktes Zitat aus einer der uns bekannten Apokalypsen begegnet“.188 Guthrie meint, dass der Verfasser der Offb grundsätzlich „unabhängig“ von jüdischen Apokalypsen sei.189 Die bisherigen Überlegungen nötigen zu einer Bestimmung des Gattungsbegriffes. Was ist überhaupt eine „Apokalypse“? Nach Wilhelm Boussets klassischer Beschreibung190 zeichnet sich eine Apokalypse durch folgende Kriterien aus: 1) Hier stehe „das Bild an erster Stelle“, während es bei den Propheten „das gesprochene oder geschriebene Wort“ sei; 2) es „spiele der Traum eine große Rolle“; 3) „die … visionäre, ekstatische Erfahrung“ oder „Entrückung“ sei wichtig; 4) „Offenbarungsmittler“, oft Engel, treten auf; 5) wichtig sei auch die „Allegorie“ und schließlich 6) die „Pseudonymität“ des Werkes. Beckwith notierte ähnlich wie später Harvey Cox als Grundunterschied zwischen Prophetie und Apokalyptik, dass Erstere hauptsächlich mit „political and earthly aspects“ („politischen und irdischen Aspekten“) befasst sei, Letztere aber mit „non-political and supernatural“ („nicht-politischen und übernatürlichen“).191 Die Boussetʼschen Kriterien erweiterte er durch die „literarische Abhängigkeit“ der Apokalyptiker.192. Gelegentlich hob man auch auf die „bizarre“ Gestalt der Visionen, Bilder usw. ab193 oder auf „die geheimnisvollen Zahlen“,194 Naturerklärungen195 usw. Die jüngere Forschung ist aber gegenüber einer trennenden Unterscheidung zwischen „Prophetie“ und „Apokalyptik “ zunehmend skeptischer geworden. Aune glaubt, dass eine solche „Dichotomie“ falsch sei, weil beide Größen – Prophetie und Apokalyptik – keinen „statischen Literaturtyp“ darstellen, sondern sich in Entwicklung befinden und gegenseitig durchlässig sind.196 Noch schärfer urteilt Martin Hengel: „Ich selbst halte diesen Versuch (= der Tren-
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Hengel a.a.O. S. 399. Marxsen S. 230. Guthrie S. 965. Vgl. aber Piper Sp. 828; Carson/Moo/Morris S. 477. Bousset S. 3ff. Ähnlich Lohse S. 3. Vgl. Becker/Öhler S. 6f.9. Beckwith S. 167; vgl. Cox passim, bes S. 56f; Barclay S. 10ff. S. 171 („the apocalyptist is not essentially an originator“). So Gnilka S. 398. Bgl. Becker/Öhler S. 7. So Kümmel S. 404. Vgl. Conzelmann/Lindemann S. 37; Barclay a.a.O. Aund S. lXXV.
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nung) für völlig verfehlt, da die Unterscheidungskriterien weitgehend auf subjektiver Willkür oder apologetischem Interesse beruhen. Eine wirklich eindeutige Trennung ist hier nicht möglich.“197 Er bezieht dieses Urteil ausdrücklich auf „antikes Judentum“ und „frühes Christentum“.198 Aber selbst wenn man die alten klassischen Kriterien anwendet, sticht die neutestamentliche Apokalypse an entscheidenden Punkten von der allgemeinjüdischen Apokalyptik ab. Zuerst und zunächst: Sie ist nicht pseudonym, sondern nennt als Verfasser eine zeitgeschichtliche Person: Johannes (1,1.4.9; 22,8).199 Sodann: Die Offb ist durch und durch christologisch. Das entscheidende Heilsereignis ist mit dem Kommen des Messias Jesus schon eingetreten. Darin liegt „ein tief greifender Unterschied“ zu allen vorausgehenden oder zeitgenössischen jüdischen Apokalypsen.200 Daraus resultiert „die totale Umprägung der jüdischen in eine christliche Geschichtsapokalyptik“201 und ein „optimistischer Grundzug“202 des ganzen Werkes. Drittens haben wir es mit einer konkreten geschichtlichen Situation und konkreten überprüfbaren Adressaten zu tun (vor allem Offb 1–3). August Strobel urteilt: „Nirgends wird ein falscher Anschein erweckt“.203 Andererseits findet sich in unserer Offb manches nicht, was in den jüdischen Apokalypsen häufig auftritt. Es fehlt in der Offb beispielsweise die weisheitlich-kosmologische Belehrung204 oder eine längere Schilderung der Vergangenheit.205 Insgesamt stellt also die neutestamentliche Offb ein Werk eigener Art dar. So wenig die Gemeinsamkeiten mit den jüdischen Apokalypsen übersehen werden dürfen, so wenig darf die Verbindung zur jüdischen Apokalyptik „overestimated“ („überschätzt“) sein.206
197 Hengel Apok S. 327. 198 A.a.O. S. 330. Im Ergebnis ebenso Carson/Moo/Morris S. 479. Vgl. auch Becker/Öhler S. 7ff. Schon Karl Heim sprach von „apokalyptischer Prophetie“ (Heim II S. 86). 199 Vgl. Carson/Moo/Morris S. 479; Conzelmann/Lindemann S. 36; Lohse S. 3; Kümmel S. 405; Morris S. 24; Dormeyer S. 235; betont auch von Bousset S. 15; Strobel a.a.O.; Guthrie S. 965. 200 Strobel a.a.O.; Kümmel S. 407; Morris S. 25; McDonald/Porter S. 553; Wikenhauser S. 12; Marxsen S. 231; Schlatter Theol S. 130f. 201 Kümmel a.a.O. 202 Strobel a.a.O.; Morris S. 24. 203 A.a.O. Vgl. Lohse a.a.O. sowie Strobel S. 187. 204 Kretschmar S. 26. 205 Guthrie a.a.O.; Morris a.a.O.; Lohse a.a.O.; Lohmeyer 3 S. 196. 206 So mit Recht Hemer S. 12f. Vgl. Morris S. 23ff; Guthrie S. 965ff; Lohmeyer 3 S. 195; Behm S. 3; Dormeyer a.a.O.; Schlatter BFchTh S. 106. Stärker rückt sie z.B. U.B. Müller S. 158 an die jüdischen Apokalypsen heran, wie ja schon Bousset S. 1ff; Flusser S. 390f.
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Mit dem Gesagten ist die Frage nach der literarischen Gattung der Offb noch nicht ad acta gelegt. Nach den Exegeten kommen dreierlei Gattungen207 in Frage: „Apokalypse“208, „Brief“209 und „prophetisches Buch“210. Für jede dieser Gattungen gibt es Anhaltspunkte im Buch selbst. „Apokalypsis“ nennt es Johannes selbst im Titel (1,1). Ein „Brief“ bzw. „Sendschreiben“ ist es nach den sieben Gemeinden, die angeschrieben werden (1,4.11; 2,1–3,22; 22,16.21). Ein „prophetisches Buch“ (προφητεία [propheteia]) ist es wiederum nach eigener Aussage (1,3.11; 22,7.9.10.18.19). Bei dieser Sachlage können die genannten Gattungen nicht mehr als Alternativen verstanden werden, die einander ausschließen. Vielmehr empfiehlt es sich, mit McDonald und Porter von einer Kombination dieser drei Gattungen auszugehen.211 Dem Titel gemäß bezeichnen wir das Buch im Folgenden weiterhin als „Apokalypse“ oder „Offenbarung“ (Offb), bleiben uns aber der Gattungs-Kombination bewusst.
7. Die Frage nach der „Echtheit“ der Prophetie Wilhelm Bousset hat diese Frage in aller Klarheit für sich beantwortet, als er 1906 formulierte: „Von der Johannesapokalypse als einem Ganzen gilt sicher, dass sie gedichtet und nicht geschaut, dass sie ein literarisches Kunstwerk und nicht das Tagebuch eines Visionärs ist.“212 Wenn spätere Autoren dann schreiben, die Offb sei „das ganz persönliche Bekenntnis eines großen Dichters und Propheten“, vor allem aber des Letzteren,213 das Buch sei keine „literarische Fiktion“, sondern der Verfasser schildere hier „seine pneumatischen Erlebnisse“214, es sei echte Weissagung,215 und dies alles sei „wirklich geschaut“216,
207 Aune S. lxxii; Carson/Moo/Morris S. 478. 208 So Aune S. lXXVff; U.B. Müller S. 158; Conzelmann/Lindemann S. 36; Lohmeyer 3 S. 195; Behm S. 2; Lohse S. 3; Bousset S. 1ff; Barclay S. 12. 209 So Beckwith S. 343; Eckhardt S. 58 (Sendschreiben); Zahn Einl S. 585 (Sendschreiben); Kretschmar S. 27; Carson/Moo/Morris S. 479; Guthrie S. 962 („a circular letter“); Swete S. XCIV. 210 So Vitringa S. 1; vgl. Heim II S. 86; Schnackenburg S. 260. 211 McDonald/Porter S. 552. In der Sache auch Böcher Sp. 603f; Heim II S. 86 („apokalyptische Prophetie“). 212 Bousset S. 16. 213 Lohmeyer 3 S. 196f. 214 Piper Sp. 830f. 215 Schlatter Theol S. 127; Heim Weltvollender S. 221. 216 Wikenhauser S. 10f.
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so lassen sich Aussagen solcher Art immer wieder auch als Antworten an Wilhelm Bousset begreifen. Wir berühren hier jedoch auch die Frage nach der Wahrheit der Offb. In jüngster Zeit wurde die Herausforderung der Theologie durch die Wahrheitsfrage auffallend thematisiert. So haben Michal Becker und Markus Öhler 2006 ihr Einleitungsreferat zum Sammelband „Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie“ überschrieben mit „Und die Wahrheit wird offenbar gemacht“ (= Zitat aus 4 Esr 6,28) – Zur Herausforderung der Theologie durch die Apokalyptik“.217 Aber schon Karl Heim, der als Dogmatiker in der Wahrheitsfrage leidenschaftlich engagiert war, bemerkte dazu 1921, die apokalyptische Prophetie habe „recht“, wenn sie einen realen „neuen Weltzustand“ erwarte.218 Und Johannes Behm erklärte sich 1949 ganz ähnlich, als er seinem Kommentar das Urteil voranschickte: „Die Offb. ist ein prophetisches Buch, das in zeitgebundener Form ewige Wahrheit verkündigt.“219 Die Wahrheitsfrage spitzt sich dort noch zu, wo man mit Vitringa220, Bengel221 und dessen Schülern, z.B. K. Hartenstein222 oder E. Schrenk223, mit Elwell/ Yarbrough224 u.a.225 in Jesus Christus selbst den Autor der Offb sieht. Keine Frage war es für die frühe und die christliche Tradition, dass es sich bei Johannes als dem Verfasser der Offb um einen echten Propheten handelte. So „schaut Johannes, der Schüler des Herrn, in der Apokalypse“ das künftige Reich Christi – nach den Worten des Irenäus.226 Nach Vitringa ist Johannes „Apostolus et Propheta“, sein Werk bildet sogar die Spitze „aller göttlichen Prophetien“.227 Erst mit der Aufklärung und ihrem grundsätzlichem Zweifel an echter Prophetie228 änderte sich die Situation. Was lässt nun die Offb selbst erkennen? Durch das ganze Buch hindurch findet sich die Aussage des Johannes „Ich sah“. Er nimmt damit die Aussage der alttestamentlichen Propheten auf (vgl. Jes 6,1; Ez 1,4.15.27 usw.; Dan 7,2.6.7 usw.; Am 7,1ff; 8,1ff; 9,1ff; Hab 2,1f; Sach 1,8ff; 2,1ff usw.). Indem 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228
Becker/Öhler in Apokalyptik S. 3. Heim II S. 86. Behm S. 3. Vitringa S. 3. Siehe dessen Überschrift über dem Kommentar. Hartenstein S. 59f. E. Schrenk S. 5. Elwell/Yarbrough S. 376. Vgl. Frey S. 261. Adv. haer. IV, 20, 11. Vitringa S. 10 und S. 1. Beispielhaft Heinrich Corrodi, Kritische Geschichte des Chiliasmus, Zürich (wohl 1781), Bd.III, S: 15.34.
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er in ihre Reihe eintritt, gibt er klar zu erkennen, dass er selbst prophetische Autorität besitzt. Dass „die Propheten“ seine „Brüder“ sind (Offb 22,9) und er ein „Buch der Weissagung“ vorlegt (Offb 22,7.9.18.19), bekräftigt diese Erkenntnis. Aune zog daraus den Schluss, Johannes habe „zu einem Kreis“ von Propheten gehört, „die als Wanderprediger in der röm. Provinz Asien wirkten“, „vielleicht sogar als ihr informelles Oberhaupt“.229 Schlatter hatte schon viel früher darauf hingewiesen, dass die urchristliche Prophetie „unmittelbar nach der Gründung der Gemeinde Jerusalems begann“ und deshalb „der johanneischen Weissagung eine lange Reihe christlicher Weissagungen“ vorausging.230 Dementsprechend sah Leonhard Goppelt in der Offb „das hervorragendste Dokument der urchristlichen Prophetie“231, und auch Georg Kretschmar zufolge bewegen wir uns hier auf den Spuren „des ältesten palästinensisch-syrischen Christentums“.232 Kein Zweifel kann daran bestehen, dass der Verfasser „göttliche Offenbarungen mitteilen“ will, „nicht nur seine persönlichen Ansichten“.233 Selbst Willi Marxsen meinte: „Sicher ist der Verfasser der Überzeugung, daß sich die Endereignisse so oder ähnlich abspielen werden, wie er sie darstellt“. Hinzu kommt, dass Offb 22,18f das ganze Buch der Mose-Tora gleichstellt (vgl. Dtn 4,2). Die Offb soll demnach Heilige Schrift im echten Sinne sein, vor Veränderungen geschützt und vom Heiligen Geist eingegeben. Stuhlmacher spricht hier von einem „sakrosankten Buch“.234 Eingeschlossen ist darin, dass der Verfasser ein inspirierter Prophet ist.235 Der Begriff des Prophetischen führt zur Frage nach dem Futurum: Will der Verfasser zukünftige Ereignisse weissagen? Vor allem eine rein zeitgeschichtliche Erklärung, die sich auf das 1. Jhr. n.Chr. begrenzt, birgt die Gefahr, in der Offb nur kurzfristige Entwicklungen angesagt zu finden.236 Diese Gefahr verstärkt sich, wenn man mit vaticinia ex eventu bzw. „rückwärtsschauenden Weissagungen“ rechnet.237 Interessanterweise hat gerade Wilhelm Bousset, der mit Letzteren rechnete, dennoch eine „rein zeitgeschichtliche Deutung“ abgelehnt.238 Der Text der Offb sagte ihm deutlich genug, dass sie „wirklich Zukunftsweissagungen bringen will“.239 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238
Aune RGG Sp. 1704. Schlatter Theol S. 127. Goppelt S. 510. Kretschmar S. 23. Vgl. Lohmeyer 3 S. 199. Piper Sp. 830. Stuhlmacher Bibl Theol S. 214. Vgl. Marxsen S. 231. Torrey S. 85. Vgl. Kraft S. 16; Morris S. 23; Beckwith S. 336. Morris S. 16. Beispiele dafür sind Marxsen S. 230; Kümmel S. 408. So Bousset S. 17. Vgl. Beckwith S. 318ff. Bousset a.a.O.
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In der Tat will die Offb Gegenwart und Zukunft umfassen. Das wird gleich zu Anfang in 1,19 programmatisch formuliert. Der Schlussteil in 22,6-21 bestätigt es. Was kommt, besteht nun aber nicht nur in Verfolgung der Christen und dem Gericht über die Verfolger. Vielmehr ist auch die Wiederkunft Jesu, das Ende der irdischen Geschichte, das Vergehen der ganzen alten Schöpfung und die neue Schöpfung angesagt (Kapitel 19-22). An dem heilsgeschichtlichen Futurum, das hier geweissagt wird, kann also kein Zweifel bestehen.240 Mit Recht stützten sich die alten Ausleger wie Luther oder Vitringa241 oder die klassische Dogmatik bei ihrer Erörterung de novissimus („über die letzten Dinge“) auf die Offb.242 Fazit: Die Offb ist ebenso „echte“ Prophetie, wie es die inspirierte Prophetie des AT, Jesu und des NT ist.243 Ihre Verkündigung umfasst die Gegenwart und die Zukunft bis zur Vollendung des Heilsplanes Gottes in der ewigen, neuen Schöpfung. Als vom Heiligen Geist inspirierte Schrift enthüllt sie ihre Wahrheit jedem Glaubenden. Diese Wahrheit lässt sich allerdings ebenso wenig lückenlos vernunftgemäß demonstrieren, wie es auch bei anderen Wahrheiten der Bibel der Fall ist.
8. Theologische Inhalte der Apokalypse Die Offb ist prall gefüllt mit theologischen Inhalten. 1. Schon dass sie das Interesse an der Eschatologie wachhielt, gehört zu ihren Verdiensten. Ein solches Interesse war vor allem im Protestantismus keineswegs selbstverständlich. Nitzsch und Stephan konnten 1912 feststellen: „Die Eschatologie gehörte von vornherein zu den Stiefkindern der evangelischen Glaubenslehre“.244 Niebergall lieferte dazu 1923 ein praktisches Anschauungsbeispiel.245 Böcher schrieb gewissermaßen diese Geschichte fort, wenn er 1998 über „die großen Neutestamentler der beiden ersten Drittel des 239 A.a.O. 240 Vgl. neben Bousset a.a.O. auch Schlatter S. 1; Wikenhauser S. 18; Stuhlmacher Bibl Theol S. 247. 241 Luther Vorreden S. 181; Vitringa S. 1. 242 Vgl. Luthardt S. 361ff; Heim Weltvollender S. 204ff; Feine S. 393; Goppelt S. 510; Kretschmar S. 27; Guthrie S. 974ff; Frey S. 261ff; Behm S. 1; Cremer passim. 243 Morris S. 23ff; Elwell/Yarbrough S. 376; Kretschmar S. 22f; Goppelt a.a.O.; Heim Weltvollender S. 221; Schlatter a.a.O.; Behm S. 3; Wikenhauser S. 10f; Piper Sp. 830; Hemer S. 13; Vielhauer S. 497; Aune S. liv; Beckwith a.a.O.; Lohmeyer 3 S. 196f; Torrey a.a.O.; Rissi S. 11; Guthrie S. 962; Hadorn S. 225ff; Zahn S. 40ff. 244 Nitzsch S. 716. 245 Niebergall S. 627f.
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20. Jh.“ bemerkte, sie hätten der Offb „ihre Aufmerksamkeit versagt“.246 Im speziellen Fall der Offb kam hinzu, dass „die prot. Forschung weithin“ dazu neigte, die Offb als „literarische Fiktion“ zu betrachten.247 2. Unübersehbar bietet jedoch die Offb eine reiche Christologie. Stuhlmacher nennt diese sogar „das theologische Hauptthema“ und beurteilt sie als „eine ausgeprägte Hochchristologie“.248 Allerdings stoßen wir hier auf heftige Diskussionen und Dissense.249 Am Anfang seiner „Christologie der Apokalypse des Johannes“ (1962) zitiert Traugott Holtz das Diktum von Wilhelm Bousset, die Offb zeige in der Christologie „ein wirres Konglomerat verschiedenster Vorstellungen“.250 Doch schon 1522 erklärte Martin Luther, „dass Christus drinnen weder gelehret noch erkannt wird“.251 Rudolf Bultmanns Verwerfung des Christentums der Offb „als ein schwach christianisiertes Judentum“252 ist wohl bekannt. Wie kann es zu einem solchen Dissens kommen? Vielleicht liegt ein Teil der Antwort in der Aussage von Eduard Lohse, in der Offb sei „kaum mehr etwas von der Verkündigung des Paulus zu spüren“. 253 Wenn man, wie für Protestanten naheliegend, die Offb durch die Brille des Paulus betrachtet, dann mag sich mancherorts das Gefühl der Andersartigkeit einstellen, das zu einer Verunsicherung führt. Der Christus der Offb ist der erhöhte Christus auf dem Thron Gottes (1,12ff; 3,21; 5,6ff). Er regiert mit dem Vater als der zum Himmel Aufgefahrene (vgl. 5,7ff; 12,5). Als der Sieger wird er wiederkommen, keine der gottfeindlichen Mächte kann ihm die Stirn bieten (19,11ff; 20,4ff).254 Die neue Schöpfung wird erfüllt sein von der Herrlichkeit Christi und des Vaters (21,22ff). Aber zugleich bleibt er in Ewigkeit das Lamm, das sich für uns hat opfern lassen, der Gekreuzigte und der Erlöser, der uns durch sein Blut erlöst hat (1,5; 5,6ff; 7,14; 11,8; 14,1ff; 19,7ff; 21,14-22,5).255 Als der wahre Messias erfüllt er alle Verheißungen des Alten Bundes (5,5; 12,1ff; 22,16). Als der Auferstandene herrscht er über Tod und Totenwelt (1,18). Als der Sohn Gottes ist er wesensgleich mit dem Vater und besitzt er „die wahre und wesenhafte 246 Böcher Sp. 597. Vgl. dazu Holtz S. 1f. 247 Piper Sp. 830. 248 Stuhlmacher Bibl Theol S. 216.219.Vgl. Beckwith S. 310ff. Ebenso Carson/Moo/Morris S. 483. 249 Vgl. Guthrie S. 944. 250 Holtz S. 2. 251 Luther Vorreden S. 180. 252 Bultmann NT S. 525. 253 Lohse S. 6. 254 Vgl. Strobel S. 175; Feine S. 389. 255 Vgl. Stuhlmacher Bibl Theol S. 217. Vgl. Wikenhauser S. 12; Elwell/Yarbrough S. 382; Feine s. 392.
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Gottheit“.256 Die Offb verkündigt also dieselbe Christologie wie das Johannesevangelium (Joh 20,31).257 3. Zur Gotteslehre liefert die Offb ebenfalls einen wichtigen Beitrag.258 Ein wesentlicher Punkt dieser Gotteslehre ist die Trinität. Bedauerlicherweise hat Traugott Holtz in seiner Monografie über die Christologie der Apokalypse gemeint, „die Trias: Gott – Christus – Geist“ lasse sich „in der Apc nicht nachweisen“.259 Er trat damit in einen völligen Gegensatz zu Adolf Schlatter, nach dessen Urteil der „Gottesgedanke“ in der Offb „der trinitarische“ ist.260 Der Briefeingang in Offb 1,4f lässt sich nur als trinitarisch verstehen. Denn ein christlicher Friedens- und Gnadenwunsch von Gott und den sieben Erzengeln und Jesus Christus ist undenkbar.261 Auch Offb 4,5 und 5,6 bezeugen die göttliche Trinität.262 Bedeutsamer noch ist allerdings das Verhältnis von Gott und Jesus Christus, von Gott dem Vater also und Gottes Sohn. Charles glaubte in Offb 12 eine „passive and subordinate rôle assigned to the Messiah“ zu erkennen.263 Es lässt sich nicht leugnen, dass der Sohn gegenüber dem Vater der Empfangende ist (besonders 1,1; 2,28; 5,7.9.12). Aber das ist er auch im Evangelium (vgl. Joh 5,19ff; 17,1ff; Mt 28,18). In der subordinatianischen Christologie steckt also ein Stück Wahrheit.264 Zugleich aber bringt uns die Offb ins Staunen durch die Leichtigkeit, mit der sie Gottestitel auf den Sohn Gottes überträgt: „der Erste und der Letzte“ (1,17; 2,8), „der Lebendige“ (1,18), „der Heilige“, „der Wahrhaftige“ (3,7), „der König aller Könige“, „der Herr aller Herren“ (19,16), „das Alpha und das Omega“, „der Anfang und das Ende“ (22,13). Das Empfangen des Sohnes wird also gleichzeitig mit der Wesenseinheit mit dem Vater ausgesagt. Dass „das Herz der Offenbarung“ „Gottes Majestät“ ist265, gilt demnach im Sinne der Trinität.
256 Stuhlmacher Bibl Theol S. 219.222. Vgl. Wikenhauser a.a.O.; Elwell/Yarbrough S. 381. 257 Interessanterweise begegnet das johanneische ἐγώ εἰμι [ego eimi] auch viermal in der Offb (vgl. Stuhlmacher Bibl Theol S. 228; Offb 1,17; 2,23; 22,13; 22,16). Obwohl die Offb vom Lamm als ἀρνίον [arnion] spricht, ist ihre Lammeschristologie aufs Engste mit dem JohEv verwandt. 258 Vgl. Carson/Moo/Morris S. 483; Elwell/Yarbrough S. 381; Beckwith S. 310ff; Guthrie S. 943; Schlatter Theol S. 133. 259 Holtz S. 140. 260 Schlatter Theol a.a.O. 261 Gegen Holtz S. 138. Wie wir Wilckens I, 4 S. 280. 262 Wilckens a.a.O. S. 280f. 263 Charles I S. 299f. 264 Vgl. Stuhlmacher Bibl Theol S. 225. 265 So Frey S. 269.
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4. Dass die Offb für die Eschatologie der Christen unverzichtbar ist, zeigt die Kirchengeschichte. Wieder gilt es, sich hier auf das Äußerste zu beschränken. Die Offb fand bei sehr allgemeinen Aussagen Zustimmung, zum Beispiel darin, dass sie „die Gewissheit der Hoffnung“ stärkt und dass Gott „zum Ziele“ kommt.266 Aber kurz danach beginnt die theologische Rezeption ganz verschiedene Wege einzuschlagen. Wer wie Harvey Cox ein grundsätzlich negatives Bild von der Apokalyptik hat, der wird zu ihrer gesamten Zukunftsauffassung ein skeptisches Verhältnis haben. Cox’ These lautet, dass „die Zukunft das sein wird, was der Mensch aus ihr macht“.267 Das ist so ungefähr das Gegenteil dessen, was die Offb verkündigt. Eine zweite, allerdings mit Cox verwandte, Art der Skepsis beschreibt Friedrich Niebergall mit den Worten: „Wir (kritische Theologen) sind zu skeptisch, um an die Enthüllung der großen Zukunftsgeheimnisse zu glauben.“268 Eine Prophezeiung des künftigen Weltlaufs und der kommenden Vollendung der Geschichte kann hier nicht mehr angenommen werden. Es bleibt dann nur noch die Frage, „welche existenzielle Bedeutung diese uns so fremde apokalyptische Zukunftsschilderung für uns heute noch hat“.269 Gelegentlich wird auch diskutiert, ob nicht die futurische Eschatologie der Offb in einem Gegensatz zu präsentischen Eschatologie des Johannesevangelium stünde.270 Aber nach Jörg Freys sorgfältiger Untersuchung „ist nicht zu übersehen, dass sich im vierten Evangelium selbst und noch stärker in den Johannesbriefen auch recht vielfältige Elemente einer futurischen Eschatologie Ausdruck verschaffen“.271 Man kann also Evangelium und Offb nicht mehr in derselben Weise als sich gegenseitig ausschließende Alternativen betrachten, wie das früher teilweise geschehen ist. Allerdings bleibt es immer noch ein umstrittenes Thema, „wieweit (in der Offb) … eine chronologische Abfolge der Endereignisse“ vorliegt.272 Hier spielt die Annahme von „Rekapitulationen“ (Wiederholungen) eine erhebliche Rolle.273 Vor allem angelsächsische Ausleger neigen dazu, in der Offb
266 267 268 269 270 271 272 273
So Behm S. 4. Vgl. Carson/Moo/Morris S. 483; Elwell/Yarbrough S. 376. Cox S. 56f.65. Niebergall S. 628. So Kümmel S. 418. Vgl. Guthrie S. 945; Kümmel a.a.O. Frey bei Hengel S. 385. Vgl. Guthrie a.a.O. Strobel S. 175. Vgl. Kümmel S. 408f. Vgl. Piper Sp. 832.
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eine christliche Geschichtsphilosophie274 oder Geschichtsgesamtschau (eine „panoramic sweep of history“275) zu erblicken. Kirchengeschichtlich bemerkenswert ist die schon im 2. Jh. beginnende Auseinandersetzung um den Chiliasmus, das heißt um die Prophezeiung eines tausendjährigen (griech. χίλια ἔτη [chilia ete]) Reiches nach der Wiederkunft Jesu. Diese Prophezeiung ist in der Offb am ausführlichsten ausgesprochen (20,1-6). Es scheint, dass die montanistische Bewegung in Kleinasien (seit der Mitte des 2. Jh. n.Chr., benannt nach Montanus) mit ihren enthusiastischeschatologischen Zügen diese Auseinandersetzung ausgelöst hat. Im 3. Jh. lebte die Diskussion erneut auf. Dionysius von Alexandria warf christlichen Kreisen in Ägypten vor, nach ihrer Lehre sei das künftige „Reich Christi ein irdisches“.276 Der Zusammenhang deutet darauf hin, dass man in diesen Kreisen von Offb 20,1-6 ausging und deshalb eine „chiliastische“ Anschauung vertrat. Im 4. Jh. n.Chr. erleben wir eine ähnliche Konstellation bei Eusebius von Cäserea. Auch er wirft anderen – konkret Papias von Hierapolis – vor, „tausend Jahre“ zu erwarten, „in denen das Reich Christi äußerlich leiblich (σωματικῶς) auf Erden bestehen werde.“277 Wir können nicht den ganzen Gang dieser Auseinandersetzung nachzeichnen.278 Es genügt, an CA XVII mit seiner Verwerfung des regnum mundi und der darauf bezüglichen iudaicae opiniones zu erinnern.279 Noch heute erweckt die Tausendjahrreichs-Erwartung der Offb Missverständnisse und Kritik bei protestantischen, speziell lutherischen Theologen.280 Trillhaas gruppierte sie sogar bei den „vier eschatologischen Häresien“ ein.281 Solange jedoch Offb 20,1-6 einen nicht zu eliminierenden Textteil der Offb darstellt, wird es weiterhin eine legitime christliche Tausendjahrreichs-Hoffnung geben. Dies umso mehr, als auch Jesus und Paulus ein messianisches Zwischenreich erwarten (Mt 13,41; 24,31; Lk 18,8; Apg 1,6; 1Kor 6,2f; 15,21ff).282 Zu beachten bleibt, dass die Offb keine festen Termine nennt283 und dass sie ebenso wenig eine Naherwartung lehrt wie Jesus oder Paulus oder das 274 275 276 277 278 279 280
So Guthrie S. 976. So Elwell/Yarbrough S. 376. Nach Euseb H.E. VII, 25,3. H.E. III, 39,12. Dafür vgl. meine Offb passim. BELK, 5. Aufl., 1963, S. 72. Vgl. Nitzsch S. 724; Kümmel S. 419; Conzelmann/Lindemann S. 317; Goppelt S. 524f; Trillhaas S. 454ff. 281 Trillhaas a.a.O. 282 So mit Recht Stuhlmacher Bibl Theol S. 219; vorsichtig auch Luthardt S. 369f; Gnilka S. 417; Hengel S. 392. 283 So mit Recht Kretschmar S. 28.
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übrige NT (vgl. Mt 24,33ff; 25,1ff; 25,14ff; 1Kor 15,23ff; 2Thess 2,1ff; Apg 1,6ff).284 5. Interessant ist die Offb auch hinsichtlich ihrer Ekklesiologie. Joachim Gnilka nannte die Offb sogar „ein Kirchenbuch“.285 Mag diese Bezeichnung auch zugespitzt sein, so hat sie doch unter mehreren Gesichtspunkten eine gewisse Berechtigung. Das gilt zunächst für den hymnischen Charakter des Buches. Charles nannte die Offb „a Book of Songs“286, Jörns, von Kretschmar aufgenommen287, ein „hymnisches Evangelium“. Hymnen und Lobgesänge durchziehen das ganze Buch. Bis zum heutigen Tag regt die Offb christliche Lieder an.288 Ihr Einfluss auf die Gestaltung der christlichen Liturgie ist beträchtlich. Hinzu kommt, dass die Offb zum „Lesen und Hören in gottesdienstlichen Versammlungen der christlichen Gemeinden“ bestimmt ist289 (1,3). Sie stellt also eine Art schriftlicher Gemeindepredigt dar. Von Anfang an will sie in den gottesdienstlichen Versammlungen zur Standhaftigkeit, zur Treue gegenüber dem Wort Gottes und zum Zeugnis für Jesus Christus anleiten.290 Wie in den übrigen Johannesschriften hat die Geistlehre (Pneumatologie) in der Offb eine vielfältige Bedeutung.291 Im Bild von den „sieben Geistern Gottes“ (1,4; 3,1; 5,6) wird der Heilige Geist in die göttliche Trinität einbezogen.292 Man darf dieses Bild nicht als Widerspruch zum Geist(πνεῦμα [pneuma])-Begriff des Johannesevangelium auffassen. Denn auch im Johannesevangelium begegnet der Geist vielfältig: als „Geist“ schlechthin (Joh 3,5ff), als „heiliger Geist“ (20,22), als „Paraklet“ (14,16ff), als „Geist der Wahrheit“ (15,26ff). Ja, Gott selbst „ist Geist“ (4,24), und zugleich sind Jesu Worte „Geist“ (6,63).293 Mit Letzterem berührt sich die mehrfache Aufforderung der Offb, zu hören, „was der Geist den Gemeinden sagt“ (2,7ff). Denn es ist ja Jesus, der in den Sendschreiben die Gemeinden anspricht. Ekklesiologisch prägt sich die neutestamentliche Pneumatologie (Geistlehre) in den Ämtern aus. Hier ist die Offb auch deshalb interessant, weil sie 284 Kretschmar S. 27. 285 Gnilka S. 403. Vgl. E. Schweizer im Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, S. 449: „ein Gemeindebuch“. 286 Charles I S. XIV. 287 Kretschmar a.a.O. 288 Beispiele aus dem EG: Nr. 153; Nr. 264. 289 Zahn S. 156. Vgl. Kümmel S. 405; Behm S. 3. 290 Vgl. Elwell/Yarbrough S. 382. 291 Vgl. Stuhlmacher Bibl Theol S. 260ff. 292 Ebenso Wilckens I, 4 S. 280. 293 Vgl. Stulhmacher a.a.O. S. 261; Guthrie S. 944; Beckwith S. 310ff.
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Züge der alten christlichen Gemeindeverfassung mit damals modernen Zügen vereinigt. Zu den alten Zügen gehört die Betonung des „Bruder“ (ἀδελφός [adelphos])-Titels für die Gemeindeglieder und die bewusste Einordnung des Apostels in diese Gemeinde von Brüdern (vgl. Offb 1,9; 6,11; 12,10; 19,10; 22,9). Grundlage sind offenbar die Jesusworte in Mt 23,8ff. Andererseits haben die Gemeinden klare Leitungsstrukturen mit Leitungspersonen und solchen, die im Gottesdienst die maßgebenden Texte vorlesen (vgl. Offb 1,3; 2,13,22; 22,6ff). Darin wirkt die Ordnung der damaligen Synagogen fort. Darf man – wie wir das im Kommentar getan haben – die Engel der Sendschreiben (2,1ff) auf die Gemeindeleiter bzw. Bischöfe beziehen, dann treffen wir hier auf einen „modernen“ Zug der Entwicklung, der die Offb nahe an die Ignatiusbriefe heranrückt.294 Zahn kommt sogar zu dem Urteil: „Der monarchische Episkopat … war zur Zeit der Ap in Asien fest begründet.“295 Die Selbstverständlichkeit, mit der Irenäus als Kleinasiate von der Einsetzung des Polykarp in das Bischofsamt durch die Apostel berichtet,296 unterstützt eine solche Annahme. Die Irrlehrer scheinen sich ähnlicher Strukturen bedient zu haben (Offb 2,20ff). Mit August Strobel kann man also in der Offb „eine erkennbare feste Gemeindeverfassung“ feststellen.297 Einen Spezialfall bildet die Rolle der „Propheten“ in der Offb.298 Sind hier alle Gemeindeglieder oder nur bestimmte Gemeindeglieder bzw. Amtsträger gemeint?299 Sowohl Offb 18,20 als auch der Vergleich mit den Gemeindeverhältnissen in den paulinischen Briefen (Röm 12,4ff; 1Kor 12,4ff.28; Eph 4,11f) legen es nahe, bei den „Propheten“ der Offb an ein besonderes Amt oder Charisma zu denken. Ihre Rolle in Offb 16,6; 18,20.24; 22,6.9 erinnert überdies an die frühen christlichen Propheten in der Apostelgeschichte (vgl. Apg 11,27ff; 13,1ff; 15,32; 21,9ff).300 6. Bezüglich der Soteriologie (Lehre von der Erlösung) ist noch einmal die starke Konzentration auf Jesus als den Erlöser hervorzuheben. Im Zentrum steht das, was er in seinen irdischen Tagen, in allererster Linie am Kreuz, für uns getan hat: „Er hat uns erlöst (λύσας [lysas]) von unseren Sünden“ (1,5), er 294 Das Verhältnis Offb/Ignatianen ist leider auf protestantischer Seite nicht ausreichend behandelt worden. Zu den Ausnahmen gehört U.B. Müllers Artikel in der ZNW 2007. 295 Zahn Einl S. 603. 296 Adv. haer. III, 3,4. Vgl. Tertullian Praescript 32. War es „um 85-90“? (Zahn FGNK S. 100). 297 Strobel S. 187. 298 Vgl. dazu Satake passim. 299 Satake S. 49ff.54ff findet in der Offb beides. 300 Vgl. zur Ekklesiologie der Offb noch Stuhlmacher Bibl Theol S. 266ff; Schweizer a.a.O. S. 447ff.
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ist für uns als Sühnopfer „geschlachtet“, und als das geschlachtete Lamm hat er die glaubenden „Menschen für Gott erkauft“ (ἠγοράσας [egorasas], 5,9). In Ewigkeit wird er deshalb das „Lamm“ (τὸ ἀρνίον [to arnion]) genannt (21,22ff; 22,1ff). Aber schon vor der Kreuzigung war er der „treue und wahrhaftige Zeuge“ (1,5; 3,14), der uns das wahre Wort Gottes sagte. Deshalb kann er mit Fug und Recht „Das Wort Gottes“ (ὁ λόγος τοῦ θεοῦ [ho logos tu theu]) heißen (19,13). In den Erdentagen war er auch schon der vollkommene Geistträger (3,1). Sein Erlösungshandeln hat uns zu neuen Menschen gemacht, nämlich zu Heiligen, zu Königen und Priestern, die auf ewig mit dem dreieinigen Gott Gemeinschaft haben (1,6; 2,26ff; 3,21; 5,10; 19,7ff; 20,4ff; 2122). Besonders weist die Offb darauf hin, dass es das Blut (τὸ αἷμα [to haima]) Christi war, das unsere Erlösung bewirkte (1,5; 5,9; 7,14; 12,11). Bei Paulus und bei Petrus begegnet eine ähnliche Betonung des Blutes Christi (vgl. Röm 3,25; 5,9; 1Kor 10,16; 11,27; Eph 1,7; 2,13; Kol 1,20; 1Petr 1,2.19). Vor allem aber fällt die Nähe zu den Aussagen der übrigen johanneischen Schriften auf (vgl. Joh 6,53ff; 19,34; 1Joh 1,7; 5,6ff), sodass Peter Stuhlmacher mit Recht sagen kann: „Die Apokalypse und die Johannesbriefe zeigen, dass die Johannesschule den Sühnetod Jesu von Anfang an betont hat.“301 Darin liegt eine äußerst positive Provokation der modernen protestantischen Theologie, die mit dem Sühnetod und Blut Jesu Christi häufig nichts mehr anzufangen weiß. Wie wenig der Sühnetod- oder Blut-Theologie der Offb etwas Automatisches oder gar Magisches anhaftet, merkt man daran, dass der Mensch frei bleibt in seiner Entscheidung, das Heil anzunehmen oder abzulehnen. O.A. Piper sieht es richtig: „Die Menschen können sich frei entscheiden.“302 Ohne diese Freiheit der Entscheidung wären die Überwinder-Sprüche der Sendschreiben ebenso wie die wiederholten Bußrufe unverständlich (vgl. 2,5.7 usw.). Unverständlich wären dann auch die Seligpreisungen der Offb (1,3; 14,13; 16,15; 19,9; 20,6; 22,7.14) und der ganze evangelistische Schlussteil in 22,10ff. Man versteht, dass dann Irenäus in der Linie der johanneischen Schule ein ganzes Kapitel der Willensfreiheit des Menschen widmet.303 Er tut dies im Kampf gegen die Irrlehrer, die der Prädestination anhängen und eben die Willensfreiheit ablehnen. Hier steht die Offb in einer Linie mit den frühen jüdischen Lehrern304 und mit Jesus.305 301 302 303 304 305
Stuhlmacher Bibl Theol S. 239. Vgl. Wilckens I,4 S. 282; Feine S. 392. Piper Sp. 833. Anders Vielhauer S. 504ff. Adv. Haer. IV, 37. Vgl. Sir 15,11ff; P. Aboth III, 19. Vgl. Mt 11,28; 23,37; Joh 6,29.35.37; 7,37; sowie 1Joh 1,8f.
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7. Der Kampf gegen die Irrlehre spielt vor allem in den Sendschreiben der Kapitel 2–3 eine Rolle. Hier treten uns Gruppen entgegen, die sich durch ihre Theologie profilieren, gleichzeitig aber Organisationsstrukturen erkennen lassen. Das trifft z.B. auf die Nikolaiten (2,6.15), auf die Anhänger Bileams (2,14) und auf die Irrlehrer von Thyatira (2,20ff) zu. Sie haben Ämter, z.B. Lehrer, Propheten und Prophetinnen (2,14f.20ff). Sie sammeln ihre Anhänger, die in 2,23 wie im AT „Kinder der Propheten“ (vgl. 2Kön 2,3ff) heißen. Genannt werden als Lehrpunkte „Götzenopfer“, „Hurerei“ und eine spezielle Gnosis (2,14f. 20ff.24). Vor allem Letzteres hat dazu geführt, dass die Ausleger „von gnostischen Irrlehrern“ sprechen.306 Eine Nähe zur Gnosis ist nicht zu bestreiten. Jedoch fehlen uns viele Details, die ein sicheres Urteil ermöglichen könnten.307 Ulrich B. Müller macht es Johannes zum Vorwurf, dass er seine heidnische Umwelt „als satanisch infiziert“ betrachtet.308 Dabei lässt U.B. Müller zweierlei außer Betracht: a) Es handelt sich in Offb 2–3 um Urteile Jesu und des Geistes, nicht des Johannes; b) die Gemeinden haben es tatsächlich so erlebt, wie es in Offb 2–3 beschrieben wird. Jedenfalls sehen die Sendschreiben der Offb die Prüfung und Ablehnung von Irrlehre als wesentliche Aufgaben der Gemeindeleiter und der christlichen Gemeinden an. 8. Das Verhältnis der jungen Christengemeinden zum Staat in der Offb hat immer wieder besondere Aufmerksamkeit gefunden. Gelegentlich meinte man, in der Offb melde sich ein „furchtbarer Hass“309 gegen Rom, oder sie zeige „open hostility“ dem Staat gegenüber.310 Viele Ausleger sahen in Christenverfolgung und zunehmendem Kaiserkult Grundbedingungen für das Entstehen der Offb.311 Träfe dies alles zu, dann würde die Offb, besonders Offb 13, den Gegenpol zu Röm 13 bilden. Dass sich die Situation für die Christen seit Nero und Domitian zuspitzte, steht außer Frage. Es war im Imperium Romanum seit diesen Herrschern psychologisch, sozial und politisch leichter geworden, Christen zu denunzieren oder zu bestrafen. Außer Frage steht auch, dass die Christen schon aufgrund 306 Strobel S. 187; Vielhauer S. 502; schon Schlatter Theol S. 138. 307 Zahn Einl S. 604f legt deshalb den Akzent auf die Ähnlichkeit der Irrlehre in der Offb mit den Irrlehrern in 2Petr und Judas und bleibt bei der Herleitung der Nikolaiten vom Nikolaus in Apg 6,5. 308 Müller ZNW S. 67. 309 So Niebergall S. 628. 310 So Robinson S. 226. 311 Vgl. Beckwith S. 197f; Feine S. 389; Gnilka S. 404; Kruijf S. 126; Vielhauer S. 502; Strobel S. 187; Behm S. 4; Kümmel S. 406; Hirschberg S. 46; Brockhaus KL S. 740; Guthrie S. 949; Bousset S. 136ff; Schlatter Theol S. 128.
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der Jesusverkündigung (vgl. Mt 24 parr) eine universale Verfolgung erwarteten und eine solche Erwartung nicht zuletzt aufgrund der jüdisch-römischen Kämpfe mit Rom verbinden konnten. Dennoch sind Verfolgungen in den Sendschreiben immer noch lokal oder regional begrenzt und offensichtlich auch von personellen Konstellationen beeinflusst. Neben leidenden und verfolgten Gemeinden wie Smyrna, Pergamon oder Philadelphia stehen andere, die solche Lasten nicht zu kennen scheinen, wie Sardes oder Laodizea. Wenn Antipas als Märtyrer erwähnt wird (2,13), hätte man vielleicht auch andere allseits bekannte Märtyrer namentlich genannt, falls es solche gegeben hätte. Neuerdings hat vor allem Dieter Timpe darauf hingewiesen, dass alle Christenverfolgungen vor Decius den Charakter der „Kontingenz“ und der „lokalen und zeitlichen Begrenztheit“ trugen.312 Vorsicht ist auch im Blick auf die Bedeutung des Kaiserkultes im 1. Jh. n.Chr. angebracht. Es liegt jetzt schon über 100 Jahre zurück, dass Zahn warnte: das Rom des 1. Jh. sei „noch lange nicht das Babylon der Endzeit“ und „das Römische Reich noch lange nicht … der Antichrist.“313 Für ihn war auch die Deutung der sieben Häupter von Offb 17 auf die Reihe der römischen Kaiser „unhaltbar“.314 Neuerdings geben englische Forscher zu bedenken, dass keinerlei „rescript or edict“ zum Kaiserkult aus dem 1. Jh. n.Chr. überlebt hat315, oder stellen „the absence of any clear reference to the imperial cult“ fest.316 Die Entwicklung des Kaiserkultes erlaubt demzufolge keine Datierung der Offb.317 Wieder wird man urteilen müssen: Rom ist sicherlich ein Modell antichristlicher Tendenzen, auch ist die Zunahme der Kaiserverehrung zu beobachten, aber deshalb ergibt sich die Prophetie des Johannes noch lange nicht aus der Analyse seiner Zeit. Vielmehr eröffnet ihm Gott im Heiligen Geist die kommende Geschichte und Entwicklung. Von einem Staatshass ist Offb 13 und die Offb generell so weit entfernt wie Röm 13.318 „Geduld“ und „Glaube“ der Christen sind gefordert (Offb 13,10; 14,12). Ihre Tragkraft nährt sich aus der unbesiegbaren Hoffnung auf den wiederkommenden Christus, seinen Sieg über alle gottwidrigen Mächte und die Vollendung des Heils in der neuen Schöpfung (Offb 21–22).
312 In seinem Tübinger Vortrag vom 12.4.2007 S. 11. Vgl. Frey Apokal S. 47; Lohmeyer 3 S. 189f. 313 Zahn Einl S. 621. 314 A.a.O. Anders Aune S. lxxxv. 315 Guthrie S. 950. 316 Robinson S. 228. Ebenso Hadorn S. 222. 317 Robinson S. 237f. 318 Wie wir Goppelt S. 521.
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9. Das Verhältnis der Offb zur Judenschaft der damaligen Zeit gehört zu den interessantesten Kapiteln der Auslegung. Es ist noch längst nicht erschöpfend beschrieben. Wir können in dieser Einleitung wieder nur stichwortartig verfahren. Allein die Tatsache, dass wir es mit einer „Apokalypse“ zu tun haben, schafft eine enge Berührung mit der damaligen jüdischen Geschichte. Ist unsere Offb ca. 95 n.Chr. verfasst, dann ist sie mehreren jüdischen Apokalypsen zeitlich benachbart: dem 4. Buch Esra (ca. 100 n.Chr.319), der syrischen Baruch-Apokalypse (Anfang des 2. Jh. n.Chr.320), der Endstufe des Äthiopischen Henochbuches („nach der Zeitenwende“321), der Apokalypse Abrahams („einige Jahre“ nach 70 n.Chr.322) und der Qumran-Literatur (bis 68 n.Chr.). Insofern ist unsere Offb nicht nur ein Teil der christlichen, sondern auch der jüdischen Geschichte. Jüdische Forscher wie David Flusser können sie daher „in the tradition of Jewish apocalyptics“ einordnen.323 Aber auch in der jüngsten christlichen Forschung, exemplarisch greifbar z.B. bei Michael Becker und Markus Öhler, betont man diese Nähe.324 Darf man die frühen talmudischen Rabbinen wieder enger mit dem apokalyptischen Gedankengut verbinden325, dann handelt es sich nicht nur um eine Verwandtschaft von Sektoren spezieller Literatur, sondern um eine Verwandtschaft mit dem damaligen Judentum überhaupt. Eine solche Verwandtschaft wird durch die Sprache der Offb mit ihren Semitismen und Hebraismen bekräftigt. Wir verweisen hier auf die Erörterungen zur Verfasserschaft, die uns auf einen juden-christlichen Verfasser aus dem Israelland geführt haben. In unserer Offb kommt dem AT eine entscheidende Rolle zu. Seine Benutzung ist so intensiv, dass sie bei keinem jüdischen Verfasser intensiver sein könnte. Allerdings muss gerade hier auf einen entscheidenden Unterschied hingewiesen werden, „der leicht in der Fülle der Parallelen unterzugehen droht“326, nämlich die Tatsache, dass für die Offb die Verheißungen des AT in Jesus Christus erfüllt sind. Eine solche Grundsatzentscheidung ist für die jüdischen Apokalypsen „ausgeschlossen“. Dennoch gilt: Allein die Existenz
319 320 321 322 323 324 325 326
So J. Schreiner, JSHRZ, V, 4, 1981, S. 301. So A.F.J. Klijn, JSHRZ, V, 2, 1976, S. 107. So S. Uhlig, JSHRZ, V, 6, 1984, S. 494. So B. Philonenko-Sayar und M. Philonenko, JSHRZ, V, 5, 1982, S. 419. Flusser S. 390. Becker/Öhler S. 13. Dafür plädiert Michael Becker in Apokalytik S. 283ff. Becker/Öhler a.a.O. Vgl. Marxsen S. 231.
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der Offb macht es unmöglich, das Neue Testament vom Alten abzukoppeln.327 Eine besondere Verbundenheit bekundet sich durch die „Jerusalem“-Thematik und „Jerusalem“-Verheißung der Offb (vgl. 3,12; 11,1ff; 20,9; 21,2.10ff). Es wird hier deutlich, dass die Kontinuität des Gottesvolkes im Alten und im Neuen Bund eine der Grundvoraussetzungen der Offb darstellt. Ohne Zweifel sieht sie in der Gemeinde des Messias Jesus das wahre Israel (vgl. auch Offb 7,1ff; 14,1ff; 15,3). Von da aus erschließt sich auch die Bedeutung des Begriffes „Synagoge“ (συναγωγή [synagoge]) in der Offb (vgl. 2,9; 3,9). In der Wortverbindung „Synagoge des Satans“ begegnet uns dieser Begriff negativ. Außerdem hat hier die Debatte über „Antijudaismus im NT“ eine Menge verdunkelt. Aber die Sprache Johannes des Täufers oder Qumrans in den innerjüdischen Auseinandersetzungen ist keineswegs sanfter als die der Offb.328 Peter Stuhlmacher hat also recht, wenn er sagt, Offb 2,9 und 3,9 „verrät noch keine antisemitische Tendenz. Vielmehr nennen hier Judenchristen in frühjüdisch-prophetischer Manier die Glaubensgegner Abkömmlinge des endzeitlichen Widersachers.“329 Man muss noch weiter gehen und solchen Aussagen wie Offb 2,9 oder 3,9 entnehmen, dass die Sendschreiben die wahre Synagoge in den christlichen Versammlungen sehen (vgl. Jak 2,2; Hebr 10,25). Dem entspricht es, dass die Sendschreiben in den Christen die wahren Juden und das wahre Israel sehen (vgl. 2,9.14; 3,9.12; 7,4ff; 11,1f.19; 14,1).330 Auffallend bleibt ferner, dass die Sendschreiben noch mit der Möglichkeit eines Wechsels hinüber und herüber rechnen: sowohl vom tradtionellen Judentum zum Christentum als auch umgekehrt (vgl. Offb 2,10.13; 3,9-11). Hier spielt sicher eine Rolle, dass das tradtionelle Judentum den Schutz einer religio licita genoss. Eine offene Frage ist es, inwieweit gnostische und judaisierende Tendenzen zusammengehören. Stellen wie Offb 2,14 („die Lehre Bileams“) könnten für eine solche Zusammengehörigkeit sprechen. Vermutlich hatte sich die Birkat ha-Minim (Verfluchung der Ketzer, auch der Nazarener = Christen, im Achtzehngebet) zur Zeit der Offb in Kleinasien noch nicht durchgesetzt. Selbstverständlich gab es analog Mt 23,2f eine ganze Reihe gemeinsamer Lehrpunkte mit der damaligen Synagoge: die Erwartung einer letzten Trübsalszeit, der Auferstehung der Toten, einer herrlichen Zukunft, einer neuen Schöpfung, 327 328 329 330
Becker/Öhler a.a.O. Gegen Marcion, Deutsche Christen u.ä. Versuche. Vgl. Mt 3,7 („Schlangenbrut“); QS II, 24 („Männer des Loses Belials“). Stuhlmacher BiblTheol S. 210, vgl. S. 172f. 268. Vgl. Robinson S. 227f.
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also eine große Gemeinsamkeit in der Eschatologie (vgl. Apg 23,6ff; 24,15; 26,6ff), aber auch bei der wichtigen Rolle des Messias, beim freien Willen (vgl. Sir 15,11ff; Pirke Aboth III, 19), bei der Unverbrüchlichkeit des Wortes Gottes und der Notwendigkeit von Treue und Gehorsam gegenüber Gott. Insgesamt vertritt die Offb die Auffassung: Das wahre Israel ist dort, wo der Messias ist. 10. Liegt der „bestimmende Charakter“ der Offb „auf dem Trost“331? Ist also die Offb „vor allem ein Trostbuch“332? Seit Martin Luther333 kann man solche Urteile häufig lesen.334 Nun lässt sich nicht bestreiten, dass die Offb tatsächlich der Kirche und der Christenheit aller Zeiten Trost spendet, nicht zuletzt den Märtyrergemeinden. Dennoch darf das „Trostbuch“ nicht die einzige Charakterisierung der Offb sein. Es bestünde sonst die Gefahr, dass der Trost-Zweck zum kleinsten gemeinsamen Nenner der widerstrebendsten Auslegungen würde. Vielmehr müssen auch andere Gesichtspunkte zum Tragen kommen. Da ist die Absicht der „Warnung“ vor falscher Lehre und falscher Hoffnung, von der einst Martin Luther sprach335. Da ist die Verkündigung des Christus als des Erlösers, des Wiederkommenden und des Weltvollenders, des Auferstandenen und des „Lammes“ in seiner ewigen Herrlichkeit.336 Mit demselben Recht, mit dem man die Offb als „Trostbuch“ bezeichnet, kann man sie auch als „Christusbuch“ bezeichnen. Da ist die Doxologie des Pantokrators und unvergleichlichen, weltüberlegenen Gottes. Da ist der Grundgedanke der Treue Gottes, der seine Gemeinde nach seinem ewigen Plan zum Ziel führt. Und da ist – häufig umstritten, aber letzten Endes nicht zu leugnen – der Zweck der Offb, für die Gemeinde ein Leitfaden der Zukunft zu sein. Es ist eben nicht wahr, dass die Offb nur „ein Buch ihrer Zeit“ ist, das „nicht belehren (will) über … die Wege göttlicher Geschichtsführung, die in ferner Zukunft einmal zur Erfüllung der Verheißungen führen“.337 Wahr ist vielmehr das Gegenteil: Sie will zeigen und lehren, „was geschehen soll“ (ἃ δεῖ γενέσθαι [ha dei genesthai]) in Zukunft bis hin zur neuen Schöpfung (Offb 1,1.19; 22,6).338 Ein Leitfaden – kein Fahrplan! Keine Utopie, sondern das
331 332 333 334 335
So Gnilka S. 403. So Schnackenburg S. 261. Vorreden S. 189. Vgl. Behm S. 3; Hengel Apok S. 403; Kümmel S. 407; Guthrie S. 976. Luther a.a.O. Vgl. schon Mt 24,4ff! Auch Swete sieht im „warning“ einen Hauptzweck des Buches (S. XCIV). 336 Vgl. Wikenhauser S. 12. 337 Gegen Behm S. 3; Kümmel S. 408. 338 Gesehen auch von Marxsen S. 231.
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„Ever-ever land of God’s eternal Values and Judgments“!339 Insofern ist sie nichts anderes als eine ausführlichere Fassung der Endzeitrede Jesu in Mt 24,4-31. Swete hat einst darauf hingewiesen, dass die Buchform der Offb (vgl. 22,18f) deutlich genug zeige, dass Johannes die Erfüllung der Weissagung nicht schon in einer oder zwei Generationen erwartete.340
9. Die Apokalypse in ihrem Verhältnis zum übrigen Neuen Testament Das Verhältnis der Offb zum Alten Testament und zu den alttestamentlichen Apokryphen lässt sich schon anhand des Novum Testamentum Graece von Nestle-Aland relativ einfach beschreiben: Die Zitate und Berührungen mit den alttestamentlichen Büchern, in vorderster Linie Hesekiel und Daniel, sind fast unübersehbar; aus den Apokryphen notieren Nestle-Aland jedoch kein einziges Zitat. Komplizierter ist die Beschreibung des Verhältnisses zum übrigen Neuen Testament. Dabei ragen die Evangelien als Bezugspunkt einzigartig hervor. Es ist die Jesus-Verkündigung, an die sich die Offb aufs Engste anschließt. Grob gesprochen kann man sagen, dass die Gliederung der Offb die Gliederung der Endzeitrede Jesu in Mt 24 widerspiegelt: 1. Warnung vor Verführung Mt 24,4-5 entspricht Offb 2–3 2. Weltgeschichtliche Erschütterungen Mt 24,6-8 entspricht Offb 6–9 3. Bedrängnis und Verfolgung der Gemeinde Mt 24,9-13 entspricht Offb 12–13 4. Fortdauer des Zeugnisses Mt 24,14 entspricht Offb 14
339 J.B. Phillips, zitiert von Morris S. 15. 340 Swete S. XCiV.
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5. Israel/Jerusalem-Thema Mt 24,15-20 entspricht (teilweise) Offb 11,1-14 6. Letzte Trübsal Mt 24,21-28 entspricht wieder Offb 12–13 7. Wiederkunft Jesu Mt 24,29-31 entspricht Offb 19–20. Manche Autoren meinen, Johannes habe bei der Abfassung der Offb das Matthäusevangelium benutzt.341 Es ist nicht auszuschließen, dass ihm bei der Abfassung das Matthäus- und andere kanonische Evangelien vorgelegen haben.342 Aber solche Vermutungen dürfen nicht dazu führen, aus der Offb unter der Hand ein Schreibtischprodukt zu machen. Die Übereinstimmungen könnten auch, wie selbst Guthrie sagt343, von gemeinsamer mündlicher Tradition („oral tradition“) oder einer „First-hand“-Bekanntschaft mit Jesus veranlasst sein.344 In unserer Sicht resultiert die Übereinstimmung vor allem aus der Identität des Redenden: Derselbe Jesus, der vor seiner Kreuzigung die Endzeitereignisse ankündigte (Mt 24 parr), hat nach seiner Erhöhung die Offb offenbart. Angesichts der theologischen Diskussion, die seit Martin Luther immer wieder an den Bildern der Offb Anstoß nahm345, muss hier betont werden, dass auch Jesus in seinen Gleichnissen (meschalim) mit einer grandiosen Vielfalt von Bildern arbeitete.346 Wo immer sich biblische Prophetie äußert, macht sie meist auch von Bildern Gebrauch. Inhaltlich decken sich Evangelien bzw. Neues Testament im Ganzen und Offb so stark, dass Hartenstein schreiben konnte: In der Offb sei „eigentlich nichts, was nicht im übrigen Teil des Neuen Testaments auch bezeugt wird … die Offenbarung enthält nichts im eigentlichen Sinn Neues“.347 Dies trifft zwar nur teilweise zu. Gog und Magog, die Letzte Rebellion, die ausführliche Darstellung der neuen Schöpfung sind durchaus neue – wenn auch keines341 342 343 344 345
Vgl. Guthrie S. 956; Torrey S. 10. Vgl. auch Hemer S. 18. Guthrie a.a.O. Vorsichtig auch Carson/Moo/Morris S. 477. Vgl. Luther Vorreden S. 179f; J.S. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, I, 1771, S. 133. 346 Vgl. Jeremias Gleichn pasim; David Flusser, Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus, 1, Jud Chr, 4, 1981, passim; Hartenstein S. 41. 347 Hartenstein S. 50.
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wegs fremdartige! – Inhalte im NT. Dennoch beeindruckt die Fülle gleicher Themen und Aussagen: so bei den zunehmenden Weltnöten (vgl. 1Kor 7,26; Röm 8,18ff; 1Petr 4,17), der zunehmenden Verfolgung der Gemeinde Jesu (2Thess 2,1ff; 1Petr 4,17; Hebr 4,16; 12,1ff), dem Kommen des Antichrist (2Thess 2,1ff; 1Joh 2,18ff), der Wiederkunft Jesu (1Kor 15,21ff; Phil 3,20; 1Thess 1,10; 4,13ff; 1Petr 5,4; 2Petr 3,10; Hebr 10,37; Jak 5,7f), dem Ende der Welt (1Kor 7,31; 1Petr 4,7; 1Joh 2,17; 2Petr 3,4ff), der Beseitigung der gottfeindlichen Mächte (1Kor 15,21ff), dem Jüngsten Gericht (1Kor 6,2f; 2Kor 5,10; 1Petr 4,5; Hebr 9,27), dem himmlischen Jerusalem (Phil 3,20; Hebr 12,22; 13,14) und dem Eintreten einer neuen Schöpfung (2Kor 5,1ff; Röm 8,18ff; 2Petr 3,13). Ja, sogar Einzelzüge aus der Offb finden sich im übrigen NT wieder, z.B. das Versetztsein in den Himmel bei Stephanus (Apg 7,55f) und bei Paulus (2Kor 12,2ff).348 Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Zahlen der Offb. Bekanntlich hat sich Bengel besonders intensiv mit diesen Zahlen beschäftigt. Aber auch Beckwith zählte ihre Bedeutung zu den Hauptfragen der Exegese.349 Und schon Irenäus (ca. 185 n.Chr.) widmete der Zahl 666 ein ganzes Kapitel.350 Lohmeyer351 wollte 1926 den gesamten Aufbau der Offb nach der Zahl 7 strukturieren. Neben 7 und 666 (vgl. Offb 1,4ff; 13,18) treten uns hauptsächlich die 3 (z.B. 3 Wehe Offb 8,13ff), die 4 (z.B. Offb 4,4ff), die 10 (Offb 12,3; 13,1; 17,3.7.12.16), die 12 bzw. 144 000 (Offb 7,4ff; 14,1ff; 12,1ff; 21,12ff), die 1000 (Offb 20,1ff) und der Zahlenkreis mit 3½ Zeiten bzw. 42 Monaten bzw. 1260 Tagen (Offb 11,2.3; 12,6.14; 13,5) entgegen. Offenbar transportieren diese Zahlen geistliche Aussagen. Ihre Erklärung wird innerhalb des Kommentars versucht werden. Hier sei nur so viel vermerkt, dass uns symbolische Zahlen durchaus nicht nur in der Offb begegnen. Sie sind vielmehr schon im Alten Testament zu Hause, insbesondere bei Hesekiel (1,4ff; 10,1ff; 40–48), bei Daniel (2,27ff; 7,1ff; 9,2ff; 12,7ff) und bei Sacharja (1,7ff; 2,1ff; 6,1ff). Und auch im Neuen Testament fehlen sie nicht. Man denke an die 3 × 14 = 42 Glieder im Stammbaum Jesu Mt 1,17, an die Zahlen 153 und 3 bei Johannes (Joh 21,11; 1Joh 5,7) oder die 3 bei Paulus (2Kor 12,8; vgl. Mt 26,44). Indirekt ist auch die Jahrwoche von Dan 9,27 bei Jesus in Mt 24,15 einbezogen.
348 349 350 351
Vgl. Hengel Apok S. 397. Beckwith S. 318f. Vgl. Marxsen S. 230. Adv. haer. V, 30. Vgl. Lohmeyer 1 passim.
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Die theologischen Übereinstimmungen mit Jesus, Johannes und anderen Verfassern des NT sind oben schon in § 4; § 8 und beim jetzigen Paragrafen angesprochen worden. Es verdient noch Erwähnung, dass in der Literatur gelegentlich eine Verwandtschaft der Offb mit dem Jakobusbrief angenommen wird. Eine solche ist nicht von der Hand zu weisen. Schnackenburg sah diese Verwandtschaft „am ehesten“ durch die gemeinsame Auffassung von den „Werken“ (ἔργα [erga]) gegeben.352 In der Tat steht der positive Gebrauch von ἔργα [erga] in Offb 2,2ff; 3,1ff; 14,13; 18,6; 20,12; 22,12 dem des Jakobus (vgl. Jak 1,22ff; 2,14ff; 3,13) nahe.353 Die bruderschaftliche, relativ einfache Gemeindestruktur stellt ein weiteres Element dar, das die Offb und den Jak verbindet. Einzelne Züge wie die Betonung des Bußrufes und des freien Willens oder das Beharren auf einer wahren „Synagoge“, die die „Synagoge“ des Christus ist (vgl. Jak 2,2, mit Offb 2,9; 3,9), kommen hinzu. Man wird in alledem die Zusammengehörigkeit der ersten christlichen Generation, die noch persönlichen Umgang mit dem irdischen Jesus hatte und vom Leben im Israelland geprägt war, die deshalb auch aus denselben Lehren Jesu und den ältesten christlichen Traditionen lebte, sehen dürfen. Insgesamt hat die Offb bei aller Eigenart doch ihren festen, legitimen Platz im Neuen Testament.
10. Text und Stellung im Kanon Der Text, der von der Offb überliefert ist, wird verschieden beurteilt. Nach Torrey ist er gut erhalten („well preserved“)354, nach Beckwith relativ unsicher.355 Aune, der sich dem Text der Offb mit großer Sorgfalt gewidmet hat, ist der Meinung, dass wir von der Textüberlieferung der Offb mehr wüssten als bei jedem anderen Buch des NT.356 Die Geschichte des Textes der Offb ist belastet durch die dogmatischen Streitigkeiten, die sich seit der zweiten Hälfte des 2. Jh. n.Chr. im Orient über die Offb erhoben. Die Textüberlieferung wurde dadurch lückenhaft. So spielt die Offb „im System der griechischen Lektionare keine Rolle“, d.h., sie fehlt
352 353 354 355 356
Schnackenburg S. 264. Vgl. auch Hemer S. 18. Torrey S. 18. Vgl. Carson/Moo/Morris S. 480. Beckwith S. 411. Aune S. cxxxvf.
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dort.357 Weiter fehlt die Offb in der syrischen Peschitta358. Allerdings darf man aus dem Fehlen in der Peschitta (5. Jh. n.Chr.) nicht ohne weiteres Urteile über die Kanonizität der Offb ableiten.359 Denn in der Peschitta fehlen auch Joh 7,53–8,11; Lk 22,17f; 2Joh; 3Joh; 2Petr; Jud.360 Jedoch „ist die textgeschichtliche und textkritische Situation“ in der Offb anders als bei „den übrigen Schriften des Neuen Testaments“.361 Die ältesten Textzeugen sind P98 (evtl. 2. Jh. n.Chr.) und P47 (3. Jh. n.Chr.).362 Den beiden Majuskeln A (Alexandrinus) und C (Codex Ephraemi Syri rescriptus), beide aus dem 5. Jh. n.Chr., wird der höchste Textwert zugeschrieben.363 Bei unserer Kommentarbeit ergaben sich hinsichtlich des Textes keine größeren Schwierigkeiten, als sie im Durchschnitt auch bei anderen Büchern des NT auftauchen. Was die Stellung der Offb im Kanon betrifft, muss zunächst die Selbstaussage der Offb gewürdigt werden. Von allem Anfang an ist die Offb als „Buch“ (βιβλίον [biblion]) konzipiert (1,3.11; 10,8; 22,7.9.10.18.19). Mehr noch: Sie wird durch Offb 22,18f auf eine Ebene mit der Tora, also der Bibel des Alten Testaments, gestellt. Man muss daraus mit Swete den Schluss ziehen: Diese Stellen „anticipate … a place among the Scriptures of the Church“.364 Es hat deshalb eine innere Berechtigung, wenn J.-B. Bossuet 1823 vom „Evangelium des Auferstandenen“ sprach.365 Sehr früh wurde die Offb schon tradiert und ausgelegt. Das trifft – wie nicht anders zu erwarten – vor allem auf die frühe kleinasiatische Theologie zu, die wir als „Johanneische Schule“ bezeichnen. Fassbar wird diese Auslegung in der Lehrergeneration des Irenäus, nämlich bei Papias und den kleinasiatischen Presbytern ca. 125 n.Chr. Für beide müssen wir annehmen, dass die Offb für sie den Rang einer heiligen Schrift hatte.366 Eindeutig ist das bei Justinus
357 358 359 360 361 362 363 364 365 366
Aland Text S. 172. Aland Text S. 203. Anders Bousset S. 26. Aland a.a.O. Aland Text S. 250, vgl. S. 40. Aland a.a.O.; Aune S. cxxxviif. Aland Text S. 250f; Carson/Moo/Morris a.a.O.; Piper Sp. 827. Swete S. XCVIII. Nach Strobel S. 175. Vgl. meine Offb S. 62ff; Piper Sp. 824; Carson/Moo/Morris a.a.O.; Beckwith S. 338; Bousset S. 19.
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Martyr um 150 n.Chr. der Fall.367 Erst recht gilt das für Irenäus368 (geb. ca. 115 n.Chr.). Ebenso gilt es für den Kanon Muratori369 (ca. 200 n.Chr.). Melito, Bischof von Sardes, schrieb um 175 n.Chr. über die Offb370, ebenso Theophilus, Bischof von Antiochien, und vermutlich auch Apollinarius, Bischof von Hierapolis.371 Alle drei wirkten zur Zeit Mark Aurels (161–180 n.Chr.).372 Vermutlich hat aber schon Ignatius, Bischof von Antiochien, um 115 n.Chr. auf die Offb Bezug genommen (z.B. in ad Eph 15,3 auf Offb 21,3).373 Überblickt man die ganze reichhaltige Bezeugung im 2. Jh. n.Chr., dann zeichnen sich zwei Sachverhalte ab: 1) die Offb ist nach den erhaltenen Dokumenten damals das am häufigsten besprochene Buch des NT, 2) sie ist spätestens ab ca. 150, wohl aber schon 30 Jahre früher als kanonisches Buch betrachtet worden. Beckwith fasst diese Beobachtungen prägnant zusammen: „No other writing of the New Testament can claim in comparison with the Apocalypse more abundant and more trustworthy evidence that it was widely known at an early date.“374 Im 2. Jh. setzt jedoch auch schon der Angriff auf die Autorität der Offb ein. Um 140 n.Chr. verwirft Marcion, Kleinasiate aus Pontus, generell die Johannesschriften samt der Offb.375 In den 50er-Jahren des 2. Jh. entsteht ebenfalls in Kleinasien die Bewegung des Montanus und des Montanismus, die sich gerade auf die Johannesschriften stützte, und zwar insbesondere die Offb.376 Als Gegengewicht zu dieser vermutlichen Überbetonung der Johannesschriften und zur Abwehr der montanistischen Häresien treten dann die sog. Aloger auf, zuerst in Kleinasien, später in Rom, die in der Person des Gaius von Rom um 200 n.Chr. konkret fassbar werden. In der Konsequenz der Bekämpfung der montanistischen Häresien sprechen sie Johannes die Verfasserschaft an der Offb ab und machen aus der Offb ein Werk des Kerinth.377 Übrigens sind 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377
Dial cum Tryph 81,4; Piper a.a.O.; Carson/Moo/Morris a.a.O. ; Bousset S. 20. Adv. haer. IV, 20,11; V, 30,1ff; Euseb H.E. V, 1,3ff. Vgl. Bousset S. 19. Beckwith S. 339; Carson/Moo/Morris a.a.O.; Piper Sp. 824. Euseb H.E. IV, 26,2. Vgl. Bousset S. 21. Euseb H.E. IV, 24; IV, 27. Vgl. Beckwith a.a.O.; Piper a. a.O. Vgl. Bousset S. 19; Hirschberg S. 79f; Piper a.a.O.; Carson/Moo/Morris a.a.O. Bei Letzterem auch die Vermutung, dass Barnabas und der Hirte des Hermas ebenfalls die Offb kannten, unter Berufung auf Guthrie. Beckwith S. 337; ebenso Morris S. 27 (nach B.W. Bacon); Bousset S. 21; Piper a.a.O.; Guthrie S. 933; Kraft S. 7. Vgl. meine Offb S. 80. A.a.O. S. 80ff. A.a.O. S. 69ff.
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beide Bewegungen, die der Montanisten und die der Aloger, je auf ihre Art Zeugen für die Bedeutung, die die Offb im 2. Jh. besaß. In der Mitte des 3. Jh. erschütterte dann Dionysius, ca. 247–265 n.Chr. Bischof von Alexandria, die Autorität der Offb weit nachhaltiger als die Streitigkeiten des 2. Jh. Dionys vertrat unter Berufung auf „einige unserer Vorfahren“378 die Ansicht, dass die Offb nicht vom Apostel Johannes stamme. Er wies sie stattdessen einem bis dato völlig unbekannten, zweiten Johannes von Ephesus zu.379 Eins aber wagte er nicht: Die Offb aus dem Kanon zu werfen.380 Nicht einmal Eusebius von Caesarea (ca. 260/265–229/340 n.Chr.) hat dies gewagt. Vielmehr rechnet er die Offb zu den Homologumena, den anerkannten heiligen Schriften des Neuen Testaments.381 Allerdings tut er das mit starken Einschränkungen, die sein persönliches Vorurteil verraten. Beispielsweise vermerkt er, dass über die Offb verschiedene Meinungen bestehen. Man „kann, wenn man es für gut hält“, die Offb zu den anerkannten Schriften zählen – muss es aber seinen Worten zufolge nicht.382 Im Anschluss an Dionysius Alexandrinus und Eusebius pflanzte sich die Unsicherheit über die Offb im Osten fort. So fehlt die Offb in der Kanonliste der Synode von Laodizea (um 360 n.Chr.), bei Cyrill, Chrysostomus, Theodor v. Mopsuestia, Theodoret und in der syrischen Peschitta.383 Erstaunlicherweise hielt Ägypten aber gegen Dionysius an der Kanonizität der Offb fest. Die Unsicherheit beschränkte sich also im Wesentlichen auf den syrischpalästinischen Raum.384 Unbestritten blieb – bis auf Gaius von Rom und seine Partei – die Kanonizität der Offb im Westen.385 Wo immer Kanonlisten in jener frühen Zeit auftauchen, steht die Offb am Ende des NT, so z.B. im Kanon Muratori. Athanasius (gest. 373 n.Chr.), wie Dionysius Bischof in Ägypten, nämlich seit 328 n.Chr. Metropolit von Alexandria, 335/337 n.Chr. im Exil in Trier, hat die bis heute gebräuchliche Kanonliste festgelegt. Dies geschah in seinem 39. Osterfestbrief im Jahre 367 n.Chr. Darin bildet die Offb das abschließende, letzte Buch des neutestamentlichen Kanons.
378 379 380 381 382 383 384 385
Euseb H.E. VII, 25,1. A.a.O. VII, 25,6-16. Vgl. meine Offb S. 86ff. A.a.O. VII, 25,4. Vgl. Piper a.a.O. A.a.O. III, 25,2f. A.a.O. III, 25,2. Vgl. Bousset S. 26ff; meine Offb S. 106ff. Vgl. wieder Bousset S. 29. Bousset S. 30.
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Die späteren Zweifel haben zwar das Ansehen der Offb beschädigt, aber ihre Stellung im Kanon nicht mehr aufheben können. Die kirchengeschichtlich gravierendsten Zweifel hat Martin Luther in seiner Vorrede von 1522 vorgetragen. Persönlich bekannte er: „Mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken.“ Stattdessen wollte er „bei den Büchern“ bleiben, „die mir Christus hell und rein dargeben“.386 Ein wesentlicher Grund der Beurteilung Luthers lag darin, dass „viel der Väter dies Buch (= die Offb) vorzeiten verworfen“ haben.387 In seiner Vorrede von 1530 nahm er ausdrücklich auf Eusebs Kirchengeschichte388 Bezug. Man kann also das Fortwirken der dionysisch-eusebianischen Tradition bis hin zu Luther und Semler389 verfolgen, ja bis in die Gegenwart hinein. Jedoch hat Luther seine eigene Beurteilung 1530 dahingehend relativiert, dass er 1) jetzt die Offb vollgültig in sein NT aufnahm, und 2) sogar eine Auslegung der Offb anbot.390 Sowohl das Konzil von Trient (1546) katholischerseits als auch reformatorische Bekenntnisse protestatischerseits haben die kanonische Stellung der Offb bestätigt.391
11. Zur Geschichte der Auslegung der Apokalypse Die Auslegungsgeschichte der Offb beginnt praktisch mit ihrer Veröffentlichung, wie die Diskussion der Presbyter und Johannesschüler bei Irenäus zeigt.392 Sie hat so viele Auslegungen und Beiträge hervorgebracht, dass niemand mehr in der Lage ist, sie zu überblicken. Wir versuchen, einige Stationen auf dem Weg der Auslegung festzuhalten. Als Ergänzung kann meine Veröffentlichung „Die Johannesoffenbarung und die Kirche“ dienen. Auslegung und Tradierung der Offb war ein Anliegen der kleinasiatischen Presbyter, die Johannes zum Teil noch persönlich kannten.393 Ob Ignatius (Briefe ca. 115 n.Chr.) die Offb kannte, muss offenbleiben.394 Als Erster in 386 387 388 389 390 391
Luther Vorreden S. 180. A.a.O. Vgl. Vorrede von 1530 a.a.O. S. 181. H.E. III, 25. Vgl. Hofmann S. 355. Vgl. dessen Vorrede zu „Abhandlung von freier Untersuchung des Canon“ 1771. Luther Vorreden S. 180ff. Vgl. Hofmann S. 622ff. Vgl. Denzinger/Schönmetzer, 36. Aufl., 1976, S. 365; Conf Gallicana 3 (1559); Westminster-Bekenntnis Kap. 1 (1647). 392 Adv. haer. V, 30; V, 33,3.4; V, 36,1. 393 Irenäus a.a.O.; Eusebius H.E. III, 39,7ff. 394 Bejahend Piper Sp. 824. Vorsichtiger Bousset S. 19; Carson/Moo/Morris S. 480; Guthrie S. 932; Hemer S. 19. Ähnliches gilt für Barnabas.
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der Generation nach Johannes ist Papias, Bischof im phrygischen Hierapolis, zu nennen. Er dürfte 65–70 n.Chr. geboren sein. Sein Hauptzweck, die fünfbändige „Erklärung von Herrenworten“ (Λογίων κυριακῶν ἐξήγησις [Logion kyriakon exegesis])395 gehört ungefähr in die Zeit von 120–125 n.Chr. Den erhaltenen Nachrichten zufolge hat er dort auch eschatologische Themen besprochen, darunter das Tausendjährige Reich.396 Hier kommt eigentlich nur Offb 20,4ff in Frage. Andreas von Caesera hat ein weiteres Papias-Fragment überliefert, in dem Papias Offb 12,7ff bespricht.397 Demnach hat Papias die Offb gekannt und exegesiert. Justinus Martyr (ca. 110–165 n.Chr.) ist als Nächster zu nennen. In seinem „Dialog mit dem Juden Tryphon“ erwähnt er, dass in der Offb des Apostels Johannes tausend Jahre geweissagt seien, die die Christusgläubigen noch vor der allgemeinen Totenauferstehung mit Christus verbringen würden (81,4). Wieder kommt nur Offb 20,4ff als Textgrundlage infrage.398 Ausführlich beschäftigt sich Irenäus mit der Offb. In seinem Hauptwerk „Gegen die Häresien“, geschrieben wohl in der Zeit 180–190 n.Chr., zitiert er die Offb über zwanzigmal. Irenäus stammt aus Kleinasien, ist ca. 115 n.Chr. geboren, war Schüler des Polykarp und Papias und der kleinasiatischen Presbyter, wurde 177 Bischof von Lyon und starb vermutlich als Märtyrer. Er hatte Zugang zu den ältesten und besten Quellen der Apokalypsedeutung. Themen, die er bespricht, sind neben dem Eingangskapitel und den Sendschreiben die christologischen Aussagen in Offb 5, der Antichrist von Offb 13, die Zahl 666 von Offb 13,18, die Wiederkunft Christi von Offb 19,11ff, die erste Auferstehung von Offb 20,6, das Gericht von Offb 20,11ff, das himmlische Jerusalem und die Neuschöpfung von Offb 21,1ff.399 Von Melito, Bischof von Sardes, wissen wir, dass er um 175 n.Chr. eine Abhandlung „Über den Teufel und die Johannesoffenbarung“ schrieb.400 Wenn sein Zeitgenosse Apollinarius, damals Bischof von Hierapolis, „ein Werk gegen die Häresie der Phrygier“ (= Montanisten) schrieb401, dann hat er sehr wahrscheinlich ebenfalls die Offb behandelt.402
395 396 397 398 399
Eusebius H.E. III, 39,1; Irenäus Adv. haer. V. 33,4. Eusebius a.a.O. III, 39,11f. Vgl. meine Offb S. 62ff. Vgl. Beckwith S. 320. Vgl. Adv. haer. IV, 20,2.11; V, 28,2; 30,1ff; 26,1; 34,2; 35,2; 36,3. Vgl. Beckwith S. 320ff. 400 Eusebius H.E. IV, 26,2. Vgl. Piper Sp. 825. 401 So Eusebius a.a.O. IV, 27. 402 Das sagt jedenfalls Eusebius H.E. IV, 18,12-14.
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Überblickt man die griechischsprachige Exegese des 2. Jh. n.Chr., dann fällt auf, dass vor allem der realistische Charakter der Eschatologier betont und gegen eine allegorische Auflösung verteidigt wird. Deshalb sind sie alle – Papias, Justin, Irenäus, die Presbyter – Chiliasten. Deshalb konnten später die allegoristisch eingestellten Schriftsteller des griechischen Ostens den Vorwurf erheben, diese alten Ausleger hätten „ein leibhaftiges“ oder „irdisches“, also fleischliches Reich Christi auf Erden erwartet.403 Es ging aber nicht um das Fleisch, sondern um den Realcharakter der Verheißung. Die Auseinandersetzungen mit den Montanisten und mit den Alogern, die ja auch die Offb berührten, haben wir schon an anderer Stelle erwähnt. Für die Auslegungsgeschichte der Offb im Westen ist noch Hippolyt zu erwähnen, um 220 Presbyter in Rom, 235 n.Chr. nach Sardinien verbannt, der Irenäus in manchem theologisch verwandt war und griechisch schrieb. In seinem Danielkommentar wollte er die Offb von Daniel aus erklären. Wie Irenäus überlässt er es der Zukunft, uns die Zahl 666 in Offb 13,18 zu entschlüsseln. Auch Hippolyt war Chiliast.404 Leider ist sein Offb-Kommentar verloren. Tertullian, seit Ende des 2. Jh. n.Chr. als lateinisch schreibender Schriftsteller hervorgetreten (ca. 150–223 n.Chr.), gebürtiger Karthager, aber auch in Rom tätig, bezeugt ebenfalls das Ansehen der Offb im Westen. Auch er vertrat die Lehre vom Tausendjährigen Reich nach Offb 20,4ff. Der „apostolus Iohannes“ ist für ihn selbstverständlich der Verfasser der Offb. In der juristischen Sprache des Tertullian „wird er auf eine Insel relegiert“ (in insulam relegatur).405 Offensichtlich hat sich Tertullian bei der Apokalypse-Deutung an Irenäus angeschlossen.406 Jedenfalls zitiert er die Offb „sehr häufig“.407 Dass man sich schon vor Hippolyt und Tertullian im Westen, zumindest in Rom, mit der Offb befasste und sie auslegte, ergibt sich aus einer Mehrzahl von Zeugnissen. Guthrie sah im „Hirten des Hermas“, einer um 140 n.Chr. in Rom verfassten Apokalypse, eine ganze Reihe von Bezugnahmen auf unsere Offb.408 Die selbstverständliche Art, in der die römische Kanonliste des Canon Muratori um 200 n.Chr. (oder schon etwas früher) die Offb unter den kanonischen Büchern verzeichnet, setzt voraus, dass man sie im Gottesdienst las und auslegte. Schließlich muss der Streit zwischen Alogern und Montanisten in Rom die Rolle der Offb betont haben. Gaius von Rom, der zur Zeit des 403 404 405 406 407 408
Vgl. Eusebius H.E. III, 39, 12; VII, 24,4.5; 25,3. Vgl. Beckwith S. 321. De praescr haer 36,3. Beckwith a.a.O. Vgl. Carson/Moo/Morris S. 468; Bousset S. 21. Bousset a.a.O.; Beckwith S. 339; Guthrie S. 933. Guthrie S. 931f.
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römischen Bischofs Zephyrinus (199–217 n.Chr.) in Rom lebte, hat offensichtlich in seinem „Dialog mit Proclus“ (Διάλογος πρὸς Πρόκλον [Dialogos pros Proklon]) die Offb dem Ketzer Kerinth zugewiesen. Hintergrund war die Bekämpfung der montanistischen Position, die Proclus vertrat. Eine Herleitung der Offb von Kerinth aber kann nur so erfolgt sein, dass Gaius die Offb exegetisch untersuchte. Gerade dies wird von Eusebius bezeugt.409 Hemer vermutete überdies, dass Philostratus, der im Auftrag der Kaiserin Julia Domna um 200 n.Chr. das Leben des Apollonius von Tyana beschrieben hat, möglicherweise die Offb kannte.410 Das 3. Jh. n.Chr. wird charakterisiert durch zwei gegensätzliche Bewegungen. Einerseits setzt sich die Wertschätzung der Offb sowohl im Osten wie im Westen fort. Hier sind Clemens Alexandrinus411 (um 200 n.Chr.) als Leiter der alexandrinischen Katechetenschule, sein Schüler und Nachfolger Origenes (ca. 185–254 n.Chr.) und Bischof Cyprian von Karthago (gest. 258 n.Chr.) zu nennen.412 Andererseits wird ein innerägyptischer Streit, in dem auch das Verständnis der Offb eine Rolle spielte, zum Auslöser einer neuen Krise der Autorität der Offb. Dionysius, Leiter der alexandrinischen Katechetenschule und 247/248 bis 264/265 Bischof von Alexandria, verfasste nach dem Bericht des Eusebius zwei Bücher mit dem Titel „Über die Verheißungen“.413 Sein literarischer Gegener war der damals schon verstorbene Bischof Nepos von Arsinoe, der in seiner „Widerlegung der Allegoristen“ die endzeitlichen Verheißungen der Offb, nicht zuletzt das Tausendjährige Reich von Offb 20,4ff, realistisch auslegte. Eusebius nannte dies eine Auslegung „nach jüdischer Art“.414 In Alexandria aber deutete man seit Origenes allegorisch, wodurch sich der Realcharakter der Offb verflüchtigte. Dionysius hielt nun den realistisch gesonnenen Traditionalisten, die sich auf Nepos beriefen, Folgendes entgegen: a) Die Offb stamme gar nicht vom Apostel Johannes, sondern von irgendeinem anderen ephesinischen Johannes. Als Begründung gab er an: „Man sagt, in Ephesus seien zwei Gräber gewesen, und jedes davon heiße Johannesgrab“.415 b) Schon „einige unserer Vorfahren“ hätten die Offb verworfen und sogar als ein Werk des Ketzers Kerinth betrachtet.416 Hier kann Dionysius nur Gaius von Rom und die Aloger im Kopf gehabt haben. c) Die 409 410 411 412 413 414 415 416
Vgl. Eusebius H.E. II, 25,5ff; III, 28,1; 31,4f; VI, 20,3 sowie meine Offb S. 69ff. Hemer S. 20. Vgl. Eusebius H.E. VI, 13,6; 14,1ff. Vgl. Bousset S. 21f; Beckwith S. 322f.339; Guthrie S. 933; Morris S. 26. Vgl. Eusebius H.E. VII, 24,1. A.a.O. A.a.O. VII, 25,16. A.a.O. VII, 25,1-2.
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Offb könne nicht von demselben Verfasser sein wie das JohEv oder der 1Joh, weil sie in „Gedanken und Worten“ (= Begriffen) und Stil zu andersartig sei. Hinzu komme, dass der Verfasser Johannes seinen Namen nenne, was der Evangelist Johannes nicht tue.417 d) Schließlich seien Evangelium und Brief des Apostels Johannes „in fehlerlosem Griechisch geschrieben“, während der Verfasser der Offb „barbarische Wendungen und gelegentlich auch Verstöße gegen die Sprache hat“.418 Die Ansichten des Dionysius waren nicht zuletzt deshalb so durchschlagend, weil sie von Eusebius, Bischof von Cäsarea in Palästina (ca. 260/265– 339/340), unterstützt, ja geradezu propagiert wurden.419 In der Folgezeit traf die Offb im Orient auf merkliche Zurückhaltung. Es dauerte längere Zeit, bis ihre kanonische und apostolische Geltung wieder uneingeschränkt feststand. Bei Luther und in der Aufklärung kamen die Ansichten des Dionyius und Eusebius noch einmal zur Geltung420 und wirken im Gewande moderner Theologie bis heute fort.421 Erstaunlich aber ist, dass die Darlegungen des Dionysius in seiner ägyptischen Heimat keineswegs zur Verwerfung der Offb oder gar ihrem Ausschluss aus dem Kanon führten. Vielmehr sorgte der wahrscheinlich in Alexandria geborene Athanasius (ca. 295–373 n.Chr.), lange Jahre ebenfalls Bischof in Alexandria, in seinem 39. Osterfestbrief von 367 n.Chr. dafür, dass die Offb für alle folgenden Zeiten ihren festen Platz im Kanon behielt. Im Westen blieben die Diskussionen, die der Osten im 3. und 4. Jh. n.Chr. führte, ohne allzu große Wirkung. Ein Beispiel dafür stellt der Kommentar des Victorinus, Bischof von Petavium (Pettau) und um 303 n.Chr. als Märtyrer gestorben, dar. Er datiert die Offb in die Zeit Domitians, hält Abstand zur Allegorisierung und bleibt beim überlieferten Chiliasmus. Unseres Wissens ist dieser Kommentar der erste, der mit einem Nero redivivus rechnet und dessen Gestalt mit dem Antichristus von Offb 13 identifiziert. Eine zweite Besonderheit liegt darin, dass bei Victorinus die Posaunen-Gesichte den Schalen-Gesichten parallel laufen, oder anders ausgedrückt: die Schalen-Gesichte rekapitulieren die Posaunen-Gesichte. Hier wird also die sog. RekapitulationsTheorie zu einem tragenden Element der Auslegung.422 Erwähnt sei noch,
417 418 419 420 421 422
A.a.O. VII, 25,6-11.17-23. A.a.O. VII, 25,24-26. A.a.O. VI, 40,1–42,6; 45–46,5; VII, 24–26. Vgl. Luther Vorreden S. 189f; Hofmann S. 258ff. Vgl. Karrer Sp. 837. Vgl. Piper Sp. 825.
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dass Victorinus die beiden Zeugen von Offb 11 als Elia und Jeremia bestimmt.423 Mit dem Nordafrikaner Ticonius424 kommt es zu einem tiefen Einschnitt in der Apokalypse-Auslegung425. Sein Offb-Kommentar wurde um 385 n.Chr. geschrieben.426 Für Ticonius ist die ganze Geschichte durch den Gegensatz zwischen Gottesstaat und Teufelsstaat bestimmt (pars bzw. civitas Dei und pars bzw. civitas diaboli) – eine Konzeption, die dann Augustin übernahm. Dementsprechend enthält die Offb „bella et incendia, tribulationes magnas et pressuras intra ecclesiam“ („Kriege und Feuerbrände, große Trübsale und Nöte innerhalb der Kirche“). Die Deutung des Ticonius verbindet sich mit einer starken Naherwartung und einer kontrollierten „geistlichen“ Auslegung, die sich für ihn in dem Begriff „spiritaliter“ verdichtet. Ticonius will der mehr und mehr aus dem Osten eindringenden Allegorese mit seinen „geistlichen“ Auslegungsregeln wehren, die allerdings einen mehrfachen Schriftsinn zulassen. Was aber die Offb-Deutung der Folgezeit entscheidend umprägte, war die Auffassung des Ticonius von den tausend Jahren in Offb 20. Ticonius hat die Lehre von den 1000 Jahren keineswegs verworfen. Aber er hat die 1000 Jahre aus der Zukunft in die Gegenwart transportiert. Die 1000 Jahre bezeichnen nämlich die Zeit der Kirche von der Himmelfahrt bis zur Wiederkunft Jesu. Denn die erste Auferstehung geschah schon in der Taufe.427 Augustinus (354–430 n.Chr.) hat Ticonius nicht nur geschätzt, sondern auch in wichtigen Punkten übernommen.428 Vor allem übernahm er dessen Auslegung der 1000 Jahre in Offb 20. Ursprünglich war Augustin Chiliast im traditionellen Sinne429. Das verwundert auch nicht angesichts der Stärke des überlieferten Chiliasmus gerade in Nordafrika, der z.B. bei Tertullian, Cyprian, Commodian, Arnobius und Laktanz zutage tritt. Schon in seiner frühen Zeit unterschied sich Augustin allerdings an einer markanten Stelle von Ticonius: Im Gegensatz zu Letzterem vertrat er nämlich keine Naherwartung. Typisch ist, was er in Ep. 199 an Hesychius schrieb: „Non ergo ille diligit adventum Domini, qui eum adserit propinquare“ („Nicht derjenige also liebt die Wiederkunft des Herrn, der versichert, sie stehe nahe bevor“). Was ihn mit 423 424 425 426 427
Vgl. Beckwith S. 321f; meine Offb S. 106.130. Zu anderen Schreibweisen vgl. meine Offb S. 109f. Beckwith S. 324 spricht von einem „epoch-making commentary“. Vgl. hier und im Folgenden meine Offb S. 108ff. Wir fügen hinzu, dass Ticonius ebenfalls eine Rekapitulationstheorie vertritt (meine Offb S. 113.119) und die zwei Zeugen von Offb 11 mit der Christuspredigt der Kirche nach AT und NT identifiziert (Beckwith S. 324). 428 Vgl. hier und im Folgenden meine Offb S. 129ff. 429 Vgl. Sermo 259,2.
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Ticonius verbindet, ist eine refklektierte Aufnahme der allegorischen oder „geistlichen“ Deutung, die Auffassung vom Gottesstaat und Teufelsstaat bzw. Erdenstaat als den prägenden Gestaltungsmächten der Geschichte und eben die Versetzung der tausend Jahre in die Zeit der Kirche. Dabei lässt Augustin zwei Verständnisweisen gelten: Entweder meinen die tausend Jahre von Offb 20,4ff die gesamte Kirchengeschichte vor der Parusie oder nur den letzten Teil der Kirchengeschichte vor der Wiederkunft des Herrn. Augustin war – noch einmal im Unterschied zu Ticonius – kein Apokalyptiker. Aber er hat der Offb mit seiner zugleich realistischen und allegorischen Deutung und gerade auch durch die Verlegung der 1000 Jahre in die Kirchengeschichte einen Platz im theologischen Denken der Kirche gesichert. Für rund 800 Jahre folgen nun die Kommentare im Westen den Spuren, die Victorinus, Ticonius und Augustinus gelegt hatten. Wir erwähnen Primasius (Bischof von Hadrumentum, gest. ca. 565 v.Chr.), Apringius (ca. 550 n.Chr.), Beda Venerabilis (672–735 n.Chr.), Beatus von Liebena (zweite Hälfte des 8. Jh. n.Chr.), Haimo von Halberstadt (gest. 843 n.Chr.), Walafried Strabo (gest. 849 n.Chr.), Anselm von Laon (gest. 1127 n.Chr.), Rupert von Deutz (gest. 1135 n.Chr.) und Richard von St. Victor bei Paris (gest. 1173 n.Chr.).430 Martin Karrer führt auch „die zeitlich-visionären Entwürfe Hildegards von Bingen (1098–1179)“ auf den Einfluss der Offb zurück.431 Im Osten sind die Kommentare von Andreas von Caesarea (ca. 600 n.Chr.)432, Oecumenius, Bischof in Thessalien (um 600 n.Chr.) und Arethas von Caesarea (um 900 n.Chr.) erwähnenswert.433 Ein neuer, tiefer Einschnitt in der Geschichte der Offb-Auslegung erfolgt um 1200 n.Chr. Er hängt zusammen mit dem Namen Joachim von Fiore, eigentlich Gioacchino da Fiore, Abt in Süditalien, gest. 1202 n.Chr.434 Joachim gehört zu denjenigen Theologen, deren Wirkungen bis heute von Bedeutung sind. Am nachhaltigsten wirkte wohl seine Konzeption von den drei Zeitaltern (status) der Heilsgeschichte: dem Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Später hat z.B. Lessing seine Drei-Zeitalter-Lehre bewusst aufgegriffen.435 Joachim war Exeget. Und eine Schlüsselrolle kam bei seiner Exegese der Offb zu. Er erlebte seine innere Erleuchtung während des Offb-Studiums: „Als ich um die Matutin aus dem Schlaf erwachte, da nahm 430 431 432 433 434 435
Vgl. Bousset S. 49ff; Piper Sp. 825; dazu Walch passim. Karrer Sp. 837. Vgl. meine Offb S. 173.177.197. Vgl. meine Offb S. 41.46f.62.64f; Piper Sp. 825. Vgl. Piper a.a.O. Vgl. hier und im Folgenden meine Offb S. 173ff. Lessing S. 28f (§86-90).
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ich zur Meditation dieses Buch in die Hand … Da durchfuhr plötzlich … eine Helligkeit der Erkenntnis die Augen meines Geistes.“436 Es ist hier nicht möglich, alle Ergebnisse seiner Offb-Auslegung zu besprechen. Nur Weniges sei angedeutet: Sein Kommentar geht davon aus, dass die 7 Siegel der Offb 7 Epochen der Kirchen- bzw. Heilsgeschichte abbilden. Das sechste Siegel steht unmittelbar bevor, es wird wohl ca. 1200–1260 erwartet. Joachim teilt also mit Ticonius die Naherwartung. Wenn das siebte Siegel eröffnet wird, also ca. 1260 n.Chr., beginnt das dritte große Zeitalter, das Zeitalter des Heiligen Geistes. Die 7 Siegel und die 3 Zeitalter sind also teilweise synchronisiert. Eingeleitet wird das Geistzeitalter durch den endzeitlichen Elia. Es ist zugleich das Zeitalter des ewigen Evangeliums von Offb 14,6. Danach folgen zukünftig noch der Kampf mit Gog und Magog, das Endgericht und die neue Schöpfung. Joachim versteht also die Offb im Gefälle einer Zeitlinie. Die Sehnsucht wird auf das Zukünftige fokussiert. Das hat seine Auswirkung auch auf das Verständnis der 1000 Jahre von Offb 20,4ff. Wohl lässt Joachim wie Augustin die 1000 Jahre mit der Auferstehung Jesu beginnen. Aber wesentliche Ereignisse, die mit den 1000 Jahren der Offb zusammenhängen, gehören doch eindeutig nicht in die vergangene oder gegenwärtige Kirchengeschichte, sondern stehen noch aus. Praktisch bedeutet dies: Joachim und seine Nachfolger heben die Verknüpfung der 1000 Jahre mit der bisherigen Kirchengeschichte zumindest teilweise wieder auf – anders als Ticonius und Augustin – und setzen sie wie die frühe Kirche wieder in der Zukunft an. So kann der Chiliasmus wieder Fuß fassen. In der Zeit nach Joachim hat der sog. Joachimismus viele dieser Impulse aufgenommen und in verschiedener Richtung weiterentwickelt.437 Eine besondere Rolle spielen dabei die Franziskanerspiritualen. Einer von ihnen, Gherardino di Borgo San Donnino, veröffentlicht 1254 n.Chr. in Paris einen Liber introductorius in evangelium eternum. Hier wird erstmals die babylonische Hure der Offb auf die Papstkirche bezogen: ecclesia meretrix et certe domus est meretricis Roma ecclesia.438 Damit ist für Jahrhunderte ein Muster der Offb-Deutung ausgelegt. Wie stark Joachim weiterwirkt, erkennt man auch daran, dass sich die bestehenden Orden mit den Predigern und Gerechten des Zeitalters des Heiligen Geistes zu identifizieren suchen. So äußern der Franziskaner Johann von Parma und der Dominikaner Humbert von Romans in einer gemeinsamen Enzyk436 Offb S. 176. 437 Vgl. Offb S. 178ff. 438 Offb S. 178.
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lika vom Jahre 1255 die Auffassung, die Christen lebten jetzt in der Endzeit. Ihre beiden Orden seien die zwei Zeugen von Offb 11,3ff, die Offb erfülle sich also jetzt. Unter den Kommentaren erfordern diejenigen von Alexander von Bremen (1250 n.Chr.), Berthold von Regensburg (etwa dieselbe Zeit), Petrus Johannis Olivi (1297 n.Chr.) und Nikolaus von Lyra (ca. 1270–1340) besondere Beachtung. Unter dem Einfluss apokalyptischer Gedanken kommt es teilweise zu gewaltsamen Bewegungen. Ein Beispiel dafür ist Fra Dolcino. Radikal bezeichnet er die römische Kirche als die Hure von Offb 17. Die sieben Sendschreiben dienen ihm zur Gliederung der Geschichte in sieben Zeiten. Fra Dolcino sieht sich selbst als Repräsentanten der fünften dieser Zeiten, entsprechend Thyatira. Die philadelphische Zeit steht kurz bevor. Eine akute Naherwartung tritt zutage. Vermutlich hat die Parallelisierung der Offb mit dem AT dazu geführt, dass Fra Dolcino und seine Apostelbrüder zu den Waffen griffen. Am 23. März 1307 wird Fra Dolcino bei Vercelli in Piemont gefangen genommen und danach hingerichtet. Ein anderes Beispiel stellen die Taboriten bzw. Hussiten in Böhmen dar. Auch dort treffen wir die Naherwartung: Christus soll zwischen dem 10. und 14. Februar 1420 wiederkommen. Zuvor aber müssen die Gläubigen eine Theokratie aufrichten und die Sünder strafen und töten. Wieder wird die Offb im Lichte des AT ausgelegt. Damit stehen wir schon an der Schwelle zur Reformation. In den ersten Jahrzehnten der durch Martin Luther (1483–1546) ausgelösten reformatorischen Bewegung hat die Offb durchaus unterschiedliche Schicksale gehabt. Martin Luther konnte sich zeit seines Lebens nicht für das Buch erwärmen439, obwohl er häufig Gebrauch davon machte.440 Im Wege standen ihm der Missbrauch der Offb bei manchen Täufern, die eusebianisch-dionysische Tradition und seine eigene Konzentration auf Paulus und die Rechtfertigungslehre. Immerhin stellte er seit 1530, erkennbar an seiner zweiten Vorrede auf die Offb, die kanonische Geltung der Offb nicht mehr infrage. Er selbst deutete sie überwiegend von Augustin her, aber auch unter Aufnahme joachimistischer Impulse. Mit Augustin verbindet ihn die Distanz zum apokalyptischen Denken und die Ansetzung der 1000 Jahre von Offb 20,4ff in der vergangenen und gegenwärtigen Kirchengeschichte. So schreibt er in der Vorrede von 1530, dass „die tausend Jahr anzufangen sind um die Zeit, da das Buch geschrieben ist, und zur selbigen Zeit auch der Teufel gebunden sei“.441 Vom 439 Vgl. Luther Vorreden S. 180 (1522): „Mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken.“ 440 Vgl. dazu Hofmann passim sowie Offb S. 267ff; Piper Sp. 824. 441 Luther Vorreden S. 188.
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Joachimismus übernimmt er die Naherwartung und die antipäpstliche Auslegung der Offb.442 Den Antichrist von Offb 13 deutet Luther auf das abgefallene Papsttum, zugleich aber auf „Mahomed und die Sarazenen“, wozu nach Offb 20,7ff noch die Türken als „Gog und Magog“ kommen.443 Auch Calvin und Zwingli standen der Offb reserviert gegenüber. Calvin hat sie als einziges Buch des NT nicht kommentiert.444 Ganz anders wird die Situation, wenn wir die verschiedenen Bewegungen des Täufertums im 16. Jh. n.Chr. betrachten.445 Hier korrespondieren die immer wieder erlittene Verfolgung und die eschatologische Orientierung. Dabei ist das Spektrum unglaublich vielfältig, obwohl es noch keineswegs ganz ausgeleuchtet ist. Bei den spiritualistischen Täufern tritt die Eschatologie und damit die Offb noch merklich zurück gegenüber andern theologischen Themen. Man kann dies z.B. an Hans Denck studieren. Zwar stimmt er 1527 auf der Augsburger Täufersynode der Ansicht zu, dass Christus im Frühjahr 1528 wiederkomme. Evtl. liegt seiner Diskussion mit Vertretern der jüdischen Gemeinde in Bergzabern die Überzeugung zugrunde, dass Israel in sein Land zurückkehrt und Jerusalem erneuert wird. Jedenfalls aber hat seine weit ausstrahlende Lehre von der Apokatastasis, der endlichen Wiederbringung der Gottlosen und sogar des Teufels, keinen Anhalt an der Offb (vgl. Offb 22,15). Nach unseren Quellen standen Schrift, Sünde, Sakramente und das „innere Wort“ bei ihm im Vordergrund.446 In den revolutionären Täufer- oder täufernahen Gruppen spielt dagegen die Offb eine wesentliche Rolle. Ab 1520 schon bildet sich der Kreis der Zwickauer Propheten mit stark visionären Zügen. Namen wie Nikolaus Storch oder Thomas Müntzer treten in Zwickau in den Vordergrund. Storch erwartete ein „irdisches, newes reich, darinnen er ein furst werden sollte“.447 Sehr wahrscheinlich verknüpfte sich diese Erwartung mit Offb 20,4ff. Interessant ist Müntzers Prager Manifest vom November 1521. Dort schreibt er: „Dye zceyt der ernde ist do! Drumb hat mich Goth selbern gemit in sein ernde. Ich habe meyne sichel scharff gemacht …“448 Der Bezug auf Offb 14,14ff ist eindeutig. Offenbar will Thomas Müntzer selber der Engel von Offb 14,14ff sein. Auch 442 Insoweit hat Oswald Bayer recht, wenn er bei Luther einen „apokalyptischen Zeithorizont“ wahrnimmt (S. 301; vgl. S. 8). 443 A.a.O. S. 186. Vgl. Bayer S. 303. 444 Vgl. Bousset S. 33; Piper a.a.O. 445 Vgl. im Folgenden Offb S. 202ff. 446 Offb S. 215f. 447 Offb S. 220. 448 Müntzer S. 504.
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später findet sich bei ihm ein signifikanter Gebrauch der Offb.449 Seine „Hochverursachte Schutzrede“ von 1524 schreibt er „Auß der hölen Helie (= Eliae)“ unter bewusster Berufung auf Offb 11, daneben 1Kön 18.450 Er deutet die zwei Zeugen von Offb 11,3ff auf Henoch und Elia und will selbst dieser eschatologische Elia sein. Damit rechtfertigt Müntzer die Anwendung von Gewalt. Gott hat die Durchsetzung der Reformation den Menschen befohlen und durch Dtn 7,1ff; Ez 39; Dan 7,27; Offb 6; 18; 19 u.a. die dabei angewandte Gewalt legitimiert, bis hin zu dem Satz: „Last euch nicht erbarmen.“451 Bezüglich der Offb beobachten wir bei Müntzer die Inanspruchnahme einer direkten, visionären Erleuchtung für die Auslegung, eine zentrale Rolle der zwei Zeugen von Offb 11 unter Deutung auf einen eschatologischen Elia und Henoch, die Überfremdung der Offb durch das AT und den Umschlag in menschliche, scheinbar „gläubige“ Gewaltanwendung, wie dies zuvor schon bei Fra Dolcino oder den Taboriten zu beobachten war. Ähnliches lässt sich bei Hans Römer, Thomas Spiegel, Melchior Rinck, Hans Hut und den Münsteraner Täufern feststellen.452 Hier wirken allenthalben joachimistische Einflüsse fort. Im dritten großen Zweig des Täufertums, nämlich bei den dauerhaft gemeindebildenden Gruppen, die hauptsächlich im süddeutschen Raum wurzeln und zu denen auch die Melchioriten zählen, trifft man auf eine eher ausgewogene Benutzung der Offb.453 Zwar kommt es auch in diesem Raum zu einzelnen Auswüchsen wie bei Verena Baumann in St. Gallen, die sich als das Sonnenweib von Offb 12 betrachtete.454 Insgesamt aber dominiert hier eine vom NT beherrschte Sicht. Allerdings spielt die Naherwartung erneut eine gewichtige Rolle. Als Beispiel kann der 1527 in Rottenburg/Neckar hingerichtete Michael Sattler gelten. Sattler geht grundsätzlich von Mt 24 aus und füllt dann diesen Rahmen von der Offb her.455 Als weiteres Beispiel nennen wir Balthasar Hubmaier, einen Geistlichen aus Waldshut, der 1528 in Wien verbrannt wurde. Hubmaier setzte sich von Hut ab, weil er zwar die Wiederkunft nahe wähnte, aber doch kein Datum festlegen wollte. Die 3½ Jahre von Offb 13 verstand er nicht als normale Jahre, sondern als Sonnenjahre, was für ihn 1277
449 450 451 452 453 454
Vgl. Müntzer S. 321.455.469ff. Vgl. Müntzer S. 321ff. Müntzer S. 454 und die Anm. 2 genannten Stellen. Offb S. 225ff. Vgl. im Folgenden Offb S. 239ff. Vgl. Offb S. 240. Um 1730 will Anna Eller das Sonnenweib von Offb 12 sein (vgl. Offb S. 375). 455 Offb S. 211.242f.
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normale Jahre bedeutete.456 Als drittes Beispiel muss Melchior Hofmann erwähnt werden, ein Kürschner aus Schwäbisch Hall, theologischer Autodidakt, 1543 im Gefängnis in Straßburg gestorben.457 Hofmann wirkte in Livland, wohin ihn Luther empfahl, Schweden, Schleswig-Holstein, Ostfriesland, Holland und Straßburg. Über einen seiner Anhänger, Menno Simons, von dem sich die Mennoniten ableiten, ist sein Einfluss bis heute spürbar. Hofmann rückte zunehmend vom Luthertum ab. Unter Berufung auf Jak 2 wies er Luthers Rechtfertigungslehre zurück. Stattdessen stellte er mehr und mehr die Offb in den Mittelpunkt. Die Naherwartung teilte er mit vielen andern Täufern. Auslegungen gibt es von ihm zu Dan 12 und eben zur Offb (1530). Gewalt lehnte Hofmann ab. In der Offb konzentrierte sich sein Interesse auf Offb 11. Die beiden Zeugen sind Elia und Henoch. Er selbst sieht sich zu diesem Elia ausersehen. Aber immer wieder bemüht sich auch Melchior Hofmann, die Offb vom Ganzen des NT her zu erfassen. Wie Joachim von Fiore wollte er in erster Linie Schriftausleger sein.458 Vom Rande der orthodoxen protestantischen Theologie zurückgeholt wird die Offb in der sog. Föderaltheologie.459 Deren Wurzeln liegen im Schriftstudium und in der Aufnahme joachimistisch-täuferischer Impulse. Im Vordergrund stehen bei ihr die Heilsgeschichte, gegliedert nach den Bundschließungen, und deren Ziel, das Reich Gottes. Welche Rolle dabei der Offb zukommt, lässt sich exemplarisch an Johann Coccejus (oder Koch, aus Bremen, 1603– 1669) beobachten. In seine reifsten Jahre fallen der Apokalypse- und der Danielkommentar (1665 und 1666). Das eschatologisch-apokalyptische Interesse kann als sein Hauptinteresse bezeichnet werden.460 Coccejus sieht in den 7 Sendschreiben der Offb 7 kirchengeschichtliche Perioden. Das Ende steht nahe bevor. Im siebten Zeitalter, dem laodizeischen, werden wir eine Blütezeit der Kirche sowie die Bekehrung der Juden, der Muslime und aller Völker erleben. Danach wird Christus wiederkommen. Infolge der Anwendung des mehrfachen Schriftsinns schöpft Coccejus aus der Offb eine Fülle von Erkenntnissen, die wir hier nicht ausbreiten können. Hingewiesen sei auf seine stark ausgeprägte kirchengeschichtliche Deutung, die ihn z.B. in Offb 10f die Ereignisse der Jahre 1640–1660 wiederfinden lässt, und auf seine Deutung
456 Offb S. 243f. 457 Vgl. Offb S. 253f. 458 Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, Hofmann die Münsteraner Gräuel anzulasten, wie dies z.B. Heussi S. 327f tut. 459 Vgl. Offb S. 310ff. 460 Offb S. 326.
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von Offb 11, die die zwei Zeugen als Verheißung und Evangelium, nicht aber als Personen bestimmt. Zwei Generationen nach Coccejus legt Campegius Vitringa, geb. 1659 in Leeuwarden/Friesland, gest. 1722, einen monumentalen Offb-Kommentar vor (1719). Es lohnt sich heute noch, ihn einzusehen. Bei der Anwendung des geistlichen Schriftsinns ist er vorsichtiger als Coccejus. Mit Letzterem teilt er aber die kirchengeschichtliche Epochengliederung anhand der 7 Sendschreiben. Das philadelphische Zeitalter ist das der Reformation zwischen 1500 und 1600. Das Zeitalter von Laodizea beginnt um 1600 und ist charakterisiert durch Gerichte. An dieser Zeiteinteilung lässt sich Vitringas Naherwartung ablesen. Wichtig wird bei ihm der Zeitbegriff der „Ökonomie“. Vitringa nimmt eine Fülle kirchengeschichtlicher Offb-Traditionen auf und verbindet sie mit einem eigenen intensiven Schriftstudium unter der unbedingten Geltung des biblischen Wortes.461 Der Pietismus (ab Mitte des 17. Jh. n.Chr.) hat die Offb in besonderer Weise geliebt und eine Fülle von Kommentaren hervorgebracht. Schon am Anfang der Bewegung fällt bei Philipp Jakob Spener (1635–1705) das eschatologische Interesse auf. Zwar kann man ihn nicht als Apokalyptiker bezeichnen. Im Ganzen seiner Theologie ist er durchaus Lutheraner geblieben.462 Aber er verknüpft nun sein Luthertum doch sehr eng mit einer eschatologischen Orientierung und wendet in diesem Gefälle auch der Offb besondere Aufmerksamkeit zu. Vielleicht ist es doch typisch, dass Spener 1664 seine Dissertation über Offb 9,13ff schreibt. Ein Jahr später besorgt er sich den Offb-Kommentar von Joachim von Fiore, den er lobt. Doch konsequenter als Joachim war Spener Chiliast. Sein Schwerpunkt liegt in dem, was der Kirche auf Erden noch bevorsteht. Gegenüber allen Einwänden, die von CA 17 her gegen ihn gemacht werden können, hält er seine Überzeugung fest: „Das in der Schrift Offenbarte wird sich erfüllen.“463 Dieses in der Schrift Offenbarte entnimmt er vor allem Dan 7, 2Thess 2 und Offb 18–22. Was hat die Kirche nun bei dieser „Hoffnung künftiger besserer Zeiten“ zu erwarten? Es ist dreierlei: 1) der Sturz des antichristlichen Papsttums, 2) die Bekehrung der Juden, 3) ein seliger Zustand der Kirche mit „heiligem Wandel“, wie er in der frühen apostolischen Kirche geherrscht hat! – Die 1000 Jahre von Offb 20,4ff haben im Unterschied zu Ticonius und Augustin, aber auch zu Joachim, noch gar nicht angefangen.464 Ihr Inhalt aber ist ein Reich Christi mit seinen Heiligen auf 461 462 463 464
Vgl. Offb S. 333. Vgl. Offb S. 335ff. Offb S. 357. Vgl. Hirsch II S. 152.
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Erden. Eine Epochengliederung nach den Sendschreiben, wie wir sie bei Coccejus oder Vitringa vorfanden, sucht man bei Spener vergebens. Die nächste Generation wird geprägt durch Johann Albrecht Bengel (1687– 1752) und seine Schüler. Bengels Gestalt wird wohl immer umstritten bleiben. Für Wilhelm Bousset war seine „Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi“ „der wohl … fantastischste von allen“ Kommentaren.465 „Irrig“, „fast nichts dahinter“, „krank“, lauten andere Urteile.466 Auf der Gegenseite nennt Hans Urs von Balthasar Bengel „den bedeutendsten und einflussreichsten chiliastischen Theologen“.467 Da wir uns in unserm Kommentar laufend mit Bengel beschäftigen, sei hier nur ganz Weniges erwähnt. Grundlegend ist für Bengel der Gedanke der Heilsgeschichte. Sie schreitet in „Ökonomien“, göttlich geordneten Epochen, fort. Von da aus wird die Offb grundsätzlich als ein geschichtlicher Ablauf gelesen. Eine Rekapitulationstheorie lehnt er ab. Dem Ablauf der Offb stellt er synoptisch die Welt- und Kirchengeschichte an die Seite. Dabei bedient er sich eines unhaltbaren Zahlensystems, das von der Grundzahl 111 1/9 ausgeht und das er durch ein Relationsverhältnis von 1000 (Offb 20,1ff) und 666 (Offb 13,18) gewonnen hat. Bengel war ehrlich genug, mit dem eigenen Irrtum zu rechnen, und bemerkte ausdrücklich: „Sollte das Jahr 1836“ – auf das er die Wiederkunft Jesu berechnet hatte – „ohne merkliche Änderung vorbeistreichen, so wäre freilich ein Hauptfehler in meinem System und man müßte eine Überlegung anstellen, wo er stecke“.468 Ein Apokalyptiker im einseitigen Sinn war Bengel nicht, vielmehr ein Schriftausleger durch und durch. So tadelt er auch „Leute, welche das heilige Buch (= Offb) mit unruhiger Neugierde behandeln.“469 Bengel wollte einen biblischen Chiliasmus. Aber daraus folgte für ihn weder ein Schwelgen in seligen Zukunftshoffnungen noch menschliche Aktivität zur Errichtung irgendeines Reiches, sondern praktische, nüchterne Glaubensnachfolge: „Was ist uns nöthig? Weisheit, Geduld, Treue, Wachsamkeit.“470 Eine oft übersehene Konsequenz seiner Apokalypse-Deutung besteht darin, dass er die Gemeinde im Gegensatz zum AufklärungsOptimismus auf kommende schwere Gerichte vorbereitete. Die Aufklärung tat sich schwer mit der Offb. Als das, was Emanuel Hirsch die „deistische Sturmflut“ nannte, das europäische Denken umgestaltete, galt 465 466 467 468 469 470
Bousset S. 101. Offb S. 394. A.a.O. Offb S. 431. Offb S. 436. Offb S. 431.
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fortan der Grundsatz, dass die „Einheit von Vernunft und Offenbarung“ gewährleistet sein müsse. Aber wie sollte die „Vernunft“ mit den apokalyptischen Bildern und Leitworten umgehen? Wenn „Christianity not mysterious“471 sein soll, was ist dann mit den Mysterien der Offb? Die historischkritischen Methoden, die die Aufklärungstheologie entwickelte, konnten die Aussagen der Offb nur teilweise erschließen.472 Der Schweizer Heinrich Corrodi erklärte den „Glaube(n) an die Gabe der Prophezeyung“ schlichtweg für „erloschen“.473 Man kann es fast als typisch bezeichnen, dass in Deutschland die Offb im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung stand, die schließlich um 1770 den Durchbruch des neuen Denkens in der Theologie markierte. 1769 hatte W. Oeder in Halle, unterstützt durch ein Vorwort von Johann Salomo Semler (1725–1791), die Offb kritisiert und die Bengel-Schüler in Tübingen und Leipzig angegriffen.474 Dann trat J.S. Semler selbst in die Auseinandersetzung ein.475 Weil die Offb keine allgemeine moralische Belehrung bietet, kann sie kein Wort Gottes im inneren Sinne sein. Christen können auf sie verzichten.476 Historisch stimmt Semler ausdrücklich dem Urteil „des gelehrten Bischofs Dionysius“ von Alexandrien zu:477 Die Offb ist kein Buch des Apostels Johannes. Inhaltlich stoßen ihn die „groben und theils albernen Bilder und Mahlereien“ ab.478 Nachweislich mache die Offb viele Leser „gar fast wahnsinnig und unnütz im ganzen menschlichen Leben“.479 Hier hat er die Täufer und Pietisten im Auge. Schließlich lehnt er die Gerichtsverkündigung der Offb ab, ihr Ton sei hier „unangenehm und widerlich“.480 Was J.S. Semler, W. Oeder und F.A. Stroth um 1770 gegen die Bengel-Schüler J.F. Reuß in Tübingen und Chr. Fr. Schmid in Leipzig geltend machten, wird uns in der Folgezeit immer wieder begegnen.481 Ferdinand Christian Baur (1792–1860) muss in dieser Skizze der Auslegungsgeschichte deshalb erwähnt werden, weil bei ihm der Offb gerade unter
471 472 473 474 475 476 477 478 479 480 481
So John Tolands Titel von 1696. Vgl. Hirsch I S. 292ff. So auch Böcher JohApk S. IX. Vgl. Offb S. 464. Vgl. Off S. 448ff. Vgl. Hirsch IV S. 48ff. Semler I S. 123ff. Semler I S. 148ff; Vorwort. Semler I S. 133. A.a.O. S. 120. A.a.O. S. 26. Bousset S. 33 lässt die moderne Kritik mit Abauzit, Discours sur l’apocalypse, 1770, beginnen.
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historisch-kritischen Gesichtspunkten eine besondere Rolle zufällt.482 E. Hirsch nannte Baur den eigentlichen „Urheber der historisch-kritischen Theologie“.483 Baur zufolge entfaltete sich das früheste Christentum in einem antithetischen Gegensatz von Paulinismus und Judaismus, um dann in die Synthese der frühen „katholischen Kirche“ zu münden.484 Der hauptsächliche Träger des christlichen „Judaismus“ im NT ist aber die Offb. Daraus ergeben sich nach Baur zwei Konsequenzen: 1) ist die Offb historisch von höchster Bedeutung, 2) ist die Offb theologisch kritisch zu sehen und zu überwinden.485 Die zweite von Bauer gesehene Konsequenz verschärft sich noch dadurch, dass Baur Mt 24 nicht auf Jesus zurückführen kann. Interessant bleibt, dass Baur die Verfasserschaft des Apostels Johannes bejaht, ja die Offb als „die einzige echt apostolische Schrift“ des Neuen Testaments betrachtet.486 Aus der Folgezeit, in der die historisch-kritische Forschung immense philologische und historische Beiträge zur Erklärung der Offb bereitstellte, hebt sich besonders die Religionsgeschichtliche Schule durch ihr intensives OffbStudium ab. Als „Vater der religionsgeschichtlichen Theologie in Deutschland“ gilt Otto Pfleiderer (1839–1908), ein später Schüler Baurs.487 Seine Grundüberzeugung ist, dass Unentbehrliches „für das Verständnis des Urchristenthums aus der Vergleichung der ausserbiblischen jüdischen und heidnischen Religionsgeschichte zu lernen ist“.488 Mit anderen Worten: Das ganze NT und damit auch die Offb muss in den Strom der allgemeinen Religionsgeschichte eingeordnet und als Teil derselben verstanden werden. Dieses Programm wurde dann von Hermann Gunkel (1862–1932), Wilhelm Bousset (1865–1920) und R.H. Charles in beeindruckender Weise umgesetzt. Was die Religionsgeschichtliche Schule hinterließ, lässt sich als ein Dreifaches beschreiben: 1) Sie hat der Offb auch im breiten Spektrum liberaler Theologie neue Achtung verschafft, 2) sie hat die bereits von Friedrich Lücke (1791– 1855) verfochtene zeitgeschichtliche Erklärung489 zur herrschenden gemacht, 3) sie hat unermüdlich die Frage nach den Quellen der apokalyptischen Stoffe gestellt. – Wie sehr man überzeugt war, mit der zeitgeschichtlichen Deutung 482 483 484 485 486 487
Vgl. Offb S. 480ff; Hirsch V S. 518ff; Christophersen passim. Hirsch V S. 518. Vgl. Becker/Öhler S. 19. Becker/Öhler a.a.O. Christophersen S. 366. Über Einzelheiten vgl. Offb S. 482ff. Kümmel NT S. 262 nach R. Seeberg; vgl. a.a.O. S. 266 sowie Offb S. 526ff; Hirsch V S. 562ff. 488 Zitiert nach Kümmel NT S. 265. 489 Vgl. Offb S. 484ff. Piper lässt die zeitgeschichtliche Deutung mit L. ab Alcazar 1614 beginnen (Sp. 826).
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das Endgültige getroffen zu haben, zeigt eine kleine Bemerkung Boussets: Er schreibt in seinem Kommentar, die Deutung der 666 (Offb 13,18) auf ֵקָסר נ ֵרוֹן [qesar neron] und damit auf den Nero redivivus sei die „abschließende“.490 Wie wenig „abschließend“ aber eine zeitgeschichtliche Deutung sein kann, zeigt eine Generation später Ernst Lohmeyers Protest (seit 1926) und dann die vorsichtige Behandlung bei Traugott Holtz (1962) und anderen. Die Tendenz geht, soweit wir es überblicken, eher in Richtung einer Kombination der Methoden.491 Es wäre unverzeihlich, wenn nicht auch die Gegenströmung zur kritischliberalen Exegese des 19. Jh. n.Chr. erwähnt würde, nämlich die prophetischheilsgeschichtliche Auffassung.492 Hierher gehören die Namen von Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877), Franz Delitzsch (1813–1890), Karl August Auberlen (1824–1864), Johann Tobias Beck (1804–1878) und Theodor Klieforth (1810–1895). Trotz vieler Divergenzen im Einzelnen stand hier der echt prophetische Charakter der Offb fest. Viele Impulse aus der Föderaltheologie und dem Pietismus, speziell auch Bengels, wirkten hier fort. Zum Teil wurde die Stellung der Offb im Kanon des NT besonders hervorgehoben und das Tausendjährige Reich im Rahmen der Heilsgeschichte erneut unterstrichen. Selbstverständlich suchte man dabei die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. So lehnte z.B. Auberlen ein geschlossenes chronologisches System bei der Offb-Deutung ab und insistierte, dass wir „die Hauptzüge des göttlichen Reichsgangs“ nachzuzeichnen hätten.493 Diese kurze Skizze der Auslegungsgeschichte hat zwangsläufig viele Sektoren ausgelassen. Dazu gehören große Bereiche der englischen, französischen, holländischen und amerikanischen Apokalypse-Auslegung. Beispielsweise haben die wichtigen englischen Kommentare von H.B. Swete, R.H. Charles, G.B. Caird und M. Kiddle auch in Mitteleuropa erheblichen Einfluss ausgeübt.494 Die auf Darby zurückgehende Debatte um Prä- oder Postmillenialismus hat vor allem in der amerikanischen Auslegung Gewicht,495 hätte aber den Rahmen unserer Einleitung zu sehr erweitert. In unserem Kommentar ist es uns ein Anliegen, mit den früheren Auslegern im Gespräch zu bleiben, vor allem mit der patristischen, der reformatorischen
490 491 492 493 494 495
Bousset S. 106. Vgl. Beckwith S. 335. Beckwith a.a.O.; Conzelmann/Lindemann S. 396. Vgl. Offb S. 488ff. Auberlen S.V. Vgl. Beale Rev S. XIX. Vgl. Elwell/Yarbrough S. 380; Beckwith S. 318f; Piper Sp. 826.
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und der wissenschaftlich-pietistischen Auslegung, gleichzeitig aber auch die internationale Diskussion im Blick zu behalten. Ein letztes Wort sei der Kunst gewidmet, die so unglaublich reich durch die Offb angeregt wurde. Dazu wären ganze Bände zu schreiben. Schon der kleine Artikel von Martin Karrer mit seinen Hinweisen zur Maiestas Domini, zum Allerheiligenbild, zu den apokalyptischen Reitern, zu den Kriegs- und Notbildern, zur Mondsichelmadonna und zu den Weltgeschichtsbildern lässt von diesem Reichtum etwas ahnen.496 Am glücklichsten hat bisher Charles Brütsch unter den Kommentaren des 20. Jh. die Brücke zwischen Offb-Exegese und Kunst geschlagen. Von den Mosaiken Roms, z.B. in Sa. Pudenziana, Sa. Maria Maggiore, S. Paolo fuori le mura, SS. Cosma e Damiano, Sa. Prassede und S. Clemente, bis zu den Barockkirchen Süddeutschlands, z.B. in dem kleinen Oberstadion in Oberschwaben, enthüllt sich ein wunderbarer Bilderbogen zur Offb, der sie auf seine Weise kommentiert. Aber es handelt sich ja nicht nur um den Übergang von der Antike zum Mittelalter, das Mittelalter oder die Barockzeit, sondern auch um unsere Moderne, die keineswegs areligiös ist. Als Beispiele seien Wassily Kandinskys Apokalyptische Reiter von 1911 und 1914 erwähnt oder Max Beckmanns 27 Blätter zur Offb, in die dieser Tage (2007/2008) die Pinakothek der Moderne in München Einblick gibt. Auch die Kunst ist mit der Offb noch lange nicht zu Ende!
12. Gliederung Da gegenwärtig nur der erste der beiden Bände zur Offb abgeschlossen ist, vgl. man zur Gliederung jeweils die Inhaltsverzeichnisse.
496 Karrer Sp. 837.
1. Der gebräuchliche Buchtitel
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Auslegung A. Der Eingangsteil der Apokalypse
1. Der gebräuchliche Buchtitel Seit dem 4. Jh. n.Chr. ist die Apokalypse in den Bibelhandschriften unter dem Titel Ἀποκάλυψις Ἰωάννου [Apokalypsis Ioannu] („Offenbarung des Johannes“)1 zu finden. Den ersten Nachweis liefert der Sinaiticus ()א. Mit „Johannes“ wird der menschliche Verfasser angegeben.2 Das Altertum bevorzugte kurze Buchtitel. Erweiterungen wie Ἀποκάλυψις Ἰωάννου τοῦ θεολόγου [Apokalypsis Ioannu tu theologu] oder Ἀποκάλυψις Ἰωάννου τοῦ θεολόγου καὶ εὐαγγελίστου [Apokalypsis Ioannu tu theologu kai euangelistu] sind deshalb als Spätformen zu betrachten.3 Johannes selbst hat jedoch seinem Buch einen anderen Titel gegeben, der Missverständnisse besser ausschließt. Ihm werden wir jetzt in 1,1-3 begegnen.
2. Überschrift 1,1-3 I Übersetzung 1 Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gab, um seinen Knechten zu zeigen, was in Bälde geschehen muss. Und er hat es mitgeteilt, indem er es durch seinen Engel seinem Knecht Johannes zukommen ließ, 2 der Zeuge war für das Wort Gottes und für das Zeugnis von Jesus Christus in allem, was er sah. 3 Glücklich zu preisen ist, wer es liest und diejenigen, die die Worte der Weissagung hören und das bewahren, was in ihr geschrieben ist. Denn die Zeit ist nahe.
II Struktur Der kleine Abschnitt 1,1-3 ist deutlich von V. 4 abgesetzt. Dort beginnt mit „Johannes“ eine neue Ausführung. Aber so deutlich sich auch Offb 1,1-3 als 1 Zur Übersetzung vgl. A. Oepke, Art. καλύπτω usw. ThWNT, III, 1938, S. 558 ff. 2 Vgl. Zahn S. 131ff; Aune S. 3f. 3 Zahn; Aune a.a.O.
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selbstständiger Abschnitt abhebt, so sehr wirft er doch auch Fragen auf. Wie weit reicht die vom Verfasser formulierte Überschrift? Gehört nur V. 1 dazu oder auch V. 2? Und ist das zweifache αὐτοῦ [autu] in V. 1 auf θεός [theos] oder Jesus Christus zu beziehen? Verhältnismäßig klar ist dagegen der Charakter von V. 3 als Seligpreisung. Dass sie unmittelbar an die Überschrift angehängt ist, betont die Wichtigkeit und Aussagekraft der Überschrift. Zugleich kommentiert die Seligpreisung auch schon die Überschrift. Aber wer spricht sie aus? Jesus Christus selbst, wie Bengel glaubte?4 Oder Johannes? Es fällt auf, dass die Offb Überschrift und Seligpreisung eng miteinander verbindet. Eine Parallele bietet jedoch das biblische Psalmbuch, das mit einer Seligpreisung beginnt (Ps 1,1).
III Einzelexegese Ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ [Apokalypsis Iesu Christu] sind die ersten Worte des Buches. Offensichtlich bilden diese Worte den vom Verfasser selbst gewählten Titel bzw. den Anfang dieses Titels. Sofort ist klar: Jesus Christus ist die zentrale Gestalt dieses Buches. Es geht nicht nur um die Vorstellungen, Hoffnungen oder Erwartungen des Johannes. Nein: Es geht um den Herrn! Von allem Anfang an ist die Offb christologisch geladen. J.A. Bengel hatte ein gutes Gespür dafür, als er seinem Kommentar die Überschrift „Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi“ gab.5 Ἀποκάλυψις [Apokalypsis] ist das Substantiv von ἀποκαλύπτειν [apokalyptein], hebr. [ גלהgalah].6 Es bedeutet die „Enthüllung“ dessen, was zuvor unbekannt war, theologisch besser mit Offenbarung ausgedrückt.7 Im AT offenbart Gott seine Pläne und Absichten seinen Knechten, wie z.B. Abraham und den Propheten (Gen 18,17; Num 24,3ff; 1Sam 3,7.21; Jes 52,10; Am 3,7). Wir müssen also in der Offb von vornherein mit der Enthüllung von Gottes Plan und Absicht für die Zukunft rechnen. Ἰησοῦ Χριστοῦ [Iesu Christu] ist sehr wahrscheinlich genitivus auctoris.8 Denn eine „Enthüllung“, „Offenbarung“ über Jesus Christus wird eher im Evangelium oder den Briefen gegeben, während wir hier in einem prophetischen Bereich sind. Allerdings darf die „Offenbarung über Jesus Christus“ nicht als strenge, exklusive Alternative der „Offenbarung von (im Sinne der 4 5 6 7 8
Bengel S. 177. Vgl. auch Lohmeyer 1 S. 196. Oepke a.a.O. S. 579. Vgl. Bauer-Aland Sp. 184f. So auch Bauer-Aland Sp. 184.
2. Überschrift 1,1-3
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Herkunft) Jesus Christus“9 gegenübergestellt werden. Denn das Buch enthüllt nicht Weniges über den auferstandenen Jesus Christus, sein Handeln, seine Wiederkunft und seine ewige Herrlichkeit. Bengel hat beiden Aspekten angemessen Ausdruck verliehen, wenn er schreibt: „Er selbst ist derjenige, der geoffenbaret wird und der sich selber offenbaret“ (S. 154).10 Jesu Christi: Deutlich handelt es sich um einen Namen. Der Name „Jesus Christus“ ist seit den Evangelien (Mt 1,1; Mk 1,1) und den apostolischen Briefen (Röm 1,1; 1Petr 1,1; vgl. Jak 1,1) fest geprägt gewesen. Das schließt natürlich nicht aus, dass ein am AT geschultes Ohr in „Christus“ auch die Amtsbezeichnung wiederfand. Auffallend allerdings ist die Betonung der Tatsache, dass der auferstandene Jesus der Urheber dieser „Offenbarung“ ist. Schon damit unterscheidet sich die Offb eindeutig von jüdischen apokalyptischen Schriften. Jesus Christus tritt hier als göttlicher Offenbarer neben den Vater. Ein Verbum finitum fehlt neben dem Subjekt „Offenbarung“. Das ist auch nicht verwunderlich, weil „Offenbarung Jesu Christi“ ja als Titel formuliert wird. Man vergleiche damit die Anfänge prophetischer Bücher (Jer 1,1; Hos 1,1; Joel 1,1; Am 1,1; Ob 1,1; Mi 1,1; Nah 1,1; Hab 1,1; Zeph 1,1; Mal 1,1). Der Relativsatz ἣν ἔδωκεν αὐτῷ ὁ θεός [hen edoken auto ho theos] erklärt die ersten drei Worte ein wenig näher. Er drückt aus, dass „Gott“ der letzte Urheber dieser Offenbarung ist. Jesus Christus hat sie also von Gott dem Vater empfangen (er gab sie ihm). Der Gebrauch von διδόναι [didonai] in dieser Funktion ist typisch für Johannes und häufig in seinem Evangelium (vgl. Joh 3,27.34.35; 5,22.26.27.36). Zeigen, δεῖξαι [deixai], wird von H. Schlier mit Recht auf hebr. [ ראהraah] (Hiphil) zurückgeführt.11 Inhaltlich sieht er in δεῖξαι [deixai] a. „eine göttliche Kundgabe im Modus der Offenbarung“, b. „eine Vorwegnahme der Zukunft“.12 „Zeigen“ gehört also zu den Verba der Offenbarungsmitteilung (vgl. auch Joh 5,20). Es spielte „in der apokalyptischen Literatur auch sonst eine große Rolle“ (Schlier a.a.O. S. 30). Sinngemäß entspricht es ἀποκαλύπτειν [apokalyptein] und meint hier die Offenbarungsmitteilung in Wort und Bild. Wer „zeigt“ in Offb 1,1?
9 Aune S. 6: „revelation from Jesus Christ“. 10 Ähnlich Brütsch S. 21f. Anders Zahn S. 145: J.Chr. ist „lediglich als Subjekt“ der Offb aufzufassen. Die Gegenmeinung bei Schlier, ThWNT, II, 1935, S. 28: „dass dieser (= Jesus Christus) sich in ihnen offenbart“. 11 Art. δείκνυμι usw. im ThWNT, II, 1935, S. 27. 12 A.a.O. S. 29.
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Unmittelbar Jesus Christus (vgl.22,16), mittelbar Gott der Vater (vgl. 22,6).13 Man muss bei dem Versuch, eine Aufteilung zwischen θεός [theos] und Jesus Christus vorzunehmen, jedoch äußerste Zurückhaltung wahren. Denn vieles kann vice versa gleichzeitig von beiden ausgesagt werden. Die Adressaten sind seine Knechte.14 Die Kommentare erörtern z.T. ausführlich, ob sich das Possessivpronomen αὐτοῦ [autu] auf θεός [theos] oder Jesus Christus bezieht. Der stark alttestamentliche Sprachcharakter der Offb legt den Bezug auf θεός [theos] und die Deutung auf „Gottes Knechte“ jedoch näher. Man vgl. Offb 22,3. Aber auch hier gilt: „Knecht Gottes“ und „Knecht Jesu Christi“ bilden in der neutestamentlichen Gemeinde keinen Gegensatz. Beweis: Offb 2,20. Doch die Mehrzahl der Stellen in der Offb favorisiert die Deutung „Knechte Gottes“ (vgl. 7,3; 10,7; 11,28; 15,3; 19,2.5; 22,3.6).15 Übrigens gibt zu denken, dass das Johannesevangelium nicht gerne von δοῦλοι Χριστοῦ [duloi Christu] spricht (Joh 15,12ff). Ganz gleich, ob man auf „Knechte Gottes“ oder „Knechte Jesu Christi“ deutet, es sind auf jeden Fall alle wahren Gemeindeglieder gemeint.16 Knecht darf hier nicht als „Sklave“ aufgefasst werden. Vielmehr handelt es sich um eine Ehrenbezeichnung, wie sie z.B. Mose oder den Propheten zukommt (Offb 15,3; 10,7; 11,18). Sie ist Ausdruck der Nähe zu Gott, von Vertrauen und Verantwortung. Mit den griechischen Worten ἃ δεῖ γενέσθαι [ha dei genesthai] (was in Bälde geschehen muss) wird der Inhalt der ganzen Offb in äußerster Konzentration ausgedrückt. Sie rahmen in Offb 1,1 und 22,6 die ganze Offenbarung ein (vgl. auch 1,19; 4,1). Sie lassen sich mindestens bis Dan 2,28.29.45 zurückverfolgen, wo nach der LXX dem Nebukadnezar mitgeteilt wird, ἃ δεῖ γενέσθαι [ha dei genesthai]. Zugleich aber sind sie jesuanisch (Mt 24,6; 26,54; Mk 13,7; Lk 21,9).17 Die Bedeutung von ἃ δεῖ γενέσθαι [ha dei genesthai] ist klar: Es besagt „die im Willen Gottes begründete Notwendigkeit geschichtlichen Geschehens“.18 Und zwar, wie Jesus, Daniel und die Hinzufügung ἐν τάχει [en tachei] erkennen lassen, des zukünftigen Geschehens! Es steht also völlig außer Frage, dass die Offb ein Leitfaden für die Zukunft sein will.19 13 So schon Bengel S. 158. Zahn S. 150 sieht das Subjekt des Zeigens in Jesus, ebenso Aune S. 7; Behm S. 6. 14 Die bessere Bezeugung spricht für δούλοις [dulois], nicht ἁγίοις [hagiois]. 15 Im Ergebnis ebenso Aune S. 13; Zahn S. 146ff; Brütsch S. 23; Morris S. 45; P. Müller S. 4. Auf „Knechte Jesu Christi“ deutet z.B. Bengel S. 159f; Hartenstein S. 60. 16 Zahn S. 150; Bengel a.a.O.; Aune a.a.O. 17 Vgl. W. Grundmann, Art. δεῖ, δεὸν ἐστί, ThWNT, II, 1935, S. 21ff. 18 Grundmann a.a.O. S. 23. 19 Vgl. Morris S. 45; Behm S. 6; Brütsch S. 25; Caird S. 11; Zahn S. 152.
2. Überschrift 1,1-3
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Schon Bengel hat hier die nötige Grenze gezogen, als er schrieb: „Gar zu seicht gehen diejenige, die fast alles auf die Zerstörung der Stadt Jerusalem durch die Römer … oder auf irgend eine andere alte oder neuere oder annoch künftige Begebenheit etlicher wenigen Jahre deuten.“ Stattdessen bezieht sich Offb 1,1 „auf alle Zeiten nach einander“ (S. 161f). Doch was ist mit ἐν τάχει [en tachei]? Zahn meinte, daraus habe Johannes „vor allem die Mahnung entnommen …, dass deren Mitteilung an die Gemeinde keinen Aufschub leide“ (S. 152). Bauer-Aland geben für ἐν τάχει [en tachei] die Bedeutungen „geschwind“, „schleunigst“, „unverzüglich“, „in Bälde“, „in kurzer Frist“, „bald einmal“, „in Eile“ an (Sp. 1609). Überblickt man die neutestamentlichen Belege, dann zeigt sich eine Variation von Akzentuierungen und Bedeutungen. Einmal soll das Zögern von Menschen überwunden werden (Apg 12,7; 22,18), ein anderes Mal wollen Menschen in nicht zu ferner Zukunft handeln (1Tim 3,14; Apg 25,4), in anderen Fällen geht es um ein „bald“, das aber nach Gottes Uhr bestimmt ist (Lk 18,8; Röm 16,20). Das alles warnt uns, ἐν τάχει [en tachei] so zu verstehen, als ob Johannes alle in Kap. 4–22 geweissagten Ereignisse sozusagen schon am nächsten Tag erwartete. Vielmehr sind nach dem Kontext folgende Elemente wichtig: a. unverzüglich beginnt der Lauf der Ereignisse, die zur Offenbarung 21–22 führen, also schon in der Gegenwart des Johannes; b. Gott wird nicht zögern, sie gemäß seinem Zeitmaß bald herbeizuführen. Die Übersetzung in Bälde versucht, dies angemessen auszudrücken.20 Wenn Behm recht hätte mit der Vermutung (S. 6), dass ἐν τάχει [en tachei] das „in den letzten Zeiten“ ([ ְבַּאֲחִרית יוַֹמ ָיּאbeacharit jomajja]) von Dan 2,28 wieder aufnimmt, dann wäre unsere Übersetzung umso mehr begründet. Die zweite Hälfte von Offb 1,1 stellt uns zunächst vor die Frage nach dem Satzanschluss. Offensichtlich bildet ἐσήμανεν [esemanen] eine Parallele zu ἔδωκεν [edoken]. Wir haben hier in der Tat einen „zweiteiligen Relativsatz“ vor uns (Zahn S. 152),21 jeweils abhängig von ἥν [hen]. Deshalb ist es nicht nötig, καί [kai] als Ersatz für ein Relativpronomen zu behandeln.22 Es kann durchaus im Sinne eines Waw consecutivum aufgefasst werden. σημαίνειν [semainein] ist hier weiter zu fassen und bedeutet dann kundtun, mitteilen.23 Nach ἀποκαλύπτειν [apokalyptein] und δεικνύναι [deiknynai] ist es schon das 20 Die Übersetzung „in Schnelle“ bringt zu viel Hektik in den Ausdruck (Frey S. 17), ähnlich die Übersetzung „rasch“ (Hartenstein S. 60). Ganz wie wir Morris S. 45 („Shortly is not defined“), ähnlich Bengel S. 164ff. Vgl. auch Schlatter BFchTh S. 54. 21 Ebenso K.H. Rengstorf, Art. σημεῖον usw., ThWNT,VII, S. 263. 22 Gegen Aune S. 6. 23 Bauer-Aland Sp. 1495; Rengstorf a.a.O.
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dritte Verb der Offenbarungsmitteilung, dem wir in Offb 1,1 begegnen. Doch wer ist sein Subjekt? Denkt man streng parallel, dann müsste es wie in ἔδωκεν [edoken] Gott sein. Aber von der Offenbarungsbewegung her, die bei Gott einsetzt und über Jesus Christus zu Johannes und den christlichen Gemeinden führt, liegt Jesus Christus als Subjekt näher. Wir entscheiden uns deshalb mit Rengstorf, Hadorn u.a. für die zweite Deutungsmöglichkeit.24 Die Mitteilung, die Jesus Christus machte, geschah so, dass er sie durch seinen Engel seinem Knecht Johannes zukommen ließ. Dass der auferstandene Jesus durch seinen Engel handelt, steht auch in 22,16, sodass 1,1 und 22,16 erneut eine Art Klammer bilden. Dass die „Engel“ Jesus dienen, ist ein fester Teil der Versuchungsgeschichte (Mt 4,11; Mk1,13). Selbstverständlich sind die Engel Jesu auch die Engel Gottes (vgl. Joh 1,51 und Mt 13,41; 16,27; 26,53). Wir haben ἀποστέλλειν [apostellein] in Offb 1,1 durch den sehr weit gefassten Ausdruck zukommen lassen übersetzt. Es bleibt jedoch zu beachten, dass in ἀποστέλλειν [apostellein] auch das Element des „mit der Sendung verbundenen Auftrags liegt“.25 Johannes wird dadurch also auch beauftragt und zu den Gemeinden gesandt. Von ihm ist hier als seinem Knecht Johannes die Rede. Sein bezieht sich, wenn wir bisher richtig verstanden haben, auf Jesus Christus. Jetzt bewährt es sich, dass wir bei der Auslegung von τοῖς δούλοις αὐτοῦ [tois dulois autu] in der ersten Hälfte des Verses die scharfe Alternative „Gott oder Jesus Christus“ abgelehnt haben. Denn wir müssen sowohl in Offb 1,1 als auch in Offb 22,3 und Offb 2,20 mit „Knechten Jesu Christi“ rechnen. Aber was heißt nun „sein Knecht Johannes“? Zum ersten Mal taucht hier der Eigenname Johannes, hebr. [ יוָֹחנ ָןjochanan] = Jahwe ist gnädig, auf. In 1,4.9 und 22,8 finden sich die andern drei Belege. Der Verfasser der Offb nennt also offen seinen Namen. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass „Johannes“ ein Pseudonym sein sollte – für wen eigentlich? Dann aber bedeutet die Angabe des realen geschichtlichen Namens einen gravierenden Unterschied zur pseudonymen apokalyptischen Literatur. Von Offb 1,1 ausgehend muss man Folgendes feststellen: a) „Johannes“ besitzt außer sein Knecht keine Näherbestimmung und hat deshalb für die Empfängergemeinden weder eine nähere Kennzeichnung noch die Aufrichtung einer speziellen Autorität nötig. Dieser Johannes war als Person und Autorität genug bekannt. b) Johannes steht, wie die Worte „sein Knecht“ beweisen, in einer
24 Vgl. wieder Rengstorf a.a.O. 25 So K.H. Rengstorf, Art. ἀποστέλλω usw., ThWNT, I, 1933, S. 403; Aune S. 15; Bengel S. 168; Behm S. 6. Anders z.B. Zahn S. 150f.
2. Überschrift 1,1-3
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besonderen Nähe zu Jesus Christus – was seine Würde und Autorität begründet.26 c) Der Name deutet auf jüdischen Ursprung. Wir haben einleitend schon festgestellt, dass die altkirchliche Auslegung, die in diesem Johannes den Apostel und Zebedäus-Sohn sieht, die besten Argumente für sich hat. Damit ergibt sich jetzt eine klare Hierarchie im Offenbarungsgeschehen.27 Es geht aus von Gott, dem Vater, und führt über Jesus Christus und seinen Engel zu Johannes, dem Apostel. Diese Kette erinnert auffallend an die Offenbarungs- und Zeugenketten des vierten Evangeliums (vgl. Joh 6,57; 14,20.23; 15,1ff.10ff; 17,1ff). Vers 2 enthält einen neuen Relativsatz, eingeleitet durch ὅς [hos]: der Zeuge war für das Wort Gottes und für das Zeugnis von Jesus Christus in allem, was er sah. Dieser Relativsatz hängt so eng mit V. 1 zusammen, dass die Frage nach dem Umfang des Titels wie folgt beantwortet werden muss: Der Titel des Buches umfasst sowohl V. 1 als auch V. 2. V. 2 erläutert die Person des menschlichen Verfassers Johannes ein wenig näher. Diese Erläuterung geschieht weder durch den Vatersnamen noch durch den Herkunftsort noch durch ähnliche biografische Notizen, sondern durch das christliche Hauptmerkmal: Er war Zeuge. Damit hat Johannes bisher den wesentlichen Auftrag der Jünger erfüllt (vgl. Lk 24,48). Deshalb entspricht er auch dem Wesen seines Herrn, der ja selbst „der treue und wahrhaftige Zeuge“ ist (Offb 1,4; 3,14). Damit gleicht er schließlich den „Märtyrern“ von Offb 6,9; 12,11.17; 20,4 und 19,10. Wir erinnern uns daran, dass μαρτυρεῖν [martyrein] und μαρτυρία [martyria] Zentralbegriffe des Johannesevangeliums sind.28 Dabei lässt sich beobachten, dass aus „dem Tatsachenzeugnis … ein werbendes Bekenntnis“ wird.29 Und endlich erinnern wir uns daran, dass der Verfasser des vierten Evangeliums sich ebenfalls mit Hilfe des Begriffs μαρτυρεῖν [martyrein] vorstellt (Joh 19,35; 21,24). Johannes hat zwei Aspekte, unter denen er sein Zeugesein noch stärker präzisiert. Der erste ist das τὸν λόγον τοῦ θεοῦ [ton logon tu theu] (das Wort Gottes). In 1,9; 6,9 und 20,4 begegnet uns das Bezeugen des Wortes Gottes in ähnlicher Weise. Offenbar handelt es sich nicht nur um das alttestamentliche Wort Gottes. „Wort Gottes“ ist vielmehr das Wort, das Gott im Alten wie im Neuen Bund gesprochen hat,30 also auch und sogar primär die Verkündigung 26 Bengel S. 168 macht darauf aufmerksam, dass nur zwei menschliche Personen in der Offb mit dem Titel δοῦλος [dulos] ausgezeichnet werden: Mose und Johannes (vgl. 15,3). 27 Bengel S. 182 nennt es eine „schöne Scalam“. 28 Vgl. dazu H. Strathmann, Art. μάρτυς usw., ThWNT, IV, 1942, S. 502 ff. 29 Strathmann a.a.O. S. 502.
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Jesu und von Jesus. Der zweite Aspekt schließt ausgezeichnet an diesen ersten an. Er besteht im Zeugnis von Jesus Christus (μαρτυρία Ἰησοῦ Χριστοῦ [martyria Iesu Christu], vgl. 1,9; 6,9; 12,17; 19,10; 20,4; aber auch 1Joh 1,13). Dass Jesus der Messias, der Sohn Gottes, der Welterlöser ist, das ist sein wesentlicher Inhalt. Aber dieser Inhalt schließt auch die Verkündigung und Lehre dieses Jesus mit ein.31 In allem, was er sah:32 Als Akkusativ der Beziehung33 spezialisiert das ὅσα εἶδεν [hosa eiden] das „bezeugen“ des Johannes. Natürlich will Johannes nicht sagen, dass er bloß im Blick auf das jetzt Geschaute ein Zeuge war! Vielmehr erweist er sich in seinem Evangelium, wie in der Offb, eben in allem, „was er sah“, als ein Zeuge des Wortes Gottes und Jesus Christi! Hier spüren wir etwas von der heiligen Pflicht, in der sich der Verfasser sah.34 Als ob Johannes seine Aufgabe als „Apokalyptiker“ nicht im Lichte Jesu reflektiert hätte! „Sehen“ muss sich auf den gesamten Offenbarungsempfang beziehen, vergleichbar dem [ חזהchazah] der alttestamentlichen „Seher“ und der prophetischen Inspiration Bileams (Num 24,3ff).35 Der Makarismus in V. 3 ist deutlich abgesetzt von V. 1 und 2, also kein Teil des Titels mehr. Die Kommentare weisen darauf hin, dass Johannes 7 Makarismen in die Offb aufgenommen hat (14,13; 16,15; 19,9; 20,6; 22,7; 22,14 neben 1,3).36 Dabei steht 22,7 Offb 1,3 besonders nahe – erneut wird eine Klammer um das ganze Buch sichtbar. Makarismen sind, obwohl auch sonst in der antiken Welt bekannt,37 typisch biblisch. Nach G. Bertram sind sie vor allem „den Weisheitsschriften eigentümlich“.38 Im NT jedoch gehören die Makarismen typischerweise „der eschatologischen Verkündigung an“ (F. Hauck39). Zentral geformt werden sie ְ [ ַאaschre hier durch Jesus selbst.40 Im Hintergrund ist das hebr. שֵׁרי ָהִאישׁ 30 τοῦ θεοῦ [tu theu] ist gen. subj. (Aune S. 6). 31 Aune fasst das καί [kai] vor μαρτυρία [martyria] epexegetisch und verengt damit die Aussage. Er verengt sie ein zweites Mal, wenn er Ἰ. Χρ. [I. Chr.] als gen. sub. versteht (a.a.O.). 32 Zur Übersetzung vgl. Zahn S. 155, der freilich das Zeugesein des Johannes auf die Offb begrenzen will. Morris S. 46 ist hier offener. Richtig Brütsch S. 29: „ Es handelt sich … um ganzen Lebenseinsatz im Dienst am Wort.“ 33 Vgl. Blass-Debrunner § 160. 34 Bengel S. 176 „Große Versicherung von dem göttlichen Ursprung dieses Buchs“. 35 Ähnlich Aune S. 19, der auf Am 1,1; Hab 1,1 verweist. 36 Vgl. Aune S. 19ff. 37 G. Bertram / F. Hauck, Art. μακάριος usw., ThWNT, IV, 1942, S. 365ff; Aune S. 10ff. 38 A.a.O. S. 367, dort auch viele Nachweise. 39 A.a.O. S. 370. 40 Vgl. wieder Hauck a.a.O. S. 370f.
2. Überschrift 1,1-3
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haisch] noch gut erkennbar: „Die neutestamentlichen Makarismen sind im allgemeinen in 3. Pers. gegeben“.41 Was nun speziell die Offb betrifft, so stellt F. Hauck für diese fest: „Stark treten schließlich Makarismen in der Apokalypse hervor“.42 Man kann aufgrund dieser Sachlage mit Recht überlegen, ob nicht der Makarismus in Offb 1,3 auf Lk 11,28 zurückgeht (oder auf Joh 12,47?).43 Immerhin spricht in Offb 1,3 Johannes selbst, der aus mündlicher oder schon schriftlich fixierter Jesus-Überlieferung schöpfen konnte. Nun zu 1,3 im Einzelnen: Formuliert wird in der 3. Person mit der Besonderheit, dass zunächst die 3. Person Singular maskulin und dann die 3. Person ְ [ ַאaschre haisch]). ὁ ἀναγινώσκων Plural maskulin steht (vgl. hebr. שֵׁרי ָהִאישׁ [ho anaginoskon] kann allgemein „der Leser“ der Offb sein oder speziell derjenige, der sie im Gottesdienst der Gemeinde laut vorliest. Die Verbindung mit dem Plural ἀκούοντες [akuontes] spricht zugunsten des „Vorlesens“: In Offb 1,3 ist auch nach R. Bultmanns Urteil „an die Verlesung der hier vorliegenden Prophetie gedacht“.44 Praktisch sind damit die Leiter und Prediger der Gemeinden beauftragt.45 Doch darf man daraus keine Exklusivität ableiten. Johannes hat so formuliert, dass jeder Leser der Offb eingeschlossen bleibt.46 Satakes Hauptthese, „dass die Gemeinde der Apokalypse keine Ämter außer dem ‚Prophetenamt‘ kennt“ (S. 155), wird schon durch das ἀναγινώσκων [anaginoskon] in Offb 1,3 widerlegt. Die Seligpreisung wird dann erweitert (καί) auf diejenigen, die die Worte der Weissagung hören und das bewahren, was in ihr geschrieben ist.47 Es gibt also keine Seligpreisung der bloß Hörenden, und es ist auch keine ausreichende Definition der Kirche, wenn man nur von denen spricht, „die das Wort Gottes hören“. Die strenge Copula hören und bewahren geht sehr wahrscheinlich auf Jesus zurück (vgl. ָ [schamar], umschließt Mt 7,24; Lk 11,18; Joh 12,47). „Bewahren“, hebr. שַׁמר das im Gedächtnis Bewahren ebenso wie das Respektieren und die Umsetzung in die Praxis.48
41 42 43 44 45 46 47
Hauck a.a.O. S. 370. A.a.O. S. 372. So Aune S. 19f. R. Bultmann, Art. ἀναγινώσκω usw., ThWNT, I, 1933, S. 347. Aune S. 20; „the lector“. Der Sache nach schon Bengel S. 180. Dies betonte Bengel S. 181. Der Plural akzentuiert vermutlich die Gesamtheit der Gemeindeglieder im Unterschied zu den leitenden und predigenden Einzelpersönlichkeiten bei ἀναγινώσκων [anaginoskon]. 48 Auch G. Kittel betont in ThWNT, I, 1933 S. 221 den Zusammenhang von Hören, Glaube und Tun. Vgl. noch Morris S. 47, Zahn S. 156 und den Artikel von H. Riesenfeld über τηρεῖν usw. in ThWNT, VIII, S. 139ff. τηρεῖν [terein] spielt vor allem im Johannesevangelium eine Rolle.
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Was aber ist speziell zu „hören und bewahren“? Johannes antwortet: die Worte der Weissagung (τοὺς λόγους τῆς προφητείας [tus logus tes propheteias]) bzw. das, was in ihr geschrieben ist (τὰ ἐν αὐτῇ γεγραμμένα [ta en aute gegrammena]). Erneut tritt zutage, was schon bei ἀναγινῶσκων [anaginoskon] zu beobachten war: Die Offb ist von allem Anfang an ein Buch gewesen und als solches entworfen. So wie die Worte Jesu zu hören und zu bewahren sind (vgl. auch Mt 28,20), so ist auch diese Apokalypse des Auferstandenen zu hören und zu bewahren. Statt ἀποκάλυψις [apokalypsis] verwendet Johannes jetzt aber den Begriff προφητεία [propheteia]. προφητεία [propheteia] bezeichnet im NT die Verkündigung der alttestamentlichen Propheten (Mt 13,14; 2Petr 1,20f) oder die Verkündigung(sgabe) der frühchristlichen Propheten (Röm 12,6; 1Kor 12,10ff; 1Thess 5,20). Da Johannes der menschliche Verfasser der Prophetie/Weissagung von Offb 1,3 ist, kann man ihn mit Recht als Propheten bezeichnen. Dennoch bleibt zu beachten, dass er sich an keiner Stelle explizit προφήτης [prophetes] nennt.49 Er selbst wahrt hier eine Zurückhaltung, die uns davor warnt, in ihm schlechthin „den“ Propheten zu sehen.50 Aber „Prophetie“ im Sinne der Zukunftsweissagung ist es, was er uns vorlegt. Übrigens vermeidet er die Aufforderung, mit ihm zusammen die Offb „zu sehen“. Weil sie zum Buch geworden ist, kann man sie nur „hören“.51 Ist es aber eine schriftgewordene „Prophetie“, die er hier vorlegt, und muss, was hier geschrieben ist, ebenso gehört und bewahrt werden wie die Worte Jesu, dann ist der Schluss unvermeidlich, dass er uns hier eine „heilige Schrift“ vorlegt. Aune hat an dieser Stelle recht: „John places his book on an equal footing with OT Scripture“ (S. 23).52 Offb 22,18f wird dies bestätigen. Nicht zu übersehen ist schließlich ein weiterer Punkt: Wenn uns Johannes so uneingeschränkt zum Hören und Bewahren auffordert, dann setzt er voraus, dass wir die Apokalypse verstehen können. Die vielen negativen Urteile, wonach die Offb „dunkel“, „unverständlich“, „bizarr“, „grotesk“ u.ä. sein soll – Urteile, von denen die Kirchengeschichte voll ist –, sind verfehlt. Man sollte sich gelegentlich Bengels Aussage ins Gedächtnis rufen: „Ist es eine Offenbarung, wolan so lasse man es eine Offenbarung, eine Entdeckung seyn, und
49 Am ehesten kommt einer solchen Aussage 22,9 nahe. 50 Gegen Satake S. 73. 51 Vgl. wieder Kittel a.a.O. S. 220: „Im ganzen NT ist das Hören stark, teilweise fast stärker betont als das Sehen“. 52 Ebenso Morris S. 46.
2. Überschrift 1,1-3
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mache keine Verdeckung daraus, wie diejenige thun, die es nur immer eine geheime, eine hohe Offenbarung nennen“ (S. 153).53 Johannes schließt die Seligpreisung mit den Worten: Denn die Zeit ist nahe (ὁ γὰρ καιρὸς ἐγγύς [ho gar kairos engys]). Ob man hier wie Aune54 von einem Verhältnis Protasis/Apodosis ausgehen kann, wobei die Apodosis von unseren Worten gebildet würde, bleibt fraglich. Denn dieses Verhältnis setzt einen konditionalen Vordersatz und konditionalen Nachsatz voraus und erfordert in der Regel den Konjunktiv im Vordersatz.55 Besser ist es, in γάρ [gar] die causa, die Begründung, für die Seligpreisung zu sehen. Die Zeit ist nahe erinnert an das ἐν τάχει [en tachei] aus Vers 1. Wieder ergeben sich verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Man kann auf den Ernst der Situation abheben56 und hat dann etwas Richtiges angesprochen. Man kann auch eine „Warnung vor dem Leichtsinn“ heraushören.57 Man kann schließlich auf die Nähe der geweissagten Ereignisse abheben: Das Prophezeite „steht vor der Tür“.58 Zahn denkt speziell „an die Nähe der Parusie Jesu“ (S. 158), Aune allgemeiner an das „element of eschatological imminence“ (S 8). Alle diese Deutungen haben einen berechtigten Sinn. Der Begriff καιρός [kairos], in der LXX meist zurückgehend auf hebr. [ ֵעתet],59 fordert jedoch, dass das chronologisch-heilsgeschichtliche Element auf jeden Fall ebenfalls zum Tragen kommt. G. Delling hat herausgearbeitet, dass die zeitliche Bedeutung im NT die primäre ist.60 καιρός [kairos] ist dann vorwiegend die göttlich bestimmte und von Gott gefüllte Zeit, gelegentlich sogar terminus technicus für „das Ende überhaupt“.61Von da aus versteht man καιρός [kairos] in Offb 1,3 am besten als eschatologisches „Ende“ bzw. als „Endgeschichte“. Es beginnt schon jetzt und stellt uns den Ernst der eschatologischen Verantwortung vor Augen. Es wird ohne Zögern das Ziel der Wege Gottes herbeibringen. Insofern ist es tatsächlich nahe, ohne dass es als „Naherwartung“ im negativen Sinne missdeutet werden dürfte. Und deshalb sind auch diejenigen glücklich zu preisen, die sich darauf einstellen. Was H. Preisker zu ἐγγύς [engys] beiträgt,62 bestätigt unsere Auslegung. Ihm zufolge bedeutet ἐγγύς [engys] im NT 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Brütsch S. 32 greift dies auf. S. 10f. Vgl. Blass-Debrunner § 373. So z.B. Frey S. 17. So Zahn S. 158. So Behm S. 6. Vgl. G. Delling, Art. καιρός usw., ThWNT, III, 1938, S. 456ff. A.a.O. S. 460. Delling a.a.O. S. 463. In seinem Artikel ἐγγύς usw. im ThWNT, II, 1935, S. 329ff.
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grundsätzlich: „das verheißene Kommen des Reiches Gottes ist als Wunder von Gott unmittelbar an die Gegenwart herangerückt“.63 Johannes sieht sich also schon am Beginn des Geschehens, und er sieht dieses Geschehen zügig auf sein Ziel zulaufen.
IV Zusammenfassung 1. Überschrift und Seligpreisung fordern uns dringlich zum Lesen und Hören auf, denn es ist eine Botschaft des auferstandenen Jesus an seine gesamte Gemeinde. 2. Diese Botschaft hat göttlichen Charakter, denn sie geht auf Gott selbst zurück und kommt durch Jesus Christus, dessen Engel und den vertrauenswürdigen Zeugen Johannes zu uns. 3. Diese Botschaft deckt die Zukunft auf. Es bleibt unsere Verantwortung, wie wir uns darauf einstellen. Wer das im Glauben tut, ist in Gottes Augen glücklich zu preisen. Wer es versäumt, hat selbst sein Verderben verschuldet. 4. Die Ereignisse der Zukunft haben schon begonnen und ihr Lauf schreitet unaufhaltsam dem von Gott bestimmten Ziele zu.
3. Bucheingang 1,4-8 I Übersetzung 4 Johannes an die sieben Gemeinden in Asien: Gnade sei mit euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt, und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind, 5 und von Jesus Christus, dem treuen Zeugen, dem Erstgeborenen von den Toten und dem Herrn über die Könige auf Erden. Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut, 6 und uns zu einem Königreich, zu Priestern für seinen Gott und Vater gemacht hat, ihm sei die Ehre und die Macht in alle Ewigkeit! Amen. 7 Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen und alle, die ihn durchbohrt haben, und alle Geschlechter der Erde werden über ihn trauern. Ja, Amen. 8 Ich bin das Alpha und das Omega, sagt Gott der Herr, der ist und der war und der kommt, der Allmächtige.
63 A.a.O. S. 330.
3. Bucheingang 1,4-8
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II Struktur Der kleine Abschnitt ist zunächst als Briefpräskript gestaltet.64 In der Mitte des fünften Verses geht er in eine Doxologie über, die mit einem liturgischen Amen schließt. In V. 7 schließt ein kombiniertes Schriftzitat an, das aber wieder den Charakter des Lobpreises hat und deshalb mit dem Gebetsruf „Ja, Amen!“ endet (vgl. 22,20). Nach Präskript, Doxologie und lobpreisendem Zitat folgt in V. 8 noch eine Selbstvorstellung Gottes, die jedoch keinen liturgischen Abschluss mehr aufweist. Es sind also alles in allem vier Teile, die diesen Bucheingang bilden.65 Dennoch sollte man sie nicht gegeneinander verselbstständigen.66 Denn die insgesamt fünf Verse sind deutlich miteinander verklammert. Das gilt zunächst für das einleitende „Johannes“ (V. 4), das in V. 9 wieder aufgenommen wird und insofern alles nach V. 4 Folgende bis hin zu V. 8 zusammenbindet. Das gilt aber auch bezüglich des ὁ ὤν [ho on], das am Anfang in V. 4 und am Ende in V. 8 erscheint und damit noch einmal die Verse 4-8 zusammenbindet. Aber auch der Lobpreis Jesu Christi findet sich sowohl in 1,4f als auch in 1,5f und in V. 7. Ein besonderes Merkmal der Verse 4-8 ist die eigenwillige Sprache. Schon Dionysius von Alexandrien hatte die „barbarischen Wendungen“ und „Verstöße gegen die Sprache“ in der Offb beanstandet.67 Die „Grammatik des neutestamentlichen Griechisch“ von Blass/Debrunner/Rehkopf widmet den Solözismen der Offb einen ganzen Paragrafen (§ 136). In der Literatur wird vor allem die auffallende Konstruktion ἀπὸ ὁ ὤν [apo ho on] usw. in V. 4 erwähnt, wo auf ἀπό [apo] ein Nominativ folgt. Man muss dazu allerdings beachten, dass es im Griechischen auch andere, wenngleich seltene, Fälle eines solchen casus nominativus gibt. Im NT findet sich die nächste Parallele auffallenderweise wieder im Johannesevangelium, nämlich Joh 13,13: ὑμεῖς φωνεῖτέ με ὁ διδάσκαλος καὶ ὁ κύριος [hymeis phoneite me ho didaskalos kai ho kyrios].68 Die Einzelexegese versucht hier nähere Aufschlüsse zu geben. Nur so viel sei vorweg bemerkt, dass der Verfasser seine eigenwillige Sprache offensichtlich bewusst gewählt hat und dass sie am Modell des AT ausgerichtet ist.69 64 Aune S. 23: „Epistolary Prescript“. 65 Auch Aune S. 23ff kommt auf vier Teile. 66 Diese Gefahr scheint mir bei Aune a.a.O. gegeben, der innerhalb des „Prologs“ (1,1-8) „Title“, „Beatitude“, „Epistolary Prescript“, „Doxology“ und „Two Prophetic Orades“ aneinanderreiht. 67 Euseb H.E. VII, 25, 16. 68 Vgl. Blass-Debrunner § 143,1. 69 Hier hat Lohmeyer 3 recht (S. 194).
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III Einzelexegese Johannes steht einfach und eindrucksvoll an der Spitze des Abschnitts. Der Verfasser hat seinen Namen ja schon im ersten Vers genannt. Der Vorwurf, den ihm Dionysius von Alexandrien wegen seiner mehrfachen Namensnennung machte („Dem Verfasser der Apokalypse aber genügte es keineswegs, sich nur einmal … zu nennen“70), ist unberechtigt, wenn man sieht, dass auch die alttestamentlichen Propheten ihren Namen öfters nannten (Jes 1,1; 7,3.13; 13,1; Dan 7,1.2.15.28; 8,1.15.27 usw.). Johannes muss auch in V. 4 keine näheren Erläuterungen zu seiner Person geben. Seine Identität steht fest. Sowohl als Apostel als auch als Verfasser der Offb hat er Autorität. Als handle es sich um einen Brief, adressiert er die Offenbarungsschrift an die sieben Gemeinden in Asien (V4). Absender – Adressat – Gruß bilden die klassische Form des Briefeingangs in der griechischen Welt. So auch hier. Auffallenderweise ist von „den“ sieben Gemeinden die Rede. Damals gab es jedoch schon mehr Gemeinden in der betreffenden Region. Zu erinnern wäre etwa an Milet (Apg 20,17ff) oder Troas (Apg 20,6ff; 2Kor 2,12f; 2Tim 4,13) oder Kolossae (Kol 1,2) oder Laodizea (Kol 4,13ff) oder Hierapolis (Kol 4,13).71 Vermutlich soll der Artikel ταῖς [tais] vorauszeigen auf die in 1,11 sowie Kapitel 2 und 3 genannten Gemeinden. Dass es gerade „sieben“ sind, deutet auf die Heiligkeit des dreieinigen Gottes und die Heiligkeit der vorliegenden Offenbarungsschrift. Die Siebenzahl wird uns immer wieder als konstitutiv für den Aufbau und die Botschaft der Offb begegnen. Damit berühren wir das Rätsel der Zahlen in der Offb. Bengel nahm diese Zahlen sehr ernst mit der Begründung: „Hie ist die Rede von dem, was Gott in der Schrift geoffenbaret hat: und die Schrift nimmt es genau, scharf und gewiss“ (S. 99). Moderne Ausleger begnügen sich damit, die apokalyptischen Zahlen „as a symbol“ zu betrachten (Caird S.14). Man wird gut daran tun, zwischen den Extremen der Übersystematisierung und der Zahlenantipathie einen gesunden Mittelweg zu gehen. Das bedeutet eine Prüfung in jedem Einzelfall. Was nun speziell die Zahl Sieben anbetrifft, so hat Karl Heinrich Rengstorf zunächst auf ihre „überragende Stellung“ in der Bibel hingewiesen.72 Der neutestamentliche Gebrauch dieser Zahl müsse im „Anschluss an alttestamentli-
70 Euseb H.E. VII, 25, 11. 71 Vgl. Caird S. 15; Bousset S. 184. Hemer S. 14 denkt auch an Magnesia und Tralles. Vgl. auch Jones passim. 72 Art. ἑπτά usw., ThWNT, II, 1935, S. 623.
3. Bucheingang 1,4-8
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chen Sprachgebrauch“ verstanden werden.73 „Geradezu beherrscht durch die Sieben wird die Offenbarung des Johannes.“74 Rengstorf lehnt es jedoch ab, die Sieben wie z.B. Ernst Lohmeyer schlechthin „zum Formprinzip der Apk zu machen.“75 Stets sei diese Zahl Ausdruck der göttlichen Fülle und Totalität.76 Versucht man von da aus die johanneische Auswahl von sieben Gemeinden zu verstehen, dann repräsentieren die „sieben“ nach dem Grundsatz der Fülle und Totalität die ganze christliche Gemeinde auf Erden. Es geht also nicht um ihre spezielle Zukunft, sondern um die Zukunft der ganzen glaubenden Christenheit.77 Hemer hat insofern recht: Die Sieben ist für Johannes „a symbol of universality“ (S. 14). Darüber hinaus verdienen auch andere Aspekte Beachtung. Im Anschluss an Ramsay hat Hemer darauf hingewiesen, dass die in der Apokalypse erwähnten sieben Gemeinden „the natural centres of communication for an itinerant Christian messenger“ darstellen.78 Die Botschaft des Johannes bzw. des auferstandenen Jesus konnte auf diese Weise rasch und sicher zirkulieren. Man sollte außerdem nicht übersehen, was z.B. Caird betont: Sehr wahrscheinlich hatte Johannes eine pastorale Beziehung gerade zu diesen Gemeinden (S. 14). Der göttliche Auftrag, in dem er handelte, schloss alle diese Aspekte ein und benutzte die gegebenen Bedingungen. Johannes schreibt an Gemeinden, nicht an Einzelpersonen. Grundsätzlich ist mit Karl Ludwig Schmidt davon auszugehen, dass im NT ἐκκλησία [ekklesia] sowohl die gesamte Kirche als auch die einzelne Gemeinde bezeichnet und deshalb der Begriff „Gemeinde“ nicht in einen Gegensatz zum Begriff „Kirche“ gebracht werden darf.79 „Gemeinde“ ist hier wie im ganzen NT ein gegliederter Organismus,80 d.h. ein gegliederter Leib Jesu Christi mit bestimmten Ämtern. Schon bald werden uns Gemeindeleiter, Gottesdienste, Lehrer, Propheten und Märtyrer begegnen (Kap. 2–3). ἐν τῇ Ἀσίᾳ [en te Asia] leben diese Gemeinden.
73 74 75 76 77 78 79 80
A.a.O. S. 626. A.a.O. S. 628. A.a.O. Vgl. dazu Lohmeyer 3 S. 181. A.a.O. S. 630. Ebenso Caird S. 14; Behm S. 8. Anders Aune S. 29: Sieben ist nur Zahl für Himmlisches. Hemer S. 15. Ebenso Caird S. 15; Lohse S. 15; Behm S. 8; Frey S. 18; schon Bengel S. 186f. Anders Aune a.a.O. Vgl. K.L. Schmidt, Art. καλέω usw., ThWNT, III, 1938, S. 502ff, bes. S. 504. Gegen Satake passim.
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Exkurs zu „Asien“ „In der Asia“ (so wörtlich) meint den Westen Kleinasiens, vermutlich die römische Provinz Asien. Ἀσία [Asia] spielt im NT eine erhebliche Rolle. Ähnlich wie Johannes in Offb 1,4 spricht auch Paulus von den Gemeinden in Asien (ἐκκλησίαι τῆς Ἀσίας [ekklesiai tes Asias], 1Kor 16,19; vgl. Röm 16,5; 2Kor 1,8; 2Tim 1,15). Petrus schreibt an Christen in Asien (1Petr 1,1). Häufig wird Asien in der Apostelgeschichte erwähnt (Apg 2,9; 6,9; 16,6; 19,10.22.26.27; 20,16.18; 21,27; 24,19; 27,2). Die paulinische Missionsgeschichte und Leidensgeschichte hat in wichtigen Teilen dort gespielt. Aber neben Paulus stehen andere, die dieses Gebiet beeinflusst haben: Petrus, Philippus81 und eben Johannes. Nach „Asien“ gehen acht Briefe des NT (Epheser, Kolosser, Philemon, 1Petr, 1Joh, 2Joh, 3Joh, 1Tim), evtl. sogar zwei weitere (Jak, 2Petr), sowie der in Kol 4,16 erwähnte Laodizäerbrief. Auch in nachapostolischer Zeit behielt Asien seine hervorragende Bedeutung für die Geschichte der Christen. Insbesondere die „johanneische Schule“82, die dort blühte, übte einen großen Einfluss auf die Christenheit des 2. Jahrhunderts und auf die ganze Kirchengeschichte aus. Wie stark sie sich dessen bewusst war, wird an dem Widerstand der Bischöfe Asiens deutlich, die sich dem römischen Bischof Viktor in der Frage der richtigen Osterzeit entgegenstellten. In seinem Brief an Viktor bemerkt der Führer der Bischöfe Asiens, Polykrates, etwa um 190 n.Chr.: „Denn auch in Asien haben große Sterne ihre Ruhestätte gefunden.“ Er verweist auf Philippus und Johannes (Euseb H.E. III, 31,3). Neben Polykrates, Bischof von Ephesus, sind Papias von Hierapolis, Polykarp von Smyrna (als Märtyrer 156 n.Chr. gest.), Melito von Sardes (gest. ca. 190 n.Chr.) und der Schüler Polykarps, Irenäus, Bischof von Lyon ab 177 n. Chr., der in Kleinasien geboren wurde, zu nennen. Ephesus blieb bis ins 5. Jh. n. Chr. ein Vorort der Christenheit. Hier fand beispielsweise das Ökumenische Konzil von 431 statt, bei dem Nestorius verurteilt und das berühmte θεοτόκος [theotokos] formuliert wurde. Besonderer Erwähnung bedarf die Rolle der Märtyrer in Asien. Schon in Offb 2,13 wird ein Märtyrer (Antipas) mit Namen genannt. Wenig später (112 n.Chr.) schrieb der Statthalter der Nachbarprovinz, Plinius, an Kaiser Trajan, er habe Christen hinrichten lassen. 156 n.Chr. starb Polykarp von Smyrna als 86-Jähriger auf dem Scheiterhaufen. Ca. 176 n.Chr. ließen Karpus, Papylus und Agathonike in Pergamon als Märtyrer ihr Leben. Asien ist uralter griechischer Siedlungs- und Kulturraum. E.A. Judge83 schreibt beispielsweise: „Als die Griechen mit Beginn des 1. Jt. v.Chr. in die Geschichte eintraten, lebten sie auf beiden Seiten des Ägäischen Meeres.“ Auf 81 Philippus ist nach Angaben der Kirchenväter in Hierapolis begraben worden, wobei die Unterscheidung zwischen dem Apostel und dem Diakon schwerfällt. Vgl. Euseb H.E. III, 31,3ff; III, 39,9; V, 24,2 sowie D. H. Wheaton, GBL 3, S. 1199f. 82 Vgl. hierzu auch O. Cullmann, Der johanneische Kreis, Tübingen, 1975. 83 GBL, 1, S. 493.
3. Bucheingang 1,4-8
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der asiatischen Seite dominierten die Ionier. Der griechische Historiker Herodot, der selbst um 500 v.Chr. in der Region Asien geboren wurde, schrieb über Ionien: „Die Ioner übrigens … haben ihre Städte in einem Lande gegründet, das von der ganzen uns bekannten Erde das herrlichste Klima hat.“84 In Ionien stand die Wiege der abendländischen Geschichtsschreibung und Philosophie. Um 560 v.Chr. herrschten hier die Lyder. Ab 546 v.Chr. wurde Ionien bzw. Kleinasien von den Persern unterworfen, die erst Alexander d. Gr. (336–323) vertrieb und besiegte. Nachdem die Reiche seiner Nachfolger, der Diadochen, zerfallen waren, rückten die Römer nach Asien vor. Sie erbten 133 v.Chr. das Reich von Pergamon und errichteten auf dessen Gebiet die Provinz Asien neben anderen kleinasiatischen Provinzen (wohl 129 v.Chr.). Unter Augustus wurde Asien eine senatorische Provinz, deren Statthalter in Ephesus residierte. Die römische Zeit war eine ausgesprochene Blütezeit. Dazu trug die kulturelle und religiöse Vielfalt bei. Zahlreiche Kulte wurden in Asien gepflegt, und auch der Kaiserkult gelangte hier zu relativ starker Bedeutung. In eine solch reiche, vielfältige und ausstrahlende Welt also war das Christentum eingetreten und hatte sich dort seit der Pfingstpredigt (Apg 2,9) mehr und mehr ausgebreitet.
Gnade sei mit euch und Friede (V. 4) wünscht Johannes den Adressaten. Das ist „das zweigeteilte orientalische Formular“85, das im NT für Briefe üblich ist. Im ersten Teil finden sich Absender und Empfänger („X an Y“), im zweiten Teil ein Gruß (salutatio) mit Gnaden- bzw. Friedenswunsch.86 Die Offb erinnert also tatsächlich an einen Brief. Wikenhauser erkennt ihr sogar „die Form eines Rundschreibens oder Hirtenbriefes“ zu (S. 28).87 Jedoch nennt der Verfasser seine Schrift niemals einen „Brief“ (ἐπιστολή [epistole]), sondern von 1,11 bis 22,7ff stets nur ein „Buch“ (βιβλίον [biblion]). Gnade88 ist ein zusammenfassender Begriff für die Frucht der Erlösung, die aus dem Heilswerk Jesu Christi entspringt, Friede89 ein Hauptkennzeichen der Gemeinschaft mit Gott, die daraus erwächst. Hinter χάρις [charis] ָ stehen hebr. [ ֵחןchen] und [ ֶחֶסדchesed],90 hinter εἰρήνη [eirene] hebr. שׁלוֹם [schalom].91 Man erinnere sich daran, welch zentrale Rolle der χάρις [charis] 84 Hist I, 142. 85 Lohse S. 14; Conzelmann (s. folgende Anmerkung) S. 384. 86 Vgl. Röm 1,7; 1Kor 1,3; 2Kor 1,2; Gal 1,3; Eph 1,2; Phil 1,2; Kol 1,2; 1Thess 1,1; 2Thess 1,2; Tit 1,4; Phlm 3; 1Petr 1,2; 2Petr 1,2. 87 Auch Behm S. 7: „Form … des Rundschreibens“; Brütsch S. 40; Morris S. 47. 88 Vgl. dazu H. Conzelmann / W. Zimmerli, Art.: χαίρω usw., ThWNT, IX, 1973, S. 363ff. 89 Vgl. dazu G. v. Rad / W. Foerster, Art.: εἰρήνη usw., ThWNT, II, 1935, S. 398ff. 90 Zimmerli a.a.O. S. 366ff. 91 G. v. Rad a.a.O. S. 400ff.
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im Johannesprolog (1,14ff) und der εἰρήνη [eirene] in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums (14,27; 16,33) zukommt. Für die neutestamentlichen Verfasser waren „Gnade und Friede“ keine gewohnten oder gar routinierten Formeln, sondern christlicher Segen im höchsten Maße. Mit Recht versteht Foerster den Frieden als einen letztlich eschatologischen Begriff.92 Dreifach soll nach Johannes Gnade und Friede den Gemeinden zukommen. Zuerst von dem, der ist und der war und der kommt. Hier muss nach dem Kontext Gott, der Vater Jesu Christi, gemeint sein. Dabei steht nach ἀπό [apo] („von“) nicht der Genitiv, sondern erstaunlicherweise der Nominativ: ὁ ὤν [ho on] usw. Das gibt dem Ausdruck, wie Bousset richtig sagt (S. 184), „eine erhabene Feierlichkeit“. Darüber hinaus müssen wir mit Bousset, Lohse u.a. annehmen, dass hier eine „beabsichtigte grammatische Härte“93 vorliegt und keineswegs sprachliches Unvermögen. Der ist und der war und der kommt lässt uns sofort an Ex 3,14 denken. Dort nennt sich Gott im Griechischen der LXX ὁ ὤν [ho on]. Jes 41,4 nimmt Ex 3,14 auf und verdeutlicht es durch die Worte εἰς τὰ ἐπερχόμενα ἐγώ εἰμι [eis ta eperchomena ego eimi].94 In Jes 41,4 begegnen wir also unserem Stichwort ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos]. Die damalige jüdische Exegese hat häufig auf den Gottesnamen Bezug genommen. Exegeten wie Wikenhauser nennen als Beleg z.B. den Targum zu Dtn 32,39.95 Auch Qumran gibt zu erkennen, dass Ex 3,14 die damaligen Ausleger beschäftigt hat.96 Allerdings darf man kaum direkte Zeugnisse erwarten, denn es gab eine heilige Scheu vor dem Gottesnamen von Ex 3,14. So weigert sich Josephus, die Stelle auch nur zu zitieren und bemerkt stattdessen: ὁ θεὸς αὐτῷ (= Mose) σημαίνει97 τὴν αὐτοῦ προσηγορίαν … περὶ ἧς οὔ μοι θεμιτὸν εἰπεῖν [ho theos auto semainei ten autu prosegorian … peri hes u moi themiton eipein].98 Auffällig ist das dritte Glied in der Gottesbenennung: ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos].99 Es drückt nicht nur die Dimension des Futur (Zukunft) aus, sondern steht auch in einem inneren Zusammenhang mit der Wiederkunft Jesu Christi (vgl. 2,16; 3,11; 16,15; 22,7ff.17ff neben 1,8; 4,8; 11,17; 16,5). Offensichtlich hat Johannes das ὁ ὢν καὶ ὁ ἐρχόμενος [ho on kai ho erchomenos] wie einen Eigennamen behandelt, der in Parallele zu anderen hebräischen
92 93 94 95 96 97 98 99
A.a.O. S. 410. Bousset S. 184. Vgl. Lohse S. 15. Auch Bousset S. 184 verweist auf diese Stellen. S. 28. Vgl. Aune S. 32f; Schlatter BFchTh S. 12. Vgl. z.B. 1QS III,15: „alles Sein und Geschehen“ kommt von Gott. Man beachte hier den Gebrauch von σημαίνειν [semainein], der an Offb 1,1 erinnert. Ant. II.276. Vgl. Bousset S. 184.
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Personennamen „unverändert und indeklinabel“ bleibt.100 Es liegt hier weder ein Barbarismus noch ein Solözismus vor. Gnade und Friede soll zweitens kommen von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind. Die „sieben“ ist wieder Ausdruck der Heiligkeit und der Fülle. Sicherlich haben wir hier „eine der merkwürdigsten trinitarischen“ Formeln vor uns.101 Im Gefolge Gunkels und Boussets hat man die sieben Geister oft auf den babylonischen Geisterglauben zurückführen wollen.102 Aber viel näher liegt der alttestamentliche Zusammenhang. In Sach 3,8f; 4,2 ist die Rede von den sieben „Augen Jahwes, die alle Lande durchziehen“. Ebenso werden in Offb 5,6 sieben Augen Gottes erwähnt, die als „die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande“ gedeutet werden (vgl. 3,1; 4,5). Dementsprechend muss in Offb 1,4 an den Hl. Geist in seiner Fülle gedacht sein.103 Von da aus lässt sich dann leicht eine Linie zu dem siebenfachen Gottesgeist in Jes 11,2f ziehen, wie es schon Victorin von Pettau, Andreas von Caesarea und Primasius getan haben.104 Seit Augustin spätestens hat sich die Deutung auf den Hl. Geist durchgesetzt. Die Deutung auf sieben hohe Engel (vgl. Tob 12,15) wird schon durch den trinitarischen Zusammenhang, aber auch durch den Ursprung von Gnade und Frieden in den „sieben Geistern“ widerlegt.105 Vor seinem (= Gottes) Thron bedeutet in Gemeinschaft und Gegenwart Gottes des Vaters. Drittens ist die Quelle von Gnade und Friede Jesus Christus (V. 5). Mit dieser Dreiheit ist unüberhörbar die göttliche Trinität gegeben.106 Sie liegt ja schon bei Paulus in dreigliedriger Formel vor (1Kor 12,4-6). Und längst vor der Offb hat sie Matthäus in seinem Evangelium formuliert (Mt 28,19). Die Reihenfolge freilich wechselt: Vater – Geist – Sohn (1Kor 12,4ff) oder Vater – Sohn – Geist (Mt 28,19) oder Sohn – Vater – Geist (2Kor 13,13) oder Geist – Sohn – Vater (Eph 4,4ff; 5,18ff). Vielleicht drückt sich darin auch eine Vielfalt der Liturgie aus.107 Angesichts dieser Gegebenheiten darf die Reihenfolge in 100 101 102 103 104 105
106 107
Blass-Debrunner § 53. Vgl. Zahn S. 163. Bousset S. 184. Bousset S. 185f; Lohse S. 15; Behm S. 8. Wie wir Hemer S. 142; P. Müller S. 4; Frey S. 19; Brütsch S. 41; Hartenstein S. 61; Morris S. 48; schon Vitringa S. 15; Zahn S. 168. Bousset S. 185. Anders z.B. Bousset und Lohse a.a.O. Vgl. Wikenhauser S. 29; Caird S. 15; Zahn S. 170ff; E. Schweizer, Art. πνεῦμα usw. ThWNT, VI, S. 330ff, geht S. 448f grundsätzlich von den „sieben Erzengeln“ aus, kombiniert sie aber mit dem Hl. Geist. Aune vertritt dezidiert die Engel-Deutung (S. 34ff), ebenso Ritt S. 19; Holtz S. 138. Kritische Exegeten wehren sich heftig gegen die Trinitäts-Aussage, z.B. Lohse S. 15; Holtz S. 140. Vgl. H. Lindner, Art. Trinität, GBL, 3, S. 1596ff.
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Offb 1,4f (Vater – Geist – Sohn wie in 1Kor 12,4ff) nicht mehr überraschen. Vermutlich hat Johannes „Jesus Christus“ deshalb an den Schluss gestellt, weil er ihm die folgende Doxologie widmen wollte.108 Nach dem vorausgehenden ἀπό [apo] überrascht hier wieder der Nominativ ὁ μάρτυς [ho martys] usw. Dadurch bekommt ὁ μάρτυς [ho martys], ὁ πιστός [ho pistos], ὁ πρωτότοκος τῶν νεκρῶν καὶ ὁ ἄρχων τῶν βασιλέων τῆς γῆς [ho prototokos ton nekron kai ho archon ton basileon tes ges] wie das vorausgehende ὁ ὤν [ho on] usw. eine auffallende Erhabenheit. Die grammatische Parallelität wird zum Zeichen der personalen Parallelität, die den Sohn an die Seite des Vaters rückt. Vater und Sohn sind gegenüber dem Geist deutlich betont. Vier Begriffe kennzeichnen Jesus Christus. Zuerst ὁ μάρτυς [ho martys]. Man darf dieses Kennzeichen nicht nach modernen Vorstellungen mit z.T. dubiosen Zeugen-Auftritten auffassen, sondern muss es mit am AT geschulten Ohren hören. Auf dem Zeugen beruht das alttestamentliche Recht zu großen Teilen (vgl. nur Dt 17,6; 19,15ff).109 Das AT preist den μάρτυς πιστός [martys pistos] (Prov 14,5.25). Ja, Gott selbst ist der „treue Zeuge“ par excellence (ὁ μάρτυς πιστός [ho martys pistos], Ps 88,38 LXX;110 Jer 49,5 LXX [= 42,5]). Diese Gottesprädikation wird also in Offb 1,5 auf Jesus übertragen.111 Jesus Christus „bezeugt“ „die Wahrheit“ (Joh 1,17; 18,37), d.h. Gottes Wesen und Willen.112 Strathmann sagt: „Das Urbild des christlichen ‚Zeugen‘ ist der Gekreuzigte selbst.“113 Wie wichtig diese Aussage ist, ergibt sich auch aus Offb 3,14; 19,11. Unzweifelhaft wurde damals Ps 89 messianisch gedeutet.114 Übrigens berührt sich Johannes hier mit Paulus (vgl. 1Tim 6,13).115 ὁ πιστός [ho pistos] lautet die zweite Kennzeichnung Jesu Christi. πιστός [pistos] geht zurück auf hebr. [ נ ֱֶאָמןneeman]116 mit der Grundbedeutung „zuverlässig, d.h.: sein, was man in Wirklichkeit auch sein soll“. So treu, so „zuverlässig“ ist z.B. Mose (Num 12,7), ein priesterlicher Zeuge (Jes 8,2) oder 108 Dass Jesus Christus an eine jüdische Formel „angehängt“ wurde, ist eine verfehlte Annahme (gegen Bousset S. 187). 109 Vgl. hier und im Folgenden H. Strathmann, Art. μάρτυς usw., ThWNT, IV, 1942, S. 477ff. 110 Nach Delitzsch bezieht sich Ps 88, 38 LXX (= 89,38) auf Gott selbst (S. 581). Ebenso Bousset S. 187. 111 Schlatter BFchTh S. 39. 112 Eine Einengung auf die Verkündigung ist nicht ratsam (gegen Wikenhauser S. 29). Vgl. Lohse S. 15. 113 A.a.O. S. 500. 114 Neue Jerusalemer Bibel S. 825; Ritt S. 19. 115 Vgl. Lohse S.15. 116 Vgl. hier und im Folgenden A. Weiser, Art. πιστεύω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 182ff.
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Gott selbst (Jer 42,5). Die Zugehörigkeit zur [אמןaman]-Gruppe besagt, dass derjenige, der als πιστός bezeichnet wird, mit Recht das ganze Vertrauen verdient. Dass Jesus „sein Wort mit dem Tod besiegelt hat“117, ist nur eine Seite jener ganzheitlichen Verlässlichkeit. In ὁ πρωτότοκος τῶν νεκρῶν118 [ho prototokos ton nekron] zeigt sich ein neues Element. πρωτότοκος [prototokos] geht vermutlich auf hebr. [ ְבּכוֹרbekor] zurück.119 Darin liegen zwei Dimensionen. Die zeitliche enthält zugleich eine Betonung der Würde und der Freude, die sich mit „Erstlingen“ verbindet.120 Die zweite Dimension kann sich von der ersten emanzipieren und bringt dann die Liebe und Nähe zum Ausdruck, die dem „Erstgeborenen“ entgegengebracht wird. In Offb 1,5 muss man beide Dimensionen zusammen sehen. Jesus ist der Erstgeborene, insofern er als Erster von den Toten auferstand. Er ist aber auch der Erstgeborene, der [ ְבּכוֹרbekor], der dem Vater am nächsten steht und seine Liebe unbegrenzt empfängt.121 Zwei Bezüge sind hier besonders wichtig. Da ist einmal der enge Bezug zum μονογενής [monogenes]122 des Johannesprologs in Joh 1,14.18. Da ist zum andern der Bezug zu Ps 89, der auch hier wieder den alttestamentlichen Ausgangspunkt bildet.123 In Ps 89,28 (LXX 88,28) lesen wir: κἀγὼ πρωτότοκον θήσομαι αὐτόν, ὑψηλὸν παρὰ τοῖς βασιλεῦσιν τῆς γῆς [kago prototokon thesomai auton, hypselon para tois basileusin tes ges]. Der messianische 89. Psalm ist also so etwas wie das alttestamentliche Modell für Offb 1,5. Erneut stellen wir außerdem nicht nur eine Verwandtschaft mit dem Johannesevangelium, sondern auch mit dem paulinischen Sprachgebrauch fest (vgl. Röm 8,39; Kol 1,15.18), übrigens auch mit dem Hebräerbrief (Hebr 1,6).124 Nicht nur Zeuge und Erstgeborener ist Jesus, sondern auch der Herr über die Könige auf Erden (ὁ ἄρχων τῶν βασιλέων τῆς γῆς [ho archon ton basileon tes ges]). So erfüllt sich der messianische Psalm 89 ein drittes Mal125 (Ps 88,28 LXX: ὑψηλὸν παρὰ τοῖς βασιλεῦσιν τῆς γῆς [hypselon para tois basileusin tes ges]). Dasselbe gilt für Jes 55,4 und Ps 2. Noch ist Jesu Herrschaft verborgen. Aber sie wird bei seiner Wiederkunft allen sichtbar und voller Herrlichkeit werden (1,7; 19,11ff). ἄρχων [archon] (Herr) ist im „religiö117 118 119 120 121 122 123 124 125
Ritt S. 19; Lohse S. 15. Die Einfügung von ἐκ [ek] vor τῶν [ton] ist eine erleichternde, nachträgliche Lesart. W. Michaelis, Art. πρῶτος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 866ff, vgl. S. 873. Vgl. Michaelis, a.a.O. S. 873f. Michaelis a.a.O. S. 879. So auch Michaelis a.a.O. S. 875. Michaelis a.a.O.; Ritt S. 19; Bousset S. 187; Lohse S. 15; Aune S. 37. Vgl. Michaelis a.a.O. S. 881. Schlatter BFchTh S. 40.
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sen Sprachgebrauch ziemlich selten“.126 Es wird von „Christus nur hier gebraucht.“127 Vermutlich geht Johannes dabei auf Mi 5,1 LXX zurück, wo vom davidischen Messias mit folgenden Worten die Rede ist: ἐξ σοῦ μοι ἐξελεύσεται τοῦ εἶναι εἰς ἄρχοντα ἐν τῷ Ισραηλ καὶ αἱ ἔξοδοι αὐτοῦ ἀπ᾿ ἀρχῆς ἐξ ἡμερῶν αἰῶνος [ex su moi exeleusetai tu einai eis archonta en to Israel kai hai exodoi autu ap’ arches ex hemeron aionos]. Neben Ps 89 tritt also dem rabbinischen Schriftgebrauch entsprechend eine Prophetenstelle, eben Micha 5. Im Hintergrund scheint auch Mt 28,18 zu stehen. Die Christologie der Offb bewegt sich in einer starken Spannung zwischen dem „Lamm“ und dem Herrn über die Könige auf Erden – einer Spannung, die wir nicht auflösen dürfen. Schon der Eingang der Offb macht uns vertraut mit dem christologischen Feuer, das in ihr brennt. Von daher überrascht es inhaltlich nicht, dass sich jetzt in V. 5b-6 eine Doxologie auf den Christus findet. Sie beginnt mit dem Lobpreis der Liebe Jesu Christi. Dem, der uns liebt: Das ist der Ausgangspunkt all seines Handelns. Hier ist die totale Parallele zur Liebe Gottes des Vaters in Joh 3,16. Die Verwandtschaft mit dem vierten Evangelium drängt sich immer unausweichlicher auf. Und hat Jesus die Seinen nicht gerade nach dem Johannesevangelium „bis ans Ende“ oder „bis zur Vollendung“ geliebt (13,1)? Mit Recht sagt Ethelbert Stauffer, die Liebe (ἀγάπη [agape]) sei „für Johannes … das Prinzip der Christuswelt“.128 In Offb 1,5 steht das Präsens. Doch die Liebe Jesu Christi ist von allem Anfang an und wird in Ewigkeit nicht enden.129 Vgl. Joh 15,9ff; Eph 5,25ff. Aus der Quelle der Liebe entspringt das Zweite: dem, der uns von unsern Sünden erlöst hat durch sein Blut. Von den Sünden erlösen kann nur Gott (Ps 130,6; Jes 40,2). Er hat den Sohn damit betraut (Mt 1,21; 20, 28), der demnach göttliche Vollmacht und göttliche Würde hat (vgl. Joh 20,23). Erlösen, λύειν [lyein],130 führt auf die hebr. Wortstämme [ כפרkaphar], [ גאלgaal] und [ פדהpadah] zurück.131 Näher bestimmt es F. Büchsel in Offb 1,5 als „loskaufen“.132 Allerdings merkt er dazu an: „λύειν ἐκ τῶν ἁμαρτιῶν kommt …
G. Delling, Art. ἄρχων usw., ThWNT, I, 1933, S. 487. Delling a.a.O. Art. ἀγαπάω usw., ThWNT, I, 1933, S. 53. Über das zeitlose Präsens vgl. Blass-Debrunner § 318; Caird S. 17; Zahn S. 172. So ist zu lesen, nicht λούειν [luein] (waschen): Lohse S. 16; F. Büchsel a.a.O. (s. folgende Anmerkung) S. 338, 8; Morris S. 48; Zahn S. 172f. 131 Vgl. O. Procksch im ThWNT, IV, 1942, S. 329ff, sowie den ganzen Artikel über λύω [lyo] usw., ThWNT, IV, 1942, S. 329ff von O. Procksch / F. Büchsel. 132 A.a.O. S. 338, 9. 126 127 128 129 130
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sonst im NT nicht vor“.133 Man wird deshalb Offb 1,5 als eigene Bildung des Johannes und das λύειν [lyein] im allgemeineren Sinne von „befreien“ auffassen müssen. Die Erlösung durch sein (Jesu) Blut ist ein Zentralsatz des ganzen Neuen Testaments. Im „Blut“ ist das Leben (Lev 17,11). Jesus Christus hat also durch seine Lebenshingabe (Mt 20,28; Mk 10,45) neues Leben für uns ermöglicht, uns aus der Todesmacht freigekauft (Kol 1,13f) und unsere Schuld vor Gott getilgt.134 In diesem Sinne haben alle eine „Blut“-Theologie: Jesus (Mt 20,28par), Paulus (Röm 3,25), Petrus (1Petr 1,2.19), Johannes (1Joh 1,7; 5,6; Joh 6,53ff) der Hebräerbrief (9,12ff; 10,19.29; 13,12) – und die Offenbarung (1,5; 7,14; 12,11).135 Hier ist Johannes mit Paulus und Petrus am nächsten verwandt. Eine Aufgabe unserer Zeit ist es, nach vielen Missverständnissen und Verzerrungen eine solche wirklich biblische „Blut“-Theologie wiederzugewinnen. Aber schon angesichts der Christus-Doxologie in Offb 1,5-6 erweist sich Bultmanns Feststellung, „das Christentum der Offb sei ein schwach christianisiertes Judentum“, als krasses Fehlurteil.136 In V. 6 schließt der Aorist ἐποίησεν [epoiesen] an die vorausgehenden Partizipien an, was durchaus möglich ist.137 Satzanschlüsse dieser Art sind in den johanneischen Schriften auffallend häufig (Joh 15,5; 2Joh 2; Offb 1,5f; 2,2.9; 3,7.9). Der uns zu einem Königreich, zu Priestern für seinen Gott und Vater gemacht hat: Der Erlösung folgt unsere ewige Berufung. Asyndetisch stehen hier βασιλεία [basileia] und ἱερεῖς [hiereis] nebeneinander. Der Sinn kann eigentlich nur sein: ein Königreich, das aus lauter Priestern besteht und priesterlichen Charakter hat.138 Ganz ähnlich wird in Offb 20,6 die Herrschaft derer beschrieben, die an der ersten Auferstehung teilnehmen (vgl. 5,10). Unschwer lässt sich erkennen, dass Johannes hier Ex 19,6 eschatologisch deutet (LXX: ὑμεῖς δὲ ἔσεσθέ μοι βασίλειον ἱεράτευμα [hymeis de esesthe moi basileion hierateuma]). Das hat übrigens schon Jes 61,6 getan und ebenso Petrus in 1Petr 2,5.9. Die Prophetie wird hier als durchgehende Verheißungslinie gesehen, die erst mit dem Eschaton am Ziel ist.139 Wir sollten beachten, dass Johannes das Modell des gottgemäßen Menschen im „Priester“ findet – eine 133 134 135 136 137 138 139
A.a.O. S. 338, 8. Vgl. dazu J. Behm, Art. αἷμα usw., ThWNT, I, 1933, S. 171ff. Vgl. Aune S. 46f. Bultmann NT S. 525. Blass-Debrunner § 468,6 (gegen Bousset S. 189). Morris S. 49. Dass das „Vorrecht von Ex 19,6“ in den Besitz des neuen Gottesvolkes der Christen übergegangen“ sei, darf man gerade nicht behaupten. Wie Offb 12 beweist, kann Johannes das alttestamentliche und das neutestamentliche Gottesvolk zusammen sehen. Gegen Wikenhauser S. 29; U.B. Müller S. 76.
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Bibelauslegung, die uns heute vor allem im Protestantismus sehr fremd geworden ist.140 τῷ θεῷ καὶ πατρὶ αὐτοῦ [to theo kai patri autu]: Gott ist hier in dezidierter Weise sein (= Jesu Christi) Vater. Das gibt uns das Recht, auch in der Offb das Verhältnis Jesu zu Gott als das Verhältnis Vater – Sohn aufzufassen und trinitarisch von Vater – Sohn – Hl. Geist zu reden.141 Christliche Existenz verdankt sich also ganz und gar dem Christus Jesus. Vitringa hat dies in die schönen Worte gefasst: „Virtute sui sanguinis se non esse sacerdotes, sed sanguinis Christi“ (S. 17). Die Doxologie mündet in das feierliche Ihm sei die Ehre und die Macht in alle Ewigkeit! Amen. So nahe es liegt, hier von einem „liturgischen“ Sprachgebrauch zu reden,142 so vorsichtig muss man damit sein. Erst recht sollte man nicht von einer „urchristlichen Tauftheologie“ sprechen.143 Denn solche Doxologien sind seit alttestamentlicher Zeit häufig, wie schon 1Chron 29,11f zeigt. „Diese Formeln enthalten nichts dem NT Eigentümliches.“144 Eines allerdings ist einzigartig: der Bezug solcher Gottes-Lobpreisungen auf Jesus Christus. Ihm, nämlich Jesus Christus (vgl. V. 5), kommt die Ehre (ἡ δόξα [he doxa]) zu. Wo der Mensch Gott oder Gottes Sohn die „Ehre“, hebr. [ ָכּבוֹדkavod], gibt, da anerkennt er die göttliche Herrlicheit – er muss sie nicht erst herbeiführen. Für die hymnische Ehren-Doxologie ist Jes 6,1ff grundlegend. Für das Verständnis von Offb 1,6 ist außerdem wesentlich, dass der ָכּבוֹד [kavod] Gottes sich nach den eschatologischen Aussagen des AT über die ganze Erde ausbreiten soll (Jes 40,5; 66,18f; Ps 57,6.12; 72,19).145 Gerade das geschieht jetzt in der Christusverkündigung. Ihm kommt auch die Macht (τὸ κράτος [to kratos]) zu. Die Übersetzung „Gewalt“ erweckt heute den Eindruck des Gewalttätigen und sollte deshalb vermieden werden. „Im Neuen Testament findet sich keine Stelle, an der vom Menschen ausgesagt wird, dass er κράτος besitzen oder erwerben könne.“146 Öfters begegnet es in den Doxologien des NT (1Tim 6,16; 1Petr 4,11; 5,11; Jud 25; Offb 1,6; 5,13). Nachbarbegriffe sind δύναμις [dynamis] und ἰσχύς [ischys]. „Es ist damit die überlegene Macht Gottes gemeint, der auch der Endsieg gehören wird.“147 Es ist wichtig, dass κράτος [kratos] neben δόξα 140 Nicht die Königswürde der Christen wird hier unterstrichen, sondern die Königswürde Jesu und das Priestertum der Christen. Richtig U.B. Müller S. 75. 141 Schon Bengel S. 193; dann Lohse S. 16. 142 Beispiele: Wikenhauser S. 29; Ritt S. 19. 143 Gegen Ritt a.a.O.; U.B. Müller S. 75 („Tauftradition“), Dormeyer S. 236. 144 H. Sasse, Art. αἰών usw., ThWNT, I, 1933, S. 190. 145 Vgl. insgesamt G. v. Rad / G. Kittel, Art. δοκέω usw., ThWNT, II, 1935, S. 235ff. 146 W. Michaelis, Art. κράτος usw., ThWNT, III, 1938, S. 907.
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[doxa] steht, weil dadurch das Königtum Jesu und die Kraft zur Durchsetzung seiner Pläne unterstrichen wird. In alle Ewigkeit, wörtlich: „in die Ewigkeiten der Ewigkeiten“148 (εἰς τούς αὶῶνας τῶν αἰώνων [eis tus aionas ton aionon]) geht auf hebr. [ ֲעֵדי־ַעדade-ad] oder [ עוָֹלִמיםolamim] zurück.149 Vgl. auch Ps 83,5 LXX; Tob 14,15; 4Makk 18,24. Hier ist die unbegrenzte Dauer, das wahrhaft „Ewige“, gemeint. Ein bekenntnishaftes Amen schließt diese Doxologie. Auch dazu gibt es Vorbilder im AT, worauf P. Prigent mit Recht hinweist (z.B. 1Chron 16,36; Neh 8,6). „In allen Fällen“, so beschreibt H. Schlier den Gebrauch des Amen in den alttestamentlichen Doxologien, „ist das ָאֵמןdie Anerkennung eines Wortes, das ‚feststeht‘, und dessen Festigkeit für mich und dann überhaupt in dieser Anerkennung verpflichtend wird.“150 Auffallend häufig, und zwar in seiner hebr. Form ἀμήν [amen] und nicht etwa als griech. γένοιτο [genoito], ist das Amen in den Briefen des NT, vorwiegend in doxologischen Zusammenhängen (Röm 11,36; 16,25.27; Gal 1,5; Eph 3,20f; Phil 4,20; 1Tim 1,17; 2Tim 4,18; Hebr 13,21; 1Petr 4,11; 5,11; 2Petr 3,18; Jud 25). Vermutlich geht dieser häufige Amen-Gebrauch im NT auf das ebenso häufige Amen der Jesus-Predigt zurück.151 Halten wir noch einmal fest: Die christologische Doxologie in Offb 1,5f zeigt, dass die Offb auch und vor allem ein Jesus-Buch ist. Hier tritt schon am Eingang der Offb der „accent christologique“ entgegen, von dem Prigent sprach (S. 19). Prigent erinnert die Ausleger auch daran, dass Offb 1,5f „la première déclaration théologique“ der Offb ist (ebd.). In V. 7 begegnet uns ein überraschender Teil des Bucheingangs. Wir stoßen hier auf ein kombiniertes Schriftzitat, das bekenntnishaften und doxologischen Charakter hat und deshalb sachgemäß mit einem „Amen“ schließt. Wie Aune mit Recht bemerkt (S. 49), findet sich ein ähnlicher Eingang nur noch im Galaterbrief (1,3ff). Siehe, er kommt mit den Wolken zitiert Dan 7,13.152 Jesus selbst hat Dan 7,13 in Mt 24,30 und 26,64 zitiert.153 Er hat aus dieser Stelle seine bevorzugte Selbstbezeichnung „Menschensohn“ entnommen. Das Johannesevangelium bezeugt überdies, dass er Dan 7 zum Gegen-
147 148 149 150 151 152
Michaelis a.a.O. S. 908. Das ist die besser bezeugte Lesart. Vgl. hier und im Folgenden Sasse a.a.O. S. 197ff. H. Schlier, Art. ἀμήν, ThWNT, I, 1933, S. 339. Vgl. noch Wikenhauser S. 30; Schlier a.a.O. S. 341f; Aune S. 49. Allerdings in der LXX ein etwas anderer Wortlaut: ἰδοὺ ἐπὶ τῶν νεφελῶν … ἤρχετο [idu epi ton nephelon … ercheto]. 153 Zahn S. 176.
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stand seiner Lehre im Jüngerkreis machte (Joh 3,12f). Wie wichtig das Danielbuch für die ersten Jünger war, ergibt sich auch aus Mt 24,15. Doch was besagt V. 7a inhaltlich? Das Subjekt kann im Kontext nur Jesus sein. Die Wolken sind Zeichen der Manifestation Gottes in seiner Herrlichkeit (Ps 104,3).154 Jesus, der Menschensohn, wird „auf den Wolken des Himmels“ wiederkommen und in Herrlichkeit Gottes Reich aufrichten. Was Jesus von sich selbst sagte (Mt 26,64; Mk 14,62; Mt 24,30), das bekennt hier Johannes von ihm. Es geht in Offb 1,7 also um die Wiederkunft Jesu.155 Damit ist der Rahmen für das Folgende vorgegeben: Bei seiner Wiederkunft wird ihn jedes Auge sehen. So sagte er es wieder selbst (Mt 24,30). Aber längst vor Jesus hat Sacharja sein messianisches Kommen mit den Worten beschrieben: „und sie werden mich ansehen, den sie durchbohrt haben, und sie werden um ihn klagen“ (καὶ ἐπιβλέψονται πρός με ἀνθ᾿ ὧν κατωρχήσαντο καὶ κόψονται ἐπ᾿ αὐτόν [kai epiblepsontai pros me anth’ hon katorchesanto kai kopsontai ep’ auton], 12,10). Johannes hat also Sach 12,10 (alle, die ihn durchbohrt haben, und … werden über ihn klagen) mit Dan 7,13 kombiniert. Auch alle Geschlechter stammt letztlich aus Sach 12 (12,12ff). Die Kombination zweier Prophetenworte ist durchaus rabbinisch. Was aber noch wichtiger ist: Genau dieselbe Kombination hat Jesus in Mt 24,30 vorgenommen. Die Worte κόψονται πᾶσαι αἱ φυλαὶ τῆς γῆς [kopsontai pasai hai phylai tes ges] finden sich dort wörtlich wieder. Der Schluss lässt sich kaum vermeiden: Joh zitiert in Offb 1,7 nicht nur Dan 7,13 und Sach 12,10ff, sondern auch Mt 24,30.156 Derselbe Johannes hat schon in seinem Evangelium auf Sach 12,10 abgehoben (Joh 19,37). Wieder fragen wir: Was bedeutet das inhaltlich? Antwort: Johannes richtet die Gemeinden auf die Wiederkunft Jesu Christi aus. Vor ihm müssen sich alle, Glaubende und Nichtglaubende, verantworten. Er wird alles zum Ziel bringen, was die Prophetie verkündigt. Ja, Amen (ναί, ἀμήν [nai, amen]) sagt Johannes selbst. So soll es aber auch jeder Christ sprechen. Hier wird nicht etwa nur eine liturgische Formel auf ein literarisches Produkt übertragen, sondern die Einladung ausgesprochen, auf den kommenden Herrn zu warten und sich zu ihm zu bekennen. Das ναί [nai] (Ja) hat seinen festen Platz im Lobpreis und in der Anerkennung und
154 Vgl. hier und im Folgenden A. Oepke, Art. νεφέλη usw., ThWNT, IV, 1942, S. 904ff. 155 Oepke a.a.O. S. 911f; Schlatter BFchTh S. 38. Vgl. Apg 1,11. 156 Ebenso Zahn S. 176. Vgl. Schlatter BFchTh S. 32.
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Akzeptanz der Wege des Vaters durch den irdischen Jesus (Mt 11,26; Lk 10,21; Mt 21,16).157 Vgl. Offb 22,20; 2Kor 1,20. Den letzten Teil des Bucheingangs bildet V. 8 mit einer Selbstvorstellung Gottes: Ich bin das Alpha und das Omega. Was ist der Sinn dieses Verses? Für Aune ist kein Zusammenhang von V. 7 und V. 8 erkennbar. Sie stehen nur nebeneinander, weil „they are sandwiched between two carefully defined textual units“ (S. 51). Aber es geht angesichts der Feinde Gottes, die z.B. Jesus „durchbohrt haben“ (V. 7), doch um die Frage, ob Gott, ob Christus recht behält. Ob der Wille Gottes überhaupt durchsetzbar ist! Bengel hatte dafür ein feines Gespür, wenn er Offb 1,8 so erklärte: „Es mögen noch so viele und noch so arge Feinde dazwischen auf den Plan treten: Gott der HERR ist doch der Anfang und das Ende“ (S. 196). Es gibt also eine innere Logik, die V. 7 und V. 8 miteinander verbindet. Die ganze Majestät Gottes des Vaters, des Ursprungs aller Dinge und folglich auch der Offenbarung (1,1), tritt in diesen Worten hervor: „Ich bin das Alpha und das Omega.“ Alpha ist der erste, „O“ (so wörtlich, gemeint ist das Omega) der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets. Gott ist also der Erste und der Letzte, der Ewige. Wenn alle und alles andere längst untergegangen sind, wird er immer noch sein. Nichts und niemand kann sich ihm deshalb in den Weg stellen. Weil dies entscheidend ist, wiederholt es die Offb sowohl für den Vater als auch für Jesus Christus (1,17; 2,8; 21,6; 22,13).158 Sie kann auch hier an die Aussagen des AT anknüpfen (Jes 41,4; 44,6; 48,12).159 V. 8 tröstet die Verzagten, hilft den Zweifelnden und befreit zu fester Zuversicht. Es ist ja Gott der Herr, der es sagt. Offensichtlich denkt Johannes daran, dass in Jes 41,4; 44,6 und 48,12 Gott selbst spricht. κύριος steht „in der Regel“ in der LXX für [ יהוהjhwh], manchmal auch für [ ָאדוֹןadon] oder [ ֲאֹדנ ָיadonai].160 κύριος ὁ θεός [kyrios ho theos] ist also Bezeichnung Gottes des Vaters. Johannes bezeichnet ihn weiterhin als ὁ ὤν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος [ho on kai ho en kai ho erchomenos]. Damit wiederholt er V. 4, unterstreicht aber zugleich das Ewigsein Gottes. Nicht genug damit. Er fügt noch hinzu ὁ παντοκράτωρ [ho pantokrator]. Erstmals taucht hier eine Bezeichnung auf, die für die Offb enorm wichtig ist (vgl. 4,8; 11,17; 15,3; 16,7; 16,14; 19,6; 19,15; 21,22). Aber neu war sie für die Gemeinden nicht, wie 157 Vgl. Blass-Debrunner § 441,2: „ναί dient auch dazu, das Gesagte nachdrücklich zu wiederholen, ‚ja, in der Tat‘.“ 158 Vgl. G. Kittel, Art. ΑΩ, ThWNT, I, 1933, S. 1ff. 159 Schlatter BFchTh S. 13. Aune S. 59 behauptet, Alpha und Omega „was drawn from Hellenistic revelatory magic“. Wie sollte das zugehen? 160 G. Quell, Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, S. 1056; Schlatter BFchTh S. 12f.
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schon der Gebrauch des AT und sehr speziell dann 2Kor 6,18 beweist. παντοκράτωρ [pantokrator], der Allmächtige, ist in der LXX Übersetzung für [ ְצָבאוֹתzevaot] oder שׁ ַדּי ַ [schaddaj].161 Darin kommt Gottes „Überlegenheit, dass er Macht über alles bzw. alle hat“, zum Ausdruck.162 Man kann dies alles aber nicht hören, ohne an die Mächtigen der damaligen und der jetzigen Zeit zu denken. Kein Kaiser, kein Diktator, keine Autorität in dieser Welt kann diesem Gott auch nur im Geringsten das Wasser reichen.163 Eine letzte Bemerkung: Das Ich bin von Offb 1,8 zeigt, dass die Ἐγώ εἰμι [Ego eimi]-Worte Jesu in den Evangelien die Selbstvorstellung Gottes im Alten und Neuen Bund widerspiegeln und keineswegs aus außerbiblischen Quellen entspringen.164 Auch hier liegen Offb und Johannesevangelium ganz nahe beieinander.
IV Zusammenfassung 1) Der Bucheingang 1,4-8 ist von Johannes in großer Eigenständigkeit gestaltet. Er begnügt sich nicht mit einem brieflichen, traditionellen Präskript, sondern erweitert es mit Doxologie, Schriftzitaten und bekräftigendem Gotteswort. 2) Er rückt dadurch Jesus Christus in den Mittelpunkt und nimmt damit entscheidende christologische Weichenstellungen vor. 3) Daneben rückt er die Allmacht Gottes als Grund des Vertrauens und Trostes für die bedrückende Gegenwart in die Mitte. Nicht nur die „Schuldfrage“ – um mit Karl Heim zu sprechen –, sondern auch die „Machtfrage“ steht zur Diskussion. 4) Gedanken und Sinne werden nach vorne orientiert. In Liebe und Erwartung gehen die Glaubenden dem wiederkommenden Jesus Christus entgegen, der Gottes Ziel und Absicht vollenden wird.
161 W. Michaelis a.a.O. S. 914. 162 Michaelis a.a.O. 163 Die Eingrenzung auf die Macht der Liebe („the power of invincible love“, Caird S. 19) ist nicht berechtigt. Vgl. Brütsch S. 63. 164 Vgl. hier Behm S. 10.
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4. Der Auferstandene beauftragt Johannes, 1,9-20 I Übersetzung 9 „Ich, Johannes, euer Bruder und Mitteilhaber an der Bedrängnis und am Reich und an der Geduld in Jesus165 kam auf die Insel, die Patmos heißt, wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses von Jesus. 10 Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte dann hinter mir eine laute Stimme wie von einer Posaune, 11 die sagte: Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea. 12 Und ich wandte mich hin, um nach der Stimme zu sehen, die mir redete. Und als ich mich hin gewandt hatte, sah ich sieben goldene Leuchter, 13 und inmitten der Leuchter jemanden, der einem Menschensohn glich, bekleidet mit einem bis auf die Füße reichenden Gewand und um die Brust mit einem goldenen Gürtel gegürtet. 14 Sein Haupt aber und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle, wie Schnee, und seine Augen waren wie eine Feuerflamme 15 und seine Füße glichen dem Erz, als würde es im Schmelzofen geläutert, und seine Stimme war wie das Rauschen vieler Wasser, 16 und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Gesicht war wie die Sonne, wenn sie in ihrer Kraft scheint. 17 Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot, aber er legte seine Rechte auf mich und sagte: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte 18 und der Lebendige. Und ich war tot, und siehe, ich bin lebendig in alle Ewigkeit, und habe die Schlüssel des Todes und des Totenreichs. 19 Schreibe nun, was du gesehen hast, und was ist, und was geschehen wird danach. 20 Das Geheimnis der sieben Sterne, die du in meiner Rechten gesehen hast, und die sieben goldenen Leuchter: die sieben Sterne sind Engel der sieben Gemeinden, und die sieben Leuchter sind sieben Gemeinden.“
II Struktur Der Abschnitt Offb 1,9-20 ist gegenüber 1,1-8 deutlich abgesetzt a) durch das Ἐγὼ Ἰωάννης [Ego Ioannes], b) durch den Erlebnisbericht, der jetzt beginnt. Weniger deutlich ist der Einschnitt zwischen 1,20 und 2,1. Jedoch zeigt das 165 Zu „Geduld in Jesus“: Manche Ausleger wollen „in Jesus“ auf alle 3 Substantive (Bedrängnis, Reich, Geduld) beziehen, aber dagegen mit Recht Aune S. 63 („θλίψις cannot be understood as ἐν Ἰησοῦ“).
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wiederholte τῷ ἀγγέλῳ γράψον [to anggelo grapson], dass die Kap. 2 und 3 einen engeren Zusammenhang bilden, von dem sich 1,9-20 doch erkennbar abhebt. Der Wandel der Überschriften zu 1,9-20 zeigt, dass sich diese Verse nicht allzu schnell in Bezug auf Form, Gattung usw. durchschauen lassen.166 Die moderne Exegese bewegt sich mit der gebräuchlichen Überschrift „Das erste Gesicht / The first vision“ auf ein rein formales Kriterium zu.167 Es geht jedoch sehr präzise um die Beauftragung des Johannes durch den auferstandenen Jesus. Das zeigen schon die Imperative (V. 11.17.19). Ein wesentliches Kennzeichen der Verse 9-20 ist der Bericht im Ich-Stil. Dieser Ich-Stil ist uns aus Dan 7–12; Sach 1–7, aber auch aus Hesekiel, Jeremia (Kap. 20; 24) und Amos (Kap. 7; 8) vertraut. Johannes ordnet sich damit in die Reihe der Propheten Israels ein. In Offb 1,9-20 lassen sich folgende Unterabschnitte erkennen: Die Schilderung der persönlichen Situation des Offenbarungsempfängers (1,9), die Schilderung der Begegnung mit dem Auferstandenen (1,10-17a) und die Schilderung der Beauftragung des Johannes (1,17b-20). Eine enge Parallele bilden die Berufungsvisionen der alttestamentlichen Propheten168 (Jes 6,1ff; Jer 1,4ff; Ez 1–3). Insofern ist es berechtigt, Offb 1,9-20 als „Berufungsvision“ oder „Beauftragungsvision“ zu bezeichnen.169 U.B. Müller sah in Ez 1,1–3,15 die nächste Parallele (S. 80).170 Man darf aber nicht vergessen, dass es Christus ist, der in der Offb den Auftrag gibt, und dass die Begegnung mit dem Auferstandenen eine eigene Bedeutung besitzt, die noch über den Auftrag hinausreicht.171 Das verschafft der Offb ihre Einzigartigkeit sowohl gegenüber der alttestamentlichen Prophetie als auch gegenüber der jüdischen Apokalyptik.
III Einzelexegese Fast überraschend für den auf alle Ornamente verzichtenden Johannes beginnt unser Abschnitt mit einem Ich, Johannes (Ἐγὼ Ἰωάννης [Ego Ioannes], V. 9). 166 Über die Komplexität vgl. Aune S. 70ff. 167 So z.B. Behm S. 11; Schlatter S. 139; Morris S. 50; Zahn S. 179; ähnlich Neue Jerusalemer Bibel: „Eingangsvision“ (S. 1785); McDonald/Porter: „Initial Vision“ (S. 561). 168 Lohse S. 18; Wikenhauser S. 31; U.B. Müller S. 80. 169 So z.B. Conzelmann/Lindemann S. 389; U.B. Müller S. 78; Dormeyer S. 236; Schnelle S. 566; Böcher Sp. 605; Vielhauer S. 495. 170 Berger sah in Ez 1,1-28 sogar so etwas wie das Modell für Offb 1,12-20 (S. 573). 171 Richtig Conzelmann/Lindemann a.a.O.: „Im Mittelpunkt steht die Beschreibung der Herrlichkeit des auferstandenen Christus“. Auch Bergers Definition „Auferstehungsvision“ lässt das spüren (S. 73), ebenso Aune S. 60: „Vision of ‚One like a Son of Man‘“.
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Es ist das dritte und für lange Zeit (22,8) das letzte Mal, dass der Verfasser seinen Namen nennt. Er gibt kurz Einblick in seine persönliche Situation.172 Dazu kennzeichnet er sich näher: euer Bruder. Hier tritt der judenchristlich-bruderschaftliche Charakter jener ersten christlichen Gemeinden zutage, wie er z.B. auch im Jakobusbrief zu finden ist. Mit Recht sagt H. v. Soden, dass dieser Sprachgebrauch „aus jüdisch-religiöser Sitte übernommen“ ist.173 Dass hier ein Abstand zum Apostelamt zum Ausdruck kommen soll, ist ein Missverständnis. Man beachte außerdem, dass die Apostel von Jesus zu Bescheidenheit und Demut, ja zum Titelverzicht erzogen wurden (vgl. Mt 23,8ff; Joh 13,12ff) und dass sie alle der Gemeinde gegenüber zwar mit Autorität, aber doch ohne Anmaßung auftraten. So nennt sich Petrus „Mitältester“ (συμπρεσβύτερος [sympresbyteros]) und „Teilhaber“ (κοινωνός [koinonos], 1Petr 5,1), und Jakobus tritt betont als „Bruder“ unter „Brüdern“ auf (Jak 1,1ff; 2,1ff; 3,1ff; 5,7ff). Die Gemeinschaft der Glaubenden unterstreicht Johannes durch den zweiten Begriff: συγκοινωνός [syngkoinonos]. Er ist in den ganzen Iohanneica nur hier zu finden, wird aber auch von Paulus benutzt (Phil 1,17; vgl. Phil 4,14; Röm 11,17; 1Kor 9,23). Überhaupt hat Offb 1,9 viel Gemeinsames mit dem paulinischen Sprachgebrauch.174 Wir haben hier wörtlich zu übersetzen versucht: Mitteilhaber, um das „teilhaben“ an der Gemeinschaft aller Gläubigen zum Ausdruck zu bringen.175 Nun wird diese Gemeinschaft näher gekennzeichnet. Es ist a) Gemeinschaft an der Bedrängnis (θλῖψις [thlipsis]). θλῖψις [thlipsis] ist ein Hauptwort in den paulinischen Briefen. Aber Jesus selbst hat seine Jünger auf die kommende „Bedrängnis“ vorbereitet (vgl. Mt 13,21; 24,9.29; Joh 16,21ff). Und es galt früh schon als allgemein christlicher Grundsatz: „Wir müssen durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes eingehen“ (Apg 14,22). Jesus konnte dabei an die heilsgeschichtliche Sicht bei Daniel, aber auch Hesekiel anknüpfen (Mt 24, 15ff; Dan 7–12; Ez 38–39). „Bedrängnis“ ist in heilsgeschichtlich-eschatologischer Sicht „von der christlichen Existenz in dieser Welt unablösbar“: Darin hat H. Schlier recht.176 Es erhebt sich die Frage, weshalb dieses Thema im atlantischen Raum derzeit – vor allem im pro172 U.B. Müller S. 79. 173 Art. ἀδελφός usw., ThWNT, I, 1933, S. 145. 174 Vgl. Lohse S. 18; U.B. Müller S. 80f; vor allem Berger S. 548ff; F. Hauck, Art. κοινός usw., ThWNT, II, 1938, S. 789ff, speziell S. 804ff. 175 „Mitgenosse“ o.ä. ist heutzutage missverständlich. Schon Zahn S. 180 übersetzte wie wir. 176 Vgl. H. Schlier, Art. θλίβω usw., ThWNT, III, 1938, S. 144.
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testantischen Raum! – so wenig beachtet wird. θλῖψις [thlipsis] geht in der LXX in der Regel auf [ ָצָרהzarah] oder [ ַצרzar] zurück und hat von daher die Bedeutung „Not“, „Übel“, „Bedrängnis“, „Angst“ und „Drangsal“177. Aus Offb 1,9 muss man jedenfalls den Schluss ziehen, dass die Bedrängnis in der Gegenwart des Johannes schon begonnen hat.178 b) Gemeinschaft am Reich (βασιλεία [basileia]). Der Bedrängnis folgt die Herrlichkeit des ewigen Gottesreiches (Kap. 21–22). „Durch Leiden zu Herrlichkeit“: So verläuft der Christusweg, so verläuft auch der Christenweg. Wieder lehrt Paulus dasselbe (Röm 6,4ff).179 Aber dazu braucht es die c) Geduld in Jesus. Dies ist das dritte Merkmal der Gemeinschaft der Glaubenden. Im Gegensatz zur heutigen durchschnittlichen Stimmungslage unter Christen gehörte die Geduld (ὑπομονή [hypomone]) für die frühesten Christen zu den kostbarsten Gütern. „Geduld“ lehrten sie alle: Paulus (z.B. Röm 5,2ff), Petrus (2Petr 1,6), Jakobus (1,3f; 5,11), der Hebräerbrief (10,36; 12,1) und Johannes (Offb 3,10; 13,10; 14,12). Nur „wer geduldig beharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden“, so lehrte es schon Jesus (Mt 24,13). „Geduld“ heißt im Griechischen wörtlich „Drunterbleiben“: unter allen Lasten und Bedrängnissen, ohne aus der Spur Jesu auszuscheren. „Harrend und hoffend festhalten“, so ist der Sinn der hebr. Verben [ קוהqawah], [ יחלjachal] und [ חכהchakah], die dem griech. ὑπομένειν [hypomenein] zugrunde liegen.180 Der Zusammenhang mit dem Leiden der verfolgten und geängstigten Gemeinde liegt auf der Hand.181 Wo man nicht mehr leidet, schwindet auch die Geduld. Aber was ist die ὑπομονὴ ἐν Ἰησοῦ [hypomone en Iesu]? F. Hauck deutet sie als „Harren auf Jesus“.182 Doch ἐν [en] kann man auch instrumental übersetzen: „durch Jesus“, d.h. durch seinen Beistand und seine Kraft.183 Anderseits werden wir hier an das paulinische „in Christus“ erinnert,184 und Bousset übersetzt dementsprechend: „in der Lebensgemeinschaft mit Jesus“ (S. 191). Sowohl Offb 14,13 als auch der johanneische Sprachgebrauch in Joh 10,38; 14,10ff; 17,21ff und der benachbarte paulinische Sprachgebrauch empfehlen ein Verständnis in der Richtung, die Bousset angibt. Wir verstehen also „Geduld in Jesus“ als diejenige Geduld, die in der Gemeinschaft mit Jesus wurzelt 177 178 179 180 181
Schlier a.a.O. S. 140. Schlier a.a.O. S. 145; Zahn S. 183. Vgl. Berger S. 548ff. Vgl. F. Hauck, Art. μένω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 587. Wikenhauser S. 31: „Die Geduld … ist die große Tugend der Verfolgten“. Vgl. schon Bengel S. 197. 182 A.a.O. S. 590; ebenso Zahn S. 180; Behm S. 11. 183 Vgl. Blass-Debrunner § 219. 184 Lohse S. 18; U.B. Müller S. 80f.
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und durch seine Kraft zustande gebracht ist.185 Übrigens heißt es nicht „in Christus,“ sondern in Jesus. Johannes hat keinerlei Hemmung, vom Auferstandenen weiterhin schlicht als „Jesus“ zu sprechen. Für ihn existiert kein Graben zwischen einem „historischen“ Jesus und einem „Christus des Glaubens“. Johannes berichtet: Ich kam auf die Insel, die Patmos heißt (V. 9). Mit Zahn verstehen wir das ἐγενόμην [egenomen] als „Versetzung an einen Ort“, d.h. im Sinne von „kam“.186 Denkbar ist aber auch die Übersetzung „war“.187 Patmos ist kein Fantasiename. Es ist auch kein Deckname. Vielmehr handelt es sich um einen realen, historischen Ort. Patmos erdet die gesamte Offb. Es handelt sich um „die Insel, die Patmos heißt“.188 Patmos gehört zu den Sporaden, einer Inselwelt, die sich viertelkreisförmig um den südlichen Teil der Westküste Kleinasiens legt, zwischen den größeren Inseln Ikaria im Nordwesten und Kos im Südosten. Es ist heute wieder griechisch. Es ist gebirgig, mit tief zerklüfteter Küste, liegt ca. 65 km westlich von Milet und misst ca. 34 qkm bei etwa 60 km Umfang. Im südlichen Teil der Insel zeigt man die Grotte, in der Johannes die Offenbarung empfangen haben soll. Patmos wird schon bei Thukydides erwähnt,189 später bei Strabo und Plinius.190 Patmos war und ist eine bewohnte Insel. Nach Patmos kam Johannes wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses von Jesus (διὰ τὸν λόγον τοῦ θεοῦ καὶ τὴν μαρτυρίαν Ἰησοῦ [dia ton logon tu theu kai ten martyrian Iesu]). Wort Gottes weist zurück auf V. 2 und begegnet uns dann wieder in 6,9; 20,4. Es geht um die gesamte christliche Verkündigung, die ihre Grundlage in den heiligen Schriften Israels und in der Verkündigung Jesu hat. Gerade 6,9 und 20,4 zeigen, dass Johannes eine solche Verkündigung keineswegs exklusiv für sich in Anspruch nimmt. Das Zeugnis von Jesus bedeutet wie in 1,2 vorwiegend das Zeugnis über Jesus (Gen. obj.), aber darin eingeschlossen selbstverständlich auch das Zeugnis, das Jesus selbst in Wort und Tat ablegte. Jesus steht auch hier ohne „Christus“.191 „Wegen“ seiner Verkündigung also, die sich im „Jesus“-Zeugnis konzentrierte, kam Johannes nach Patmos.192 Das kann nur bedeuten, dass er dorthin 185 186 187 188 189 190
Ähnlich Schlatter S. 140. S. 180; ebenso Schlatter S. 139. So z.B. Bauer-Aland Sp. 321; Neue Jerusalemer Bibel S. 1786. Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 412,5. IV, 33,3. Vgl. Leclercq Sp. 2424ff; Hemer S. 27ff; Zahn S. 187ff; Aune S. 76ff; Zahn Einl S. 599; EWNT, III, 1983, Sp. 135f. 191 Einige HSS ergänzen später Χριστοῦ [Christu]. 192 διά [dia] (= propter) zur Angabe des Grundes, vgl. Blass-Debrunner § 222.
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verbannt wurde. So sagt es auch die alte kirchliche Überlieferung, z.B. Tertullian: „apostolus Iohannes … in insulam relegatur“.193 Im Unterschied zur deportatio war die relegatio leichter. Sie war eher zu befristen, rascher aufzuheben und wies insgesamt erträgliche Bedingungen auf.194 Lohse vergleicht sie mit „einer Art Schutzhaft“.195 Positiv vermerkt man auch „gute klimatische Bedingungen“.196 Man kann bezüglich der Bedingungen vielleicht auch die zweijährige römische Haft des Paulus zum Vergleich heranziehen (Apg 28,16.30f). Dass Patmos für die Römer als Verbannungsort diente, bezeugt z.B. Plinius d.Ä. (23–79 n.Chr.) in seiner Historia naturalis (IV,23).197 Wir stehen hier auf relativ sicherem historischen Boden. Doch fordert uns Offb 1,9 zu zwei weiteren Feststellungen auf: a) Es muss eine Maßnahme römischer Behörden gewesen sein, die Johannes verbannte. Folglich sind tatsächlich während der Regierung Domitians amtliche Maßnahmen gegen die Christen ergriffen worden. Hemer (S. 28f) rechnet mit einer Jurisdiktionsmaßnahme durch den römischen Proconsul der Provinz Asien. b) Johannes muss eine führende Position gehabt haben. Es kann keine Rede davon sein, dass es nur ein „freier charismatischer Dienst“ gewesen sei, den er ausübte.198 Nein, er war wie Petrus, Paulus oder Jakobus ein verantwortlicher Leiter der Gemeinden, den die Römer mit ihrer Maßnahme disziplinieren oder ausschalten wollten. Offb 1,9 unterstützt die Sicht, dass dieser Johannes ein Apostel war. Ob der Aorist ἐγενόμην [egenomen] darauf hindeutet, dass Johannes die Endfassung der Offb erst nach dem Aufenthalt in Patmos fertigstellte? Ehrlicherweise muss man die Antwort offenlassen.199 Clemens Alexandrinus und Eusebius berichten, dass Johannes nach dem Tod Domitians (96 n.Chr.) aus der Verbannung freigekommen und wieder nach Ephesus zurückgekehrt sei.200 Es gibt keinen Grund, an diesem Bericht zu zweifeln. 193 De praescr. haer. 36,3. 194 Vgl. Lohse S. 19; Wikenhauser S. 32; Prigent S. 25; U.B. Müller S. 81; G. Kittel, ThWNT, IV, 1942, S. 125; Leclercq Sp. 2435. Trotz aller Vorsicht hält auch Hemer S. 28 eine relegatio in insulam für „very probable“. Vgl. Zahn S. 191; Brütsch S. 69f. Die Annahme, Johannes sei freiwillig nach Patmos gegangen, um zu missionieren oder dort Offenbarungen zu empfangen, lässt sich aus dem Kontext viel weniger begründen. Gegen Bousset S. 192; Vielhauer S. 501. 195 S. 19 nach Lohmeyer. 196 Lohse S. 19; Zahn S. 190. 197 Vgl. Leclercq Sp. 2426; Bousset S. 192; Wikenhauser S. 32. 198 So aber U.B. Müller S. 81. 199 Ebenso Aune S. 77; Brütsch S. 67. Vgl. Carson/Moo/Morris S. 473. 200 Clemens, Quis dives salvetur 42; Euseb H.E. III, 20,8f; 23,1ff. Vgl. Aune S. 77ff.
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Ich wurde vom Geist ergriffen (V. 10): So leitet Johannes seine Begegnung mit dem Auferstandenen ein (ἐγενόμην ἐν πνεύματι [egenomen en pneumati]). Diese pneumatische Erfahrung wird nicht näher ausgebreitet. Im AT werden Gedichte, Lieder, Psalmen, Aussprüche, aber auch innere oder äußere lokale Fortbewegungen auf das Wirken des Geistes Gottes zurückgeführt (z.B. 2Sam 23,1f; 1Kön 5,9ff; Ez 3,12ff; 8,3ff).201 Man sollte also in Offb 1,10 nicht zu schnell von „Ekstase“ sprechen.202 Deutlich ist nur, dass es sich um „ein außergewöhnliches Geschehen“203 handelt, das Johannes über die normalen Möglichkeiten hinaus ein Hören und Sehen ermöglicht, ja sogar die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus. Es war am Tag des Herrn (ἐν τῇ κυριακῇ ἡμέρᾳ [en te kyriake hemera]). Statt des Adjektivs könnte „auch ein Gen τοῦ κυρίου stehen“.204 Gemeint ist der Auferstehungstag Jesu, der auch im Johannesevangelium betont wird (Joh 20,1.19.26). Nach jüdischer Zeitrechnung war dieser Auferstehungstag der erste Wochentag. Es handelt sich also um unsern Sonntag. Mit ihm beginnt die neue Welt, so wie am „ersten Tag“ die alte Welt begann.205 Rasch wurde der „Tag des Herrn“ der Versammlungstag der Christen, der zentrale Tag also für ihre kontinuierlichen Gottesdienste und Opfersammlungen (Apg 20,7; 1Kor 16,2; Didache 14,1; Plinius d. J. an Trajan).206 Man wird davon ausgehen dürfen, dass Johannes und die von ihm beeinflussten Gemeinden Kleinasiens schon damals regelmäßig den Auferstehungstag Jesu und damit den „Sonntag“ als ihren Feiertag praktizierten. Johannes muss jedenfalls nicht erklären, was der „Tag des Herrn“ sei. Evtl. hielt er Gottesdienst mit einem kleinen Kreis von Begleitern bzw. Christen.207 Wichtig ist, dass der Sonntag nicht von den Heidenchristen eingeführt wurde, sondern von den Judenchristen (vgl. auch Röm 14,5; Kol 2,16). An diesem Datum hörte Johannes hinter sich eine laute Stimme wie von einer Posaune. Der Vergleich geht letztlich auf Ex 19,16ff zurück. Damit ist klar, dass es sich um eine göttliche Stimme ([ קוֹלqol]) handelte. Konkret: Es 201 Vgl. F. Baumgärtel, Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, S. 357ff; Wikenhauser S. 32. 202 Gegen Behm S. 12; Zahn S. 193; Aune S. 82f („trance“); Vielhauer S. 497; Ritt S. 21; U.B. Müller S. 81; Lohse S. 19; Bousset S. 192. Gut Brütsch S. 71: „Wir sehen aber … nicht Johannes in Verzückung taumeln“ (S. 74 „Einen Trance-Zustand … anzunehmen, ist abwegig“). Wie wir auch Hartenstein S. 63f; Schlatter S. 143. Auch Prigent S. 24 ist zurückhaltend; ebenso Morris S. 51. 203 E. Schweizer, Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, S. 448. 204 W. Foerster, Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, S. 1095. 205 Auch das Judentum kennt diesen Vergleich, Foerster a.a.O. S. 1096. 206 Vgl. Foerster a.a.O. S. 1095f. 207 Mit einer solchen Möglichkeit rechnet auch Schlatter S. 142 (solche, „die ihm die persönlichen Dienste leisteten“).
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handelte sich um die Stimme des Auferstandenen.208 Auch im damaligen zeitgenössischen Judentum spielte die „Himmelsstimme“ ([ קוֹלqol] oder ַבּת קוֹל [bat qol]) eine wichtige Rolle.209 Dabei setzt das antike Judentum eine enge „Verwandtschaft der Bath Kol mit dem hl. Geist“ voraus210 – eine Perspektive, die auch für Offb 1,10 anzunehmen ist. Außerdem charakterisiert nach Otto Betz die Redewendung μεγάλη φωνή [megale phone] „vor allem das Reden von Engeln, Geistern und Geistträgern“.211 Die Posaune,212 hebr. [ שׁוָֹפרschophar], oder Trompete, hebr. [ ֲחצוְֹצָרהchazozerah], hat kultische Bedeutung. Sie ist ein Instrument des wiederkehrenden Christus, um sein Volk zu sammeln und den Sieg über die Feinde Gottes zu begleiten (vgl. Num 10,1ff; Mt 24,31; 1Kor 15,52; 1Thess 4,16). Der „Posaunen-Vergleich in Offb 1,10 will uns also nicht nur an das Offenbarungsgeschehen am Sinai erinnern, sondern auch an die Wiederkunft Jesu. Hinter mir habe er sie gehört, sagt Johannes. Es scheint, als habe sich Johannes umwenden müssen, wie es dann 1,12 expliziert berichtet. Hat Johannes in einer Pergamentrolle, einer biblischen Schrift gelesen und deshalb die Stimme „hinter“ sich gehört? War er im Gebet vertieft? Hielt er gar Gottesdienst, eventuell mit einem Begleiterkreis?213 Man muss auch hier die Antwort offenlassen. Das [ ַאֲחַריacharaj] „hinter mir“ beim Vernehmen himmlischer Stimmen ist jedenfalls schon eine alttestamentliche prophetische Erfahrung (Ez 3,12). Dass aber diese Bemerkung bei Johannes „durch die Parallelstelle im Ez. veranlasst“ sei und man sich „daher über die Bedeutung derselben nicht den Kopf zerbrechen“ sollte,214 ist abwegig. Denn Johannes schreibt, was er erlebt, und nicht nur, was er gelesen hat.215 Dementsprechend ist auch die Erklärung abzulehnen, es handle sich in Offb 1,10 nur „um das apokalyptische Stilmittel vom Trompetenschall“.216 Nein, Johannes suchte auf seiner Insel nicht nur „Stilmittel“ zusammen, sondern hörte wirklich, was er beschrieb. Dagegen ist das ὡς [hos] (wie) zu unterstreichen. Prigent hat darauf hingewiesen, dass es hier erstmals in der Offb auftaucht (S. 25). Es erinnert uns an die Vorläufigkeit und Grenzen der menschlichen 208 Auf eine Engelstimme deuten z.B. Behm 12; Wikenhauser S. 32; Zahn S. 192. Brütsch S. 75 lässt es offen. 209 Vgl. dazu O. Betz, Art. φωνή usw., ThWNT, IX, 1973, S. 272ff. 210 Betz a.a.O. S. 282,41. 211 A.a.O. S. 287. 212 Vgl. G. Friedrich, Art. σάλπιγξ usw., ThWNT, VII, 1964, S. 71ff. 213 Ablehnend Morris S. 52. Bejahend Behm S. 11 („betend und feiernd“). 214 So Bousset S. 192f. 215 Sowohl in Ez 3,12 als auch in Offb 1,10 deutet das „hinter mir“ auf das, was dem Propheten aus Gottes Lichtwelt zukommt. Vgl. meinen Kommentar in der WStB. zu Hesekiel (1998, Bd. 1, S. 80); Hartenstein S. 64. 216 So Ritt S: 21.
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Sprache, die nur mühsam und sorgfältig eine annähernde Beschreibung der himmlischen Realität versuchen kann. Die Stimme des Auferstandenen befiehlt ihm: Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden (V. 11). Bevor Johannes den Auferstandenen sieht, hört er ihn. Die Audition geht der Vision voraus. Die Worte Was du siehst sind im Präsens formuliert (ὃ βλέπεις [ho blepeis]), schließen aber Gegenwart und Zukunft ein.217 Für „sehen“ steht das ganz normale Wort βλέπειν [blepein] und nicht ein Ausdruck, der ein speziell übernatürliches Wahrnehmen bezeichnet. „Was du siehst“ lässt Johannes auch die Freiheit der Wortwahl und der Darstellung. Er soll also mit eigenen Worten beschreiben, was er wahrnimmt. Interessant ist der Schreibbefehl: γράψον εἰς βιβλίον [grapson eis biblion] lautete schon Gottes Befehl an Jesaja (30,8 LXX). Gott selbst schrieb auf (Ex 24,12; 31,18; 32,15.32; 34,1; Dt 4,13; 9,10).218 Ebenso Mose (Ex 24,4; 34,27; Dt 31,24ff), Josua (24,26), Samuel (1Sam 10,25), Jesaja (8,16; 30,18), Jeremia (36,2ff), Hesekiel (24,2) und Daniel (12,4).219 Dieses Schreiben hat nach Gottlob Schrenk „autoritative Bedeutung“.220 Für die Offb als Ganze ergibt sich: „Das Schreiben des Sehers steht unter Gottes Geheiß und Leitung.“221 Mit dem Buch (βιβλίον [biblion]) wird eine Papyrusrolle gemeint sein.222 Sende es an die sieben Gemeinden: Im Folgenden werden sie näher bestimmt, sodass der Artikel berechtigt ist. Offb 1,11 erläutert Offb 1,4. Senden bedeutet die Übermittlung durch einen oder mehrere bevollmächtigte Boten. Johannes wird also nicht zur mündlichen Verkündigung seiner Auditionen und Visionen aufgefordert, sondern muss von allem Anfang an ein „Buch“ an die Gemeinden übersenden. Die sieben sind: Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodizea. Warum gerade sie? „Sieben“ repräsentiert die Gesamtheit der christlichen Gemeinden.223 Aber mit der Zahl „sieben“ ist noch nicht gesagt, welche Gemeinden es sein sollen. Colin Hemers Ausführungen sind immer noch überzeugend: „Ephesus was the messenger’s natural place of entry to the mainland of the province of Asia, and the other cities lay in sequence on a circular route round its inner territories“ (S. 15). Er vermutet weiter, dass 217 218 219 220 221 222
Über den futurischen Gebrauch des Präsens vgl. Blass-Debrunner § 323. G. Schrenk, Art. γράφω usw., ThWNT, I, 1933, S. 744. Vgl. wieder Schrenk a.a.O. S. 744f. A.a.O. S. 745. Schrenk a.a.O. G. Schrenk Art. βίβλος usw., ThWNT, I, 1933, S. 613ff. Er meint, dass die Offb auch hier „durch die Sprache des AT bestimmt“ sei (S. 617). Prigent S. 25; Ritt S. 21. 223 Vielhauer S. 502; schon der Kanon Muratori.
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diese sieben Städte organisatorische Zentren der christlichen Kirche in dieser Region waren, die den Inhalt der Offb rasch an die Umgebung übermitteln konnten. Viele Exegeten weisen – vor allem seit Walter Bauers Abhandlung über „Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum“ (1934) – darauf hin, dass Johannes in den genannten Gemeinden seinen Einfluss besonders stark ausüben konnte.224 Das trifft natürlich zu. Aber hätte er ihn nicht auch in anderen Städten der Region ausüben können? Wir können nur sagen, dass der Auferstandene selbst aufgrund seiner Beziehungen zu den Gemeinden gerade diese sieben auswählte, und dass dabei Hemers Argumente in Anlehnung an William Ramsay – nämlich Kommunikationsmöglichkeiten und Verkehrswege – durchaus einbezogen werden können.225 Zu den Gemeinden im Einzelnen vgl. die Erklärung der Kap. 2 und 3. Übrigens waren alle hier genannten Gemeinden Gerichtsplätze.226 Von Ephesus führte eine wichtige Römerstraße nordwärts nach Smyrna und Pergamon, und von da wieder südwärts nach Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea.227 Der „autobiografische“228 Bericht fährt fort: Und ich wandte mich hin, um nach der Stimme zu sehen, die mit mir redete (V. 12). ἐπιστρέφειν [epistrephein] geht auf hebr. [ שׁוּבschuv] zurück und meint ganz allgemein die Hinwendung, nicht nur die Rückwärtswendung.229 Doch weil Johannes die Stimme „hinter“ sich hörte, wandte er sich rückwärts, um zu erkennen, woher die Stimme kam („um nach der Stimme zu sehen, die mit mir redete“).230 Als Erstes sah er sieben goldene Leuchter. Das weckt eine Fülle biblischer Assoziationen: an den Leuchter im Allerheiligsten der Stiftshütte und des Tempels (Ex 25,31ff; 37,17ff; Nu 8,1ff), an den Leuchter von Sach 4,1ff, und an den Leuchter von Mt 5,15par. Die sieben-Zahl ist mit dem Leuchter (hebr. [ ְמנוָֹרהmenorah]) der Stiftshütte und mit Sach 4,1ff verbunden. Golden sind sowohl der siebenarmige Leuchter als auch der Leuchter von Sach 4. Der „Leuchter“ selbst ist eine Art Lampenständer oder Kandelaber, auf den die
224 U.B. Müller S. 82; Prigent S. 26; Ritt S. 21; Vielhauer S. 502; Swete S. XCIV; Guthrie S. 963. 225 Ähnlich Brütsch S. 78f; Carson/Moo/Morris S. 476; Zahn Einl S. 583. 226 Lohse S. 20. 227 Vgl. neben Hemer S. 14 auch Bousset S. 193; Lohse S. 19. 228 So Dormeyer S. 236. 229 Vgl. G. Bertram, Art. στρέφω usw., ThWNT, VII, 1964, S. 722ff. 230 „Sehen“ hat hier einfach den Sinn von „wahrnehmen“ (vgl. Bauer-Aland Sp. 285ff), ebenso wie das hebr. [ ראהraah] (vgl. Gesenius S. 734f). Vgl. H.-F. Fuchs, Art. ראה. ThWAT, VII, Sp. 225ff.
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einzelnen Lampen gesetzt wurden, um von dort aus besser und weiter Licht zu geben.231 Die nähere Bedeutung wird uns dann später beschäftigen. Sodann sah er inmitten der Leuchter jemanden, der einem Menschensohn glich (V. 13). Ohne sich bei den Details aufzuhalten, kommt Johannes sofort auf die Hauptperson und die Hauptsache zu sprechen: den auferstandenen Jesus. Er sieht ihn inmitten der Leuchter (ἐν μέσῳ τῶν λυχνιῶν [en meso ton lychnion]). ἐν μέσῳ [en meso] ist hier lokal zu verstehen. Johannes sieht demnach den Auferstandenen umgeben von den sieben Leuchtern, er bildet ihre „Mitte“ als ihr Zentrum. Zugleich kommt eine engere Gemeinschaft zu Ausdruck. Hier ist vor allem an das ἐν μέσῳ αὐτῶν [en meso auton] von Mt 18,20 zu denken. Johannes spricht von jemanden, der einem Menschensohn glich. Sofort steht uns Dan 7,13 (LXX: ὡς υἱὸς ἀνθρώπου [hos hyios anthropu]) vor Augen. Ebenso die Menschensohn-Verkündigung Jesu, nicht zuletzt im Johannesevangelium (1,51; 3,13.14; 5,27; 6,27.53; 9,35; 12,23.34; 13,31). Ein Kommentar zur Offb kann nicht die ganze Problematik der „Menschensohn“-Titulatur erörtern. 1963 schrieb Oscar Cullmann: „Die Frage, ob und in welchem Sinne Jesus sich selbst als ‚Menschensohn‘ bezeichnet hat, ist eines der umstrittensten und meistbehandelten Probleme der neutestamentlichen Wissenschaft“.232 Er selbst legt dar, weshalb die „christologische Anwendung“ dieses Begriffs „auf Jesus selbst“ zurückgeht.233 Eine Gegenposition vertritt Carsten Colpe.234 Für ihn erweisen sich die Menschensohn-Aussagen und speziell die Anspielungen auf Dan 7,13 „als sekundäre Eintragungen durch die Urgemeinde“.235 Es ist klar, dass die Bewertung der Menschensohn-Aussagen in den Evangelien Auswirkungen auf die Auslegung der Offb hat. So rückt z.B. Offb 1,13 für Colpe unter die Überschrift „Die spätere apokalyptische Tradition“.236 Cullmann dagegen stellt Offb 1,13 in einen engen Zusammenhang mit dem Johannesevangelium, dessen „Menschensohn“Überlieferung auf Jesus selbst zurückgeführt werden muss.237 Für Offb 1,13 steht in jedem Fall fest: Der Seher und Verfasser der Offb sieht den Auferstandenen in einer Weise, die ihn an die „Menschensohn“-Gestalt des AT und Jesu erinnert. ὅμοιος [homoios] gibt dabei das aramäische ְכּ
231 232 233 234 235 236 237
Vgl. W. Michaelis, Art. λύχνος usw., ThWNT, IV, 1942, S. 325ff. Cullmann S. 154. A.a.O. S. 138. 1969 in seinem Artikel ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, ThWNT, VIII, S. 403ff. A.a.O. S. 431. A.a.O. S. 465; 467. Cullmann S. 193, vgl. S. 105; 315.
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[ke] und das griechische ὡς [hos] in Dan 7,13 wieder.238 Johannes schreibt also in enger Anlehnung an die biblischen Texte.239 Evtl. will er uns auch an Ez 1,26 erinnern (LXX: ὁμοίωμα ὡς εἶδος ἀνθρώπου [homoioma hos eidos anthropu]).240 Schon ist klar: Dieser Jesus-Menschensohn hat göttliche Würde und Macht.241 Dann schildert Johannes seine Kleidung. Er war bekleidet mit einem bis auf die Füße reichenden Gewand (ἐνδεδυμένον ποδήρη [endedymenon podere]). Der ποδήρης [poderes] muss – darin hat Prigent (S. 28) recht – nicht unbedingt den Hohepriester bezeichnen. Aber die Häufigkeit und die Prägnanz der alttestamentlichen Stellen (Ex 25,7; 28,4.31; 29,5)242 lässt kaum eine andere Deutung zu, als dass der erhöhte Menschensohn hier als Hohepriester vor Johannes tritt (vgl. Hebr 4,14ff; 7,1ff.23ff). Wir treffen diese Deutung schon im 2. Jh. n.Chr. bei der johanneischen Schule, nämlich Irenäus (Adv. haer. IV, 20,11). Josephus unterstützt sie.243 Wieder aber sollte man auch Hesekiel beachten, hier Ez 9,2. Diese Stelle zeigt, dass das Gewand den himmlischen Charakter des Menschensohn-Hohepriesters unterstreichen soll. Jesus hat die Erniedrigung im Fleisch (2Kor 5,16; Phil 2, 6ff) hinter sich gelassen und kommt jetzt als der himmlische Erlöser (Messias) auf Johannes zu. Klaus Bergers übertriebene Feststellung, die Offb sei ein „fortlaufender Midrasch“ zu Hesekiel, hat immerhin ein Korn Wahrheit in sich.244 Man sollte dieses Bild nicht zu schnell verlassen. Die bekleidete Gestalt des Erlösers der ganzen Schöpfung steht in einem scharfen Gegensatz zu den unbekleideten Göttinnen und Göttern des orientalischen und griechisch-römischen Mythos, die in unzählbaren Scharen jetzt noch in den Museen zu sehen sind und die einst die Welt des Johannes bevölkerten. Der biblische Gott schützt die Intimität. Der Olymp der Götter aber zerstört sie. Je mehr die Renaissance auch zur Wiedergeburt der Götter wurde, desto mehr wurden schützende Tabus zerbrochen und wohltuende Regeln zerstört. Johannes erwähnt ein zweites Merkmal der Kleidung: um die Brust mit einem goldenen Gürtel gegürtet. Auch hier ist ein doppelter Bezug gegeben. 238 Den folgenden Akkusativ υἱὸν ἀνθρώπου [hyion anthropu] klassifiziert Blass-Debrunner § 182,6 als „Solözismus“, Bousset S. 194 als „ein grobes Sprachversehen“. 239 Vgl. Schlatter BFchTh S. 32; Colpe a.a.O. S. 467. 240 ὁμοίωμα [homoioma] ist die gebräuchliche LXX-Übersetzung für [ ְדּמוּתdemut]. Vgl. H. D. Preuß, ThWAT, II, Art. דמה, Sp. 266-277. Damit hängen auch die ὁμοίωμα-Aussagen des Paulus zusammen (Röm 8,3; Phil 2,7). 241 Vgl. Joh. Schneider, Art. ὅμοιος usw., ThWNT, V, 1954, S. 186ff, bes. S. 188. 242 Bousset S. 194 nennt außerdem Sir 50,11; SapSal 18,24. 243 Ant. III, 153.159; B.I. V, 231. 244 Vgl. Berger S. 578.
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Erstens finden wir darin Ähnlichkeiten zur Hohepriesterkleidung (vgl. Ex 28,8; 39,5). Wieder unterstützt uns darin Josephus:245 „Die hohe Gürtung … ist … priesterliche Weise.“246 Zweitens liegt hier ein Bezug zu den himmlischen Erscheinungen der Engel in Ez 9,2.11 und Dan 10,5f vor.247 Himmlischer Hohepriester: Das ist auch hier die wesentliche Kennzeichnung des Auferstandenen. Wegen des Goldes stellen viele Kommentare eine „königliche … Kleidungstradition“ fest.248 Jesus Christus sei dementsprechend als „Priester und König … von unvergleichlicher Hoheit“.249 Diese Feststellungen sind keineswegs falsch. Aber sie dürfen nicht verdecken, dass Jesus hier in erster Linie als Hohepriester erscheint – was aufs Tiefste mit seinem Verhältnis zu den „Leuchtern“ (= Gemeinden) zusammenhängt.250 U.B. Müller sieht Dan 10,5f als Muster, Klaus Berger Hesekiel 1.251 Man darf jedoch auch hier keine Einseitigkeit pflegen. Johannes hatte eine wirkliche Schau des Auferstandenen. Seine Beschreibungsmuster aber bildeten eine Kombination aus mehreren alttestamentlichen Mustern und griffen sowohl auf Daniel als auch auf Hesekiel zurück.252 Johannes hätte mit V. 13 die Schilderung des Auferstandenen abschließen können. Das tut er nicht. Offenbar ist ihm der erhöhte Jesus als Schlüsselgestalt der gottbestimmten Zukunft so wichtig, dass er die Schilderung fortsetzt und dadurch auch die lesenden Gemeinden zum Verweilen beim Bild des Auferstandenen einlädt. Er beschreibt „Haupt/Haare“, „Augen“, „Füße“, „Stimme“, „rechte Hand“, „Mund“ und „Gesicht“, also sieben Einzelzüge. Sein Haupt aber und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle, wie Schnee (V. 14). Schon Bengel hat bemerkt, dass Haupt und Haare nicht getrennt werden dürfen; gemeint sind „die Haare seines Haupts“ (S. 208). Es handelt sich um ein Hendiadyoin.253 Ohne Zweifel soll hier die Erinnerung an Dan 7,9 hervorgerufen werden, wo es in der LXX heißt: τὸ τρίχημα τῆς κεφαλῆς αὐτοῦ ὡσεὶ ἔριον λευκὸν καθαρόν [to trichema tes kephales autu 245 Ant. III, 154: ἐπιζώννυνται κατὰ στῆθος [epizonnyntai kata stethos]; III, 159: ζώνη … χρυσοῦ συνυφασμένου [zone … chrysu synyphasmenu]. 246 Bousset S. 194. 247 Bousset a.a.O.; Schlatter BFchTh S. 36; Lohse S. 20; Wikenhauser S. 33; Ritt S. 22. 248 Ritt a.a.O. Vgl. Bousset a.a.O.; Lohse a.a.O.; Wikenhauser a.a.O.; U.B. Müller S. 84. Schon Bengel S. 208; Vitringa S. 23. 249 Lohse a.a.O. Vgl. die in Anm. 4 Genannten. Ablehnend Prigent S. 28f; Morris S. 53; Aune S. 93f. 250 Auch Prigent, a.a. O., ist vorsichtig, wenn auch aus anderen Gründen. 251 U.B. Müller S. 83; Berger a.a.O. 252 Ebenso Wikenhauser S. 33. 253 Vgl. Blass-Debrunner § 442,9 b; Aune S. 95.
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hosei erion leukon katharon]. Das ist äußerst aufschlussreich. Denn in Dan 7,9 wird Gott der Vater selbst in dieser Weise beschrieben. Jetzt aber ist es der Sohn! Mit anderen Worten: Der Sohn erscheint wie der Vater, ist Gott und Herr. In den Evangelien findet sich die engste Parallele im Johannesevangelium: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Joh 14,9). Weiß wie weiße Wolle, wie Schnee bezeichnet ein Doppeltes: den himmlischen Glanz, der von Haupt und Haaren Jesu ausgeht, und die vollkommene Reinheit, die Jesus besitzt.254 Mit dem Alter hat „weiß“ nichts zu tun. Zum „in der Antike beliebte(n) Vergleich“ „weiß wie Schnee“ vgl. außer Dan 7,9 noch Jes 1,18; Ps 51,9.255 Dass seine Augen … wie eine Feuerflamme waren (V.14), finden wir nahezu wörtlich in Dan 10,6 wieder. Nur steht in Dan 10,6 LXX λαμπάδες [lampades] anstelle von φλόξ [phlox]. Das Feuer dient häufig dazu, die Manifestation der himmlischen Herrlichkeit zu beschreiben, man denke nur an die Gesetzgebung vom Sinai (Ex 24,17) oder an Ps 104,4.256 Gott selbst, aber auch die Engel Gottes offenbaren sich im „Feuer-Glanz“. Obwohl Dan 10,6 das Grundmuster für die Beschreibung des Johannes liefert und deshalb der Auferstandene in die Nähe der Engel zu rücken scheint, darf man den Kontext nicht vergessen. Und der zeigt, dass hier in Offb 1,14 der auferstandene Jesus als Gott geschildert werden soll,257 so wie in Dan 7,9 und Ez 1,27 eben Gott der Vater selbst mit Hilfe des „Feuers“ gezeichnet wird. Mehr noch: Die Wendung φλὸξ πυρὸς [phlox pyros], die das λαμπάδες πυρός [lampades pyros] von Dan 10,6 ersetzt, findet sich wörtlich in Dan 7,9 bei der Gottesschilderung! Mit Recht sagt Friedrich Lang: In Offb 1,9ff sind „die Attribute Gottes auf Jesus übertragen“.258 Die Augen … wie eine Feuerflamme durchdringen alles, nehmen alles wahr und zerstören jeden Schleier von Vernebelung und Unwahrhaftigkeit.259 Nach „Haupt/Haaren“ und „Augen“ folgen drittens die „Füße“: und seine Füße glichen dem Erz, als würde es im Schmelzofen geläutert (V. 15a). Dan 10,6 LXX bleibt auch hier das Grundmuster: οἱ πόδες ὡσεὶ χαλκὸς ἐξαστράπτων [hoi podes hosei chalkos exastrapton]. Grammatisch gibt V. 15a manche Probleme auf. Zunächst ist bei χαλκολίβανος [chalkolibanos] weder 254 Vgl. W. Michaelis, Art. λευκός usw., ThWNT, IV, 1942, S. 247ff, bes. S. 253; Hemer S. 201. 255 Michaelis a.a.O. 256 Vgl. hier F. Lang, Art. πύρ usw., ThWNT, VI, 1959, S. 927ff. 257 Ebenso Schlatter BFchTh S. 34. 258 A.a.O. S. 946. 259 Vitringa S. 23: „perspicaciam divinae et purae mentis, omnia arcana pervadentis“; Irenaeus IV, 20,11: das Haupt = die Herrlichkeit vom Vater; Bengel S. 209: „seine alles scharf = durchdringend und unterscheidende Allwissenheit“.
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das Genus noch die Wortbedeutung sicher.260 Möglicherweise muss man hier μῖξις [mixis], μορφή [morphe] o.ä. ergänzen.261 Das Partizip πεπυρωμένης [pepyromenes], das von Lang als „grammatischer Fehler“ bezeichnet wird,262 „bezieht sich auf das als Fem. anzusehende … χαλκολίβανος“.263 Bei der Übersetzung schließen wir uns an Blass-Debrunner §423,10 an. Jedenfalls hat χαλκολίβανος [chalkolibanos] „nichts mit λίβανος = Weihrauch zu ֶ [ ְנחnechoschet] zurück und lässt tun.“264 χαλκός [chalkos] geht auf hebr. שׁת sich leicht als Kupfer oder Bronze deuten.265 Aber χαλκολίβανος [chalkolibanos]? Muss man χαλκοκλίβανος [chalkoklibanos] (= kupferner Topf) lesen, wie Zahn266 vorschlägt? Aber das wäre gegenüber Dan 10,36; Ez 1,27 eine Vergröberung, ja Herabstufung. Oder darf man hinter χαλκολίβανος [chalkoְ [ ַחchaschmal] aus Ez 1,27 vermuten und dann von einer libanos] das hebr. שַׁמל Gold-Silber-Legierung ausgehen?267 Oder handelt es sich um eine KupferZink-Legierung, wie Hemer (S. 111ff) vorschlägt, also Messing? Wir wissen ֶ [ ְנחnechoschet]/χαλκός es nicht mehr. Nur so viel ist klar, dass Johannes das שׁת [chalkos] von Dan 10,6 bewusst durch ein anderes Wort ersetzte, das vermutlich den Lichtglanz verstärken sollte. Denn es geht um die „Bezeichnung der himmlischen Herrlichkeit“ des Auferstandenen.268 Interessanterweise deutet Irenäus das Erz auf „die Stärke des Glaubens und die Beharrlichkeit im Gebet“ (IV, 20,11). Näher am biblischen Text bleibt Bengels Erklärung, wonach die Füße Jesu „seine Standhaftigkeit und Stärke“ anzeigen269 (vgl. Ez 1,7).270 Seine Stimme war wie das Rauschen vieler Wasser ist die vierte Beobachtung des Johannes (V. 15b). Die Beschreibung der „Stimme“ folgt auch in Dan 10,6 den Füßen. Aber wieder weicht Johannes von Dan 10,6 ab, und zwar so, dass er θορύβου [thorybu] ersetzt durch ὑδάτων πολλῶν [hydaton pollon]. Er verstärkt den Eindruck also auch hier. Dabei ist der Vergleich mit den ὕδατα πολλά [hydata polla] bzw. dem ὕδωρ πολύ [hydor poly] typisch für
260 261 262 263 264 265 266 267
Bauer-Aland Sp. 1746; Blass-Debrunner § 49,1. Blass-Debrunner § 241,9. A.a.O. S.946. Blass-Debrunner § 432,10, vgl. auch § 425,3. W. Michaelis, Art. λίβανος usw., ThWNT, IV, 1942, S. 268,4. Vgl. H.-J. Fabry, Art. שׁת ֶ ְנח, ThWAT, V, Sp. 397ff. S. 199, 41. So schon Suidas, vgl. Hemer S. 111f. Ebenso Schlatter S. 144. U.B. Müller S. 84: „vielleicht Golderz“. 268 Lang a.a.O. S. 946. 269 Bengel S. 209. Ganz ähnlich Vitringa S. 23: „statum ejus stabilem, perennem et gloriosum“. 270 Auch Caird S. 25 verweist auf Ez 1,7, ebenso Brütsch S.87.
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die Kennzeichnung der Gottesstimme.271 Man könnte sagen: Johannes revidiert Dan 10,6 wieder von Hesekiel her, nämlich Ez 1,24; 43,2. Für „Rauschen“ steht übrigens ebenfalls φωνή [phone] „Stimme“ (hebr. [ קוֹלqol]). Das Brausen der Wasser übertönt alles und besitzt eine enorme Gewalt. Wo dieser Herr spricht, muss alles andere schweigen. Bengel hat dies sehr schön nach beiden Richtungen ausgezogen, indem er bemerkt: „zum Trost der Seinigen und zum Schrecken der Feinde“ (S. 209).272 Von Jesu rechter Hand (V. 16) gibt es keine Beschreibung im strengen Sinn. Es wird nur gesagt, was er in dieser Hand hat: sieben Sterne. Dennoch sollten wir auch hier konzentriert zuhören, umso mehr, als davon noch dreimal die Rede ist (1,20; 2,1; 3,1). Das hebräische Wort für Hand, [ י ָדjad], bedeutet häufig die Gewalt, Macht oder Kraft, und vor allem die Hand Gottes drückt aus, dass „er sich in seinem Schaffen und Wirken mächtig erweist“.273 Der neutestamentliche Sprachgebrauch ist derselbe.274 Die Bezeichnung „rechts“ / rechte Hand hat ebenfalls eine besondere Bedeutung im biblischen Sprachgebrauch. Sie drückt nämlich die Nähe, die Hilfe und das Heil aus.275 Sind also die sieben Sterne in Jesu „rechter Hand“, so sind sie ihm eng verbunden und sollen seine Hilfe und sein Heil empfangen. Doch wer sind die sieben Sterne? Im V. 20 gibt der Auferstandene selbst die Antwort: Es „sind Engel der sieben Gemeinden“. Sind aber die Repräsentanten der Gemeinden gemeint, dann ist klar, dass Jesus auch gegenüber den Gemeinden selbst seine Nähe, seine helfende Kraft und das Angebot des Heils zum Ausdruck bringt. Werner Foerster meinte, bei den sieben Sternen sei „entweder an die 7 Planeten zu denken als nach astrologischem Glauben Lenker des Schicksals oder an den großen oder kleinen Bären als Herrscher über die Welt“.276 Solche astrologischen Deutungen sind verfehlt. Vielmehr hat schon das AT jede astrale Mythologie und Verehrung aufs Schärfste abgelehnt.277 Stattdessen bilden die „Sterne“ Gottes Heerscharen. Er selbst, Gott, führt den Namen „Jahwe Zebaoth“ = HERR der Heerscharen (vgl. z.B. Ri 5,20). Dabei lässt sich der Begriff der Sterne oder „Heerscharen“ ([ ְצָבאוֹתzevaot]) auf Israel als Gottes Volk übertragen. Sogar einzelne Mitglieder des Gottesvolkes können mit „Sternen“ verglichen oder als „Stern“ bezeichnet werden (z.B. Nu 24,15ff; 271 272 273 274 275 276 277
Vgl. Aune S. 97; Behm S. 13; Zahn S. 202f. Ähnlich Vitringa S. 23, der aber auf die „praedicationem Evangelii“ abhebt. Vgl. E. Lohse, Art. χείρ usw., ThWNT, IX, 1973, S. 413ff, bes. S. 416. Vgl. Lohse a.a.O. S. 419ff. Vgl. W. Grundmann, Art. δεξιός, ThWNT, II, 1935, S. 37ff; Morris S. 54. Art. ἀστήρ usw., ThWNT, I, 1933, S. 502. Vgl. Aune S. 97f. R.E. Clements, Art. כב ָ כוֹ, ThWAT, IV, 1984, Sp. 89ff.
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Dan 12,3).278 Dies ist der Ausgangspunkt für Offb 1,16. Es geht also um Gottes Volk und nicht um astrale Mythologie.279 Und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert (V. 16): Damit sind wir beim sechsten Einzelzug der Beschreibung. Insgesamt fünfmal ist vom Schwert des Mundes Jesu in der Offb die Rede (1,16: 2,12.16; 19,15.21). Auch dieser Sprachgebrauch geht auf das AT zurück.280 So schlägt der Messias die Gottesfeinde „mit dem Stab seines Mundes“ (Jes 11,4). Gott hat seinen „Mund wie ein scharfes Schwert gemacht“ (Jes 49,2). Demnach ist deutlich, dass das „Schwert“ ein Symbol für das Wort darstellt (vgl. 2Thess 2,8; Hebr 4,12 sowie Ps 55,22; 57,5; 59,8). Wenn es als scharf und zweischneidig beschrieben wird, dann wird damit seine durchdringende, unwiderstehliche Kraft veranschaulicht. Insofern wird man an das richtende Wort Jesu als des eschatologischen Richters zu denken haben,281 aber auch an das siegreiche Wort des Wiederkommenden, dem alle Feinde weichen müssen (vgl. 19,15.21). Zuletzt, als siebten Einzelzug, nennt Johannes das Gesicht282 des Auferstandenen: und sein Gesicht war wie die Sonne, wenn sie in ihrer Kraft scheint (V. 16). Der Vergleich mit der Sonne findet sich auch auf dem Berg der Verklärung (Mt 17,2)283, ja geht sogar auf frühe alttestamentliche Tradition zurück (Ri 5,31). Die Weisheitsliteratur führt den Vergleich weiter (Sir 23,28). Ob Ri 5,31 die Sprache des Johannes an dieser Stelle beeinflusst hat,284 können wir nicht mehr sicher sagen. Eins aber ist deutlich: Der auferstandene Jesus leuchtet in seinem Gesicht voller himmlischer Lichts-Herrlichkeit. Im Vergleich dazu ist das Leuchten auf dem Angesicht des Mose (Ex 34,29ff; 2Kor 3,7ff) direkt armselig. Ist das Christusbild von Offb 1,12-16 mit dem Christusbild der Evangelien zu vereinbaren? Manche verneinen es, manche versehen Offb 1,12ff mit kritischen Anmerkungen.285 Die frühe Christenheit hat es bejaht, wie nicht zuletzt 278 Vgl. wieder Clements a.a.O. Sp. 86ff. 279 Nicht auszuschließen ist dagegen ein Bezug zur Verherrlichung des Kaisertums, das sogar die Sterne regiert (Hemer S. 4; 214; Brütsch S. 88). 280 Vgl. hier und im Folgenden W. Michaelis, Art. ῥομφαία, ThWNT, VI, 1959, S. 993ff; Schlatter BFchTh S. 37f. 281 So auch K. Weiß, Art. στόμα, ThWNT, VII, 1964, S. 692ff, bes. S. 699. 282 Anders z.B. Zahn S. 203,47: „die ganze für Auge und Ohr sich darstellende Erscheinung“; dahin neigt auch Bauer-Aland Sp. 1216. 283 Vgl. Prigent S. 31. 284 So Schlatter BFchTh S. 38; Bengel S. 210; U.B. Müller S. 85; Vitringa S. 23: „summam et divinam Christi Jesu majestatem et gloriam“. 285 Vgl. dazu Brütsch S. 89; Behm S. 14; Zahn S. 204; Prigent S. 31 („le contraste certainment voulu“).
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die Mosaiken in den alten römischen Kirchen beweisen, z.B. in SS. Cosma e Damiano, S. Paolo fuori le mura, Sa. Prassede und Sa. Pudenziana. In der Tat wird man das Christusbild der Offb ebenso ernst nehmen müssen wie das Christusbild der Evangelien. Denn gerade die Verkündigung Jesu spricht von seiner Zukunft in Macht und Herrlichkeit (Mt 16,27; 21,44; 24,30f; 26,64; Joh 5,25ff; 16,23ff; 17,1ff). In Offb 1,12-16 erleben wir bereits einen Teil der Erfüllung seiner Prophezeiungen. Die Wirkung der Erscheinung des Auferstandenen auf Johannes ist urgewaltig: „Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot“ (V. 17). Ähnlich hat es Paulus vor Damaskus erlebt (Apg 9,4). Ähnlich erlebten auch die Propheten des AT ihre Begegnung mit Gott und Gottes Engeln (Ez 1,28; Dan 8,17f; 10,8f). Es ist seltsam, dass die Menschen der Bibel nicht in Jubelgeschrei ausbrechen, wenn sie dem Göttlichen begegnen, wie es sich der moderne Mensch manchmal vorstellt. Aber die biblischen Berichte sind näher an der Realität als die modernen Wunschbilder. Realität ist in diesem Fall, dass die Unreinheit des Menschen angesichts des himmlischen Lichts tief empfunden wird, und dass der Mensch erkennt: Gott und ich passen nicht zusammen (vgl. Lk 5,8). Deshalb die abgrundtiefe Furcht, das Erschrecken, aber auch das Staunen und die unwillkürliche Sehnsucht nach Anbetung. Beides, Anbetung und Schrecken, drückt sich im Niederfallen zu seinen Füßen aus.286 Johannes betont, dass er den auferstandenen Jesus wirklich sah.287 Bengel zog aus Offb 1,17 eine geistliche Konsequenz, die es wert ist, dass wir sie auch heute bedenken: „Auch von uns wird ein heiliger tieffer Respect erfordert, und alle Frechheit samt allem Fürwitz muß ferne seyn von diesen Betrachtungen“ (S. 211). Damit stehen wir vor dem dritten Unterabschnitt im Gesamtabschnitt 1,920. Hier spricht in den Versen 17b-20 der selbst. Es bestätigt sich dabei erneut, dass die Offb „das spannendste Buch der Welt“ ist.288 Aber289 er legte seine Rechte auf mich und sagte: Fürchte dich nicht! (V. 17). Es ist ungewöhnlich, dass Jesus seine Rechte auf Johannes legte. Oft hat Jesus nur mit dem tröstenden Wort geholfen: „Fürchtet euch nicht!“/ „fürchte dich nicht!“ (Mt 14,27; Mk 5,36; Lk 5,10; 6,50; Joh 6,20; 14,27). 286 Gegen W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 164, der „die Bedeutung anbeten“ in Offb 1,17 noch nicht finden will. Wie wir jedoch K. Weiß, Art. πούς, ThWNT, VI, 1959, S. 630. 287 Schon deshalb sollte man die Erwähnung des Erschreckens nicht als „stereotyp“ (Bousset S. 197) oder „stilgemäß“ (U.B. Müller S. 85) bezeichnen. 288 So Ritt S. 5. 289 Das καί [kai] ist adversativ, vgl. Blass-Debrunner § 442,1.
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Aber in anderen Fällen begleitete er diesen Zuspruch auch mit barmherzigen Gesten (Mt 17,7). Vielleicht will Jesus gerade an die Geschehnisse auf dem Berg der Verklärung erinnern, die in Mt 17,7 sehr ähnlich geschildert sind. 2Petr 1,17 beweist ja, wie tief sich diese Geschehnisse der Erinnerung der Jünger eingeprägt haben. Vermutlich wurde Johannes auch stark an das Jesuswort von Joh 14,1 erinnert. Fürchte dich nicht! geht auf das alttestamentliche [ ַאל־ ִתּיָראal-tira] zurück.290 Die Rechte Jesu symbolisiert a) seine göttliche Kraft,291 b) seine enge Verbundenheit mit Johannes, c) die Beauftragung des Johannes.292 Vgl. V. 16. Erinnert werden wir auch an Daniel (8,18; 10,10), zu dem Johannes ja eine besondere Nähe aufweist.293 Die Forscher hat verschiedentlich die Frage beschäftigt, wie Jesus zu gleicher Zeit die sieben Sterne in seiner rechten Hand halten und diese Johannes auflegen konnte. Morris hat darauf die richtige Antwort gegeben: „Johannes spricht in Symbolen, und es ist die Symbolik, die wichtig ist, und nicht unsere Möglichkeit, wie wir das Bild rekonstruieren können.“294 Ich bin der Erste und der Letzte (V. 17): Damit tröstet der Auferstandene den Johannes zuerst (ἐγώ εἰμι ὁ πρῶτος καὶ ὁ ἔσχατος [ego eimi ho protos kai ho eschatos]). Seltsam! Wir würden vielleicht erwarten, dass er sagt: „Ich bin dein Freund / dein Bruder / ein Mensch wie du, deshalb brauchst du dich nicht zu fürchten“. Stattdessen sagt Jesus klipp und klar: „Ich bin Gott.“ Denn dies ist der Sinn seiner Aussage (vgl. V. 8). In Jes 44,6 MT stellt sich Gott mit denselben Worten vor: [ ֲאִני ִריאשׁוֹן ַוֲאִני ַאֲחרוֹןani rischon waani acharon] = „Ich bin der Erste und ich bin der Letzte.“ Ganz ähnlich in Jes 41,4; 48,12.295 Man muss sogar sagen: Johannes hat sich in Offb 1,17 an den hebräischen Urtext von Jes 44,6; 41,4 und 48,12 angeschlossen.296 Das spricht dafür, dass sich Jesus selbst in dieser Weise vorgestellt hat. Die Aussage Ich bin der Erste zielt auf die Präexistenz Jesu; also sein Sein vor der Schöpfung und vor aller Zeit. Ich bin der Letzte bedeutet so viel wie „der Ewige“. Vgl. das ἐγώ εἰμι εἰς τὸν αἰῶνα [ego eimi eis ton aiona] in Jes 48,12 LXX. Wenn das Nizänische Glaubensbekenntnis von Jesus bekennt, er sei „geboren vor Vgl. G. Wanke im Artikel φοβέω usw., ThWNT, IX, 1973, S. 199. Vgl. hier und im Folgenden W. Grundmann, Art. δέξιος, ThWNT, I, 1933, S. 37ff. Aune S. 100: „an act of investiture“. Schon Bengel S. 210. Morris S. 55. Vgl. Lohse S. 21; Prigent S. 31; Zahn S. 207,60. Vgl. G. Kittel, Art. ΑΩ, ThWNT, I, 1933, S. 2; W. Michaelis, Art. πρῶτος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 866ff; U.B. Müller S. 85. 296 Kittel a.a.O.; Michaelis a.a.O. S. 868,7; Schlatter BFchTh S. 38f; Aune S. 101. 290 291 292 293 294 295
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aller Welt, Gott von Gott“, dann ist es voll gedeckt durch Offb 1,17.297 Jesus gehört eben nicht in die Reihe der menschlichen Religionsstifter. Vielmehr ist er der ewige Sohn Gottes. Man beachte das ἐγώ εἰμι [ego eimi], mit dem Jesus seine Selbstvorstellung einleitet. Mit denselben Worten hat sich der irdische Jesus vorgestellt, und zwar nicht nur im JohEv (6,35; 8,12; 10,7 usw.), sondern auch bei Mt (14,27; 28,20), Mk (14,62) und Lk (24,39). Allerdings sind die meisten Stellen im Evangelium des Johannes zu finden.298 Erneut erweist sich die besondere Nähe der Offb zum Johannesevangelium. Mit Recht nennt Ethelbert Stauffer das ἐγώ εἰμι [ego eimi] im Munde Christi den „reinsten Ausdruck seiner einzigartigen und noch ganz unabsehbaren Bedeutung“. Ihm zufolge „bringt die Apokalypse die volle Analogie von Christus und Gott zur Geltung“.299 Und der Lebendige (καὶ ὁ ζῶν [kai ho zon])300 ist noch einmal eine Aussage über die Gottheit „Jesu Christi“ (V. 18). „Der Lebendige“ ist wiederum eine Bezeichnung Gottes. Häufig findet sich im AT die Wendung „der lebendige Gott“ ([ ֱאל ִֹהים ַחיּ ִיםelohim chajjim] oder [ ֱאֹלִהים ַחיelohim chaj]), z.B. Dt 5,26; Jos 3,10; 2Kön 19,4. Die LXX übersetzt mit θεὸς ζῶν [theos zon]. „Der Lebendige“ heißt er, weil er a) in seiner Lebenszeit unbegrenzt ist und b) ein aktiver, eingreifender Gott ist.301 Die Offb liebt diese Gottesbezeichnung (vgl. 4,9f; 10,6; 15,7). Mit den folgenden Worten endet der „transfert christocentrique“ (Übertragung der Gottesbezeichnungen auf Christus), von dem Prigent so betont spricht (S. 31). Die Welt der Prädikate wird verlassen. Stattdessen nennt der Auferstandene wesentliche Stationen seiner Geschichte. Er befolgt dabei dasselbe Verfahren, das unser christliches Glaubensbekenntnis einschlagen wird: Geschichte statt Begriffe und Eigenschaften.302 Und ich war tot (oder: „Und ich wurde ein Toter“303): so beginnt dieser Teil der Rede Christi (V. 18). Ganz gleich, ob man mit „war“ oder „wurde“ übersetzt: das ἐγενόμην [egenomen] setzt in jedem Fall einen Zustand voraus, der vor dem erwähnten Ereignis bestand. Mit anderen Worten: Das ἐγενόμην νεκρός [egenomen nekros] deutet auf das irdische Leben und den erlittenen
297 298 299 300 301 302 303
Gegen eine Gleichsetzung mit Gott argumentiert U.B. Müller S. 85. Vgl. dazu E. Stauffer, Art. ἐγώ, ThWNT, II, 1935, S. 347f. 350ff. A.a.O. S. 352. 349. So die verlässlichste Textüberlieferung. Vgl. H. Ringgren, Art. חיה, ThWAT, II 1977, Sp. 891ff; Prigent S. 31; Bousset S. 197. Das islamische Bekenntnis ist ganz konträr aufgebaut. So Schlatter S. 146.
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Kreuzestod Jesu hin.304 Ähnlich kurz fasst sich das apostolische Glaubensbekenntnis: gelitten – gekreuzigt – gestorben – und begraben. Das „war (wurde) tot“ schließt jede Scheintod-These aus, wie sie von Karl Friedrich Bahrdt (1741–1792) bis heute immer wieder vertreten wurde. „Tot“ war Jesu in dem Sinne, wie wir Menschen eben den ganzen Tod erleiden. In seinem Fall ist die ganze Realität und das ganze Elend der Kreuzigung eingeschlossen. Und doch darf ein Aspekt nicht übersehen werden: Weil Jesus an sein irdisches Leben und seine Kreuzigung erinnert, weckt er in Johannes die Macht der Erinnerung an das enge Verhältnis, das zwischen ihm als dem Lieblingsjünger und Jesus bestanden hatte. Er, den Johannes als Lehrer und Messias liebte, tritt ihm auch jetzt nicht nur in göttlicher Majestät, sondern in einzigartiger persönlicher Verbundenheit gegenüber. Schon Irenäus hat diesen Gesichtspunkt herausgearbeitet, als er Offb 1,17f kommentierte: Jesu Wort, so schreibt er, „erinnert ihn (= Johannes), dass er (Jesus) es sei, an dessen Brust er beim Abendmahl ruhte“.305 Und siehe, ich bin lebendig in alle Ewigkeit (V. 18): Das ist die nächste entscheidende Station der Geschichte „Christi“. Mit Recht hebt Prigent hervor, dass hier das „Präsens der Ewigkeit (le présent de l’éternité)“ dem vorausgehenden „punktuellen Aorist (l’aorist ponctuel)“ gegenübertritt.306 Man darf nur nicht vergessen, dass mit dem siehe unsere Aufmerksamkeit auf das Wunder im gegenwärtigen Leben des Auferstandenen gelenkt wird: nämlich das Wunder der Auferstehung. Gegen alle menschlichen Erwartungen (vgl. Joh 11,50) und Befürchtungen (vgl. Mt 16,22) ist Jesus nicht im Tod verblieben. Die reale Auferstehung ist jetzt die Grundlage des Wirkens Jesu Christi und seiner Anbetung in der Gemeinde. Die Partizipial-Konstruktion ζῶν εἰμι [zon eimi] öffnet die Perspektive in eine Zukunft, in der es keine Zeit mehr gibt (Offb 10,6): Dieser Auferstandene lebt „in die Äonen der Äonen“ (εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων [eis tus aionas ton aionon], so wörtlich). Damit wird in der Bibel die Existenz Gottes ausgedrückt (z.B. Dt 32,40). Erneut wird also eine Aussage über Gott „auf Christus ausgedehnt“.307 Die Pluralformen (αἰῶνας [aionas] / αἰώνων [aionon]) dienen der „Steigerung des Ewigkeitsbegriffs“.308 Übrigens ist „in alle Ewigkeit“ auch eine liturgische Aussage, und 304 Behm S. 15: „In die eine Tatsache des Todes fasst sich das ganze Erdenleben Jesu zusammen.“ 305 Adv. haer. IV, 20,11. Vgl. Zahn S. 205f. 306 S. 32. 307 H. Sasse, Art. αἰών usw., ThWNT, I, 1933, S. 202. Vgl. überhaupt seinen Artikel S. 197ff. 308 Sasse a.a.O. S. 199.
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daher kommt es, dass manche Handschriften hinter αἰώνων [aionon] ein „Amen“ eingefügt haben. In der jetzigen und ewigen Position Jesu Christi wird eines besonders hervorgehoben: Ich habe die Schlüssel309 des Todes und des Totenreichs (ἔχω τὰς κλεῖς τοῦ θανάτου καὶ τοῦ ᾅδου [echo tas kleis tu thanatu kai tu hadu]), V. 18. Warum? Weil ihm als dem Auferstandenen „alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist“ (Mt 28,18). Mit anderen Worten: Weil Gott der Vater sie ihm gab. So hat es Daniel prophezeit (Dan 7,14). So prophezeite es Jesus selbst im JohEv (5,27). Man kann auch darin „une des grandes affirmations johanniques“ (Prigent S. 32) erblicken. Die Exegeten streiten vor allem über zwei Fragen: Ist der Genitiv vor Tod und Totenreich ein possessiver oder ein objektiver? Und: Bezieht sich die Schlüsselgewalt Jesu auf eine vorausgegangene Hadesfahrt oder nicht? Ein possessiver Genitiv setzt voraus, dass Tod (θάνατος [thanatos]) und Totenreich (ᾅδης [hades]) hier als personifizierte Mächte genannt werden. Andere Stellen der Offb wie 6,8; 20,13; 20,14 erlauben eine solche Deutung, Paulus legt sie in 1Kor 15,26.54ff nahe. Alttestamentliche Stellen wie Jes 25,8; Hos 13,14 deuten in eine ähnliche Richtung. Auch die Wendung vom „Schlüssel Davids“ in Offb 3,7 (vgl. Jes 22,22) oder „Schlüssel Petri“ (Mt 16,18 dem Sinne nach) favorisiert eine personhafte Auffassung. Zwar kann man nicht „wasserdicht“ beweisen, dass hier Tod und Totenreich personifizierte Größen sein müssen, aber für diese Deutung sprechen unseres Erachtens die stärkeren Argumente. Es handelt sich demnach in Offb1,18 um einen possessiven Genitiv.310 Der „Tod“ (θάνατος [thanatos]) ist die lebensfeindliche und gottfeindliche Macht, der Christus jetzt die Herrschaft genommen hat (2Tim 1,10; Hebr 2,14).311 Das „Totenreich“ (ᾅδης [hades]) als sein engster Genosse bezeichnet dann die Macht und die Sphäre, der die Verstorbenen nach ihrem Tode überantwortet werden. Es ist die „Scheol“ des Alten Testaments.312 Hat Jesus jetzt die Schlüssel, die bisher in ihrer Hand waren, dann sind sie ihm unterworfen und müssen ihm dienen. Das heißt, die gewaltige Rückführung der Schöpfung zu ihrem Schöpfer (Eph 1,10) hat jetzt begonnen. Das Gericht über die gottfeindlichen Mächte kündigt sich an. „Damit hat“ aber auch „der Tod für seine Gemeinde den Schrecken verloren“.313
309 Zur Pluralform κλεῖς [kleis] vgl. Blass-Debrunner § 47,4. 310 So schon Bengel S. 212f. Ferner J. Jeremias, Art. κλείς, ThWNT, III, 1938, S. 746; Bousset S. 197; Lohse S. 21; Grünzweig S. 58; Behm S. 15. 311 Vgl. hier R. Bultmann, Art. θάνατος usw., ThWNT, III, 1938, S. 14. 312 Vgl. J. Jeremias, Art. ᾅδης, ThWNT, I, 1933, S. 146ff. 313 J. Jeremias ThWNT III S. 746.
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Ob Offb 1,18 die Hadesfahrt Christi aussagt, ist viel schwerer zu beurteilen.314 Neutestamentlich ist das Hinabsteigen Jesu Christi in das Totenreich gesichert durch 1Petr 3,19; 4,6; Röm 10,7; Eph 4,8f, sodass unser Glaubensbekenntnis „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ biblisch gut begründet ist. Auf diesem Hintergrund ist es zulässig, auch in Offb 1,18 Spuren und Auswirkungen dieses Abstiegs zu den Toten zu sehen. Aber es ist eben nur eine Andeutung. Von einem „Kampf“ Jesu Christi mit den Todesmächten315 sollte man jedoch besser nicht reden. Gottes Befehl bzw. Jesu Befehlswort genügen, um Tod und Totenwelt die Schlüssel aus der Hand zu nehmen. Wichtig ist, dass die frühjüdischen Rabbinen „die Schlüssel des Todes und des Totenreichs“ nur Gott selbst zugestanden (bTaan 2a; bSanh 113a).316 Wenn sie jetzt der Auferstandene besitzt, dann zeigt sich auch darin seine göttliche Würde. Zum Bild der Schlüssel gehört das Symbol der „Tore“ oder der „Pforten“, die die Totenwelt abschließen, in denen sich aber auch die Gewalt der Todesmächte offenbart.317 Wer hier „die Schlüssel hat“, hat die Herrschaft und den Zugang zu ihren Bereichen. Diese Symbolik ist schon alttestamentlich und antik-jüdisch und braucht nicht von „babylonischen“ bzw. „gnostischen Mythen“ abgeleitet zu werden.318 Hinter ᾅδης [hades] steht hebr. שׁאוֹל ְ [scheol], hinter den „Toren der Totenwelt“ hebr. שׁאוֹל ְ שֲׁעֵרי ַ [schaare ַ [schaare mawet], hinter θάνατος [thanatos] [ ָמֶותmascheol] oder שֲׁעֵרי ָמֶות wet].319 Offb 1,17f hat eine reiche Wirkungsgeschichte ausgelöst. Ein hervorstechendes Zeugnis dafür ist Karl Barths Kirchliche Dogmatik. Mehrfach begründet Barth die Gottheit Jesu Christi als des Sohnes Gottes mit unserer Stelle Offb 1,17f 320 – biblisch durchaus zu Recht. Mit 1,18 endet die Aussage des Auferstandenen über sich selbst. In V. 19 folgt jetzt der Auftrag: „Schreibe nun, was du gesehen hast und was ist und was geschehen wird danach.“ Genauer betrachtet hat dieser Auftrag zwei Teile. Der erste Teil ist ein Schreibbefehl: Schreibe nun! Der Herr sagt nicht: „Verkündige!“ oder „Be-
314 Dafür z.B. Bousset S. 197; Lohse S. 21; Jeremias a.a.O. 315 So J. Jeremias ThWNT III a.a.O. Ähnlich Lohse S. 21: Christus habe ihnen die Schlüssel „entrissen“. 316 Hinweis von Bousset S. 197; Jeremias a.a.O. Schon bei Wettstein S. 753. 317 Vgl. wieder Jeremias a.a.O. S. 745ff. 318 Gegen Bousset S. 198. Vgl. Jeremias a.a.O. 319 Vgl. L. Wächter, Art. שׁאוֹל ְ , ThWAT, VII, 1993, Sp. 901ff. 320 Barth I/1 S. 422; I/2 S. 59.
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zeuge!“ oder „Teile mit!“. Nein, seine Anweisung lautet: „Schreibe (γράψον [grapson])!“ Das bringt uns zunächst zum Nachdenken über die Geschichte und Wichtigkeit der Schrift in der Entwicklung der Menschheit und der immer neuen Offenbarung Gottes. Im gesamtbiblischen Kontext beobachten wir, dass „Das Aufschreiben … im Alten Testament“ ein „wichtiges Kennzeichen der offenbarenden Mitteilung“ ist.321 Gott selbst schreibt (Ex 24,12; 31,18; 32,15.32; 34,1; Dt 4,13; 9,10), dann Mose (Ex 17,14; 24,4; 34,27), Josua (Jos 24,26) und die Propheten (1Sam 10,25; Jes 8,16; Jer 36,2ff; Ez 43,11; Dan 12,4).322 Dem Schreiben kommt „autoritative Bedeutung“ zu.323 Für die Offb ergibt sich dies schon aus 1,11, dann aus Kapitel 2–3; 14,13; 19,9; 21,5; 22,18f. Vgl. die Erklärung bei 1,11. Seit dem 4. Jahrtausend v.Chr. benutzt die Menschheit die Schrift als Instrument der Mitteilung. Das größte Museum der Welt, der Louvre in Paris, hat dies in einer eigenen Abteilung mit vielen Exponaten und pädagogisch hervorragend dargestellt. In dieser Geschichte ist die Bibel ein „Spätling“. Es ergibt wenig Sinn, in den sog. „Schriftpropheten“ und dann noch in der sog. „Apokalyptik“ eine Spätphase und einen Abstieg von der ursprünglichen, romantisch verklärten Prophetie ohne schriftliche Fixierung zu erblicken. Schriftliche Überlieferung gehört vielmehr zur ganzen Geschichte des Orients. Der Schreibbefehl Jesu stellt in der Tat – wie Gottlob Schrenk bemerkt hat324 – alles von Johannes Niedergeschriebene „unter Gottes Geheiß und Leitung“. Man beachte auch das οὖν [un] („nun“), das konsekutive Bedeutung hat.325 Es zeigt an, dass Jesus den Schreibbefehl aufgrund seiner göttlichen Würde und Vollmacht gibt. Die zweite Hälfte von V. 19 gibt den Inhalt dessen an, was Johannes schreiben soll. Dieser Inhalt besteht aus drei Teilen:326 a) dem Vergangenen (was du gesehen hast), b) dem Gegenwärtigen (was ist), c) dem Zukünftigen (was geschehen wird danach). Üblicherweise bezieht man die Vergangenheit auf die soeben erfolgte Begegnung mit dem Auferstandenen (1,9-20), die Gegenwart auf die sieben Sendschreiben (2,1–3,22) und die Zukunft auf den Groß-
321 322 323 324 325 326
So G. Schrenk, Art. γράφω usw., ThWNT, I, 1933, S. 744. Vgl. Schrenk a.a.O. S. 744f; H. Haag, Art. כתב, ThWAT, IV, 1984, Sp. 385ff. Schrenk a.a.O. S. 745. A.a.O. Blass-Debrunner § 451,1. So schon Bengel S. 214; dann Bousset S. 198; Lohse S. 21f; Wikenhauser S. 134; Prigent S. 33; Hemer S. 31; Morris S. 56; Behm S. 15; Marxsen S. 229.
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teil der folgenden Offenbarung (Kap. 4–22).327 Das trifft im Grobraster auch zu. Allerdings finden sich Zukunftsaussagen auch im zweiten Teil (z.B. die sog. „Überwindersprüche“) und Gegenwarts- oder Ewigkeitsaussagen auch im dritten Teil (z.B. Kap. 4).328 Man sieht rasch, was das Wichtigste ist: der Zukunftsteil, also der dritte Teil, mit den Kapiteln 4–22. Darauf deutet auch das hebräische Gesetz des „Achtergewichts“, wonach dasjenige am Schluss steht, was am wichtigsten ist. In enger Parallele zu 1,1 lautet hier die Formulierung was geschehen wird danach (ἃ μέλλει γενέσθαι μετὰ ταῦτα [ha mellei genesthai meta tauta]). Es fällt auf, dass „in Bälde“ (ἐν τάχει [en tachei]) im Unterschied zu 1,1 nicht mehr auftaucht. Stattdessen heißt es hier viel allgemeiner „danach“. Man kann daraus nur den Schluss ziehen, dass der Auferstandene keine aufgeregte Naherwartung wünscht. Er bremst diese vielmehr ebenso, wie er sie in Mt 24 / Mk 13 durch das ἀλλ᾿ οὔπω ἐστὶν τὸ τέλος [all’ upo estin to telos] („aber es ist noch nicht das Ende da“, Mt 24,6 / Mk 13,7) gebremst hatte. Die Zurückweisung einer übersteigerten Naherwartung wurde seitdem im gesamten NT zum Programm (vgl. 2Thes 2,1ff; 2Petr 3,8ff).329 In V. 20 begegnet uns eine der zahlreichen Überraschungen dieses Buches. Der Auferstandene erklärt nämlich vorweg zwei wichtige Bilder der realen Vision des Johannes; die Sterne und die Leuchter: Das Geheimnis der sieben Sterne, die du in meiner Rechten gesehen hast, und die sieben goldenen Leuchter: die sieben Sterne sind Engel der sieben Gemeinden, und die sieben Leuchter sind sieben Gemeinden. Warum diese Erklärung an dieser Stelle? Der Auferstandene sagt es nicht. Wir können also nur eine Vermutung äußern. Unsere Vermutung geht dahin, dass die „Engel“ und ihre Bezugsgröße, nämlich die „Sterne“ (= die Gemeinden) sofort erklärt werden sollen, weil sich ja die Sendschreiben unmittelbar anschließen. Damit haben Johannes und die Leser der Offb rasch den Schlüssel zum Folgenden in der Hand. Allerdings wird auch eine andere Überlegung nahegelegt: Auf die Gemeinden und deren Repräsentanten richtet sich das Erstinteresse des erhöhten Jesus (vgl. Mt 24,31). Sie sind ihm die Nächsten. Das Thema der Liebe zu den Seinen, das die Abschiedsreden des irdischen 327 Manche Forscher denken wie Aune S. 105 nur an eine Zweiteilung (Gegenwart und Zukunft), indem sie „was du gesehen hast“ als Überschrift auffassen. 328 Insofern wehrt sich Caird S. 26 mit Recht gegen eine „over-simplification“. Zur nötigen Weite der Beurteilung vgl. auch Grünzweig S. 59f; Brütsch S. 97. 329 Deshalb können wir auch Aunes Deutung (S. 105) „the imminent future“ nicht zustimmen.
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Jesus bestimmt hatte (Joh 13,1), bestimmt auch die Reden des Auferstandenen. Geheimnis (μυστήριον [mysterion]) hat, wie Zahn (S. 208) richtig bemerkt, mit unserm Fremdwort „Mysterium“ wenig zu tun. Es bedeutet vielmehr das richtige Verständnis, das zunächst verborgen erscheint, aber von Gott geschenkt werden kann.330 Die sieben Sterne in der rechten Hand Jesu Christi sah Johannes tatsächlich in V. 16. Zahn hat sich mit der Frage beschäftigt, weshalb jetzt in V. 20 die Formulierung lautet ἐπὶ τῆς δεξιᾶς μου [epi tes dexias mu], statt ἐν τῇ δεξιᾷ χειρί [en te dexia cheiri] wie in V. 16. Scharfsinnig vermutet er, Jesus habe „die 7 Sterne wie einen durch einen unsichtbaren Reifen zusammengehaltenen Kranz in der Hand“ gehalten, und zwar „aufwärts gerichtet, wie ein Scepter oder Feldherrnstab oder Siegespreis“.331 Deshalb habe er auch formuliert „auf meiner rechten Hand“. Diese Vermutung kann zutreffen. Aber grundsätzlich muss ἐπί [epi] nichts anderes bedeuten als ἐν [en], nämlich „in“.332 Das exegetische Problem liegt dort, wo der Auferstandene erklärt: die sieben Sterne sind Engel der sieben Gemeinden. Irgendwie repräsentieren die Sterne also die Gemeinden. Aber wie? Vor einem Jahrhundert listete Wilhelm Bousset fünf Lösungsvorschläge für die Engel auf:333 1) Es seien die „Boten der einzelnen Gemeinden“, die jeweils die Sendschreiben überbringen. Hebr. ְ[ ַמְלָאךmalach] bedeutet sowohl „Bote“ als auch „Engel“. 2) Es seien speziell ְ [scheliche zibbur].334 3) Es christliche „Synagogenboten“, hebr. שִׁליֵחי ִצבּוּר seien hervorragende Gemeindeglieder analog Mal 2,7, wo der Priester ְַמְלָאך [malach] = ἄγγελος [anggelos] = „Bote“ genannt wird. 4) Es sei „der personifizierte Gemeindegeist“, also die Gemeinde selbst in ihrer Gesamtheit.335 5) Es seien die „Schutzengel“ bzw. „Engelfürsten resp. … Genien“ der einzelnen Gemeinden. Theodor Zahn hat, ausgehend von 2) und 3), mit Nachdruck die Auffassung vertreten, es seien die Bischöfe der sieben Gemeinden gemeint (S. 209ff). Dabei kann er sich auf eine lange Tradition stützen. Aber wer sind nun die „Engel“ wirklich?
330 331 332 333 334 335
Vgl. G. Bornkamm, Art. μυστήριον usw., ThWNT, IV, 1942, S. 830; Morris S.56. S. 208,60. Bauer-Aland Sp. 581. S. 200f. So schon Vitringa S. 25; Bengel S. 216. In der Tat sprach Lücke vom „Gemeindegeist“ bzw. „Gesamtheit“ der Gemeinde, vgl. Zahns (S. 217f) Auseinandersetzung mit ihm. Ähnlich Behm S. 15; Morris S. 57; Hemer S. 33; Brütsch S. 101; Satake S. 154.
4. Der Auferstandene beauftragt Johannes, 1,9-20
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Die Grundentscheidung ist dahin zu treffen, ob es sich um echte Engel im Sinne himmlischer Wesen handelt oder um Menschen.336 Engel als Engelfürsten über das Volk Gottes sind uns aus dem AT bekannt (Dan 10,13.20.21; 12,1; vgl. Tob 3,25; 12,15). Biblisch begründet ist auch die Existenz von Schutzengeln337 (Apg 12,10.15; Hebr 1,14; Mt 18,10). Von daher ist grundsätzlich die Deutung der „Engel“ von Offb 1,20 auf echte Engel möglich.338 Dennoch erheben sich beträchtliche Einwände gegen eine solche Deutung.339 Wenn die Offenbarungskette nach Offb 1,1 von Gott zu Jesus Christus und über dessen Engel zu Johannes verläuft, soll sie dann in Offb 1,20 und 2,1 von Johannes wieder zurück zur Engelwelt verlaufen? Und welchen Sinn macht es, wenn der auferstandene Jesus den guten Engeln durch seinen menschlichen Knecht Johannes etwas schreiben lässt? Und sind die Worte des Tadels und des Gerichts in den Sendschreiben wirklich an die Engel Jesu Christi bzw. Gottes gerichtet? Nein: „Nur zu Menschen … kann so geredet werden“ (Zahn S. 211). Dass es sich um verantwortliche menschliche Gemeindeleiter handelt, hat Campegius Vitringa in einer langen Abhandlung innerhalb seines Kommentars dargelegt. Allerdings bevorzugte er die Benennung „Praesides Presbyterorum“ (Vorsteher der Presbyter) statt „Bischöfe“.340 Ähnliches liest man bei Bengel.341 Eine Stütze findet diese Ansicht in dem Schreiben, das Polykrates, Bischof von Ephesus, ca. 190 n.Chr. nach Rom sandte. In diesem Schreiben bezeichnet er Philippus und Johannes als „große Sterne“ (μεγάλα στοιχεῖα [megala stoicheia]).342 Dies beweist, dass die Deutung von Sternen auf menschliche Personen durchaus möglich war. Wir bevorzugen deshalb in unserem Kommentar die Deutung der Engel auf die Bischöfe bzw. Gemeindeleiter der betreffenden sieben Gemeinden. Dass es um 95 n.Chr. längst „Bischöfe“ gegeben hat, zeigen Apg 20,28; Phil 1,1; 1Tim 3,1ff; Tit 1,7ff und 1Petr 2,25.343
336 Vgl. Hemer S. 32ff. 337 Vgl. W. Grundmann / G. v. Rad / G. Kittel, Art. ἄγγελος usw., ThWNT, I, 1933, S. 72ff. 338 So z.B. Schlatter S. 145; Kittel a.a.O. S. 85f; Lohse S. 22; Caird S. 24; Wikenhauser S. 35; Ritt S. 23; Wettstein S. 753; Hartenstein S. 65; Gnilka S. 405; Schnackenburg S. 263; Schlatter Theol S. 132; Kretschmar S. 25. 339 Vgl. wieder Zahn S. 209ff; Einl S. 601ff. Auch Bousset S. 200f ist dies bewusst. 340 Vitringa S. 25ff. 341 Bengel S. 216. Ähnlich Grünzweig S. 61. 342 Euseb H.E. III, 31, 3; V, 24,2. 343 Damit entfällt der Einwand von Morris S. 57. Unverständlich der Einwand von Lohse S. 22 gegen die Deutung auf Bischöfe: Es habe sie damals noch nicht gegeben.
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Einfacher ist das Geheimnis der sieben goldenen Leuchter, die uns in V. 12 begegnet sind: Es sind „sieben Gemeinden“. In 1,11 wurden schon ihre Namen genannt. Immerhin fällt auf, dass jetzt der Artikel fehlt. Es ist nur von sieben Gemeinden die Rede, nicht von „den“ sieben Gemeinden. Aber an ihrer Identität kann kein Zweifel bestehen. Der Auferstandene in seiner Beziehung zu seinen Gläubigen: Das ist die Grundidee von V. 20. Diese Beziehung ist und bleibt eine unvergleichlich nahe: Er ist in ihrer Mitte (V. 13), er hat ihre Leiter und sie selbst in seiner Hand (V. 16), und es ist seine „Rechte“, die sie alle hält und trägt. Erneut wird hier die besondere Verwandtschaft mit dem Johannesevangelium sichtbar (vgl. Joh 10,1-30, 13,1; 15,1-16; 17,1ff).
IV Zusammenfassung 1) Offb 1,9-20 schildert uns die Beauftragung des Johannes durch den auferstandenen Jesus Christus. Sein Auftrag lautet, nach Weisung des Auferstandenen den sieben Gemeinden und der ganzen Christenheit Wichtiges für die Zukunft zu enthüllen, und zwar schriftlich. 2) Die Schau des Johannes ist echt und real, nicht Fiktion oder bloß literarisches Kunstwerk. 3) Der Auferstandene begegnet Johannes in seiner göttlichen Würde und Hoheit, erkennbar als der „Menschensohn“ aus Dan 7,13, aber auch in Fortsetzung der Verbundenheit, die zwischen Jesus und dem Lieblingsjünger nach dem Johannesevangelium bestand. 4) Bei der Erscheinung des Auferstandenen fallen besonders die hohepriesterlichen Züge ins Auge. 5) Zugleich begegnet uns der Auferstandene als Herr des Lebens und als Herr über Tod und Totenreich. 6) Es ist also konzentrierteste Christologie, die die Offb charakterisiert. Insofern kann man die Offenbarung als Jesus-Buch bezeichnen. Dementsprechend ist Offb 1,9-20 „ein grandioses Proömium der ganzen Schrift“.344 7) In alledem zeigt sich Jesus als Erlöser und Herr, der seiner Gemeinde in größter Liebe und Nähe verbunden bleibt. Es geht nicht um allgemeine Zukunftstheorien, sondern um die Begleitung und Rettung der durch Jesus Erlösten.
344 Bousset S. 202.
5. Das erste Sendschreiben: nach Ephesus
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5. Das erste Sendschreiben: nach Ephesus I Übersetzung: 2,1-7 1 Dem Engel der Gemeinde in Ephesus schreibe: Das sagt der, der die sieben Sterne in seiner Rechten hält, der inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt: 2 Ich kenne deine Werke und deine Arbeit und deine Geduld, und dass du Böse nicht ertragen kannst. Und du hast diejenigen geprüft, die sagen, sie seien Apostel, und sindʼs nicht, und hast sie als Lügner gefunden. 3 Und du hast Geduld und hast um meines Namens willen Last getragen und bist nicht müde geworden. 4 Aber ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast. 5 So denke daran, wovon du abgefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke. Wenn aber nicht, komme ich über dich und rücke deinen Leuchter weg von seiner Stelle, wenn du nicht Buße tust. 6 Aber das hast du, dass du die Werke der Nikolaiten hassest, die ich auch hasse. 7 Wer Ohren345 hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Wer überwindet, dem346 werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes347 ist.
II Struktur Es handelt sich um einen Brief im formalen Sinne, beginnend mit Adressat („Dem Engel …“), Schreibbefehl und Absender („Das sagt …“). Inhaltlich steht an der Spitze des Briefes ein Lob (V. 2-3), dem ein Tadel (V. 4) und ein Bußruf folgt (V. 5). Einigermaßen überraschend folgt dann noch einmal ein Lob (V. 6). Der Schlussvers (V. 7) enthält einen Aufmerksamkeitsruf und eine Verheißung für die Überwinder. Der Inhalt des Briefes wird vom Auferstandenen vorgeschrieben („schreibe“, V. 1). Schreibbefehl und Diktat sichern, dass es sich um ein inspiriertes Schreiben handelt. Auffallend ist die Art, wie sich der Absender kennzeichnet. Statt eines Namens begegnen uns zwei Selbstprädikate. Diese Selbstprädikate greifen auf die Begegnung von 1,9-20 zurück. Auf diese Weise verknüpfen sich die Sendschreiben eng mit dem vorausgehenden Kapitel. Eine nähere Erläuterung des Adressaten erfolgt in der anschließenden Einzelexegese.
345 Wörtlich: „wer ein Ohr hat“. 346 Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 297,2; 466,5. 347 Das μου [mu] am Versende ist zu unsicher bezeugt, vgl. Aune S. 135.
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III Einzelexegese Das erste Sendschreiben richtet sich an den Engel der Gemeinde in Ephesus (V. 1). Wir haben oben argumentiert, dass es sich hier nicht um einen Engel im Sinne eines „himmlischen Führers“348 handelt, sondern um den menschlichen Gemeindeleiter bzw. Bischof. Aber nun steht eine neue Frage vor uns: Geht das Schreiben nur an ihn persönlich oder an die ganze Gemeinde, die er repräsentiert? Die Imperative im Singular könnten für Ersteres sprechen (μνημόνευε [mnemoneue] usw.). Aber der Aufmerksamkeitsruf Wer Ohren hat usw. und die Verheißung Wer überwindet usw. deuten doch auf eine Mehrzahl von Hörern und damit auf die ganze Gemeinde. Es gibt keine Stelle im Sendschreiben, die sich nur individuell vom Gemeindeleiter verstehen ließe. Ja, die Formulierung was der Geist den Gemeinden sagt (also allen sieben Gemeinden!) macht es zur Gewissheit, dass die ganze Gemeinde angesprochen ist, kulminierend freilich im Gemeindeleiter.349 Konkret handelt es sich um die Gemeinde in Ephesus. Ephesus war nach altkirchlicher Überlieferung der hauptsächliche Aufenthaltsort des Apostels und Lieblingsjüngers Johannes, seitdem dieser das Israelland verlassen hatte.350 Es ist deshalb sehr natürlich, dass das erste Sendschreiben gerade dorthin geht. Außerdem wird Ephesus im Auftrag Jesu Offb 1,11 als erste Gemeinde genannt. Um 95 n.Chr. hatte Ephesus schon eine interessante „christliche“ Geschichte: Wirkungsort des Paulus (Apg 19–20), Gemeindeleitung u.a. durch Timotheus (1Tim 1,3), Missions- und Arbeitsfeld von Apollos, Aquila und Priscilla (Apg 18,24ff), Adressat des Epheserbriefs (Eph 1,1). Ephesus bildete geradezu eine Art Drehscheibe für die urchristliche Mission. Zur Zeit des Johannes war Ephesus die Hauptstadt der römischen Provinz Asia, die größte Handelsstadt dieser Provinz. Es soll damals ca. 300 000 Einwohner gehabt haben. Heute ist es nur noch ein Ruinenfeld. In der Nähe liegt das türkische Seldschuk.351 Hemer nennt Ephesus „the most cosmopolitan of the seven“.352 Übrigens lag Ephesus unter allen sieben Gemeinden am nächsten zu Patmos. 348 So Schlatter BFchTh S. 21. 349 So schon Vitringa S. 60; Morris S. 59. 350 Irenäus Adv. haer. III, 1,1; Polykrates nach Euseb H.E. III, 31,3; V, 24,2; Clemens Al. nach Euseb H.E. III, 23,5ff; Euseb selbst H.E. III, 20,9. Vgl. Vitringa S. 59f. 351 Vgl. E.M.B. Green/T. J. Hemer, Art. Ephesus, GBL, 1, S. 319-321; Hemer S. 35ff; Aune S. 136ff; Jones S. 77. 352 Hemer S. 35.
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Schreibe: In allen sieben Sendschreiben steht dieses γράψον [grapson] am Anfang. Das sagt: Auch τάδε λέγει [tade legei] wiederholt sich in allen sieben Sendschreiben. „Es weist auf das Folgende hin.“353 Alttestamentlich entspricht ihm das [ ֹכּה ָאַמרkoh amar]. Der auferstandene Jesus bezeichnet sich selbst – und nicht etwa Gott den Vater oder den heiligen Geist – als Absender. Insofern bewahrheitet sich das Ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ [Apokalypsis Iesu Christu] von 1,1. Er kennzeichnet sich auf doppelte Weise: a) der die sieben Sterne in seiner Rechten hält, b) der inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt. Er knüpft also direkt an 1,12f.16 und 1,20 an. Von daher wissen wir, dass die Sterne die Bischöfe bzw. Gemeindeleiter und die Leuchter die Gemeinden symbolisieren. Eine neue Nuance kommt dadurch ins Spiel, dass Offb 2,1 das ἔχειν [echein] von Offb 1,16 durch κρατεῖν [kratein] („halten“) ersetzt. Er will beachtet sein, dass in κρατεῖν [kratein] immer das Element mitschwingt, Macht zu besitzen oder Besitzrecht zu haben.354 Wenn der Auferstandene von κρατεῖν [kratein] im Blick auf den Gemeindeleiter spricht, dann deutet er damit an, dass er die höchste Macht über Kirche und Gemeinde hat, dass beide ihm gehören und nicht den menschlichen Gemeindeleitern. Aber noch ein anderer Gedanke ist in Offb 2,1 wichtig: Das ist der Gedanke der unvergleichlichen Nähe und Liebe Jesu sowohl zum Gemeindeleiter als auch zur Gemeinde im Ganzen. Wie sehr sind wir als glaubende Menschen umgeben von seiner Liebe (inmitten)! Das Wandeln inmitten der sieben goldenen Leuchter bedeutet die Präsenz (Gegenwart) Christi in seiner Kirche und Gemeinde.355 In den Versen 2 und 3 spricht der Auferstandene eine erstaunliche Anerkennung für diese Hauptstadt-Gemeinde aus. Ich kenne deine Werke – οἶδα τὰ ἔργα σου [oida ta erga su] – steht am Beginn. Noch viermal wird sich dies innerhalb der Sendschreiben wiederholen (2,19; 3,1.8.15). Vermutlich ist „deine Werke“ eine Art Überschrift für das Folgende.356 „Werke“ (ἔργα [erga]) hat in der Offb eine eigenartige Färbung, die allerdings mit dem JohEv aufs Engste verwandt ist. „Werk“ ist hier alles, was ein Mensch hervorbringt, angefangen vom Glauben (vgl. Joh 6,28f) bis hin zu den äußeren Leistungen (vgl. Offb 14,13).357 Das Kennen oder „Wissen“ Jesu entspricht Joh 2,24f und bedeutet sein göttliches, alles durch353 354 355 356
Blass-Debrunner § 289. Vgl. W. Michaelis, Art. κράτος usw., ThWNT, III, 1938, S. 905ff; Behm S. 17. Aune S. 142. Aune S. 143; schon Bengel S. 222.
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schauendes Wissen. Welch ein Schreck mag durch die Gemeinde gegangen sein, als der Vorlesende diese Worte laut vorlas. Denn das deine bezieht sich, wie wir gesehen haben, nicht nur auf den Gemeindeleiter, sondern zugleich auf die ganze Gemeinde. Als erstes von den Werken erwähnt der Auferstandene deine Arbeit (τὸν κόπον [ton kopon]). κόπος [kopos] ist eigentlich „Mühe“, „Anstrengung“, „Plackerei“.358 Im NT bekommt es jedoch einen besonderen Sinn. Es ist „die christliche Arbeit an der Gemeinde und für die Gemeinde“,359 oft sehr speziell die Bemühung in der Mission.360 So spricht Paulus z.B. in 1Thess 1,3 von der „(missionarischen) Arbeit in der Liebe“. Der Auferstandene bestätigt also, dass in Ephesus wirkliche Gemeindearbeit geleistet und missionarisch gearbeitet wird. Deine Geduld wird als Nächstes anerkannt. ὑπομονή [hypomone] bleibt schwierig zu übersetzen, weil unser deutscher Begriff „Geduld“ leicht resignative Züge annimmt. Aber schon im griechischen Sprachgebrauch bezeichnet ὑπομονή [hypomone] (wörtlich „Drunterbleiben“) die Tugend des tapferen Standhaltens.361 In der LXX gibt es „das aushaltende und ausharrende Warten“ bis hin zu „Hoffnung“ und „Vertrauen“ wieder.362 Ganz ähnlich ist es im NT. Vgl. unsere Erklärung oben bei 1,9. Nach Haucks Beobachtung „preist die Apokalypse, das Buch der Märtyrerkirche, in 7-facher Wiederholung die ὑπομονή als die rechte und notwendige Haltung der Gläubigen in der letzten Stunde des alten Äons“.363 Diese Haltung reicht bis zur Standhaftigkeit in der Verfolgung. Nimmt man die Macht der einheimischen Religionen und das Vordringen des Kaiserkults gerade in Ephesus wahr, dann lobt es Jesus, dass die Gemeinde bisher diesem Druck standgehalten und sich der Anpassung entzogen hat. Ein hohes Lob für eine Hauptstadtgemeinde! Und dass du Böse nicht ertragen kannst, lobt Jesus als Drittes. Aber müsste er nicht das Gegenteil loben, nämlich dass die „Gemeinde Böse ertragen kann“? Erträgt nicht die Liebe „alles“ (1Kor 13,7)? Hier lauern in der deutschen Übersetzung zwei Missverständnisse: 1) bei δύνῃ [dyne] („du kannst“), 2) bei „ertragen“ (βαστάζειν [bastazein]). Zum Ersten: δύναμαι [dynamai] hat hier den Sinn wie oft das italienische non posso = „ich bringʼs nicht 357 Es ist also nicht richtig, wenn Bauer-Aland Sp. 623 Offb 2,2 auf die „Leistungen der Menschen“ einengt. 358 Vgl. F. Hauck, Art. κόπος usw., ThWNT, III, 1938, S. 827ff. 359 Hauck a.a.O. S. 828. 360 Vgl. wieder Hauck a.a.O. S. 829. 361 Vgl. F. Hauck Art. μένω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 585. 362 Hauck a.a.O. S. 587. 363 A.a.O. S. 592.
5. Das erste Sendschreiben: nach Ephesus
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über mich“, nämlich aus inneren Gründen. Der gelebte Glaube lässt also ein solches „Ertragen“ für Ephesus nicht zu. Das ist durchaus positiv und hat mit dem Mangel an Liebe nichts zu tun. Zum Zweiten: Ertragen hat hier den Sinn von „bei sich haben“.364 Ephesus sieht sich also nicht in die Lage, die offenkundig „Bösen“ weiterhin in der Gemeinde zu belassen – ebenso wenig wie es Paulus in 1Kor 5,1ff tun konnte, und ebenso wenig, wie es Jesus im Fall von Mt 18,17 tun konnte. Deshalb also das Lob für Ephesus! Für die heutigen Kirchen, vor allem für die protestantischen, liegt darin ein ernstes Problem. Denn wo sie überhaupt Gemeindezucht anwenden, schließen sie in der Regel diejenigen aus, die anders als die Mehrheit denken, aber nicht ָ [ ְרreschaim]), die gegen Gottes Gebote handie Bösen (κακοί [kakoi], שִׁעים deln. κακός [kakos] entspricht in Offb 2,2 dem alttestamentlichen [ ַרעra],365 dem Übertreten der Gebote. Man vergleiche dazu den Kampf der Johannesbriefe gegen die Verachter der Gebote (1Joh 2,3ff.7ff; 3,7ff.22ff; 5,3; 2Joh 6; 3Joh 11). Dem Zusammenhang nach muss es sich ferner um offenkundige Gesetzesübertretungen handeln (vgl. Mt 18,15ff; 1Kor 5,1ff). Als Viertes lobt der Auferstandene: Du hast diejenigen geprüft, die sagen, sie seien Apostel, und sindʼs nicht, und hast sie als Lügner gefunden. Das Auftreten der falschen Apostel im Neuen Testament bildet die Parallele zu den falschen Propheten im Alten Testament. Zahllos waren sie und blieben es bis zum heutigen Tag. Aber in den Ursprungszeiten der ersten christlichen Gemeinden war ihre Gefährlichkeit besonders groß. Die Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch machte in der Zeit vor der Festlegung des biblischen Kanons und des bischöflichen Leitungsamtes besondere Mühe. Es scheint, dass insgesamt die judaistischen Falschapostel überwogen.366 Wenn jemand sagen konnte, er sei Hebräer, Israelit, komme aus dem Israelland und habe gar Christus noch im Fleisch gesehen, so hatte er in den Gemeinden fast schon gewonnenes Spiel (2Kor 11,13.22ff; vgl. 5,16; Phil 3,2ff). Sind es also auch in Offb 2,2 Judaisten? Hemer hat lange und vorsichtig abgewogen, ob es eher „Judaizers“ oder eher „libertarians“ ähnlich den Nikolaiten wären.367 Am En-
364 365 366 367
Vgl. F. Büchsel, Art. βαστάζω, ThWNT, I, 1933, S. 597, Zeile 11ff. Vgl. W. Grundmann, Art. κακός usw., ThWNT, III, 1938, S. 477. Vgl. K.H. Rengstorf, Art. ἀποστέλλω usw., ThWNT, I, 1933, S. 446f. Hemer S. 36ff.
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de gibt er der libertinistischen Alternative den Vorzug.368 Obwohl wir normalerweise Colin Hemer folgen, dessen Arbeit bis heute bewundernswert ist, tun wir es an dieser Stelle nicht. Wir sehen in den falschen Aposteln von Offb 2,2 vielmehr Judaisten. Die Gründe dafür sind folgende: 1) Die Judenschaft hatte in Ephesus eine sehr starke Stellung369 und bot judaisierenden „Aposteln“ einen guten Ausgangspunkt. 2) Das Kommen eines Mannes wie Apollos nach Ephesus (Apg 18,24ff) beweist die Anziehungskraft, die Ephesus auf messianisch orientierte und schriftgelehrte Juden hatte. 3) Die Lebensumstände der Nikolaiten (V. 6) waren andere. 4) Und warum die Trennung des zweiten Verses vom sechsten Vers, wenn es doch um ähnliche Phänomene gegangen sein soll?370 Den Weg der Unterscheidung bildete für die ephesinische Gemeinde das Prüfen (πειράζειν [peirazein]). Hier war der Bischof besonders gefragt. Er konnte deshalb das Lob in besonderem Maße auf sich selbst beziehen. πειράζειν [peirazein] bedeutet hier „auf die Probe stellen“.371 Die Schilderung scheint vorauszusetzen, dass es sich um „angereiste Apostel“ handelt.372 „Prüfen“ als πειράζειν [peirazein] oder δοκιμάζειν [dokimazein] spielt auch sonst eine Rolle, z.B. 2Kor 13,5 (Selbstprüfung) oder 1Kor 14,29 (Verkündigung im Gottesdienst) oder im Blick auf das gesamte Gemeindeleben (1Thess 5,21) oder eben gerade bezüglich des Anspruchs von Personen (1Joh 4,1). Wie geschieht es? Durch Vergleich mit der Schrift und mit der überlieferten apostolischen Tradition (1Kor 15,1ff; Gal 2,2ff).373 Bei der Prüfung in Ephesus zeigte es sich, dass die Überprüften entgegen ihrer eigenen Aussage keine Apostel waren. Die Formulierung sie sindʼs nicht scheint darauf hinzudeuten, dass sich die Betreffenden immer noch in Ephesus oder dessen Nähe aufhalten. Deshalb die harte, aber richtige Brandmarkung: Sie sind Lügner. Zu V. 2 sind noch zwei Anmerkungen zu machen. Erstens zeigt sich hier, wie auch Leon Morris (S. 59f) betont, dass die Prophetie des Paulus vor den Ältesten von Ephesus in Apg 20,29 in Erfüllung gegangen ist. Zweitens widerlegen die Prüfungsverfahren, von denen oben die Rede war, die Annahme von der Leichtgläubigkeit antiker Menschen oder speziell der antiken Christen. Man hat den Eindruck, dass sie manchmal gewissenhafter nachforschten als die moderne Christenheit. 368 369 370 371 372 373
S. 40f. Vgl. wieder Hemer S. 37ff. Zum Grundsätzlichen vgl. Rengstorf a.a.O. Wie wir Aune S. 143. Vgl. H. Seesemann, Art. πεῖρα usw., ThWNT, VI, 1959, S. 23ff. Seesemann S. 28; Aune S. 144; Caird S. 30; Behm S. 18. Vgl. auch W. Grundmann, Art. δόκιμος usw., ThWNT, II, 1935, S. 258ff.
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Überraschenderweise lesen wir in V. 3 noch einmal: Du hast Geduld. Die „Geduld“ in V. 2 war auf die Vergangenheit bezogen. In V. 3 aber geht es um die Geduld, die jetzt bewiesen wird. Ob Johannes auf die Verfolgung anspricht, die ihn gegenwärtig nach 1,9 ebenfalls betrifft? Vgl. im Übrigen die Erklärung zu 1,9 und 2,2. Auch das Folgende scheint auf eine gegenwärtige Verfolgungssituation hinzudeuten: Du hast um meines Namens willen Last getragen. Der Sinn dieser Worte ist offenbar: Du hast bisher alle Last der Verfolgung auf dich genommen. ἐβάστασας [ebastasas] hat in V. 3 einen anderen Sinn als im V. 2. In V. 2 bedeutete es „bei sich haben“. Jetzt bedeutet es „unter einer Last ausharren“. Um meines (= Jesu) Namens willen zeigt an: Es geht in der Verfolgung und Bedrängnis um den erhöhten Jesus selbst. Sein Wirken soll in dieser Welt unmöglich gemacht werden. Aber für ihn hält die Gemeinde in Ephesus Stand. Vgl. die Wendung διὰ τὸ ὄνομά μου [dia to onoma mu] in der Verfolgungsparänese Mt 10,22; 24,9 parr; Joh 15,21. Dabei ist Ephesus nicht müde geworden. Auch die Lasten haben nicht dazu geführt, dass es erschöpft oder resigniert aufgab und seinen Bekenntnisstand verleugnete.374 Was für eine Gemeinde! Hätten wir doch heute überall „Ephesus“, wo die Christenheit des 21. Jahrhunderts so viele Verfolgungen und Verführungen erlebt! Doch über dem nächsten Vers steht das göttliche Aber (ἀλλά [alla] V. 4). Es gibt ein menschliches „Aber“, das sich oft genug dem göttlichen Willen in den Weg stellt. Es gibt jedoch auch ein göttliches „Aber“, das sich unserem Ungehorsam und unserer Gleichgültigkeit in den Weg stellt – zu unserem Heil. So ist es hier: Aber ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast (V. 4). Nach Lob und Anerkennung folgt hier der ernste Tadel.375 Getreu der bisherigen Auslegung beziehen wir das deine auf die ganze Gemeinde, und nicht nur auf den Gemeindeleiter bzw. Bischof. Was ist die erste Liebe? Elias Schrenk, dem wir eine der geistlich tiefgründigsten Auslegungen der Sendschreiben verdanken, antwortet: Es „ist die Liebe, die der Heilige Geist in ein Herz ausgießen konnte, das zerbrochen und völlig ausgezogen wurde von aller eigenen Gerechtigkeit“ (S. 16). Bengel versteht darunter die zeitlich „erste zarte Liebe“ (S. 224). Auch Vitringa beobachtet eine zeitliche Abfolge, wobei die jetzige ephesinische Kirche den früheren Eifer („fervidum studium“) in allen christlichen Werken verloren hat (S. 67). Wil374 Vgl. wieder F. Hauck, Art. κόπος usw., a.a.O. S. 828. Vitringa wies S. 65 auf die Erfüllung der Prophetie Jesu in Mt 10,22 hin. 375 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 394,4.
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helm Michaelis legt Offb 2,4 so aus: „die Liebe, die du früher besessen und bewiesen hast, besitzt und beweist du jetzt nicht mehr“.376 Schlatter gewichtet das zeitliche und sachliche Moment gleichermaßen: Die Liebe der Gemeinde ist „nicht mehr die, mit der sie ihren Christenstand begonnen haben“; sachlich handelt es sich um die Liebe, die „den Menschen gilt, auf ihr Wohl und Wehe achtet“ (S. 151f). Auch Zahn vereint beides: Es ist die Liebe aus dem Anfang des „Christenstandes“ oder der „Amtsführung“, und sachlich ist es die notwendige „Liebe zu Gott und Jesus sowie zu den Brüdern“ (S. 224). In der Tat hat der Begriff erste (πρώτη [prote]) einen Doppelcharakter. Er meint zeitlich die frühere Liebe und sachlich die den höchsten Rang einnehmende Liebe (vgl. 1Tim 5,12). Ferner sollte man nicht die Liebe zu Gott und die Liebe zu den christlichen Geschwistern oder Menschen gegeneinander ausspielen.377 Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen gehören biblisch zusammen – gerade in der johanneischen Literatur (1Joh 4,7ff), aber auch bei Paulus (Gal 5,6). Angesichts dieser umfassenden Bedeutung der „ersten Liebe“ ist der Bußruf in V. 4-5 umso gravierender. Wahr ist, was viele Exegeten beobachtet haben: Die Gemeinde und ihr Bischof sind keinesfalls lieblos.378 Sie haben im Vergleich zu anderen vielleicht noch viel Liebe! Aber die Tendenz geht abwärts: Die Liebe nimmt ab, und die „erste Liebe“ ist schon verlassen oder „aufgegeben“. Dieser Tendenz tritt Jesus als Herr und Haupt der Kirche entgegen. Setzt sie sich weiter durch, geht die Gemeinde zugrunde. Vitringa hat die Situation so formuliert: „Vitium hic notatur … unicum quidem sed grave“ (S. 67). Paulus urteilt in 1Kor 13,1ff ähnlich. Die erste Liebe wird sich immer daran zeigen, ob unser Herz noch für Jesus brennt und ob uns das Gewinnen anderer Menschen für das Himmelreich ein dringendes Anliegen ist. Vgl. Röm 12,11: „Seid brennend im Geist.“ Für die westlichen Kirchen, nicht zuletzt für die deutschen Kirchen, ist Offb 2,4 hochaktuell. Gefangen im Bemühen um (Selbst-)Erhaltung und (Selbst-) Sicherheit passiert zu oft das, was Schlatter als den Schaden von Ephesus beschreibt: Es „wurde die warme, zarte Liebe geschwächt und das herzliche Wohlwollen verdrängt, das nicht Werke schafft, nicht Erfolge hervorbringt, nicht Gesetze durchsetzt und Wahrheiten verteidigt, sondern den Menschen
376 Art. πρῶτος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 867. 377 Grotius und andere verengten den Begriff auf die curam circa pauperes, vgl. Vitringa S. 67. Wie wir Hemer S. 41; Grünzweig S. 73; P. Müller S. 8; Morris S. 60. Zu rigoristisch und gegen den Kontext Caird S. 31: „their hatred of heresy left no room for love“. 378 Vgl. Schlatter S. 151; Bengel S. 224.
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gilt, auf ihr Wohl und Wehe achtet, alle inwendig miteinander verbindet und zu gegenseitigem Dienst vereint“ (S. 151). Ich habe gegen dich: Sinngemäß muss hier ergänzt werden: „Ich habe dieses gegen dich.“379 Eigentlich eine schreckliche Formulierung! Der Auferstandene steht hier wirklich „gegen“ Ephesus, gegen seine geliebte Gemeinde und deren Bischof. Wie könnte da ein Segen weiterwirken? Einerseits bleibt es dabei, dass Jesus Christus sie liebt und sie erlöst hat (1,5), dass er bei ihnen ist und speziell den Gemeindeleiter in seiner Hand hält. Aber in dieser Verbundenheit mit Jesus Christus hat sich andererseits eine Spannung aufgebaut, die ihn sagen lässt: „Ich habe gegen dich …“ Doch der Tadel bleibt nicht für sich allein wie ein einsamer Fels in der Brandung. Vielmehr baut Jesus den Weg zurück zu einer erneuerten Liebe und Beziehung (V. 5): So denke daran, wovon du abgefallen bist (μνημόνευε οὖν πόθεν πέπτωκας [mnemoneue un pothen peptokas]) ist der erste Schritt zur notwendigen Erneuerung. Buße setzt Nach-denken, Erinnerung und Abklären voraus! Es gibt keine Buße im Rausch, auch nicht im Schmerzrausch oder Überwältigtsein der Gefühle! Buße ist eine Umstellung der Willensrichtung. Deshalb ein bewusster Vorgang, ja ein Sich-bewusst-Machen. All das spiegelt sich in dem denke daran. Das griechische μνημονεύειν [mnemoneuein] geht auf das hebräische [ ז ַָכרsachar] zurück380 und heißt wie dieses „sich erinnern“, „gedenken“. οὖν als konsekutive Konjunktion deckt die Konsequenz aus V. 4 auf.381 Wovon du abgefallen bist (πόθεν πέπτοκας [pothen peptokas]): Wörtlich „von wo du herabgefallen bist“. Wilhelm Michaelis hat recht: „Mit πόθεν (wovon) wird an den früheren hohen Stand der Gemeinde erinnert“.382 πίπτειν [piptein] hat hier den Sinn von „sündigen“, „schuldig werden“.383 Gemeindeleiter und Gemeinde müssen sich also an die Zeit der ersten Liebe erinnern. Sie bildet das Modell, zu dem sie zurückfinden müssen. Aber wie? Jesus nennt dazu zwei weitere Schritte. Der erste Schritt heißt: Tue Buße (μετανόησον [metanoeson]). Im neutestamentlichen Wort für „Buße tun“, μετανοεῖν [metanoein], schwebt immer ein für unsere Ohren erstaunliches Element. Dieses μετανοεῖν [metanoein] bedeutet ja wörtlich „seinen Sinn ändern“, „anderen Sinnes werden“.384 Der νοῦς [nus], d.h., die gesamte Denk- und Willensrichtung und damit die ganze Le379 380 381 382 383 384
Vgl. Blass-Debrunner § 394,4. Vgl. O. Michel, Art. μιμνῄσκομαι usw., ThWNT, IV, 1942, S. 685. Blass-Debrunner § 451. Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 166. W. Michaelis a.a.O. S. 164ff. J. Behm, Art. νοέω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 973.
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bensrichtung muss verändert werden. Das ist mehr als eine Gefühlsaufwallung. Vielmehr ist im Griechischen das rationale Element stark betont. Man muss aber sofort das Hebräische hinter dem griechischen μετανοεῖν [metanoein] mithören, nämlich [ שׁוּבschuv] (umkehren). Und dieses [ שׁוּבschuv] bedeutet „eine alle Bezirke des menschlichen Lebens umfassende neue Stellung des Menschen zu Gott“,385 also eine völlige Lebensveränderung. Sie vollzieht sich in der Abkehr von der bisherigen verkehrten Lebensweise und in der Hinkehr zum neuen Leben mit Gott. So viel wird Ephesus zugemutet – darunter geht es nicht!386 Der zweite Schritt heißt: … und tue die ersten Werke. Wie in V. 2 bedeutet Werke auch hier alles, was der Mensch hervorbringt. Paulus würde formulieren: „Bringe dieselben Früchte wie bei deiner ersten Liebe.“ Es geht also nicht nur um die Grundsatzentscheidung einer völligen Lebensveränderung, sondern auch um das daraus folgende dauerhafte praktische Verhalten, den kontinuierlichen Wandel, oder wie Jesus in Lk 8,15 formuliert: um das „Frucht bringen in Geduld“. Insofern hat Johannes Behm recht: „Umkehren heißt nicht nur einmal seinem Leben eine andere Richtung geben, sondern sich praktisch immer wieder neu ausrichten auf das Ziel durch radikale Beseitigung des Bösen.“387 Der Auferstandene gibt seinem Bußruf Nachdruck durch eine sehr ernste Warnung: Wenn aber nicht, (oder: Andernfalls388) komme ich über dich und rücke deinen Leuchter weg von seiner Stelle, wenn du nicht Buße tust. Hier ist einer der Punkte, an dem man zwei Übersetzungsmöglichkeiten gleichberechtigt nebeneinanderstellen muss. Entweder heißt es zu Anfang: „Ich komme zu dir“ oder ich komme über dich.389 Sowohl das griechische ἔρχομαι [erchomai] als auch das hebräische [ בואvo] kann ein „kommen“ im feindlichen Sinn oder zum Gericht bedeuten („über dich“ u.ä.). Beide Übersetzungen treffen sich jedoch am gleichen Zielpunkt: Der Auferstandene kommt hier zum Gericht, und zwar zu einem speziellen Gericht, sehr wahrscheinlich noch innerhalb des Geschichtsverlaufs.390 Was geschieht dann? Ich rücke deinen Leuchter weg von seiner Stelle (κινήσω τὴν λυχνίαν σου ἐκ τοῦ τόπου αὐτῆς [kineso ten lychnian su ek tu topu autes]), sagt Jesus. Das 385 386 387 388 389 390
E. Würthwein im J. Behm / E. Würthwein, Art. νοέω, a.a.O., S. 980f. Vgl. J. Behm a.a.O. S. 999. A.a.O. Blass-Debrunner § 376,5. Blass-Debrunner § 192,1. Es ist nicht die Wiederkunft Jesu gemeint, wie Joh. Schneider annimmt (Art. ἔρχομαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 671) oder Bengel S. 227.
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bedeutet noch nicht das ewige Verderben. Es bedeutet auch noch nicht, dass er den „Stern“ = Gemeindeleiter/Bischof aus seiner Hand fallen lässt oder die Gemeinde aus seiner Kirche ausschließt. Man muss die gewählten Worte genau beachten. Es ist also zu schroff, wenn Johannes Schneider das Urteil über die Gemeinde von Ephesus in die Worte zusammenfasst: „Sie wird von Christus verstoßen werden“.391 Wohl aber bedeuten die Worte des Auferstandenen, dass Ephesus seine historische Position („seine Stelle“) räumen muss. Es taugt nicht mehr, Leuchter = „Licht der Welt“ an diesem Platz zu sein. Wenn du nicht Buße tust: Im Falle der Buße bleibt es ein Leuchtturm Jesu Christi in Asien, an seiner historischen Stelle.392 Man hat oft darüber nachgedacht, ob und wie Jesu Gerichtsworte gegen Ephesus im Laufe der Kirchengeschichte in Erfüllung gegangen sind.393 Es wird gut sein, hier zu unterscheiden. Fünfzehn Jahre nach der Apokalypse stellte der syrische Bischof Ignatius von Antiochien, der in Rom als Märtyrer starb, der Gemeinde von Ephesus ein hervorragendes Zeugnis aus. Unter sieben Briefen, die von ihm erhalten sind (sog. Ignatianen), befindet sich nämlich auch ein Brief an Ephesus. Dort heißt es u.a., Ephesus sei es wert, glücklich gepriesen zu werden (ἐκκλησία ἀξιομακάριστος [ekklesia axiomakaristos]), und lasse „Glauben und Liebe in Jesus Christus“ (κατὰ πίστιν καὶ ἀγάπην ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ [kata pistin kai agapen en Christo Iesu]) erkennen.394 Demnach scheint Ephesus Buße getan zu haben.395 Dazu stimmt, dass Ephesus bis ins 5. Jh. n.Chr. eine große Bedeutung für die Christenheit behalten hat. Aber nun muss man auch die andere Seite sehen: Heute ist Ephesus restlos verschwunden. Es gibt nicht einmal einen türkischen Nachfolgeort. Außerdem ist kein anderes Land des Orients, weder Ägypten noch Syrien, weder Palästina noch Irak, so vollkommen entchristlicht und so völlig islamisiert worden wie die ehemalige Provinz Asien. Daraus entnehmen wir, dass die Worte des Auferstandenen über die konkrete Gemeinde hinaus auch einen typologischen Sinn haben, dass sie sich also auch auf spätere Gemeinden und Situationen in der Kirchengeschichte beziehen lassen.396 Doch dazu unten mehr.
391 Art. κινέω ThWNT, III, 1938, S. 718. Ähnlich Schlatter S. 152; Morris S. 61; Behm S. 18. 392 Schon Vitringa S. 68 berichtet vom Streit der Ausleger über diese Stelle. Wie wir Zahn S. 225; Brütsch S. 117; Grünzweig S. 75f; Hemer S. 53. 393 Vgl. Zahn a.a.O.; Frey S. 32; Prigent S. 42. 394 Ad Eph Proömium; I,1. Vgl. Hefele S. 118. 395 Ebenso Bengel S. 230f. 396 Behm S. 18.
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Wie in II. angemerkt überrascht uns das Lob in V. 6 nach dem Tadel von V. 5. Wenn aber der Auferstandene noch einmal ein Lob ausspricht, dann kann er schwerlich in V. 5 die völlige Vernichtung androhen! Aber das hast du, dass du die Werke der Nikolaiten hassest, die ich ָ [sane], bedeutet die entauch hasse (V. 6). Hassen, μισεῖν [misein], hebr. שׂנ ֵא schlossene, überlegte Ablehnung. Man darf hier das „Hassen“ nicht an Hassoder Rachegefühlen orientieren. Vielmehr geht es um eine religiöse und moralische Entscheidung. Gehasst in diesem Sinne werden nicht die Nikolaiten als Menschen,397 sondern ihre Werke, das heißt ihr Tun und ihr Verhalten. Schon im AT hassen die Frommen das Böse (z.B. Jes 33,15; Am 5,15; Ps 119,104).398 Typisch ist für diesen Sprachgebrauch Ps 139,21f (LXX 138,21f): οὐχὶ τοὺς μισοῦντάς σε, κύριε, ἐμίσησα καὶ ἐπὶ τοῖς ἐχθροῖς σου ἐξετηκόμην; τέλειον μῖσος ἐμίσουν αὐτους, εἰς ἐχθροὺς ἐγένοντό μοι [uchi tus misuntas se, kyrie, emisesa kai epi tois echthrois su exetekomen; teleion misos emisun autus, eis echthrus egenonto moi]. So entsteht Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott und besonders mit dem Auferstandenen, der ja mitten unter seinen Gemeinden wandelt (1,13). An diese Gemeinschaft, die trotz allen Tadels (V. 5) auch jetzt in der Gegenwart noch fortbesteht, erinnert Jesus mit den Worten: die (= die Werke) ich auch hasse. Das göttliche „Hassen“ – das sei noch einmal betont – ist ja ebenfalls kein Menschenhass, sondern die entschiedene, radikale Ablehnung der Sünde.399 Doch wer sind die Nikolaiten? Was sind ihre Werke? Einen Schritt weiter kommen wir durch Offb 2,15. Dort wird die „Lehre der Nikolaiten“ (διδαχὴ τῶν Νικολαϊτῶν [didache ton Nikolaiton]) verurteilt, und zwar im Sendschreiben nach Pergamon. Man kann also sagen: a) Die Nikolaiten haben von Ephesus bis Pergamon, also fast an der ganzen Küste West-Kleinasiens, eine ernsthafte Bedrohung für die Christengemeinden dargestellt; b) sie besaßen eine eigene Lehre und Theologie mit Konsequenzen für die ganze Lebensführung. Doch dann beginnt schwieriges Terrain. Um 180 n.Chr. gab Irenäus, Bischof von Lyon, aber der Herkunft nach ein Kleinasiate und Schüler von Apostelschülern, folgende Beschreibung der Nikolaiten: „Die Nikolaiten haben als Lehrer Nikolaos, einen von den sieben, welche zuerst von den Aposteln zu Diakonen geweiht wurden.400 Ihr Leben ist zügellos. Sie lehren, es habe nichts zu bedeuten, wenn man ehebreche oder von den Götzenopfern esse.“401 Es ist kaum anzunehmen, dass ein Theologe aus der betreffenden 397 398 399 400
Ebenso Morris S. 61. Vgl. O. Michel, Art. μισέω, TRWNT, IV, 1942, S. 688ff. Vgl. wieder Michel a.a.O. S. 695. Apg 6,1ff.
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Region, der ca. 90 Jahre nach Johannes schreibt und noch zum Umkreis der kleinasiatischen Schule gehört, völlig falsche Informationen liefert.402 Zusammen mit Colin Hemer u.a.403 nehmen wir an, dass die Nikolaiten jedenfalls Libertinisten (sich über die Gebote hinwegsetzend) waren. Daneben darf ein judaistisches Element nicht übersehen werden. Denn Irenäus stellt sie in einen Zusammenhang mit den Eboniten404, die auf ihren jüdischen Charakter Wert legten. Ca. 150 Jahre nach Irenäus, um 330 n.Chr., liefert uns auch Eusebius von Cäsarea aufgrund seiner Quellenstudien eine Beschreibung der Nikolaiten.405 Er beruft sich auf Clemens Alexandrinus (ca. 200 n.Chr.)406 und lässt die Nikolaiten tatsächlich mit dem Diakon Nikolaos beginnen, der in Apg 6,5 ein „Proselyt aus Antiochia“ genannt wird. Euseb zitiert wie Clemens Nikolaos mit den Worten: „Man muss das Fleisch verachten.“ Das deutet auf einen zugespitzten, aber doch nicht echten Paulinismus, der sehr wohl in libertinistische Freiheit umschlagen konnte.407 Es fällt auf, dass Euseb wie Clemens den Nikolaos persönlich in Schutz nimmt und ihm und seiner Familie ausdrücklich attestiert, sie seien „unverdorben geblieben“. Ja, er berichtet sogar vom nachgewählten Apostel Matthias, dieser habe dasselbe gelehrt wie Nikolaos. Auch Irenäus hat ja keineswegs Nikolaos selbst beschuldigt, er sagt nur, die Nikolaiten hätten ihn als Lehrer in Anspruch genommen. Man muss außerdem beachten, dass die Johannesoffenbarung ca. 60 Jahre nach den Ereignissen von Apg 6 geschrieben wurde! Im Übrigen kennzeichnet Euseb die Nikolaiten so: „Sie trieben in schamloser Weise Unzucht.“ Die Auskünfte der Quellen kann man wie folgt zusammenfassen: 1) Die Nikolaiten beriefen sich auf ihre Herkunft von Nikolaos, einem der sieben Diakone von Apg 6,5. 2) Inwieweit Nikolaos tatsächlich so lehrte und lebte, wie sie es vorgaben, muss offenbleiben.408 Evtl. war Nikolaos gar kein „Nikolait“. 3) Die Nikolaiten waren Libertinisten, d.h., sie reklamierten die Frei401 Adv. haer. I, 26,3. Vgl. III, 11,1. Ganz ähnlich um 200 n.Chr. Hippolyt (Philosophumena VII, 36) und Tertullian (Praescr Haer 33,10; Adv. Marc I, 29,2; De Pudicitia 19,4), die wohl von Irenäus oder jedenfalls kleinasiatischer Tradition abhängig sind. Vgl. Bousset S. 206. 402 Viel zu skeptisch Caird S. 31; Bousset S. 206. 403 Vgl. Hemer S. 39.91ff. 404 Adv. haer. I, 26, 2-3. 405 H.E. III, 29,1-4. 406 Strom III, 25f. 407 Auch Hemer S. 94. 408 So auch Ritt S. 26. Lohse z.B. nimmt an, dass wir den Gründer gar nicht mehr kennen (S. 25). Ebenso Bousset S. 207. Bousset und Prigent (S. 43) rechnen mit einem lediglich „fingierten Namen“.
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heit des Fleisches und setzten sich über die Gebote hinweg. 4) Sie besaßen eine eigene Theologie und Lehre, die für Christen (und Juden?) verführerisch war. 5) Allerdings verschwanden sie nach einer Bemerkung von Euseb rasch wieder.409 6) Vermutlich sind die falschen Apostel von Offb 2,2 keine Nikolaiten gewesen. 7) Ebenso vorsichtig sollte man bleiben, was eine Gleichsetzung mit den „Bileamiten“ in Offb 2,14 angeht.410 Der siebte Vers, der das erste Sendschreiben schließt, besteht aus zwei Hälften: a) einem Aufmerksamkeitsruf,411 b) einem Überwinderspruch.412 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: So lautet der Aufmerksamkeitsruf. So hat auch der irdische Jesus gesprochen (Mt 11,15; 13,9; 13,43; Mk 4,9; 4,23; Lk 14,35). Mit Offb 2,7a sind wir nahe an der synoptischen Tradition.413 Die Formulierung ist ganz alttestamentlich und jüdisch. Mit den „Ohren“, die uns der Schöpfer gab, verbindet sich die Verantwortung für das richtige Hören (vgl. Prov 20,12; Jes 6,9f; 50,4f).414 Deshalb ist das Ohr z.B. der Sitz der Einsicht.415 Interessant ist jetzt, dass die Sendschreiben die „Ohren“ treffen sollen.416 Damit wird noch einmal deutlich, dass diese Schreiben in den Gemeinden laut vorzulesen waren. Deutlich wird außerdem durch den Plural, dass jedes dieser Schreiben der ganzen Kirche gilt.417 Denn siebenmal begegnen wir denselben Worten in Offb 2–3: was der Geist den Gemeinden (!) sagt. Der Geist ist der Geist des Vaters und Jesu Christi, also ganz trinitanisch gedacht. Deshalb kann kein Missverständnis entstehen, als ob etwa der „Geist“ eine neue Offenbarungsquelle neben Jesus Christus wäre. Dieses Missverständnis hat auch das Johannesevangelium auf seine Weise ausgeschaltet (Joh 16,13-15). Dass jetzt der „Geist“ expliziert genannt wird, hängt damit zusammen, dass es ja um die Ohren und damit um die Einsicht geht.
409 H.E. III, 29,4. 410 Allerdings ist es verführerisch, das griechische „Nikolaos“ (= Volksbesieger) mit dem hebräischen „Balaam“ (= Herr über das Volk) zu verbinden. Vgl. Hemer S. 87ff. Eine zu rasche Gleichsetzung bei R. Knopf, Art. Häretiker des Urchristentums, RGG, 2, 1. Aufl., 1910, Sp. 1785; Bousset S. 206; Aune S. 149; Wikenhauser S. 38; Ritt S. 25; Gnilka S. 404. Ähnlich wie wir Brütsch S. 123. Hinter „Balaam“ kann man auch עם ַ [ ָבַּלאbala am] = „der ein Volk frisst/verdirbt“ vermuten. 411 Oder „Weckruf“ (Lohse S. 26) bzw. „Weckformel“ (Horst, s. Anm. 908, S. 551). 412 Manchmal „Siegerspruch“ genannt, so Wikenhauser S. 38. 413 Vgl. Wikenhauser S. 38. 414 Vgl. hier und im Folgenden J. Horst, Art. οὖς usw. ThWNT, V, 1954, S. 543ff. 415 Horst a.a.O. S. 546. 416 Vgl. Horst S. 557. 417 Bousset S. 207; Wikenhauser S. 38; Lohse S. 26.
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Mit Recht hat Bengel darauf aufmerksam gemacht,418 dass Offb 2,7 die Freiwilligkeit und den menschlichen Willen zur Buße voraussetzt. Hier gibt es weder Zwang noch Prädestination. Was sagt der Geist bzw. Jesus Christus allen Gemeinden? Wer überwindet, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist. Nach Blass-Debrunner hat τῷ νικῶντι [to nikonti] hier perfektischen Sinn: „wer Sieger ist“, „überwunden hat“.419 Es wird also auf das Ende des irdischen Glaubenslaufes geblickt, ähnlich wie es Paulus in 2Tim 4,7 oder Jesus selbst in Joh 19,30 tut. νικᾶν [nikan] ist im NT kein einfaches Wort.420 Da „im irdischen Leben ein zeitliches Unterliegen und Obsiegen“ eingeschlossen ist, ziehen wir wie Otto Bauernfeind421 die Übersetzung überwinden dem vollmundigen „siegen“ vor. Bauernfeind macht auch mit Recht auf den neutestamentlichen Kontext des Wortes aufmerksam, woraus sich ergibt, dass ein solches Überwinden nur durch die Macht und Liebe des Christus möglich ist.422 Aber nun das Erstaunliche: Ein solches Überwinden in Kraft und Macht des Christus wird der Gemeinde in Ephesus ausdrücklich angeboten! Wir müssen sogar noch weitergehen und sagen: Es wird jedem glaubenden Leser und Hörer angeboten. Der verheißene Lohn lautet: Ich werde ihm zu essen geben vom Baum des Lebens. Was Adam verboten wurde (Gen 3,22), wird dem Überwinder erlaubt. Die Hinzufügung der im Paradies Gottes ist macht klar, dass wir es mit dem „Baum des Lebens“ von Gen 2,9 zu tun haben. Dieser Baum des Lebens hat in den biblischen und frühjüdischen Schriften eine faszinierende Geschichte. In Gen 2,9 heißt er [ ֵעצ ַהַחיּ ִיםez hachajjim], nach der LXX τὸ ξύλον τῆς ζωῆς [to xylon tes zoes]. Das hebräische [ ֵעצez] heißt „Baum“ oder kollektiv „Bäume“ oder „Holz“. Was also ist in Gen 2,9 gemeint? Das Miteinander von „Baum des Lebens“ und „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ schließt eine kollektive Deutung im Sinne von „Bäume“ oder „Holz“ aus. Es geht, wie z.B. Claus Westermann und Helmer Ringgren festhalten,423 jeweils um einen einzelnen Baum. Damit ist eine enge inhaltliche Berührung mit den „Bäumen des Lebens“ (ebenfalls griechisch 418 Bengel S. 227. Übrigens schon der Sache nach Irenäus Adv. haer. IV, 37. 419 § 322,1. 420 Vgl. hier und im Folgenden O. Bauernfeind, Art. νικάω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 941ff. 421 Bauernfeind a.a.O. S. 943f. 422 A.a.O. 423 Westermann S. 288ff; H. Ringgren, Art. עצ ֵ , ThWAT, VI, 1989, Sp. 291f.
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ξύλον ζωῆς [xylon zoes]) in Offb 22,2 allerdings nicht ausgeschlossen. Westermann und Ringgren nehmen an, in Gen 2,9 habe es sich ursprünglich nur um einen Baum gehandelt.424 Diese These ist jetzt wieder höchst fragwürdig geworden.425 Auch die Geschichte des Begriffs spricht dafür, in Gen 2,9 zwei Bäume anzunehmen, von denen einer unser „Baum des Lebens“ ist. Als lebensspendender Baum auch im geistlichen Sinne spielt er eine Rolle in den biblischen Proverbien (3,18; 11,30; 13,12; 15,4).426 Danach kennzeichnet der „Baum des Lebens“ die eschatologische Erlösung in Test Lev 18,10f427; äth Hen 24,4–25,7428; PsalSal 14,3429; 4Makk 18,16430; 4Esr 8,52431. In den Testamenten der Zwölf Patriarchen findet sich sogar eine Formulierung, die Offb 2,7 nahesteht: „Er wird den Heiligen vom Baum des Lebens zu essen geben“ (Test Lev 18,11432). Aufgrund der Auslegungs- und Begriffsgeschichte müssen wir annehmen, dass das Sendschreiben mit der Verheißung vom „Baum des Lebens“ auf Verständnis im Kreis der Leser und Hörer rechnen durfte. Es geht kurz gesagt um die Gabe des ewigen Lebens. Mit dem Paradies Gottes (ὁ παράδεισος τοῦ θεοῦ [ho paradeisos tu theu]) ist nicht das vergangene Paradies von Gen 2 gemeint.433 Vielmehr ist die Rede vom endzeitlichen Paradies,434 also der neuen Schöpfung. Nur in diesem Sinne kann man Jesus als den „Wiederbringer des Paradieses“ bezeichnen.435 Interessant ist, dass das Wort „Paradies“ im NT nur dreimal vorkommt (Lk 23,43; 2Kor 12,4; Offb 2,7). Die Zukunftshoffnung des NT und der frühesten Christen war also nicht in erster Linie auf ein „Paradies“ gerichtet. Warum? Mit Joachim Jeremias sehen wir den Grund darin, dass die Hoffnung nicht auf das Äußere abgelenkt werden sollte: „Nicht auf die Seligkeit des Paradieses kommt es an, sondern auf die Wiederherstellung der … Gemeinschaft mit Gott“.436 Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum Islam. Sprachlich 424 A.a.O. 425 So geht Joachim Schaper 2002 tatsächlich von zwei Bäumen in Gen 2,9 aus (RGG, 5, 4. Aufl., 2002, Sp. 149). 426 Vgl. Westermann a.a.O.; Schaper a.a.O. 427 J. Becker hält dies für jüdisch und nicht für christlich (JSHRZ, III, 1, 1974, S. 61 zu 18,10). 428 Von S. Uhlig auf ca. 200–150 v.Chr. angesetzt (JSHRZ, V, 1984, S. 494). 429 Von S. Holm-Nielsen um 50 v.Chr. angesetzt (JSHRZ, IV, 2, 1977, S. 58). 430 Zwischen 50 v.Chr. und 50 n.Chr. angesetzt. 431 Von J. Schreiner um 100 n.Chr. angesetzt (JHSRZ, V, 4, S. 301). 432 Nach der Übersetzung von Jürgen Becker a.a.O. S. 61. 433 Gegen Bousset S. 207. 434 So auch Wikenhauser S. 38; Jeremias (s. folg. Anm., a.a.O. S. 767). 435 So J. Jeremias, Art. παράδεισος, ThWNT, V, 1954, S. 770. 436 A.a.O. S. 771.
5. Das erste Sendschreiben: nach Ephesus
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stammt der Begriff παράδεισος [paradeisos] aus dem Persischen437 und bezeichnet ursprünglich die Umwallung oder den Park. Die jüdischen Übersetzer der LXX haben παράδεισος [paradeisos] dann für den „Garten“ Eden benutzt (Gen 2,8ff). Um den „Gottesgarten“ gegen alle irdischen Gartenanlagen abzusetzen, gebrauchten die Juden den erweiterten Begriff „Paradies Gottes“ (παράδεισος τοῦ θεοῦ [paradeisos tu theu]).438 Ewiges Leben also in der neuen Schöpfung, die Offb 21–22 beschreibt: Das ist die Verheißung für die Überwinder. Dass der Baum des Lebens in der typologischen oder allegorischen Auslegung der frühen Christen439 auf Christus oder das Kreuz gedeutet wurde, ist sachlich durchaus zutreffend.440 S. Prassede mit den Mosaiken des 9. Jh. und S. Clemente mit den Mosaiken von ca. 1200 in Rom sind dafür wunderbare Beispiele. Am Ende des ersten Sendschreibens müssen wir noch einmal die Frage aufgreifen: Haben die Sendschreiben über die konkrete Gemeinde hinaus auch typologische Bedeutung, sodass sie auf andere bzw. spätere Gemeinden anwendbar sind? Die Formulierung „was der Geist den Gemeinden sagt“ deutet an, dass die gestellte Frage grundsätzlich mit einem Ja zu beantworten ist. Wir suchen dies noch genauer zu erfassen: 1) Den Ausgangspunkt muss immer die konkrete historisch fassbare Gemeinde bilden. Es geht nicht an, sich durch allzu rasche typologische oder allegorische Deutung aus der Aufgabe des historischen Verständnisses zu flüchten. 2) Was Ephesus gesagt wurde (oder einer andern von den sieben Gemeinden), gilt grundsätzlich auch für die andern kleinasiatischen Gemeinden, ja für die ganze damalige Christenheit. 3) Ebenso wie wir das übrige NT auf die heutige Christenheit beziehen, so können und müssen wir auch die Sendschreiben auf die heutige Christenheit beziehen (1Kor 10,6; Hebr 1,1; Offb 1,1-3; 22,6-20441). 4) Die Sendschreiben bezeichnen keine aufeinanderfolgenden kirchengeschichtlichen Epochen, wie man manchmal glaubte,442 sondern gleichzeitige Verhältnisse in der christlichen Kirche. Der Geist spricht gleichzeitig und im selben Buch zu den sieben Gemeinden.
437 Blass-Debrunner § 6,2; Jeremias a.a.O. S. 763. 438 Vgl. Ez 31,8 הים ִ ֹ [ ַגן־ֱאלgan-elohim] (LXX ὁ παράδεισος τοῦ θεοῦ [ho paradeisos tu theu]). 439 Vgl. Oda Hagmeyer in RAC, II, 1954, Sp. 25ff, sowie Justin Dial 86,1; Ignatius ad Tralles 11; Clemens Al. Strom V, 72,2f; Augustin DCD XIII, 21. 440 Ebenso Hemer S. 42ff. 441 Ebenso Behm S. 18. 442 Vgl. die Rede von einem „philadelphischen“Zeitalter. Guthrie S. 975: Das ginge gegen „sound exegetical principles“.
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IV Zusammenfassung 1. Das erste Sendschreiben nach Ephesus zeigt eine bewundernswert aktive Gemeinde. 2. Es zeigt auch die Notwendigkeit, sich von Irrlehren und falschen Ansprüchen zu distanzieren und zu trennen. 3. Es prägt uns aber unvergesslich ein, dass der Auferstandene nach der „ersten Liebe“ fragt. Ohne dass unsere erste, höchste Liebe Gott und Jesus Christus gilt, kann weder die Kirche noch der einzelne Christ ein Zeugnis in dieser Welt sein. 4. Es kommt wirklich darauf an, dass wir aus Fehlwegen und Sünden wieder zurückfinden zum dreieinigen Gott und dass wir „Überwinder“ werden. 5. Wo das nicht geschieht, trifft uns das göttliche Gericht. 6. Die Verheißung, die uns Jesus gibt, wenn wir in lebendigem Glauben mit ihm verbunden bleiben, ist einzigartig: ewiges Leben in der neuen Schöpfung Gottes.
6. Das zweite Sendschreiben: nach Smyrna I Übersetzung, 2,8-11 8 Und dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und wieder lebendig wurde:443 9 Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut – du bist aber reich – und die Lästerung aus dem Kreis derer, die sagen, sie seien Juden, sindʼs aber nicht, sondern eine Synagoge des Satans. 10 Fürchte dich vor keinem, das du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird welche von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr geprüft werdet, und ihr werdet Bedrängnis haben zehn Tage lang. Sei getreu bis an den Tod, dann werde ich dir die Krone des Lebens geben. 11 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Wer überwindet, dem wird vom zweiten Tod kein Schaden geschehen.
II Struktur Das Schreiben nach Smyrna ist wesentlich kürzer als das Schreiben nach Ephesus. Dennoch zeigt es in der Grundform denselben Aufbau: Adressat – Schreibbefehl – Absender – Lob – Ermahnung – Aufmerksamkeitsruf – Überwinderspruch.
443 Ingressiver Aorist. Aune S. 157.
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An einer Stelle allerdings besteht ein gravierender Unterschied: Das Schreiben nach Smyrna enthält keinen Tadel. Smyrna und Philadelphia (3,7ff) sind die beiden einzigen Sendschreiben der Offb ohne Tadel. Dafür ist allerdings auch die Verheißung im Überwinderspruch relativ kurz. Gleich geblieben ist die Art, wie sich der Absender kennzeichnet: durch zwei Selbstprädikate anstelle eines Namens. Neu ist der starke Bezug auf die ortsansässige jüdische Gemeinde. Ihr muss unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Gerade deshalb ist es auffällig, dass das Smyrna-Sendschreiben relativ wenige alttestamentliche oder frühjüdische Bezüge enthält.444
III Einzelexegese Der Schreibbefehl (2,8) entspricht dem nach Ephesus (2,1). Vgl. unsere Erklärung dort. Nur das καί [kai] am Versanfang ist neu. Es zeigt, dass gemäß 1,11 alle sieben Gemeinden als gemeinsame Adressaten des Buches einen Verbund bilden. Zu τάδε λέγει [tade legei] (Das sagt, V. 8), vgl. wieder 2,1. „Der Erste und der Letzte“ entspricht genau 1,17. Wie dort stellt sich der Auferstandene also in seiner göttlichen Majestät und Vollmacht vor.445 Interessant bleibt außerdem die Wendung der tot war und wieder lebendig wurde (ὃς ἐγένετο νεκρὸς καὶ ἔζησεν [hos egeneto nekros kai ezesen]). Es geht ja um eine geschichtliche Aussage wie im Apostolicum. Die zentrale Position der Auferstehung in der Christologie wird hier von Neuem deutlich. Dabei handelt es sich wirklich um ein „Kernstück des christlichen Kerygmas“.446 ἔζησεν [ezesen] darf dabei nicht wie das Wiederaufleben des Lazarus in Joh 11 verstanden werden. Sondern es geht um das Lebendigwerden, das durch die Schöpfungstat des Vaters ermöglicht wurde, der den Sohn so aus den Toten auferweckte, wie es schon 1Sam 2,6 beschreibt. „Der HERR tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf“ (vgl. Ez 37,1ff; Röm 1,4). Doch was wissen wir von Smyrna? Smyrna war schon um 1000 v.Chr. eine griechische Stadt. Eine besondere Blüte erlebte sie, als die Römer Kleinasien in ihr Imperium eingliederten. Gelegentlich nannte man sie „eine der schöns-
444 Vgl. Hemer S. 61. 445 πρωτότοκος [prototokos] in HS A hat keinen Anspruch auf Ursprünglichkeit, vgl. Aune S. 157. 446 R. Bultmann, Art. ζάω usw., E. Der Lebensbegriff des NT, ThWNT, II, 1935, S. 866. Hemers Vermutung (S. 57ff. 76), basierend auf Ramsay, dass das Wiederaufleben von Smyrna nach Zeiten des Niedergangs zur Formulierung von 2,8 beitrug, ist zweifelhaft.
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ten Städte Kleinasiens“ während der römischen Herrschaft.447 Smyrna blieb auch in byzantinischer und türkischer Zeit eine wichtige Stadt. Um 1900 zählte sie ca. 200 000 Einwohner, davon noch die Hälfte Griechen; sie galt damals als „die bedeutendste Stadt der Levante“.448 Heute heißt sie Izmir und hat nach dem „Fischer Weltalmanach 2008“ über 2,2 Mio Einwohner. Die christliche Botschaft erreichte Smyrna evtl. schon nach der Pfingstpredigt der Apostel (Apg 2,9), spätestens seit der 3. Missionsreise des Paulus (Apg 19,10). Um 110–115 lobt Ignatius von Antiochien die Gemeinde in seinem Brief an die Smyrnäer. Sie sei voll „Glaube und Liebe“ (πίστις καὶ ἀγάπη [ pistis kai agape]), besitze alle Gaben und zeichne sich besonders aus „durch standhaften Glauben“ (ἐν ἀκινήτῳ πίστει [en akineto pistei]).449 Berühmt wurde ihr Bischof Polykarp, der um 156 oder erst 169 n.Chr. als Hundertjähriger den Märtyrertod starb. So war also Smyrna im 1. und 2. Jh. n.Chr. für die Christen eine wichtige Stadt. Sie hatte aber auch für die jüdische Geschichte besondere Bedeutung. Erwähnt sei hier, dass sich der Jude Sabbathai Zwi 1665 in Smyrna zum Messias erklärte, was auch die europäische Judenschaft mit eschatologischer Hoffnung erfüllte.450 Vermutlich war Polykarp zur Zeit der Offb schon ein Mitglied der Gemeinde von Smyrna.451 „Ich kenne“ (V. 9): So begann auch das Lob im ersten Sendschreiben. Aber während dort Werke, Arbeit und Geduld gelobt wurden, sind es hier ganz andere Punkte: Bedrängnis, Armut und Lästerung. Sind das echte Ruhmestitel? Die θλῖψις [thlipsis] (Bedrängnis) erinnert an die Verfolgung in der achten und neunten Seligpreisung bei Matthäus (5,10-12). Sie erinnert außerdem an die Feststellung des Paulus in Apg 14,22, dass wir durch „viele θλῖψις [thlipsis] in das Reich Gottes eingehen müssen“. Sie erinnert nicht zuletzt an die Abschiedsreden des Johannesevangelium mit der Aussage Jesu: „In der Welt habt ihr θλῖψις [thlipsis]“ (16,33). Und nun das Ganze positiv gewandt: Die „Bedrängnis“ ist ein sicheres Anzeichen für Bekenntnis und standhaften Glauben. So ist sie wohl des Lobes wert! Heinrich Schlier hat das richtig erspürt, wenn er schreibt: „Die θλῖψις ist … für das Bewusstsein des NT … eine
447 So Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 14, 14. Aufl, 1903, S. 1051. Vgl. Hemer S. 59f; Morris S. 63; Jones S. 79. 448 A.a.O. S. 1050. 449 Ad Smyrn I, 1 (Hefele S. 168). 450 Vgl. Maier Offb S. 321 sowie den Artikel „Smyrna“, GBL, 3, S. 1454. 451 Behm S. 19. Kraft hält es sogar für denkbar, dass er schon Bischof war (S. 59). Zahn S. 231 ist davon fest überzeugt und sieht überhaupt das Sendschreiben nach Smyrna als Prophezeiung des Martyriums Polykarps (S. 231ff).
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notwendige“,452 nämlich im Sinne der echten Glaubensnachfolge. Die Armut (πτωχεία [ptocheia]) führt uns zu ähnlichen Erkenntnissen. Auch den „Armen“ gelten die Seligpreisungen (Mt 5,3). Christus selbst wurde arm um unsretwillen (2Kor 8,9). Dementsprechend gehören auch die wahren Apostel zu den Armen (2Kor 6,10). Für die Armen ist das Gottesreich bestimmt (Jak 2,5). „Arm“, zurückgehend auf hebräisches [ ָעִניoni] oder [ ֳעִניani]453 kann dabei durchaus die äußere Armut und Armseligkeit bezeichnen, wie bei Lazarus Lk 16,19ff. Aber entscheidend ist das innere Verhältnis zu Gott: Die Armen (Anavim) nehmen demütig ihre Belastungen auf sich, weil sie ihre Hoffnung auf Gott setzen. Andererseits gilt: Gott ist der Schützer und Helfer dieser Armen, er vergisst und verlässt sie nicht. Selbst wenn sich ihr Elend in der Erdenzeit nicht bessert, werden sie in seinem Reich voller Herrlichkeit sein. Jesus hat das unvergesslich beim armen Lazarus, aber auch in den Seligpreisungen (Mt 5,3-6) zum Ausdruck gebracht. Jetzt verstehen wir auch den Zusatz in Offb 2,9: Du bist aber reich (ἀλλὰ πλούσιος εἶ [alla plusios ei]). Dieser Gemeinde in Smyrna gehört die Liebe Gottes und die feste Hoffnung auf die Teilnahme am ewigen Gottesreich. Könnte sie reicher sein? Übrigens steht Jak 2,5 auffallend nahe bei Offb 2,9.454 Allerdings ist die Frage schwierig zu beantworten, worin die Armut der damaligen smyrnäischen Christen konkret bestand. War es „materielle Armut“455 in der reichen Hafenstadt? Stammte die Gemeinde „aus der Unterschicht“456 von Smyrna? Oder resultierte die Armut aus dem Verlust von Gütern, wenn der Mob die Christen plünderte?457 Oder ging es gar nicht um materielle Armut, sondern um den Druck der Verfolgung?458 Der Kontext scheint eher auf die zuletzt genannte Möglichkeit zu deuten. Evtl. muss man wie Schlatter u.a. mehrere Möglichkeiten kombinieren.459 Aber wir müssen die Frage offenlassen. Drittens spricht der Auferstandene ein Lob aus wegen der Lästerung aus dem Kreis derer, die sagen, sie seien Juden, sindʼs aber nicht, sondern eine Synagoge des Satans. Damit kommen wir an eine der schwierigsten Stellen in den Sendschreiben. In den letzten Jahren hat man Offb 2,9 häufig
Art. θλίβω usw., ThWNT, III, 1938, S. 143. Vgl. E. Bammel, Art. πτωχός usw., ThWNT, VI, 1959, S. 888ff. Auch Hemer S. 18. So Bammel a.a.O. S. 911; Ritt S. 26. So Frey S. 36; vgl. Hemer S. 68; Schnackenburg S. 265. Erwogen bei Hemer S. 68; vgl. Hebr 10,34. Schon bei Vitringa S. 78. Vgl. wieder Bammel a.a.O. Prigent erwägt, ob evtl. gnostische Häretiker der „orthodoxen“ Gemeinde „intellektuelle“ oder „spirituelle“ Armut unterstellten (S. 46). 459 Schlatter S. 154.
452 453 454 455 456 457 458
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als Beleg für einen Antisemitismus (Antijudaismus) im NT in Anspruch genommen.460 Diese Situation verpflichtet uns zu größter Sorgfalt. Die erste Beobachtung, die wir machen, geht dahin, dass keine pauschale Anklage gegen „die Juden“ erfolgt. Das lässt sich an drei Punkten aufzeigen: a) Gesprochen wird von der Lästerung aus dem Kreis derer, die sagen, sie seien Juden. Es wird aber nicht pauschal formuliert „Lästerung der Juden“! Bei ἐκ τῶν λεγόντων [ek ton legonton] ist sowohl der Ursprung als auch der Genitivus partitivus zu beachten.461 b) Nicht „die Juden“ sind in Offb 2,9 genannt, sondern umgekehrt diejenigen, die keine Juden im Sinne des Sendschreibens sind: nur solche also, die sagen, sie seien Juden, sindʼs aber nicht.462 Damit ist Israel im Gesamtsinn deutlich entlastet. c) Der Begriff Synagoge des Satans, der in 3,9 erneut auftaucht, erinnert an Joh 8,44 und 1Joh 3,8ff. Gerade dieser Vergleich macht deutlich, dass es nicht um ein unveränderliches oder gar „judaistisches“ Merkmal geht, sondern um eine ethische Beziehung. Wer sich dem Einfluss Gottes verweigert, öffnet sich dem Satan. Deshalb können im NT alle Menschen „Kinder des Teufels“ (τέκνα τοῦ διαβόλου [tekna tu diabolu], 1Joh 3,10; Joh 8,44) sein. Mit Antijudaismus hat das nichts zu tun. Auch an diesem Punkt sind die Qumranschriften hilfreich. Zum Beispiel stehen nach der „Gemeinderegel“ alle Juden, die sich nicht dem Bund der qumranischen Essener anschließen, „unter der Herrschaft Belials“ = Satans (1QS I, 18.23f; II, 4f.19). Noch näher an Offb 2,9 steht 1 QH II, 22, wonach die nicht im Bund befindlichen Juden eine „Gemeinde Belials“ = Satans (ֲעַדת [ ְבִּל ָיַּעלadat belijaal]) genannt werden. Sowenig man der Qumrangemeinschaft „Antijudaismus“ vorwerfen kann, sowenig kann man es Offb 2,9; 3,9. Die zweite Beobachtung, die wir machen, ist die, dass es um ein Ringen um das wahre Israel geht. Wer ist wahrer Jude? Sind es die, die sagen, sie seien Juden? Paulus wehrte sich gegen eine rein ethnische Bestimmung: „Nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, … sondern der ist ein Jude, der es inwendig verborgen ist“ (Röm 2,28f). Er konnte dabei an eine Linie der Tora und der Propheten im AT anschließen (Dtn 30,6; Jer 4,4). Er argumentiert hier Seite an Seite mit Qumran. Vor allem aber schließt er an Jesus an. Dieser erklärt im Johannesevangelium einerseits ohne Abstriche: „Das Heil kommt von den Juden“ (4,22). Andererseits ist Jesus zufolge nur derjenige „Abrahams Kind“ im Sinne der Gottesgemeinschaft, der „Abrahams Werke tut“ (Joh 8,39). Und 460 Vgl. de Krujf S. 122ff; Gnilka S. 405. 461 Vgl. Blass-Debrunner § 164 sowie Schnackenburg S. 265. 462 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 406,2; 468,6
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hat nicht schon Johannes der Täufer in der Wüste gesagt: „Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken.“ (Mt 3,9)? Von daher verstehen wir Offb 2,9: Es geht um die Bestimmung des wahren Israel. Die aber entscheidet sich an der Stellung zu Gott und seinem Messias.463 Die enge Verwandtschaft zwischen der Offb und dem JohEv wird gerade im Sendschreiben nach Smyrna deutlich erkennbar. Nun können wir die Einzelheiten von Offb 2,9b zu erklären versuchen: Lästerung (βλασφημία [blasphemia]) ist ein Reden gegen Gott, Christus oder den Heiligen Geist, das deren göttliche Würde beleidigt.464 Vermutlich geht es in Smyrna um die Ablehnung des Anspruches Jesu, der Messias und Sohn Gottes zu sein. Eine solche Ablehnung insbesondere aus jüdischen Kreisen verletzte den Christen „in seinem innersten Glauben“.465 Insofern gehörte das „Erdulden der Blasphemie … zu den Leiden, die die Gemeinde ertragen muss“.466 Aus dem Kreis derer, die sagen, sie seien Juden: Auch das Bekenntnis zum Judentum erforderte Mut. Karl Georg Kuhn hat dafür eine beeindruckende Reihe von Beispielen zusammengestellt.467 Die frühe jüdische Tradition hat dies mit Schmerzen überliefert, so z.B. die Geschichte von jener Frau in Aschkalon, die es als schlimmste Beschimpfung empfand, dass ihr gesagt wurde: „Dein Gesicht sieht ja wie eine Jüdin aus!“468 In die Reihe dieser Verhöhnungen gehört auch die berühmte Verspottungsszene vom Pädagogium des Palatin, bei der der Gekreuzigte mit einem Eselskopf (Ja = Jahwe) dargestellt wurde.469 Es ist eine besondere Tragik, dass die christlich-messianische Gemeinde mit ihrem jüdischen Ursprung und das christusablehnende Judentum in einen solchen Gegensatz gerieten. Sie sagen, sie seien Juden: Hemer war überzeugt, dass Smyrna „had a considerable Jewish population by New Testament times“470 (S. 65f). Vermutlich besaß ein Teil davon das Bürgerrecht. Entsprechend den Vorgängen in griechischen und orientalischen Städten können wir davon ausgehen, dass Juden zur christlichen Gemeinde
463 Ganz anders wäre es, wenn Kraft (S. 60f) und Prigent (S. 47) mit der Annahme recht hätten, dass die „Synagoge des Satans“ überhaupt keine Juden, sondern eine häretische christliche Gruppe bezeichne. Aber dafür gibt es in der Offb keinen wirklichen Anhaltspunkt. Vgl. Hirschberg S. 34. 464 Vgl. J.W. Beyer, Art. βλασφημέω usw., ThWNT, I, 1933, S. 620ff. 465 Beyer a.a.O. S. 622. 466 Beyer a.a.O. 467 Im Art. Ἰσραήλ usw., ThWNT, III, 1938, S. 363f. 468 Kuhn a.a.O. S. 363. 469 Museo Palatino Rom. 470 Ebenso Kraft S. 59; Prigent S. 45.
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konvertierten.471 Dies würde die Bitterkeit erklären, mit der smyrnäische Juden die messianisch-christliche Gemeinde und ihren Bischof bekämpften.472 Auch diese Bitterkeit hat ihre eigene Geschichte. 60 oder 70 Jahre nach der Offb haben die Juden in Smyrna nach dem Bericht über das „Martyrium des heiligen Polykarp“ besonders zu diesem Martyrium beigetragen. Sie hätten sich öffentlich gegen Polykarp gewandt und sogar am Sabbat Holz für seinen Scheiterhaufen herzugetragen, ja am Ende noch die Herausgabe des Leichnams zu verhindern gesucht.473 Sie sindʼs aber474 nicht: Dies ist das Urteil des Auferstandenen über die damaligen smyrnäischen Juden. Sondern eine (der Artikel fehlt!) Synagoge des Satans: Deutlich ist hier die synagogale Organisation475 angesprochen, nicht eine Einzelperson. Daraus kann man schließen, dass sich wie in Korinth und Ephesus (Apg 18,6f; 19,9) auch in Smyrna die Leitung der Synagoge der Botschaft von Jesus Christus widersetzte. Weil sie sich dem Evangelium und Jesus Christus in den Weg stellt, deshalb eben ist sie eine Synagoge „des Satans“ und nicht „Gottes“ (vgl. Nu ָ [satan] = Widersacher, 16,3). Vielleicht liegt in dem Begriff Satan, hebr. שָׂטן noch ein besonderer Hinweis darauf, dass die Leitung der Synagoge Christen bei den römischen Behörden anzeigte und beschuldigte.476 Angesichts der Vorfälle im pisidischen Antiochien, in Ikonion, in Lystra, in Thessalonich, in Beröa und in Korinth wäre dies nicht verwunderlich (Apg 13,50; 14,5.19; 17,5ff. 13; 18,12ff.). Allerdings hat sich die Situation seit der Apostelgeschichte in doppelter Weise zugespitzt: a) Mit Domitian hat der Kaiserkult vor allem in (Klein-)Asien einen Aufschwung genommen (81–98 n.Chr.). b) Mit der Aufnahme der Verfluchung der Minim und der Christen ins Achtzehngebet477 vollzog sich in der ganzen damaligen Ökumene die Trennung zwischen Mehrheitsjuden und Judenchristen. Vielleicht glaubte die Synagogenleitung in Smyrna wie der frühere Paulus, mit der Verfolgung der Christen Gott einen Dienst zu erweisen (vgl. Apg 22,3ff; 26,9ff; Gal 1,13ff; 1Tim 1,13).
471 472 473 474 475 476 477
Hemer S. 66. Hemer a.a.O. Mart Polyc XII; XIII; XVII; vgl. Euseb H.E. IV, 15,1ff. καί [kai] adversativum. „the Jewish community… per se“ (Hemer S. 66). So Hemer S. 67. Vgl. K. Nielsen, Art. טן ָ שׂ ָ , ThWAT, VII, 1993, Sp. 745ff. Aus der 12. Bitte: „Die Christen [nsrm] und die Minim mögen im Augenblick (d.h. plötzlich) zugrunde gehen“. Das Schemone Esre ist in dieser Form vermutlich ca. 90 n.Chr. formuliert worden. Vgl. Leipoldt-Grundmann II S. 185f; W. Schrage, Art. συναγωγή usw., ThWNT, VII, 1964, S. 847ff.
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Historisch gesehen muss man also festhalten, dass Offb 2,9 „keine antisemitische Tendenz“ verrät.478 Exegetisch gesehen zeigt Offb 2,9, dass der auferstandene Jesus Christus Bedrängnis, Armut und Verfolgung als Vorzug der Kirche betrachtet und nicht als ein Defizit.479 In V. 10 folgt jetzt die Ermahnung. Sie ist gleichzeitig Trost und Zuspruch. Am Anfang steht eines der vielen biblischen „Fürchte dich nicht“-Worte: Fürchte dich vor keinem, das du leiden wirst! Man spürt förmlich die Angst vor der Zukunft in den Christen von Smyrna hochkriechen.480 Offenbar hatten sie keinen politischen oder säkularen Schutz. Sehr klar prophezeit der Auferstandene: Du wirst leiden. Sein Trost ist nicht oberflächlich, sondern durch und durch wahrhaftig (vgl. Mt 10,28; Joh 15,18ff; Apg 14,22; 1Petr 3,14). Jesus wird noch konkreter: Siehe, der Teufel wird welche von euch ins Gefängnis werfen. Der διάβολος [diabolos] ist kein anderer als der Satan (12,9). Wie in Offb 12 und 13 ist er der eigentliche persecutor, der wahre Verfolger der Gemeinde. So sieht es auch Petrus (1Petr 5,8).481 Dabei gewinnt die Wortbedeutung „Verleumder“, „Ankläger“, die in διάβολος [diabolos] steckt,482 und die auch das antike Judentum kannte (Jub I,20), ein besonderes Profil. Geht es doch darum, dass die delatores, die Anzeigenden und Ankläger, bei den Provinzbehörden in Aktion treten und dadurch Prozesse gegen die Christen einleiten. Hiermit stimmt wieder der Begriff „Synagoge des Satans“ überein. Denn die Synagogenleitung bzw. deren Beauftragte lassen sich offensichtlich vom διάβολος [diabolos] inspirieren und instrumentalisieren, wenn sie die Behörden zur Bekämpfung der Christen bewegen. Wie ein solches Verfahren ablief, zeigt knappe 20 Jahre später der berühmte Pliniusbrief. Dort schreibt Plinius der Jüngere, römischer Statthalter von Bithynien in Kleinasien, im Jahre 112 n.Chr. an Kaiser Trajan u.a.: „Vorläufig bin ich gegen die, die mir als Christen bezeichnet wurden, folgendermaßen verfahren: Ich fragte sie, ob sie Christen wären. Gestanden sie das ein, so fragte ich sie unter Androhung der Todesstrafe zum zweiten und dritten Male; blieben sie dann noch verstockt, so ließ ich sie hinrichten.“ Daraus geht hervor, dass der römische Gerichtsherr nur tätig wurde, wenn Christen als solche denunziert wurden. Deutlich ist weiter, dass die Römer nicht in erster Linie die religiöse Überzeugung bestraften, sondern die „Hartnäckigkeit“ und den „Trotz“ der 478 Stuhlmacher Bibl Theol S. 210.268f. Vgl. Aune S. 162. Ebenso de Kruijf S. 126. 479 Genau so tut es Jakobus in 1,2ff. 480 Vgl. das erschütternde Bild der auf ihren Tod wartenden Märtyrer im antiken Wohnkomplex unter SS. Giovanni e Paolo in Rom. 481 Vgl. Ritt S. 27. 482 Vgl. W. Foerster / G. von Rad, Art. διαβάλλω usw., ThWNT, II, 1935, S. 69ff.
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bei ihrer Überzeugung Bleibenden, wie es Plinius in der Fortsetzung des Briefes ausdrücklich formuliert. Klar ist aber auch, wie nahe am Tode die verhafteten Christen standen. All das passt sehr gut zu Offb 2,8-11. Da es damals keine Gefängnisstrafe im heutigen Sinne gab,483 bedeutet ins Gefängnis werfen die Veranlassung der Festnahme, um den Prozess einzuleiten. Am Ausgang des Prozesses konnten verschiedene Möglichkeiten stehen: Freilassung, Verbannung (s. Offb 1,9), Konfiskation der Güter (Hebr 10,4) oder Hinrichtung (Pliniusbrief; Offb 2,13). Welche (oder: einige) von euch: Es wird also keine generelle Verfolgung prophezeit,484 sondern jeweils ein Verfahren ad personam gegen angezeigte Christen. Welche Tragödien verbergen sich dahinter! Man denke an Juden, die sich der Gemeinde des Messias anschlossen und nun aus wer weiß was für Gründen angezeigt wurden! Als Juden genossen sie den Schutz der jüdischen Religion, die religio licita (erlaubte Religion im römischen Reich) war. Wie nahe lag es, und wie nahe auch an der Wahrheit lag es zu sagen: „Ich bin lediglich Jude.“ Dann war alles gut! Wen ging der Herzensglaube etwas an? Wir ahnen heute kaum mehr, welche Standhaftigkeit und Treue von jenen frühen Christen verlangt war.485 Damit ihr geprüft werdet: Wer prüft hier? Nach dem überwiegenden Sprachgebrauch des NT ist es der Teufel. Da er im Vorangehenden das Subjekt ist, müssen wir dasselbe auch hier annehmen.486 Eine alttestamentliche Parallele bildet Hiob 1,6ff.487 Aber gerade an dieser Parallele wird klar, dass der Teufel nicht schalten kann, wie er will. Über ihm bleibt Gott. Und er muss Gott selbst mit seinen bösesten Absichten dienen. Morris hat das sehr schön auf den Punkt gebracht: „Even through the devil and evil men He works out His purposes“ (S. 64). Gottes Wille ist es, dass die Smyrnäer die Prüfung bestehen. Dennoch verursacht diese kurze Bemerkung schwere Fragen: 1) Warum lässt Gott überhaupt das Böse zu (vgl. Offb 6,9f)? Die Bibel lehrt, dass das Böse durch den Abfall von Gott entstand und am Ende beseitigt wird. 2) Warum darf gerade der Teufel prüfen?488 Die biblische Antwort heißt, dass dadurch der Glaube tiefer und fester gegründet wird (Mt 5,4ff; Röm 5,3ff; 1Petr 1,6ff; Jak 1,2f.12) und Gottes Wahrheit erst recht an den Tag tritt (Hiob 1,6ff). 3) Warum leiden die Christen in dieser Welt? Weil, so antwortet die 483 484 485 486 487 488
Prigent S. 48. Anders Morris S. 64. Prigent auch Caird S. 35; Aune S. 166. Richtig Prigent a.a.O. Vgl. Blass-Debrunner § 164,6. Vgl. Wikenhauser S. 39. Ebenso H. Seesemann, Art. πεῖρα usw., ThWNT, VI, 1939, S. 30. Lohse S. 27. Das griechische πειράζειν [peirazein] heißt gleichzeitig „versuchen“.
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Bibel, erst im Leiden die Herrlichkeit Gottes umfassend erfahren wird (Joh 9,1ff) und die volle Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus entsteht (Röm 8,17; 1Petr 4,13).489 4) Wie sollen wir dann die sechste Bitte des Vaterunsers verstehen: „Und führe uns nicht in Versuchung (εἰς πειρασμόν [eis peirasmon]).“? Hier lautet die biblische Antwort, dass wir nicht von jeder Prüfung verschont bleiben wollen, sondern dass es Gott so einrichtet, „dass die Versuchung (oder Erprobung) so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt“. Dies ist jedenfalls die Auslegung des Paulus (1Kor 10,13), und Jakobus bestätigt sie (1,2.12).490 Die genannten biblischen Antworten bedeuten freilich nicht, dass damit alle Fragen für uns zeitlebens erledigt sind. Wir werden sie immer wieder im Gebet zum dreieinigen Gott und im Hören auf sein Wort durchzuringen haben. Und ihr werdet Bedrängnis haben zehn Tage lang:491 Das bedeutet die Befristung der Verfolgung durch Gott. Denn Gott ist es, der „Zeit und Stunde“ bestimmt (Dan 2,21). Auch der irdische Jesus lehrte die Befristung der Verfolgungszeit (Mt 24,22). Später spielen solche Befristungen in der Offb eine große Rolle (11,2; 12,14; 13,5; 20,2). Das ist ein tiefer Trost für die smyrnäische Gemeinde. Zehn Tage begegnen uns auch im AT, in Gen 24,55 und Dan 1,12ff. Vor allem Letzteres wird häufig von den Auslegern herangezogen.492 Vermutlich ist der Bezug zu Dan 1 in der Offb beabsichtigt. Dann steckt in den „zehn Tagen“ ein Doppeltes: a) Es geht wirklich wie in Dan 1 um eine Erprobung der Treue und Standhaftigkeit bis zum Martyrium. b) Es geht tröstlicherweise nur um eine kurze Zeit der Bedrängnis.493 Der Auferstandene ruft den bedrängten Christen zu: Sei getreu bis an den Tod (γίνου πιστὸς ἄχρι θανάτου [ginu pistos achri thanatu])! Der Tod muss also ins Auge gefasst werden. Die Martyrien des Herrenbruders Jakobus,494 des Stephanus (Apg 7,54ff), des Petrus und Paulus495 und des Antipas (Offb 2,13) waren in Smyrna bekannt. ἄχρι [achri] heißt hier nicht „bis kurz vor“, sondern „bis einschließlich“.496 So entsprach es den Märtyrerberichten der frühen Christen, so aber auch dem Danielbuch (Dan 3,1ff; 6,1ff; 1Makk 2,59f), den prophetischen Märtyrern des AT (2Chron 24,20ff; Jer 26,20ff; Mt 489 490 491 492 493
Sehr schön von Seesemann a.a.O. herausgearbeitet, aber auch bei Prigent S. 48. Vgl. wieder Seesemann a.a.O. S. 30f. Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 161,2 (4). Kraft S. 61; Lohse S. 27; Wikenhauser S. 39. So auch F. Hauck Art. δέκα, ThWNT, II, 1935, S. 36. Bousset S. 209; Lohse a.a.O.; Ritt S. 27; Wikenhauser S. 39; Caird S. 35; Zahn S. 230. 494 Josephus Ant. XX, 200. 495 1 Clem V. 496 Vgl. Bauer-Aland Sp. 259; Hemer S. 71.
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23,35; Hebr 11,37) und den Märtyrern der Makkabäerzeit (1Makk 1,60ff; 2Makk 7). Die Einzahl γίνου [ginu] wird von Theodor Zahn auf den Bischof als Einzelperson bezogen (S. 230). Aber das sei497 muss wie der Singular in V. 9 und im Anfang von Vers 10 auf die Gemeinde insgesamt einschließlich des Bischofs bezogen werden. Sonst hinge auch das ἐξ ὑμῶν [ex hymon] („welche von euch“) in der Luft. πιστός [pistos] kann nach dem Kontext nicht nur „zuverlässig“ bedeuten.498 Vielmehr ist in πιστός [pistos] das alttestamentliche [ נ ֱֶאָמןneeman] zu hören, was a) „beständig“, „dauerhaft“ bedeutet und b) treu als „unbedingt zugewandt“.499 Der Aufruf Sei getreu stärkt also die treue, selbst im Martyrium standhaltende Verbundenheit mit Gott und Christus. Keine Macht im Himmel und auf Erden soll diese Verbundenheit zerstören (vgl. Joh 10,29). Mit dem Zuspruch in V. 10 verknüpft sich sofort eine Verheißung, wie wir sie sonst in den „Überwindersprüchen“ finden: Dann werde ich dir die Krone des Lebens geben (τὸν στέφανον τῆς ζωῆς [ton stephanon tes zoes]). Zahlreiche Erklärungen500 sind schon für diese „Lebenskrone“ (Lebenskranz) gegeben worden. Auszuschalten ist die Deutung auf eine königliche Krone, die als διάδημα [diadema] bezeichnet wird. Insofern ist es tatsächlich besser, von einem „Kranz“ zu sprechen.501 Colin Hemer listet 7 Deutungsmöglichkeiten für den „Kranz“ (στέφανος [stephanos]) auf:502 1) Den Kranz für die Sieger im sportlichen Wettkampf (vgl. 1Kor 9,25; 2Tim 2,5; 4,8; Jak 1,12; 1Petr 5,4; Hebr 12,1). Smyrna war berühmt für seine Spiele.503 2) Den Kranz, den der leitende Priester bei den Dionysos-Mysterien trug. 3) Den Kranz für öffentliche Ehrungen, z.B. für zivile oder militärische Verdienste. 4) Den Kranz, den heidnische Priester bei ihren Opfern trugen. 5) Den Kranz für die στεφανεφόροι [stephanephoroi], die priesterlichen Behörden der Stadt. 6) Den Kranz als Zeichen der christlichen Freude bei christlichen Festen. 7) Den Kranz als Inbegriff für die schöne Stadtarchitektur Smyrnas.504 – Als 8) wäre der Kranz hinzuzufügen, den nach Sir 45,12 der Hohepriester zusätzlich zu seinem Kopfbund trug.505
497 498 499 500 501 502 503 504 505
Grammatik bei Blass-Debrunner § 98,2. Gegen Bauer-Aland Sp. 1336. A. Jepsen, Art. אמן, ThWAT, I, 1973, Sp. 316ff. „Nombreuses“, Prigent S. 45; Hemer S. 71. Mit Hemer S. 71f. Vgl. Prigent S. 48. Hemer S. 72. Hemer S. 72f. Nach W. Grundmann, Art. στέφανος usw., ThWNT, VII, 1964, S. 624.
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Eine solche Auflistung ist keineswegs erschöpfend. Vielmehr gehört im Alten Orient der Kranz in eine beinahe unübersehbare Vielfalt privater, öffentlicher, kultischer und staatlicher Ehrungen und Auszeichnungen.506 Diese Kränze entwickelten sich „aus dem um das Haupt gelegten, häufig offenen, vielleicht auch mitunter gedoppelten Zweig, der als Symbol des Lebens“ galt. Im NT kommt der στέφανος [stephanos] achtzehnmal vor.507 Häufig ist auf den sportlichen Wettkampf Bezug genommen. Eine besondere Bedeutung bekommt der „Kranz“ im NT als Bild für das endzeitliche Lob und die endzeitliche Herrlichkeit, die den treuen Gläubigen erwarten (vgl. 1Kor 9,25; Phil 4,1; 1Thess 2,19f; 2Tim 4,8; 1Petr 5,4; Jak 1,12; Offb 2,10; 3,11). In diese Gruppe von Aussagen gehört auch Offb 2,10, wobei Jak 1,12 die nächste Parallele darstellt und auch 2Tim 4,8 so nahe ist, dass Grundmann von einer „innere(n) Verwandtschaft dieser drei Worte“ sprechen kann.508 Als „Kranz des Lebens“ (στέφανος τῆς ζωῆς [stephanos tes zoes]) ist er hier verheißen. Man hat darüber diskutiert, ob der Genitiv ein Genitivus epexegeticus oder ein possessivus ist. Doch ist die Deutung auf den Kranz, der im ewigen „Leben“ besteht (Gen. epexeg.), die näherliegende. Die Gemeinde in Smyrna wird also ermutigt, auf die Gabe des ewigen Lebens zu blicken, die Gott allen treuen und standhaften Gläubigen schenken wird (vgl. Röm 6,23; Mt 24,13). Offensichtlich benutzt der Auferstandene in Offb 2,10 eine Sprache, die von Heiden- wie von Judenchristen verstanden werden konnte. Von den Heidenchristen aufgrund der eminenten Rolle, die der „Kranz“ im privaten, religiösen und öffentlichen Leben spielte. Dabei lassen sich verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die wir oben bei 1) bis 8) genannt haben, sehr gut miteinander kombinieren.509 Von den Judenchristen, weil inzwischen auch bei den Juden der „Kranz“ als Symbol der Hoffnung und des ewigen Lebens betrachtet wurde. So sagte man von den Gerechten in der künftigen Welt: „Sie sitzen da mit ihren Kränzen auf ihren Häuptern.“510 Noch näher steht Qumran bei Offb 2,10: Ein „Kranz der Herrlichkeit ([ ְכִּליל ָכּבוֹדkelil kavod]) mit prachtvollem Gewand in ewigem Licht“ erwartet die Frommen (1QS IV,7f).511
506 507 508 509 510 511
Vgl. W. Grundmann a.a.O. S. 615ff; Kraft S. 62; Bousset S. 209; Lohse S. 27. Grundmann a.a.O. S. 627. Vgl. auch die folgenden Seiten. A.a.O. S. 629. Vgl. Ritt S. 27; Wikenhauser S. 39. Ebenso Hemer S. 73. 75. B Ber 17a; vgl. b Schab 104a. Lohse S. 27.
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Die Wurzeln dieses Sprachgebrauchs führen bis ins AT zurück (Jes 62,3; Sap Sal 5,15f).512 In V. 11 geht der Aufmerksamkeitsruf oder Weckruf wieder dem Überwinderspruch voran. Siehe die Erklärung bei V. 7. In den ersten drei Sendschreiben (Ephesus, Smyrna, Pergamon) ist die Abfolge Aufmerksamkeitsruf – Überwinderspruch. In den folgenden vier Sendschreiben (Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodizea) ist sie umgekehrt. Der Überwinderspruch überrascht uns insofern, als er der kürzeste aller sieben Sendschreiben ist. Und das bei einer Gemeinde ohne Tadel! Doch erklärt sich dies zunächst daraus, dass ja schon V. 10 die Verheißung vom „Kranz des Lebens“ enthält. Zum andern könnte eine Erklärung auch darin liegen, dass dieses ganze Schreiben so stark auf das Thema Tod und Martyrium konzentriert ist. Wer überwindet, dem wird vom zweiten Tod kein Schade geschehen: Nach Blass-Debrunner ist οὐ μή [u me] „die bestimmteste Form der verneinenden Aussage“ (§ 365). Wir könnten deshalb übersetzen: „dem wird auf keinen Fall vom zweiten Tod Schaden geschehen“. ἀδικεῖσθαι ἐκ [adikeisthai ek] bedeutet hier „geschädigt werden vonseiten“.513 Der zweite Tod ist die ewige Gottesferne, die ewige Verdammnis514 (vgl. 20.6.14; 21,8). Mit anderen Worten: Zwar müssen die smyrnäischen Christen damit rechnen, dass manche im Martyrium den leiblichen Tod erfahren werden. Aber viel gravierender ist das, was sich ans leibliche Sterben anschließt. Und da haben sie Jesu Verheißung, dass sie nicht ins ewige Gericht, sondern in das ewige Leben kommen werden. Was der Auferstandene hier sagt, entspricht in vollkommener Weise der Lehre des irdischen Jesus (Mt 10,28; Joh 5,24ff).515 Das also ist das letzte Ziel, das den Christen in Smyrna vor Augen steht: nach allen Leiden die himmlische Herrlichkeit, durchs letzte Gericht hindurchgerettet zum ewigen Leben.516
512 Vgl. D. Kellermann, Art. עטר, ThWAT, VI, 1989, Sp. 31. 513 G. Schrenk, Art. ἄδικος usw., ThWNT, I, 1933, S. 161. 514 Wikenhauser S. 40; Lohse S. 27; Bousset S. 210. Mit den Attismysterien hat das nichts zu tun (gegen Kraft S. 62). 515 Vgl. Prigent S. 49; Ritt S. 27. 516 Ob der Begriff des „zweiten Todes“ aus dem jüdisch-rabbinischen Sprachgebrauch stammt, wie schon Vitringa S. 80ff nachzuweisen suchte, muss offenbleiben. Bejahend Hemer S. 75ff; Caird S. 36; Aune S. 168.
6. Das zweite Sendschreiben: nach Smyrna
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IV Zusammenfassung 1) Das Schreiben nach Smyrna zeigt uns exemplarisch eine Kirche der Märtyrer.517 Sie erinnert uns daran, dass die Kirche nur zusammen mit dem Leiden und dem Martyrium entstand. Zugleich macht sie uns deutlich, dass es auch in Zukunft so sein wird. Die Zeit des nordatlantischen Christentums vom 18. bis zum 20. Jahrhundert war eine Ausnahmezeit. Dadurch stellt uns das Sendschreiben nach Smyrna aber auch die ernste Frage, wie es um unsere Hingabe bestellt ist. Das berühmte Wort „Sei getreu bis an den Tod“ ist nicht nur ein Konfirmationsspruch. Es ist ein verpflichtender Ruf des Auferstandenen, der auch für die gesamte Kirche aller Jahrhunderte verbindlich ist. 2) Das Schreiben nach Smyrna ist außerdem ein besonders wertvolles Dokument über die Tragik der jüdisch-christlichen Geschichte. Es zeigt, dass Christen niemals ohne Zusammenhang mit Israel gesehen oder verstanden werden oder existieren können. Bevor wir aber als Christen darangehen, dem christusablehnenden Judentum Vorwürfe zu machen, sollten wir zuerst im Sinne von Mt 7,3ff unseren eigenen historischen Schuldanteil aufarbeiten. Wir sollten allerdings auch dem gegenwärtigen Trend widerstehen, der aus Offb 2,9 und ähnlichen Stellen einen Antijudaismus (Antisemitismus) oder bloße Polemik herauslesen will. Das Schreiben nach Smyrna ist ja kein „Partei“-Schreiben einer menschlichen Autorengruppe, sondern ein Wort des Auferstandenen. 3) Dieses Schreiben nach Smyrna lehrt uns etwas, das der abendländische Mensch weithin vergessen hat: Es gibt Schlimmeres und Gewichtigeres als den Tod – verstanden als leiblichen Tod. Gewichtiger ist, was danach kommt. So wird Smyrna auffallenderweise damit getröstet, dass es zwar den leiblichen Tod erwarten muss, aber dafür keinen „zweiten Tod“ erleidet. Sein Trost ist die Gewissheit des ewigen Lebens. Vermutlich wird auch nur diejenige Kirche die gegenwärtigen Krisen bestehen, die sich am ewigen Leben orientiert. Aber welcher Reichtum wird hier in kurzen, ja armseligen Worten erkennbar: „Krone“ bzw. Kranz – Leben – frei vom Gericht – unangetastet vom zweiten Tod!
517 Vielleicht hat Hemers Vermutung (S. 76.58f) doch etwas für sich, dass antike Leser den Namen der Stadt, Σμύρνα [Smyrna], mit der Myrrhe, σμῦρνα [smyrna] verbanden und daraus auf eine Stadt des Leidens und des Sterbenmüssens schließen konnten.
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7. Das dritte Sendschreiben: nach Pergamon I Übersetzung, 2,12-17 12 Und dem Engel der Gemeinde in Pergamon schreibe: Das sagt der, der das scharfe zweischneidige Schwert hat: 13 Ich weiß, wo du wohnst, dort, wo der Thron des Satans ist. Aber dennoch hältst du fest an meinem Namen und hast den Glauben an mich nicht verleugnet, auch nicht in den Tagen, als Antipas, mein treuer Zeuge, bei euch getötet wurde, dort wo der Satan wohnt! 14 Aber ich habe ein paar Dinge gegen dich: dass du dort solche hast, die an der Lehre Bileams festhalten, der den Balak lehrte, vor den Augen der Israeliten ein Ärgernis aufzurichten, nämlich Götzenopfer zu essen und Hurerei zu treiben. 15 Ebenso hast du auch solche, die an der Lehre der Nikolaiten gleichermaßen festhalten. 16 So tu nun Buße. Wenn aber nicht, komme ich bald über dich und werde mit ihnen streiten mit dem Schwert meines Mundes. 17 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Wer überwindet, dem werde ich vom verborgenen Manna geben518 und ihm einen weißen Stein geben, und auf dem Stein geschrieben einen neuen Namen, den niemand kennt außer dem, der ihn empfängt.
II Struktur Der Aufbau ist ganz durchsichtig: Schreibbefehl – Adressat – Absender – Lob (V. 13) – Tadel (V. 14-15) – Ruf zur Umkehr (V. 16) – Aufmerksamkeitsruf und Überwinderspruch (V. 17). Der Tadel erinnert in mehrfacher Beziehung an das Schreiben nach Ephesus (vgl. 2,4.6). Auch Pergamon wird der Rückweg gezeigt und nahegelegt (V. 16). Der Überwinderspruch enthält neue Elemente, die wieder sorgfältig zu untersuchen sind. Pergamon ist die nördlichste der sieben Gemeinden. Noch immer sind wir an der Westküste. Aber nach Pergamon wendet sich der Reiseweg der Boten nach dem Osten und ins Landesinnere. Verschiedene Stichworte verknüpfen das Sendschreiben nach Pergamon mit dem Sendschreiben nach Smyrna: die Erwähnung des „Satan“, das Stichwort vom Tod, das Martyrium, die bisherige Standhaftigkeit. Insgesamt bilden die drei Gemeinden an der kleinasiatischen Westküste eine Perlenkette.
518 τὸ μάννα [to manna] ist ein indeklinables Appellativum (Blass-Debrunner § 58).
7. Das dritte Sendschreiben: nach Pergamon
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III Einzelexegese Zum Schreibbefehl (Und … schreibe) vgl. die Erklärung bei 2,8. Doch was ist Pergamon? Wer je den Pergamon-Altar in Berlin gesehen hat, kann sich einen Begriff von der Bedeutung der Stadt machen. Ihre Bedeutung erscheint noch größer, wenn man bedenkt, dass das berühmte „Pergament“ als Schreibmaterial aus Pergamon stammt (vgl. 2Tim 4,13). Offenbar hat man dort im 2. Jh. v.Chr. die Erfindung gemacht, dass sich aus präparierten Tierhäuten dünne und haltbare Blätter als Schreibmaterial herstellen lassen. Im Unterschied zu Ephesus und Smyrna war Pergamon keine Hafenstadt, sondern lag ca. 25 km landeinwärts in der Kaïkosebene, mit dem Zentrum auf einem vulkanischen Burgberg. Der Name wechselt ein wenig: Pergamon, Pergamos (griech.), Pergamum, Pergamus (lat.). Berühmt wurde Pergamon um 280 v.Chr., als es von Philetärus zur Hauptstadt des sog. Pergamenischen Reiches gemacht wurde. Der dritte Herrscher, Attalus I. (241–197 v.Chr.), nahm den Königstitel an. Seitdem spricht man auch vom attalidischen Königreich. Schon um 200 v.Chr. befreundeten sich die Könige von Pergamon mit den Römern, um ihren mächtigen Rivalen standhalten zu können. Am Ende dieser Entwicklung setzte der letzte König von Pergamon, Attalus III., die Römer zu seinen Erben ein. Im Jahre 133 v.Chr. übernahmen die Römer dieses Erbe und das Reich. Seit 131 v.Chr. war Pergamon ein Teil der römischen Provinz Asien, wobei man es allerdings der Landschaft Mysien zurechnete. Pergamons Ruhm gründete sich auf verschiedene Bauten und Einrichtungen. Da war zunächst die königliche, hervorragende Bibliothek. Da waren ferner das hochberühmte Asklepios-Heiligtum und der Athena-Tempel. Noch mehr ragte der Zeus-Tempel mit seinem Altar hervor, der im Unterbau 37,70 × 34,60 m maß und einen über 2 m hohen Hauptfries trug, der den Kampf der Götter mit den Giganten darstellte. Was die Stadt weiterhin und ganz entscheidend prägte, war der Kaiserkult. Der erste Kaiserkult-Tempel, zurückgehend auf die lange Verbindung mit Rom, wurde schon 60 Jahre vor der Kreuzigung Jesu im Jahre 29 v.Chr. zu Ehren Roms und des Augustus gebaut. Insofern kann man Pergamon als das religiöse Zentrum der Provinz Asien bezeichnen, allerdings in Rivalität mit dem Diana-Tempel in Ephesus. Wann in Pergamon die erste christliche Gemeinde entstand, können wir nicht mehr sicher sagen. War es nach der ersten Pfingstpredigt (Apg 2,9f)? War es während der zweiten Missionsreise des Paulus (Apg 16,6ff)? Da „Mysien“, zu dem Pergamon rechnete, in Apg 16,7f zweimal erwähnt wird und Paulus sowohl nach Apg 16,8ff als auch nach Apg 20,5ff in Troas weilte (vgl.
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2Kor 2,12f; 2Tim 4,13),519 das nicht allzu weit entfernt lag, vermuten wir, dass spätestens seit dieser zweiten paulinischen Missionsreise in Pergamon eine christliche Gemeinde existierte. Sie hat aber nicht die Bedeutung der Gemeinden von Ephesus oder Smyrna erreicht. Der Auferstandene nennt sich hier den, der das scharfe zweischneidige Schwert hat (V. 12). Das ist die kürzeste Selbstvorstellung aller Sendschreiben. Nur bei Sardes (3,1) ist sie ähnlich. Sie enthält überdies eine unverkennbare Schärfe.520 Denn mit dem Schwert kennzeichnet sich Jesus als der wiederkommende Weltenrichter (vgl. 1,16; 2,16; 19,15.21; Hebr 4,12; Jes 11,4; 49,2; Sap Sal 18,16). Gemeindeleiter und Gemeindeglieder müssen ihm Rechenschaft geben. Das „Schwert“ ist sein richtendes, unwiderstehliches Wort. Zu den Einzelheiten vgl. die Erklärung bei 1,16. Wenn hier wiederholt der Artikel gesetzt wird: τὴν ῥομφαίαν [ten rhomphaian] – τὴν δίστομον [ten distomon] – τὴν ὀξεῖαν [ten oxeian], dann bedeutet dies den Rückverweis auf ebendas Schwert, von dem in 1,16 die Rede war.521 Ich weiß, wo du wohnst (οἶδα ποῦ κατοικεῖς [oida pu katoikeis] V. 13): Das οἶδα [oida] leitet auch hier wie in allen Sendschreiben die inhaltlichen Ausführungen ein. Im κατοικεῖς [katoikeis] liegt, wie Leon Morris richtig bemerkt (S. 66), die Dauer, das Bleibende: „the Christians were not simply passing through Pergamum“.522 Ihr Alltag und eine zeitlich fast nicht zu übersehende Perspektive ist geprägt durch das, was nun folgt: wo der Thron des Satans ist. Offb 13,2 und 16,10 beweisen, dass θρόνος [thronos] Thron hier wirklich einen Herrschersitz und nicht nur einen Stuhl oder Sessel bedeutet. Was ist damit gemeint? David Aune listet einige der Deutungen auf, die wir bei den Auslegern finden: 1) Der Thron des Satans sei der seit 29 v.Chr. in Pergamon existierende Tempel des Augustus und der Roma, 2) er sei ganz allgemein der Kaiserkult in Pergamon, 3) er sei der große Zeus-Altar oder Zeus-Tempel, 4) er sei der Asklepios-Tempel oder Aslepios-Kult, 5) er sei ganz allgemein die heidnische Religion in Pergamon, 6) er sei Pergamon als Zentrum der Christenverfolgung, 7) er sei der Richterstuhl des römischen Statthalters (Proconsuls), 8) er sei der Umriss des Hügels, auf dem die Stadt 519 Vgl. den Artikel Troas, GBL, 3, S. 1599ff. 520 Auch W. Michaelis, Art. ῥομφαία, ThWNT, VI, 1959, S. 997, vermerkt „Das Auffällige, ja Gewaltsame dieses Zuges“. 521 Vgl. wieder Michaelis a.a.O. S. 996ff. ῥομφαία ist typisch für die Offb (6 von insges. 7 Vorkommen im NT). Michaelis macht auch auf den alttestamentlichen Hintergrund in Ez 14,21 aufmerksam. 522 Vgl. Hemer S. 85 nach Swete und Barclay. Bengel S. 244: „Der Engel der Gemeine mag wol seine Wohnung in der Nähe des vornehmsten Gözen-Tempels zu Pergamo gehabt haben.“
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erbaut war.523 – Wir fügen eine Überlegung an, die von Offb 13,2; 16,10 her naheliegt: Es kann der Sitz des wirklichen Satan gemeint sein, der in den politischen oder religiösen Verhältnissen von Pergamon sein Wesen treibt – nicht ein König, nicht ein römischer Proconsul ist der Herr über die äußeren Verhältnisse, sondern Satan selbst. In solchen Auslegungsfragen wiegt das Zeugnis der alten Exegeten schwer. Vitringa vertrat im Anschluss an Andreas Caesariensis (563–637 n.Chr.)524 die Ansicht, mit dem Thron des Satans sei der Götzendienst und Aberglaube gemeint, der in Pergamon gepflegt wurde. Dabei zitierte er aus Andreas: Pergamum fuisse κατείδωλον ὑπὲρ τὴν Ἀσίαν πᾶσαν [kateidolon hyper ten Asian pasan].525 Bengel (S. 244) vertrat dieselbe Deutung. Zahn bekämpfte eine politische Deutung bzw. eine solche auf den Kaiserkult und meinte, der „Thron des Satans“ könne sich nur auf den „Kultus des Asklepios beziehen“.526 Moderne Exegeten neigen jedoch zur Deutung auf den Kaiserkult.527 Wir gehen davon aus, dass der Auferstandene mit dem „Thron des Satans“ auf etwas Umfassendes hinweist. Das warnt uns vor jeder vorschnellen Einengung auf einen speziellen Tempel oder Kult. Insofern behält die Deutung der Alten auf die idololatria oder superstitio (Götzendienst/Aberglaube) im allgemeinen Sinne ihr Recht. Man darf aber auch die Anspielung nicht überhören, die in dem Wort Thron (θρόνος [thronos]) liegt. Denn Pergamon war nun einmal die Residenz des römischen proconsul, der über der ganzen Provinz Asien stand. Wir sehen eine zweite Anspielung in dem „scharfen zweischneidigen Schwert“ Christi, das den Gegensatz zum ius gladii („Schwertrecht“) des proconsul bildet.528 Ergebnis: Wir können Götzendienst und Christenverfolgung nicht voneinander trennen. Sie gehören ebenso zusammen, wie Verführung und Verfolgung zusammengehören. Ihr Gemeinsames ist, dass sie beide Werkzeuge des „Satans“ sind, der Christus und seine Gemeinde bekämpfen will.529 Insofern ist also Pergamon „der Thron des Satans“.
523 Aune S. 182f. Vgl. Hemer S. 84f. 524 Der nach Ansicht von H. Rahner, Art. Andreas, EB von Kaisareia (Kappadokien), „eng an altchr. Exegese anschließt“ (LThK, 1, 1957, Sp. 516). 525 Vitringa S. 89. 526 Zahn S. 253, vgl. S. 247ff. 527 Vgl. Caird S. 37f; Hemer S. 87; Morris S. 66; Bousset S. 211f; Kraft S. 64. 528 Auch Hemer S. 71. 529 Vgl. W. Foerster, Art. σατανᾶς, ThWNT, VII, 1964, S. 161.
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Wir notieren noch, dass σατανᾶς [satanas] in der Offb relativ häufig vorkommt (siebenmal),530 dass sich auch darin die Vorliebe des Johannes für hebräische Begriffe widerspiegelt und dass interessanterweise der Satan bei den apostolischen Vätern ebenfalls den Kampf gegen die Märtyrer führt.531 Aber dennoch hältst du fest an meinem Namen: Das ist das große Lob für die Gemeinde. Wie wichtig dem Auferstandenen dieses Festhalten (κρατεῖν [kratein]) ist, zeigt das Lob für Philadelphia (3,8). Der Name steht für die Person. So war es schon im AT.532 So verhält es sich auch im NT, wo „Name“ so viel wie „Person“ bedeuten kann und „Name, Person und Wirken“ unzertrennlich zusammengehören.533 Im Deutschen könnten wir also ebenso gut übersetzen: „Aber dennoch hältst du fest an mir.“ Man bekennt sich zu Jesus Christus, indem man „an seinem Namen festhält“. Speziell zu Offb 2,13 merkt Hans Bietenhard an: „Die Gemeinde lässt sich vom Bekenntnis zu ihrem Herrn und von der Christusbotschaft nicht abbringen.“534 Das Festhalten (κρατεῖν [kratein]) geschieht in Wort und Tat.535 Was das bedeutet, kann man sich im heutigen nordatlantischen Raum, in dem sich das Christentum etabliert hat, kaum mehr vorstellen. In der Residenzstadt des römischen Provinz-Statthalters, im Anblick gewaltiger Tempel und tief verwurzelter heidnischer Religiosität mit ihrem hohen wissenschaftlichen Anspruch, abgelehnt sogar von der jüdischen Minderheit der Stadt,536 bleibt die kleine Christengemeinde dem Bekenntnis zu Jesus treu. Ja sie predigt das Evangelium weiter in Wort und Tat. Diese orientalischen Gemeinden waren ja keine eingeigelten Gebilde. Viele arbeiteten und lebten vielmehr umfassend missionarisch, bereit, auch zu sterben: … und hast den Glauben an mich537 nicht verleugnet, auch nicht in den Tagen, als Antipas, mein treuer Zeuge, bei euch getötet wurde, dort wo der Satan wohnt (V. 13). Auch dieser Glaube (πίστις [pistis]) ist eine Christusverbindung in Wort und Tat. Es wäre Johannes ebenso wenig wie Jakobus jemals eingefallen, zwischen „Glauben“ und „Werken“ zu trennen, 530 Vgl. Foerster a.a.O. S. 151ff. 531 Vgl. K. Schäferdiek, a.a.O. S. 165. 532 H. Bietenhard, Art. ὄνομα usw., ThWNT, V, 1954, S. 253: „Der Name bezeichnet die Person.“ 533 Bietenhard a.a.O. S. 269f. 534 A.a.O. S. 279. 535 Vgl. noch W. Michaelis, Art. κράτος usw., ThWNT, III, 1938, S. 911. 536 Vgl. dazu Hemer S. 90f. 537 Grammatisch wäre auch ein Genitivus auctoris möglich= „der Glaube, den ich geschenkt habe“. Aber der Kontext legt den Gen. obiectivus (= Glauben an mich) näher. Ebenso Bousset S. 212.
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wie es spätere abendländische Theologie tat – geschweige denn, dass Jesus so verfahren wäre. „An meinem Namen festhalten“ und den Glauben an mich nicht verleugnen steht in genauer Parallele. Allerdings besteht ein Unterschied: du hältst fest ist Präsens (κρατεῖς [krateis]), während du hast nicht verleugnet im Aorist formuliert wird. Dieser Aorist bringt eine konkrete historische Bewährungsprobe zum Ausdruck. Zu ἀρνεῖσθαι [arneisthai], verleugnen: „Verleugnung kann nur dort stattfinden, wo vorher Anerkennung und Verpflichtung bestanden hat.“538 Nun ist zu beachten, dass Jesus nicht sagt: „Antipas hat nicht verleugnet“, sondern du (= die Gemeinde!) hast nicht verleugnet. Das heißt doch: Die Gemeinde distanzierte sich weder von Antipas noch versteckte sie ihren Christusglauben. Das heißt in letzter Instanz auch: Andere Gemeindeglieder, mitsamt dem Bischof, waren ebenfalls bereit zu sterben. In den Tagen des Antipas ist ein hebräisch geprägter Begriff (= [ ִבּיֵמיbime]). Offenbar liegt diese Zeit schon etwas zurück. Wir müssen also die Verfolgung während des Antipas-Martyriums unterscheiden von der Verbannung des Johannes nach Patmos. Die Verfolgung geschah in Wellen. Antipas enthält posthum eine hohe Würdigung durch Jesus als den Weltenrichter: mein treuer Zeuge. Er war ja wirklich „getreu bis an den Tod“ (2,10). Mehr noch: Er wird mit derselben Bezeichnung charakterisiert, die Jesus Christus nach 1,5 selbst trägt (der treue Zeuge, ὁ μάρτυς, ὁ πιστός [ho martys, ho pistos]). Dass wir μιμηταὶ Χριστοῦ [mimetai Christu], „Nachahmer Christi“, werden sollen (1Kor 11,1; 1Thess 1,6), hat sich an ihm verwirklicht. Doch wer war dieser Antipas? Sein Name ist wahrscheinlich eine Kurzform für „Antipatros“.539 Dieser Name kann allgemein griechisch sein. Aber es fällt doch auf, dass sowohl die Langform als auch die Kurzform bei den Herodianern üblich waren.540 Stand der Antipas von Offb 2,13 evtl. in einer Beziehung zu den Herodianern? Das wäre schon deshalb nicht abwegig, weil Manaen, der „Nährbruder“ des Herodes Antipas, nach Apg 13,1 zu den leitenden Persönlichkeiten der ersten Christengemeinde in Antiochia (Syrien) gehörte.541 Es besteht ja durchaus die Möglichkeit, dass Antipas ein aus dem Israelland stammender Judenchrist war. Heinrich Kraft äußerte sogar die Vermutung, „dass es sich um einen der letzten eigentlichen Auferstehungszeugen gehandelt habe … beispielsweise einen der letzten jener ‚über 500 Brüder‘“
538 H. Schlier, Art. ἀρνέομαι, ThWNT, I, 1933, S. 469. 539 Vgl. Josephus Ant XIV, 10 sowie Bauer-Aland Sp. 156; J. Blinzler, Art. Antipas, LThK, 1, 1957, Sp. 656; EWNT, 1, 1980, Sp. 265; Blass-Debrunner, § 125. 540 Josephus Ant XIV, 8ff. 541 Vgl. R. Riesner, Art. Manahen, GBL, 2, S. 920.
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(S. 65; vgl. 1Kor 15,6). Auf jeden Fall wird man sagen können, „dass Antipas ein besonders ausgezeichneter war“542, auch in dem Sinne, dass es sich um ein führendes Mitglied der pergamenischen Gemeinde handelte. Und wäre ausgerechnet hier ein Märtyrername genannt worden, wenn ihn Johannes nicht persönlich gekannt hätte? Ein Widerschein seiner Bedeutung wird in der späteren kirchlichen Tradition erkennbar, wonach Antipas Bischof von Pergamon gewesen sei. Dort existierte im 5. Jh. eine Kirche zu seinen Ehren.543 Über die näheren Umstände seines Todes wissen wir nichts mehr. Nach kirchlicher Tradition starb er zur Zeit Domitians,544 was mit der Offb gut übereinstimmt. ἀπεκτάνθη [apektanthe] deutet auf einen gewaltsamen Tod. Aber ob er „von einer aufgeregten Volksmenge erschlagen“ wurde, wie Zahn u.a. meinen,545 oder ob er nach einem römischen Verfahren ähnlich dem bei Plinius d.J. beschriebenen hingerichtet wurde, ist schwer zu entscheiden. Angesichts der römischen Präsenz in Pergamon neigen wir der zweiten genannten Annahme zu.546 Eine solche Hinrichtung stünde auch besser im Einklang mit der Aussage „in den Tagen als …“ usw. Denn hier wird doch mehr als eine momentane Volksaufwallung vorausgesetzt, nämlich eine bestimmte – wenn auch vielleicht nur kurze – Zeit regelrechter Verfolgung. Daraus ergibt sich dann allerdings die Konsequenz, dass um 80–90 schon lokale oder regionale Christenverfolgungen unter Einschaltung oder gar Leitung römischer Behörden stattfanden. Eine Leugnung dieser Konsequenz könnte nur eine petitio principii sein. Eine andere Frage ist, ob Antipas nur als Beispiel für eine ganze Reihe damaliger Blutszeugen genannt wird. Das nimmt z.B. M.J.S. Rudwick an.547 Ohne völlig Sicheres sagen zu können, bleiben wir dieser These gegenüber aber skeptisch. Hätte es damals weitere Blutzeugen gegeben, dann wäre davon vermutlich doch eine Spur im Text zu finden. Dagegen hat sich die Reihe der Blutzeugen in Pergamon später fortgesetzt. Den Beweis liefert Euseb, der aus dem 2. Jh. n.Chr. Karpus, Papylos und Agathonike als Märtyrer in Pergamon nennt.548 Mit den Worten bei euch … dort wo der Satan wohnt gibt der Auferstandene noch einmal zu erkennen, dass er die Situation der Gemeinde in 542 Kraft S. 65. 543 Vgl. dazu A.P. Frutaz, Art. Anitpas, hl., LThK,1, 1957, Sp. 656; E. Jacquier, Art. 2. Antipas, DB, 1, 1895, Sp. 706. 544 Jacquier a.a.O. 545 Zahn S. 264; Lohse S. 28; schon Bengel S. 245. 546 Vgl. Kraft a.a.O., der eine „Hinrichtung durch das Schwert“ annimmt; Aune S. 185. 547 GBL, 3, S. 1155. 548 H.E. IV,15,48. Vgl. Bousset S. 212.
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Pergamon kennt. Außerdem ist Offb 2,13 ein Beweis für die geschichtliche und realistische Bodenhaftung der Offb. In V. 14 setzt der Tadel ein: Aber ich habe ein paar Dinge gegen dich: vgl. 2,4.20. Siehe die Erklärung bei 2,4. Jedes Mal schmerzt der Tadel dessen, zu dem man betet und der uns erlöst hat. Allerdings darf man das ὀλίγα [oliga] = „wenige“ oder ein paar Dinge nicht überhören. Zwar geht es hier nicht um eine Bagatelle. Aber der Tadel bleibt begrenzt.549 Was sind die fraglichen Punkte? Den ersten Punkt nennt V. 14 mit den Worten: dass du dort solche hast, die an der Lehre Bileams festhalten, der den Balak lehrte, vor den Augen der Israeliten ein Ärgernis aufzurichten, nämlich Götzenopfer zu essen und Hurerei zu treiben. Wieder muß man genau hinhören. Du hast ist nicht dasselbe wie „du duldest“ oder „du lässt zu“ (anders Thyatira 2,20). Es kann allerdings bedeuten: „Du bist nicht genügend eingeschritten“.550 Vorausgesetzt wird dabei, dass Pergamon die Möglichkeiten dazu gehabt hätte, z.B. in Form der Prüfung, die die Gemeinde in Ephesus praktizierte (2,2).551 Außerdem sind es nicht „viele“, sondern nur einige, die an der Lehre Bileams festhalten. Aber wer sind nun die sog. Bileamiten? Βαλαάμ [Balaam], wie es im Griechischen heißt, oder [ ִבְּלָעםbilam], wie der Name im Hebräischen lautet, war für Israel das Urbild eines verführerischen Propheten. Die Spur dieses Bileam zieht sich durchs Alte Testament (Num 22–24; 31,8.16; Dtn 23,5f; Jos 13,22; 24,9f; Neh 13,2; Mi 6,5). Während er im Alten Testament teilweise noch positiv beschrieben wird552 und beispielsweise die herrliche Weissagung vom „Stern aus Jakob“ (Nu 24,17; Offb 22,16) auf ihn zurückgeht, ist er im antiken Judentum fast ausschließlich zu einem Symbol des Widergöttlichen geworden.553 Doch gibt es weiterhin positive Spuren (Schmidt-Schäfer S. 640). Immerhin nannte sich Bar Kochba, der jüdische messianische Aufstandsführer 132–135 n.Chr., nach Nu 24,17, also einer Bileams-Prophetie. Schwierig für die Christen wurde die Übertragung der Bileam-Typologie auf Jesus seitens der jüdischen Rabbinen.554 Es liegt eine besondere Tragik darin, dass der Auferstandene, der in „Bileam“ einen Verführer sieht, selbst beschul549 550 551 552
Bousset S. 212. Vgl. Bengel S. 246. So schon Vitringa S. 90f. Auch von Josephus Ant IV, 100ff: μάντις ἄριστος τῶν τότε [mantis aristos ton tote] (IV,104).Vgl. Schmidt-Schäfer S. 635ff. 553 Nachweise bei K.G. Kuhn, Art. Βαλαάμ, ThWNT, I, 1933, S. 522. Vgl. die lange Erörterung b Sanh 105a ff sowie Schmidt-Schäfer S. 639. 554 B Sanh 106a u.a. Stellen. Vgl. Hemer S. 90. Schmidt-Schäfer bestreiten eine solche Übertragung (S. 640).
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digt wurde, ein solcher Verführer zu sein (vgl. Mt 27,63). Im Übrigen ist Bileam auch für den 2. Petrus- und den Judas-Brief der Typ des Irrlehrers und Verführers (2Petr 2,15; Jud 11). Worin bestand bzw. besteht seine Sünde? Nu 31,16 LXX hebt vor allem hervor, dass Bileams Rat das ἀποστῆσαι [apostesai] der Israeliten zur Folge hatte, also ihren Abfall von Gott. Ein Ärgernis aufrichten vor Israel in Offb 2,14, βαλεῖν σκάνδαλον [balein skandalon], drückt im Grunde dasselbe aus. Denn βαλεῖν σκάνδαλον [balein skandalon] heißt: „zur Sünde reizen, und zwar zum Abfall von Gott“.555 Die folgenden Aufzählungen sind nur einzelne Konsequenzen dieses Abfalls. Nun wird in Offb 2,14 besonders auf die Lehre (διδαχή [didache]) des Bileam Bezug genommen. Er ist es, der den im AT erwähnten Moabiterkönig Balak lehrte, die „Israeliten“ zum Abfall von Gott zu reizen. Seine Waffe war das Wort – wie verheerend können Worte sein (Jak 3,1ff)! Dementsprechend müssen auch die „Bileamiten“ Pergamons das Wort eingesetzt haben. Mit anderen Worten: Sie waren Irrlehrer, und zwar christliche Irrlehrer, sonst hätten sie sich nicht zur Christengemeinde in Pergamon gehalten. Ob man aus dem Vergleich mit Bileam auch den Schluss ziehen darf, dass sie mit prophetischem Anspruch auftraten (vgl. V. 20)? Sie erlaubten es jedenfalls, Götzenopfer zu essen, was nach Apg 15,29; 21,25 und 1Kor 8,1ff verboten war. Ihre Lehre stellte es ferner frei, Hurerei zu treiben, was ebenfalls nach Apg 15,29; 21,25 und allen Aussagen Jesu und der Apostel verboten war. Sie setzten sich also über die Lehre Jesu und das Apostelkonzil hinweg. Es müssen Menschen mit höchstem Anspruch gewesen sein, wenn sie sich dermaßen ganz grundsätzlich – und nicht nur durch einen einzelnen Sündenfall – über die gesamte christliche Lehre hinwegsetzen konnten. Aber die Irrlehrer sind auch sonst in der Kirchengeschichte mit den höchsten Ansprüchen aufgetreten. Gustav Stählin erwägt mit Recht, ob πορνεῦσαι [porneusai] „vielleicht sowohl Unzucht treiben als auch Gott untreu werden“ bedeuten könne.556 Unseres Erachtens ist im Offb 2,14 beides der Fall.557 Dies entspricht auch der alttestamentlichen Bezugsstelle in Nu 25,1f. Wenn es heißt, dass manche Glieder der Gemeinde von Pergamon an der Lehre Bileams „festhalten“ (κρατοῦντας [kratuntas])558, dann scheint sich die rechtgläubige Gemeinde in Pergamon samt ihrem Bischof doch Mühe gegeben zu haben, sie von ihrem Irrtum abzubringen. Auf das Verhältnis zu den Nikolaiten werden wir gleich zu sprechen kommen. 555 G. Stählin, Art. σκάνδαλον usw., ThWNT, VII, 1964, S. 356. Vgl. auch A. van Selms, GBL, 1, S. 206f. 556 A.a.O. Vgl. Ritt S. 28; Wikenhauser S. 41; Kraft S. 65; Caird S. 39. 557 Ebenso Morris S. 67. 558 Vgl. Blass-Debrunner § 170,3.
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Der Tadel setzt sich fort in V. 15: Ebenso hast auch du solche, die an der Lehre der Nikolaiten gleichermaßen festhalten. Zunächst bauen die Wörter ebenso (οὕτως [hutos]) und gleichermaßen (ὁμοίως [homoios]) eine starke Parallele zu V. 14 auf, um so mehr, als das ὁμοίως [homoios] betont am Satzende steht. Diese Beobachtung hat viele Exegeten dazu bewogen, Bileamiten und Nikolaiten in eins zu setzen.559 In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kombinierte man dies mit der Gnosis-Forschung und sprach von „libertinistischen Gnostikern“.560 Gemeinsam sind den Nikolaiten (vgl. V. 6) und Bileamiten: 1) Sie bezeichnen sich selbst als Christen, 2) sie wollen einen Teil der örtlichen Gemeinde bilden, 3) sie haben beide eine „Lehre“ (διδαχή [didache]) und „lehren“ (διδάσκειν [didaskein]), 4) sie verstoßen gegen die Lehre Jesu und die apostolische Lehre, 5) sie widersetzen sich dem örtlichen Bischof und der örtlichen Gemeindeleitung. – Demgegenüber darf man die Unterschiede nicht übersehen: 1) Die Offb hätte kaum zwei verschiedene Namen benutzt, wenn es sich wirklich um dieselben Leute handeln würde. 2) Die Nikolaiten bildeten auch nach Irenäus, Clemens Al., Hippolyt, Tertullian und Eusebius eine eigene Gruppe. 3) Die historische Herleitung ist verschieden. – Will man sowohl den Unterschieden als auch den Gemeinsamkeiten gerecht werden, dann empfiehlt sich folgendes Resultat: Nikolaiten und Bileamiten sind sich ähnlich, ja überschneiden sich teilweise, bilden aber jeweils für sich eigenständige häretische Gruppen. Letzteres mag mit der persönlichen Rivalität der Irrlehrer untereinander zusammenhängen. Möglicherweise steht im Hintergrund beider ein Missverständnis der paulinischen Freiheitspredigt. Gnostische Elemente sind vorhanden, aber eine allgemeine Einschätzung als „gnostisch“ hilft wenig.561 Zweifellos ist ihre Praxis libertinistisch. Zu V. 15 noch zwei Anmerkungen: a) Du hast bedeutet „in deiner Mitte sind, ohne dass du genügend dagegen einschreitest“. b) Die Wortstellung auch du (καὶ σύ [kai sy]) erinnert an Ephesus (V. 6), das hier dieselbe Situation aufweist wie Pergamon. In V. 16 erfolgt der Ruf zur Umkehr: So tue nun Buße. Dasselbe lasen wir in 2,5 (vgl. die Erklärung dort). Die ganze Gemeinde muss Buße tun, weil sie nicht genügend gegen Bileamiten und Nikolaiten eingeschritten ist. Dieser Bußruf muss insbesondere die heutigen protestantischen Kirchen nachdenklich machen, die so viele Jahrzehnte lang auf ihren „Pluralismus“ stolz gewesen sind. Elias Schrenk, Karl Hartenstein und Hellmuth Frey haben mit Nach559 Z.B. Bousset S. 213; Lohse S. 28; K.G. Kuhn a.a.O. S. 522f; Caird S. 38ff; Aune S. 188; Behm S. 21. 560 Kuhn a.a.O.; Lohse a.a.O.; Ritt S. 28. 561 Vgl. Hemer S. 92ff; Morris S. 68; Stählin a.a.O.; Schlatter S. 160.
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druck darauf hingewiesen.562 Auch sollten wir nicht vergessen, was Hartenstein betonte: „dass sich in der Gemeinde immer neu die Mächte des alten heidnischen Wesens wirksam machen und Menschen neben dem einen heiligen Gott auch noch auf andere Götter und Geister, neben der reinen, lautern Quelle des Wortes auch noch auf andere religiöse Stimmen der Welt hören“ (S. 76). Wenn aber nicht, komme ich bald über dich, kündigt der Auferstandene an. Vgl. wieder 2,5 und 3,11. Sein Kommen ist das Eingreifen zum Gericht. Gegenüber 2,5 erscheint hier neu das Wort bald (ταχύ [tachy]). Das ist ein Hinweis auf Jesu Eingreifen noch innerhalb der Kirchengeschichte und nicht erst beim Jüngsten Gericht. Ich werde mit ihnen streiten mit dem Schwert meines Mundes: Mit ihnen heißt „mit den Bileamiten und Nikolaiten“. Was die Gemeinde und ihr Bischof nicht genügend getan haben, das tut Jesus als der Auferstandene. Zwar wird dies für die ganze Gemeinde schmerzhaft sein. Aber dennoch ist zu beachten, dass es nicht heißt „mit dir (= der ganzen Gemeinde) streiten“!563 Gegen die Gemeinde als Ganze streitet Jesus in diesem Sinne nicht. Jedoch „streitet“ er gegen abtrünnige Christen, auch wenn sie nach wie vor seinen Namen tragen wollen. Eine Parallele dazu bietet das AT. Dort führt Gott sogar gegen Israel Krieg, wenn es den Bund verleugnet (Jer 21,5; Am 2,14ff).564 Die Wortgruppe πόλεμος [polemos] / πολεμεῖν [polemein] ist vor allem in der Offb zu Hause.565 „Streiten“ bedeutet in Offb 2,16: Jesus wird dem Unwesen der Häresie ein Ende setzen und die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen. Seine Waffe ist auch hier sein Wort (Schwert meines Mundes). Der Überwinderspruch in V. 17 beginnt wieder mit dem Aufmerksamkeitsruf Wer Ohren hat, der höre … usw. Vgl. die Erklärung bei V. 7. Dem Überwinder (ebenfalls bei V. 7 erklärt) werden drei Verheißungen gegeben: 1) verborgenes Manna, 2) weißer Stein, 3) neuer Name. Über alle drei wird heftig diskutiert. Das Manna, τὸ μάννα [to manna], kommt viermal im NT vor (Joh 6,31.49; Hebr 9,4; Offb 2,17). Es geht zurück auf τὸ μαν, das die Israeliten nach Ex 16,4ff in der Wüste aßen (LXX). Es wurde auch „Brot vom Himmel“ 562 Frey S. 42; Hartenstein S. 76ff; Schrenk S. 34ff. Seltsam mutet es uns heute an, wenn Schrenk vor hundert Jahren (1913) u.a. schrieb: „Es wird allmählich fast komisch, wenn man immerzu Konferenzen hält, Referate liefert und eifert gegen die Verbrechen, die den Geburtenrückgang verursachen, und während dieses Konferierens und Eiferns arbeiten die Volksverderber ungestraft weiter an der Vergiftung unseres Volkes und leiten es durch öffentliche Kolportage an, seinen eigenen Selbstmord zu bewirken.“ 563 Bousset S. 241; Prigent S. 52. 564 Vgl. O. Bauernfeind, Art. πόλεμος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 509. 565 Vgl. Bauernfeind a.a.O. S. 513f.
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oder „Brot Jahwes“ genannt (Ex 16,4.15; Ps 78,24 bzw. 77,24: μάννα, ἄρτος οὐρανοῦ [manna, artos uranu]). Einen Teil davon musste Aaron im Allerheiligsten der Stiftshütte aufbewahren (Ex 16,32ff; Hebr 9,4). Jesus griff das Wunder der Manna-Speisung auf und enthüllte, dass er selbst das wahre Himmelsbrot sei, und zwar durch sein Leiden und Sterben (Joh 6,30-58). Kein Wunder, dass das Manna von den Katakomben bis zu Augustin ein Symbol des Abendmahls wurde.566 Aber auch die jüdische Tradition und Exegese beschäftigte sich intensiv mit dem Manna und sah darin ein Zeichen der Macht und Güte Gottes und seines einzigartigen Wortes (Dt 8,2ff; Neh 9,20f; Ps 78,23ff; 105,40; SapSal 16,20ff).567 So konnte Johannes bei seinen Lesern mit Verständnis rechnen, wenn er vom „Manna“ schrieb. Doch was ist das verborgene Manna (τὸ μάννα τὸ κεκρυμμένον [to manna to kekrymmenon])? Ist es verborgen, weil es „im Himmel aufbewahrt ist“?568 Oder weil es entsprechend der „jüdischen Dogmatik“ „als Speise der Seligen“ erst in der Endzeit geschenkt wird?569 Oder weil nur die Gläubigen anhand der göttlichen Offenbarung einen Zugang zu den endzeitlichen Heilsgütern haben, die andern aber blind dafür sind?570 Oder weil Jesus Christus nur im Glauben als das wahre Manna/Himmelsbrot erkannt wird, für die Nichtglaubenden in seiner Bedeutung aber „verborgen“ bleibt? Vitringa sagt kurz und bündig: „Manna est Christus“ (S. 92).571 Oder ist das Manna schon in Offb 2,17 ein Symbol für das Abendmahl,572 nur den Glaubenden verständlich? Oder ist Manna ganz allgemein die Bezeichnung für die Teilnahme am Gottesreich, das den Nichtglaubenden verschlossen und „verborgen“ bleibt?573 Oder heißt es verborgen, weil es gemäß 2Makk 2,4ff beim Untergang Jerusalems 587/586 v.Chr. vom Propheten Jeremia zusammen mit der Stiftshütte an einem geheimen Ort „verborgen“ wurde?574 Dass der Auferstandene auf die zuletzt genannte Jeremia-Tradition zurückgreifen will, erscheint am wenigsten wahrscheinlich. Denn es ginge dann ja nur um das Manna des Alten Bundes und nicht mehr um das des Neuen Bundes, von dem Johannes in Joh 6,30ff berichtet. Viel566 H. Lesêtre, Art. Manne, DB, 4, 1908, Sp. 662; J. Schildenberger, Art. Manna, LThK, 6, 1961, Sp. 1360f. 567 Vgl. Schildenberger a.a.O.; vor allem Josephus Ant III, 26-32 über das μάννα; R. Meyer, Art. Μάννα, ThWNT, IV, 1942, S. 467f. 568 Bauer-Aland Sp. 922. 569 R. Meyer a.a.O. S. 469; ähnlich Wikenhauser S. 41. 570 A. Oepke, Art. κρύπτω usw., ThWNT, III, 1938, S. 977. 571 Ähnlich K.A. Kitchen, GBL, 2, S. 922. 572 Lesêtre a.a.O. Sp. 663; Prigent S. 53. 573 Kraft S. 66; Lohse S. 29. 574 Bousset S. 241; Lohse S. 28.
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mehr müssen wir gerade bei Joh 6,30-58 einsetzen. Es spricht alles dafür, dass der auferstandene Jesus an seine Aussagen vor der Kreuzigung anknüpfen will. Das heißt: Das „verborgene Manna“ ist Christus, der jetzt beim Vater weilt und für die Welt verborgen ist.575 Mit dieser Erklärung befinden wir uns in engster Gemeinschaft mit dem Johannesevangelium (vgl. Joh 6,41ff.52ff; 14,17ff; 17,25). Vom verborgenen Manna geben bedeutet dann: Jesus will an sich selbst Anteil geben (vgl. Joh 6,50ff). Insofern ist die Deutung aufs Abendmahl eingeschlossen. Die zweite Verheißung betrifft den weißen Stein (ψῆφον λευκῆν [psephon leuken]). Zahlreich sind auch hier die Erklärungen.576 Seit Bousset ist es beliebt, den weißen Stein auf ein „Amulett“ zu deuten, durch das der Gläubige die „vollkommene Herrschaft über alle Dinge“ erhält.577 Aber Bousset ist nicht in der Lage zu erklären, wie der Auferstandene, der soeben in Pergamon alles heidnische Wesen mit dem Gericht bedroht hat, jetzt denen, die das Heidentum ablehnen, ein heidnisches Amulett in Aussicht stellen soll. Prigent hat recht (S. 54): Man muss die Lösung im AT suchen. Die Verbindung von Stein und Name, die für Offb 2,17 charakteristisch ist, findet sich wieder bei der Priesterkleidung Ex 25,7; 28,9ff. Es handelt sich um die beiden Steine, auf die die Namen der Israeliten (τὰ ὀνόματα τῶν υἱῶν Ισραηλ [ta onomata ton hyion Israel] LXX) geschrieben wurden. Josephus berichtet darüber in Ant III, 166: ἐγγέγραπται δὲ τούτοις τῶν Ἰακώβου παίδων τὰ ὀνόματα γράμμασιν ἐπιχωρίοις γλώσσῃ τῇ ἡμετέρα [enggegraptai de tutois ton Iakobu paidon ta onomata grammasin epichoriois glosse te hemetera]. In Bild und Wortwahl kommt er damit Offb 2,17 sehr nahe. Da der Auferstandene vor allem als Hohepriester vor Johannes tritt (1,12ff), liegt es nahe, eine Beziehung zwischen dem priesterlichen Auferstandenen und dem Hohepriester des AT herzustellen. Dann könnte der Stein von Offb 2,17 ein Symbol dafür sein, dass der auferstandene Jesus den Betreffenden vertritt und auf seinem Herzen trägt. Weiss als biblisches Symbol für Reinheit, Gerechtigkeit und himmlische Herrlichkeit, gerade auch in der Offb (3,4f; 6,11; 7,9.13), bedeutet offenbar auch in
575 Ebenso Vitringa S. 92; Zahn S. 275; Behm S. 21. 576 Vgl. Wikenhauser S. 42 (Beglaubigung des Siegers); Kraft S. 66 (Teilnahmeberechtigung zum Gottesreich). Weiteres bei Hemer S. 96ff. Verlockend wäre ein Heranziehen von b Joma 75a, wonach zusammen mit dem „Manna“ auch Edelsteine und Perlen herabfielen. Aber b Joma 75a ist hier untauglich: a) spricht die Stelle selbst von „Kosmetika“, was nicht zu Offb 2,17 passt, b) fehlen die Beschriftungen auf diesen Steinen. Vgl. Wetstein S. 759. 577 Bousset S. 215; Lohse S. 29; Ritt S. 28; G. Braumann, Art. ψῆφος usw., ThWNT, IX, 1973, S. 602f; Bauer-Aland Sp. 1780; Behm S. 21.
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Offb 2,17 die künftige ewige Herrlichkeit der Erlösten.578 Dass Johannes den alttestamentlichen λίθος [lithos] von Ex 25 und 28 ersetzt durch die ψῆφος [ psephos], mag in der beabsichtigten Doppelbedeutung begründet sein. Denn ψῆφος [psephos] bezeichnet sowohl den bearbeiteten Stein als auch die Abstimmung oder den (freisprechenden) Urteilsspruch.579 Freigesprochen zum ewigen Leben und dem ewigen Hohepriester anvertraut: Das also ist die zweite Verheißung von Offb 2,17. Auch die dritte Verheißung knüpft an das AT an. „Wir befinden uns noch ganz im Bereich der alttestamentlichen Bilderwelt“ (Kraft S. 66). Die dritte Verheißung betrifft den neuen Namen (ὄνομα καινόν [onoma kainon]). Wir haben schon auf die enge Verbindung mit dem Stein hingewiesen: und auf den Stein geschrieben einen neuen Namen, den niemand kennt außer dem, der ihn empfängt. Auch in 3,12 spielt ein „neuer Name“ eine Rolle, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Für Offb 2,17 ist Jes 62,2; 65,15 wichtig: „Du sollst mit einem neuen Namen (τὸ ὄνομά σου τὸ καινόν [to onoma su to kainon] LXX) genannt werden, welchen des Herrn Mund nennen wird.“ Daraus wird deutlich: Der „neue Name“ gehört zum endzeitlichen Heil der Erlösten. Er bezeichnet die Erneuerung der Person und des Wesens.580 Nur Gott kann den neuen Namen verleihen und auf dem Stein eingravieren.581 Zeichen dieses Gottesrechtes sind die neuen Namen im AT (z.B. Abraham, Israel) und bei Jesus (Simon zu Petrus, die Zebedaiden zu Boanerges). Doch was ist es für ein neuer Name, den niemand kennt außer dem, der ihn empfängt? Es gibt zwei gut begründbare Möglichkeiten des Verständnisses: a) es ist der Christus-Name gemeint,582 b) es ist der Name des Erlösten selbst gemeint, den er nur selbst als erneuerter Mensch verstehen kann.583 Bei der Lösung a) muss man voraussetzen, dass alle Gläubigen in dem Ausdruck der ihn empfängt enthalten sind. Nur sie kennen demnach den Namen = die Person Christi richtig, nicht aber die Ungläubigen.584 Für die Möglichkeit b) spricht, dass der Singular ὁ λαμβάνων [ho lambanon] eher auf einen Einzelnen hinweist und dass Jesus hier offensichtlich den einzelnen Überwinder belohnen will. Außerdem sind die Gaben Manna und weißer Stein sicherlich So auch W. Michaelis, Art. λευκός usw., ThWNT, IV, 1942, S. 256. Vgl. Prigent S. 53f. Vgl. Braumann a.a.O. S. 600ff; M.J.S. Rudwick, GBL, 3, S. 1156. Vgl. Wikenhauser S. 41; Kraft S. 66; Schlatter BFchTh S. 61. γεγραμμένον [gegrammenon] ist ein Lieblingswort des Johannes. Vgl. G. Schrenk, Art. γράφω, ThWNT, I, 1933, S. 749. 582 So schon Vitringa S. 94 nach Grotius und Coccejus; Ritt S. 28; Prigent S. 54; Lohse S. 29. 583 So schon Bengel S. 250. 584 So auch Vitringa a.a.O. 578 579 580 581
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auf einzelne Erlöste und nicht auf die Gesamtheit einer erlösten Menschheit bezogen. Von unserer obigen Deutung her kommt hinzu, dass es schwierig wäre, sich den ewigen Hohepriester Jesus Christus mit dem eigenen Namen auf dem Stein vorzustellen. Wir neigen deshalb der Möglichkeit b) zu. Der Überwinder wird also auch in der Ewigkeit eine ganz eigene, persönliche und unverwechselbare Beziehung zum dreieinigen Gott haben. Dass sie unverwechselbar und persönlich ist, steckt in der Wendung den niemand kennt (οἶδεν [oiden] = [ ידעjada]!) außer dem, der ihn empfängt.585 Dann wird alles neu sein.586 Wie herrlich steht diese Verheißung am Ende des Sendschreibens! Statt Götzenopfer Manna, statt Unzucht Reinheit (weiß), statt Gericht Freispruch und Erhöhung, statt einheimisch-heidnischer Priesterkollegien der ewige Hohepriester Jesus (vgl. Hebr 6,20), statt des Alten das ewige Neue! Nachbemerkung: Beim Sendschreiben nach Pergamon fällt der stark alttestamentliche Charakter auf. Satan, Bileam, Balak, Manna, Num 25 und 31; Ex 16; 25; 28; Ps 78; Jes 62,2; 65,15 begegnen uns hier. Unseres Wissens war die jüdische Präsenz im Pergamon aber eher gering.587 Warum redet der Auferstandene dennoch so betont auf alttestamentlichem Hintergrund und von der Geschichte Israels her? Will er damit gerade auf diese Geschichte Israels als heilsames Beispiel für uns Christen hinweisen (vgl. 1Kor 10,1ff)?
IV Zusammenfassung 1. Die Gemeinde von Pergamon ist eine ausgesprochene Märtyrergemeinde, ein Exempel der leidenden Kirche. In der Residenz des römischen Provinzgouverneurs, inmitten gewaltiger und attraktiver Tempel, hält sie am Bekenntnis zu Jesus Christus fest. Sie weist den ersten mit Namen genannten Märtyrer in der Provinz Asien auf, nämlich Antipas. Ihre Existenz fordert die heutigen Kirchen auf, ihre Fähigkeit zu leiden und zur Lebenshingabe neu zu überdenken. 2. Der ewige Kampf, in dem Jesu Gemeinde auf Erden steht, wird hier ganz konkret. Es ist ein Kampf mit Verfolgung und Verführung. Beides sind Instru585 Bengel sehr schön: „Möchtest du wissen, was du für einen neuen Namen bekommen wirst? Überwinde! Vorher fragst du vergeblich: und hernach wirst du ihn bald auf dem weißen Stein geschrieben lesen“ (S. 250). Ebenso H. Bietenhard, Art. ὄνομα usw., ThWNT, V, 1954, S. 281; Rudwick a.a.O.; Hemer S. 102f; Zahn S. 279f; Morris S. 69; Schlatter S. 161f; P. Müller S. 11; E. Schrenk S. 38; Grünzweig S. 94. 586 Vgl. wieder Bengel a.a.O.: „ein recht apocalyptisches Wort“. Ebenso J. Behm, Art. καινός usw., ThWNT, III, 1938, S. 451: ein „zielweisendes Leitwort der apokalyptischen Verheißung“. 587 Hemer S. 89ff.
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mente in der Hand Satans, der insgeheim auch in Pergamon residiert und regiert und dort seinen „Thron“ hat. Die Verfolgung bedient sich der römischen Behörden, der irdisch unüberwindbaren Staatsgewalt. Die Verführung kommt durch Bileamiten und Nikolaiten, die sich nach wie vor Christen nennen, also von innen. Sie sind eng miteinander verwandt, aber doch als Gruppen je für sich existierend. Die Verführung kommt aber auch von außen, durch das Angebot der Anpassung an Götzenopfer und Unzucht! Die Schranken zwischen Kirche und Welt drohen zu fallen. 3. Das Lob für die Gemeinde in Pergamon überwiegt, so wie es auch bei Ephesus überwogen hat. Aber der unbestechliche Richter Jesus Christus spricht in aller Klarheit auch hier die Mängel an. Gemeinde und Bischof sind weder gegen die Nikolaiten noch gegen die Bileamiten genügend eingeschritten. Wer nicht Buße tut – und auch die rechtgläubige Gemeinde muss Buße tun –, verfällt dem Gericht. Gerade das Pergamon-Schreiben stellt die modernen Kirchen, nicht zuletzt die protestantischen, vor eine ernste Herausforderung. Sie haben zu prüfen, ob und wo sie falsche Lehre und falsches Verhalten zu weit gedeihen lassen. 4. Der alttestamentliche Hintergrund tritt im Schreiben an Pergamon besonders deutlich hervor. Wir haben schon bemerkt, dass dies umso auffälliger ist, als wir wenig über die jüdische Präsenz in Pergamon wissen. Die starke alttestamentliche Prägung unterstützt jedoch unsere Annahme, dass Antipas und evtl. weitere führende Persönlichkeiten aus dem Israelland stammen und „alte Jünger“ Jesu sein können. Eins jedenfalls ist klar: Diese frühen christlichen Gemeinden, gerade im kleinasiatischen Raum, waren im Alten Testament verwurzelt und wussten, dass Israels Geschichte auch ihre Geschichte war. 5. Die Verheißung ist nicht nur alttestamentlich, sondern auch christologisch geprägt. Jesus Christus als Brot des ewigen Lebens, Jesus Christus als der ewige Fürsprecher und Hohepriester der Seinen, Jesus Christus als Geber eines neuen Namens, also einer neuen Existenz, und dies alles in einer ewig einmaligen Beziehung zu jedem Glaubenden, das ist etwas, das Heidentum und Häresie niemals geben können. Gelingt es uns, das Licht und die Kraft dieser Verheißungen auch heute aufgehen zu lassen?
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8. Das vierte Sendschreiben: nach Thyatira I Übersetzung 2,18-29 18 Und dem Engel der Gemeinde in Thyatira schreibe: Das sagt der Sohn Gottes, der Augen hat wie eine Feuerflamme, und seine Füße sind wie Erz: 19 Ich kenne deine Werke und deine Liebe und deinen Glauben und deinen Dienst und deine Geduld, und deine letzten Werke sind mehr als die ersten. 20 Aber ich habe gegen dich, dass du die Frau Isebel gewähren lässt, die von sich sagt, sie sei eine Prophetin, und die lehrt und meine Knechte verführt, sodass sie Hurerei treiben und Götzenopfer essen. 21 Und ich habe ihr Zeit zur Buße gegeben, aber sie will sich nicht bekehren von ihrer Hurerei. 22 Siehe, ich werfe sie auf ein Bett, und die, die mit ihr Ehebruch treiben, in große Trübsal, wenn sie sich nicht bekehren von den Werken dieser Frau, 23 und ihre Kinder werde ich des Todes sterben lassen. Und alle Gemeinden werden erkennen, dass ich es bin, der Nieren und Herzen erforscht. Und ich werde euch, einem jeden Einzelnen, geben nach euren Werken. 24 Euch aber sage ich, den andern, die in Thyatira sind, die diese Lehre nicht haben, die nicht die Tiefen des Satans erkannt haben, wie sie behaupten: Auf euch werfe ich keine andere Last. 25 Doch was ihr habt, das haltet fest, bis ich komme. 26 Und wer überwindet und meine Werke bis ans Ende hält, dem werde ich Macht über die Völker geben, 27 und er wird sie mit eisernem Stabe weiden, wie tönerne Gefäße zerschlagen werden, 28 wie auch ich es empfangen habe von meinem Vater, und ich werde ihm den Morgenstern geben. 29 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
II Struktur Das Schreiben nach Thyatira weist die verwickeltste Struktur aller Sendschreiben auf. Zwar ist auch hier die Abfolge Schreibbefehl – Adressat – Absender – Lob – Tadel – Überwinderspruch erkennbar. Diese Abfolge wird aber überlagert von einer zweireihigen Ankündigung, die sich zuerst an die Häretiker richtet (V. 21-23) und sodann an die Treugebliebenen (V. 24-28). Der Aufmerksamkeitsruf (V. 29) ist hier vom Überwinderspruch gelöst und ganz an den Schluss gestellt. Dabei sind diese Ankündigungen durchsetzt mit anderen Elementen. Die an die Häretiker gerichtete Ankündigung enthält auch einen kurzen Rückblick auf die Gemeindegeschichte (V. 21). Die Ankündigung an die Treugebliebenen holt ihrerseits Angaben über die Häretiker nach (V. 24), und enthält zugleich einen mahnenden Zuspruch (V. 25).
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Offenbar ist die Spaltung in der Gemeinde von Thyatira weiter fortgeschritten als in den andern Sendschreiben-Gemeinden. Denn hier treten sich zwei relativ scharf umrissene Parteien gegenüber: die Partei der Isebel und die der „anderen“ (οἱ λοιποί [hoi loipoi], V. 24). Der Überwinderspruch ist hier auffallend lang. Während er bei Smyrna im Urtext ganze 10 Worte umfasst, sind es hier 43. Auch das ist ein Hinweis auf die Schwierigkeit der Situation in Thyatira. Die innergemeindlichen Probleme scheinen sich im Landesinneren tatsächlich zuzuspitzen. Wir haben ja mit Thyatira die Westküste bereits verlassen.
III Einzelexegese Zum Schreibbefehl, der in der Offb immer gleich lautet, vgl. die Erklärung bei 2,1. Thyatira, griechisch Θυάτειρα [Thyateira], eine Mehrzahlform, wies in der damaligen Zeit zwei Vorzüge auf. Der erste bestand in der günstigen Verkehrslage. Thyatira „hatte eine strategisch bedeutende Position in einem ‚Korridor‘, der das Hermos- mit dem Kaikostal verbindet.“588 In der römischen Zeit führte eine wichtige Straße von Pergamon über Thyatira nach Laodizea und weiter in die östlichen Provinzen. Der zweite Vorzug bestand in der Entstehung antiker Handwerkerbetriebe und Fabrikationen in Thyatira. Rudwick nennt Färbereien, Textilproduktionen, Keramik und Kupferschmieden.589 Das Neue Testament selbst gibt uns einen kleinen Einblick in diese Verhältnisse. Denn es berichtet von Lydia, einer „Purpurhändlerin (πορφυρόπωλις [porphyropolis]) aus der Stadt Thyatira“ (Apg 16,14), die reich genug war, um eine ganze urchristliche Missionsgruppe in ihr Haus in Philippi/Mazedonien aufzunehmen. Man vermutet, dass sie für den Überseehandel eines Herstellers aus Thyatira verantwortlich war. Sie „könnte den Verkauf gefärbter Wollartikel organisiert haben, die unter dem Namen des Farbstoffs bekannt waren“.590 Thyatira gilt als Gründung mazedonischer Griechen. Als Grenzort, zuerst für das Diadochenreich in Syrien und dann für das Königreich von Pergamon, diente es als Garnisonsstadt. Von daher hat es sozusagen auch eine militärische Geschichte. Geografisch gehörte es zu Lydien. Mit dem Reich von Pergamon kam es 133 v.Chr. unter römische Herrschaft. Als Teil der römischen Provinz Asien blühte es unter den Römern kräftig auf. Viele Inschriften bezeugen z.B. den Wert und die Stellung der Färbereien. Aber auch später behielt Thyatira eine gewisse Bedeutung. Hier besiegte Kaiser Valens im Jahre 366 588 M.J.S. Rudwick, GBL, 3, S. 1553. 589 A.a.O. 590 A.a.O.
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den Usurpator Prokopius, und im Jahre 1425 der türkische Sultan Murad den Fürsten von Aidin (früher Smyrna). Die Türken nannten Thyatira „Akhissar“. Unter diesem Namen existiert es noch immer.591 Über die Ursprünge der christlichen Gemeinde in Thyatira lassen sich nur Vermutungen anstellen. Eine dieser Vermutungen geht dahin, dass die Lydia von Apg 16,14 schon in Thyatira Juden traf und sich dort als „Gottesfürchtige“ dem jüdischen Glauben öffnete.592 Dann könnten wir ohne Weiteres mit Judenchristen in Thyatira rechnen. Eine andere Vermutung geht dahin, dass die christliche Gemeinde durch die Wirksamkeit des Paulus in Ephesus (ca. 52–55 n.Chr.) entstand (vgl. Apg 19,10).593 Oder ging die Gemeindegründung in Thyatira von Lydia aus?594 Es besteht auch die Möglichkeit, dass Christen von Mysien oder Troas während der zweiten Missionsreise des Paulus die christliche Botschaft nach Thyatira brachten (vgl. Apg 16,7f). Wir müssen jedoch gestehen, dass wir nichts Sicheres wissen. Wie in den anderen Sendschreiben stellt sich der Auferstandene als Absender selbst vor. Und wie in den anderen Sendschreiben ist diese Selbstvorstellung christologisch höchst geladen: Das sagt der Sohn Gottes (V. 18). Ohne Umschweife bejaht der auferstandene Jesus, dass er der Sohn Gottes (ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ [ho hyios tu theu]) ist. Für diese Aussage wurde er gekreuzigt (Joh 10,33; Mk 14,61f). Diese Aussage bildet den Zielpunkt aller Religionsdialoge. Sohn Gottes heißt: Jesus war seit Ewigkeit beim Vater (Präexistenz), wurde von ihm zur Erlösung der Welt gesandt und lebt auch in Ewigkeit in der „Wesenseinheit von Vater und Sohn“.595 Die biblischen Schriften lehren deshalb die Trinität, d.h. das Geheimnis des dreieinigen Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist (vgl. Joh 14,6.9; 10,30). Speziell zu Offb 2,18 merkt Eduard Schweizer an, dass hier eine „Aufnahme von Ps 2,7“ geschieht.596 Das ist umso wahrscheinlicher, als das Schreiben nach Thyatira am Schluss (V. 26-28) ganz betont mit Ps 2 arbeitet. Man darf daneben jedoch nicht vergessen, dass „Sohn Gottes“ im AT auch in 2Sam 7,14; Ps 89,27; Jes 9,5 bezeugt wird. Die Fortsetzung in V. 18: der Augen hat wie eine Feuerflamme, und seine Füße sind wie Erz nimmt wörtlich Offb 1,14f auf. Das οἱ ὀφθαλμοὶ 591 Vgl. H. Lesétre, Art. Thyatire, DB, 5, 1912, Sp. 2202–2204; A. Wikenhauser, Art. Thyatira, LThK, 10, 1965, Sp. 176-177. 592 So Hemer S. 109f. 593 Vgl. wieder Hemer S. 110. 594 Vgl. Lesétre a.a.O. Sp. 2203. 595 E. Schweizer, Art. υἱός usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 390. 596 A.a.O. S. 392.
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αὐτοῦ ὡς φλόξ πυρός [hoi ophtalmoi hos phlox pyros] erscheint dann in 19,12 ein drittes Mal. Vgl. die Erklärung bei 1,14-15. Demnach geht die Beschreibung der Augen auf Dan 10,6 zurück. Sie durchdringen jede Vernebelung. Seine Füße sind Ausdruck der Stärke und Standhaftigkeit. Die genaue Bedeutung von χαλκολίβανος [chalkolibanos] (Golderz? Messing?) muss offenbleiben. Doch warum wird im Schreiben nach Thyatira gerade auf Augen und Feuerflammen sowie auf Füße und Erz Bezug genommen? Eine Antwort kann darin liegen, dass Feuer und Erz in der lokalen Industrie von Thyatira eine Rolle spielten, also eine Art Vertrautheit herstellen. Aber der eigentliche Grund muss tiefer liegen. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass der Sohn Gottes in seiner Erscheinung mit Feuer und Erz vor allem die göttliche Würde Jesu zum Ausdruck bringt.597 Sein göttliches Urteil und seine göttliche Macht begegnen hier den Thyatirern. Außerdem durchdringen seine Augen aufs Genaueste die besonders verwickelte Situation in Thyatira und machen sein Urteil völlig gerecht. Das Lob beginnt mit den von Ephesus (2,2) bekannten Worten Ich kenne deine Werke (V. 19). Wie bei Ephesus wird man die Werke als Zusammenfassung oder Überschrift des Folgenden verstehen dürfen. Nach wie vor bleibt es wichtig, dass man in die „Werke“ keinen Gegensatz zum „Glauben“ hineinliest. Überraschend ist die erste Konkretion: und deine Liebe. Die hatte Ephesus ja gerade im nötigen Ausmaß gefehlt (2,4)! Hier steht es in Thyatira besser. An der Liebe in Thyatira hat der Auferstandene nichts auszusetzen. Liebe: Genügt das nicht? Hier hätte mancher protestantische Ethiker aufgehört und alles perfekt gefunden. Für den Auferstandenen genügt das nicht. Er kommt auf den Zusammenhang des gesamten Gemeindelebens zu sprechen. Ich kenne deinen Glauben: Auch der Jesus der Evangelien und Paulus stellen Liebe und Glauben eng zusammen (Joh 14,12ff; 1Kor 13,13). Möglich ist in Offb 2,18 auch die Übersetzung von πίστις [pistis] mit „Treue“ statt „Glauben“.598 Aber gerade die Nachbarschaft mit der ἀγάπη [agape] und die vorausgehende Bezeichnung der Sohn Gottes empfehlen es unseres Erachtens, πίστις [pistis] besser mit „Glauben“ zu übersetzen.599
597 „Der Sohn Gottes“ erscheint in dieser Begrifflichkeit nur einmal in der Offb, nämlich hier 2,18. 598 So z.B. Bousset S. 216; Lohse S. 30; Wikenhauser S. 42; Prigent S. 57; Bengel S. 251; Aune S. 202. 599 So auch Ritt S. 29; Kraft S. 69; Morris S. 70; Zahn S. 280.
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Als Viertes lobt der Auferstandene deinen Dienst (τὴν διακονίαν σου [ten diakonian su]).600 διακονία [diakonia] erscheint in der Offb nur hier, διακονεῖν [diakonein] fehlt ganz. Es muss auffallen, dass ein Lob des „Dienstes“ (διακονία [diakonia]) nur in Thyatira auftaucht. Uns scheint es angemessen, dies in eine Beziehung zur Sozialstruktur der Stadt zu setzen. In dieser Sozialstruktur dominierten die Handwerker-Gilden. Auch sie widmeten sich, einer Bemerkung von Colin Hemer zufolge, guten Werken („devoted to good works“, S. 123). Doch wehe, wenn jemand wegen seines Glaubens aus dieser Sozialstruktur herausfiel! Dann trat eine ähnliche Notlage ein wie in Jerusalem bei denjenigen, die aus dem sozialen Netz der Synagoge herausfielen (Apg 6,1ff). Die Parallele zwischen Apg 6 und Offb 2,19 ist nicht zu übersehen.601 Hier hat die Gemeinde von Thyatira tatkräftig gehandelt. Mit H.W. Beyer verstehen wir deshalb διακονία [diakonia] in Offb 2,19 als „Taten helfender Fürsorge im Auftrage der Gemeinde“.602 Das fünfte Lob gilt deiner Geduld. Die „Geduld“ wurde auch bei Ephesus gelobt, sogar doppelt (2,2.3). Vgl. die Erklärung dort. Geduld (ὑπομονή [hypomone]) ist ein Hauptwort der Offb (1,9; 2,2.3.19; 3,10; 13,16; 14,12). Wenn es jetzt für Thyatira eine Rolle spielt, dann deutet sich damit an, dass auch die Gemeinde in Thyatira von Verfolgung nicht verschont geblieben ist. Im Blick auf Offb 2,19 definiert Friedrich Hauck die ὑπομονή [hypomone] „als tragende und ausharrende Geduld der Märtyrer-Gläubigen unter Verfolgungsleiden“.603 Diese Dimension darf man bei Thyatira nicht außer Acht lassen. Schließlich lobt der Auferstandene: deine letzten Werke sind mehr als die ersten (τὰ ἔργα σου τὰ ἔσχατα πλείονα τῶν πρώτων [ta erga su ta eschata pleiona ton proton]). Wieder wird das Gegenteil von Ephesus ausgesagt. Denn dort wurde getadelt, „dass du deine erste Liebe verlassen hast“ (2,4). Thyatira hingegen hat „Fortschritte gemacht“604, und zwar in seinen Werken insgesamt: Liebe, Glauben, Dienst und Geduld. Eine bis zu diesem Punkt vorbildliche Gemeinde! Mit wie viel Liebe kann der Auferstandene alles Positive sehen!
600 Die Auslassung in *אist zu schwach bezeugt. 601 Überhaupt ist das enge Verhältnis zwischen der Apostelgeschichte des Lukas und den Sendschreiben der Offb auffallend. 602 Art. διακονέω usw., ThWNT, II, 1935, S. 87. Prigent S. 57 empfindet διακονία [diakonia] in Apg 2,19 als schwierig. 603 Art. μένω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 593. 604 Hemer S. 107: „The words of Rev. 2.19 were addressed to a growing church in a growing city.“
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Der Tadel wird jetzt zum dritten Mal eingeleitet mit ἀλλὰ ἔχω κατὰ σου [alla echo kata su] (V. 20, vgl. 2,4.14).605 Der Inhalt des Tadels ist, dass du die Frau Isebel gewähren lässt. ἀφιέναι [aphienai] heißt hier gewähren lassen, „unbehelligt lassen“.606 Damit wird das mangelhafte Einschreiten gegen falsche Lehre und falsche Praxis schon zum zweiten Mal in den Sendschreiben zu einem wesentlichen Anklagepunkt. Paulus, Petrus und Johannes haben früher bereits mit einem verfälschten Christentum gerungen (1Kor 8,11ff; 10,1ff; 2Kor 6,11ff; 11,1ff; Gal 1,6ff; Kol 2,1ff; 2Petr 2,1ff; 1Joh 4,1ff). Dieses konnte sich jetzt in einer Reihe kleinasiatischer Gemeinden fest etablieren – trotz der jahrelangen Wirksamkeit des Johannes in Ephesus und seiner Umgebung. Man hat den Eindruck, dass die Frontbildungen gegen Ende des 1. Jh. zunehmen. Die christliche Gemeinde darf hier nicht gewähren, was das Christentum nicht gewähren kann. Hier sind die Sendschreiben der Offb ungeheuer aktuell. Denn was man unter Berufung auf das Christsein und seine „Liebe“ gewähren lassen kann und was nicht, gehört zu den Grundfragen unserer modernen Zeit. Das Schreiben nach Thyatira nennt zum ersten Mal eine Person, an der sich die ganze Problematik festmacht: die Frau („das Weib“ in den alten Übersetzungen) Isebel. Aber ist es überhaupt eine Person und nicht vielmehr ein Deckname bzw. polemischer Name für eine Partei? Dass sich Isebel eine Prophetin nennt, dass sie Zeit zur Buße erhält, spricht eher für eine bestimmte Person.607 Doch wer ist diese Isebel? Ἰεζάβελ [Iezabel] geht auf hebr. [ ִאיֶזֶבלisevel] zurück. „Isebel“ hieß die Frau des israelitischen Königs Ahab (874–852 v.Chr.),608 die aus Sidon/Phönizien stammte. Diese Isebel muss eine willensstarke, machtbewusste und zugleich tief in ihrer heidnischen Religion verwurzelte Frau gewesen sein. Sie propagierte ihren Baalskult auch in Israel, versuchte ihn sogar mit Gewalt in Israel einzuführen, rottete die Propheten des lebendigen Gottes aus, bekämpfte Elia, brachte Nabot ums Leben und war berüchtigt als Götzendienerin und Zauberin (1Kön 16 bis 2Kön 9). In 2Kön 9,22 finden wir Isebels πορνεῖαι [porneiai] (LXX, hebr. [ ְזנוִּניםsenunim]) er-
605 Die Zufügungen πολύ [poly] und ὀλίγα [oliga] schließen sich gegenseitig aus und sind als Textangleichungen an 2,14 zu betrachten. 606 Bauer-Aland Sp. 253; R. Bultmann, Art. ἀφίημι usw., ThWNT, I, 1933, S. 508. 607 So auch A. Oepke, Art. γυνή, ThWNT, I, 1933, S. 788; Bousset S. 217; Prigent S. 57; Behm S. 22; Wikenhauser S. 43. Für eine Partei z.B. Schlatter S. 163. 608 Vgl. D.J. Wiseman, Art. Ahab, GBL, 1, S. 36.
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wähnt, also den Baal-Fruchtbarkeitskult, der zugleich sexuelle Ausschweifungen zur Folge hatte.609 Im jüdischen Schrifttum wurde „Isebel“ im Unterschied zu Bileam kein symbolischer Name.610 Umso mehr fällt Offb 2,20 auf. Es mag, wie Hemer bemerkte (S. 123), ein Schock für Thyatira gewesen sein, dass der Auferstandene eine populäre Verkündigerin mit der Isebel des AT verglich. Denn sehr wahrscheinlich war „Isebel“ nicht der Eigenname dieser Frau,611 sondern es handelt sich um einen symbolischen Namen.612 Offb 2,20 macht zu ihr weitere Angaben. Sie sage von sich, sie sei eine Prophetin (λέγουσα ἑαυτὴν προφῆτιν [legusa heauten prophetin]). Sie nimmt also dieselbe Würde für sich in Anspruch, die Paulus in Antiochien zukam (Apg 13,1) und die nach dem Apostolat die zweithöchste Stellung in der frühen Kirche bezeichnete (1Kor 12,28). Prophezeiende Frauen gab es durchaus in der ersten Christenheit, wenn auch nicht allzu häufig (Lk 2,36; Apg 2,17; 21,9; 1Kor 11,5), und wenn es auch umstritten ist, ob sie den Titel „Prophetin“ führten.613 „Prophet“/„Prophetin“ schließt Verkündigung und Lehre ein, manchmal auch die Weissagung der Zukunft (Apg 11,27ff), außerdem die „autoritative Weisung“.614 Offb 2,20 hält fest, dass Isebel lehrt (διδάσκει [didaskei]). Man kann sich das wie bei den Nikolaiten und Bileamiten nicht anders vorstellen, als dass sie das AT und die apostolische, auf Jesus zurückgehende Lehre auslegte. Woher hatte sie ihre Autorität? War sie Jüdin? War sie eine konvertierte heidnische Priesterin, evtl. in Verbindung mit der Sibylle vom Sambatheum nahe Thyatira?615 Wir wissen das alles nicht mehr. Auszuscheiden ist jedoch die Deutung auf die Frau des Bischofs, die vor allem in Zahn eine Stütze fand.616 Denn die Lesart τὴν γυναῖκά σου [ten gynaika su] ist zu schwach bezeugt.617 Über die Folge ihrer Lehrtätigkeit macht Apg 2,20 ebenfalls Angaben: Sie verführt meine Knechte, sodass sie Hurerei treiben und Götzenopfer essen. Knechte bedeutet wohl „Christen“ im allgemeinen Sinne, nicht nur Männer. πορνεῦσαι [porneusai] erinnert stark an die alttestamentliche Isebel von 2Kön 9,22. Es meint hier den Abfall von Gott und Jesus.
609 610 611 612 613 614 615 616 617
Vgl. dazu S. Erlandsson, Art. ָזנ ָה, ThWAT, II, 1977, S. 619. H. Odeberg, Art. Ἰεζάβελ, ThWNT, III, 1938, S. 218. Wie es z.B. Bengel meinte. So auch Odeberg a.a.O.; Hemer S. 119f; Bousset S. 216; Lesétre Sp. 2203; Lohse S. 30; Wikenhauser S. 43; Morris S. 70. Vgl. dazu G. Friedrich, Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, S. 829. Friedrich a.a.O S. 850. Vgl. Hemer S. 117ff; Lesétre Sp. 2203; Bengel vermutete eine Jüdin (S. 252). Zahn S. 286ff. Vgl. Bengel S. 252; Kraft S. 69; Prigent S. 57. Hemer S. 117.
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Eventuell schließt es aber auch sexuelle Verfehlungen ein.618 Wir haben es also ähnlich wie bei den Nikolaiten und Bileamiten (2,14) mit Libertinismus und Antinomismus zu tun.619 Das Götzenopfer essen kann man auf Fleisch von den Märkten beziehen. Dort wurde oft Fleisch angeboten, das aus kultisch-heidnischen Schlachtungen stammte. Oder es kann sich auf die Teilnahme an den Kultmahlen der Handwerker-Gilden beziehen. Die Mitgliedschaft in den Handwerker-Gilden und damit auch die Teilnahme an deren religiösen Festmahlen war oft lebensnotwendig. Es könnte also gut sein, dass Isebel hier einen Kompromiss vermittelte. Das nehmen jedenfalls viele Ausleger an.620 Deutlich zeichnen sich jetzt einige Hauptprobleme der damaligen Kirche ab: nämlich das Verhältnis zu einer verfolgungsbereiten multireligiösen Umgebung und das Problem der religiösen Anpassung vor allem im sozialen und wirtschaftlichen Leben. Die multi-ethnische Bevölkerung von Thyatira621 mag diese Problematik verstärkt haben. Bot Isebel hier nicht einen „Weg des Lebens“? Ihre Lehre war verführerisch mit ihrem Plädoyer für Anpassung und Partizipation am Leben der Mehrheit. Die Offb sagt ja ausdrücklich, sie habe verführt (πλανᾷ [plana]).622 Was sprach gegen sie? Was hinderte den Bischof und die rechtgläubige Gemeinde, sich ihr anzuschließen? Da war einmal das Apostelkonzil von Apg 15, das εἰδωλόθυτα [eidolothyta] und πορνεία [porneia] ausdrücklich untersagt hatte (Apg 15,29). Daraus war eine Verhaltensrichtlinie für die ganze Kirche entstanden (vgl. 1Kor 8,1ff). Es fällt überhaupt auf, welche Rolle das Apostelkonzil im Hintergrund der Sendschreiben spielt.623 Da war aber auch Jesu klare Ablehnung jeder Zweideutigkeit und jeder Anleihe beim Heidentum: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). Und in Verbindung damit ging es um das uralte Glaubensbekenntnis Israels: „Der HERR ist unser Gott, der HERR allein“ (Dtn 6,4). Der Auferstandene verwirft jedenfalls Isebel in aller Deutlichkeit. Bevor wir in unserem Kommentar fortfahren, sei noch eine Auffälligkeit notiert. Beide Persönlichkeiten, die wir aus der Ursprungszeit der Gemeinde von Thyatira kennen, sind Frauen: Lydia (Apg 16,14) und „Isebel“. Sie treten sich als Grundmöglichkeiten wahren und falschen Christentums gegenüber. Aber auch später spielen Frauen in Thyatira eine entscheidende Rolle. In der Zeit des Montanismus, einer Bewegung mit häretischen Zügen seit dem 2. Jh. 618 619 620 621 622 623
Darauf hebt z.B. Bengel ab (S. 252f). Odeberg a.a.O. Vgl. Hemer S. 117ff; Ritt S. 30; Morris S. 71. Hemer S. 118; Lesétre Sp. 2203. Vgl. H. Braun, Art. πλανάω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 251. Hemer S. 120.
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n.Chr., bildete nämlich Thyatira eines seiner Hauptzentren. Und es waren wiederum Prophetinnen wie Priscilla und Maximilla, die in dieser Bewegung an führender Stelle standen.624 In V. 21 begegnet uns der in II. erwähnte Geschichtsrückblick. Er bezieht sich auf „Isebel“: Und ich habe ihr Zeit zur Buße gegeben, aber sie will sich nicht bekehren von ihrer Hurerei. Zeit zur Buße geben gehört zu den wichtigen Elementen der göttlichen Geschichtslenkung (vgl. Lk 13,3.5; Röm 2,4; 2Petr 3,9.15). Der Auferstandene wünschte also ihre Buße, ihre Umkehr. Sie hatte die Chance! Das steht ganz in Übereinstimmung mit Ez 18,23 und 33,11. Wie lange der χρόνος [chronos] zur Buße dauerte, wissen wir nicht.625 Ebenso wenig, auf welche Weise sie der erhöhte Jesus ansprach. Es könnte durch den örtlichen Bischof, aber auch durch Johannes selbst gewesen sein. Wie schwer war für Thyatira diese Zeit des Hin- und Hergerissenseins, in der Isebel nach dem Willen Gottes weiterwirken konnte! Aber um der Möglichkeit zur Umkehr willen wurde sie Thyatira zugemutet. Jetzt ist freilich diese „Zeit“ (χρόνος [chronos]) abgelaufen. Die Bilanz heißt: Aber sie will nicht (καὶ οὐ θέλει [kai u thelei]).626 Bengel hat den Sachverhalt sehr schön zusammengefasst: „Buße ist Gottes Gabe, Apostg. XI, 18. aber der Mensch wird nicht gezwungen“ (S. 253). Dass die Bußverweigerung hier auf die Hurerei konzentriert wird (ἐκ τῆς πορνείας αὐτῆς [ek tes porneias autes]), könnte wie das Voranstellen von πορνεῦσαι [porneusai] in V. 20 darauf hindeuten, dass die Frage des Götzenopferfleisches eine geringere Bedeutung hatte. Das Hauptgewicht liegt auf der „Hurerei“ (πορνεῦσαι [porneusai], πορνεία [ porneia]), also dem Götzendienst und evtl. sexuellen Verstößen gegen die Gebote.627 Die Wendung οὐ θέλει [u thelei] (ἠθέλησεν [ethelesen]) fordert uns zu einer grundsätzlichen Besinnung auf. Der irdische Jesus hatte sich ja gegenüber Jerusalem ganz ähnlich geäußert: „Ihr habt nicht gewollt“, οὐκ ἠθελήσατε [uk ethelesate], Mt 23,37). Bei Teilen der modernen Christenheit ist es beliebt geworden, die Entscheidungsmöglichkeit des Menschen Gott gegenüber zu leugnen und alles auf die Prädestination (Vorherbestimmung) abzustellen (Sir 15,11ff). Dies widerspricht der Bibel. Wo Gottes Wort den Menschen trifft, da soll er seine Antwort geben und hat dazu die Wahlfreiheit. So haben es das Gesetz und die Propheten verkündigt (Dtn 30,15ff; Ez 18 und 33). So hat es 624 Vgl. Epiphanius Haer 51,33; Bousset S. 216; Prigent S. 56ff; Kraft S. 68.70. 625 Als unbestimmte „Frist zur Umkehr“ deutet G. Delling das χρόνος [chronos] in Offb 2,21 (Art. χρόνος, ThWNT, IX, 1973, S. 587). 626 ἠθέλησεν [ethelesen] ist wohl nachträgliche Korrektur. 627 Vgl. Hemer S. 120; Bengel S. 253.
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Jesus gelehrt (Mt 23,37; Joh 6,37). So ist es die Lehre der alten jüdischen Lehrer (Sir 15,11ff; Pirke Abot III, 19) gewesen. So hat es die Alte Kirche gegenüber der Häresie verteidigt (Irenäus Adv. haer. IV,37). Es fällt auf, dass es auch die Offb in 2,21 ganz dezidiert im Kampf mit der Irrlehre tut. In der Exegese stellt man sich die Frage, ob Isebel Nikolaitin, Bileamitin oder doch etwas Eigenständiges war. Kraft geht von der „Gleichartigkeit“ der häretischen Gruppen in Pergamon (2,14f) und Thyatira aus (S. 69).628 Hemer ist vorsichtiger.629 Wir haben oben schon darauf hingewiesen, welch wichtige Rolle den Führungspersönlichkeiten der Häretiker zukam. Sie legen höchsten Wert auf ihre persönliche Autorität (sie sei eine Prophetin usw.), werden auch sonst im Neuen Testament der Ehrsucht und sogar der Geldgier beschuldigt (2Kor 10,12ff; 11,1ff; 12,11ff; Phil 3,2ff; Kol 2,8ff; 2Tim 3,1ff; Tit 1,10ff; 2Petr 2,1ff; Jak 3,1ff; Jud 3ff). Angesichts dieser Atmosphäre von Rivalität und auch aufgrund der lokalen und regionalen Verschiedenheiten empfiehlt es sich nicht, alle diese Gruppen in einen Topf zu werfen. Trotz weitgehender sachlicher Überschneidungen („Götzenopfer essen“ / „Hurerei treiben“) ist jede zunächst für sich selbst zu betrachten. Der kontinuierliche Zusammenhang mit den Häresien der späteren Zeit, also des 2. Jh., soll damit nicht geleugnet werden.630 Im V. 22 erfolgt die Ankündigung des Gerichts: Siehe, ich werfe sie auf ein Bett (ἰδοὺ βάλλω αὐτὴν εὶς κλίνην [idu ballo auten eis klinen]). Dieser erste Teil der Ankündigung bezieht sich auf die falsche Prophetin Isebel. βάλλειν [ballein] heißt hier einfach werfen oder noch einfacher „legen, hinbringen“.631 Bett, κλίνη [kline], kann Verschiedenes bedeuten: Ruhebett, Krankenlager, Bahre, Totenbahre.632 Am wahrscheinlichsten ist es, dass Offb 2,22 mit dem Bild vom „Bett“ spielt: Aus dem „Bett“ der „Hurerei“ – übertragen oder buchstäblich – wird für Isebel das Kranken-„Bett“.633 Dafür spricht auch die Meinung der alten Rabbinen,634 dass Unzucht mit Krankheit bestraft wird. Wäre für Isebel das Totenbett oder die Totenbahre gemeint gewesen, dann wäre dies vermutlich ähnlich wie in V. 23 zum Ausdruck gekommen. Das „Bett“ lässt übrigens immer noch eine Chance zur Buße (vgl. Jes 38). Eigent628 Ebenso Bousset S. 219; Prigent S. 57; Wikenhauser S. 43. 629 S. 122ff. 630 Insofern kann man im Vorgriff auf die Nomenklatur des 2. Jh. auch von „libertinistischen Gnostikern“ sprechen. So z.B. F. Hauck/S. Schulz, Art. πόρνη usw., ThWNT, VI, 1959, S. 594; Bousset S. 218; Kraft S. 70; Lohse S. 30; Wikenhauser S. 43. 631 Vgl. F. Hauck, Art. βάλλω usw., ThWNT, I, 1933, S. 524f. 632 Bauer-Aland Sp. 887. 633 So auch Bauer-Aland a.a.O.; Ritt S. 30; Lohse S. 30; Wikenhauser S. 43. 634 B Schab 33a; b Arach 16a u.a. Vgl. Strack-Billerbeck S. 794.
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lich erstaunlich, dass der Auferstandene die Sünden Isebels nicht mit einem sofortigen Tod bestraft. Der zweite Teil der Ankündigung des Gerichts bezieht sich auf die Mitschuldigen in Thyatira. Und ich werfe die, die mit ihr Ehebruch treiben,635 in große Trübsal, wenn sie sich nicht bekehren von den Werken dieser Frau. Die mit ihr Ehebruch treiben deutet Zahn auf ein reales Ehebruchsverhältnis der Bischofsfrau, aus dem dann uneheliche Kinder (V. 23) hervorgingen.636 Fasst man wie wir „Hurerei“ in V. 20 als Götzendienst,637 verbunden evtl. mit sexuellen Gebotsverletzungen, dann bezeichnet „die mit ihr Ehebruch treiben“ die Mitverantwortlichen in der häretischen Gruppe, also die mit „Isebel“ zusammen aktiven Kräfte der Gruppe. Denn „Ehebruch treiben mit“ setzt eine annähernd gleiche Augenhöhe voraus, während „Kinder“ die Produkte, gewissermaßen die nachfolgende Generation darstellen. Interessant ist nun die Bemerkung „wenn sie sich nicht bekehren.“ Diese Bemerkung räumt ausdrücklich die Möglichkeit der Buße ein. Bei Isebel hat ein solcher ausdrücklicher Hinweis auf die gegenwärtige Bekehrungsmöglichkeit gefehlt. Jesus rechnet also damit, dass manche von den Mitschuldigen bzw. Mitverantwortlichen noch zur Einsicht kommen können. Die Werke dieser Frau (wörtlich: „ihre Werke“)638 sind Lehre und Leben Isebels als Vorbilder. Erfolgt keine Buße, wartet auf die Mitschuldigen große Trübsal. Worin sie besteht, wird nicht gesagt. Man kann jedoch vermuten, dass die „Trübsal“ = Verfolgung, der sie mit ihrer Anpassungsstrategie zu entgehen hofften, dann erst recht eintritt. Die bisherigen Beobachtungen führen dazu, dass wir wie Wikenhauser in Thyatira ein Zentrum damaliger Häresie annehmen müssen.639 Das Nebeneinander von „Prophetin“, „Ehebrechern“ und „Kindern“ lässt auf eine beträchtliche Anzahl häretischer Christen schließen. Eventuell deuten Begriffe wie „Ehebrecher“ und „Kinder“ sogar auf eine generationenlange oder jedenfalls ziemlich lange Wirksamkeit hin.640 Auch V. 21 (ἔδωκα χρόνον [edoka chronon]) spricht für eine solche Annahme. Die Gerichtsankündigung setzt sich in V. 23 fort: und ihre Kinder werde ich des Todes sterben lassen. Für ἀποκτενῶ ἐν θανάτῳ [apokteno en thanato] 635 μοιχεύοντας [moicheuontas] ist Präsens. 636 Zahn S. 288f. Auch Bousset lehnt „Jede geistige und uneigentliche Deutung der Stelle“ ab (S. 219). 637 Wie wir auch F. Hauck, Art. μοιχεύω, ThWNT, IV, 1942, S. 743; Prigent S. 58. 638 αὐτῆς [autes] scheint ursprünglich zu sein, nicht αὐτῶν [auton]. Gegen Brütsch S. 158. 639 Wikenhauser S. 43: „ein gefährliches Zentrum“ im Unterschied zu Pergamon. 640 Prigent S. 58 „un certain temps“.
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gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder liegt hier ein Zitat aus Ez 33,27 LXX vor. Dann steht θάνατος [thanatos] für [ ֶדֶּברdever], und die Bedeutung wäre: „Ich werde sie an einer tödlichen Seuche“ bzw. noch spezieller, „ich werde sie an der Pest sterben lassen“.641 Oder es liegt ein Hebraismus der Rede vor, wie z.B. bei der Wendung „des Todes sterben“.642 Dann wäre es sogar möglich, den Tod im geistlichen Sinne als „Verlust des ewigen Lebens“ zu verstehen.643 Man wird beide Möglichkeiten nebeneinander stehen lassen müssen. Allerdings empfehlen die Nachbarbegriffe κλίνη [kline] und θλῖψις [thlipsis] ebenso wie die Kenntnisnahme „aller Gemeinden“ (V. 23b), hier an den realen irdischen Tod und nicht erst ans ewige Leben zu denken. Doch wer sind ihre Kinder? Zunächst ist Bousset recht zu geben: „Ehebrecher“ und „Kinder“ darf man nicht identifizieren.644 Sie sind nicht einfach unterschiedslos „Anhänger“ der Isebel.645 Wikenhauser sah in den „Ehebrechern“ nur „Irregeleitete“, bei den „Kindern“ dagegen ein sehr enges Verhältnis zu Isebel: Es sind solche, „welche ihrer geistigen Mutter ganz gleich geworden646 sind“. Wieder bieten sich verschiedene Deutungsmöglichkeiten an: a) Es sind die leiblichen Kinder der Isebel, entweder die ehelichen647 oder die im Ehebruch gezeugten.648 Der Tod von Davids Sohn (2Sam 12,14ff) und das Gericht an den Söhnen Ahabs (2Kön 10,7ff) können dabei an biblische Linien erinnern. b) Es sind die geistlichen Kinder der Isebel. Das würde sich an unsere bisherige Erklärung anschließen. Auch dafür gibt es einen reichen biblischen Sprachgebrauch.649 Zu erinnern ist insbesondere an die „Kinder der Sara“ (1Petr 3,6), an die „Kinder der Weisheit“ (Lk 7,35), an die „Kinder des Lichts“ (Eph 5,8; vgl. 2Petr 2,14), und nicht zuletzt an das τέκνον[teknon]Verhältnis des Paulus und des Johannes zu ihren Schülern und Gemeinden (1Kor 4,17f; 1Tim 1,2; Tit 1,4; 2Joh 1.4.13; 3Joh 4). In diesen Zusammenhang stellt Albrecht Oepke mit Recht auch Offb 2,23 hinein.650 Wir nehmen also an, dass ihre Kinder die geistlichen Kinder Isebels bezeichnet. Sie verkörpern
641 Vgl. dazu G. Mayer, Art. בר ֶ ֶדּ, ThWAT, II, 1977, Sp. 133-135. So z.B. Kraft S. 70; Lohse S. 30. 642 Dahin tendiert Bousset S. 220. 643 So Wikenhauser S. 43. 644 Bousset S. 219. 645 Gegen Lohse S. 30; Prigent S. 58; Kraft S. 70; Behm S. 23; Caird S. 44. 646 S. 43. Ähnliches vermutet Morris S. 72: „her most intimate disciples“. 647 So Bousset S. 219. 648 Zahn S. 288f; Bengel S. 254. 649 Vgl. Bauer-Aland Sp. 1612f; A. Oepke, Art. παῖς usw., ThWNT, V, 1954, S. 637f. 650 A.a.O. S. 638. Ebenso Bauer-Aland Sp. 1613.
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gewissermaßen ihr Wesen.651 Daher auch die Strenge der Strafe: Ich werde sie des Todes sterben lassen. Allerdings ist damit nicht gesagt, dass sie überhaupt keine Buße mehr tun könnten. Das wäre eine Überinterpretation. Man denke an die „Kinder des Teufels“ in Joh 8,44; 1Joh 3,10 (τέκνα τοῦ διαβόλου [tekna tu diabolu]), die durchaus noch Buße tun können (Joh 8,51; 1Joh 3,19ff; Offb 3,9). Es geht im JohEv und in der Offb nicht um eine ontologische Prädestination, sondern um eine exklusive Alternative: Gott oder Satan zu dienen. V. 23 spricht über die Konsequenz des innerweltlichen Gerichts Christi: Und alle Gemeinden werden erkennen, dass ich es bin, der Nieren und Herzen erforscht. Alle Gemeinden sind entweder alle 7 Sendschreiben-Gemeinden oder alle Gemeinden der Region. Es muss in der Tat ein innerweltliches Gericht im Laufe der jetzt voranschreitenden Weltgeschichte sein, sonst würden es die „Gemeinden“ nicht erkennen. Das „ἐγώ εἰμι [ego eimi]“-(„Ich bin“-)Wort erinnert an die häufigen „ἐγώ εἰμι [ego eimi]“-Aussagen des JohEv. Das Erforschen von Nieren und Herzen, also der innersten Gedanken und Motivationen des Menschen, ist eine göttliche Fähigkeit652 (Ps 7,10; Jer 11,20; 17,10). Sie wird hier dem Auferstandenen zugesprochen, der damit als „Sohn Gottes“ offenbar gemacht wird (vgl. V. 18.26-28). Auch an dieser Stelle ist die alttestamentliche Durchdringung der Offb stark spürbar.653 Und ich werde euch, einem jeden Einzelnen, geben nach euren Werken (καὶ δώσω ὑμῖν ἑκάστῳ κατἀ τἀ ἔργα ὑμῶν [kai doso hymin hekasto kata ta erga hymon]): Das ist ein gesamtbiblischer Satz (vgl. Ps 62,13 σὺ ἀποδώσεις ἑκάστῳ κατὰ τὰ ἔργα αὐτοῦ [su apodoseis hekasto kata ta erga autu]; Prov 24,12; Jer 17,10; Mt 16,27; Röm 2,6; Offb 18,6 u.ö.). Es wäre töricht, hier die lutherischdogmatische Unterscheidung von „Glauben“ und „Werken“ hineinlesen zu wollen. Werke ist hier das ganzheitliche Verhalten des Menschen zu Gott. Doch gerade dann ist dieser Satz in Offb 2,23 wie ein Sprengsatz. Er stellt ja ganz individuell den „Einzelnen“ mit seinen „Werken“ in die Mitte. Nicht was die Gruppe verbricht oder gutmacht, gibt den Ausschlag, kein Etikett der Zugehörigkeit, sondern wie in Ez 18,23 und 33,11 das ganz persönliche Verhält651 Der Sache nahe kommt Kraft S. 70, der von „Prophetenschülern“ spricht (Am 7,14; 1Kön 20,35). Schlatter S. 164 definiert die Ehebrecher als „die, die sich an ihren Sünden beteiligten“, und die Kinder als „Glieder der Sekte“. 652 Vgl. H. Preisker, Art. νεφρός, ThWNT, IV, 1942, S. 912f. Er hält Offb 2,23 für ein „Zitat aus Jer 11,20 (17,10)“, die Gefahr drohe „von einem kleinen Kreis“. Zu „erforschen“ vgl. G. Delling, Art. ἐραυνάω usw., ThWNT, II, 1935, S. 654. Prigent leitet aus dieser Wendung eine Notwendigkeit ab, Kinder und Ehebruch geistlich zu deuten (S. 58). 653 Vgl. Schlatter BFchTh S. 35; Kraft S. 71.
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nis zu Gott und Jesus, dem Auferstandenen. Jesus ist der Welten-Richter (vgl. Joh 5,25ff), er wird auf ewig beschenken und vergelten (geben). Mit V. 24 geht das Schreiben zu den Treugebliebenen über. Es setzt hier eine scharfe Zäsur: Euch aber sage ich, den andern, die in Thyatira sind … 654 Keine Gemeinde war so zerrissen wie Thyatira. Welche Trennung mag durch die Familien gegangen sein! Es fällt ja auf, dass sich Jesus nicht wie in Pergamon an die ganze Gemeinde wendet, etwa mit den Worten „So tu nun Buße“ (vgl. 2,16). Nein, er wendet sich lediglich an die andern, die „Übrigen“ (οἱ λοιποί [hoi loipoi]). Sind sie überhaupt noch die Mehrheit? Oder ein Rest? Wenn, dann ein „heiliger Rest“. Mit einem solchen – nicht eingebildeten, sondern von der Gnade geschaffenen – Rest hat der Auferstandene schon oft in der Kirchengeschichte gewirkt. Das betonte Euch (ὑμῖν [hymin]) an der Spitze des Satzes setzt voraus, dass man die Sendschreiben tatsächlich laut in den Gemeinden vorlas (vgl. 1,3). An zwei Stellen markiert Jesus die unbedingt notwendige Trennung von der Irrlehre. Die erste lautet ganz elementar: die diese Lehre nicht haben (ὅσοι οὐκ ἔχουσιν τὴν διδαχὴν ταύτην [hosoi uk echusin ten didachen tauten]). Es sind also Leute, die weder in ein Schülerverhältnis zu Isebel oder deren Freunde traten noch Teile oder gar die Gesamtheit ihrer Lehraussagen übernommen haben. Was war der Maßstab, der sie leitete und der ihnen half? Das biblische Wort und die apostolische Lehre! Die zweite Stelle wird markiert mit den Worten: die nicht die Tiefen des Satans erkannt haben, wie sie behaupten. Die Wendung wie sie behaupten (ὡς λέγουσιν [hos legusin]) zeigt, dass der Auferstandene und Johannes hier die Irrlehrer selbst zitieren. Es ist ganz verfehlt anzunehmen, Johannes habe die Irrlehrer bewusst (polemisch?) falsch zitiert.655 Die Irrlehrer hätten eigentlich von den βαθέα τοῦ θεοῦ [bathea tu theu] gesprochen. Was für eine negative Wirkung hätte ein solch falsches Zitat schon rein psychologisch beim lauten Vorlesen in der Gemeinde ausgelöst! Nein, Johannes sagt nicht die Unwahrheit, wenn er schreibt ὡς λέγουσιν [hos legusin] („wie sie sagen“, „wie sie behaupten“).656 Was behaupten also die Irrlehrer? ἔγνωσαν τὰ βαθέα τοῦ σατανᾶ [egnosan ta bathea tu satana]– Wir haben die Tiefen des Satans erkannt. Tiefe ist die Bedeutung und das verborgene Geheimnis.657 Der Plural deutet die verschie654 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 269,10. 655 So z.B. Kraft S. 70; Hemer S. 122. Nach Vitringa S. 108; Bengel S. 256 ist βαθέα [bathea] Zitat, aber τοῦ σατανᾶ [tu satana] ein Kommentar des Auferstandenen. Unseres Erachtens scheitert diese Annahme an ὡς λέγουσιν [hos legusin]. 656 So auch Bousset S. 220; Morris S. 73; Zahn S. 291; Schlatter S. 164. 657 H. Schlier, Art. βάθος, ThWNT, I, 1933, S. 515.
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denen Dimensionen und Erfahrungswelten an. Von der „Tiefe der Erkenntnis Gottes“ (βάθος γνώσεως θεοῦ [bathos gnoseos theu]) sprach Paulus in Röm 11,33, von der geistgeleiteten Erkenntnis der „Tiefen Gottes“ (τὰ βάθη τοῦ θεοῦ [ta bathe tu theu]) in 1Kor 2,10. Man muss deshalb vermuten, dass auch die Irrlehrer eine vom „Geist“ (πνεῦμα [pneuma]) geleitete, inspirierte Erkenntnis in Anspruch genommen haben. Das würde ausgezeichnet zum Vorrang der „Prophetin“ und der Prophetie in ihrem Kreise passen.658 Aber charakteristisch ist nun, dass sie Gut und Böse zugleich, Gott und den Satan zugleich kennenlernen wollen. Diese Erkenntnis (γνῶσις [gnosis]) hat offenbar für sie eine Heilsbedeutung. Wer die Tiefen des Satans erkannt hat, hat Macht über das Böse gewonnen, ist erlöst, ist frei. Jedenfalls finden wir diese Lehre bzw. „Theologie“ bei den späteren Gnostikern, die Irenäus in Adv. haer. I, 21,2 beschreibt.659 Ihnen zufolge muss der Mensch „in die Tiefe der Tiefe“ hinabsteigen, wenn er erlöst werden will. Möglicherweise berührt sich der Respekt der Irrlehrer von Kolossä vor den „Mächten der Welt“ (στοιχεῖα τοῦ κόσμου [stoicheia tu kosmu]) und ihre „Verehrung der Engel“ (θρησκείᾳ τῶν ἀγγέλων [threskeia ton anggelon]) mit der Irrlehre von Thyatira (vgl. Kol 2,8.15). Kolossä liegt nahe bei Laodizea (vgl. Kol 4,16) und gehörte ebenfalls zur Provinz Asien. Im biblischen Kontext erinnert das „Erkennen der Tiefen des Satans“ auffallend an das Wissen um Gut und Böse, das die Schlange nach Gen 3,5 versprach. Merkwürdig, wie das Böse, ja das Satanische auch die Christen fasziniert!660 Den Treugebliebenen spricht Jesus zunächst ein Trostwort zu: auf euch werfe ich keine andere Last. Last (βάρος [baros]) ist hier wohl wie in Apg 15,28 soviel wie „Verpflichtung“, „gesetzliches Joch“.661 Evtl. ist Offb 2,24f sogar ganz in Anlehnung an Apg 15,28 formuliert.662 Jedenfalls stellt Jesus keine weiteren Forderungen. Es genügt, wenn die Treugebliebenen ihre bisherige Lehre und Praxis beibehalten! Dem Trostwort an die Treugebliebenen folgt in V. 25 eine Mahnung: Doch was ihr habt, das haltet fest, bis ich komme. Wie in V. 24 wird nicht der „Engel der Gemeinde“ angesprochen, sondern eben die Gruppe derer, die die Irrlehre ablehnen (ihr). Das zeigt noch einmal, dass man die Sendschreiben laut in den Gemeinden vorlas. Die Sendschreiben sind auch keineswegs sche658 Vgl. Kraft S. 70f: „inspirierte Gruppen“ bzw. „Prophetengruppe“. 659 Ähnlich II, 22,1. Vgl. Tertullian adv. Val. 1. 660 So G. Schrenk, Art. βάρος usw., ThWNT, I, 1933, S. 554; Zahn S. 292f; Wikenhauser S. 43; Kraft S. 71; Bousset S. 221. Anders Ritt S. 30: „Bedrohung“. 661 Vgl. Wikenhauser S. 43; Prigent S. 59. 662 Vgl. Zahn S. 292.
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matisch abgefasst. Der Inhalt des Mahnwortes stellt eine echte Überraschung dar. Bisher hat der Auferstandene die Gemeinden zur Buße aufgefordert (2,5.16). Bei Thyatira geschieht das nicht! Nicht einmal die „andern“ von V. 24 werden zur Buße aufgefordert. Sondern hier sagt der Auferstandene: Bleibt so, wie ihr bisher wart! Eine gewisse Parallele dazu bildet allerdings das Schreiben nach Smyrna in 2,10. πλὴν [plen], doch oder „nur,“ „das … das Wesentliche hervorhebt“,663 zieht die Bilanz aus den bisherigen Aussagen. ὃ ἔχετε [ho echete], was ihr habt, ist eben die Ablehnung der Irrlehre und die Treue zur Lehre Jesu und der Apostel. Das haltet fest, κρατήσατε [kratesate], bildet einen sog. „komplexiv-terminativen“ Aorist.664 Er formuliert ein Gesamturteil. Vielleicht kommt in diesem Aorist zugleich das Kategorische zum Ausdruck.665 Wie wichtig ist das „Festhalten“ in der Offb (vgl. 2,1.13.25; 3,11)! Man muss diese Betonung, ja diese Lebensnotwendigkeit des Festhaltens verbinden mit der Zentralstellung des „Bleibens“ (μένειν [menein]) im Johannesevangelium (Kap. 15) und in den Johannesbriefen (1Joh 2,6ff; 3,6ff; 4,12ff; 2Joh 9). Es ist eben nicht so, wie man das in den letzten Jahrzehnten häufig hörte, dass das Christliche vor allem in der Progressivität bestünde. Nein, das Christliche hat auch notwendigerweise etwas „Festhaltendes“, etwas „Konservatives“ an sich. Eine andere Dimension berühren wir, wenn wir das „Festhalten“ in eine Beziehung zur neuen Erkenntnis der Häresie setzen, die sogar die „Tiefen des Satans“ aufschließen will. Zahn hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die traditionelle, „rechtgläubige“ Haltung der Treugebliebenen als armselig erscheinen musste, wenn man von der Höhe der „neuen“ Erkenntnis auf sie herabblickte.666 Was für großartige „révelations spécialment hautes“ boten sich an667, wenn man sich der neuen „prophetischen“ Denkweise öffnete! Die falschen Propheten haben sich immer gerühmt,668 die Treuen sich oft geschämt. Das wird auch in der künftigen Kirchengeschichte nicht anders werden. Umso wichtiger sind Mahnung, Trost und Zuspruch des auferstandenen Jesus.
663 664 665 666 667 668
Blass-Debrunner § 449,4. Blass-Debrunner § 337,2. A.a.O. § 337,3. Zahn S. 291f. So Prigent S. 59. 2Kor 5,12; 10,12ff; 11,5ff; 12,1ff; Phil 3,2ff; Kol 2,18; 1Tim 1,3ff; 2Tim 3,1ff; Tit 1,10ff; 2Petr 2,1ff; Jud 1,3ff.
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Bis ich komme wird oft auf die Wiederkunft Jesu bezogen.669 Aber die Offb hat keine unmittelbare Naherwartung. Schon Vitringa war vorsichtiger, als er zwei Verstehensmöglichkeiten nebeneinanderstellte: a) bis zum Jüngsten Gericht b) bis zum Lebensende („usque ad mortem“, S. 109). Vom Kontext V. 20-25 her sind wir geneigt anzunehmen, dass sich das „ich komme“ auf das gegenwärtig-innergeschichtliche Gericht des Christus bezieht (vgl. 2,5.16).670 Erstmals geht im Sendschreiben nach Thyatira der Überwinderspruch dem Aufmerksamkeitsruf voran671. Erstmals heißt es auch nicht nur „Wer überwindet“ (2,7.11.17), sondern ausführlicher Wer überwindet672 und meine Werke bis ans Ende hält … (V. 26). Da vorher die Abgrenzung zwischen wahrem und falschem Glaubensweg eine wesentliche Rolle spielte, ist es nur zu gut verständlich, dass diese Abgrenzung bis in den Überwinderspruch hineinreicht. Andererseits verdient es Beachtung, dass der Auferstandene nicht einfach sagt: „Den anderen in Thyatira gebe ich …“. Der Auferstandene richtet seine Verheißung nicht an eine bestimmte Partei, sondern an alle, die sich von ihm ansprechen lassen. Angesprochen aber sind diejenigen, die bereit sind, „seine Werke bis ans Ende zu halten“ (ὁ τηρῶν ἄχρι τέλους τὰ ἔργα μου [ho teron achri telus ta erga mu]). Meine Werke ist ein Gesamtverhalten, wie es dem Willen Jesu entspricht. Offb 2,26 erweist sich als nahe verwandt mit Joh 6,28f. Aber es genügt auch keineswegs, im Augenblick zu den Treuen von Thyatira zu gehören. Nein, die Treue muss bis ans Ende (ἄχρι τέλους [achri telus]) gehalten werden, also bis ans Ende des irdischen Glaubenslaufes (vgl. Mt 24,13).673 Dem werde ich Macht über die Völker geben (δώσω αὐτῷ ἐξουσίαν ἐπὶ τῶν ἐθνῶν [doso auto exusian epi ton ethnon]): In dem Begriff Macht (ἐξουσία [exusia]) steckt das von Gott verliehene Recht zur Machtausübung (vgl. Joh 19,11).674 Wie seltsam mutet diese Verheißung ausgerechnet in Thyatira an! Dort der wenig Macht besitzende Bischof und das armselige Häuflein der Treuen, die nicht einmal „Macht“ über Isebel und ihren Anhang haben – hier die „Völker“-umspannende endzeitliche Macht der Treugebliebenen. Denn zweifellos geht es nicht um ein irdisches Reich der Gläubigen, sondern um 669 J. Schneider, Art. ἔρχομαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 671; Morris S. 74; Behm S. 24; Brütsch S. 162; E. Schrenk S. 48. 670 Wie Vitringa auch Grünzweig S. 100; P. Müller S. 12. 671 Lohse S. 31. 672 ὁ νικῶν Casus pendens. Das ist ganz normale griechische Satzkonstruktion (Blass-Debrunner § 466,5). 673 Vgl. G. Delling, Art. τέλος usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 57. 674 Vgl. W. Foerster, Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, S. 566f.
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eine endzeitliche Macht. Das „Völker“-Gemisch von Thyatira mag dafür allerdings ein gutes Anschauungsbeispiel geboten haben. Und auch die militärstrategische Geschichte der Stadt Thyatira stellte für V. 26 einen guten Anschauungshintergrund bereit. Ob in V. 26 schon ein Zitat aus Ps 2,8 LXX vorliegt, ist fraglich. Der Wechsel von κληρονομία [kleronomia] LXX zu ἐξουσία [exusia] Offb 2,26 hätte jedenfalls den Sinn stark verändert. Die Verheißung des Überwinderspruchs setzt sich fort in V. 27: Und er wird sie mit eisernem Stabe weiden, wie tönerne Gefäße zerschlagen werden. Hier sind wir auf festem alttestamentlichen Boden. Denn abgesehen von καί [kai] besteht der ganze Vers aus einem Zitat von Psalm 2,9: ποιμανεῖς αὐτοὺς675 ἐν ῥάβδῳ σιδηρᾷ ὡς σκεῦος κεραμέως συντρίψεις αὐτούς [poimaneis autus en rhabdo sidera hos skeuos kerameos syntripseis autus] (LXX). Bei gleichem Konsonantenbestand ( )תרעםhat sich die Textüberlieferung früh gespalten, ohne doch die Gesamtaussage wesentlich zu verändern. Die Biblia Hebraica vokalisiert [ ְתֹּרֵעםteroem] = „du wirst sie zerbrechen/zerschlagen“. Die LXX dagegen setzt die vokalisierte Form [ ִתְּרֵעםtirem] = „du wirst sie weiden“ voraus. Diese zweite Textfassung wird von Offb 2,27 aufgenommen.676 In beiden Fällen geht es jedoch um denselben Grundtatbestand: Der messianische Erlöser ist in Ps 2,9 der universale Herrscher, „dessen Verfügungsgewalt und richterlicher Vollmacht die Völker unterstellt sind“.677 Ps 2,9 wurde schon vor Christus messianisch gedeutet. Ein Beleg dafür sind die Psalmen Salomos, die „um die Mitte des 1. Jahrhunderts v.Chr. verfasst worden sind“678 und aus pharisäischen Kreisen stammen. Dort lesen wir in Ps Sal 17,22-24, Gott möge den Messias stark genug werden lassen, um „zu zermalmen ungerechte Fürsten, zu reinigen Jerusalem von Heidenvölkern, die vernichtend zertreten, in Weisheit und Gerechtigkeit die Sünder vom Erbe zu verstoßen, des Sünders Übermut zu zerschlagen wie des Töpfers Geschirr, mit eisernem Stab zu zerschlagen all ihren Bestand, zu vernichten gesetzlose Völkerschaften durch das Wort seines Mundes“.679 An dieser universalen Christusherrschaft sollen die Überwinder in Thyatira Anteil bekommen. Was von Christus, dem Messias, ausgesagt ist, soll auch für sie gelten. Wieder erstaunt die Weite der Verheißung. Doch ist sie nur die Konkretisierung der 675 Constructio ad sensum. 676 Von fehlerhafter Übersetzung sollte man hier nicht reden. Die LXX-Übersetzer und Johannes haben sehr reflektiert übersetzt. Gegen Brütsch S. 163ff; Caird S. 45f. 677 Neue Jerusalemer Bibel S. 769. Die Wurzeln differieren (BH [ רעעraa], LXX רעה [raah]). 678 S. Holm-Nielsen, JSHRZ, IV, 2, 1977, S. 58. Ein Beleg dafür sind auch die Bilderreden in ä Hen (46,5; 48,8). 679 Nach Holm-Nielsen a.a.O. S. 102. Vgl. Kraft S. 72; Schlatter BFcThS S. 40.
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Aussage in Offb 1,5: „Jesus Christus hat uns zu einem Königreich (βασιλείαν [basileian]) gemacht.“ Eine genauere Vorstellung erhalten wir dann durch Offb 20,4-6.680 Zu den Einzelheiten von V. 27: ποιμαίνειν [poimainein] = hebr. [ רעהraah] ist ein Bild („weiden“) für die Macht und Tätigkeit von Königen und Herrschern. Deren Bezeichnung in Israel und im ganzen Alten Orient ist oft die des „Hirֵ [schevet], ist der Hirtenstab oder ten“.681 Stab, ῥάβδος [rhabdos] bzw. שֶׁבט Herrscherstab, das Szepter.682 Einen „eisernen Stab“ kann man sich verschieden vorstellen: als Hirtenstab mit eiserner Spitze, was „häufig“ vorkam,683 oder als Stab ganz aus Eisen oder als Bild für Erbarmungslosigkeit.684 Eine Deutung im Sinne der Erbarmungslosigkeit scheidet jedoch für unsere Stelle aus. Denn die erlösten Gläubigen werden als Priester herrschen (Offb 1,5; 20,6), und damit verträgt sich die Erbarmungslosigkeit nicht. Es bleibt also der Hirtenstab ganz oder teilweise aus Eisen für unsere Deutung übrig. Dieser „eiserne Stab“ trifft, wie Franz Delitzsch und H.-J. Zobel bemerkt haben, die Feinde Gottes als „Werkzeug der Strafgewalt“ und „Zuchtrute“.685 Denn es geht ja bei Ps 2 und seiner messianischen Deutung nicht darum, die ganze Völkerwelt auszurotten.686 Im Gegenteil! Sie soll sich im Christus- und Gottesreich erst in ihrer ganzen Schönheit entfalten (Offb 21,24ff). Sondern es geht darum, die Feinde Christi und Gottes auszuschalten. In diesem Sinne sind auch die Worte wie tönerne Gefäße zerschlagen werden zu verstehen. Diese Worte machen anschaulich, was das Gericht Christi und seiner Gläubigen an Gottes Feinden bewirken wird. Letztere haben nicht mehr Widerstandskraft als tönerne Gefäße (σκεύη κεραμικά [skeue keramika] = [ ְכִּלי יוֵֹצרkeli jozer]). Tongeschirr, Tonscherben gab es im Alten Orient in unzählbaren Mengen. Allein schon die Bezeichnung Gefäß bringt „Zerbrechlichkeit, Wertlosigkeit und Hinfälligkeit“ zum Ausdruck.687 Ebenso wie Christus wird also der glaubenstreue Überwinder am Ende der Zeiten Gottes Feinde wie schwaches Ton-
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Bousset S. 221 erinnert ferner an Mt 19,28; 1Kor 6,3. Vgl. J. Jeremias, Art. ποιμήν usw., ThWNT, VI, 1959, S. 484ff. שֶׁבת ֵ [schevet] heißt auch „Stock, Rute, Spieß, Stamm“. Carl Schneider, Art. ῥάβδος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 969. Vgl. Morris S. 74. Vgl. C. Schneider a.a.O. S. 968f; J. Jeremias a.a.O. S. 493ff; Bauer-Aland Sp. 1499. Delitzsch S. 74; H.-J. Zobel, Art. בת ֶ שׁ ֵ , ThWAT, VII, 1993, S. 964. Falsch die Deutung bei G. Bertram, Art. συντρίβω usw., ThWNT, VII, 1964, S. 924 (in Anlehnung an Lohmeyer): „Die Heiden“ sollen „vernichtet werden“. Richtig dagegen C. Schneider a.a.O. S. 969: „die Übergabe von Untertanen nur zur Zerstörung“ ist „sinnlos“. Richtig schon Bengel S. 260. Vgl. noch Aune S. 210ff. 687 C. Maurer, Art. σκεῦος, ThWNT, VII, 1964, S. 360.
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geschirr zerschlagen.688 Auch dieses Bild ist dem Alten Testament wohl vertraut (vgl. Jes 30,14; 41,25; Jer 19,1ff; Klgl 4,2).689 V. 28 bildet zunächst die Fortsetzung von V. 27: wie auch ich es empfangen habe von meinem Vater. Gemeint ist die in V. 26 und 27 beschriebene Macht über die Völker (es). Hier erfolgen noch einmal zwei wichtige Klarstellungen. Erstens wird hier bekräftigt, dass wir es in V. 26-28 mit Ps 2 zu tun haben. Denn die Worte wie ich es von meinem Vater empfangen habe sind das Ergebnis der Bitte in Ps 2,8: „Bitte von mir, dann will ich dir Völker zum Erbe geben.“ Zweitens wird hier das Vater-Sohn-Verhältnis zum Ausdruck gebracht. Mein Vater bezeichnet ganz im Sinne des vierten Evangeliums das exklusive Vater-Sohn-Verhältnis, in dem Jesus zum Vater im Himmel steht (vgl. Joh 1,18; 1,49; 2,16; 3,16; 3,36; 10,15ff u.ö.). Gerade die Eingangsworte im Schreiben nach Thyatira: „Das sagt der Sohn Gottes“ haben dieses exklusive Verhältnis betont und thematisiert. Wir sehen jetzt, dass 2,18 schon im Blick auf 2,26-28 formuliert worden ist. Und wir sehen außerdem, dass die neutestamentliche Christologie, auch die Predigt Jesu selbst, ganz wesentlich auf Ps 2 aufbaut (Mt 3,17parr; 22,41ff; Apg 13,33; Hebr 1,2). Ein Ergebnis all dieser Beobachtungen ist, dass die messianische Herrschaft Jesu Christi auch das Modell, der Maßstab und die Grundlage für die Herrschaft der Überwinder am Ende der Zeiten sein muss. Es bleibt eine unumstößliche Tatsache, dass die Überwinder von Thyatira und mit ihnen alle treu gebliebenen Gläubigen zum Herrschen am Ende der Zeiten berufen sind. Darin sind Jesus, Paulus und die Johannesoffenbarung einig (Mt 25,21ffpar; 1Kor 6,2f; Offb 2,26ff; 20,4ff). In der zweiten Hälfte von V. 28 empfängt der Treugebliebene eine neue Verheißung: und ich werde ihm den Morgenstern geben (καὶ δώσω αὐτῷ τὸν ἀστέρα τὸν πρωϊνόν [kai doso auto ton astera ton proinon]). καὶ δώσω αὐτῷ [kai doso auto] hat in 2,17 eine genaue Parallele690. Der Inhalt dieser neuen Verheißung erscheint vielen Auslegern als „dunkel“, „ungewöhnlich“, unsicher oder gar jeder Erklärung spottend. In der Auslegung wurden deshalb verschiedene Lösungsvorschläge unterbreitet: a) Der Morgenstern sei Venus, und Venus wiederum symbolisiere als Zeichen der Weltherrschaft die römischen Cäsaren, was dann auf Christus übertragen werde.691 b) Der Morgenstern sei ein Symbol für „die Ausgießung des Geistes in seiner Fülle“, und deshalb verspreche Offb 2,28 „die Teilnahme an der Erleuchtung“, die Chris688 Vgl. Maurer a.a.O. S. 362. Wie wir Morris S. 74; Schlatter S. 166. 689 Vgl. B. Otzen, Art. יצר, ThWAT, III, 1982, Sp. 833. 690 Wikenhauser S. 43; Kraft S. 72; Lohse S. 31; Bousset a.a.O.; W. Foerster, Art. ἀστήρ, ThWNT, I, 1933, S. 502. 691 Vgl. Ritt S. 31; Lohse S. 31; Hemer S. 125f.
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tus bringt.692 c) Der Morgenstern sei von Dan 12,3 bzw. 13,43 her zu erklären und bedeute deshalb die himmlische Herrlichkeit der Gläubigen.693 d) Nach einer Erklärung, die bis auf Andreas v. Caesarea zurückgeht, ist der Morgenstern von Jes 14,12 die Deutungsgrundlage für Offb 2,28, sodass auch in Offb 2,28 der Satan gemeint wäre.694 Diese Art zu deuten widerspricht diametral der Ansicht von Kraft, wonach die „alttestamentlichen Stellen … nichts zur Erklärung“ hergeben (S. 72). e) Der Morgenstern bedeute, dass der Auferstandene „den Überwinder aus der Nacht der gegenwärtigen Welt hinüber zum ewigen Tag“ führe.695 Das stete Suchen der Exegeten erstaunt, weil die Apokalypse selbst die Deutung liefert. In Offb 22,16 sagt der Auferstandene von sich selbst: „Ich bin der Morgenstern“ (ἐγώ εἰμι ὁ ἀστὴρ ὁ λαμπρὸς ὁ πρωϊνός [ego eimi ho aster ho lampros ho proinos]). In Offb 2,28 gibt Jesus Christus also Anteil an sich selbst und an allem, was er hat.696 Vitringa machte die ausgezeichnete Beobachtung, dass die Irrlehrer von Thyatira das „neue Licht“ versprächen, Jesus Christus jedoch das wahre Licht (S. 110). Dass Jesus Anteil an sich selber gibt, wurde übrigens schon im Schreiben nach Pergamon versprochen (2,17) und liegt den Johannesschriften (Joh 6,48ff; 1Joh 5,12) und der gesamten Abendmahlstradition zugrunde (Mt 26,26ff parr). Ihn selbst zu haben – eine größere Gabe gibt es nicht. Es ist nur noch darauf hinzuweisen, dass das Bild vom „Stern“ aus Num ֵ [schevet]) 24,17 stammt. Dort stehen „Stern“ ([ כּוָֹכבkokav]) und „Stab“ (שֶׁבט ebenso nebeneinander wie in Offb 2,27f. Zumindest seit dem 3. Jh. v.Chr. wurde Num 24,17 im Judentum messianisch gedeutet. Denn die jüdischen Übersetzer der LXX übersetzten „Stab“ mit ἄνθρωπος [anthropos].697 Eigenartig, dass der Auferstandene hier gerade die Bileam-Weissagung heranzieht, wo sich doch die Irrlehrer den Vorwurf gefallen lassen müssen, im negativen Sinne „Bileamiten“ zu sein! Aber die Bibel macht einen entscheidenden Unterschied zwischen der göttlichen Botschaft, die in Geltung bleibt, und dem menschlichen Propheten, der später der Untreue und Sünde verfällt. Zum Aufmerksamkeitsruf Wer Ohren hat, der höre … (V. 29) vgl. 2,7; 2,11; 2,17 und die Erklärung bei 2,7. 692 693 694 695 696
Kraft S. 72. Vgl. hier Bousset S. 221; Hemer S. 126. Vgl. wieder Bousset a.a.O. Schlatter S. 166. Vgl. Zahn S. 294f. So schon Bengel S. 261; Vitringa S. 110; dann Wikenhauser S. 44. Ablehnend Bousset S. 221 („Verkehrt“). 697 Vgl. R.E. Clements, Art. כב ָ כּוֹ, ThWAT, IV, 1984, Sp. 87f.
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IV Zusammenfassung 1. Das vierte Sendschreiben nach Thyatira zeigt uns die zerrissenste Gemeinde unter allen kleinasiatischen Gemeinden der Offb. Mit Kraft hat man den Eindruck: „Hier im Hinterland ändert sich das Bild, das die Gemeinden bieten; sie erhalten schärfere Zensuren.“698 Die Irrlehre ist mitten in der Gemeinde eine Lebensmöglichkeit. Das Schreiben nach Thyatira befreit uns deshalb von jeder Romantik und Nostalgie nach den ersten Gemeinden. Sie waren z.T. schwierig und lebten unter schrecklichen Verhältnissen. Die urchristliche Mission ist ein Wunder und nicht die logische Konsequenz aus der Kraft des Urchristentums. 2. Es wird hier deutlich, mit welch hohen Ansprüchen die Irrlehre auftrat. Geistig und geistlich glaubte sie, den Bischöfen, den bisherigen Institutionen und den einfachen bzw. traditionellen Gemeindegliedern überlegen zu sein. Prophet und Prophetin zu sein, im Besitz des Geistes, also pneumatisch, zu leben, die wahre Gnosis zu haben und Gut und Böse zu kennen, war sie überzeugt. Christliche Freiheit im Namen Christi zu praktizieren und gleichzeitig die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben der Stadt und Provinz sicherzustellen schien ihr gelungen. Prophetie und Lehre gewährleisteten für sie ein attraktives Niveau.699 Kein Zweifel, dass diese Art von Christsein auch anderen attraktiv erschien und sogar „missionarische Erfolge“ aufzuweisen vermochte. Man darf sich die Dinge nicht allzu einfach vorstellen. Es scheint mindestens eine „unterirdische“ Kontinuität hinüberzuführen in das montanistische Zeitalter. 3. Inwieweit Thyatira wirklich „ein gefährliches Zentrum“ der Häresie war,700 inwieweit Isebel und die mit ihr verbundenen Vorgänge „über die Grenzen Thyatiras hinaus bekannt geworden waren,701 lässt sich nicht mehr mit letzter Gewissheit sagen. Möglicherweise greifen wir mit solchen Formulierungen schon zu hoch. Andererseits lässt sich die Verwandtschaft mit den Bileamiten und Nikolaiten von Ephesus und Pergamon auch nicht übersehen. Es gab also am Ende des 1. Jh. in Kleinasien eine breite Front erodierender Kräfte, die das Christentum bedrohten, aber zugleich im Namen Christi auftraten. 4. Eine offene Frage bleibt auch diejenige nach den paulinischen Wurzeln der in Anspruch genommenen Freiheit. Sprachliche Wendungen wie die in 698 Kraft S. 68. 699 Nach Aune RGG Sp. 1704 waren die Anhänger Isebels Propheten und es spielte sich in Thyatira ein „prophetischer Konflikt“ ab. 700 So Wikenhauser S. 43. 701 Kraft S. 70; Bousset S. 220.
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Röm 11,33; 1Kor 2,10f; 6,12; 8,7f; Gal 5,1; Eph 3,18 stehen nicht allzu weit von den Auffassungen, die wir für die Irrlehrer aus Offb 2,20ff erschließen müssen. Schon Zahn hat auf die Klage hingewiesen, die in 2Petr 3,15ff über den Missbrauch der paulinischen Briefe geführt wird.702 Ein gewisses Schweigen über die Geschichte des Paulus und Paulinismus in Kleinasien, das wir in der Offb und den johanneischen Briefen zu beobachten glauben, könnte damit zusammenhängen. 5. In Anbetracht des Festsetzens und des Fortschritts der Irrlehre wird das Gewährenlassen zu einer Hauptsünde. Die Lasten der christlichen Ämter bestehen auch darin, ständig prüfen zu müssen, wo weises Schweigen oder unzweideutiges Tun von ihnen gefordert wird. Unterscheiden, prüfen, beurteilen anhand der Lehre Jesu und der Apostel und notfalls sich zu trennen sind jedenfalls kontinuierliche Aufgaben der Kirchen und ihrer Leitungen. 6. Vor ein besonderes Problem stellen uns die zahlreichen alttestamentlichen Bezüge im Schreiben nach Thyatira. Bousset ging so weit zu sagen, in diesem Sendschreiben zeige sich „eine besonders leidenschaftliche und jüdisch-apokalyptische Stimmung“.703 Das mutet überraschend an vor dem Hintergrund einer nicht besonders starken jüdischen Präsenz in dieser Stadt.704 Lohse notierte als alttestamentliche Bezugsstellen: Dan 10,6; Num 25,1f; Jer 11,20; Ps 7,10; 62,13; 2,8f (S. 29). Hier liegt auch der Fall vor, dass ein ganzer Vers aus einem alttestamentlichen Zitat besteht (2,27). Allerdings beobachten wir, dass gerade die Überwindersprüche mit alttestamentlichen Begriffen gesättigt sind, sodass sie sämtlich wie eine Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen erscheinen.
9. Das fünfte Sendschreiben: nach Sardes I Übersetzung 3,1-6 1 Und dem Engel der Gemeinde in Sardes schreibe: Das sagt der, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich kenne deine Werke, dass du den Namen hast, dass du lebst, und bist tot!705 2 Werde wach706
702 703 704 705 706
Zahn S. 291. Bousset S. 221. Hemer S. 110. Adversatives καί [kai] im Sinne von „aber du bist tot“. Ebenso Aune S. 215. Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 98,2.
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und stärke das andere, das am Sterben ist. Denn ich habe deine707 Werke nicht vollkommen gefunden vor meinem Gott. 3 So denke daran, wie du empfangen und gehört hast, und bewahre es und tue Buße. Wenn du nun nicht wachsam bist, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde. 4 Aber du hast einige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben, und sie werden mit mir wandeln in weißen Kleidern, denn sie sindʼs wert. 5 Wer überwindet, der wird so mit weißen Kleidern angetan, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich werde seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln. 6 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
II Struktur Das fünfte Sendschreiben ist relativ kurz, allerdings mit insgesamt 143 Wörtern länger als das an Smyrna (97 Wörter). Die Abfolge Adressat – Schreibbefehl – Absender ist auch hier gegeben. Jedoch fällt das Lob im Unterschied zu Ephesus, Smyrna, Pergamon und Thyatira aus, jedenfalls als Gemeindelob. Nur einzelne wenige Gemeindeglieder erhalten in V. 4 ein Lob. Das harte Gesamturteil „und bist tot“ (V. 1) überrascht. Gerne wüssten wir die näheren Umstände, erfahren sie aber nicht. Dagegen wird ein klaffender Gegensatz zwischen Sein („du bist tot“) und Scheinen („Du hast den Namen, dass du lebst“) sichtbar. Insgesamt ist Sardes, wenn auch von einer anderen Seite her betrachtet, ein ebenso schwieriger, ja fast deprimierender Fall wie Thyatira.
III Einzelexegese Zum Schreibbefehl Und dem Engel … schreibe (V. 1) vgl. die Erklärung bei 2,1. Was ist nun Sardes? Der griechische Name lautet „Sardeis“, stellt also eine Mehrzahlform dar. Sardes lag im Unterschied zu Ephesus und Smyrna nicht an der Küste, sondern im Binnenland, und zwar am Fuße des Tmolos-Gebirges, am Fluss Paktolos, nicht weit vom Fluss Hermos entfernt, ca. 80 km östlich von Smyrna. Es gruppierte sich um eine gewaltige Zitadelle, eine Naturfestung, die weit über dem Hermos-Tal aufragte. Sardes gilt als eine der ältesten und berühmtesten Städte Kleinasiens. Besondere Bedeutung gewann
707 τά [ta] vor ἔργα [erga] ist wohl ursprünglich.
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es als Hauptstadt des alten Königreiches Lydien. Seine Glanzzeit erlebte es unter dem letzten lydischen König, Krösus. Dessen Reichtum gilt bis zum heutigen Tag als sprichwörtlich. Einer der ältesten griechischen Geschichtsschreiber, Herodot (ca. 500–424 v.Chr.), der selbst aus Kleinasien stammte, hat die lydische Geschichte und vor allem die Zeit des Krösus (regierte seit 555 v.Chr.) seitenlang geschildert. U.a. bemerkte er: „Nachdem Krösus sie alle (= die kleinasiatischen Völker) unterworfen und dem lydischen Reiche einverleibt hatte, kamen nach dem reichen und mächtigen Sardes alle Weisen aus Hellas (= Griechenland).“708 Grundlage des Wohlstands von Sardes war der „Handel mit Wollwaren, Stoffen, Teppichen“ und wohl auch das Gold, „das aus dem Fluss Paktolos gewonnen wurde“.709 Einen weiteren Wirtschaftsfaktor bildete der berühmte Kybele-Tempel. Die Eroberung der Stadt (nicht der Zitadelle) durch die Kimmerier 635 v.Chr. schadete ihr nur kurz. Doch kam es im Jahre 546 zu einem tiefen Einschnitt in die Stadtgeschichte, als der Perserkönig Kyrus (Jes 44,28; 45,1; 2Chron 36,22f; Esra 1,1ff) Sardes eroberte, Krösus besiegte und das lydische Reich dem Perserreich einverleibte. Von nun an war Sardes Sitz eines persischen Satrapen (Gouverneurs). 498 v.Chr. wurde es von Ioniern (Griechen) niedergebrannt, 334 v.Chr. durch Alexander d. Gr. endgültig den Persern entrissen und danach ein Teil des syrischgriechischen Diadochenreiches. Seitdem sank die Bedeutung von Sardes. Den Syrern folgten die pergamenischen Könige, dann ab 133 v.Chr. die Römer als Herren der Stadt. Sardes wurde jetzt Teil der römischen Provinz Asien. Wirtschaftlich blieb es noch lange reich und blühend. Allerdings litt es schwer durch ein furchtbares Erdbeben, das während der Kaiserzeit des Tiberius (14–37 n.Chr.) stattfand. Darüber berichtet der römische Geschichtsschreiber Tacitus im Jahre 17 n.Chr. u.a. Folgendes: Es „stürzten zwölf volkreiche Städte Asiens durch ein Erdbeben in der Nacht zusammen … Wie das Verderben am schwersten die Sardianer getroffen hatte, wandte es auch das Mitleid ihnen vorzugsweise zu; denn zehn Millionen Sesterzen versprach ihnen der Kaiser“.710 Mithilfe des Tiberius wurde Sardes also wieder aufgebaut.711 Doch nach der Zeit der Römer und Byzantiner zerfiel es. Timur hat es 1400 n.Chr. endgültig zerstört. Heute zeugt nur noch die kleine Ortschaft Sart vom einst blühenden und mächtigen Sardes. Jedoch sind manche interessante Trümmer
708 Herodot Hist I, 29. 709 E.M. Blaiklock / C.J. Hemer, Art. Sardes, GBL, 3, S. 1343. Gerade Herodot erwähnt den „Goldstaub“, „der vom Tmolos herabgeführt wird“ (Hist I, 93). 710 Tacitus Ann II, 47. 711 Vgl. dazu Stuart G. Hall, Art. Sardeis, LThK, 9, 3. Aufl. 2000, Sp. 71; Jones S. 81.
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zu sehen, so etwa die Überreste der prachtvollen, wohl im 3. Jh. n.Chr. erbauten Synagoge.712 Manche nehmen an, dass mit „Sefarad“ in Obadja 20 „Sardes“ gemeint ist.713 Demnach hätten schon im 6. Jh. v.Chr. Juden in Sardes gelebt. Wann die christliche Botschaft Sardes erreichte, ist nicht ganz sicher. Erwähnt wird Sardes nur an drei Stellen im NT, sämtlich in der Offb (1,11; 3,1.4). Schon bei den Hörern der ersten Pfingstpredigt waren auch Bewohner der Provinz Asien (Apg 2,9), zu der Sardes gehörte. Nach Apg 19,10 hörten während der dritten Missionsreise zwei Jahre lang „alle, die in der Provinz Asien wohnten“, die Verkündigung des Paulus, der damals in Ephesus seinen Aufenthalt genommen hatte. Man kann vermuten, dass spätestens in jener Zeit auch in Sardes eine christliche Gemeinde gegründet wurde.714 Ein dreiviertel Jahrhundert nach der Abfassung der Offb, in der Zeit des Kaisers Marc Aurel (161–180 n.Chr.), war der Bischof Melito von Sardes weithin berühmt. Er tat sich hervor als Vertreter der traditionellen kleinasiatischen Theologie, als Verteidiger des christlichen Glaubens gegenüber der Irrlehre und gegenüber dem Kaiser und als überaus fruchtbarer Schriftsteller. Er starb „vor 194/195“ n.Chr.715 Eusebius von Cäsarea hat ihm in seiner Kirchengeschichte ein würdiges Denkmal gesetzt (H.E. IV, 26, 1-14). Offenbar hat die christliche Gemeinde in Sardes eine solche Blütezeit wie im 2. Jh. n.Chr. später nicht mehr erreicht. Jesus stellt sich hier vor als der, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne (V. 1). Das ist eine Überraschung. Denn die sieben Geister Gottes bezeichnet wie in Offb 1,4 eindeutig den Heiligen Geist.716 Wie kann dann Jesus sagen, er „habe“ (ἔχων [echon]) den heiligen Geist, ebenso wie er die sieben Sterne = die Leiter der sieben Gemeinden hat (vgl. 1,20)?717 Und dennoch spricht er die Wahrheit. Denn nach Joh 16,7 „sendet“ er sogar den Heiligen Geist auf seine Jüngerschaft. So eng ist das Verhältnis beider, dass Paulus an zugespitzter Stelle einmal sagen kann: „Der Herr ist der Geist“ (2Kor 3,17). Ohne das JohEv wäre allerdings Offb 3,1 schwer zu verstehen. Erst recht muss das weitverbreitete und populäre Missverständnis aufgegeben werden, als sei der Geist Gottes überall zu finden und grundsätzlich von Jesus 712 Hall a.a.O. datiert die Synagoge auf das 2. Jh. n.Chr; Blaiklock/Hemer a.a.O. auf das 3. Jh. n.Chr. 713 Vgl. Blaiklock/Hemer in GBL a.a.O.; Hall a.a.O.; Aune S. 219. A. Weiser, Die Propheten Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, ATD, 24, 7. Aufl. 1979, S. 214; La Sor S. 537; Hemer S. 141. 714 So schon Vitringa S. 117. 715 O. Scheel, RGG, 4, 1. Aufl., 1913, Sp. 260. Hall a.a.O.: um 190 n.Chr. hier begraben. 716 Ebenso Vitringa S. 117; Morris S. 75. 717 Falsch die Annahme von Aune S. 215, die 7 Geister und die 7 Sterne seien „identical“.
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unabhängig. Nein: Aufgrund von Offb 3,1 muss man sogar formulieren: Der Heilige Geist ist Jesu Geist. Aber was bedeutet diese Aussage an der Spitze des Schreibens nach Sardes? Kurz gesagt: Es bedeutet, das Jesus kraft des Heiligen Geistes den inneren Zustand der Gemeinde vollkommen erkennt (vgl. Joh 2,24f). Folgerichtig heißt es weiter an der Spitze des Schreibens: Ich kenne deine Werke, also dein gesamtes Tun und Wirken. Schon zweimal ist uns diese Wendung in der Offb begegnet (2,2.19). Vor allem aber werden wir an das Sendschreiben nach Ephesus erinnert. Denn auch dort stellte sich Jesus vor als „der, der die sieben Sterne in seiner Rechten hält“ (2,1), und auch dort benutzte er die Einleitung οἶδά σου τὰ ἔργα [oida su ta erga]. Diese Ähnlichkeit bewog Bousset zu dem Urteil, dass das Schreiben nach Sardes „dem an Ephesus parallel läuft“ (S. 222).718 Aber nun kommt der große Bruch. Denn das Lob, das Ephesus reichlich erhielt (2,2-3), fehlt in Sardes total. Abgesehen von Laodizea ist Sardes diejenige Gemeinde, die am schwärzesten beurteilt wird: du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot (V. 1). Menschliches Urteil und göttlich-geistliches Urteil gehen hier vollkommen auseinander. „Sardes ist eine lebendige Gemeinde“, sagt das menschliche Urteil. Einen Namen haben heißt ja, einen „Ruf haben“719 (vgl. Mk 6,14). Man kann sich den Ruf von Sardes in der damaligen Christenheit ähnlich vorstellen wie den von Thessalonich nach 1Thess 1,7ff. Wie viele werden Sardes beneidet haben! Aber der auferstandene Herr formuliert sein Urteil in zwei völlig konträren Worten: du bist tot. Können sich Menschen so täuschen? Auch christliche Experten? Leider: Ja. Tot waren offensichtlich nicht die äußeren Aktivitäten. „Tot“ war auch nicht die Theologie. Es gab sogar einige vorbildliche Christen in Sardes (V. 4). „Tot“ aber war die Gemeinde von Sardes wie der „verlorene Sohn“ (Lk 15,24),720 weil die innere und echte Lebensgemeinschaft mit Gott und Jesus nicht mehr gegeben, weil sie eingeschlafen war (vgl. V. 20).721 Elias Schrenk (V. 50) hat es auf seine unnachahmliche Art formuliert: Hinter dem Schein „war viel Geistlosigkeit“722 (vgl. 2Tim 3,5; Jak 2,17). 718 719 720 721
Vgl. Hemer S. 141. Bousset S. 222; H. Bietenhard, Art. ὄνομα usw., ThWNT, V, 1954, S. 269. Vgl. R. Bultmann, Art. νεκρός usw., ThWNT, IV, 1942, S. 897. Bengel S. 262, der vom Gemeindeleiter als Adressat ausgeht, äußert die Vermutung, dass der Name des Gemeindeleiters im Griechischen mit „Leben“/„leben“ zu tun hat. Zahn S. 298f ist überzeugt, hier einen Eigennamen zu finden, und nennt Zotikos, Zosimos und Zotion als Möglichkeiten. 722 Vgl. P. Müller S. 13: „Nun sind deine Werke ohne Kraft, deine Reden ohne Geist“; Behm S. 24.
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Werde723 wach („Werde ein Wachender“) fährt wie ein Posaunenstoß in die Situation von Sardes (V. 2). Ähnlich schrieb Paulus in Eph 5,14. Dieser Ruf des Auferstandenen bedeutet nach dem Urteil von V. 1 eine zweite große Überraschung im Sardes-Schreiben. Er überrascht sogar doppelt: a) Wie kann Jesus an dieser Gemeinde überhaupt noch Positives – eine Chance – entdecken? b) Wie kann ein Toter aufwachen? Um mit Letzterem zu beginnen: Adolf Schlatter bemerkt mit Recht, dass die Bilder vom Tod und Schlaf in der Bibel miteinander wechseln können (S. 167). Auch dafür ist Eph 5,14 ein Beispiel. Sicher bleibt es ein Wunder, wenn ein Toter erwacht. Aber der in der Fülle des Geistes (sieben Geister Gottes) handelnde Christus kann es vollbringen. Es handelt sich also um eine geistliche Totenerweckung ähnlich den Totenerweckungen, die Jesus bisher vollbrachte (Mt 9,18ff; Lk 7,11ff; Joh 11,1ff). Um nun zur ersten Frage zurückzukehren: Dass Jesus im tiefsten Elend immer wieder Auswege zeigt, ist gerade typisch für ihn. Auch Sardes und sein Gemeindeleiter sind noch in seiner Hand (1,16.20; 3,1)! Hier treten leider die Urteile sehr oft auseinander: das der Christen, das von Skepsis durchtränkt ist, und das Jesu, der für uns leidet und hofft. Fazit: Sardes kann aufwachen! Die Exegeten weisen an dieser Stelle gerne auf die Geschichte von Sardes hin. Die scheinbar uneinnehmbare Zitadelle von Sardes wurde zweimal erobert, 546 v.Chr. von den Persern und 218 v.Chr. von Antiochus dem Großen, weil die Besatzung „schlief“ und in ihrer Überheblichkeit keine Wachen aufgestellt hatte. Die Eroberer aber erklommen die Felsen und überfielen die sorglose Besatzung „wie ein Dieb in der Nacht“. Es ist gut möglich, dass Jesus auf diese Geschichte der Stadt anspielen wollte.724 Eine andere Problematik berühren wir, wenn wir nach den näheren Umständen im damaligen Sardes forschen. Das Schreiben schweigt über Druck, Verfolgung oder Konflikte. Weder die politischen Instanzen der Römer und Griechen noch die vermutlich starke jüdische Gemeinde noch andere Religionsgemeinschaften scheinen die christliche Gemeinde bedrängt zu haben. Caird hat diesen Stand der Dinge beinahe klassisch formuliert: „Here there are no Jewish accusers, no apostolic impostors, no fraternizing Nicolaitans, no prophetic ecstasy. This is a church which everyone speaks well of, the perfect model of inoffensive Christianity, unable to distinguish between the peace of well-being and the peace of death“ (S. 48). Man muss allerdings aufpassen, 723 Manche interpretieren γίνου [ginu] als „show thyself“ (z.B. Hemer S. 143). Aber vom geistlichen Kontext her geht es nicht um ein „Zeigen“ der Wachsamkeit, sondern um ein Gewinnen der Wachsamkeit. 724 Vgl. Hemer S. 133.142ff; Caird S. 47; Brütsch S. 170; Morris S. 75f; Aune S. 220.
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dass man das argumentum e silentio nicht überstrapaziert. Aber Sardes scheint es äußerlich besser zu gehen als Ephesus, Smyrna, Pergamon und Thyatira. Wie vielfältig war schon damals die Christenheit! Und stärke das andere, das am Sterben ist lautet der zweite Ruf des Auferstandenen in Vers 2. Ausgangspunkt der Exegese muss hier Ez 34,4.16 sein, wo das Schwache stärken eine der primären Hirtenaufgaben ist. Die LXX sagt: τὸ ἠσθενηκὸς οὐκ ἐνισχύσατε [to esthenekos uk enischysate]. Der hebräische Text hat [ ִח ַזְּק ֶתּםchizzaqtem], sodass Offb 3,2 eher auf den hebräischen Text zurückgehen dürfte. Jesus hat dann στηρίζειν [sterizein] für das geistliche Hirtenamt benutzt (Lk 22,32), von wo aus es in die neutestamentlichen Schriften einging (Apg 18,23; Röm 1,11 usw.). „Stärken“ bedeutet in Offb 3,2 eine Aufgabe sowohl des Gemeindeleiters als auch der noch ansprechbaren Gesamtgemeinde.725 Geistlich, seelsorgerlich und praktisch soll alles getan werden, damit das Leben nicht auch dort noch entweicht, wo es noch vorhanden, aber abnehmend ist.726 τὰ λοιπά [ta loipa], das andere/„das Übriggebliebene“, meint wohl als zusammenfassende Wendung alle Gemeindeglieder, die sich in einem solchen Zustand befinden.727 Sterben (ἀποθανεῖν [apothanein]) ist auch hier ein geistlicher Begriff. Am Ende dieses Sterbeprozesses steht der geistliche Tod von V. 1. Wir halten jedoch fest, dass ein solcher Tod nicht mit einem plötzlichen „Herzschlag“ verglichen werden kann. Das „Sterben“ ist vielmehr ein längerer Prozess, der sich beobachten und auch beenden lässt. Wo Gottes Geist einmal in glaubenden Menschen seinen Einzug gehalten hat, ist es nicht so einfach, sich seinem Einfluss wieder zu entziehen. Es liegt also eine echte, ja sogar herrliche Chance darin, solchen Sterbenden zu helfen, sie zu stärken und zu retten (vgl. Jak 5,20; Jud 22f). Diese Stärkung ist keine Sterbehilfe, sondern eine Lebenshilfe. Schwierigkeiten bereitet die grammatische Form ἔμελλον [emellon]. Gerne spricht man hier von einer constructio ad sensum, einem „Tempus des Briefstils“ o.ä.728 Sicher ist der Plural ἔμελλον [emellon] durch die Vielzahl der Gemeindeglieder bedingt, um die es geht. Jedoch lässt sich auch das Imperfekt als ein Imperfekt der Schilderung eines Prozesses, der schon länger begonnen hat, verstehen.729 Damit wird die Aussage noch ein ganzes Stück profilierter:
725 Bousset S. 222. 726 Vgl. G. Harder, Art. στηρίζω usw., ThWNT, VII, 1964, S. 656. 727 Nicht auf Gemeindeglieder, sondern auf geistliche Qualitäten bezieht Caird S. 48 das λοιπά [loipa]. Wie wir aber Aune S. 219. 728 Vgl. Hemer S. 144; Bousset S. 222. 729 Vgl. Blass-Debrunner § 337.
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Sogar dort, wo das Sterben schon längst begonnen hat, ist ein „Stärken“ und Retten noch möglich! Nachbemerkung: Werde wach und stärke führen uns direkt zur Jesus-Verkündigung der Evangelien zurück (Mt 24,42; 25,13; ;Mk 13,35.37.33; Lk 21,36; 22,32). Man darf mit gutem Grund vermuten, dass der Auferstandene in Offb 3,2 bewusst an seine Verkündigung anknüpfen wollte. In V. 2b kommt endlich eine Auskunft über die Ursache des Urteils, dass Sardes tot ist: Denn ich habe deine Werke nicht vollkommen gefunden vor meinem Gott. Wieder ist die Aussage sorgfältig zu hören. Gefunden = „vorgefunden“ (εὕρηκα [heureka]) bzw. εὑρίσκειν [heuriskein] ist ein Verb des Wahrnehmens, Entdeckens und Prüfens. Wie ein gerechter und göttlich bevollmächtigter (vor meinem Gott) „Untersuchungsrichter“ stellt Jesus fest, wie die Beziehungen von Sardes zum lebendigen, dreieinigen Gott in Wirklichkeit sind. Darin eingeschlossen ist die Verantwortung, die Sardes vor diesem Gott trägt.730 Ergebnis: deine Werke, d.h. dein gesamtes Leben und Wirken, sind nicht vollkommen vor meinem Gott. Wohl „vor den Menschen“! Aber nicht vor meinem Gott. Der Ausdruck mein Gott deutet die einzigartige Verbindung von Vater und Sohn an und ist deshalb nahe verwandt mit dem Ausdruck „mein Vater“. Doch was heißt nicht vollkommen? Die Sprache des Johannes in seinen andern Schriften bietet eine wertvolle Verstehenshilfe (vgl. Joh 16,24; 17,13; 1Joh 1,4; 2Joh 12).731 Ebenso wichtig ist der Blick zur Bergpredigt (Mt 5,17) und auf die Aussagen des Paulus. πληροῦν [plerun], hinter dem hebr. ָמֵלא [male] steht, bedeutet grundsätzlich in diesen Zusammenhängen: ganz dem Willen Gottes entsprechen, das gottbestimmte Maß voll machen.732 Werke, die nicht vollkommen sind, weisen also eine positive und – viel mehr noch! – eine negative Seite auf: a) sie sind in einem gewissen Umfang zwar gegeben, b) sie entsprechen aber nicht dem ganzen Willen Gottes. Sardes hatte also Werke! Analog Offb 2,2f.19 kann man annehmen, dass Arbeit, Geduld, Diakonie, ja sogar eingewisses Maß an Liebe und Glauben vorhanden waren. Aber nicht so, wie es Gott wollte! Jetzt ahnt man die Chance, die Jesus der Gemeinde eröffnen will: dass sie in ihren Werken völliger wird, neues Leben erwacht, der Wille Gottes wieder gern und ganz getan werden soll. Die Sprache von Offb 3,2 ist ganz und gar die Sprache der Evangelien:733
730 731 732 733
H. Preisker, Art. εὑρίσκω, ThWNT, II, 1935, S. 767f. Bousset S. 222. Vgl. hier und im Folgenden G. Delling, Art. πλήρης usw., ThWNT, VI, 1959, S. 285ff. Vgl. dazu Hemer S. 141.
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Den Weg der Rettung beschreibt in Fortsetzung von V. 2 auch die erste Hälfte des dritten Verses: So denke daran, wie du empfangen und gehört hast, und bewahre es und tue Buße (V. 3). μνημόνευε οὖν [mnemoneue un] wiederholt wörtlich Offb 2,5 im Sendschreiben nach Ephesus. Die Parallelität Ephesus/Sardes läuft also auch hier weiter.734 Das So (οὖν [un]) deutet auf eine rationale logische Konsequenz hin. Richtig bedacht kann ein Aufwachen und Erkennen der Sünde nur zur Buße führen! Oft überrascht uns die „Vernünftigkeit“, die Rationalität Jesu in den Evangelien. Sie kennzeichnet aber auch die Sendschreiben. Was bedacht werden soll, wird in Offb 3,3 klar angegeben: a) wie du empfangen hast, b) wie du gehört hast. Das Erste – empfangen – betrifft die Paradosis, die apostolische Überlieferung (vgl. 1Kor 15,1-3; 11,23; 1Thes 2,13). Sie wird in der zweiten christlichen Generation zum maßgebenden Kriterium für Wahr und Falsch, für Lehre und Irrlehre. Das zeigt sehr deutlich der Eingang des 1. Johannesbriefes (1Joh 1,1-4). Aber auch für die spätere „johanneische Schule“ ist das Festhalten an der apostolischen Überlieferung lebensentscheidend. Irenäus sieht als die wahre Kirche diejenige an, die „von allen Aposteln und ihren Schülern den Glauben empfangen“ hat.735 Bis heute werden die orthodoxen Kirchen von diesem Verständnis geprägt. In unserem Zusammenhang wird man das πῶς [pos] bei wie du empfangen hast im Sinne eines ἀπ᾿ ἀρχῆς [ap’ arches] zu verstehen haben (vgl. 1Joh 2,24). Wenn Wolfgang Nauck zum 1Joh anmerkt: „Der Verfasser sieht sich veranlasst, … die Gemeinde gleichsam an den Anfang ihres Christenstandes zurückzuführen“ (S. 123), so darf man diese Absicht mutatis mutandis auch hinter Offb 3,3 suchen. Dasselbe gilt erst recht für die Wendung wie du gehört hast.736 Allerdings ist Hören die direktere, ja noch persönlichere Beziehung im Vergleich zum Empfangen. Hören unterstreicht noch einmal die Unersetzlichkeit des „Wortes“, des Logos. Die Erinnerung an den Anfang und das Bedenken des Mangels der Gegenwart im Verhältnis zu diesem Anfang verbindet erneut Ephesus und Sardes. Was für eine Tragödie, dass es in der Geschichte der christlichen Kirche nicht nur ein stetes Wachsen gibt, sondern auch einen lang anhaltenden Weg nach unten, eine irreversible Abwärtsbewegung zum Gericht. Damit dieser Weg nicht irreversibel wird, fordert der Auferstandene die Gemeinde von Sardes auf: Bewahre es (τήρει [terei])! Das, was am Anfang gehört, gelehrt und getan wurde, soll weiter verknüpft, gelehrt und gelebt 734 Vgl. Hemer a.a.O.; Bousset S. 223. 735 Adv. haer. I, 10,1. 736 Zu den verschiedenen Tempora vgl. Bousset S. 223; Hemer S. 143f.
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werden. Und tue Buße bedeutet: Rufe Gott um Hilfe an, bitte um Vergebung und Gnade und praktiziere in der Kraft des Geistes den wahren Glauben.737 Wenn du nun nicht wachsam bist, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde: Unter dieser Mahnung verläuft nun das künftige Leben von Sardes. Das μὴ γρηγορήσῃς [me gregoreses] wird verschieden übersetzt: „nicht wach wirst“ bzw. „nicht aufwachst“738 oder „nicht wachsam bist“.739 Aber sowohl im Kontext als auch in der synoptischen Bezugsstelle Mt 24,42parr geht es nicht um ein Wachwerden – im Unterschied zu V. 2! –, sondern um das Wachsamsein als dauerhaften Zustand. So entscheiden wir uns für Wenn du nun nicht wachsam bist.740 Uns scheint auch, dass hier ein Bezug auf die Geschichte der Stadt vorliegt, die zweimal überrumpelt und erobert wurde, weil sie eben nicht wachsam war (durch die Perser und durch Antiochus d. Gr.). Selbstverständlich heißt wachsam sein in Offb 3,3 nicht, die Zeit der Wiederkunft oder des Weltendes berechnen zu wollen, sondern in wahrem geistlichen Leben stehen. Schlägt man dieses Leben aus, dann kommt Jesus wie ein Dieb, das heißt völlig unerwartet und überraschend. Sardes wird nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde. Soviel ist sicher: Dieses Kommen ist ein Kommen zum Gericht. Sardes wird dann die Konsequenzen tragen müssen, weil es in diesem Gericht nicht bestehen kann. Die Ausleger diskutieren, ob ein spezielles Gericht über die Gemeinde während der irdischen Geschichte gemeint ist oder das allgemeine Gericht am Ende der Zeiten.741 Am besten bleibt man bei der offenen Formulierung von Offb 3,3, die eben beides bedeuten kann.742 Oben haben wir darauf hingewiesen, dass die Sprache von Offb 3,2 diejenige der Evangelien ist. Jetzt muss dasselbe für Offb 3,3 festgestellt werden. Denn die Begriffe γρηγορεῖν [gregorein], ἔργεσθαι [ergesthai], ποία ὥρα [ poia hora], κλέπτης [kleptes] stammen wie das ganze Übrige mit größter Wahrscheinlichkeit aus dem Jesuswort Mt 24,42f parr. Paulus in 1Thess 5,2 und Petrus in 2Petr 3,10 haben ebenfalls an dieses Jesuswort angeschlossen.743 737 Die Verengung auf das Gebot (Kraft S. 76: „… festhalten am Gebot und es wieder ergreifen“) ist nicht ratsam. 738 So z.B. Lohse S. 31; Ritt S. 32; Wikenhauser S. 44. 739 So z.B. Kraft S. 75. Prigent übersetzte schon bei V. 2 „Sois vigilant!“ (S. 62). 740 So auch A. Oepke, Art. ἐγείρω usw., ThWNT, II, 1935, S. 337; Bauer-Aland S. 334. 741 Vgl. Bousset S. 223; Prigent S. 65; Morris S. 76. 742 Ähnlich Caird S. 49. 743 Vgl. Bousset a.a.O.; Prigent a.a.O.; Hemer S. 141; Zahn S. 299; Jeremias Gleichn. S. 47.
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An V. 3 könnte unmittelbar V. 5 anschließen. Aber nun kommt eine der Überraschungen der Sendschreiben. Denn der auferstandene Jesus weist auf Gemeindeglieder hin, die nicht unter die bisherige Kritik an Sardes fallen: Aber du hast einige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben (V. 4). Die Formulierung du hast (ἔχεις [echeis]) muss hier auf den „Engel“ von V. 1 bezogen werden, also auf den Bischof bzw. Gemeindeleiter. Wo stand der Bischof selbst? V. 4 ermöglicht uns keine sichere Antwort. Aber es scheint, als gehöre er selbst nicht zu den einigen (ὀλίγα ὀνόματα [oliga onomata]).744 Es wäre für ihn eine Stärkung gewesen, wenn Jesus hätte sagen können: „Aber ihr seid einige in Sardes …“. ὄνομα [onoma], „Name“, vertritt hier die „Person“. Einige, wörtlich „Wenige“, verdeutlicht, dass es um eine Minderheit geht. Das Besudeln der Kleider ist im Alten und Neuen Testament ein vertrautes Bild für einen gottwidrigen Lebenswandel.745 So wie das weiße oder gewaschene Kleid ein Bild für die Reinheit ist (z.B. Gen 49,11; Ex 19,10; Ps 104,2; Jes 61,3; Mt 17,2; Jud 23; Offb 3,18; 7,9.14), so ist das besudelte oder beschmutzte Kleid ein Bild der Unreinheit. Mit Recht lehnt Friedrich Hauck dabei eine Verengung auf geschlechtliche Verfehlungen ab.746 Mit Paul Müller muss man hier mit einem weiten Bogen von Verfehlungen rechnen: „Weltliebe, irdischer Sinn, ungeistliche Betriebsamkeit“.747 Hemer betont die Anpassung an die heidnische Umwelt (S. 146). Allenfalls kann man mit Alfred Wikenhauser vermuten, dass es sich in Sardes „um dieselben Verirrungen handeln“ kann wie in Pergamon und Thyatira.748 Aber die ganze Situation von Sardes liegt weit näher an Ephesus als an Pergamon oder Thyatira. Halten wir eins noch fest: Das Anderssein der Minderheit im Vergleich zur „toten“ Mehrheit (V. 1) erforderte Mut. Insofern fordert uns der auferstandene Jesus zum Mut der Treue heraus. Diejenigen, die sich nicht befleckten, werden mit mir wandeln in weißen Kleidern, denn sie sindʼs wert. Vgl. zu dieser Verheißung Offb 3,18; 4,4; 6,11; 7,9.13; 19,14. Es handelt sich also um ein in der Offb wichtiges Motiv. Weiß ist das Symbol der Reinheit, der Gottesgemeinschaft und des Sieges. Noch weiter greift der Ausdruck mit mir wandeln. Denn er bezeichnet die 744 Das nimmt jedenfalls Schlatter S. 169 an; ebenso Zahn S. 300; E. Schrenk S. 52. 745 Vgl. F. Hauck, Art. μολύνω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 744f; W. Michaelis, Art. λευκός usw., a.a.O., S. 249ff. 746 A.a.O. 747 P. Müller S. 13. 748 Wikenhauser S. 45. Vgl. den Bericht Herodots über die Unzucht der Lyder (Hist I, 193f). Wie Wikenhauser auch Grünzweig S. 108.
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Christusgemeinschaft in alle Ewigkeit (vgl. 21,3).749 ἄξιος [axios] hat hier nicht, wie Bauer-Aland wollen, den Sinn von „sie verdienen es“ (Sp. 155). Denn „ein Verdienstgedanke ist durch den Charakter des Evangeliums ausgeschlossen“.750 Vielmehr heißt sie sindʼs wert so viel wie: „Ich, Jesus Christus, werde sie würdigen.“ Ihre Treue zum Herrn beantwortet der Herr mit seiner Treue (vgl. Mt 10,32f).751 Die Kleider sind geschenkt.752 Auch in Sardes – wie zuvor in Pergamon und Thyatira – fällt auf, dass der auferstandene Jesus keine Trennung von der übrigen Gemeinde befiehlt.753 Und umgekehrt gilt ebenso: „Die wenigen Getreuen haben sich ihrerseits von der sterbenden Kirche nicht losgesagt; es ist ihnen nicht in den Sinn gekommen, eine besondere Gemeinde von Erweckten zu bilden“.754 Man fragt sich unwillkürlich: Warum ist das heute anders? V. 5 erweitert die Verheißung auf sämtliche Gemeindeglieder von Sardes. Hier zeigt sich noch einmal deutlich, dass die ganze Gemeinde die Chance hat, durch Buße und Veränderung wach zu werden, ja eine wahrhaft lebendige Gemeinde zu werden. Wer überwindet (jeder Einzelne!), der wird so mit weißen Kleidern angetan: So (οὕτως [hutos]) heißt, in derselben Weise wie die Treuen von V. 4.755 Dass sich die Verheißung der weißen Kleider wiederholt, kann gut mit dem florierenden Wollhandel von Sardes zusammenhängen.756 Der Gemeinde würde dann anschaulich gemacht, wie schön das ewige Leben ist. Jedenfalls aber sind die weißen Kleider wie in V. 4 ein Symbol für Gerechtigkeit, Reinheit, Sieg und Gemeinschaft mit Gott. Das Präsens περιβαλεῖται [peribaleitai] = er wird angetan hebt den Geschenkcharakter hervor. Nur Christus kann aufgrund der Erlösung, die er herbeiführte, dieses neue ewige Leben schenken. Doch die Verheißung ist noch viel reicher: … und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens. Erstmals taucht hier in der Offb das Buch des Lebens (ἡ βίβλος τῆς ζωῆς [he biblos tes zoes]) auf. Dieses Buch ist nicht nur für die Offb wichtig (13,8; 17,8; 20,12.15; 21,27), sondern auch für das Alte und Neue Testament insge749 750 751 752 753
Vgl. Aune S. 222; Michaelis a.a.O. S. 255; Bengel S. 264. W. Foerster, Art. ἄξιος usw., ThWNT, I, 1933, S. 379. Vgl. Schlatter S. 169; Morris S. 77. Brütsch S. 174f; Michaelis a.a.O. S. 256. Darauf hat Brütsch S. 173f mit Recht besonderen Wert gelegt. Aber die Beobachtung schon bei Bengel S. 264. 754 Brütsch S. 173. 755 Allerdings bleibt es eine offene Frage, ob statt οὕτως [hutos] ursprünglich nicht οὗτος [hutos] stand. 756 So z.B. Hemer.
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samt (Ex 32,32; Ps 69,29; Dan 12,1; Mal 3,16; Lk 10,20; Phil 4,3; sowie die eben genannten Offb-Stellen). Es ist gewissermaßen das Verzeichnis derer, die Gott in Zeit und Ewigkeit gehören. Man muss dazu bedenken, dass das Buch im Alten Orient als etwas höchst Ehrwürdiges galt. Seit der Entwicklung der Schrift ab ca. 4000 v.Chr. sammelte man schriftliche Zeugnisse. Dass ein „Buch“ mit Gott verbunden und das menschliche Schicksal, Leben oder Tod, in einem Buch niedergelegt ist, braucht deshalb nicht zu verwundern. Gottlob Schrenk stellt mit Recht fest, dass der Verfasser der Offb „viel mehr durch die Sprache des AT bestimmt (ist) als durch den Sprachgebrauch der Kaiserzeit“.757 Erst wenn das klar ist, kann man zur Veranschaulichung für die damals lebende Gemeinde auch auf die Bürgerlisten der griechischen Städte und speziell auf das königliche Archiv in Sardes verweisen.758 Ob wir uns das Buch des Lebens entsprechend dem Realismus der Bibel als real in der himmlischen Welt existierend vorzustellen haben oder nur als ein Symbol für das Gedächtnis Gottes, muss offenbleiben. Austilgen, „auslöschen“, „ausstreichen“ ist dabei das alleinige Recht Gottes. Wenn Jesus sagt: Ich werde nicht austilgen, dann bezeugt er damit seine Gottheit. Die ganze Aussage ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens geht auf Ex 32,32f zurück.759 Der auferstandene Jesus verheißt also dem Überwinder = dem bußfertig Neuanfangenden, dass er am ewigen Leben teilnehmen wird. Offb 3,5 widerspricht übrigens der Annahme einer unwiderruflichen Prädestination, sonst gäbe es kein nachträgliches „Austilgen“.760 Nun hat die Verheißung von V. 5 noch einen dritten Teil: Und ich werde seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln. Man vergleiche die mehrteiligen Verheißungen für Pergamon (2,17) und Thyatira (2,26-28). In Offb 3,5 schließt der auferstandene Jesus an seine Worte in Mt 10,32; Lk 12,8 an.761 Vor meinem Vater findet sich in Mt 10,32, „vor seinen Engeln“ Lk 12,8. Das Bekennen (ὁμολογεῖν [homologein]) bezieht sich auf das Endgericht. Es bezeichnet das entscheidende Zeugnis Jesu in diesem letzten Gericht, das zum Freispruch des Menschen führt und seine Aufnahme in die neue Schöpfung ermöglicht.762
757 758 759 760 761 762
Art. βίβλος usw., ThWNT, I, 1933, S. 617. So Hemer S. 148. Schlatter BFchTh S. 36; Schrenk a.a.O. S. 618,21. So mit Recht Zahn S. 302. O. Michel, Art. ὁμολογέω usw., ThWNT, V, 1954, S. 208. Vgl. Michel a.a.O.
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Damit entfaltet sich die ganze Herrlichkeit der Zukunft mit Gott vor der Gemeinde in Sardes. Wer überwindet, das heißt in der Kraft Jesu und seines Geistes zur geistlichen Wachheit findet, wird die Kleider des Heils tragen, im Buch des Lebens verzeichnet bleiben, im Endgericht freigesprochen und ins ewige Leben eingehen. Zum Aufmerksamkeitsruf V. 6 vgl. die Erklärung bei 2,7.
IV Zusammenfassung 1. Die Gemeinde von Sardes fällt auf durch das Fehlen jeglichen Lobes. Dass einzelne Gemeindeglieder gelobt werden, darf sich die Gemeinde nicht auf ihr Konto schreiben. 2. Vielmehr erfolgt ein äußerst scharfer Tadel durch den auferstandenen Jesus: „Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot.“ Schein und Sein stehen in einem unversöhnlichen Gegensatz. Dabei fällt die Divergenz zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Urteil auf. Das menschliche ist durchaus positiv: Sardes ist eine „lebendige Gemeinde“. In Gottes Augen aber ist sie „tot“. Ob auch kirchliche Stimmen von einem „Leben“ in Sardes sprachen? 3. Trotz des vernichtenden Urteils hat Sardes die Chance, auch in Gottes Augen wieder zu einer „lebendigen Gemeinde“ zu werden. Ja, es ist Jesu Absicht, die Gemeinde zu wecken, zur Buße zu führen und mit echtem gottgefälligem Leben zu füllen. Es erstaunt, wie Jesus selbst dem zunächst „Toten“ noch die Chance des Lebens gibt. Das kann er, weil er die Fülle des Geistes besitzt und schenken kann. 4. Bedrückend ist hier der Unterschied zwischen dem Anfang der Gemeinde und dem jetzigen Zustand. Im Anfang war nicht „der Wurm drin“, sondern es war gut und verheißungsvoll. Sardes wird auf diese Weise zu einer kirchengeschichtlichen Warnung par excellence: Alle christlichen Kirchen können trotz des guten Anfangs in eine Abwärtsbewegung geraten, die nur noch das Gericht übrig lässt. Sardes warnt die Gemeinden aller Zeiten vor geistlichem Absterben und Tod. 5. Zu denken gibt, dass der geistliche Tod in Sardes keineswegs durch äußere Einflüsse verursacht wird. Sardes ist sogar bisher die einzige Gemeinde, die keine Spur von Verfolgung erkennen lässt. Sie hat Ruhe von außen. Es scheint also, dass die Anpassung an die heidnische Umgebung eine wesentliche Ursache für Absterben und Tod darstellt. Jedenfalls liegen die Ursachen innen, in der Gemeinde selbst. Verführung ist schlimmer als Verfolgung: Dieser alte Satz bewahrheitet sich auch hier. 6. Besondere Anteilnahme erweckt die Minderheit. Diese wird von Jesus ausdrücklich gelobt und gewürdigt. Man kann – unter Umständen: muss! – als
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Christ auch in der Minderheit leben. Das Verhalten der Mehrheit liefert keine Entschuldigung. Dass die Minderheiten-Situation Mut erfordert und Entbehrung bedeutet, wird gerade an Sardes deutlich. Sehr eindrücklich bleibt es, dass die wahren Christen sich nicht von der „toten“ Gemeinde abgespalten haben, sondern in ihr aushielten und sich bewährten.
10. Das sechste Sendschreiben: nach Philadelpia I Übersetzung 3,7-13 7 Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, derjenige, der den Schlüssel763 Davids hat, der öffnet und niemand schließt zu, und der zuschließt und niemand öffnet: 8 Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine geöffnete Tür gegeben, die niemand zuschließen kann, denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. 9 Siehe, ich gebe Menschen aus der Synagoge des Satans, die sagen, sie seien Juden und sindʼs nicht, sondern lügen. Siehe, ich mache es, dass sie kommen und vor deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. 10 Weil du mein Wort der Geduld bewahrt hast, werde auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über die ganze bewohnte Erde kommen wird, um die Bewohner der Erde zu versuchen. 11 Ich komme bald. Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! 12 Wer überwindet, den werde ich machen zu einer Säule im Tempel meines Gottes, und er wird nie mehr hinausgehen, und ich werde auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem, das aus dem Himmel von meinem Gott herabkommt, und meinen Namen, den neuen. 13 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
II Struktur Die allgemeine Struktur der Sendschreiben hält sich auch hier durch: Adressat (V. 7) – Schreibbefehl (V. 7) – Absender (V. 7) – Lob (V. 8) – Überwinderspruch (V. 12) – Aufmerksamkeitsruf (V. 13). Dennoch weist auch dieses Schreiben einige Besonderheiten auf: Die wichtigste Besonderheit ist diejenige, dass ein Tadel fehlt. Philadelphia und Smyr-
763 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner §47,4.
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na sind die beiden einzigen Gemeinden ohne Tadel. Das Gegenstück bilden Sardes und Laodizea, die beiden einzigen Gemeinden ohne Lob. Zieht man eine Linie durch alle Sendschreiben, dann stellt man in der Tat fest, dass bei den Inlandsgemeinden (Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodizea) der Tadel insgesamt schärfer, die Situation negativer als bei den Küstengemeinden ist. Die rühmliche Ausnahme bildet hier Philadelphia. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass in der Mitte des Schreibens ein relativ langer Teil (V. 9-11) der Zukunftsweissagung gewidmet ist. Dabei hat diese Zukunftsweissagung einen universalen, „ökumenischen“ Aspekt. (V. 10). Schließlich gehört der Überwinderspruch in V. 12 zu den umfangreichsten Überwindersprüchen in den Sendschreiben. Ferner fällt schon beim ersten Lesen ein stark jüdischer Akzent auf (David – Synagoge – Satan – Juden – Tempel – Jerusalem). Schließlich ist wie bei Thyatira und Sardes, aber im Unterschied zu Ephesus, Smyrna und Pergamon der Aufmerksamkeitsruf dem Überwinderspruch nachgestellt.
III Einzelexegese Der Schreibbefehl in V. 7 entspricht 2,1.8.12.18; 3,1. Vgl. die Erklärung dort. Philadelphia, griechisch Φιλαδέλφεια [Philadelpheia], deutsch: „Bruderliebe“, hießen in der damaligen Zeit mehrere Städte. Ein bekanntes Beispiel ist Ammon, die heutige Hauptstadt Jordaniens, die zur Zeit Jesu und der Apostel ebenfalls Philadelphia hieß. Das Philadelphia der Offb gehörte geografisch zu Lydien, staatsrechtlich zur römischen Provinz Asien. Da auch Sardes und Thyatira geografisch zu Lydien gehörten, ist Lydien in den Sendschreiben stark vertreten. Die Gründung der Stadt soll erst im 2. Jh. v.Chr. durch den pergamenischen König Eumenes erfolgt sein.764 Er nannte sie „Philadelphia“ zum Gedenken an seinen Bruder Attalos, der wegen seiner Loyalität den Beinamen „Philadelphos“ (= der seinen Bruder Liebende) trug. Wie das übrige Reich von Pergamon kam Philadelphia 133 v.Chr. an die Römer. Fortan bildete es einen Teil der römischen Provinz Asien. Auch Philadelphia war wie Sardes eine Handelsstadt. Es lag sehr günstig am Rand einer fruchtbaren Hochlandebene in
764 Vgl. im Folgenden M.J.S. Rudwick/Colin J. Hemer, Art. Philadelphia, GBL, 3, S. 1191– 1192. Allerdings wird öfters angenommen, dass sein Bruder Attalos Philadelphos die Stadt gegründet habe. So z.B. Bousset S. 225; LThK, 8, 1963, Sp. 441f; Morris S. 77f.
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einem Tal, war allerdings durch Erdbeben gefährdet. Dasselbe Beben, das 17 n.Chr. Sardes zerstörte, zerstörte auch Philadelphia.765 Mit kaiserlicher Hilfe wiederaufgebaut, nahm es später zeitweise die Namen Neocäsarea und Flavia an. Philadelphia lag im Tal des Kogamis, der sich in den Hermos ergoss, also in einer Flusslandschaft, die sich über Sardes bis nach Smyrna erstreckte. Die Entfernung nach Smyrna beträgt ca. 120 km, nach Sardes ca. 45 km. Es war bekannt durch seine vielen Tempel und religiösen Feste. Wieder wissen wir nicht, wann die christliche Botschaft nach Philadelphia gelangte. Theoretisch könnte es schon bald nach dem ersten Pfingsten gewesen sein (Apg 2,9). Am ehesten kann man vermuten, dass die christliche Gemeinde in Philadelphia in derselben Zeit entstand, die wir für Thyatira und Sardes in Erwägung zogen, nämlich während der zweijährigen Wirksamkeit des Paulus in Ephesus (Apg 19,10). Philadelphia wird im NT nur in der Offb erwähnt (1,11; 3,7ff). Fünfzehn Jahre später weilt Bischof Ignatius von Antiochien, unterwegs zum Martyrium nach Rom, kurz in der Stadt und schreibt dann einen Brief an die Gemeinde (Ad Phil).766 Er lobt Bischof und Gemeinde (Praefatio; I, 1ff), die demnach eine gute Entwicklung genommen haben. Weitere vierzig Jahre später erwähnt das Martyrium S. Polycarpi, dass im Jahre 156 n.Chr. elf Märtyrer aus Philadelphia zusammen mit Polykarp ihr Leben gaben.767 Wir haben also über 60 Jahre hinweg (Offb – Ignatius Ad Phil – Mart Pol) Zeugnisse für die Glaubenstreue der Gemeinde von Philadelphia: ein ganz erstaunlicher geschichtlicher Vorgang. Die Geschichte der Treue setzt sich fort bis zum Jahr 1390 n.Chr. Denn Philadelphia unterlag damals als letzte Stadt Kleinasiens den türkischen Eroberern. Die Türken nannten die Stadt Alaschehir. Um 1900 gab es dort immer noch einen griechischen Erzbischof und 5 griechische Kirchen. Reste aus der griechischen und römischen Zeit sind immer noch sichtbar, darunter eine uralte Wallmauer. – Die Selbstvorstellung Jesu in V. 7 umfasst drei Aussagen. Die erste lautet: Es ist der Heilige (ὁ ἅγιος [ho hagios]). Ursprünglich ein Gottesprädikat, wird es im NT auch auf Jesus übertragen.768 Aber „Die Bezeichnung Jesu Christi als ἅγιος ist selten“769 (Mk 1,24; Lk 1,35; 4,34; Joh 6,69; 1Joh 2,20; Offb 3,7; Apg 3,14; 4,27.30). Am auffallendsten ist dabei Joh
765 766 767 768 769
Tacitus Ann II, 47 Vgl. Euseb H.E. III, 36,10. Mart Pol XIX init.; Euseb H.E. IV, 15,45. Vgl. O. Procksch/K.G. Kuhn, Art. ἅγιος usw., ThWNT, I, 1933, S. 87ff. Procksch a.a.O. S. 102.
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6,69, wo Jesus „an außerordentlicher Stelle“770 im Rahmen eines Glaubensbekenntnisses als „der Heilige Gottes“ = Messias bezeichnet wird. Hier berühren sich also der Sprachgebrauch des JohEv und der Offb wieder aufs Engste. Wenn sich Jesus in Offb 3,7 „der Heilige“ nennt, dann verkündigt er damit seine Gottheit, denn der Vater wird in 6,10 ebenso genannt.771 Er verkündigt damit auch seine Messianität (vgl. Joh 6,69). Die zweite Aussage lautet: Er ist der Wahrhaftige (ὁ ἀληθινός [ho alethinos]). Auch dies ist ursprünglich ein Gottesprädikat (Offb 6,10). Die Bedeutung von ἀληθινός [alethinos] hat mehrere Facetten: „wahrhaftig“, „zuverlässig“, „echt“.772 In Offb 3,7 ist der Sinn wohl: „der, dem man ganz vertrauen kann“. Wieder enthüllt sich die Gottheit Jesu Christi. Die dritte Aussage lautet: derjenige, der den Schlüssel Davids hat. Auch hier verknüpfen sich verschiedene biblische Linien. Ausgangspunkt für die Deutung ist zunächst Jes 22,22.773 Dort prophezeit Jesaja, dass Eljakim künftig Hofmeister am Königshof von Juda sein wird. Er erhält „die Schlüssel des Hauses Davids“. Denn die Könige Judas waren ja Söhne Davids. Mit der Schlüsselgewalt bestimmt Eljakim, wer beim judäischen König aus und ein geht: dass er auftue und niemand zuschließe, dass er zuschließe und niemand auftue. Dasselbe sagt der auferstandene Jesus in Offb über sich selbst. Jesus begegnet uns hier als diejenige himmlische Person, die den Zugang zum Vater öffnen oder verschließen kann. Wie in 1,18 besitzt er die universale und letztgültige himmlische Schlüsselgewalt. Joachim Jeremias formuliert das sehr eindrucksvoll: „Christus hat unbegrenztes Herrenrecht über die künftige Welt. Er allein verwaltet Gnade und Gericht und entscheidet unwiderruflich darüber, ob jemand Zugang erhält zum Heil der Endzeit oder von ihm ausgeschlossen bleibt.“774 Unseres Erachtens setzt Offb 3,7 zweierlei voraus: 1) Dass die Gemeinde in Philadelphia das AT genügend kennt, um diese Aussage zu verstehen. Evtl. ist das judenchristliche Element damals dort stark gewesen. 2) Dass Jesus Davids Sohn ist, also echter Davidide. Sonst wäre eine Verbindung zwischen ihm und David viel schwerer vorstellbar.775
770 771 772 773 774 775
Procksch a.a.O. Procksch a.a.O. S. 103. Vgl. R. Bultmann, ThWNT, I, 1933, S. 250. J. Jeremias, Art. κλείς, ThWNT, III, 1938, S. 748; Schlatter BFcTh S. 41. A.a.O. Bengel machte zu Offb 3,7 betreffs „niemand“ eine nachdenkliche Anmerkung: „auch kein Wolgesinnter, der aber bisweilen anderswo hinaus will, als der Herr selbs“ (S. 266).
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Der achte Vers hat einen merkwürdigen Aufbau. Er beginnt wie 2,2.19; 3,1 mit der Feststellung: Ich kenne deine Werke. Vgl. die Erklärung bei 2,2. Das liest sich wieder wie die Überschrift zu den folgenden genaueren Angaben. Dann schlägt der Auferstandene aber ein anderes Thema an. Erst am Ende des Verses werden einzelne Werke aufgezählt, die Anlass zu einem Lob geben. Vom Duktus des Schreibens her hat jedoch W. Bousset recht, wenn er zum Anfang des achten Verses bemerkt: „Eine Anerkennung der Gemeinde in vollstem Umfang“ (S. 226). Die Fortsetzung von Ich kenne usw. ist eine Aussage, die teils die Gegenwart analysiert, teils die unmittelbare Zukunft prophezeit: Siehe, ich habe vor dir eine geöffnete Tür gegeben, die niemand zuschließen kann. In dem Begriff geben steckt die königliche Souveränität Jesu, der alles bestimmen kann, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist (vgl. Mt 28,18; Hiob 12,14). Doch was ist die geöffnete Tür? In geöffnet (Pass. Perf.) liegt ein Passivum divinum vor.776 Niemand hätte sie öffnen können außer Gott und Gottes Sohn bzw. der heilige Geist. Im Einzelnen streiten die Exegeten. Meint Offb 3,8 die Tür zum Reich Gottes, die Jesus der Gemeinde von Philadelphia öffnet?777 Oder meint es die Tür zur Mission, zum Gewinnen von Menschen?778 Jedenfalls ist „der übertragene Gebrauch der Wendung … sowohl im Spätjudentum wie im Hellenismus“ häufig.779 Mit Joachim Jeremias ziehen wir die Deutung auf die Mission vor, denn 1) „hat sich das Bild im missionarischen Sprachgebrauch eingebürgert“780 (vgl. 1Kor 16,9; 2Kor 2,12; Kol 4,3), 2) wird das Reich Gottes ja in V. 12 verheißen, 3) ergibt sich dann im Blick auf V. 9 ein geschlossener Gedankengang. Der Auferstandene stellt also fest, dass die Gemeinde bisher gute Möglichkeiten zur Mission hatte, dass sie diese ausnutzte und dass sie solche guten Möglichkeiten auch in der unmittelbaren Zukunft haben wird. Es ist eine Tür, die niemand zuschließen kann. Das heißt, keine irdische und auch keine überirdische Macht, kein „Widersacher“ ist in der Lage, die missionarische Tätigkeit von Philadelphia zu verhindern. Zwar ist Jes 45,1 im übertragenen Sprachgebrauch mit Offb 3,8 verwandt781, aber es fehlt dort die missionarische Bewegung, die für Offb 3,8 entscheidend ist. 776 Vgl. Blass-Debrunner §101,54. 777 So z.B. Kraft S. 81; Bengel S. 267; Behm S. 26; Morris S. 79; Aune S. 236. 778 So z.B. J. Jeremias, Art. θύρα, ThWNT, III, 1938, S. 174; Hemer S. 155.162; Schlatter S. 170. 779 Jeremias a.a.O. 780 Jeremias a.a.O. 781 So Kraft S. 81.
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Erst jetzt spricht Jesus die Gründe an, die zum Lob der Gemeinde führten: denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. Die Erwähnung der kleinen Kraft erstaunt in diesem Zusammenhang. Ist es nicht im Gegenteil ein Grund zu Jubel und Lob, wenn Gott unserer „Seele große Kraft“ gibt (Ps 138,3)? Und doch rühmt das AT in erster Linie Gottes Kraft. Ja, Gott demütigt unsere menschliche Kraft (Ps 10,2,24). Für die Endzeit gilt sogar: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen“ (Sach 4,6). An diese Linie von Sach 4,6 knüpft Offb 3,8 an.782 Die μικρὰ δύναμις [mikra dynamis] der Gemeinde ist gerade diejenige Situation, in der Gottes Kraft voll zum Zuge kommt. Die Gemeinde weiß, dass sie eine kleine Kraft hat. Das macht sie demütig und vertrauensvoll und stärkt ihren Glauben. Wenn Paulus nach 2Kor 12,9 „erfährt …, dass Schwachheit und Bedrängtheit der menschlichen Existenz die notwendige Voraussetzung sind für die Wirksamkeit der … Gotteskraft“,783 dann erfährt Philadelphia dasselbe. Für uns eine ernste Mahnung! Nicht die kraftvolle, die mächtige Kirche kann unser Ziel sein, sondern die geisterfüllte (Sach 4,6). Du hast mein Wort bewahrt: Das ist auch dem Jesus des JohEv und der Johannesbriefe wichtig (Joh 8,51; 14,23; 15,20; 17,6; 1Joh 2,5). Die Mahnung dazu hörten wir in 3,3. ὁ λόγος μου [ho logos mu] umfasst dabei beides: das Wort, das Jesus nach dem Evangelium gesprochen hat, und das Wort, das die Apostel über ihn sprachen (die Botschaft von Jesus)! Nicht abweichen: Diese Leitlinie hat Philadelphia ganz befolgt. Du hast meinen Namen nicht verleugnet: Aus Offb 2,13 lässt sich schließen, dass hier die Widerstandskraft in der Verfolgung gemeint ist. Philadelphia verkörpert die Treue zu Jesus. Alle Versuche, die Gemeinde zum Abfall vom „Namen“ (= Person) Jesu zu bewegen oder sie zum Verstummen bezüglich dieses Namens zu bringen, sind gescheitert.784 „Die Gemeinde hat eine Zeit der akuten Not und Verfolgung hinter sich“: darin ist Bousset785 recht zu geben. Wie Smyrna und Pergamon ist Philadelphia eine Märtyrergemeinde, auch wenn hier keine Namen erwähnt werden. Welche Bereitschaft zum Opfer und zum Martyrium beseelte damals die Christenheit! Es kann sein, dass auch in 782 Die manchmal zu findende Deutung, wonach „eine kleine Kraft“ eine „geringe Zahl der Gemeindeglieder“ bezeichne (dies erwägen z.B. Zahn S. 304; Bengel S. 267), ist demnach abzulehnen. Gegen Aune S. 236. 783 So W. Grundmann, Art. δύναμαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 318. 784 Dass „nur ein Bruchteil … treu geblieben“ sei (so Kraft S. 81) oder sich gar die Gemeinde „gespalten“ habe, ist reine Spekulation. 785 S. 227.
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Philadelphia Juden die Anstifter der Verfolgung waren,786 so wie vermutlich auch in Smyrna (2,8ff) und später beim Martyrium des Polykarp. Hemer vermutete, es habe sich evtl. um „the pressure to participate in a form of Jewish worship which denied that ‚name‘ (= Jesus)“ gehandelt.787 Gerade auf jüdische Menschen bezieht sich die folgende Zukunftsweissagung (V. 9): Siehe, ich gebe Menschen788 aus der Synagoge des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sindʼs nicht, sondern lügen. Das heißt: Jüdische Synagogenmitglieder werden zum Glauben an Jesus als Messias kommen. Dies wird nicht das Verdienst von Philadelphia, sondern das Geschenk (ich gebe) Jesu sein. V. 9 wirft die Frage nach der Judenschaft in Philadelphia auf. Bis heute wissen wir so gut wie nichts über sie.789 Das ist ein frappanter Unterschied zu Sardes mit seiner reichen, ins geschäftliche Leben integrierten jüdischen Bevölkerung. Und was den Unterschied noch gravierender macht: In Sardes gab es bis dahin keinerlei Verfolgung! In Philadelphia aber ist es völlig umgekehrt: Hier herrscht Verfolgung und die Gefahr der Unterdrückung der christlichen Gemeinde. Offenbar bringen die 15–20 Jahre nach der Offb geschriebenen IgnatiusBriefe mehr Licht in die Situation. In seinem Brief Ad Phil 3,3 sieht Ignatius bei Philadelphia keine innere Häresie („οὐχ ὅτι παρ᾿ ὑμῖν μερισμὸν εὕρον, ἀλλ᾿ ἀποδιϋλισμόν“ [uch hoti par’ hymin merismon heuron, all’ apodiÿlismon]). Dagegen beunruhigt ihn der „Judaismus“, den „beschnittene“ Prediger in die Gemeinde hineinzutragen versuchen. Vor ihnen warnt er in auffälliger Weise: „Ἐὰν δέ τις Ἰουδαϊσμὸν ἑρμηνεύῃ ὑμῖν, μὴ ἀκούετε αὐτοῦ. ἄμεινον γάρ ἐστιν παρὰ ἀνδρὸς περιτομήν ἔχοντος Χριστιανισμὸν ἀκούειν, ἤ παρὰ ἀκροβύστου Ἰουδαϊσμόν.“ [Ean de tis Iudaïsmon hermeneue hymin, me akuete autu. ameinon gar estin para andros peritomen echontos Christianismon akuein, e para akrobystu Iudaïsmon.] – „Wenn aber jemand euch den Judaismus (Ἰουδαϊσμόν [Iudaïsmon]) predigt, hört nicht auf ihn! Denn es ist besser, von einem Beschnittenen Christentum zu hören als von einem Unbeschnittenen Judentum.“ (6,1). Demnach gab es zur Zeit des Ignatius Versuche, die Gemeinde für den „Judaismus“, vielleicht sogar den jüdischen Glauben zu gewinnen, und zwar unter Beteiligung jüdischer bzw. beschnittener Prediger. Geschah dies in Ver-
786 787 788 789
So Bousset a.a.O.; Hemer S. 163; Behm S. 26. Hemer S. 150. διδῶ [dido] = δίδωμι [didomi] (Blass-Debrunner § 94,3). Hemer S. 160.
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bindung mit der Verfolgung zur Zeit Trajans, von der der Plinius-Brief (112 n.Chr.) zeugt?790 Jedenfalls erfolgte nach Offb 3,8-9 die Bewegung in die andere Richtung: Christen gewannen Menschen aus der Synagoge zum Christusglauben. Jüdische Existenz in Philadelphia wird durch Offb 3,8ff und Ignatius Ad Phil 3,3; 6,1 ausreichend bezeugt. Zu den Einzelheiten: Synagoge des Satans begegnete uns schon in 2,9, also in Smyrna. Wir halten fest, dass „Synagoge des Satans“ weder antijudaistisch noch unabänderlich gemeint ist. Vielmehr ist Folgendes gemeint: Die Leitung der Synagoge widersetzt sich der Botschaft von Christus. Sie steht also unter dem Einfluss des Widersachers Gottes und nicht unter der Führung Gottes und seines heiligen Geistes. Ändert sich die Einstellung zu Christus, ist sie auch keine „Synagoge des Satans“ mehr. Es geht ferner um die Frage, wer in Wahrheit ein „Jude“ ist. Die gegenwärtigen Mitglieder der Synagoge791 sagen, sie seien Juden. Sie betonen also ihr Jüdisch-Sein. Es scheint dort relativ wenige Gottesfürchtige aus den „Völkern“ gegeben zu haben. Damit ist eine Tendenz erkennbar, die den Begriff „Judaismus“ bei Ignatius verständlich macht. Aber kann jemand wahrer Jude sein, der sich nicht zum auferstandenen Jesus als Messias bekennt? Vgl. die Erklärung bei 2,9. Für die Offb ist klar: Sie sindʼs nicht. Das anschließende lügen bedeutet keine subjektive Unwahrhaftigkeit – die Betreffenden waren subjektiv durchaus überzeugte, „echte“ Juden! –, sondern ein objektives Fehlurteil.792 Siehe, ich mache es, dass sie kommen:793 Hier ist noch einmal klargestellt, dass allein Jesus diese Wendung der Dinge schenkt. Die persönliche Verantwortung des Einzelnen wird dadurch aber nicht aufgehoben. Der Redeִ [ ָעasiti]).794 stil ist ganz hebräisch: ich gebe ([ נ ַָת ִתּיnatatti]) – ich mache (שׂיִתי … dass sie kommen und vor deinen Füßen niederfallen sind Zitate aus Jes 45,14; 60,14.795 ἐνώπιον [enopion] entspricht [ ִלְפנ ֵיliphne].796 Aber während dort Angehörige der Völker zu Israel kommen und vor ihm niederfallen, weil sein Gott der allein wahre Gott ist, kommen im Falle von Offb 3,9 jüdische Menschen zum wahren Israel, nämlich der Christusgemeinde, weil Christus 790 Vgl. Hemer S. 9. 791 Der Plural λεγόντων [legonton] usw. bezieht sich als constructio ad sensum auf die Synagoge als eine Gruppe von Menschen. 792 H. Conzelmann, Art. ψεῦδος usw., ThWNT, IX, 1973; S. 599, stuft Offb 3,9 als Polemik ein und bleibt deshalb in seiner Erklärung manches schuldig. 793 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner zu Offb 3,9. 794 Zum hebr. שׂה ָ [ ָעasah] vgl. H. Ringgren, Art. שׂה ָ ָע, ThWNT, VI, 1989, Sp. 418. 795 Schlatter BFchTh S. 61 verweist auf Jes 49,23; 60,14; Dan 2,46. 796 Blass-Debrunner § 214,9.
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eben der wahre Christus ist. Es geht also um den eschatologischen Vorgang des zum rettenden Glauben Kommens. Eine Überlegenheit der christlichen Gemeinde im Sinne eines Triumphs über die Synagoge wird hier gerade nicht ausgesagt (vgl. Ps 86,9). Die Fortsetzung bestätigt unsere Deutung: sie werden erkennen, dass ich dich geliebt habe. Auch darin liegt ein Schriftbezug. Nach Jes 43,4; Jer 31,3 sowie Dtn 7,7f liebt Gott sein Volk Israel. Wer erkennt, dass der Sohn Gottes dich = seine Gemeinde in Philadelphia bis jetzt geliebt hat und weiter liebt, der erkennt zugleich, dass das wahre Israel dort ist, wo der auferstandene Messias ist. In wunderbarer Weise wird hier die Liebe Jesu zu den Seinen zum Ausdruck gebracht wie auch schon im Johannesevangelium (13,1). Eph 5,25ff steht dabei dicht neben Joh 13,1; Offb 3,9. Die Liebe des Auferstandenen ist Philadelphias Schutz und Kraft. Es heißt hier nicht: Sie werden erkennen, „dass du besser bist“, „dass du recht hast“ o.ä. Nein, es geht um die Christus-Erkenntnis. Deshalb ist dieses Erkennen wie in Joh 6,69 eng mit dem Glauben bzw. Gläubigwerden verbunden. Man kann alle diese Sätze nicht schreiben, ohne an die Bitterkeit zu denken, mit der jüdische Menschen nach maßlosen Tragödien und Leiden sie heute hören. Aber es wäre nur eine Fortsetzung dieser Last- und Leidensgeschichte, wenn man über Offb 3,9 schweigen wollte. Eins jedoch zeichnet sich in Offb 3,7ff ab: Damals waren die Beziehungen von Christen und Juden noch offen genug, um einen Wechsel hinüber und herüber zu ermöglichen. Die Fronten waren sozusagen noch nicht starr. Jedenfalls nicht in Philadelphia. Mit Recht bemerkte Vitringa (S. 137) zu Offb 3,9: „Prima haec est consolatio.“ In der Tat: Die Gemeinde in ihrer Schwachheit wird enorm getröstet durch Menschen aus der Synagoge, die sich für den Glauben an Jesus Christus gewinnen lassen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass dies eine lokal begrenzte Aussage ist.797 Schwer verständlich ist V. 10: Weil du mein Wort der Geduld bewahrt hast, werde auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung … Du hast mein Wort bewahrt greift zunächst V. 8 auf. Hier in V. 10 tritt jedoch eine Erweiterung ein: ὁ λόγος τῆς ὑπομονῆς μου [ho logos tes hypomones mu]. Man kann diese Erweiterung verschieden interpretieren. Entweder ist es das Wort Jesu, das uns zur Geduld ermahnt (vgl. Mt 24,13; Lk 8,15; 21,19; Offb 1,9). Oder es ist das Wort, das Jesus als Vorbild der Geduld verkündigt 797 So mit Recht P. Müller zur Stelle. Behm S. 26 lässt eine Erfüllung von V. 9 erst in der Endzeit zu, ähnlich Hemer S. 164. Richtig dagegen Aune S. 238: Die lokale Begrenzung spricht gegen eine solche „Endzeit“-Annahme.
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(vgl. 2Thess 3,5; 1Petr 2,21ff; Hebr 12,2f).798 Beides bleibt möglich. Vielleicht soll Offb 3,10 sogar in beiderlei Richtung verstanden werden.799 Ich werde dich bewahren ist sicherlich eine Verheißung. Aber bewahren wovor? Es kann nicht die Versuchung (πειρασμός [peirasmos]) sein, die der Einzelne jeweils für sich zu bestehen hat und die das Vaterunser anspricht.800 Es muss sich vielmehr um eine umfassende Not handeln.801 Doch nun beginnen die Differenzen der Ausleger. Vitringa und Bengel deuteten auf die Verfolgungen im Römischen Reich, Bengel speziell auf die Verfolgungen unter Trajan.802 Auch heute findet eine innergeschichtliche, nicht-endzeitliche Deutung Anwälte bei den Exegeten.803 Zahlreiche neuere Exegeten beziehen die „Versuchung“ jedoch auf die letzte große Trübsal bzw. den Antichrist.804 An dieser Stelle verquickt sich die Auslegung von Offb 3,10 mit der Debatte über pre- oder post-tribulation.805 Kurz gefasst geht es um die Frage: Müssen Christen die antichristliche Zeit durchleiden oder werden sie (gemäß Offb 3,10?) vorher entrückt?806 Fritz Grünzweig verwies hier auf das ἐκ [ek] und vertrat von daher eine vermittelnde Position:807 Die Christen werden diese Trübsal nur teilweise erleiden, dann werden sie mitten aus der Not „herausgeführt“. Was sagt Offb 3,10 nun wirklich? Stunde der Versuchung (ὥρα τοῦ πειρασμοῦ [hora tu peirasmu]) bezeichnet hier nicht ein einzelnes, momentanes Ereignis, sondern hat den weiteren Sinn von Zeit der Versuchung. τηρεῖν ἐκ [terein ek] heißt nicht „mitten aus“, sondern einfach bewahren vor.808 Versuchung hängt mit dem „Versucher“ zusammen. Er hat seine spezielle Zeit in der letzten großen Trübsal und in der Zeit des Antichrist (Offb 12,12ff; 13,1ff), schließlich in der letzten Rebellion von Offb 20,7ff. Aber seine „Zeit“ ist auch überall da in der Geschichte, wo er in einem Gemeinwesen, einer Gesellschaft oder einem Staat seinen „Thron“ errichten kann (vgl. Offb 4,13; 2,13). Von daher sind die Zeiten der Christenverfolgungen und die Nöte der Endzeit keine ausschließlichen Alternativen. Wir werden bei Offb 3,10 beides zusammen 798 Ersteres Vitringa S. 138; Bengel S. 269. Letzteres Morris S. 80. 799 Wieder anders Zahn S. 307: Gemeint sei „das geduldige Warten auf das Kommen Jesu“. Ebenso Schlatter S. 171. 800 Richtig H. Seesemann, Art. πεῖρα usw., ThWNT, VI, 1959, S. 30. 801 Seesemann a.a.O. 802 Vitringa S. 138f; Bengel S. 270. 803 Caird S. 54: „not the final event of world history“. 804 Z.B. Behm S. 26; Brütsch S. 185ff; Schlatter S. 171; Zahn S. 306. 805 Vgl. Aune S. 240. 806 Vgl. Grünzweig S. 116f. 807 A.a.O. 808 Blass-Debrunner § 149,2.
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sehen müssen. Nur eins setzt Offb 3,10 voraus: Es handelt sich um ein Geschehen, das über die ganze bewohnte Erde kommen wird. Ganz ist hier betont,809 lässt aber auch Raum für eine Deutung auf das Imperium Romanum (vgl. Lk 2,1; Apg 17,6; 24,5).810Auch von daher bleibt die Formulierung von Offb 3,10 offen: Es kann sowohl eine innergeschichtliche als auch eine endzeitliche Not gemeint sein. πειράσαι [ peirasai], versuchen, hat hier vermutlich nicht den positiven Sinn von „auf die Probe stellen“, sondern den Sinn von Verlockung zur Sünde.811 Die Bewohner der Erde sind „alle Menschen“.812 Fassen wir zusammen: Ebenso wie Philadelphia das Wort Jesu bewahrt hat, wird der auferstandene Jesus auch Philadelphia vor der kommenden weltweiten und satanischen Versuchung bewahren. Mit anderen Worten: Philadelphia wird mithilfe des Herrn in der kommenden Versuchung treu bleiben.813 Diese Verheißung zeichnet Philadelphia aus und gilt in dieser Form nur für Philadelphia.814 Inwieweit kann sich dann die übrige Christenheit auf dieses Wort stützen? Die Antwort muss wie beim Sendschreiben von Ephesus lauten: Sie kann sich im Weg der typologischen Deutung und im Rahmen der Regeln, die für die Bibel insgesamt gelten, auf dieses Wort beziehen. So kann Offb 3,10 sie trösten, stärken und zur Hoffnung entfachen. Aber man darf nicht vergessen, dass Philadelphia auch einen einzigartigen Platz in der Geschichte hatte, den man nicht einfach einebnen oder auf andere übertragen darf. Konkreter gesagt: Insofern Philadelphia „Urbild und Vorbild aller sich in Bedrängnis bewährenden Gemeinde“ ist,815 gilt die Verheißung des Bewahrens allen in ähnlicher Bedrängnis Standhaltenden. Das ergibt sich übrigens schon aus Mt 24,13.22.816 Insoweit ist es auch nicht verboten, nach Philadelphias Vorbild „philadelphische Gesellschaften“ zu bilden. Berühmt und einflussreich wurde z.B. die „philadelphische Gesellschaft“, die Jane Leade (1623–1704) in England gründete. Ihre Einflüsse reichten bis nach Holland, Deutschland, in die
809 810 811 812 813
Blass-Debrunner § 275,5. Bauer-Aland Sp. 1138; O. Michel, Art. οῖκος usw., ThWNT, V, 1954, S. 159. Vgl. 2Petr 2,9; Seesemann a.a.O. Hemer S. 164: „the enemies of the church“. Fragwürdig ist hier Bengels Deutung: „dass sie (= die Stunde der Versuchung) dich nicht einmal treffen soll“ (S. 269). Wie Bengel Behm S. 26. Wie wir Brütsch S. 185; Hemer S. 164 (unter Verweis auf Joh 17,15). 814 Aune S. 240; Hemer S. 175. 815 Grünzweig S. 120. 816 Vgl. P. Müller S. 15.
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Schweiz und nach Schweden.817 Dagegen gibt es in der Kirchengeschichte kein „philadelphisches Zeitalter“, wie es z.B. Coccejus erwartete.818 Die Sendschreiben geben keine kirchengeschichtliche Abfolge mit je einer ephesinischen, smyrnäischen und schließlich einer philadelphischen und laodizeischen Epoche an, sondern enthalten das Urteil Jesu zu den damaligen gleichzeitig existierenden kleinasiatischen Gemeinden im Umkreis des Johannes. Der Weissagungsteil (V. 9-11), den wir bei II. notierten, endet mit V. 11: Ich komme bald819 wird von Hemer unter Berufung auf den Kontext als „a comfort“ und „not a threat“ verstanden.820 In der Tat kann diese Aussage keine Bedrohung darstellen. Nichtsdestoweniger liegt neben dem tröstlichen Element auch ein Ernst darin, der Philadelphia wachhalten und an seine Verantwortung erinnern soll. Was den Trost anbelangt, so wäre Lk 18,6-8; 21,28 zu vergleichen. „Ich komme bald“ hat darüber hinaus – wenn wir bis jetzt richtig erklärt haben – zwei Komponenten. Die eine ist das Kommen Jesu in der Geschichte, um Philadelphia in Not und Verfolgung beizustehen. Die zweite ist das Kommen Jesu am Ende der Geschichte, die sog. Wiederkunft. Wir beachten, dass ἔρχομαι ταχύ [erchomai tachy] ein häufiges Motiv der Offb darstellt (2,16; 22,7.12.20). Die Offb ist geradezu das Buch vom Kommen Jesu Christi. Bald, ταχύ [tachy] muss wie das ἐν τάχει [en tachei] in 1,1 verstanden werden: Es bemisst sich nach Gottes Uhr, nicht nach der Uhr der Menschen. Auch in 3,11 lehrt die Offb keine unmittelbare Naherwartung (vgl. 2Petr 3,8). Gerade, weil Philadelphia sich auf Jesu Bewahrung und Hilfe verlassen kann, darf es nicht nachlässig werden: Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme. In diesen Worten steckt zunächst ein überaus positives Urteil: Was du hast (ὃ ἔχεις [ho echeis]), ist genug! Hier muss nicht nachgelegt, nicht vervollkommnet werden! Jesus treibt die Seinen nicht von Rekord zu Rekord. „Was du hast“ reicht aus, um die Krone zu empfangen. Über die „Krone“, den eschatologischen Sieges-„Kranz“, vgl. die Erklärung bei 2,10 sowie 1Kor 9,25; 2Tim 2,5; 4,8; 1Petr 5,4; Jak 1,12. Halte, κράτει [kratei], meint ein „Festhalten“, „sodass es … nicht entrissen werden kann“.821 Der Zuruf halte! setzt voraus, dass es Mächte und Menschen gibt, die Philadelphia
817 Vgl. K. Algermissen, Art. Philadelphische Gesellschaft, LThK, 8, 1963; Sp. 443; Art. Leade, Jane, RGG, 3, 1. Aufl., 1912, Sp. 1995 (Landgrebe); Maier Offb unter dem Stichwort „Leade“ S. 663. 818 Vgl. dazu Maier Offb S. 327ff. 819 Das „Siehe“ ist sekundär. 820 S. 165. 821 Bauer-Aland Sp. 911.
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attackieren werden und seinen geistlichen Stand zerstören wollen. Ähnliches gilt im Blick auf die Wendung dass niemand deine Krone nehme. Auch einer so treuen Gemeinde wie Philadelphia kann man rasch die Krone nehmen. Hier waltet keine Prädestination, hinter der man sich gesichert verstecken könnte. 822 Umso dringlicher ist der Ruf Jesu in Offb 3,11. Wertvoll bleibt der Hinweis von Hemer, dass in Philadephia, das so bekannt war für seine Spiele und Feste, das Wort vom Siegeskranz besonders gut verständlich war. V. 12 enthält den Überwinderspruch. Er ist besonders reich und umfasst drei Verheißungen: a) Der Überwinder wird eine „Säule“ sein auf ewig, b) er bleibt ewig in der Gemeinschaft mit Gott, c) er wird dreifach mit einem Namen bezeichnet. Ich werde ihn machen zu einer Säule im Tempel meines Gottes, lautet die erste Verheißung. ποιήσω [poieso], ich werde machen, ist sinngemäß dasselbe wie in V. 9 und geht auf hebr. [ עשׂהasah] zurück. Der Sinn lässt sich mit „ich werde es bewirken, dass er zu einer Säule wird“, wiedergeben.823 Interessant ist der Begriff der Säule, der in 10,1 noch einmal auftaucht, allerdings in einem andern Kontext.824 „Säulen“ hatte die Stiftshütte (Ex 26,15ff). Säulen hatte der salomonische Tempel (1Kön 7,2ff; 2Kön 25,13ff). Bald schon wird „Säule“ zur Bezeichnung tragender, wichtiger und standhafter Menschen. So heißt Jeremia in 1,18 eine „eiserne Säule“. Der übertragene, bildhafte Gebrauch setzt sich in talmudischen und rabbinischen Texten fort, die beispielsweise Jochanan ben Zakkai als „rechte Säule“ oder Abraham als „Säule der Welt“, ja sogar die Frommen allgemein als „Säulen“ bezeichnen.825 Dieser übertragene Sprachgebrauch wandert ins NT ein. Paulus nennt in Gal 2,9 Jakobus, Petrus und Johannes „Säulen“ (στῦλοι [styloi]). Die Kirche selbst ist nach 1Tim 3,15 eine „Säule der Wahrheit“. Jetzt zeichnet sich ab, was die Überwinder nach dem Willen Jesu sein sollen: in der kommenden neuen Welt feste, stabile Mitglieder, die Gott ehren und die Gott dienen. Uns scheint, dass hier implizite der Gedanke eines Dienstes in der neuen Schöpfung zum Ausdruck kommt. Dieser Gedanke wird in Offb 22,3 ausdrücklich formuliert und dort ebenfalls mit dem „Namen Gottes“ in Verbindung gebracht. Von einem künftigen Dienst in der neuen Schöpfung spricht der irdische Jesus in Mt 25,14ff / Lk 19,12ff. Vgl. noch Offb 7,15.
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Vgl. Bengel S. 271. Vgl. Bauer-Aland Sp. 1367. Vgl. U. Wilckens, Art. στῦλος , ThWNT, VII, 1964, S. 736. B Ber 28b; Ket 104a. Vgl. Wilckens a.a.O. S. 734 sowie Prov 9,1; Sir 24,4.
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In diesem Zusammenhang fordert die Erwähnung des Tempels meines Gottes besondere Beachtung (ὁ ναὸς τοῦ θεοῦ μου [ho naos tu theu mu]). Mein Gott sagt der Auferstandene auch in Joh 20,17; Offb 3,2. Hier kommt keine Unterordnung in dem Sinne zum Ausdruck, dass Jesus wie wir Menschen Gott als den ganz Anderen, unendlich Überlegenen anbeten würde. Vielmehr drücken die Worte „mein Gott“ dasselbe aus wie „mein Vater“ (2,28; 3,5.21): eine einzigartige Nähe und Verbundenheit der Liebe und Einheit in Gott. Doch was ist mit dem Tempel? In 7,15; 14,15ff; 15,5ff; 16,1ff ist völlig unbefangen vom Tempel Gottes die Rede. Allerdings muss es ein himmlischer Tempel sein, der Jes 6; Ez 1; Ez 10 entspricht und nicht der irdische Tempel in Jerusalem! Insofern spricht Ulrich Wilckens mit Recht von einem „himmlischen Gottestempel“.826 Aber nun lesen wir in Offb 21,22 überraschenderweise von der neuen Schöpfung: „Ich sah keinen Tempel darin.“ Offb 21,22 warnt uns, den „Tempel“ in Offb 3,12 allzu irdischmenschlich zu verstehen. Es muss vielmehr ein übertragener Gebrauch vorliegen.827 Kurz gefasst: Der „Tempel Gottes“ ist in Offb 3,12 der Ort, wo Gott wohnt und regiert. Dieser metaphorische Gebrauch entspricht ganz und gar dem Sprachgebrauch des irdischen Jesus nach Joh 2,19ff und Mk 14,58 parr. sowie dem Sprachgebrauch der Apostel (1Kor 3,16; 6,19; 2Kor 6,16f; Eph 2,19ff; 1Petr 2,4ff; 4,17).828 Dem Überwinder wird also zugesagt, auf ewig Gott ganz nahe zu sein und ihm ständig zu dienen.829 Das Wort vom Tempel mag in Philadelphia mit seinen vielen Tempeln und Festen besonders aufmerksam gehört worden sein. Die zweite Verheißung lautet: Er wird nie mehr hinausgehen (ἔξω οὐ μὴ ἐξέλθῃ ἔτι [exo u me exelthe eti]). Das ist die Endgültigkeit der ewigen Existenz, des ewigen Dienstes. Es gibt – entgegen der Meinung des Origenes – keine Wiederholung des Sündenfalls und der Austreibung aus dem Paradies. In οὐ μὴ ἐξέλθῃ [u me exelthe] liegt auch die Verneinung jeder weiteren Trennung bzw. Scheidung von Gott.830 Wieder wird für Philadelphia diese Aussage sehr anschaulich gewesen sein, da ja aufgrund der Erdbebengefahr die Einwohner ein ums andere Mal die Stadt verließen bzw. verlassen mussten.831
826 A.a.O. S. 735. Vgl. Ex 25,9. 827 Vgl. hier und im Folgenden O. Michel, Art. ναός, ThWNT, IV, 1942, S. 884ff; Aune S. 241; Morris S. 80; Zahn S. 307. 828 Vgl. Michel a.a.O. S. 890ff. 829 Vgl. noch einmal Wilckens a.a.O. S. 735f; ähnlich Offb 7,15. 830 Vgl. Bauer-Aland Sp. 556. 831 Vgl. Hemer S. 166.157.
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Die dritte Verheißung lautet: Ich werde auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem, das aus dem Himmel von meinem Gott herabkommt, und meinen Namen, den neuen. Halten wir zunächst fest: Der Auferstandene schreibt diese Namen! Wir können sie nicht selbst auf uns schreiben! Die dreifache Beschriftung beginnt mit dem Namen meines Gottes. Zu der Wendung mein Gott, die hier dreimal vorkommt (im ganzen Vers viermal), vgl. die Erklärung oben. Dass die Erlösten in der neuen Schöpfung Gottes Namen tragen, und zwar auf ihren Stirnen, ist Allgemeingut der Offb (3,12; 7,3; 9,4; 14,1; 22,4).832 Inhaltlich bedeutet das zweierlei: a) Sie gehören Gott833, und b) sie dienen Gott. Das alttestamentliche Urbild für den Namen Gottes auf der Stirn ist das Stirnblatt des Hohepriesters (Ex 28,36ff).834 Daraus lässt sich schließen, dass der Dienst in der neuen Schöpfung vorwiegend priesterliche Züge trägt. Es folgt Jerusalem. Dabei fällt auf, dass diesem der meiste Platz gewidmet ist. Soll die Schönheit und Stabilität dieses himmlischen Jerusalems der wechselhaften, stets bedrohten Geschichte des wenig imposanten Philadelphia gegenübergestellt werden?835 Jerusalem heißt hier ähnlich wie beim irdischen Jesus die Stadt Gottes (meines Gottes), vgl. Mt 5,35; Ps 48,3. Das wird sie auch durch die ganze Geschichte hindurch bleiben, gleichgültig, wer sie besitzt oder Anspruch darauf erhebt. Es heißt ferner das neue Jerusalem. Gemeint ist also nicht das derzeitige Jerusalem, sondern das der neuen Schöpfung nach Offb 21–22. Jesus fügt hinzu: das aus dem Himmel von meinem Gott herabkommt. Negativ formuliert: Es ist nicht von Menschenhänden gemacht (vgl. 2Kor 5,1; Hebr 9,11). Es kommt vielmehr herab, nämlich auf die neue Erde (Offb 21,2). Die griechische Satzkonstruktion weist hier einen groben Solözismus auf (τῆς καινῆς … ἡ καταβαίνουσα [tes kaines … he katabainusa]),836 aber der Sinn ist ganz klar. Wieder spielt der Gedanke des „himmlischen Bauwerks“ eine Rolle. Wir beachten: Es handelt sich um lauter Geschenke an den Überwinder. Diesen Himmel kann man sich nicht verdienen! Beachten wir noch etwas anderes: Mit diesem himmlischen neuen Jerusalem erfüllt sich die Weissagung von Ez 48,35.837 Ez 48 zielt also letztlich nicht auf die Erneuerung des irdischen Jerusalems oder des irdischen Tempels, 832 833 834 835 836 837
Vgl. C. Schneider, Art. μέτωπον, ThWNT, IV, 1942, S. 638ff. Vgl. H. Bietenhard, Art. ὄνομα usw., ThWNT, V, 1954, S. 281. Hemer a.a.O.; Zahn S. 308; Schlatter BFchTh S. 60 (Ex 28,36ff; Dt 28,10). Vgl. wieder Hemer S. 167. Blass-Debrunner § 136,1. Vgl. Hemer S. 160f.
10. Das sechste Sendschreiben: nach Philadelpia
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sondern auf das himmlische Jerusalem der neuen Schöpfung. Die darauf gerichtete Erwartung durchzieht das ganze Neue Testament (Joh 2,19ff; 14,1ff; Gal 4,25f; Hebr 11,10ff; 12,22; 13,14; Offb 21f).838 Wenn auf den Überwinder der Name des künftigen Jerusalem geschrieben wird, bedeutet das die ewige Bürgerschaft in dieser himmlischen Stadt!839 Die dreifache Bezeichnung endet mit meinem Namen, dem neuen (τὸ ὄνομά μου τὸ καινόν [to onoma mu to kainon]). Des Auferstandenen Name steht also ebenfalls auf der Stirn des Überwinders. In Analogie zu Ex 28,36ff und zum Namen des Vaters bedeutet dies: a) Der Überwinder gehört in Ewigkeit Jesus, b) er dient dem Gottessohn auf ewig (Offb 22,1-4). Doch was ist der neue Name? Nach Johannes Behm bezeichnet diese Wendung Jesus Christus als den „Anfänger der neuen, endzeitlichen Schöpfung“.840 Hans Bietenhard kommt dieser Deutung nahe, wenn er den „neuen Namen“ als „Zeichen des Eintritts der neuen Weltordnung“ interpretiert.841 Er verweist hier auf Jes 56,5; 62,2f; 65,15. Man muss wohl den „neuen Namen“ mit Offb 19,12 verbinden. Dann ist es der Name des siegreich Wiederkommenden. Seine Wiederkunft geschieht in Macht und Herrlichkeit (Mt 13,41; 16,27; 19,28; 24,30f; 26,64). Diese Macht und Herrlichkeit drückt sich in dem „neuen Namen“ aus, der dafür das Symbol ist (Offb 19,12). Wenn auf den Überwinder dieser neue Name Jesu Christi geschrieben wird, bedeutet dies: Er wird die herrliche Wiederkunft Jesu Christi miterleben, ihm gehören und ihm dienen.842 Zum Aufmerksamkeitsruf (V. 13) vgl. die Erklärung bei 2,7.
IV Zusammenfassung 1. Philadelphia tritt uns als eine Mustergemeinde entgegen. Nach dem Urteil des auferstandenen Jesus weist es keinen Mangel auf. Zusammen mit Smyrna und noch betonter als dieses empfängt die Gemeinde nur Lob und keinen Tadel. Nur hier wird eine Bewahrung „vor der Stunde der Versuchung“ ausgesprochen. Philadelphia macht deutlich, dass es möglich ist, als Gemeinde Jesu Christi ohne gravierende Mängel in dieser Welt zu existieren.
838 Vgl. H. Strathmann; Art. πόλις usw., ThWNT, VI, 1959, S. 530ff. 839 Strathmann a.a.O. S. 532; J. Behm, Art. καινός usw., ThWNT, III, 1938, S. 451; Aune S. 243; Morris S. 81; Zahn S. 308; Schlatter BFchTh S. 61 (Verweis auf Jes 62,2; Jer 3,17). 840 A.a.O. 841 Bietenhard a.a.O. S. 279. 842 Vgl. noch Offb 2,17; Morris S. 81.
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2. Wenn 2 von 7 angeschriebenen Gemeinden ohne Tadel bleiben, also ca. 30 Prozent, ist dies eine überraschende Bilanz der 7 Sendschreiben. Schon darin liegt eine Ermutigung und lebhafte Herausforderung für die heutigen Gemeinden. Die Messlatte der 7 Sendschreiben ist kein christliches „Erfolgsrezept“, sondern die barmherzige Liebe Jesu. 3. Ähnlichkeiten zwischen Philadelphia und Smyrna sind nicht zu übersehen :843 Dieselbe positive Bilanz. Das Fehlen des Tadels. Die Not der Verfolgung. Die Existenz einer „Synagoge des Satans“. Der Einfluss jüdischer Synagogenleitung. Dieselbe Standhaftigkeit und Treue. Dennoch dürfen die lokalen Besonderheiten nicht übersehen werden. Die Gemeinden der Sendschreiben sind nicht abstrakt oder „typisch stilisiert“, sondern geschichtlich konkret und der geschichtlichen, jeweils spezifischen Wahrheit gemäß dargestellt. 4. Das Verhältnis von Juden und Christen ist offenbar von Ort zu Ort verschieden gewesen, selbst in einer relativ überschaubaren Region wie der Provinz Asien. Man muss hier alle Vorurteile verabschieden. Nimmt man Offb 3,7-13 mit den Ignatianen zusammen, dann muss man trotz der Einführung der Birkat-ha-Minim in den 90er-Jahren (wo überall?) sagen, dass die Situation in Philadelphia noch relativ offen war. Ein Wechsel hinüber und herüber konnte stattfinden. Das bedeutet aber auch, dass angesichts der Verfolgung in der domitianischen und trajanischen Ära das Judentum bzw. der „Judaismos“ für die Christen anziehend blieb. Vor allem Hemer hat darauf den Finger gelegt: „apparently Gentile proselyts to Judaism were themselves active in proselytizing Christians“ (in der Zeit der Ignatianen) … this was a standing inducement to the weaker Christians“.844 Wir sollten nicht vergessen, dass damals die Christen im Verhältnis zu den Juden der schwächere Teil waren. 5. Vorsicht ist geboten im Blick auf die Frage, inwieweit der Montanismus sich auf Philadelphia und unser Sendschreiben berufen konnte. In Auseinandersetzung mit Sir W.M. Calder (1939), der Philadelphia mit den Ursprüngen des Montanismus verbunden hatte, möchte Colin J. Hemer zugestehen, dass eine „connection of Montanism with the district“, in dem Philadelphia lag, angenommen werden kann.845 Der Montanismus beantworte Fragen, die im Milieu Philadelphias angesiedelt waren, er könne an die Herabkunft des neuen Jerusalem in Offb 3,12 anknüpfen846. Die Erwartung der Wiederkunft des
843 844 845 846
Vgl. Zahn S. 309. Hemer S. 169. S. 177. Hemer S. 167.
11. Das siebte Sendschreiben: nach Laodizea
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Herrn finde in Offb 3,7ff eine Stütze. Insgesamt gilt: „The Montanists may have claimed to be the true successors of the rejected Philadelphian church. Certainly they laid great stress upon the Revelation.“847 Hinzu kommt die geografische Nähe von Philadelphia zu den Kerngebieten des Montanismus.848 In diesem Zusammenhang spielt auch eine Prophetin Ammia in Philadelphia, von der Euseb berichtet,849 eine Rolle. War sie die Vorgängerin der Prophetinnen des Montanismus? Eusebius und seine Quelle Miltiades verneinen dies.850 Ammia gilt durchaus als rechtgläubige Prophetin. Dass der Montanismus sich auf das Sendschreiben nach Philadelphia und seine „philadelphische“ Art berief, bleibt möglich. Aber wir haben keinen Grund, die spätere Gemeinde von Philadelphia als „Sympathisantin“ oder Stützpunkt des Montanismus aufzufassen. 6. Das Lob der „kleinen Kraft“ (μικρὰ δύναμις [mikra dynamis]) von Philadelphia bleibt eine ernsthafte theologische Herausforderung. Wir können ja nicht einfach den Gemeinden eine „kleine Kraft“ verordnen. Andererseits sind viele „moderne“ Kirchen und Gemeinden in eine eigenartige Alternative verstrickt: entweder Fatalismus angesichts zunehmender Bedeutungslosigkeit oder Wachstumsprojekte mit z.T. riesigem medialen und programmatischen Einsatz, entweder Lobeshymnen auf die „kleine Herde“ oder verzweifelte Bemühungen, wieder mehr Menschen zu gewinnen. Der Weg, den uns Offb 3,7.13 zeigt, ist offenbar der: Gebet um offene Türen, aber auch der Mut, ohne Furcht und ohne zweifelhafte Erfolgsstatistiken im Vertrauen auf den Herrn hindurchzugehen. 7. Philadelphia dient mit Recht als Orientierungsrahmen für die christlichen Gemeinden aller Zeiten. Aber ein „philadelphisches“ Zeitalter gibt es nicht.
11. Das siebte Sendschreiben: nach Laodizea I Übersetzung 3,14-22 14 Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen ist, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: 15 Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist. O dass du doch kalt oder heiß wärest! 16 So aber, weil du lau bist und weder heiß noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. 17 Denn du 847 848 849 850
Hemer S. 172. Vgl. Hemer S. 168ff. H.E. V, 17,2ff. H.E. V, 17,1ff.
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sagst: Ich bin reich und zu Reichtum gekommen und brauche nichts, und weißt nicht, dass du jämmerlich und elend bist und arm und blind und bloß. 18 Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du wirklich reich wirst, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar wird, und Augensalbe, um deine Augen zu salben, damit du siehst. 19 Wen ich liebe, den strafe und weise ich zurecht. So setze nun alles daran, Buße zu tun!851 20 Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Mahl mit ihm halten und er mit mir. 21 Wer überwindet, dem werde ich geben, dass er mit mir auf meinem Thron sitzt, wie auch ich überwunden habe und mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe. 22 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
II Struktur Im Allgemeinen treffen wir auch im letzten Sendschreiben dieselbe Struktur wie bei den übrigen sechs: Adressat – Schreibbefehl – Absender – Tadel (V. 15-17) – Ruf zur Buße (V. 18-19) – Überwinderspruch (V. 21) – Aufmerksamkeitsruf (V. 22). Es bleibt dabei, dass der Aufmerksamkeitsruf vom vierten Sendschreiben an dem Überwinderspruch nachgestellt wird. Doch angesichts der Gemeinsamkeiten in der Struktur fallen einige Besonderheiten umso mehr auf. Eine dieser Besonderheiten besteht darin, dass wie bei Sardes jedes Lob fehlt. Ja, das Schreiben nach Laodizea ist in der Analyse noch strenger. Denn in Sardes gab es wenigstens noch „einige, die ihre Kleider nicht besudelt haben“ (3,4). Aber in Laodizea gibt es nicht einmal „einige“ , die noch ein Lob verdienten. Eine zweite Besonderheit bildet der Verheißungsspruch in V. 20, der neben den Überwinderspruch tritt. Hier wendet sich Jesus überdies nicht an die Gemeinde im Ganzen, sondern an Einzelne, die bereit sind, ihm zu öffnen und mit ihm in Gemeinschaft zu treten. Eine dritte Besonderheit stellen die ungewöhnlich vielen Bildwörter dar: „kalt“ – „heiß“ – „lau“ – „Gold“ – „weiße Kleider“ – „Augensalbe“ – „Tür“ – „Mahl“. Für Laodizea wird hier offensichtlich auf lokale Spezialitäten Bezug genommen. Gleichzeitig haben alle diese Bildworte biblische Ursprünge und Beziehungen. So tritt uns auch hier eine hochinteressante Gemeinde entgegen. 851 Ähnlich übersetzt Ritt S. 35: „Mach also Ernst und kehr um!“
11. Das siebte Sendschreiben: nach Laodizea
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III Einzelexegese Zum Adressaten und Schreibbefehl in 3,14 vgl. die Erklärung bei 2,1. Diesmal geht es um Laodizea. Laodizea lag ca. 11 km südlich von Hierapolis zwischen den Flüssen Asopos und Kapros.852 Beide mündeten in den Lykos, der wiederum in den Mäander floss. In der Nachbarschaft lagen Colossae und Hierapolis, die ebenfalls in der frühen christlichen Geschichte eine Rolle spielten. Das frühe Christentum war also im Lykostal stark präsent. Geografisch zählte Laodizea zu Phrygien, politisch zur römischen Provinz Asien. Weil sich hier die Straße Ephesus–Mesopotamien (West–Ost) und die Straße Sardes–Lykien (Nord–Süd) kreuzten, besaß die Stadt eine günstige Position. Sie wurde anstelle einer älteren Siedlung von Antiochus II. (261–246 v. Chr.), einem der syrisch-griechischen Könige, gegründet. Er benannte sie nach seiner Frau Laodike „Laodikeia“. Später fiel sie ans Reich von Pergamon, 133 v.Chr. an die Römer. Die Römer gliederten sie als Konventshauptstadt in ihre Provinz „Asien“ ein. Wie Philadelphia war sie stets erdbebengefährdet.853 Wirtschaftlich spielte zunächst die Textilindustrie eine Rolle. Diese konnte sich auf die Schafzucht in der Region stützen. Sodann war Laodizea ein Handels- und Bankenzentrum, profitierend von den guten Verkehrsverbindungen. Schließlich befand sich dort eine berühmte medizinische Schule. Tacitus nannte Laodizea sogar „eine von Asiens bedeutenden Städten“ (Ann XIV, 27). Schon die Juden waren hier zahlreich ansässig.854 Im 1. Jh. n.Chr. entstand in Laodizea dann eine christliche Gemeinde. Die Erwähnungen im NT sind relativ häufig. Neben Offb 1,11; 3,14ff tritt der Kolosserbrief. Nach Kol 2,1 ringt Paulus um die Gemeinde, nach Kol 4,13 bemüht sich Epaphras um sie. Paulus sendet Grüße an Laodizea (Kol 4,15) und schreibt in Kol 4,16, er habe auch einen Brief dorthin geschickt. Bis heute existiert ein „Laodicenerbrief“, der jedoch schon im Canon Muratori (Zeile 64f) als marcionitische Fälschung abgelehnt wird.855 Wieder liegt es nahe, die Gründung einer christlichen Gemeinde in Laodizea in diejenige Zeit zu datieren, die Paulus nach Apg 19,10 in
852 Vgl. hier und im Folgenden E. Olshausen, Art. Laodicea in Südphrygien, LThK, 6, 2. Aufl., 1997, Sp. 647f; Hemer S. 178ff; M.J. S. Rudwick / C.J. Hemer, Art. Laodizea, GBL 2, S. 867-867; Jones S. 74. 853 Vgl. Tacitus Ann XIV, 27. 854 Josephus Ant XIV, 241ff. 855 Vgl. Schneemelcher in Hennecke-Schneemelcher S. 80ff.
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Ephesus zubrachte. Damals kann Epaphras die christliche Botschaft ins Lykos-Tal und auch nach Laodizea gebracht haben (Kol 1,6ff).856 Die spätere Geschichte ist zunächst von der Entwicklung der Kirche bestimmt. Aus Laodizea stammte eine ganze Anzahl Märtyrer. Die Marcioniten hätten Mitte des 2. Jh. n.Chr. den Laodizenerbrief nicht gefälscht, wenn die Region und die Stadt für sie keine Bedeutung gehabt hätten. Zwischen 165 und 175 tagte eine Synode in Laodizea. Aber seit dem 11. Jh. n.Chr. war die Stadt umkämpft zwischen Seldschuken (Türken) und christlichen Byzantinern. 1148 und 1190 zogen Kreuzritterzüge hindurch. 1256 wurde Laodizea endgültig türkisch und hieß fortan Ladiq. Dennoch gab es dort bis zum 14. Jh. n.Chr. christliche Bischöfe. Theater, ein Stadion, ein Gymnasium, ein Nymphäum, eine Ringmauer, Sarkophage und Aquädukte sind Zeugen der alten christlichen Vergangenheit. Was soll nun an Laodizea geschrieben werden (3,14)? Das sagt, der Amen ist (Τάδε λέγει ὁ ἀμήν [tade legei ho amen]) beginnt der Auferstandene seine Selbstvorstellung (V. 14). Hier fällt der maskuline Artikel auf: ὁ [ho] – nicht τὸ [to] – ἀμήν [amen].857 Allerdings ist 2Kor 1,20 eng damit verwandt. ὁ ἀμήν [ho amen], „der Amen“ wörtlich, nennt sich Jesus, weil alle Gottesverheißungen in ihm verkörpert und durch ihn erfüllt werden. Oder ist gleichzeitig das hebräische [ ֶהֱאִמיןheemin] mitzuhören? Jesus also derjenige, der Gott ganz vertraut hat und vertraut (vgl. Hebr 2,13; 5,7)? Der treue und wahrhaftige Zeuge, wie sich Jesus ebenfalls nennt, ist er deshalb, weil er Gottes Wort entsprechend Jes 42,3 „in Treue“ ([ ֶלֱאֶמתleemet]) in die Welt hinausgetragen und bezeugt hat. Wahrhaftig (ἀληθινός [alethinos]) ist er als der völlig Zuverlässige. Heinrich Schlier macht auf den Zusammenhang mit Jes 65,16 aufmerksam.858 Dort wird Gott ein „Gott des Amen“ genannt. Hieraus geht hervor, dass mit „Amen“ und ἀληθινός [alethinos] ein Gottesprädikat auf Jesus übertragen wird.859 Vgl. Offb 1,5; 19,11. Drittens nennt sich Jesus der Anfang der Schöpfung Gottes (ἡ ἀρχὴ τῆς κτίσεως τοῦ θεοῦ [he arche tes ktiseos tu theu]). Offenbar identifiziert er sich hier mit der göttlichen Weisheit von Prov 8,22ff 860. Bei dieser Weisheit geht es aber um eine Existenz und ein Wirken, „bevor er (= Gott) etwas schuf“. Auch bei Christus kann man nicht davon sprechen, dass er als „Anfang der Schöpfung geschaffen“ wurde. Die Berührung mit Joh 1,1 (Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος [En arche 856 857 858 859 860
Hemer S. 181; Zahn S. 311f. Vgl. Blass-Debrunner § 266,3. Art. ἀμήν, ThWNT, I, 1933, S. 341. Vgl. Behm S. 27. Vgl. R. Bultmann, Art. ἀληθινός, ThWNT, I, 1933, S. 250; Aune S. 255. Schlatter BFchTh S. 42.
11. Das siebte Sendschreiben: nach Laodizea
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en ho logos]) ist nicht zufällig. Auch der λόγος [logos] ist vor allen Geschöpfen und nicht etwa das erste der Geschöpfe. Nur so stimmt Offb 3,14 mit dem übrigen NT überein, das die Schöpfung durch Jesus Christus bewirkt sein lässt (Joh 1,3; 1Kor 8,6; Kol 1,15ff; Hebr 1,2). Der Sinn der Worte Anfang der Schöpfung Gottes ist also: Durch Jesus Christus hat Gott, der Vater, die Schöpfung beginnen lassen. Deshalb sagt Gerhard Delling mit Recht, durch Jesus Christus habe „alles Geschaffene seine Norm erhalten“, auf ihn selbst aber dürften „die Zeitkategorien keine Anwendung finden“.861 Wir haben also in Offb 3,14 den interessanten Fall vor uns, dass hier die Offb die Schöpfungsmittlerschaft Jesu ausspricht.862 Evtl. hat Leon Morris recht mit der Vermutung, dass in Laodizea immer noch der Kolosserbrief aufbewahrt wurde (vgl. Kol 4,16), sodass Jesus in Offb 3,14 an die Aussagen von Kol 1,15ff erinnern konnte.863 Colin Hemer betont besonders die Parallelität von Offb 3,14 und Kol 1,18.864 Beiderseits lägen verwandte Situationen („related situations“) vor.865 Allerdings spielt im Folgenden die Häresie keine Rolle. An der Spitze des Urteils Jesu steht: Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist. O dass du doch kalt oder heiß wärest! (V. 15). Dieses Urteil ist scharf; schärfer als bei Ephesus mit der ersten Liebe (2,4), nicht ganz so scharf allerdings wie bei Sardes (3,1). Man muss sich ja stets klarmachen, dass die Sendschreiben laut in der Gemeinde verlesen wurden. Was bedeutete das für den Bischof von Laodizea? Für die Ältesten? Für die Gemeinde? Johannes galt als liebevoll. Dachte man jetzt über den abwesenden Johannes ähnlich wie über den abwesenden Paulus (2Kor 10,10)? Zu Ich kenne deine Werke (2,2.19; 3,1.8.15) vgl. die Erklärung bei 2,2. … das du weder kalt noch heiß bist nimmt Bezug auf die heißen Quellen der Region … Heiß bzw. „siedend“ sind die Quellen weiter oben bei Hierapolis. In Laodizea ist das Wasser nur noch lau. Die Begriffe: „heiß“ und „lau“ kommen im NT nur in Offb 3,15f vor.866 Aber was besagt das geistlich? Gegen Oepke867 ist Röm 12,11 mit einzubeziehen: „Seid brennend im Geist“ (τῷ πνεύματι ζέοντες [to pneumati zeontes]). Offenbar vermisst der Auferstandene dieses „brennende Herz“ mit brennender missionarischer Liebe (vgl. Apg 18,25) als echtes Leben im „Geist“. Demnach hat Laodizea von 861 862 863 864 865 866 867
Art. ἄρχω usw., ThWNT, I, 1933, S. 482.483. Vgl. Behm a.a.O.; Morris S. 82. Morris a.a.O.; vgl. Hemer S. 184. Hemer S. 185f. Hemer S. 208. Vgl. A. Oepke, Art. ζεστός, ThWNT, II, 1935, S. 878f. A.a.O. S. 879.
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allem „ein wenig“. Es ist nicht einfach eine tote Gemeinde wie Sardes! Aber alles bleibt „dezent“. Unser Glaubensbekenntnis mit der Gottes- und Jesusliebe „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,5) wird dort nicht gelebt. Wie sehr aber wünschte das Jesus! Zunächst ist ὄφελον [ophelon] ein unerfüllbarer Wunsch:868 O dass du doch kalt oder heiß wärest! Erst die Buße kann dies ändern (V. 18-19). Insofern hat Albrecht Oepke nun recht: „Charakterlose Halbheit ist schlimmer und schwerer zu beheben als völlige Christusferne oder offene Christusgegnerschaft.“869 Mit jemanden umzugehen, der weder kalt noch heiß ist, ist schon innerhalb der Christenheit schwierig. Es ist aber auch für die nichtchristliche Umwelt schwierig, die ein Christsein dieser Art oft als „klebrig“ empfindet. Lauheit ist die Art, mit der wir dem dreieinigen Gott unsere Liebe entziehen. Vgl. noch 2Petr 2,21. Und missionarisch gilt, was Morris so formulierte: „There is more hope for the openly antagonistic then for the cooly indifferent“ (S. 82).870 So aber,871 weil du lau bist und weder heiß noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde (V. 16): Inmitten des Tadels findet sich schon das Gerichtswort. Lau (χλιαρός [chliaros]), ein neutestamentliches Hapaxlegomenon, ist also das Ergebnis, wenn man weder heiß noch kalt ist. Auch bei diesem Vers diskutiert die Exegese die Bedeutung der geografischen und wirtschaftlichen Hintergründe. Vor allem englische Gelehrte wie W.M. Ramsay, M.J.S. Rudwick, E.M.B. Green und C.J. Hemer haben sich um ihre Aufhellung verdient gemacht. Das heiße Wasser von Hierapolis war medizinisch wichtig und hochgeschätzt, das kalte Wasser von Colossä lebensspendend und sauber.872 Beim lauen Wasser spielt das Wassertransportsystem nach Laodizea und die Verschiebung der Temperaturen, die dadurch erfolgte, eine Rolle, ebenso die Wasserqualität. Die Diskussion läuft Hemer zufolge darauf hinaus, dass bei Laodizea eher die mangelnde Effektivität („ineffectiveness“) als die Halbherzigkeit („halfheartedness“) getadelt wurde.873 Beides müssen wir jedoch zusammen sehen. Bleibt man beim Bild vom ausspeien, „ausspucken“ (ἐμεῖν [emein]), dann ist deutlich, dass dieses Laodizea für den Auferstandenen widerlich ist! Wie Wasser, das nicht trinkbar ist, spuckt er es aus.874 868 869 870 871
Vgl. Blass-Debrunner § 359,2. A.a.O. Anderer Meinung Behm S. 27. Bauer-Aland nimmt οὕτως ὅτι [hutos hoti] zusammen zu „weil“ (Sp. 1209). Wir übersetzen wie Zahn S. 310. 872 Hemer S. 188. 873 S. 187. 874 Bauer-Aland Sp. 1760 nennen antike Beispiele, wie lauwarmes Wasser als abscheulich schmeckend beurteilt wurde.
11. Das siebte Sendschreiben: nach Laodizea
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Das heißt, er trennt sich von dieser Gemeinde. Allerdings steht er erst im Begriff dazu (μέλλω [mello]). Durch Buße kann Laodizea das Gericht noch abwenden.875 V. 14-16 ist ganz und gar eine prophetische – das heißt zugleich: pädagogische – Anklage. Auffallenderweise zitiert der Auferstandene in V. 17 die Gemeinde von Laodizea: Denn du sagst: Ich bin reich und zu Reichtum gekommen und brauche nichts. Das ist der einzige Fall eines längeren Zitats in den Sendschreiben. Nur in 2,24 findet sich noch ein sehr kurzes Zitat. In den prophetischen Anklagen seit der Exilszeit sind jedoch solche Zitate häufig, wie Hesekiel (8,12; 9,9; 11,3.15; 12,22 usw.) und Maleachi (1,2.6.7.13 usw.) zeigen. Auch im Hintergrund von Offb 3,17 steht möglicherweise die Geschichte und wirtschaftliche Situation der Stadt. Colin J. Hemer hat den „enormen Reichtum“ (S. 192) und die materielle Selbstgenügsamkeit von Laodizea ausführlich dargestellt.876 Einzelne Bürger wie ein gewisser Hiero waren so wohlhabend, dass sie der Stadt Tausende von Talenten stiften konnten. Nach dem Erdbeben von 60 n.Chr. war Laodizea in der Lage, mit „eigenen Mitteln“ die Schäden zu beheben. Maßgebliche Quelle ist hier Tacitus, der in den Annalen (XIV, 27,1) bemerkt: „nullo a nobis remedio propriis opibus revaluit“. Römische Hilfe wies die Stadt zurück. Hemer betont „The proud generosity of citizens“ und den „spirit of proud independence“ in Laodizea.877 Auf diesem Hintergrund wären die Worte Ich bin reich und zu Reichtum gekommen und brauche nichts eine ausgezeichnete Charakteristik der Atmosphäre in der Stadt. Aber das ist nur die eine Seite, die wir zu beachten haben. Die andere Seite liegt im biblischen Kontext. Wie kann es geistlich zu dieser Aussage Ich bin reich usw. kommen?878 Schon in Hos 12,9 wird der Ausspruch „Ich bin reich, ich habe genug“ zum Ausdruck eines Stolzen, der auf Gottes Hilfe nicht mehr angewiesen ist. Dieselbe Haltung des äußerlich frommen, vielleicht sogar superfrommen Menschen, der aber Gott im Tiefsten nicht mehr braucht, begegnet uns sowohl in den Evangelien (Mt 19,16ff parr) als auch bei Paulus (1Kor 3,18; 4,8). Bischof und Gemeinde haben also nach ihrer Selbsteinschätzung keinen geistlichen Mangel, keine geistliche Not (χρεία [chreia]). Es gab offensichtlich für sie keine Anzeichen, dass sie auf die Hilfe des Auferstandenen angewiesen gewesen wären (ich brauche nichts). Keine Gemeinde unter den sie-
875 876 877 878
Vgl. Zahn S. 315; Morris s. 83. S. 191ff. S. 194.195. Fälschlich deutet Zahn S. 315 auf eine materiell „günstige … Vermögenslage“.
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ben von Offb 2–3 war so mit sich selbst zufrieden wie Laodizea. Mit dem „lauwarmen“ Argument: „Das Notwendige geschieht ja“ bewältigte sie alles. Doch in Wirklichkeit ist sie jämmerlich, elend, arm, blind und bloß. Im Griechischen steht der Artikel ὁ [ho] vor der ganzen Reihe, sodass man genauer noch mit Zahn übersetzen müsste: Der „Jämmerliche und Erbärmliche“ usw.879 ὁ ταλαίπωρος [ho talaiporos] (der Jämmerliche) ist der Mensch, dem es Gott gegenüber am Entscheidenden fehlt (Röm 7,24). ἐλεεινός [eleeinos] der Bemitleidenswerte. Ob darin eine Andeutung des Mitleids Jesu steckt? Arm (πτωχός [ptochos]) heißt in diesem Fall: im Mangel lebend, auf fremde Unterstützung angewiesen.880 τυφλός [typhlos], blind, geht auf die geistliche Blindheit wie in Joh 9,39ff. Wir erinnern uns daran, dass Jesus gerade deshalb gekommen ist, um solche geistlich Blinden sehend zu machen (Mt 11,5; Joh 9,1ff; Jes 35,5; 2Petr 1,9). Die Blindheit von Laodizea besteht, wie Wolfgang Schrage bemerkt,881 „in Selbsttäuschung über ihre Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit“. Bloß, γυμνός [gymnos], kennzeichnet den Mangel an Kleidern des Heils (vgl. 3,4; 3,5; 7,9ff; 19,18 und Jes 61,10; Mt 22,11). Übrigens galt Nacktheit in alttestamentlicher Sicht als äußerste Erniedrigung (vgl. 2Sam 10,4; Jes 20,4; Ez 16,37ff; Nah 3,5).882 Wir sind am Ende des Tadels. Es ist jetzt an der Zeit, eine Beobachtung zu notieren, die sich aufgrund des bisherigen Gesamtbildes aufdrängt. Erstaunlicherweise ist bei Laodizea nirgendwo von Verfolgung oder auch nur von äußerem Druck die Rede. Die Last kommt nicht von außen. Sie entsteht innen. An dieser Stelle ist die Ähnlichkeit mit Sardes verblüffend. Auch dort ist nirgends von Verfolgung die Rede. Es gibt sehr zu denken, dass die beiden „elendesten“ und am meisten getadelten Gemeinden in der Offb nicht diejenigen sind, die unter Verfolgung leiden, sondern diejenigen, die nicht verfolgt werden. Hinzu kommt eine weitere Beobachtung: Nirgendwo spricht das Schreiben nach Laodizea von einer Häresie. Laodizea scheint nicht nur verfolgungsfrei, sondern – jedenfalls damals – auch häresiefrei zu sein. Überdies scheinen keine Spannungen zur jüdischen Bevölkerung zu bestehen. Unseres Wissens hatte Laodizea eine große jüdische Bevölkerung.883 Aber Offb 3,14-22 zeigt keine Spur davon. Hängt dieses Schweigen damit zusammen, dass die Juden
879 Vgl. Blass-Debrunner § 273. Morris S. 83 nach Charles: „Der Jämmerliche par excellence“. Aune S. 259: „you are the one who is miserable …“. 880 Vgl. Bauer-Aland Sp. 1457. 881 Art. τυφλός usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 294. 882 Morris S. 84. 883 Vgl. Hemer s. 182ff.
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von Laodizea nach talmudischer Überlieferung als lax galten?884 Entsprach dieser jüdischen Laxheit vor Ort eine christliche Laxheit? Jedenfalls scheint es die christliche Gemeinde von Laodizea leicht gehabt zu haben. Aber ist nicht oft in der Kirchengeschichte eine Kirche, „die es leicht hatte“, geistlich viel schneller in Gefahr geraten als andere, die es schwer hatten? Der Ruf zur Buße (V. 18-19) beginnt mit einem συμβουλεύω [symbuleuo]: Ich rate dir. Der Auferstandene kann „befehlen“ (Apg 1,4). Er kann „gebieten“ (1Kor 7,10). Hier „rät“ er. Ist das ironisch?885 Doch die Situation klingt nicht nach Ironie. Deshalb sehen wir bei raten zwei Elemente zusammenkommen: a) das seelsorgerliche Element (vgl. 1Kor 7,1ff), b) die Leitung durch den Rat des Messias, der auch die himmlische Weisheit verkörpert (Ps 73,24; Jes 9,5; 11,2; Prov 8,12ff). Dieser Umgang mit Laodizea ist ein Dokument der göttlichen Liebe, von der gleich die Rede sein wird (V. 19). In Bengels treffenden Worten: Hier ist „die Erbarmung und der Ernst des HErrn auf eine wunderbare Weise zugleich angezeigt. Er will diesen Mann nicht zwingen.“886 Der Auferstandene rät erstens: dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du wirklich reich wirst. Die Ausleger notieren, dass alles, was der Auferstandene rät, auf die damaligen Lebensverhältnisse von Laodizea anspricht. Gold besitzt die Stadt als Bankenzentrum und als Handelsstadt. Aber in Offb 3,18 geht es um ein spezielles „Gold“. Es ist dasjenige, das man nur von Jesus Christus erhalten kann.887 Die Überlegung, wie eine arme Gemeinde (V. 17) kaufen könne, ist deshalb abseitig. Das Kaufen bei Jesus ist ein „kaufen“ (= empfangen) ohne „Geld“ wie in Jes 55,1.888 Auch mit dem „Gold“ hat es seine besondere Bewandtnis. Es muss im Feuer geläutert sein (vgl. 1Petr 1,7). Hier liegt eine „sprichwörtliche Wendung“ vor, die ausdrücken soll: Gott hat geprüft und für gut befunden. Was geläutert ist, kann im Gericht Gottes bestehen.889 Erst, wenn sie im Gericht Gottes besteht,
884 885 886 887 888
Hemer nennt b Baba Mezia 84a; b Schab 119a; 147b (S. 183). So Behm S. 27; andere Stimmen bei Brütsch S. 198f. S. 276. Vgl. Schlatter S. 175. Hemer S. 196. Behm S. 27. F. Büchsel, Art. ἀγοράζω usw., ThWNT, I, 1933, S. 126, will „weniger“ an Jes 55,1 denken; es sei in Offb 3,18 „an das Drangeben scheinbaren Besitzes gegen wirklichen (3,17) gedacht“. 889 Vgl. F. Lang, Art. πῦρ usw., ThWNT, VI, 1959, S. 941.
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ist die Gemeinde von Laodizea wirklich reich. Im Gold ist alles zusammengefasst, was einen „Schatz im Himmel“ ergibt (vgl. Mt 6,19ff).890 Der Auferstandene rät zweitens: … und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar wird. Dann ist Laodizea nicht mehr bloß/„nackt“. Die weißen Kleider wurden in Laodizea vermutlich auf einem doppelten Hintergrund verstanden. Nahe liegt ein Bezug auf die örtlichen Gegebenheiten. „L.s Haupterzeugnis waren Gewänder aus glänzender schwarzer Wolle“ (nach Strabo).891 Jetzt aber benötigte die Gemeinde nicht das selbst gefertigte „schwarze“ Gewand, sondern das gegenteilige: weiße, aus anderer Hand stammende Kleider. Und damit sind wir schon beim zweiten Hintergrund, nämlich dem biblischen. Er ist der wichtigere. Die weißen Kleider sind uns schon in Sardes begegnet (3,4.5), sie sind auch fortan in der Offb charakteristisch (4,4; 6,11; 7,9.13; 19,14). Es sind die zum Himmel passenden Gewänder und die Symbole der Reinheit, des Sieges und der Gottverbundenheit. Vgl. die Erklärung bei 3,4f. Die Gottverbundenheit und Christusverbundenheit also braucht Laodizea! Zugleich die Reinigung und Vergebung der jetzigen Sünde! Diese Gottesferne und Sünde ist mit dem Bildwort von der Blöße gemeint. Sie bringt ja in geistliche Schande vor Gott und den Menschen.892 Es geht nur über die Bereitschaft des Menschen zur Buße. Sodann lässt die Bemerkung damit die Schande deiner Blöße nicht offenbar wird (φανερώθη [phanerothe]) fragen, ob bisher nur Jesus kraft seiner Geisterfülltheit eine solche Diagnose stellen konnte? Es scheint, dass die christliche Nachbarschaft von Laodizea die genannten Mängel bisher nicht bemerkt hat. Es ist Gnade, wenn Jesus ein Zurechtkommen ermöglicht, bevor die Schande von Laodizea in aller Munde ist. Der Auferstandene rät drittens: und Augensalbe, um deine Augen zu salben, damit du siehst. Wiederum erhellt die damalige zeitgeschichtliche Situation unsere Aussage. „L. (war) ein bekanntes Zentrum für Augenheilkunde.“893 Da Augensalbe wohl ein technischer Begriff ist, schwanken die Handschriften zwischen κολλούριον [kollurion] und κολλύριον [kollyrion].894 Der Begriff kommt nur hier im NT vor. In den vergangenen Jahren ist man890 Die Ausleger spezifizieren öfters noch genauer: z.B. Gold sei der Glaube (Vitringa; Bengel), das Wort (E. Schrenk), gläubiges Leben (Neue Jerusalemer Bibel); Glaube im Leiden bewährt (Zahn S. 315); Christus selbst (bei Brütsch S. 199). 891 Rudwick/Hemer a.a.O. S. 867; Hemer S. 199f. 892 Zu karg sind die Ausführungen bei A. Oepke, Art. γυμνός usw., ThWNT, I, 1933, S. 775, und R. Bultmann, Art. αἰσχύνω usw., a.a.O., S. 190. „Blöße“ gilt gesamtbiblisch als Schande, vgl. Gen 3,21; 2Kor 5,3; Offb 16,15. 893 Rudwick/Hemer a.a.O. S. 868. 894 Vgl. Blass-Debrunner § 42,4.
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ches Licht in die Geschichte der phrygischen Augenheilkunde und der medizinischen Schule von Laodizea gebracht worden. Am Anfang stehen Zeuxis und Herophilos von Chalcedon. Im 1. Jh. unserer Zeitrechnung konstatiert man eine rasante Entwicklung in Verbindung mit Laodizea. Namen wie Alexander Philalethes und Demosthenes Philalethes machten damals die laodizeische medizinische Schule berühmt. Colin J. Hemer weist darauf hin, dass damit auch ein Datum nach Nero für die Offb favorisiert wird.895 Es scheint, dass Laodizea damals ein lukratives Geschäft mit Augensalben betrieb.896 Es musste in der Gemeinde höchste Aufmerksamkeit erregen, wenn sie als Laodizener, die die körperlichen Augenleiden zu heilen beanspruchten, jetzt als Blinde angesprochen wurden, und nun umgekehrt nicht als Händler verkaufen, sondern kaufen sollten, um ihre geistliche Blindheit geheilt zu bekommen.897 Sie mussten ihre Augen salben. Womit? Was war die Augensalbe, damit du siehst? Vermutlich steckt in dem Hapaxlegomenon ἐγχρῖσαι [engchrisai] = salben ein Hinweis. Denn „gesalbt“ wird man in den Christengemeinden in der Regel mit dem Heiligen Geist (Lk 4,18; Apg 4,27; 10,38; 2Kor 1,21, 1Joh 2,20.27). Was sie von Jesus also erbitten (kaufen) sollen, ist sein heiliger Geist. Er ist es ja, der uns die Augen öffnet (Joh 16,8).898 Damit du siehst: das ist der Zielpunkt des Auferstandenen. Er will Laodizea nicht noch tiefer ins Dunkel treiben, sondern wieder zum Licht führen (vgl. Joh 8,12). Er ist der beste Arzt, unvergleichlich besser als die berühmten Ärzte der Akademie von Laodizea (vgl. Ex 15,26; Ps 30,3; Jes 57,18; Ez 34,16; Mt 9,20ff; Joh 9,1ff). Damit ist auch klar: Laodizea bekommt durch ihn die einzigartige Chance, sehend zu werden! Dann erkennt es sich selbst und sein Angewiesensein auf Gott und Christus. Mitten im Ruf zur Buße erscheint ein Satz über das Grundmotiv, das den Auferstandenen bei diesem Ruf bewegt: Wen ich liebe, den strafe und weise ich zurecht (ἐγὼ ὅσους ἐὰν φιλῶ ἐλέγχω καὶ παιδεύω [ego hosus ean philo elengcho kai paideuo], V. 19). Dem Auferstandenen liegt offenbar viel daran, den Grund seines Handelns offenzulegen. Wenn er das im letzten Sendschreiben tut, dann beansprucht diese Erklärung eine Geltung auch für alles Vorangehende, also für sämtliche Sendschreiben. Frappierend ist die Nähe zu Prov 895 896 897 898
Vgl. Hemer S. 196ff, bes. S. 198. Hemer a.a.O. Hemer S. 199. Wenn Hemer die „Augensalbe“ mit „Christus selbst“ („Christ himself“) identifiziert, ist das sachlich nicht ganz unbegründet, passt aber schlecht ins Bild. Denn wie soll man Christus von Christus kaufen? Wie wir E. Schrenk S. 79f; Zahn S. 315; Grünzweig S. 125.
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3,12:899 ὃν γὰρ ἀγαπᾷ κύριος παιδεύει [hon gar agapa kyrios paideuei] (LXX). Dass Jesus in Offb 3,19 im Plural spricht (ὅσους [hosus]), zeigt noch einmal, dass das Sendschreiben nicht nur an den Bischof gerichtet ist, sondern an die ganze Gemeinde. Das Motiv aus Prov 3,12 wurde mehrfach im NT aufgenommen (1Kor 11,32; Hebr 12,6; Offb 3,19), eben weil es die göttliche Liebe als das primum movens herausstellt. Wenn für das κύριος [kyrios] von Prov 3,12 LXX jetzt das ἐγώ [ego] eintritt, dann wird ein weiteres Mal klar, dass Christus Gott ist. Kurz gesagt: Auch Christi Grundmotiv ist die Liebe. Der hier benützte Begriff φιλῶ [philo] führt uns direkt ins JohEv (Joh 11,3.11.36; 15,13f; 16,27; 20,2; 21,15ff). Evtl. ersetzt Offb 3,19 das ἀγαπᾶν [agapan] der LXX in Prov 3,12 durch φιλεῖν [philein], um die Brücke zum Johannesevangelium zu schlagen. Der Sinn wäre dann: Noch immer seid ihr Christen von Laodizea meine – des Christus – Freunde.900 Das Laodizeerschreiben ist also eine Liebeserklärung an Laodizea! Hier überrascht uns die Offb von Neuem, und wir müssen unsere Vorurteile über „Laodizea“ fallen lassen. Übrigens steht ἐγώ [ego] betont an der Spitze des Satzes. Jesus will, dass der Blick wirklich auf ihn gerichtet wird. Doch was heißt strafen? Was heißt „zurechtweisen“? ἐλέγχειν, „strafen“, taucht auch im unmittelbaren Kontext von Prov 3,12 auf, nämlich in Prov 3,11 LXX. Es gehört eng mit „zurechtweisen“ zusammen und wird im JohEv mehrfach benutzt (3,20; 8,46; 16,8). Das Verb hat zwei Grundbedeutungen: a) „an den Tag bringen“, „überführen“, „nachweisen“, b) „tadeln“, „zurechtweisen“, „strafen“.901 In Prov 3,11 geht es auf hebräisches [ תּוַֹכַחתtokachat] zurück, das von [ יכחjakach] = „zur Rechenschaft ziehen“, „züchtigen“, „strafen“ herkommt. „Zur Rechenschaft ziehen“ passt gut zu Offb 3,19. Friedrich Büchsel möchte noch stärker präzisieren und gibt für Offb 3,19 die Bedeutung an: „jemand seine Sünde vorhalten und ihn zur Umkehr auffordern“.902 Strafen darf jedenfalls an unserer Stelle nicht als Strafe im Jüngsten Gericht oder als abschließendes Strafurteil verstanden werden. Es ist vielmehr der unwiderlegbare Aufweis des sündigen Verhaltens von Laodizea und der klare Hinweis auf die Konsequenzen, wenn keine Buße erfolgt. Dementsprechend muss auch zurechtweisen verstanden werden. Das griechische παιδεύειν [paideuein] geht nämlich in Prov 3,12 auf dasselbe hebräische [ יכחjakach] zurück wie das ἐλέγχειν [elengchein] in 3,11. Liegt aber beidem, ἐλέγχειν [elengchein] und παιδεύειν [paideuein], dieselbe hebräische Wurzel zugrunde, dann überschneidet sich 899 900 901 902
Vgl. Hemer s. 184; Schlatter BFchTh S. 36. Vgl. dazu G. Stählin, Art. φιλέω usw., ThWNT, IX, 1973, S. 135f. Vgl. Bauer-Aland Sp. 503. Art. ἐλέγχω usw., ThWNT, II 1935, S. 471.
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die Bedeutung beider Worte. παιδεύειν [ paideuein] heißt „zurechtweisen“, „strafen“, „züchtigen“, allerdings auch „erziehen“, „unterweisen“, „bilden“.903 Man wird hier diesen weiteren Bedeutungsspielraum berücksichtigen müssen und in παιδεύειν [paideuein] bzw. zurechtweisen zwei Elemente festzuhalten haben: a) den Ernst Jesu, der den möglichen Verlust des ewigen Lebens vor Augen stellt, b) den Willen Jesu, Laodizea wieder auf den rechten Weg zu bringen, und zwar – wie es Georg Bertram formuliert – durch „Prüfen und strafen, tadeln und schlagen, züchtigen und erziehen“.904 Vom Grundmotiv geht Jesus direkt zum Kern seines Bußrufes: So setze nun alles daran, Buße zu tun! (V. 19). μετανόησον [metanoeson], tu Buße, zieht sich wie ein Grundakkord durch die Sendschreiben (2,5.16; 3,3.19; vgl. 2,22). Das Falsche lassen und das Richtige tun, von allem andern sich abwenden und sich ganz zu Jesus wenden, das ist der Weg der Heilung und des Heils. Wir haben ζήλευε [zeleue] („sei eifrig“) zu μετανόησον [metanoeson] gezogen: „So setze nun alles daran, Buße zu tun.“ Es scheint, dass Laodizea in einer Vielfalt von Aktivitäten verzettelt war. Nun kommt es darauf an, wie Maria (Lk 10,42) konzentriert das Eine zu tun, was not ist.905 Dem Bußruf folgt in V. 20 ein Verheißungsspruch. Dieser Verheißungsspruch gehört zu den Besonderheiten des Schreibens nach Laodizea (vgl. II.). Der Auferstandene gebraucht das Bild einer Tür. Doch er macht daraus kein statisches oder architektonisches Bild, sondern erzählt ein Gleichnis, hebr. maschal. Dieses Gleichnis hat sich aufs Tiefste in die Lieder, in die Predigten und in die Katechese der Kirche samt ihrer Pädagogik eingeprägt. Es ist aufs Engste verwandt mit dem Gleichnis in Joh 10,1-10. Aber auch zum Abendmahl besteht eine große Nähe. Caird sagte, es habe „a eucharistic flavour about it“ (S. 58). Die Situation fasst Jesus in einem einzigen Satz zusammen: Siehe, ich stehe an der Tür906 und klopfe an (Ἰδοὺ ἕστηκα ἐπὶ τὴν θύραν καὶ κρούω [Idu esteka epi ten thyran kai kruo], V. 20). Verwunderlich, dass nicht ein einzelner Glaubender oder eine Gemeinde an der Tür des Himmelreiches steht und Einlass begehrt! Nein, der Messias und Gottessohn steht an der Tür. Was heißt das? Wie andere will J. Jeremias Offb 3,20 „eschatologisch … verstehen vom wiederkehrenden Heiland“.907 Es gibt aber eine zweite Möglichkeit, die Jeremias selber benennt: „der Jünger tut dem Heiland durch bußfertigen Ge903 904 905 906 907
Bauer-Aland Sp. 1222. Art. παιδεύω usw., ThWNT, V, 1954, S. 622. Bengel S. 276: „nicht lau, sondern heiß“. Zur Übersetzung vgl. Bauer-Aland Sp. 585; Blass-Debrunner § 235,1. Art. θύρα, ThWNT, III, 1938, S. 178; Jeremias, Gleichn S. 120; Bousset S. 233.
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horsam die Tür auf“,908 und zwar jetzt schon vor der Wiederkunft. Letzteres ist durchaus auch eine jüdische Aussage, wie der Midrasch zum Hohelied (5,2) beweist: „Gott sprach zu den Israeliten: Meine Kinder, öffnet mir eine Tür der Buße.“909 Für beide Deutungen lassen sich neutestamentliche Aussagen anführen. Die eschatologische Deutung wird z.B. durch Mt 25,1ff; Lk 12,36; 13,25; Jak 5,9 unterstützt, die soteriologisch-präsentische durch Joh 10,9; Mt 7,7f; Lk 11,9f. Das Anklopfen erlaubt keine Entscheidung, da es ebenfalls in beiden Deutungsmöglichkeiten sinnvoll ist. Georg Bertram kam nach vorsichtigem Abwägen zu dem Urteil: „Das Wort (= Offb 3,20)“ steht „jenseits des Gegensatzes von Eschatologie und Mystik“.910 Aus dem Kontext des Bußrufes, der Laodizea jetzt zur Buße bewegen und schon jetzt eine neue Christusgemeinschaft ermöglichen will, geben wir in unserem Kommentar der präsentischen Deutung den Vorzug vor der eschatologischen. Offensichtlich greift der Auferstandene auch an dieser Stelle auf die Bildund Gleichniswelt des irdischen Jesus zurück, die alttestamentlich vermutlich in Ps 118,20; Hld 5,2 wurzelt.911 Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen …: Auch hier treffen wir die tragenden Begriffe hören (ἀκούειν [akuein]), Stimme (φωνή [phone]), auftun (ἀνοίγειν [anoigein]), Tür (θύρα [thyra]), hineingehen (εἰσέρχεσθαι [eiserchesthai]) aus Joh 10,1-10. Hören hat zugleich den Sinn von „gehorchen“.912 Der an der Tür stehende Christus spricht also. Er wünscht Einlass. Dass Jesus die Gemeinde von Laodizea liebt (V. 19), findet hier seinen praktischen Ausdruck. Aber er zwingt nicht. Mit dem Glauben verträgt sich keine Gewaltanwendung. Christus wartet. Wer nicht hören und nicht auftun will, von dessen Tür wendet er sich wieder ab. Im ganzen Bereich der inneren Christusbegegnung gibt es keine Vorherbestimmung (Prädestination). Seine Stimme ist nach Jes 42,2 leise: „Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen.“ Nun folgt eine entscheidende Beobachtung: Es ist die Tür eines Einzelnen, vor der Jesus steht. Das ἐάν τις [ean tis] mit den anschließenden Singularformen hat durchaus keine Gemeinde, ja nicht einmal speziell den Bischof als 908 Jeremias ThWNT, III, S. 174. 909 Zitiert von Jeremias ThWNT, III, S. 174,11. Auch Flusser S. 180 legt auf Hld 5,2 und den Midrasch großen Wert. Früher schon Vitringa S. 158. Dann Morris S. 84; Hemer S. 209; Schlatter BFchTh S. 53. 910 Art. κρούω, ThWNT, III, 1938, S. 958. 911 Vgl. Jeremias ThWNT III S. 179f; Kraft S. 86. 912 Blass-Debrunner § 173,5.
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Repräsentanten der Gemeinde im Blick, sondern wirklich den einzelnen Christen.913 Wer immer in Laodizea wahre Buße tut und dem anklopfenden Christus die Herzenstür öffnet, darf das „Heilswort“914 auf sich beziehen.915 Die altchristliche Exegese hat hier recht. Wir zitieren als Beispiel aus den Geistlichen Homilien des Pseudo-Makarius: „… er allein ist imstande, unsere Seele zu heilen … Er klopft ja immer an die Türe unseres Herzens, dass wir ihm öffnen, damit er eintrete und in unseren Seelen ruhe und wir seine Füße waschen und salben“ (unter Zitierung von Offb 3,20).916 Jesus verspricht: Zu dem werde ich hineingehen (εἰσελεύσομαι πρὸς αὐτόν). Das Hineingehen geschieht im Geist, wie auch die Parallele in Joh 14,23917 beweist. Aber das Bild ist sehr realistisch. Es hat eine auffallende Verwandtschaft mit den Auferstehungsberichten des Johannesevangeliums, wo Jesus zweimal durch die (verschlossenen) Türen zu den Jüngern hineingeht. Er kommt also auch in Offb 3,20 als der Auferstandene. Leonhard Goppelt hat richtig vermerkt, dass Jesus hier „in gottheitlicher Weise“ handelt.918 Jesus verspricht ferner: Ich werde das Mahl mit ihm halten und er mit mir (καὶ δειπνήσω μετ᾿ αὐτοῦ καἰ αὐτὸς μετ᾿ ἐμοῦ [kai deipneso met’ autu kai autos met’ emu]). Will man hier nicht zu kurz greifen, dann muss man eine ganze Reihe von Beziehungen im Auge behalten: 1) die innige Beziehung zwischen dem ich des Christus und dem er des Öffnenden, 2) die Beziehung zum Abendmahl (δεῖπνον [deipnon] / δειπνεῖν [deipnein] Lk 22,20; Joh 13,2.4; 21,20; 1Kor 11,20f; Offb 3,20), 3) die Beziehung zum eschatologischen Freudenmahl (seit Jes 25,6ff), 4) auch die Beziehung zum endzeitlichen Hochzeitsmahl (Offb 19,9).919 Die erstgenannte, innere persönliche Beziehung zwischen Christus und dem glaubenden Menschen ist ein starkes Argument für die präsentische Deutung.920 Jetzt schon will Christus bei dem bußfertigen Glaubenden in Laodizea einkehren. μετ᾿ αὐτοῦ [met’ autu] – μετ᾿ ἐμοῦ [met’ emu] betont die Individualität im Heute. Das Mahl aber muss sofort in seiner Doppelbedeutung verstanden werden. Es bedeutet ebenso sehr die Abendmahlsgemeinschaft in der jetzigen Weltzeit wie auch die endzeitliche Mahlgemeinschaft im ewigen Reich Christi und Gottes. Wer hier Glau913 914 915 916 917 918 919 920
Morris S. 84. Ritt S. 35. Richtig Wikenhauser S. 49. Texte der KV II S. 143. Ähnlich Vitringa S. 158f; Bengel S. 277. Bousset S. 233. Goppelt S. 337. Vgl. hier und im Folgenden J. Behm, Art. δεῖπνον usw., ThWNZ, II, 1935, S. 33ff. Sehr schön Vitringa S. 159: „Communio … mutua et reciproca“. Vitringa zieht auch Hld 4,16 zur Deutung heran. Vgl. Zahn S. 316.
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bensgemeinschaft mit dem auferstandenen Jesus hat, wird auch in die ewige Erlösungsgemeinschaft eingehen. Die alte Kirche hat das sehr wohl verstanden, wie die Fortsetzung des obigen Zitats aus Ps-Makarius zeigt: „dass wir ihm öffnen, damit er eintrete … und wir seine Füße waschen und salben“. Hier ist sowohl auf Klgl 7,44 als auch auf Offb 3,20 Bezug genommen. Johannes Behm verweist zur endzeitlichen Mahlgemeinschaft auf die alttestamentlichen Aussagen in Jes 25,6ff; 34,6ff; Jer 46,10; Zeph 1,7.921 Hinzu kommen antik-jüdische und rabbinische Aussagen.922 Neutestamentlich hat vor allem Jesus das Freudenmahl in seinem Reich betont (Mt 26,29; Lk 14,24; 22,16.18.29f).923 Weil die Gemeinde öfters mit einer Braut verglichen wird, trägt das in Offb 3,20 erwähnte Mahl aber auch Züge eines endzeitlichen Hochzeitsmahles (vgl. Joh 3,29; Mt 9,15; Eph 5,32; Offb 19,9).924 In Offb 3,20 laufen also mehrere Linien der biblischen Heilsbotschaft zusammen.925 Dem hochbedeutsamen V. 20 folgt in V. 21 der Überwinderspruch: Wer überwindet, dem werde ich geben, dass er mit mir auf meinem Thron sitzt … Hier ist schon die Formulierung dem werde ich geben (δώσω [doso]) interessant. Sie begegnete uns bereits in 2,7.17-26. Der erhöhte Christus hat also die Vollmacht, die endzeitliche und ewige Belohnung zu ver-geben. Hier, bei Laodizea, wird diese Belohnung in eine einzige Verheißung zusammengefasst: mit mir auf meinem Thron zu sitzen. Der Thron Jesu als des Lammes ist derselbe, den Gott der Vater innehat: wie auch ich mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe.926 Es handelt sich also nicht um zwei Throne – geschweige denn um zwei Götter! –, sondern um den einen Thron des dreieinigen Gottes. Der Thron, der königliche Stuhl, stammt aus dem Orient. Es war das Vorrecht des Königs, darauf Platz zu nehmen.927 Im Thron von Offb 3,21 kommt also das Königtum Jesu Christi zum Ausdruck. Doch muss hier noch eine zweite Dimension beachtet werden. Das ist die Beziehung zum „Thron Davids“, dem Gott in 2Sam 7,16 verheißen hat: „Dein Thron soll ewiglich bestehen.“ In Lk 1,32 wird er ausdrücklich auf Jesus als Messias und Gottessohn übertragen: „Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben.“ Der „Thron“ von Offb 3,21 vollendet also die Davids-Verheißungen. Von „Thronen“ der Apostel sprach Jesus auch in Mt 19,28; Lk 22,29f. 921 922 923 924 925 926 927
A.a.O. S. 35. Ä Hen 62,14; b Schab 153a. Vgl. Bousset S. 233. Vgl. Flusser a.a.O.; Kraft S. 86; schon Bengel S. 277. Vgl. noch Caird S. 58. Vgl. O. Schmitz, Art. θρόνος, ThWNT, III, 1938, S. 165f. Schmitz a.a.O. S. 161.
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Bousset schloss daraus sogar, der Verfasser der Offb habe Lk 22,29f gekannt.928 Doch darf man Mt 19,28; Lk 22,30, wo von 12 Thronen die Rede ist, nicht mit Offb 3,21 vermengen, wo von der „Throngemeinschaft“929 der Überwinder auf einem Thron mit Christus gesprochen wird. Näher an Offb 3,21 steht Offb 20,4, sodann Dan 7,9 und 1Kor 6,2f.930 Schließlich steht im Hintergrund von Offb 3,21 auch Ps 110,1.931 Der 110. Psalm hat ja für Jesus (Mt 22,44) wie für die frühe Christenheit (Apg 2,34f; Hebr 1,13; 10,12f; Röm 8,34; 1Kor 15,25) eine erhebliche Rolle gespielt. Vor dem zur Rechten Gottes thronenden Christus müssen alle Feinde weichen. Doch wo hat der auferstandene Jesus „gesiegt“ bzw. überwunden, wie er es in V. 21 von sich selber sagt? Überwunden hat er durch seinen Kreuzestod, der die Erlösung brachte (Joh 16,33; 19,30).932 Überwunden hat er auch durch seine Auferstehung, die den Tod und alle Verderbensmächte besiegte (Phil 2,5ff; Kol 2,12ff; Offb 1,18; vgl. Offb 5,5). In den Genuss dieses Sieges kommen alle Laodizeer, die Jesus ihre Herzenstür öffnen. Der Aufmerksamkeitsruf in V. 22 erinnert uns noch einmal an die schlichte Tatsache, dass jedes Sendschreiben „die Gesamtkirche im Blick“ hat, wie es Hubert Ritt formuliert.933 Vergleiche die Erklärung bei 2,7.
IV Zusammenfassung 1. Nach Sardes wird Laodizea als siebte und letzte Gemeinde der Sendschreiben am härtesten beurteilt: „weder kalt noch heiß“. Es gibt in Laodizea wie in Sardes keinerlei Lob für die Gemeinde. Ja, im Unterschied zu Sardes (3,5) gibt es in Laodizea nicht einmal eine Minderheitengruppe, die gelobt wird. 2. Die Schärfe dieses Urteils erstaunt umso mehr, als in Laodizea keinerlei Probleme namhaft gemacht werden. Es scheint weder Verfolgung noch Häresie zu geben. Ferner scheint das Verhältnis zur Judenschaft ohne nennenswerte Probleme gewesen zu sein. Keine Gemeinde – so hat man den Eindruck – lebte äußerlich so gut wie die in Laodizea. Theologisch erwächst daraus die Frage, ob eine gut situierte, scheinbar problemlos lebende Gemeinde nicht besonders gefährlich lebt, das heißt von geistlichem Niedergang bedroht ist? 928 S. 233. Noch weiter geht Ritt S. 36, demzufolge eine „Aufnahme des Jesuswortes aus der Logientradition (Lk 22,30b / Mt 19,28)“ vorliegt. 929 Schmitz S. 166. 930 Mit Bousset S. 234 bleibt es erwägenswert, ob in Offb 3,21 auch an das Tausendjährige Reich gedacht ist. 931 Richtig Wikenhauser S. 49; Schlatter BFchTh S. 40; Aune S. 262f. 932 Caird S. 58; Morris S. 85; Schlatter S. 176. 933 Ritt, LThK, Sp. 997.
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3. Beim Stichwort „Laodizea“ muss allerdings auch manches Vorurteil verabschiedet werden. Diese Gemeinde war nicht einfach tot. Sie besaß manche Gaben, Aktivitäten und stand sozusagen „nicht schlecht da“. Sie hätte sich sonst nicht rühmen können. Vor allem wurde sie immer noch von Jesus Christus geliebt. Auch Laodizea hat den Weg zur Buße frei. 4. Worin also lag der Schaden, den der Auferstandene in seiner göttlichen Erkenntnis diagnostiziert? In der Einbildung, keine göttliche Hilfe nötig zu haben. In bequemer Laxheit und in der offenkundigen Anpassung an die damalige Gesellschaft mit den Zügen der heidnischen Religiosität. 5. Denjenigen Forschern, die wie Colin Hemer auf zeitgeschichtliche Parallelen hinweisen, ist großenteils zuzustimmen. Das betrifft z.B. die Wasserversorgung Laodizeas, seine Wohlhabenheit und betonte Selbsthilfe, die medizinische Berühmtheit, Laodizeas Textilfabrikation, das mehrfache „Anklopfen“ von Eroberern und schließlich die Erlangung eines Königsthrones durch die Dynastie der Zenoniden.934 Alle diese geschichtlichen Erfahrungen machten das siebte Sendschreiben für die Gemeinde in Laodizea besonders anschaulich. 6. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass biblisches Wissen aus Verkündigung und Unterricht, nicht zuletzt im Gebiet des Alten Testaments, die grundlegende Voraussetzung für das Verständnis dieses Schreibens bildet. Das gilt z.B. für das „Amen“, den „Zeugen“, die „Schöpfung Gottes“, die „weißen Kleider“, das Zitat nach Prov 3,12, die „Buße“, die „Tür“, das „Mahl“ und den „Sieg“ Christi!935 Das gilt aber auch für die Rolle, die Schriftstellen wie 2Sam 7,16; Hld 5,2 und Ps 110,1 für das Verständnis spielen, und ebenso für die jesuanische Logientradition im Hintergrund. Dagegen spielen unseres Erachtens die Mysterien der Umwelt keine wesentliche Rolle zum Verständnis des Schreibens.936 7. Was die Deutung von Offb 3,20 betrifft, so verstehen wir das Bild von der Tür und vom Mahl in einem vorwiegend präsentischen und individuellen Sinn – zusammen mit der überwiegenden Deutung der Alten Kirche, mit Vitringa, Bengel, Zahn, Hemer u.a.937 Es geht um das Anklopfen des erhöhten Jesus bei den einzelnen Christen jetzt schon, im Hier und Heute. Das schließt eine eschatologische Komponente z.B. hinsichtlich des endzeitlichen Freudenmahles nicht aus. Aber dieses endzeitliche Mahl ist die Folge jenes schon
934 935 936 937
Vgl. dazu Hemer S. 208f. Dies sollte stärker betont werden als bei Hemer S. 178ff. Gegen Kraft S. 86.87. Vgl. Vitringa S. 158; Bengel S. 277; Zahn S. 316; Hemer S. 309.
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in der Gegenwart gefeierten Mahles, das die erneuerte und innige Gemeinschaft zwischen Jesus Christus und den einzelnen Gläubigen ausdrückt. 8. Die Verheißung des Thrones bedeutet jedenfalls die Gemeinschaft und das Mitherrschen der Erlösten mit dem dreieinigen Gott im kommenden Reich Christi bzw. Gottes. 9. Nicht zu übersehen ist, dass das siebte Sendschreiben ebenso wie die übrigen gegen die Annahme der Prädestination bezüglich unseres Heils spricht. Exkurs: Einige abschließende Beobachtungen zu den Sendschreiben insgesamt 1. Die sieben Sendschreiben der Offb besitzen eine ungewöhnliche Kraft und Schönheit der Sprache. Seltsamerweise stören die Solözismen nicht. Sie erhöhen sogar die Intensität der Sprache und machen das Gesagte noch einprägsamer. Die Wirkung der Sendschreiben in der Geschichte wäre weniger groß gewesen, wenn sie nicht so faszinierend und sprachgewaltig gewesen wären. 2. Dabei sind diese Sendschreiben keineswegs monoton. Auch hier liegt eine auffallende Komplementarität vor. Einerseits weisen die Schreiben weitgehend dieselbe formale Struktur auf, andererseits sind sie überraschend abwechslungsreich in Inhalt und Begrifflichkeit. 3. Das hängt zusammen mit der historisch überaus genauen Situationsschilderung. Wo immer wir die jeweilige Gemeindesituation historisch nachprüfen können, überrascht uns die Schilderung und das Echo, die ihnen in den Sendschreiben zuteil werden. Das geht soweit, dass man zu jedem Sendschreiben mehrere geschichtliche, geografische oder ökonomische Bezugspunkte finden kann, ja dass „their local setting“938 die Schreiben noch besser erklärt. Ohne Übertreibung darf man die Sendschreiben als wertvolle historische Dokumente bezeichnen. 4. Auf diese Weise entsteht ein Bild, in dem „die Lage der Kirche in Kleinasien nüchtern“ gesehen und „kein Idealbild … gemalt“ wird.939 Adolf Schlatter hat dies prägnant zum Ausdruck gebracht: „Der Zustand der ersten Kirche wird uns hier mit furchtloser Wahrhaftigkeit erkennbar gemacht. In dieser Beschreibung der Christenheit ist nichts von Schwärmerei, nichts von prahlendem Jubel über das Große, das erreicht sei, keine Selbstbespiegelung, die die eigene Leistung verherrlichte. Die mancherlei Abwege, auf die die Gemeinden geraten, und die ernste Anstrengung, die nötig ist, damit sie gesund bleiben, kommen aufs Deutlichste ans Licht.“940 Infolgedessen müssen wir uns auch von
938 Vgl. den Buchtitel von Colin Hemer. 939 Lohse S. 35. 940 Schlatter S. 176. Vgl. Bousset S. 238.
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einem romantischen Idealbild, als wäre das apostolische Zeitalter ein „goldenes“ Zeitalter gewesen, verabschieden. 5. Worin lagen die hauptsächlichen Gefährdungen? Erstens in der Irrlehre. Die Vielfalt von Irrlehren, mögen sie auch eng miteinander verwandt sein, überrascht: Falschapostel, Nikolaiten, Bileamiten, Isebels Anhänger. Gemeinsam ist ihnen ein Abweichen von den Worten Jesu und ein Aufweichen des Gesetzes, ein Libertinismus, der vor allem eine gesellschaftliche Anpassung an die Götzenopfer ermöglicht und Unzucht bzw. Ehebruch als Verstöße gegen das sechste Gebot erlaubt.941 6. Hinzu tritt eine zweite Gefährdung, nämlich die Verfolgung durch staatliche Organe unter Mithilfe gesellschaftlicher Gruppen. Wir sind nicht mehr imstande, eine Chronik solcher Verfolgungen im 1. Jahrhundert n.Chr. aufzustellen. Es ist deshalb wenig erfolgversprechend, wenn man Datierungen aufgrund spezieller Verfolgungsmerkmale vornehmen will. Nicht einmal die Rolle des Kaiserkultes lässt sich für Kleinasien mit genügender Sicherheit nachzeichnen. Was man aber auf alle Fälle sagen kann, ist dies: Die kleinasiatischen Gemeinden haben bis ca. 95 n.Chr. einige Erfahrungen mit staatlich verantworteter Verfolgung gesammelt. Es hat Martyrien gegeben. Blutzeugen können namhaft gemacht werden. Es ist sogar berechtigt, von einer Märtyrerkirche zu sprechen. Dabei sind insbesondere Smyrna, Pergamon und Philadelphia betroffen. Daneben stehen allerdings Gemeinden, die von einer Verfolgung verschont zu sein scheinen, wie Sardes oder Laodizea. Die Situation ist also sehr differenziert.942 7. Die Briefe des Ignatius, ca. 110 n.Chr. oder ein wenig später, setzen die Situationsbeschreibung der johanneischen Sendschreiben fort. Wir erhalten also ein ziemlich kontinuierliches Bild der kleinasiatischen Gemeinden Ende des 1. / Anfang des 2. Jh. n.Chr. 8. Was nun das Verhältnis zum Alten Testament betrifft, so setzen die Sendschreiben erstaunlich viel Wissen aus diesem Bereich voraus. Allein die christologischen Selbstvorstellungen sind ohne das AT nicht zu begreifen. Ebenso wenig sind die Überwindersprüche und die Bußworte ohne das AT verständlich. Wie viel Unterricht im AT gab es also? In welchen Formen wurde es tradiert? Wer war dafür verantwortlich? Leider wissen wir in diesen Sektoren unserer Geschichte zu wenig. 9. Mit dem Gebrauch des Alten Testaments hängt eng zusammen die Frage nach dem Verhältnis von Juden und Christen. Ein Kernpunkt in diesem Verhältnis ist wiederum die Frage: „Wer ist das wahre Israel?“ Die jungen Gemeinden, die sich nach dem Messias „Christen“ nannten, sahen das wahre Israel in ihrer Glaubensgemeinschaft, die sich um den auferstandenen Jesus Christus sammelte. Die jüdischen Synagogengemeinden betrachteten dagegen den
941 Vgl. Lohse S. 35; Bousset S. 237. 942 Vgl. Bousset S. 237.
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christlichen Weg als Fehlweg und lehnten Jesus Christus als Messias ab. Ihrer Auffassung nach wurde das wahre Israel durch diejenigen verkörpert, die den Anspruch Jesu Christi ablehnten. Im Einzelnen war das Verhältnis von Stadt zu Stadt, von Gemeinde zu Gemeinde verschieden. In Smyrna und Philadelphia, evtl. auch in Pergamon, herrschte schärfster Gegensatz. In Sardes und Laodizea ist davon nichts zu spüren. Insgesamt scheint das Verhältnis noch nicht ganz festgefahren, Konversionen scheinen hinüber und herüber möglich. Vermutlich hat sich die Birkat-ha-minim in der Diaspora noch nicht überall eingebürgert. 10. Die Beziehung zu den Jesuslogien der Evangelien ist hochinteressant. Bousset listet „Direkte Berührungen“ mit den Synoptikern, „spezielle Anklänge“ an Mt und Lk, dazuhin „Beachtenswerte Parallelen“ zu dem mit synoptischen Reminiszenzen gesättigten Jakobusbrief sowie die Benutzung von Kol, 1Thess und 1Petr auf.943 Wir können dies nur bestätigen. Jedoch müssen die Bousset’schen Beobachtungen nach einer Seite hin ergänzt werden: Das ist die häufige Übereinstimmung mit dem Johannesevangelium. Der Vergleich zwischen den Sendschreiben und dem JohEv lässt die Annahme durchaus sinnvoll erscheinen, dass beides von demselben Verfasser herrührt. Jedenfalls knüpft der Auferstandene an seine irdische Verkündigung an. 11. Aufgrund des starken Einflusses der Jesuslogien wird es verständlich, dass auch den „Werken“ (ἔργα [erga]) in den Sendschreiben eine hohe Bedeutung zukommt. Das gilt nicht nur bezüglich der Nähe zu den Synoptikern (vgl. die Bergpredigt), sondern auch bezüglich der Nähe zum JohEv (vgl. Joh 4,34; 3,19ff; 5,29; 6,28ff; 8,30ff usw.). Man hat dieses Wertlegen auf die „Werke“ schon öfters in der Forschung beobachtet.944 Ganz gleich, wie man den Begriff der Werke in den Sendschreiben im Einzelnen definiert, so ist doch so viel klar: Der Mensch ist verantwortlich für das, was er wirkt und tut. Daraus aber einen „Abstand … von Paulus“ herzuleiten, wie es Lohse (S. 36) tut, geht zu weit. Denn auch Paulus macht den Menschen für sein Wirken und Verhalten verantwortlich (Röm 2,1ff; 2Kor 5,10; 9,6; Gal 5,6). Entgegen Lohse945 fehlt in den Sendschreiben weder eine „Theologie des Kreuzes“ (vgl. nur 3,5; 3,14; 3,20; 3,21) noch der „Zuspruch des gegenwärtigen Heils“ (vgl. nur 2,24f; 3,8; 3,11). 12. Dementsprechend bietet der Auferstandene jedem das Heil an, der Buße tut und einen Neuanfang macht. Niemand ist jetzt schon endgültig verloren. Das Bußangebot geht soweit, dass auch den Anhängern von Irrlehren Buße ermöglicht wird (2,21f). Insgesamt gilt: Gerade Christen brauchen Buße! 13. Erstaunlich reich entfaltet ist die Christologie der Sendschreiben. Jesus Christus hält die Kirche in seiner Hand, ist mitten unter den Seinen (2,18), er hat die Fülle des heiligen Geistes (3,1), er ist der Heilige, der Wahrhaftige, er hat die höchste Schlüsselgewalt, ist der ewige Sohn Davids (3,7), er heißt Amen, ist der 943 Bousset S. 241. 944 Z.B. Lohse S. 36. 945 Lohse a.a.O.
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Anfang der Schöpfung und der treue und wahrhaftige göttliche Zeuge (3,14). Alle messianischen Verheißungen, alle Erlöser-Erwartungen des Alten Testaments sind in ihm erfüllt. 14. Zu warnen ist vor jeder vorschnellen Identifizierung, wie sie z.B. Ferdinand Christian Baur (1792–1860) vorgenommen hat, als er die falschen Apostel, Bileamiten, Nikolaiten und Anhänger Isebels auf Paulus und seine Anhänger deutete.946 15. In der Kirchengeschichte hat man die Sendschreiben öfters zur Gliederung der Geschichte benützt und z.B. von einer „sardischen“, „philadelphischen“ oder „laodizeischen“ Epoche gesprochen. Beispiele sind Coccejus, Vitringa, Zinzendorf, aber auch Fra Dolcino, Ludwig Crocius, Johann Wilhelm Petersen oder Elias Eller.947 Mit Spener und Bengel948 ist eine solche Deutung abzulehnen. Denn 1) sind die sieben Gemeinden gleichzeitig, 2) sind sie in der Gegenwart und nicht als Erscheinungen der Zukunft angesprochen. 16. Richtig dagegen ist, dass alle Sendschreiben zugleich der Gesamtkirche gelten und deshalb auch eine reflektierte typologische Deutung auf heutige Kirchen, Gemeinden und Entwicklungen ermöglicht wird (vgl. 2,7 mit den Parallelstellen).949 17. An alle Kirchen in allen Zeiten richtet sich der Ruf zur Treue und Wachsamkeit. Die Treue resultiert aus der Liebe zum dreieinigen Gott, die praktisch wird am Bekenntnis zu Jesus Christus in Wort und Tat. Die Wachsamkeit ist insbesondere die Aufgabe der Leitung der Kirche und der Gemeinden, die der Irrlehre wehren und die Glaubenden den Weg der wahren Christusnachfolge führen müssen.
946 947 948 949
Vgl. Maier Offb S. 483. A.a.O. S. 327.333.438.184.320.374f. Vgl. a.a.O. S. 402.438. Neuerdings bekräftigt durch Ritt, LThK, Sp. 997.
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B. Die Zukunft, 4,1–22,5
1. Die Zukunft entscheidet sich am Thron Gottes, 4,1–5,14 1.1 Am Thron Gottes, 4,1-11 I Übersetzung 1 Danach sah ich, und siehe, eine Tür war geöffnet im Himmel. Und die erste Stimme, die ich hatte mit mir reden hören wie eine Posaune, die sagte: Steig hier herauf, denn werde ich dir zeigen, was danach geschehen muss. 2 Sofort wurde ich vom Geist ergriffen. Und siehe, ein Thron stand im Himmel, und auf dem Thron saß einer. 3 Und der, der da saß, glich dem Aussehen nach einem Jaspis-Stein und Sarder-Stein, und ein Strahlenkranz war rings um den Thron, dem Aussehen nach einem Smaragd gleich. 4 Und rings um den Thron waren vierundzwanzig Throne, und auf den Thronen saßen vierundzwanzig Älteste, angetan mit weißen Kleidern und auf ihren Häuptern goldene Kronen. 5 Und von dem Thron gehen Blitze und Stimmen und Donner aus, und sieben Fackeln mit Feuer brennen vor dem Thron, das sind die sieben Geister Gottes, 6 und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer, gleich einem Kristall. Und in der Mitte des Thrones und rings um den Thron waren vier Wesen, voller Augen vorn und hinten. 7 Und das erste Wesen war gleich einem Löwen, und das zweite Wesen gleich einem Stier, und das dritte Wesen hatte ein Antlitz wie ein Mensch, und das vierte Wesen war gleich einem fliegenden Adler. 8 Und jedes der vier Wesen hatte je sechs Flügel, ringsherum und innen waren sie voller Augen, und sie sagen unaufhörlich Tag und Nacht: Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt. 9 Und wenn die Wesen Preis und Ehre und Dank geben dem, der auf dem Thron sitzt, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, 10 fallen die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem, der auf dem Thron sitzt, und beten den an, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und legen ihre Kronen nieder vor dem Thron und sagen: 11 Würdig bist du, unser Herr und Gott, zu nehmen den Preis und die Ehre und die Kraft, denn du hast alles erschaffen, und durch deinen Willen war es und wurde es erschaffen.
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II Struktur Mit 4,1 beginnt der zweite Hauptteil der Offb. Er reicht bis 22,5. Sein Inhalt ist die Zukunft, während die Sendschreiben (Kap. 2,3) vorwiegend auf die Gegenwart bezogen sind. Am Anfang des zweiten Hauptteils wird Johannes in den Himmel versetzt (4,1–5,14). Bevor irgendein irdisches Ereignis geschildert wird, ist also der Blick auf die himmlische Welt gerichtet. Dort, am Thron Gottes, fallen die Entscheidungen, aufgrund derer dann Johannes „die Realität der Welt-Gesch. [ichte]“ aufdecken kann.1 Der Abschnitt 4,1–5,14 zerfällt in zwei Unterabschnitte. Der erste führt uns an den Thron Gottes (4,1-11). Der zweite berichtet von dem „lösenden“ Ereignis im Himmel, das die ganze zukünftige Weltgeschichte eröffnet (5,1-14). Es besteht darin, dass der auferstandene Jesus Christus das „Buch mit den sieben Siegeln“ empfängt. Die Ausleger wählten für den Unterabschnitt 4,1-11 verschiedene Überschriften, die aber sachlich nicht allzu weit auseinanderliegen. So z.B. „Der Thronsaal Gottes“ (Bousset), „Vorspiel im Himmel“ (Lohse), „Der himmlische Gottesdienst“ (Kraft), „Einleitende Szene“ (Wikenhauser) oder „Einleitende Vision“ (Ritt), „Die Entrückung in den Himmel“ (Zahn). Das Spezifische der Schau in Offb 4,1-11 kann man vielleicht mit der Überschrift „Am Thron Gottes“ zum Ausdruck bringen. Ein wichtiges Strukturelement ist die Anbetungsszene. Hier kommt an den Tag, dass die Offb in der Doxologie lebt – stärker als jedes andere neutestamentliche Buch. Die Offb ist sozusagen nicht nur die neutestamentliche Prophetie, sondern auch der neutestamentliche Psalter.
III Einzelexegese Die Worte Danach sah ich (Μετὰ ταῦτα εἶδον [Meta tauta eidon]) leiten offensichtlich ein neues Geschehen ein. Μετὰ ταῦτα [Meta tauta] (oder: τοῦτο [tuto]) bildet ein häufiges Stilmittel, um die Offb zu gliedern. Es hat sein Vorbild im AT (z.B. Dan 7,6f). In der LXX ist εἶδον [eidon] geradezu ein typischer Begriff „für visionär-ekstatisch-prophetisches Sehen“.2 Dem entspricht der Sprachgebrauch in der Offb.3 Vorsicht ist jedoch geboten gegenüber der Bezeichnung „ekstatisch“. Johannes war vom Geist Gottes ergriffen und durchdrungen (V. 2), während eine Ekstase auch ganz menschlich erzeugt 1 Ritt LThK Sp. 997. 2 So W. Michaelis, Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, S. 329. 3 Michaelis a.a.O. S. 350ff.
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werden kann. Jedenfalls drückt Μετὰ ταῦτα [Meta tauta] eine zeitliche Abfolge aus. Das erste Bild ist eine Tür … geöffnet im Himmel. Der geöffnete Himmel begegnet uns öfters im NT, so bei der Taufe Jesu und der Vision des Petrus (Mt 3,16; Joh 1,51; Apg 7,56; 10,11). Hier, in Offb 4,1, geht es speziell um die „Öffnung der zum Thronsitz Gottes führenden Himmelstür“.4 Diese Öffnung hat nach Joachim Jeremias einen zweifachen Sinn: „1. Gott tut … auf, um sich schenkend, belebend, richtend und erlösend zu offenbaren … 2. Das verborgene Innere des als Palast gedachten himmlischen Gottessitzes wird der Schau (Ag 7,55f) bzw. dem ἐν πνεύματι erfolgenden Zutritt (Offb 4,1f, vgl. 2 K 12,2ff) des Begnadeten freigegeben und ihm dadurch der Anblick Gottes und die Enthüllung der Geheimnisse der jenseitigen Welt gewährt.“5 Die Erfahrung des Johannes ist an dieser Stelle ungewöhnlich, aber nicht unnormal. Es folgt als zweite Erfahrung einen Audition (eine Erfahrung im Bereich des Hörens). Erneut hört Johannes die erste Stimme, die ich hatte mit mir reden hören wie eine Posaune, das heißt, die Stimme von 1,10. Wir haben diese Stimme als die Stimme des Auferstandenen identifiziert. Hier ist es also wieder der Auferstandene, der an Johannes den Befehl richtet: „Steig hier herauf (ἀνάβα6 ὧδε [anaba hode])!“7 Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass kein äußerlicher Ortswechsel, sondern ein geistig-geistlicher Vorgang gemeint ist (vgl. 4,2).8 Das Aufsteigen zum Himmel bei den beiden Zeugen von Offb 11,12 geschieht in anderer Form. Anders ist es auch bei der Himmelfahrt Jesu (Apg 1,9f) sowie bei Henoch (Gen 5,24) und Elia (2Kön 2,1ff). Man muss biblische Vorgänge differenzieren. Das Heraufsteigen, Aufsteigen (ἀναβαίνειν [anabainein]) hat eine besondere Bedeutung. Wie Johannes Schneider feststellt, ist es „ein Terminus der kultischen Sprache“.9 Man geht hinauf nach Jerusalem und zum Tempel. Von da aus gewinnt ἀναβαίνειν εἰς τὸν οὐρανόν [anabainein eis ton uranon], hebr. [ ָעָלה ַה ָּשַׁמי ִםalah haschschamajim] (Dt 30,12; Am 9,2; 2Kön 2,11), seinen spezifischen Sinn. Die Gnostiker machen daraus die Himmelsreise der
4 J. Jeremias, Art. θύρα, ThWNT, III, 1938, S. 177. 5 A.a.O. 6 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 95,7 sowie 136,7 (zur Inkongruenz φωνή [phone] – λέγων [legon]). 7 Ebenso Bengel S. 297; Vitringa S. 173; Morris S. 86. Als Engelsstimme erklärt sie Zahn S. 317f; Behm S. 29; Aune S. 282. 8 Ebenso Bengel a.a.O. 9 Art. ἀναβαίνω usw., ThWNT, I, 1933, S. 517.
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Seele.10 In Offb 4,1 aber „wird der Zustand prophetischer Entrückung eingeleitet“, „und der Seher schaut“ nach Johannes Schneider „hinein in den himmlischen Thronsaal“.11 An dieser Stelle ist jedoch eine kritische Distanzierung angebracht, wenn Forscher wie Jeremias oder Schneider von einem „Palast“ oder „Thronsaal“ sprechen12. Nirgends ist nämlich in Offb 4 von einem solchen Thronsaal oder Palast die Rede. Gesprochen wird nur von einem Thron und dem Geschehen um den Thron. Das alles behält eine geheimnisvolle Weite und Offenheit, die der Allmacht und Größe Gottes viel besser entspricht als ein angeblicher „Saal“. In Offb 4,1 heißt es dementsprechend auch ganz unbestimmt hier (ὧδε [hode]).13 Dann werde ich dir zeigen, was danach geschehen muss: Zeigen und was geschehen muss greifen auf Offb 1,1 zurück und sind dort erläutert (vgl. 1,19; 22,6). In 4,1 fällt auf, dass hier nicht von ἐν τάχει = „in Bälde“ die Rede ist, sondern viel einfacher von danach wie in 1,19. Es zeigt sich also, dass die Offb nicht als „Naherwartung“ verstanden werden darf. Allerdings bleibt eines klar: „Danach“ bezieht sich auf eine von Gott bestimmte Zukunft. Mit dieser Zukunft haben wir es im Folgenden zu tun. Insgesamt erinnert Offb 4,1 stark an Ez 1,1.14 Sofort nach dem Ertönen der Stimme, berichtet Johannes, wurde ich vom Geist ergriffen (V. 2). Das Geschehen von 1,10 wiederholt sich. Die Beschreibung als „Ekstase“ oder „trance“15 bleibt unbefriedigend. In Ekstase geraten auch Schamanen. Außerdem verdunkelt der Begriff der „Ekstase“ die Tatsache, dass Johannes dies alles in höchster geistiger Konzentration erlebt. ἐγενόμην ἐν πνεύματι [egenomen en pneumati] kennzeichnet einen Wechsel des Bewusstseins, nicht jedoch eine Trübung des Bewusstseins. Den Kern dieser Aussage bildet ein Wirken des Heiligen Geistes, der Johannes inspiriert – im wörtlichen Sinne. Man hat darüber diskutiert,16 ob nicht schon V. 1 eine solche Geistergriffenheit voraussetze. Die Antwort lautet selbstverständlich: Ja. Aber während V. 1 einen Auftakt, einen Introitus, beschreibt, haben wir es ab V. 2 mit einem kontinuierlichen, relativ lange dauernden Vorgang zu tun. 10 Schneider a.a.O. S. 518. 11 A.a.O. S. 519. 12 Schon Vitringa S. 172 sprach von der „forma Templi“, auch z.B. H. Traub, Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, S. 530. 13 Beeindruckend die Offenheit von Caird S. 61f; Morris S. 85. 14 So schon Vitringa S. 172. 15 Auch z.B. Zahn S. 312ff; Aune S. 283. 16 Vgl. Zahn S. 318f.
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Im geöffneten Himmel sieht Johannes zunächst einen Thron. Die Verbindung der beiden Worte „Thron“ und „Himmel“ macht sofort klar, dass es sich nur um Gottes Thron handeln kann. Vom „Thron“ Gottes im Himmel spricht das AT häufig, vor allem die Prophetie17 (1Kön 22,19; Ps 11,4; 47,9; 103,19; Jes 6,1ff; Jer 14,21; Ez 1,26; 10,1; Dan 7,9f). Dieser Thron ist im Gegensatz zu den irdischen Reichen ewig. Er ist, wie Otto Schmitz formuliert, immer „der Ausdruck der überweltlichen Herrschermajestät Gottes“.18 Interessanterweise wird der Thron als solcher „in keiner Weise beschrieben“.19 Stattdessen wendet sich Johannes sofort den entscheidenden Gestalten zu. Diese Orientierung an den Personen und nicht an den Dingen ist typisch für die gesamte Bibel. Wir bemerken noch, dass Offb 4,2 erneut ein Zeugnis für die besondere Nähe der Offb zu Hesekiel und Daniel darstellt.20 Und auf dem Thron saß einer (καὶ ἐπὶ τὸν θρόνον καθήμενος [kai epi ton thronon kathemenos]):21 Die Beschreibung wird hier äußerst vorsichtig, hält gewissermaßen den Atem an. Das maskuline Partizip καθήμενος [kathemenos], einer sitzend (ohne Artikel), lässt sich nur vom AT her verstehen.22 Wie in der ganzen Welt des alten Orients galt „das Sitzen als besonderes Zeichen der Gottheit“,23 nicht etwa als Zeichen der Untätigkeit oder Ferne oder Gleichgültigkeit. Hier kommt Gottes Würde und Souveränität, ja zugleich seine höchste Aktivität zum Ausdruck (vgl. wieder Jes 6,1ff; Ez 1,26; 10,1ff; Dan 7,9). Wieder gilt dasselbe für Offb 4,2.24 Die besondere theologische Spitze von Offb 4,2 liegt darin, dass Gott eine Person ist, nicht aber ein „Prinzip“, eine „Urgewalt“, ein „Ausgangspunkt“, ein „unnennbares Mysterium“ o.ä., wie ihn die Philosophie immer wieder zu bestimmen versuchte. Bei Vers 3 ist wichtig, was Johannes sagt und was er nicht sagt. Den, der da saß (ὁ καθήμενος [ho kathemenos]), schildert er nur mit einem einzigen Satz. Dieser Satz betrifft sein Aussehen (ὅρασις [horasis]), näher: seinen Glanz, seine Lichts-Ausstrahlung. Denn ὅρασις [horasis], hebr. [ ַמְרֶאהmareh] bedeutet in Offb 4,3 nicht „Vision“, wie Werner Michaelis fälschlich meint, sondern wie in Ez 1,26 „Aussehen“,25 das, „was man von ihm zu sehen bekam“. Aber direkt schildern kann Johannes dieses Aussehen nicht. Er nimmt vielmehr 17 18 19 20 21 22 23 24 25
Vgl. O. Schmitz, Art. θρόνος, ThWNT, III, 1938, S. 161ff. A.a.O. S. 162. Schmitz a.a.O. So auch Schlatter BFchTh S. 13. Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 233,2. Vgl. wieder Schlatter a.a.O. Carl Schneider, Art. κάθημαι usw., ThWNT, III, 1938, S. 442. Carl Schneider a.a.O. S. 444f. So auch Bauer-Aland Sp. 1170.
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einen Vergleich zu Hilfe. Den Vergleich bietet ihm die Welt der Edelsteine: Er glich einem Jaspis-Stein und einem Sarder-Stein. ἴασπις [iaspis], eine Quarzvarietät, kann verschiedene Farben haben. Für die einen dominiert die Farbe Rot,26 für andere Ausleger die Farbe Grün.27 σάρδιον, Sarder, lässt sich leichter bestimmen. Dieser Edelstein, eine Art Karneol, ist rot. Beide Steine tauchen auch in Offb 21,11ff bei der Beschreibung der neuen Schöpfung, genauer gesagt: bei der Beschreibung des himmlischen Jerusalem, wieder auf. Sie sind also charakteristisch für die Lichtwelt Gottes. Mehr noch: Sie gehören nach Ex 28,17ff; 39,10ff zum Gewand des Hohepriesters, haben also eine eminente Bedeutung für den Gottesdienst des wahren Gottes. Nach Ez 28,13 hat sie sich der König von Tyrus, der sich selbst zu Gott machte, angemaßt. Jetzt aber, in Offb 4,3, sind sie würdig, Gottes Erscheinung zu erklären. Früher deutete man die Farben der Steine allegorisch. So z.B. Bengel: Jaspis (für ihn mit weißer Farbe) bedeute die Reinheit, der rote Sarder den Eifer gegen das Böse, der grüne Smaragd die Gnade gegen die Kinder des Bundes.28 Man wird solche Versuche nicht einfach belächeln dürfen. Aber sie bleiben auch im biblischen Kontext zu unbestimmt.29 Wir haben zu erklären versucht, was Johannes sagt. Aber was sagt er nicht? Er sagt nicht wie z.B. Ez 1,26, dass Gott menschenähnliche Gestalt hatte. Er sagt nichts von seiner Erscheinung oberhalb und unterhalb der „Hüften“, wie es Ez 1,27 getan hatte.30 Er schweigt von seinem Haupt im Unterschied zu Dan 7,9, und auch von seinem Gewand – wiederum im Unterschied zur selben Stelle. Johannes ist also bei dieser Beschreibung Gottes wesentlich zurückhaltender als die alttestamentlichen Propheten.31 Er kommt jetzt noch innerhalb desselben Verses auf die Umgebung des Thrones zu sprechen: und ein Strahlenkranz (oder: Regenbogen32) war rings um den Thron, dem Aussehen nach einem Smaragd gleich.33 Hier sind wir wieder ganz nahe bei Ez 1,26-28, ohne dass man mit Schlatter sagen könnte, Johannes habe Hesekiel „wiederholt“.34 Offenbar wölbte sich der Strahlenkranz so über dem Thron, wie sich ein Regenbogen über der Erde
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So Bauer-Aland Sp. 749. So GBL, 1, S. 287. Bengel S. 301. Das gilt auch für die alte jüdische Exegese, z.B. bei Josephus Ant III, 186. Darauf weist Zahn S. 319 mit Recht hin. Morris S. 86; Caird S. 63. Vgl. Bauer-Aland Sp. 771. Zu ἶρις [iris] – ὅμοιος [homoios] vgl. Blass-Debrunner § 59,2. Schlatter BFchTh S. 13. Richtig dagegen Zahn S. 319.
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wölbt,35 und zwar kreisförmig (κυκλόθεν [kyklothen]).36 Karl Heinrich Rengstorf verbindet die ἶρις [iris] von Offb 4,3 mit dem Regenbogen von Gen 9,13 (LXX: τὸ τόξον [to toxon]) und möchte sie als Zeichen des nahen und gnädigen Gottes verstehen.37 Dies scheint jedoch zu weit hergeholt, obwohl die alten Ausleger diese Deutung unterstützen. Dem Verfasser geht es im Kontext offensichtlich nicht um Gericht und Gnade, sondern um die Majestät und Anbetung Gottes.38 Deshalb macht er selbst die Angabe, der Strahlenkranz oder „Regenbogen“ habe dem Aussehen nach einem Smaragd geglichen. Mit ὅμοιος [homoios] und ὅρασις [horasis] sind wir wieder ganz in der Sprachwelt von Ez 1,28.39 Der Smaragd (σμαράγδινος [smaragdinos] zu ergänzen durch λίθος [lithos]) taucht erneut in Offb 21,19 auf und gehört ebenfalls zum Gewand des Hohepriesters (Ex 28,17; 39,10). Es handelt sich um einen grünen Edelstein. Grün und hell leuchtete es also rings um den Thron in heiligen Farben. Damit schildert Johannes ein überwältigendes Bild der göttlichen Majestät. Joachim Jeremias hat recht: „Der Glanz der hellsten Edelsteine ist Gleichnis für die Lichtherrlichkeit und Reinheit Gottes.“40 Vers 4 erweitert das Bild: Und rings um den Thron waren vierundzwanzig Throne … Hier steht im NT Graece der Akkusativ.41 Zu ergänzen ist also „Ich sah“ (εἶδον [eidon]) aus V. 1.42 Ringsum geht wieder auf griechisches κυκλόθεν [kyklothen] zurück. Johannes sieht also die Throne kreisförmig angeordnet. Die Frage, ob man sich den Kreis horizontal (wie z.B. auf der Fläche eines Saales) oder vertikal, halbkreis- oder ganz kreisförmig vorzustellen habe, ist zu sehr von unsern irdischen Denkkategorien bestimmt und sollte deshalb besser nicht gestellt werden.43 Jedenfalls entsteht durch die Schilderung von Offb 4 das Bild von konzentrischen Kreisen um den Thron Gottes: der Kreis des Lichtglanzes (V. 3), der Kreis der Ältesten (V. 4), der Kreis der vier Wesen (V. 6), und schließlich der Kreis von Myriaden Engeln (5,11). Hier darf man allerdings daran denken, dass der Kreis ein Ausdruck für Vollkommen35 So Zahn S. 319. 36 Die Ausleger sind unsicher. Vitringa S. 175 erblickt hier eine Krone. 37 Art. ἶρις, ThWNT, III, 1938, S. 342f. Vitringa S. 175f; Zahn S. 320; Schlatter S. 179; Morris S. 87; früher schon Bengel S. 301; Caird S. 63; Brütsch S. 218; Grünzweig S. 139; Hartenstein S. 84f. 38 Vitringa S. 174f. 39 Schon Vitringa S. 174: „Tota haec Visio composita est … secundum eam Ezechielis“. 40 Art. λίθος, ThWNT, IV, 1942, S. 273. 41 Zu den grammatischen Besonderheiten des Verses vgl. Blass-Debrunner § 46,2b; 63,2; 104,2. 42 Vgl. Zahn S. 320,5. 43 Vitringa S. 177 deutete „ad formam hemicycli“; Bengel S. 302 auf „keinen halben, sondern einen ganzen runden Ring“; Zahn S. 322: „im Kreise oder auch im Halbkreise“.
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heit und Schönheit ist. Die himmlische Welt ist demnach eine Welt höchster Vollkommenheit, Ordnung und Schönheit. Die Throne um den Thron Gottes erinnern uns an Dan 7,9. Daraus ergibt sich ein Doppeltes: Wer auf einem solchen Thron sitzt, hat die Aufgabe des Herrschers und Richters, und: Wer auf einem solchen Thron sitzt, wirkt in engster Verbundenheit mit Gott. In Offb 4,4 sind es vierundzwanzig Älteste, die auf den vierundzwanzig Thronen saßen, angetan mit weißen Kleidern und auf ihren Häuptern goldene Kronen.44 Man beachte: Im Unterschied zu Gott beschreibt Johannes jetzt die Gestalten der Sitzenden. Seine „ehrfurchtsvolle Beugung“45 ist in diesem Falle nicht so groß wie Gott gegenüber, denn es sind ja Geschöpfe, die auf diesen Thronen sitzen. Die Ältesten, πρεσβύτεροι [presbyteroi], hebr. [ ז ְֵקנ ִיםseqenim], erinnern uns an die Rolle der Ältesten in der Geschichte Israels.46 „Älteste“ bildeten aber auch seit den ersten Tagen das tragende Amt in den frühen Christengemeinden (vgl. Apg 11,30; 14,23; 15,2ff usw.).47 Von daher legt sich der Gedanke nahe, dass auch die Ältesten der Offb Repräsentanten des Gottesvolkes sind.48 Zwar wollte z.B. Günther Bornkamm in ihnen nur „eine höhere Engelklasse“ erblicken, die mit „Menschenwesen“ nichts zu tun hätte.49 Aber die alte Exegese sah hier tiefer. Bengel z.B. notierte zu Offb 4,4: „Diese … Aeltesten sind sehr vortrefliche Heiligen aus den vorigen Zeiten, Jes.–XXIV.23. Hebr.–XI.2 und präsentiren das ganze heilige Volk“.50 Caird listete folgende Deutungen auf: 1) die Ältesten repräsentieren die 12 Patriarchen und die 12 Apostel (vgl. Offb 21,12ff),51 2) sie stellen die 24 Sterngötter der Babylonier dar (vgl. Diodorus Sic. II, 31,4), 3) sie bilden die 24 Priesterabteilungen und Sängerabteilungen des Alten Bundes ab (vgl. 1Chron 24–25).52 Wie sind solche Deutungsversuche zu beurteilen? Zunächst fällt es schwer, in den Ältesten bereits im ewigen Leben befindliche Menschen zu erblicken, 44 Vitringa S. 176 legt Wert darauf, dass diese Ältesten eine Neuheit gegenüber der alttestamentlichen Prophetie darstellen. 45 So Schlatter S. 178. 46 Vgl. hier G. Bornkamm, Art. πρέσβυς usw., ThWNT, VI, 1959, S. 651ff. 47 Die Einwände und die Tendenz der Spätdatierung bei Günther Bornkamm sind dogmatisch bestimmt und historisch nicht stichhaltig. 48 Vitringa S. 178: „Rectores et fideles Pastores“. Wie wir Caird S. 64; Morris S. 88; Brütsch S. 220; Grünzweig S. 140. Ablehnend Behm S. 31. 49 A.a.O. S. 668. 50 S. 302. 51 Andreas Caes. und Victorinus scheinen die ersten Vertreter dieser Deutung gewesen zu sein (vgl. Zahn S. 321,7). 52 Caird S. 63. Vgl. Aunes noch detailliertere Aufstellung S. 288ff.
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die z.B. nach Bengel auferstanden sind und „schon verklärte Leiber haben“.53 Angesichts von Offb 7,9ff und Mt 27,52 ist eine solche Deutung zwar nicht ausgeschlossen, sie wäre aber mit den „Ordnungen“ von 1Kor 15,23f und auch mit dem Ablauf von Offb 19–21 schwer zu vereinen. Deshalb ist von Engelwesen auszugehen,54 die aber ihre Eigenart darin haben, dass sie tatsächlich das Gottesvolk des Alten und des Neuen Bundes repräsentieren. Nur so erklärt sich auch das Attribut der weißen Kleider. Denn dieses ist eindeutig die Heilsgabe und der Lohn für die „Überwinder“, d.h., das standhafte Gottesvolk (vgl. Offb 3,4.5.18; 6,11; 7,9ff; 19,14). Ähnliches gilt für die goldenen Kronen oder Kränze auf ihren Häuptern. Kronen bzw. Kränze sind ebenfalls Heilsgaben für treue Gläubige und Überwinder (vgl. Offb 2,10; 3,11),55 allerdings auch Zeichen der Engel und Mächte (vgl. Offb 6,2; 9,7; 14,14). Diese Repräsentanten des Gottesvolkes als „Thronrat“56 oder als „himmlische Ratsversammlung“57 zu bezeichnen erscheint als wenig angemessen. Denn es geht nicht um eine Art himmlischen „Ältestenrat“,58 der Gott beraten könnte oder sich in Diskussionen erginge, sondern um eine wahrhaft „göttliche Liturgie“, um Erkenntnis und Anbetung des unvergleichlichen Gottes. Doch wie können solche Engel-Repräsentanten als Älteste bezeichnet werden? Seit spätestens Vitringa weist man auf Jes 24,23 hin.59 In der Tat ist dort von [ ְזֵקִניםseqenim] (LXX πρεσβύτεροι [presbyteroi]) im Himmel die Rede. Ob nun Johannes selbst auf Jes 24,23 zurückgriff, ob er einer jüdischen Tradition folgte60, oder ob er angesichts der besonderen Aufgabe seinerseits den Titel „Älteste“ bildete – in jedem Falle hat er es angesichts von Jes 24,23 mit Recht getan.
53 Bengel S. 303; ebenso Schlatter S. 179f; Hartenstein S. 85; P. Müller S. 19. Schon Luther sah in den 24 Ältesten „Bischöfe und Lehrer“ (Vorreden S. 182). 54 Auch nach O. Schmitz, Art. θρόνος, ThWNT, III, 1938, S. 167; Behm S. 31; Morris S. 88; Zahn S.321; Brütsch S. 224. 55 Vgl. W. Grundmann, Art. στέφανος usw., ThWNT, VII, 1964, S. 615ff. Nicht ausgeschlossen ist damit auch ein Bezug auf die Kleidung und den Schmuck der Hohepriester. Vgl. Vitringa S. 178. 56 So Neue Jerusalemer Bibel S. 1790. 57 So Bornkamm a.a.O. S. 668; Behm S. 31; auch Zahn S. 323 (oder „Senat“). 58 Gegen Bornkamm a.a.O. 59 Vitringa S. 176f; Bengel S. 302. 60 Vgl. Behm S. 31.
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Schließlich fordert die Zahl vierundzwanzig eine genauere Erklärung. Von vornherein ist in der Offb klar, dass dabei verschiedene Linien zusammenlaufen können.61 „Vierundzwanzig“ hängt unseres Erachtens mit den 24 Priesterund Sängerabteilungen von 1Chron 24–25 zusammen.62 Die Ältesten sind also Liturgen eines himmlischen Gottesdienstes, der in V. 8-11 gipfelt.63 Auch sie sind in einem gewissen Sinn „Könige“ und „Priester“ (vgl. Offb 1,6). Sodann spricht die Verdoppelung der israelitischen Stämmezahl und der Apostelzahl auf „vierundzwanzig“ dafür, in ihnen die Repräsentanten sowohl des Alten wie des Neuen Bundes zu sehen. Endlich spiegelt sich in der Zahl „vierundzwanzig“ auch die Gemeinde aus Juden und Heiden wider. Für die christlichen Leser der Zeit des Johannes war das alles noch anschaulicher als für uns, weil sie in ihren Ältesten, deren Sitzen und ihren Gemeindeversammlungen geeignete Parallelen hatten.64 Auszuscheiden ist dagegen eine Bezugnahme auf die 24 babylonischen Sterngötter bzw. „astrale Vorstellungen“, von denen Bornkamm spricht.65 Denn Johannes lässt weder eine Kenntnis dieser Vorstellungen erkennen noch schildert er Wesen und Aufgabe der Ältesten in einer Art, die sich von diesen Sterngöttern ableiten ließe.66 Auffallenderweise geht Johannes mit seiner Schilderung inV. 5-6a zum Thron Gottes zurück, bevor er als nächsten Kreis den Kreis der vier Wesen nennt (in V. 6b). Vers 5 sagt: Und von dem Thron gehen Blitze und Stimmen und Donner aus. Hier kann nur der Thron Gottes gemeint sein. Die präsentischen Formen (ἐκπορεύονται [ekporeuontai] … καιόμεναι [kaiomenai]) deuten auf ein ständiges, kontinuierliches Geschehen.67 Die Blitze erinnern ebenso wie die folgenden Fackeln an Ez 1,13. Sie sind ein Zeichen für Gottes Gegenwart (vgl. Ex 19,16ff; Ri 5,4f; 2Sam 22,8ff; Hab 3,3ff; Ps 18,8ff; 77,17ff; 97,2ff).68 Stärker als Ez 1,13 steht freilich Ex 19,16 im Hintergrund. Dort geschahen Stimmen und Blitze (LXX: φωναὶ καὶ ἀστραπαί [phonai kai astrapai]). Dem61 62 63 64 65 66 67 68
So mit Recht Caird S. 63f. Ebenso Neue Jerusalemer Bibel S. 1790; Vitringa S. 178. Ebenso Grundmann a.a.O. S. 630; Bornkamm a.a.O. Carl Schneider, Art. κάθημαι usw., ThWNT, III, 1938, S. 446f. Anders Bornkamm a.a.O. S. 669f. Bornkamm a.a.O. S. 668f. Dagegen Morris S. 88. Schon Bousset S. 247 ähnlich wie Bornkamm. Er verglich mit den 24 Yazatas der persischen Religion. Die seltsame Variante ἱερεῖς [hiereis] statt ἶρις [iris] in V. 3 könnte evtl. aus der Beobachtung der liturgisch-kultischen Funktion der „Ältesten“ entstanden sein. Aune S. 293f. Vgl. W. Foerster, Art. ἀστραπή, ThWNT, I, 1933, S. 503.
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nach muss man wohl Stimmen und Donner eng zusammennehmen, etwa im Sinne von Benno Jacob, der in Ex 19,16 die [ ֹקל ֹתqolot] (φωναί [phonai]) mit „Donnerlaute“ übersetzt.69 Vielleicht muss man aber auch mit Zahn streng an einer Dreiheit festhalten: „Blitze und Donner und andere Stimmen“ (S. 325). Auch dafür kann man sich auf Ex 19,16ff berufen. Donner und Stimmen sind Zeichen der Gegenwart und der Offenbarung Gottes70. Wenn aber Offb 4,5 so stark an den Bundesschluss am Sinai erinnert, dann ist der Thron Gottes in einem weiteren Sinne ein „Sinai“. Das heißt, er ist die Quelle der Offenbarung und der göttlichen Weltregierung. Die Offenbarung erreicht die Menschen über Auge (ἀστραπαί [astrapai]) und Ohr (φωναί [phonai], βρονταί [brontai]). Beim Anblick des Thrones nimmt Johannes noch Weiteres wahr: Und sieben Fackeln mit Feuer brannten vor dem Thron, das sind die sieben Geister Gottes (V. 5). Die Verbindung der Fackeln mit den Geistern71 macht klar, dass wir uns keine irdischen Fackeln oder Lichtsträger vorstellen dürfen. Es geht um ein anschauliches Bild für eine geistig-geistliche Wirklichkeit. Die sieben Geister (ἑπτὰ πνεύματα [hepta pneumata]) vor dem Thron sind uns schon in Offb 1,4 begegnet. Dort wie hier sind sie mit dem Heiligen Geist in seiner Fülle zu identifizieren.72 Über die Bezüge zu den sieben Augen Gottes in Sach 3,8f; Offb 5,6, zu den sieben Lampen am goldenen Leuchter von Sach 4,2; Ex 25,31ff; 37,17ff und zum siebenfachen Gottesgeist in Jes 11,273 ist bei der Erklärung von Offb 1,4 schon ein Hinweis gegeben. Jetzt also wird der Heilige Geist mit Fackeln (λαμπάδες [lampades]) und Feuer verbunden. Beides ist wiederum Zeichen der Gegenwart und Offenbarung Gottes.74 Beides führt uns wieder zum Bundesschluss am Sinai (Ex 19,16ff), zur Gottesschau Hesekiels (1,13ff; vgl. Dan 10,6), zum Gesicht Sacharjas (4,2) und überhaupt in die Welt des AT (vgl. Ps 103,4).75 Beeindruckend bleibt, wie eng Offenbarung und Heiliger Geist bzw. Wort und Geist miteinander verknüpft sind. Eine
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Jacob S. 546; Morris S. 88f; Aune S. 294. Jacob S. 546f; W. Foerster, Art. βροντή, ThWNT, I, 1933, S. 638. Zur Grammatik bei λαμπάδες … ἅ [lampades … ha] vgl. Blass-Debrunner § 132,3. Schon Vitringa S. 180f. Auch Brütsch S. 226; Morris S. 89; Hemer S. 142. Vitringa S. 181 liest aus der Zahl Sieben die sieben Epochen der Kirchengeschichte heraus. 74 Vgl. A. Oepke, Art. λάμπω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 26; F. Lang, Art. πῦρ usw., ThWNT, VI, 1959, S. 934ff; Jacob a.a.O. 75 Vgl. Oepke a.a.O.; Lang a.a.O. Bousset S. 248 will wieder von den „Planetengestirnen“ ableiten.
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Frage erhebt sich jedoch angesichts der Bemerkung vor dem Thron (ἐνώπιον [enopion] = [ ִלְפנ ֵיliphne])76. Haben wir darin eine Art Separation von Gott und Heiligem Geist zu erblicken? Oder eine betonte Subordination des Heiligen Geistes? Hier ist noch einmal daran zu erinnern, dass wir uns in der Welt der Bilder und Symbole bewegen. Das gebietet große Vorsicht bei der Deutung. Zu Offb 4,5 wird man so viel sagen dürfen: In der Bemerkung „vor dem Thron“ drückt sich die Eigenständigkeit des Heiligen Geistes aus, der eine eigene Person der Gottheit darstellt. Zugleich aber drückt sich hier die engste Gemeinschaft mit dem Thron, das heißt Gott dem Vater selbst, aus. Eine solche Deutung passt ausgezeichnet zu dem hebräischen [ ִלְפנ ֵיliphne]. Denn dieses hat oft die Bedeutung „für“, wobei allerdings eine subordinatianische Komponente mitschwingt.77 Im Brennen endlich setzt sich der überwältigende himmlische Lichtsglanz fort. Vers 6 berichtet von einer neuen Beobachtung: und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer, gleich einem Kristall. Das ὡς [hos] darf keineswegs weggelassen werden, wie es einige Handschriften tun.78 „Der Apok. sagt nicht: es war ein Meer, sondern: es war gleichsam (ὡς) ein Meer.“79 Es muss also eine unbeschreiblich große Ebene gewesen sein, die er vor dem Thron erblickte. Doch bleibt das Verständnis des gläsernen Meeres (θάλασσα ὑαλίνη [thalassa hyaline]) schwierig.80 So viel wird man von vornherein sagen dürfen: Wenn Johannes nicht von einem Meer im eigentlichen Sinne spricht, darf man auch nicht von einem „Himmelsozean“ oder analog Gen 1,7 von „Wasser über der Himmelsfeste“ sprechen.81 Es muss also ein anderer Zugang gesucht werden. Was schwingt für Menschen des Alten Testaments im Begriff des Meeres mit? Helmer Ringgren hat in seinem instruktiven Artikel über das Meer im ThWAT82 zunächst darauf hingewiesen, dass es oft „als eine Gott und der Welt feindliche Macht“ erscheint.83 Auffallenderweise fehlt die Andeutung einer solchen Feindschaft sowohl in Offb 4,6 als auch in Offb 15,284. Stattdessen wird in der Offb he76 77 78 79 80 81 82 83 84
Vgl. Blass-Debrunner § 214,6.7. Vgl. H. Simian-Yofre, Art. פִּנים ָ , ThWAT, VI, 1989, Sp. 651ff. 2053, al, syph, sa. Bousset S. 248. Vgl. Morris S. 89: Offb 4,6a „is not clear“; Caird S. 65. Gegen Bousset S. 249; den frühen Schlatter BFchTh S. 24. Wie wir Morris S. 89. Art. ים, ThWAT, III, 1982, Sp. 645ff. A.a.O. Sp. 654. Doch Caird S. 65 deutet gerade von der Feindschaft ausgehend: „the reservoir of evil out of which arises the monster“ (von Offb 13,1).
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rausgestellt, dass hier das „Meer“-Ähnliche für Gott da ist und ihm dient (ἐνώπιον τοῦ θρόνου [enopion tu thronu]) – so wie es auch bei einer Reihe von „Meeres“-Aussagen des AT der Fall ist.85 Ferner verbinden sich verschiedene Heilsereignisse mit dem Meer. Dabei nimmt die Befreiung Israels aus Ägypten und das Wunder am Schilfmeer eine herausragende Stellung ein.86 Weil die zweite Erwähnung des „gläsernen Meeres“ nun gerade mit dem Lied des Mose am Schilfmeer (Ex 15) zu tun hat, kommt diesem Aspekt auch für die Erklärung von Offb 4,6 eine wichtige Rolle zu. Als Drittes ist beim Meer zu bedenken, dass seine Weite und Tiefe im AT immer wieder Staunen erregt.87 Dagegen fehlt in Offb 4,6, was an das berühmte Brausen des Meeres88 denken ließe. Wir können vorläufig so zusammenfassen: Wenn Johannes etwas wie ein gläsernes Meer sieht, dann kommt in diesem Anblick die unermessliche Größe des Schöpfers und das staunenerregende Rettungshandeln des einzigartigen Gottes zum Ausdruck. Aber nun ist noch eine andere Seite zu bedenken. Johannes merkt ja an, wie gläsern das Meer sei. Überhaupt spielt das Glas eine gewisse Rolle in der Offb. ὕαλος [hyalos] bzw. ὑάλινος [hyalinos] kommt nur in der Offb vor (4,6; 15,2; 21,18.21). Nach D.J. Wiseman war es „bis zur Römerzeit ein seltener Luxus. Ihm wurde der gleiche Wert wie Gold beigemessen.“89 Vgl. Hiob 28,17. Solches Glas war „manchmal wie auf Hochglanz poliert“.90 Wenn der Vergleich des Johannes auf diese Aspekte zielt, dann verkörpert das, was er sah, höchsten Glanz und höchsten Wert.91 Eine dritte Seite kommt ins Spiel durch den Vergleich gleich einem Kristall (ὁμοία κρυστάλλῳ [homoia krystallo]). Es ist offen, ob κρύσταλλος [krystallos] mit „Bergkristall“ oder mit „Eis“ übersetzt werden muss.92 Doch beide Übersetzungen haben eines gemeinsam: Es handelt sich um einen „lichtdurchlässigen Stoff“.93 Angesichts des Umstandes, dass Glas in früheren Zeiten „wegen der Unreinheiten in den Grundstoffen nicht sehr durchsichtig“ war94, kommt der Durchsichtigkeit bzw. Lichtdurchlässigkeit in Offb 4,6 besondere Bedeutung zu. Bei Gott ist nicht nur alles glanzvoll und unerhört wertvoll, 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94
Ringgren a.a.O. Sp. 656. Helmgren a.a.O. Sp. 652. Helmgren a.a.O. Sp. 655. Helmgren a.a.O. Sp. 655f. Art. Glas, GBL, 1, S. 468. Wiseman a.a.O. Schlatter S. 181: „mit funkelndem Glanz“. Bauer-Aland Sp. 923; GBL, 1, S. 286. GBL a.a.O. Wiseman a.a.O.
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sondern auch alles durchsichtig. Wir erinnern uns an Jesu Worte in Joh 3,20f: „Wer Böses tut, der hasst das Licht … Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht.“ Seine Pläne werden uns in der Ewigkeit einmal alle offenliegen, aber auch alle Rätsel unseres Lebens werden einmal durchsichtig und offen vor uns liegen.95 Schließlich ist noch auf die Beziehung zu Ez 1,22 hinzuweisen.96 Auch Hesekiel beschreibt etwas ὡς ὅρασις κρυστάλλου [hos horasis krystallu]. Beide Propheten, Hesekiel wie Johannes, haben also den Eindruck von „Kristall“ im Himmel gewonnen. Bousset sah in Ex 24,10 die hauptsächliche Parallele und zog Ez 1,25f und ä Hen 14,9 als weitere Parallelen heran.97 Doch ä Hen 14,9 liegt zu weitab. Und sowohl bei Ez 1,25f als auch bei Ex 24,10 ist anzumerken, dass die Örtlichkeit oder Sphäre eine andere ist als in Offb 4,6. In Ex 24,10 handelt es sich um „etwas wie eine von Saphir gearbeitete Fliese“, eine Art „Fußboden“ des Thrones98, während Ez 1,25f den Saphir-Stein auf den Thron bezieht.99 Über den Eindruck des Glanzes und des Wertes der himmlischen Welt geht die Parallele nicht hinaus. Dasselbe gilt für andere von Bousset erwogene Parallelen wie Test Lev 2 oder slaw Hen 3,3 (letztes für ihn die nächste Parallele).100 Vollends ist Sure 27,44, soweit eine Parallelität besteht, abhängig von biblischen Traditionen. Ebenso wenig empfiehlt sich das eherne „Meer“ Salomos (1Kön 7,23ff) als Parallele101. Weder das Aussehen noch das Material noch der Zweck lassen sich mit Offb 4,6 vergleichen. V. 6b bringt eine neue Thematik, nämlich die vier Wesen: Und in der Mitte des Thrones und rings um den Thron waren vier Wesen, voller Augen vorn und hinten. Trotz der Kürze dieses Satzes enthält er mehrere Probleme. Zunächst wird man das Und beachten müssen. Offenbar will Johannes die vier Wesen in das Gesamtbild des Thrones einbeziehen. Demnach gehören die vier 95 Dass dasjenige, was einem gläsernen Meer glich, „the transcendence of God“ repräsentiert, wie Aune S. 314 meint, ist zu wenig begründet. Eher leuchtet Bengels Deutung auf den Heiligen Geist ein (S. 304f) oder Hartensteins Deutung auf das Völkermeer (S. 86f). 96 Vgl. Schlatter BFchTh S. 24. 97 S. 248. 98 So Jacob S. 750. Behm S. 32 spricht vom „Estrich des Thronsaales“. Richtig aber Schlatter S. 181: „Nicht wie ein Palast“. 99 Vgl. meinen Kommentar „Der Prophet Hesekiel“, 1. Teil, WStB, 1998, S. 64. 100 S. 248f. C. Böttrich zu slaw Hen 3,3: „Etwas anderes“, JSHRZ, V, Lieferung 7, 1996, S. 840. Wie Bousset auch Behm S. 32. 101 Vgl. Brütsch S. 227. Für diese Parallele z.B. Lang a.a.O. S. 947. Dagegen Morris und schon Bengel S. 304.
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in den engsten Umkreis Gottes und dürfen Gott gegenüber nicht verselbstständigt werden.102 Ein erstes Problem steckt dann in der Angabe in der Mitte des Thrones und rings um den Thron. Auch Bousset notiert: Diese Stelle „bereitet große Schwierigkeiten“.103 Bousset entscheidet sich für die „Erklärung, dass die Tiere sich in der Mitte je einer Seite (des Thrones) befunden hätten … so dass an jeder Seite je eines herausschaut“.104 Aber es ist schwierig, einen solchen detaillierten Thronsitz im Text wiederzufinden.105 Nicht viel weiter führt der Vergleich mit einem Amphitheater, den Beckwith und andere zur Erklärung heranziehen.106 Einleuchtender sind die Vorschläge von Zahn und Morris. Zahn deutet das ἐν μέσῳ τοῦ θρόνου [en meso tu thronu] als „in halber Höhe des Thrones Gottes“. Er versteht das κύκλῳ τοῦ θρόνου [kyklo tu thronu] dann so, „dass sie allein die sichtbare Vorderseite des Thrones im Halbkreis umgeben“.107 Ein solches Arrangement würde es ermöglichen, dass Johannes alle vier sehen und beschreiben kann. Morris hingegen verzichtet auf den Versuch, den Standort real zu beschreiben, und deutet das in der Mitte und rings um den Thron geistlich: Es drücke die Nähe zu Gott aus, evtl. auch den Ehrenplatz und die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes.108 Nichts hindert uns, die Vorschläge von Zahn und Morris miteinander zu verbinden. Morris hat sicherlich eine geistliche Komponente im Sinne der Schau des Johannes richtig getroffen. Man wird aber auch an der Frage nicht ganz vorbeikommen, was denn Johannes nun gesehen hat. Doch ist hier eine definitive Antwort nicht möglich.109 Das zweite Problem steckt in dem Begriff der vier Wesen (τέσσαρα ζῷα [tessara zoa]110). Eines allerdings kann man sofort sagen: Die Übersetzung „Tier“ ist falsch.111 Das hält sogar Rudolf Bultmann fest, der „im üblichen Sprachgebrauch“ ζῷον [zoon] „meist“ für Tier gebraucht findet.112 Lohse hat 102 103 104 105 106 107 108 109
Ähnlich Zahn S. 325. S. 249. A.a.O. Auch Zahn S. 325 ablehnend. Vgl. dazu Aune S. 297. S. 325. Aber schon Bengel S. 305: evtl. „die Mitte der Höhe des Throns“. S. 90. Vgl. auch Vitringa S. 186: „in der Mitte“ = in der Mitte des Thron-Areals, und „im Halbkreis“. 110 Zur Form τέσσαρα [tessara] vgl. Blass-Debrunner § 29,1f. 111 Von „Tieren“ spricht z.B. Bousset S. 249; Schlatter S. 181ff. Aber auch Aunes Übersetzung „cherubim“ (S. 269ff) ist übereilt und nicht angemessen. Vgl. schon Bengel S. 305. 112 Art. ζάω usw., E., ThWNT, II, 1935, S. 875.
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hier recht: „‚Tiere‘ werden nur die gottfeindlichen Mächte in der Offb. genannt“ (Offb 11,7; 13,1ff).113 Die „Wesen“ aber gleichen den Cherubim von Ez 1,5ff.114 Überdies ist eine Parallele zu den Serafim von Jes 6,2f gegeben.115 Es handelt sich also um Engelwesen. Allerdings darf man ihre Besonderheit nicht übersehen. Normalerweise bezeichnet Johannes die Engel ja als ἄγγελοι [anggeloi] (5,2.11 usw.). Mit dem Begriff ζῷα [zoa] hebt er offensichtlich auf die einzigartige Stellung ab. Nur diese Vier bilden einen so engen Kreis um den Thron. Die Zahl „Vier“ stimmt wieder mit den „vier Lebewesen“ von Ez 1,5 überein, die „wie Menschen aussahen“. Und wie in Ez 1,5ff ist „Vier“ die Zahl der gesamten Menschheit und der gesamten Schöpfung. In seiner nüchternen und hilfreichen Untersuchung über τέσσαρες [tessares] usw. im ThWNT116 hat Horst Balz die „Totalität und Universalität“ betont, die die Vier-Zahl im AT und NT ausdrückt.117 Das lässt sich gerade auch für Offb 4,6 bestätigen, wo die vier Wesen im Dienste des allmächtigen, alles regierenden Gottes stehen.118 Ein drittes Problem stellt sich mit der Frage: Wie haben wir uns das voller Augen vorn und hinten (γέμοντα ὀφθαλμῶν ἔμπροσθεν καὶ ὄπισθεν [gemonta ophthalmon emprosthen kai opisthen]) vorzustellen?119 Zunächst liegt auch hier ein Bezug zu Ez 1,18 auf der Hand.120 Aber dort sind es die „Felgen“ der „Räder“, die „ringsum voller Augen“ waren. Jetzt hingegen sind es die Wesen selbst, die voller Augen sind. Deshalb ist Ez 10,12 die engere Parallele. Dabei bleibt zu beachten, dass im ganzen Halbvers Offb 4,6b kein einziges ὡς [hos] auftaucht! Es gehen vielmehr auch hier eine reale und eine geistliche Seite ineinander über. Wenn es stimmt, dass im biblischen Zusammenhang die Augen „vornehmster Mittler der Beziehung“ sind121, dann müssen wir die Augen auch in Offb 4,6 als Ausdruck höchster und konzentriertester Kommunikation betrachten: einmal zwischen Gott und den Wesen, sodann aber auch zwischen den Wesen und der Schöpfung bzw. der Menschheit. Schlatter122 ist darin recht zu geben, dass sie „die Natur“ vor Gottes Thron vertreten. Aber nicht 113 S. 39. 114 Schlatter BFchTh S. 18; auch Bousset a.a.O.; Bultmann a.a.O. Morris S. 90 warnt jedoch mit Recht vor einer zu schnellen Identifizierung. In der Tat gibt es Unterschiede. 115 Schlatter a.a.O.; Bousset S. 250; Lohse a.a.O. 116 VIII, 1969, S. 127ff. 117 A.a.O. S. 131. 118 Schon die alten Ausleger boten eine verwirrende Fülle von Erklärungen an, vgl. Vitringa S. 186ff. 119 Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 214,3; 215,1. 120 Vgl. Lohse a.a.O. 121 So W. Michaelis, Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, S. 376. 122 Schlatter S. 181ff; dagegen Zahn S. 326.
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nur die Natur! Sondern eben auch die Menschheit im Ganzen, während die Gemeinde bzw. das Gottesvolk ihre spezielle Repräsentation in den 24 Ältesten besitzen. Andererseits werden die Augen in Sach 3,9; 4,10 und Offb 5,6 mit Gott und seinem Heiligen Geist verbunden. Von dieser Beziehung kann man auch in Offb 4,6 nicht absehen. Es handelt sich also um geisterfüllte und geistgeleitete Wesen. Niemand versteht sich besser auf die Kommunikation als der Heilige Geist. Er ist die Fähigkeit Gottes, alles zu sehen und alles zu wissen.123 Die Thematik der vier Wesen spannt sich weiter bis V. 8. V. 7 versucht, sie zunächst genauer zu beschreiben. Das geschieht nicht allgemein, sondern durch Erfassung ihrer Individualität. Und das erste Wesen war gleich einem Löwen (ὅμοιον λέοντε [homoion leonte]): Dreimal taucht in V. 7 das ὅμοιον [homoion] auf. Wieder halten wir fest: Johannes schildert keinen Löwen! Sondern er stellt nur einen Vergleich mit einem Löwen an. Warum? Weil der Löwe als mächtigstes oder als vornehmstes Tier der Schöpfung galt, jedenfalls in jüdischer Tradition?124 Diese Deutung bleibt möglich. Dass „In der Apk … durch Vermittlung des AT alte (astral-)mythologische Vorstellungen“ nachwirken sollen, wie Bousset und Michaelis125 meinen, ist dagegen eine unnötige und unbewiesene Annahme. Ebenso wenig hilft der Verweis auf löwenköpfige Götter und Statuen (Leontocephalinen), die es tatsächlich in Menge im Alten Orient gab.126 Denn wie sollte Johannes die Gott am nächsten stehenden Engel mit solchen fremdreligiösen Erscheinungen „erklären“ wollen? Viel näher liegt eine Ähnlichkeit der Beobachtung mit Ez 1,10; 10,14; 41,19 (nicht Dan 7,4). Wir gehen also davon aus, dass Johannes nicht nur von Hesekiel abhängig ist, sondern aus eigener prophetischer Erfahrung schöpft. Dann aber liegt es nahe anzunehmen, dass sich hier beim ersten Wesen eine Eigenart der Schöpfung wiederfindet, die es ja repräsentiert. Das kann sogar doppelt zutreffen: Der Löwe steht für die wilden Tiere, und er steht zugleich für Macht und Kraft.127 Weil dies alles aber dem Schöpfer verdankt wird, kommt hier zugleich dessen Schöpfermacht zum Ausdruck.
123 Die Parallelen aus den Religionen des Orients, die Aune S. 297f zusammenstellt, geben nur so viel her, dass sie eine Deutung der Augen auf Allwissenheit unterstützen können. 124 Vgl. dazu Morris S. 91 und Gen 49,9; Num 23,24; 24,9; 2Sam 1,23; Ps 104,21; Jes 38,13; Hos 5,14; Am 3,8; Mi 5,7; 2 Tim 4,17; 1Petr 5,8. 125 Bousset S. 252; W. Michaelis, Art. λέων, ThWNT, IV, 1942, S. 257f. 126 Gegen Aune S. 298ff. 127 Zahn S. 326 hebt auf „die aggressive Kraft des Löwen“ ab.
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Die Frage erhebt sich: Warum nennt Johannes ausgerechnet dieses löwenhafte Wesen das erste Wesen (τὸ ζῷον τὸ πρῶτον [to zoon to proton])? Man kann die Frage nicht beantworten, ohne mit Morris die tatsächlich vorhandenen Unterschiede zu Hesekiel (Kap. 1 und 10) in Betracht zu ziehen: 1) bei Hesekiel hat jedes Wesen ein löwenähnliches Gesicht, bei Johannes ist die Löwenähnlichkeit auf ein Wesen beschränkt, 2) bei Hesekiel geht es nur um die Gesichter, bei Johannes um die ganzen Wesen (vgl. Ez 1,10; 10,14), 3) bei Hesekiel hat jedes Wesen vier Gesichter, bei Johannes fehlt eine solche Aussage, 4) bei Hesekiel haben die Wesen vier Flügel, bei Johannes sechs (V. 8), 5) bei Hesekiel werden die Wesen mit Cherubim identifiziert (10,15), bei Johannes nicht, 6) bei Hesekiel werden die Wesen mit „Rädern“ verbunden (1,15ff; 10,9ff), bei Johannes nicht, 7) bei Hesekiel steht der Löwenvergleich an zweiter (1,10) oder dritter (10,14) Stelle, bei Johannes an erster.128 Angesichts dieser Unterschiede können wir die Wesen der Offb nicht mit den Cherubim von Ez 1 und 10 identifizieren. Sicher gibt es starke Ähnlichkeiten zwischen Offb 4,6ff einerseits und Ez 1 und 10 andererseits. Aber sie reichen eben nicht aus für eine glatte Identifikation. Ist es so, dann besteht auch kein Widerspruch in den Positionen der jeweiligen Wesen = Engel. Was Johannes als das erste Wesen bezeichnet, war vermutlich dasjenige, das er vorne, ihm am nächsten platziert, wahrnahm. Wir verstehen also πρῶτον [proton] nicht im Sinn einer Rangfolge, sondern im Sinn einer Reihenfolge.129 Und das zweite Wesen gleich einem Stier (ὅμοιον μόσχῳ [homoion moscho]): Wieder geht es um eine Reihenfolge, nicht eine Rangfolge. Und wieder wird das zweite Wesen als Ganzes verglichen, diesmal mit einem Stier. μόσχος [moschos] kann hier nicht mit „Kalb“, sondern muss mit „(junger) Stier“ übersetzt werden, wie schon die Parallele in Ez 1,10 zeigt.130 Auch hier vermuten wir eine Repräsentanz der Schöpfung: sowohl im Sinne einer Repräsentanz der Haus- und Opfertiere als auch im Sinne einer Repräsentanz von Kraft und Majestät.131 Erneut kommt darin zugleich die Schöpfermacht Gottes zum Ausdruck.
128 Vgl. Morris S. 90 sowie meinen Kommentar zu Hesekiel an den betreffenden Stellen. Aber auch Otto Michel hob die Unterschiede hervor (Art. μόσχος, ThWNT, IV, 1942, S. 767ff). 129 Vgl. W. Michaelis, Art. πρῶτος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 866ff. 130 Vgl. Michel a.a.O. 131 Zahn S. 326 „die Tragkraft und Zugkraft des Stieres“, was Michel a.a.O. S. 768 aufnimmt.
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Und das dritte Wesen hatte ein Antlitz wie ein Mensch (καὶ τὸ τρίτον ζῷον ἔχων132 τὸ πρόσωπον ὡς ἀνθρώπου [kai to triton zoon echon to prosopon hos anthropu]): Als Drittes nimmt Johannes ein Wesen wahr, bei dem er den bisherigen Rederhythmus unterbricht. Er hätte sonst schreiben müssen: „und das dritte Wesen gleich einem Menschen“. Dass er das nicht tut, zeigt, dass er sich hier auf das Antlitz, das Gesicht, konzentrierte. Und daraus geht wieder hervor, dass ihm das dritte Wesen besonders auffiel. Übrigens hätte er dann, wenn er eine Rangfolge beabsichtigt hätte, mit diesem besonders auffallenden Wesen beginnen müssen. Das Antlitz wie ein Mensch erinnert uns wieder an Ez 1,10; 10,14. Es erinnert uns ferner an die Menschen-Ähnlichkeit der Engel.133 Dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist, geht aus diesem Sonderfall von Offb 4,7 deutlich hervor. Wir sind ja im Bereich derjenigen Wesen, die die gesamte Schöpfung und Menschheit repräsentieren. Dieses dritte Wesen also repräsentiert die Menschheit als Teil, und zwar wichtigsten Teil, der Schöpfung.134 Und das vierte Wesen war gleich einem fliegenden Adler: Damit kehren wir zur Art der Beschreibung des ersten und zweiten Wesens zurück. Auch der Adler (ἀετός [aetos]) findet sich in Ez 1,10 und 10,14. An dieser Stelle ist die Parallelität zu Hesekiel sogar enger, weil der Adler auch dort stets auf Platz 4 steht. Der „Adler“ ist ein Bild der Schnelligkeit (Hiob 9,26; Offb 12,14) und der Macht (Ez 17,3.7; Dan 7,4)135. Hier in Offb 4,7 wird er ergänzt durch das adjektivische Partizip fliegend (πετομένῳ [petomeno]). Vermutlich soll dieses Partizip seine Zugehörigkeit zu den fliegenden Lebewesen der Schöpfung, den Vögeln von Gen 1,20ff unterstreichen. Das vierte Wesen würde dann analog zu Ez 1,10136 die Vögel repräsentieren, zugleich aber wieder Macht und Herrlichkeit des Schöpfers.137 Der achte Vers setzt in der ersten Hälfte die Beschreibung der vier Wesen fort: Und jedes der vier Wesen hatte je sechs Flügel. Johannes betont noch einmal die Vier-Zahl der „Wesen“. Sechs Flügel besitzen sie im Unterschied zu den Wesen von Ez 1,6, die nur vier Flügel haben. Dagegen bemerkt Jesaja 132 Vielleicht constructio ad sensum. Variante: ἔχον [echon]. 133 Vgl. dazu G. v. Rad im Art. ἄγγελος usw., ThWNT, I, 1933, S. 78f. 134 Zahn S. 326 findet hier „Die Intelligenz des Menschen“ repräsentiert (zustimmend Michel a.a.O. S. 768). Doch ist die Einschränkung auf die „Intelligenz“ nicht zu begründen. 135 Vgl. Bauer-Aland Sp. 36. 136 Vgl. meinen Kommentar S. 58. 137 Vgl. wieder Zahn a.a.O.; Michel a.a.O. Aune S. 300f nimmt Bezug auf die Darstellungen von Adlern mit ausgebreiteten Schwingen in heidnischen und jüdischen Kunstwerken.
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bei den Serafim ebenfalls sechs Flügel (6,2), steht also an diesem Punkt näher bei Offb 4,8. Schlatter kam deshalb zu der Meinung, die Wesen würden in Offb 4,8 „als Serafim aufgefasst“,138 während Aune ζῷα [zoa] mit „Cherubim“ übersetzt.139 In Wirklichkeit sind beide Identifikationen vorschnell. Wir sollten bei der Terminologie der Offb, also Wesen, bleiben, und diesen Wesen ihre Besonderheit lassen. Die Sechszahl der Flügel zeigt: „Sie dienen Gott als seine raschen Boten.“140 Die folgende Angabe: ringsherum und innen waren sie voller Augen141 ist in ihrer Zuordnung unklar142. Sind es die Flügel, die so voller Augen sind? 143 Oder die ganzen Wesen?144 Wir neigen zu der Deutung auf die Flügel, obwohl andere Ausleger eher die zweite Deutung bevorzugen. Für unsere Deutung sprechen drei Gründe: 1) sagt schon V. 6, dass die Wesen voller Augen sind, 2) steht dort die Angabe „vorn und hinten“, während es jetzt heißt: ringsherum und innen,145 3) ergibt die Angabe innen (= innerhalb des Leibes?) bei den ganzen Wesen weniger Sinn als bei den Flügeln, die sich ja beim Flug ausbreiten und deren „Innen“-Seite dann nach unten schaut.146 Zu den Augen vgl. die Erklärung bei 4,6. Sie gilt für beide Möglichkeiten der Deutung.147 Exkurs zu den „Wesen“, den „Cherubim“ und den „Serafim“ Die Parallelität von Offb 4,6-8 zu Ez 1; 10 und Jes 6,1ff wirkt verwirrend. Wie schon oben bemerkt verführt diese Parallelität dazu, die Wesen von Offb vorschnell mit den Cherubim von Ez 1; 10 (so z.B. Aune) oder mit den Serafim von Jes 6 (so z.B. Schlatter) zu identifizieren. Die Unterschiede zwischen Offb 4 und Ez 1 bzw. 10 haben wir schon bei der Erklärung von Offb 4,7 aufgelistet. Nun gilt es, noch die Unterschiede zwischen Offb 4 und Jes 6 zu notieren: 1) Jesaja spricht ausdrücklich von „Serafim“ (V. 2), Johannes jedoch von „Wesen“, 2) die Serafim „standen über ihm“, dem 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147
BFchTh S. 18. Aune S. 269ff. Schlatter S. 182. Zur Übersetzung vgl. Bauer-Aland Sp. 636. Vgl. Aune S. 301; Bousset S. 250. So z.B. Zahn S. 326; Hartenstein S. 88. γέμουσιν [gemusin] könnte aber auch constructio ad sensum sein. So die meisten, z.B. Lutherbibel; Revidierte Elberfelder Bibel; Schlatter a.a.O.; Morris S. 91; Aune S. 269; Bengel S. 309; Vitringa S. 185. Aune a.a.O. hält seltsamerweise beides für identisch. Vitringa a.a.O. löst das Problem so, dass er „innen“ auf die von den Flügeln bedeckte Leibesoberfläche bezieht. Bousset bleibt ganz seiner „babylonischen“ Erklärung verhaftet, wenn er die Augen als „Sterne“ erklärt (S. 251).
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Thron bzw. Gott (מַּעל לוֹ ַ [ ִמmimmaal lo]), die Wesen aber „in der Mitte des Thrones und rings um den Thron“, 3) Jesaja nennt keine Zahl, Johannes dagegen begrenzt die Wesen auf vier, 4) bei Jesaja dient ein Teil der Flügel zur Bedeckung des Angesichts und der Füße, bei Johannes fehlt eine solche Angabe. Angesichts dieser Unterschiede wird man der Tendenz zur Identifikation widerstehen müssen. Hinzu kommen Gründe aus der Berücksichtung des gesamtbiblischen Kontextes. Die Bearbeiter des ἄγγελος[anggelos]-Artikels im ThWNT148 (W. Grundmann, G. von Rad, G. Kittel) waren weise genug, vor Systematisierungen zu warnen. Gerhard von Rad bemerkt ausdrücklich: „Man muss sich hüten, Zusammenhänge zu konstruieren, wo noch kein Bedürfnis zu systematisieren vorlag.“149 In der Tat weist weder das Alte noch das Neue Testament eine durchgebildete Angelologie (Engellehre) auf. Nach Dan 7,10 stehen „Zehntausend mal Zehntausende“ von Engeln vor Gottes Thron.150 Im NT werden die Engelaussagen völlig von der Dominanz der Christusbotschaft überformt.151 G. Kittel kann im Blick auf die Evangelienüberlieferung sagen: „Jede Vielzahl von Engelindividualitäten, jedes von Gott abziehende angelologische Interesse fehlt in diesen Berichten.“152 Zumindest die Dominanz des Christusbildes wird man auch dem Johannes der Offb einräumen müssen. Demnach ist es nicht ratsam, die Wesen von Offb 4 in den Cherubim oder Serafim aufgehen zu lassen. Bei allen zum Teil überraschenden Parallelen sollte man vielmehr diese „Wesen“ als etwas Eigenständiges, als etwas Besonderes betrachten. Wie sonst vielleicht nur noch der „Engel Jahwes“153 sind sie in einzigartiger Weise Verkörperungen des Gotteswillens154.
In der zweiten Hälfte von V. 8 erfolgt der Übergang zur Doxologie, die die Verse 8b-11 umfasst. Und sie sagen unaufhörlich Tag und Nacht: Heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt: Ein tief eindrückliches Bild. Auffallend ist das Präsens (wörtlich: sie haben, sie sagen). Offenbar will Johannes die Ewigkeit ausdrücken. Unaufhörlich (ἀνάπαυσιν οὐκ ἔχουσιν [anapausin uk echusin]) bedeutet in unserem Kontext: Sie preisen Gott „ohne Unterbrechung“.155 Die Übersetzung „sie 148 149 150 151 152 153 154
ThWNT, I, 1933, S. 72ff. A.a.O. S. 77. Vgl. wieder v. Rad a.a.O. S. 78. Vgl. Kittel a.a.O. S. 82ff. A.a.O. S. 83. Vgl. dazu v. Rad a.a.O. S. 75f. Eine Idee zu hoch greift Schlatter in BFchTh S. 18, wenn er die Wesen an der Regierung Gottes beteiligt sein lässt. 155 O. Bauernfeind, Art. ἀναπαύω usw., ThWNT, I, 1933, S. 353.
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haben keine Ruhe“156 ist unbefriedigend. Denn es geht nicht um das Thema „Ruhe“, sondern um den unaufhörlichen Lobpreis, der sich durchaus mit der eschatologischen „Ruhe“ vertragen kann. Tag und Nacht darf nicht nach unserer irdischen Zeitrechnung interpretiert werden. Denn in der Ewigkeit gibt es diese Zeit nicht (vgl. Offb 10,6). „Tag und Nacht“ bedeutet hier: „fortwährend“.157 Was Johannes vom Inhalt des Lobpreises der vier Wesen notiert, ist zunächst das sog. Trishagion, das dreimalige Heilig, heilig, heilig. Wir treffen das Trishagion bei Jesaja (6,3). Heiligkeit ist eine der hervorstechendsten Eigenschaften Gottes.158 Die Auslegung kann nur unvollständig beschreiben, was damit gemeint ist, weil wir hier das Geheimnis Gottes berühren. „Heiligkeit Gottes“ umschließt jedoch auf jeden Fall zwei Komponenten: den unendlichen Abstand, ja die völlige Feindschaft Gottes gegenüber allem Bösen, und seine unendliche Erhabenheit.159 Setzt man das Heilig (ἅγιος [hagios], ָקדוֹשׁ [qadosch]) wie in Jes 6,3 und Offb 4,8 dreifach, dann drückt man damit aus, dass Gott „heilig gewissermaßen in dritter Potenz ist“.160 Vier Gottesbezeichnungen erscheinen hier: 1) Herr (κύριος [kyrios] steht vor θεός [theos]), 2) Gott (θεός [theos]), 3) Allmächtiger (παντοκράτωρ [pantokrator]), 4) der da war und der da ist und der da kommt. Wer Gott preist, stößt auf eine Fülle von Namen der Liebe und der Anbetung. Herr, κύριος [kyrios], steht hier ohne Artikel, sodass es mit Gott zusammengestellt werden muss, wie wir es in unserer Übersetzung getan haben: Gott der Herr. κύριος [kyrios] ist in der griechischen Bibel „in der Regel“ Übersetzung des alttestamentlichen Gottesnamens „Jahwe“.161 So werden wir das κύριος [kyrios] auch hier aufzufassen haben. ὁ θεός [ho theos], Gott, geht in der griechischen Bibel (LXX) mit wenigen Ausnahmen auf „Elohim“ oder „El“ zurück.162 Dieses Elohim oder El entspricht dem gemeinsemitischen Sprachgebrauch. Es ist die Bezeichnung „einer Gattung ‚Gott‘“,163 ist also kein Name, sondern ein Appellativum. κύριος ὁ θεός [kyrios ho theos] gibt demnach das alttestamentliche „Jahwe Elohim“ wieder. Auch an dieser Stelle wird die Einheit von AT und NT sichtbar. ὁ παντοκράτωρ [ho pantokrator], der 156 Lutherbibel; auch Schlatter S. 181. 157 Bauer-Aland Sp. 1105f; vgl. G. Delling, Art. νύξ, ThWNT, IV, 1942, S. 1118; Aune S. 302. 158 Vgl. dazu O. Procksch, Art. ἅγιος usw., ThWNT, I, 1933, S. 88ff. 159 O. Procksch erklärt a.a.O. S. 88 das hebräische קדוֹשׁ ָ [qadosch] (heilig) als „scheiden“, als „Reinheit“, und als „Energie“. Vgl. Morris S. 91. 160 So Proksch a.a.O. S. 93. Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 493,2. 161 Vgl. G. Quell im Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, S. 1056. 162 Vgl. G. Quell im Artikel θεός usw., ThWNT, III, 1938, S. 79.91. 163 Quell a.a.O. S. 81.
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Allmächtige, ist ebenfalls im AT verwurzelt. Die griechische Bibel nimmt diese Gottesbezeichnung „sehr häufig“,164 um das hebräische „Zebaoth“ oder „Schaddaj“ zu übersetzen. Wichtig ist bei dieser Bezeichnung, dass sie Gottes unvergleichliche Überlegenheit aussagt, „dass er Macht über alles bzw. alle hat“.165 Zur letzten Bezeichnung der da war und der da ist und der da kommt vgl. die Erklärung bei Offb 1,4. Auch sie geht auf das AT zurück, nämlich auf die Vorstellung Gottes am Dornbusch nach Ex 3,14, in der Gott selbst sprach. Allerdings ist die Reihenfolge in Offb 4,8 anders als in 1,4: statt „der da ist und der da war“ heißt es jetzt der da war und der da ist. Damit wird der Ablauf der Zeiten, der ja für die Offb wichtig ist, stärker betont. Gott als der Ewige beherrscht und bestimmt die Zeiten, ist aber selbst keiner Zeit unterworfen. Diesem unvergleichlich großen und wunderbaren Gott gilt also der ewige Lobpreis der vier Wesen. Er wird über alles Böse triumphieren! Und wenn die Wesen Preis und Ehre und Dank geben dem, der auf dem Thron sitzt, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit (V. 9): Damit treten wir in den Vollzug der himmlischen Liturgie ein. Die grammatische Form des ὅταν [hotan] mit Futur drückt aus, dass Johannes dies für die Zukunft in häufiger Wiederkehr erwartet.166 Zahn hat versucht, das Geschehen in menschliche Zeitkategorien einzuordnen, und bemerkte, es könne nicht gemeint sein, dass diese Liturgie „ohne jede Unterbrechung fortlaufe“.167 Seine Auslegung betrifft natürlich auch V. 8 mit der Aussage „unaufhörlich“.168 Wahr ist, dass wir Menschen uns solche Vorgänge nur im Rahmen eines Zeitablaufes vorstellen können und dass wir deshalb auch die Verse 8-11 unwillkürlich zeitlich ordnen. Unter unseren menschlichen Voraussetzungen bleibt das „Unaufhörlich“ von V. 8 deshalb stets ein Anstoß und in Spannung mit dem Ablauf von V. 9f. Aber es ist eben doch die Frage, ob man an ein ewiges Geschehen, wie es in Offb 4,8-11 geschildert wird, mit solchen menschlichen Kategorien herantreten darf.169 Vermutlich beinhaltet Preis und Ehre und Dank mehr als das Trishagion von V. 8170. δόξα [doxa], hebr. [ ָכּבוֹדkavod], bedeutet hier „Ehre, Macht, MaSo W. Michaelis, Art. κράτος usw., ThWNT, III, 1938, S. 914. So Michaelis a.a.O. Vgl. Blass-Debrunner § 318.348.382. S. 327. Zahn S. 326f. Richtig Morris S. 91: „Only pedantic literalness will find a contradiction with the preceding verse.“ 170 Morris S. 92: „In heaven a variety of songs is sung.“ Vgl. Aune S. 307.
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jestät“.171 Unser deutsches Wort Preis vereinigt dies alles nur unvollkommen. Wichtig ist die Beobachtung von Gerhard Kittel, dass in der Bibel der lobpreisende Mensch Gott nicht etwas zuteilt, was vorher nicht vorhanden wäre, sondern bejahend anerkennt, was Gott schon zuvor zukommt.172 Der Sinn der Worte sie geben Preis ist also: Sie anerkennen und rühmen, dass Gott Ehre und Macht und Majestät besitzt. Entsprechend gilt für Ehre und Dank. Ehre, τιμή [time], hebr. ebenfalls z. T. auf [ ָכּבוֹדkavod], z.T. auf andere Begriffe zurückgehend, drückt einerseits etwas aus, was schon in δόξα [doxa] („Preis“) enthalten war173. Andererseits bezeichnet es den Wert und die Wertschätzung.174 Es führt die δόξα [doxa] sozusagen weiter zu dem Wert, der sich aus ihr ergibt. Biblische und jüdische Tradition stellen δόξα [doxa] und τιμή [time] oft eng zusammen.175 Die Offb verfährt ebenso und macht dadurch erneut deutlich, dass sie ganz in den biblischen Zusammenhang gehört.176 Dank, εὐχαριστία [eucharistia], weist gegenüber δόξα [doxa] und τιμή [time] eine größere Selbstständigkeit auf. Ein direktes hebräisches Äquivalent ist nicht zu finden, wohl aber steht im biblischen Hintergrund die häufige Praxis des „Dankes“ und „Segnens“ Gott gegenüber.177 Hier in Offb 4,9 ist vermutlich der Dank für Gottes Wirken und Wohltaten in der Schöpfung und in der Geschichte gemeint. Dargebracht wird dies alles dem, der auf dem Thron sitzt. Das ist Gott. Vgl. die Erklärung bei 4,2. Das Partizip ὁ καθήμενος [ho kathemenos] zeigt an, dass er den Thron auf ewig innehat. Johannes fügt hinzu: der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit (τῷ ζῶντι εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων [to zonti eis tus aionas ton aionon]). Er liebt diese Redewendung (1,18: 4,9f; 10,6; 15,7). Sie unterstreicht, dass Gott der ewig Wirkende ist, ohne Anfang und ohne Ende. Hermann Sasse hat die „Steigerung des Ewigkeitsbegriffes“178 betont, die in der Formel εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων [eis tus aionas ton aionon] liegt. Wenn wir also jetzt in den Vollzug der himmlischen Liturgie eintreten, dann müssen wir uns vor Augen halten, dass die Offb die „am meisten ausgebilde-
171 Vgl. G. Kittel / G. v. Rad, Art. δοκέω usw., ThWNT, II, 1935, S. 235ff. 172 A.a.O. S. 251. 173 Vgl. Johannes Schneider, Art. τιμή usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 176: „die τιμή im Sinne der Ehrenstellung macht nur einen Teil der δόξα aus“. 174 Vgl. J. Schneider a.a.O. S. 170ff; Bauer-Aland Sp. 1629f. 175 Vgl. wieder J. Schneider a.a.O. S. 175ff. 176 Vgl. J. Schneider a.a.O. S. 179. 177 Vgl. H. Conzelmann zu εὐχαριστέω usw. im ThWNT, IX, 1973, S. 397ff. 178 Art. αἰών usw., ThWNT, I, 1933, S. 199.
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ten Doxologien“179 enthält. Sie ist ausgesprochen liturgisch. Dabei geht es nicht nur um ein „Gegenstück zu der Ehrung des Caesar im Herrscherkult“.180 Es geht auch um ein „Gegenstück“ zu allen paganen (heidnischen) Kulten. Ein Heidnischwerden des Christentums wurde nicht zuletzt durch die Liturgie abgewehrt. Deshalb bleibt der Hinweis von Johannes Schneider wertvoll: „Alle diese Lobpreisungen haben natürlich auch im Kultus der irdischen Gemeinde ihren Ort gehabt.“181 V. 10 schildert, wie die 24 Ältesten den Lobpreis der Wesen aufnehmen und darin einstimmen: … fallen die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem, der auf dem Thron sitzt, und beten den an, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und legen ihre Kronen nieder vor dem Thron und sagen: Die Futurformen πεσοῦνται [pesuntai], προσκυνήσουσιν [proskynesusin], βαλοῦσιν [balusin] entsprechen dem Futur in V. 9 und sind deshalb als Ausdruck dessen, was fortan und in alle Ewigkeit geschieht, präsentisch zu übersetzen.182 πίπτω [pipto] und προσκυνέω [proskyneo] sind im NT „häufig … verbunden“, vor allem in der Offb.183 Es handelt sich um ein freiwilliges, jubelndes Niederfallen, um den Gott anzubeten, dem es gebührt. Gott wird wie in V. 9 doppelt bezeichnet als der, der auf dem Thron sitzt, und der, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Schon die Vielzahl der wörtlichen Übereinstimmungen in V. 9 und V. 10 (ὁ καθήμενος ἐπὶ τοῦ θρόνου [ho kathemenos epi tu thronu] bzw. τῷ θρόνῳ, ὁ ζῶν εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων [to throno, ho zon eis tus aionas ton aionon]) lehrt, dass die Wesen und die Ältesten in vollkommener Einheit handeln. Rivalität hat in der himmlischen Welt nichts zu suchen. Warum aber beginnen die Wesen mit der Anbetung? Vermutlich deshalb, weil die Anbetung sich von innen nach außen ausbreitet und die Wesen näher am Thron sind (ἐν μέσῳ τοῦ θρόνου [en meso tu thronu], V. 6). Doch vollzieht sich die Anbetung der Ältesten nicht als Nachahmung der Wesen, sondern in eigenen Formen, die ihre Bedeutung haben. Sie fallen nieder, was die Wesen nicht tun. Und sie legen ihre Kronen nieder vor dem Thron, wogegen die Wesen keine Kronen haben. Als Repräsentanten des Gottesvolkes, der erlösten Menschheit, wollen sie das, was sie der Gnade Gottes verdanken (ihre „Kronen“), voll Dank und voll Anbetung in seine Hände zurücklegen. Der Vergleichspunkt ist also nicht der Besiegte, dessen Krone in den Staub sinkt, sondern der Dankerfüllte, der voller Freude sein Geschenk wieder 179 180 181 182 183
Vgl. dazu Joh. Schneider a.a.O. So Schneider a.a.O. A.a.O. Vgl. Blass-Debrunner § 77.318.348. W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 163f.
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zurückschenken möchte.184 Möglicherweise drückt βάλλειν [ballein] hier eine die ganze Person durchdringende Hingabe aus.185 Zu στέφανος [stephanos], Krone oder „Kranz“, vgl. unsere Erklärung bei 2,10. V. 11 enthält den Lobpreis der Ältesten: Würdig bist du, unser Herr und Gott, zu nehmen den Preis und die Ehre und die Kraft, denn du hast alles erschaffen, und durch deinen Willen war es und wurde es erschaffen. Wie die Wesen mit dem ἅγιος [hagios] begannen, so beginnen die Ältesten mit dem ἄξιος [axios]. Mit seltsam fesselnder Gewalt erklingt dieser lobpreisende, anbetende Ruf. ἄξιος [axios] heißt: wert, und zwar ohne Abstrich.186 Würdig sagt im Deutschen diese potenzierte Wertigkeit angemessen aus. Die Ältesten sprechen nicht abstrakt von oder über Gott. Vielmehr sprechen sie das anbetende du in der Gewissheit der ewigen persönlichen Verbundenheit, die Gottes Gnade gestiftet hat (vgl. Offb 21,3ff). ὁ κύριος καὶ ὁ θεὸς ἡμῶν [ho kyrios kai ho theos hemon] sind Nominative, die den Vokativ vertreten.187 Dabei bezieht sich ἡμῶν [hemon] wohl auf beides. Hier sind jedoch κύριος [kyrios] und θεός [theos] nicht so zusammengerückt wie in 4,8. κύριος [kyrios] wird daher auf hebr. [ ֲאֹדנ ָיadonai] zurückgehen.188 Allerdings nennt W. Foerster die Wendung ὁ κύριος καὶ ὁ θεὸς ἡμῶν [ho kyrios kai ho theos hemon] in Offb 4,11 „Ohne Parallele(n)“.189 Klar ist aber, dass auch unser Herr und Gott die Einheit von AT und NT zum Ausdruck bringt. Hinter Gott steht vermutlich wieder das hebräische Elohim (oder El). Dieser einzig wahre Gott soll den Lobpreis entgegen-nehmen: Er ist der einzige Berechtigte dazu. λαβεῖν [labein] hat hier also den Sinn von „empfangen“.190 Leicht übersehen wird das ἡμῶν [hemon] (unser). Bengel mit seinem feinen Gespür für die Sprache hat darauf aufmerksam gemacht, dass nur die Ältesten dieses „unser“ gebrauchen, nicht aber die Wesen191. Hier drückt sich das besondere Verhältnis der Gotteskindschaft aus, das uns sprechen lässt: „Vater unser“. Mit den Stichworten Preis und Ehre wiederholen die Ältesten das von den Wesen Gesagte (vgl. V. 9). Allerdings darf eine leichte Abwandlung nicht 184 Tacitus bietet in Annalen 15,29,2 eine interessante Parallele. Etwas anders interpretiert Morris S. 92: das Niederlegen der Kronen „expresses the truth that He alone reigns“. Aber Schlatter S. 183 ähnlich wie wir. Aune S. 308 sieht die besiegten Könige als Vergleichspunkt. 185 „Leidenschaftlich“ nennt es F. Hauck, Art. βάλλω usw., ThWNT, I, 1933, S. 524,1. Vgl. noch W. Grundmann, Art. στέφανος usw., ThWNT, VII, 1964, S. 630. 186 Vgl. W. Foerster, Art. ἄξιος usw., ThWNT, I, 1933, S. 378f. 187 Vgl. Blass-Debrunner § 147. 188 Vgl. G. Quelle im Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, S. 1056ff. 189 A.a.O. S. 1086. 190 Vgl. G. Delling, Art. λαμβάνω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 6. 191 Bengel S. 313.
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übersehen werden: Jetzt haben δόξα [doxa] und τιμή [time] den Artikel. Den Preis und die Ehre bedeutet: Alles, was überhaupt „Preis“ und „Ehre“ genannt werden kann, kommt im Grunde nur Gott zu. Darin liegt eine harte Abgrenzung gegenüber allen heidnischen Kulten einschließlich des Kaiserkultes. Preis und Ehre werden ergänzt durch die Kraft (τὴν δύναμιν [ten dynamin]). Vielleicht ist hier 1Chron 29,11f aufgenommen, woraus ja der gebräuchliche Vaterunser-Schluss stammt. Man darf nicht vergessen: Die alttestamentlichen Doxologien wie 1Chron 29,10ff „sind keine leere Form, in ihnen glüht vielmehr die ganze Gottesfreude, die ganze Leidenschaft, die ganze Erfahrung der Frommen“.192 Im AT ist „die geschichtsbildende und geschichtsgestaltende Kraft ‚Gottes‘ eins … mit seiner weltschaffenden und welterhaltenden Kraft“.193 Im Begriff Kraft vereinigen sich also die Schöpferkraft und die Geschichtslenkung Gottes. Das NT hat diesen Begriff der „Kraft“ voll vom AT übernommen.194 Offb 4,11 ist ein Zeugnis dafür.195 Wer wie die Ältesten also Gottes „Kraft“ im Lobpreis anerkennt, der rechnet damit, dass Gott die neue Schöpfung heraufführen und dass er alle gottfeindlichen Mächte überwinden wird. Im Folgenden konzentrieren sich die Ältesten auf die schöpferische Kraft Gottes: Denn du hast alles erschaffen, und durch deinen Willen war es und wurde es erschaffen. Es ist klar, dass damit die geschichtslenkende Kraft Gottes nicht herabgestuft oder gar außer Acht gelassen werden soll. Aber gesprochen wird eben nur von der in der Schöpfung manifesten Gotteskraft. In dem du (σύ [sy] ist betont!) hast erschaffen liegt eine exklusive Feststellung: Gott allein ist der Schöpfer. Kein Engel, kein Satan, kein Götze der Heiden darf sich auch nur im Geringsten neben ihn stellen. Dem exklusiven du entspricht das inklusive, grenzenlose alles (τὰ πάντα [ta panta]). Es duldet keine Ausnahme: Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne, alle bekannten und unbekannten Lebewesen, alle Pflanzen, alle Meere, alles Wasser, alle Engel und sogar den Teufel hat Gott erschaffen (vgl. Offb 10,6). Sie alle sind Geschöpfe und müssen, ob willig oder unwillig, seinem Willen dienen. Betrachtet man den Hymnus der Ältesten richtig, dann bietet er einen tiefen Trost des Glaubens. κτίζειν [ktizein] erschaffen wird nach Werner Foerster „im NT nur vom göttlichen Schaffen gebraucht“,196 analog dem hebr. [ ָבָּראbara]. Das Gott
192 193 194 195 196
W. Grundmann, Art. δύναμαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 296. Grundmann a.a.O. S. 294. Grundmann a. a. O: S. 307. Grundmann a.a.O. S. 307f. Art. κτίζω usw., ThWNT, III, 1938, S. 1027.
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alles erschaffen hat, sagen auch Eph 3,9; Kol 1,16.197 Aber er war nicht nur eine Art „Demiurg“ im Sinne eines Handwerkers, sondern auch der Planende, der bis zum Ziel Blickende, der schlechthin „Kreative“, der diese Schöpfung Wollende! Das alles liegt in der Aussage durch deinen Willen (διὰ τοῦ θέλημά σου [dia tu thelema su]) war es und wurde es geschaffen. θέλημα [thelema], Wille, hebr. [ ֵחֶפץchephez] oder [ ָרצוֹןrazon],198 ist nach Gottlob Schrenk im NT „Nur einmal … Wille des Allschöpfers“,199 nämlich hier in Offb 4,11. Sonst ist es stets der rettende Heilswille. Im Willen steckt auch das Wohlgefallen. Ein Vergleich mit Sir 43,1ff; Eph 3,9 und Hebr 11,3 legt nahe, dass überdies im „Willen“ auch die Schöpfung durch das Wort angesprochen ist. Es war und es wurde geschaffen darf man vielleicht so verstehen, dass es war auf die ursprüngliche Schöpfung geht und es wurde geschaffen auf die fortlaufende Schöpfung (creatio continua).200 Der Lobpreis der Ältesten ist ein liturgisches Bekenntnis in unnachahmlicher Dichte, Kürze, Straffheit und gleichzeitig voller Schönheit und Reichtum. Im Unterschied und in Ergänzung zum Lobpreis der Wesen weist es nicht nur auf Namen und Größe Gottes, sondern auch auf seine Taten und sein geschichtliches Handeln hin (du hast erschaffen, und durch deinen Willen wurde es erschaffen). Für den Ausleger aber stellt sich die Frage: Warum lobpreisen die Ältesten als Repräsentanten des Gottesvolkes gerade das Schöpfungshandeln Gottes? Warum preisen sie hier nicht sein Handeln bei den Vätern (Abraham z.B.), an Israel oder in der Sendung des Sohnes? Es ist ja die erste Doxologie der Ältesten, die wir in der Offb vernehmen. Unsere menschlichen Grenzen erlauben es nicht, hier eine definitive Antwort zu geben. Jedoch sollten wir uns daran erinnern, dass die Schöpfung die Basis aller Geschichte ist. Wer den göttlichen Schöpfer preist, preist also zugleich den Herrn der Geschichte. Zweitens sollten wir uns an den Zusammenhang der Offb erinnern. In Kap. 4 und 5 kehren wir ein in den Ausgangsort aller Geschichte, nämlich die Herrlichkeit Gottes, die vor und über aller Geschichte liegt. Die Geschichte, soweit sie menschlich wahrnehmbar ist, wird uns ab Kap. 6 noch genug beschäftigen.201
197 198 199 200
Vgl. Foerster a.a.O. S. 1028. Vgl. hier G. Schrenk, Art. θέλω usw., ThWNT, III, 1938, S. 53. A.a.O. S. 56f. Obwohl Bengel anders anordnet, nimmt er doch auch auf die creatio continua Bezug (S. 316). Ebenso P. Müller S. 20. Zur Problemstellung vgl. Aune S. 312; Bousset S. 253; Kraft S. 101. 201 Vtiringa S. 192ff sah es ähnlich.
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Mit dem doppelten Introitus in 4,8 und 4,11 öffnet sich für uns der Eingang in eine überwältigende Fülle von Doxologien: vgl. Offb 5,9f.12,13; 7,10.12; 11,15.17f; 12,10ff; 15,3f; 16,5f.7; 19,1f.3.5.6. Wir können annehmen, dass ähnliche Liturgien in gesprochenem und gesungenem Lobpreis auch in den frühchristlichen Gemeindegottesdiensten ihren Platz hatten.202
IV Zusammenfassung 1. Der Eindruck, den Offb 4,1-11 auf Leser und Hörer in zwei Jahrtausenden gemacht hat, ist enorm. Wie stark dieses prophetische Bild in Köpfe und Herzen eindrang, können wir gar nicht mehr recherchieren. Es ist bezeichnend, wie Friedrich Niebergall inmitten der Hochblüte des Liberalismus in seiner „Praktische(n) Auslegung des Neuen Testaments“ von 1923 den Eindruck von Offb 4 festgehalten hat: Offb 4 lasse „eine hehre Stimmung nach der andern durch die Seele klingen“. Er schreibt dieses, obwohl er wenige Sätze später den Rat gibt: „Über das Kapitel zu predigen empfiehlt sich nicht.“203 Besonders gut lässt sich die Wirkung von Offb 4 an den Werken der Kunstgeschichte ablesen.204 Beispielsweise atmen die in frühe Zeiten zurückreichenden Mosaiken Roms noch immer die Faszination durch die Bilder der Johannesoffenbarung. Man kann dies sehen an den vier majestätischen Wesen der uralten Sa. Pudenziana, die wohl auf ein Grundstück jenes Pudens von 2Tim 4,21 zurückgeht, wobei die Mosaiken aus der Zeit von 380–400 stammen, aber auch in anderen Kirchen; so in S. Paolo fuori le mura, wo die 24 Ältesten und die Evangelistensymbole evtl. noch zum konstantinischen Urbau gehören und im 5. Jh. entstanden sein dürften; oder in SS. Cosma e Damiano mit den sieben Leuchtern und 24 Ältesten von 526–530 n.Chr.; oder in Sa. Prassede mit den sieben Leuchtern, den Evangelistensymbolen und den 24 Ältesten aus dem 9. Jh.; oder in Sa. Maria Maggiore mit den Mosaiken Jacopo Torritis von ca. 1295, fußend wohl auf Vorbildern des 5. Jh., die ebenfalls die 24 Ältesten zeigen.205 Aus dem süddeutschen Raum des Barock, in dem diese Tradition wie auch andernorts weiterblüht, sei nur das Apokalypsebild von Johann Caspar Kohler in Oberstadion bei Biberach genannt. 2. Entscheidend ist, dass das allererste Zukunftsgesicht der Offb uns an den Thron Gottes führt. Dort ist der Ursprung aller Dinge. Dort ist der Beginn aller Geschichte: in der Schöpfung wie in der Menschheitsgeschichte. Geschichte 202 203 204 205
Behm S. 33; Joh. Schneider a.a.O. Niebergall S. 633. Vgl. dazu auch Brütsch S. 239ff. Vgl. auch van der Meer S. 49.104.
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basiert auf der Schöpfung. Wer die Schöpfung hervorgebracht hat, regiert auch die Geschichte. Ursprung und Beginn ist nicht ein „Urknall“ undefinierbarer Art, sondern der persönliche Gott. Alle Geschichte ist deshalb für die Offb theozentrisch. Etwas ohne Gott verstehen zu wollen bedeutet, sich ins Unverständliche zu ergeben. 3. Die Offb teilt wesentliche Grundzüge dieser theozentrischen Erfahrung mit dem AT und dem Judentum. Ein gutes Beispiel liefert die sog. Gemeinderegel von Qumran, in der die Gemeindekatechese mit den Worten beginnt: „Vom Gott der Erkenntnis kommt alles Sein und Geschehen“ (כּוֹל הוֶֹוה ְוִנְהי ָיה [kol howeh wenihjah], 1QS III, 15). Bei Sirach vgl. 16,24–18,14.206 4. Gott selbst schildert Johannes hier nicht. Er wahrt hier mehr Zurückhaltung als Hesekiel (Kap. 1; 10) und Daniel (Kap. 7), die wenigstens Andeutungen über den auf dem Thron Sitzenden bringen. Dennoch herrscht keinerlei Zweifel, dass wir es in Offb 4 mit dem Thron Gottes zu tun haben und dass Gott Person ist. Die Trinität allerdings, die schon in 1,4ff verkündigt wurde,207 wird hier nicht noch einmal angesprochen. Bedenkt man die Aussagen über Gott, dann muss man urteilen, dass die Offb nicht nur Enthüllung, sondern auch Wahrung der Geheimnisse Gottes ist. 5. Manchmal betonen die Ausleger, dass Offb 4 „ein friedliches … Bild“ sei, „das den Frieden und die Seligkeit der Vollendung atmet“.208 Aber dieses Bild trifft das Wesentliche von Offb 4 nicht. Schon das Stichwort „unaufhörlich“ in 4,8 widerspricht ihm. Es ist vielmehr ein Bild höchster Bewegung und intensivsten Lebens, das uns Johannes in diesem Kapitel schildert. Die Intensität wächst gerade dadurch, dass diese Bewegung nicht gleich in konkrete Einzelereignisse der Geschichte umgesetzt wird. Dadurch steigt gewissermaßen das Potenzial der göttlichen Kraft und Herrlichkeit. Die Grundbewegung ist die Doxologie. Fast ins Paradoxe zugespitzt: Die göttliche Liturgie ist mächtiger als jedes Weltgeschehen und jedes Weltreich. 6. Die Offb erscheint zunächst als eine Fortsetzung der Welt Hesekiels (vgl. Kap. 1; 10), Daniels (vgl. Kap. 7) und Jesajas (vgl. Kap. 6). Die Zahl der Parallelen ist erstaunlich hoch. Daraus darf man den Schluss ziehen, dass zwischen der Prophetie des Alten Testaments und der Johannesapokalypse unleugbar eine Kontinuität besteht. Man kann die Offb nicht ohne das AT auslegen,209 freilich auch das AT schlecht ohne die Offb. 206 Vgl. Maier WUNT S. 62ff. 207 Anders Holtz S. 140. 208 So Niebergall a.a.O. Ähnlich Bousset S. 254: „ein Bild von erhabener ruhiger Majestät“; Frey S. 78: Das Bild sei „ganz Ruhe“. 209 Wohl aber ohne den babylonischen Gestirnglauben!
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Allerdings ist die Offb auch nicht nur von Hesekiel, Daniel, Jesaja oder andern Büchern des AT abgeschrieben. Als originäre prophetische Schau des Johannes bringt sie auch Neues und Eigenständiges gegenüber dem AT. Wir rechnen dazu die 24 Ältesten, aber auch die „Wesen“ (ζῷα [zoa]), überhaupt das Gewicht der heiligen Zahlen und Farben (allerdings ist hier Sacharja vergleichbar), sodann das „gläserne Meer“ und nicht zuletzt die Rolle der Doxologien. 7. Eines der wesentlichen Resultate von Offb 4 hat Karl Barth sehr schön zusammengefasst: „Es gibt keine im Ernst so zu nennende ‚Profangeschichte‘“.210
1.2 Das Lamm empfängt das Buch mit den sieben Siegeln, 5,1-14 I Übersetzung 1 Und ich sah auf der rechten Hand dessen, der auf dem Thron sitzt, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. 2 Und ich sah einen starken Engel, der mit lauter Stimme ausrief: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen? 3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch öffnen und in es hineinsehen. 4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen und in es hineinzusehen. 5 Da sagt einer der Ältesten zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat gesiegt der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, das Buch zu öffnen und seine sieben Siegel. 6 Und ich sah in der Mitte des Thrones und der vier Wesen und in der Mitte der Ältesten ein Lamm stehen, wie wenn es geschlachtet wäre, mit sieben Hörnern und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. 7 Und es kam und nahm entgegen aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. 8 Und als es das Buch entgegennahm, da fielen die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, 9 und sie singen ein neues Lied: Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen. Denn du wurdest geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern 210 KD III, 3, S. 208, aufgenommen von Weber, I, S. 576.
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und Nationen, 10 und hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.211 11 Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel rings um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten, und es war ihre Zahl Myriaden von Myriaden und Tausende von Tausenden, 12 die sagten mit lauter Stimme: Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, zu nehmen die Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. 13 Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was in ihnen ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm gehört das Lob und die Ehre und der Preis und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! 14 Und die vier Wesen sagten: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.
II Struktur Das ganze Kapitel ist bestimmt durch den elementaren Vorgang, dass ein geheimnisvolles Buch geöffnet werden soll. Zwar erfolgt das praktische Öffnen erst zu Beginn des sechsten Kapitels, aber jetzt schon ist klar, wer diese Öffnung vollzieht. Sie ist also sicher. Dementsprechend bildet ἀνοῖξαι [anoixai] – immer dieselbe Form! – ein wesentliches Leitwort, das insgesamt fünfmal im Kapitel erscheint. Die erste Szene betrifft die zunächst vergebliche Suche nach dem, der die Er-„lösung“ bringen kann (V. 1-5). Sie wird abgeschlossen durch den trostvollen Zuspruch eines der Ältesten (V. 5). Die zweite Szene (V. 6-7) betrifft das Auftreten des Lammes, das in der Lage ist, die Öffnung des Buches zu vollbringen. Es bildet das Zentrum des Kapitels. Die dritte Szene (V. 8-14), dem Umfang nach die längste, beinhaltet eine dreifache Doxologie. Sie wird dargebracht 1) von den Wesen und den Ältesten (V. 8-10), 2) von der unzählbaren Engelsschar (V. 11-12), 3) von allen Geschöpfen (V. 13). Die Bestätigung durch die Wesen und die Ältesten (V. 14) schließt das Kapitel.212 Betrachtet man die Rolle der fünf Doxologien in den 25 Versen des vierten und fünften Kapitels, dann ist man versucht, diese beiden Kapitel als eine einzige große Doxologie mit den zugehörigen Erläuterungen aufzufassen. 211 Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 177,2. Bengel übersetzt dagegen „über die Erde“ (S. 330f); ebenso Elberfelder Bibel; NGÜ in der Anmerkung. 212 Oft gliedert man in der Literatur nur in 2 Unterabschnitte, 5,1-5 und 5,6-14. So z.B. Behm S. 34; Brütsch S. 243.
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Die Überschriften differenzieren von „The Scroll“ (Caird S. 69) über „The Seven Seals“ (Morris S. 92) bis zu „The Investiture of the Lamb“ (Aune S. 319)213 und „Christus und das Buch der Gerichte Gottes“ (Hartenstein S. 89) usw.
III Einzelexegese Das uns schon bekannte εἶδον [eidon] (vgl. 4,1) leitet das Kapitel und die erste Szene ein, verbunden mit einem καί [kai] (V. 1). Ein solches καὶ εἶδον [kai eidon] leitet auch die zweite Szene ein (V. 6). Dagegen wird die dritte Szene eröffnet mit einem καὶ ὅτε ἔλαβεν [kai hote elaben] (V. 8), dem ein καὶ εἶδον [kai eidon] erst später folgt (V. 11). Die Offb unterliegt also keinem Schematismus. Dabei darf man das καί [kai] der Einleitung nicht als bloßen Formalismus auffassen.214 Vielmehr drückt sich darin das Bestreben des Johannes aus, dem Zusammenhang der Gesichte von Kap. 4–5 gerecht zu werden. Aber nun überrascht er uns doch: Mit einem Male schreibt er von der rechten Hand dessen, der auf dem Thron sitzt. In Kap. 4 hatte er vermieden, Gott selbst zu schildern. Jetzt spricht er offen von Gottes rechter Hand (ἡ δεξιά [he dexia]).215 Daraus ergibt sich zweierlei: 1) Diese Rechte muss in einer herrscherlichen, unbeschreiblich eindrucksvollen Geste die ganze Szenerie, das ganze Bild bestimmt haben. Die „Gotteshände“ an den Wänden unserer alten Kirchen sind eine ferne Erinnerung daran. 2) Gott ist tatsächlich Person. Ja, wenn von seiner „rechten Hand“ die Rede ist, gleicht sein Erscheinungsbild offenbar dem des Menschen. Hier von einem „Anthropomorphismus“ zu sprechen lenkt nur ab von der geheimnisvollen Ebenbildlichkeit Gott–Mensch (vgl. Gen 1,26ff). ἐπὶ τὴν δεξιάν [epi ten dexian] heißt auf der rechten Hand.216 Gottes Hand lag demnach unter dem Buch und hielt es empor.217 Gott brauchte keine Kraft, um das Buch festzuhalten. Die Rechte (χείρ [cheir] fehlt in Offb 5,1) hat hier vermutlich eine doppelte symbolische Bedeutung: 1) sie „ist Sym-
213 214 215 216
Ähnlich Frey S. 77. Vgl. Bengel S. 316; Zahn S. 329. Anders Kraft S. 105: Er sieht „nicht die Hand Gottes selber“. Vgl. Bauer-Aland Sp. 584; Neue Jerusalemer Bibel S. 1790; Morris S. 94. Anders wieder Kraft S. 104f: „bei der Rechten“ bzw. „in Richtung der Rechten“; Frey S. 77f und Lohse S. 41: „in der Hand“; NGÜ: „in seiner rechten Hand“; Aune S. 320ff „in“. 217 Bousset S. 254: „Gott hält das Buch auf der offenen Hand“. Vgl. Bengel S. 316. Eigentümlich Frey S. 78: Die Buchrolle erscheine „auf dem Schoße“ des Thronenden. Vgl. noch Brütsch S. 244. Aune S. 338 malt fantasievoll aus.
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bol göttlicher Kraft“,218 2) sie symbolisiert zugleich das Heilshandeln Gottes.219 Und ich sah auf der rechten Hand dessen, der auf dem Thron sitzt, ein Buch (βιβλίον [biblion]), beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln: Ein Buch? Weshalb ausgerechnet ein „Buch“? Muss hier nicht Skepsis erwachen, ähnlich Goethes Dr. Faust, der das Wort „unmöglich so hoch schätzen“ konnte? Es ist seltsam, dass gerade die schreibende Zunft der europäischen Ausleger das „Buch“ oft mit so viel Verachtung behandelt hat. Ganz anders z.B. die asiatische Kultur, die Koreas König Sejong „den Großen“ nennt, weil er sich dem „Buch“ gewidmet hat. In der Offb jedenfalls ist τὸ βιβλίον [to biblion] ein „Ausdruck der unverbrüchlichen Verankerung des Gnadenrates überhaupt“.220 Dies entspricht der Hochschätzung des Buches im AT. Dort schreibt Gott mehrfach selber auf (Ex 24,12; 31,18; 32,15.32; 34,1; Dtn 4,13; 9,10 usw.).221 So braucht uns das Buch auf seiner Hand nicht zu wundern. Zu den Einzelheiten: Johannes bevorzugt βιβλίον [biblion] (dreiundzwanzigmal in der Offb) gegenüber βίβλος [biblos].222 „Er ist viel mehr durch die Sprache des AT bestimmt als durch den Sprachgebrauch der Kaiserzeit.“223 Das Buch von Offb 5 haben wir uns wahrscheinlich als Buchrolle vorzustellen.224 Die Bemerkung innen und außen beschrieben (γεγραμμένον ἔσωθεν καὶ ὄπισθεν [gegrammenon esothen kai opisthen]) bezeichnet eine Buchrolle, die sowohl auf der dem Betrachter zugewandten Innen-Seite (in unserem Sprachgebrauch: Vorderseite) als auch auf der Rückseite (außen) beschrieben war. Technisch wird eine solche Buchrolle als Opistograf bezeichnet.225 An dieser Stelle ergibt sich eine enge Parallelität zu Ez 2,9f.226 Auch dort geht es um eine Buchrolle. Auch dort wird sie von einer himmlischen Hand präsentiert. Auch dort ist sie „außen und innen beschrieben“, also ein Opistograph. Allerdings muss sofort auch ein Unterschied notiert werden: In Ez 2,9f geht es Vgl. W. Grundmann, Art. δεξιός, ThWNT, II, 1935, S. 37. Schon Bengel a.a.O. Vgl. Grundmann a.a.O. So G. Schrenk, Art . βίβλος, βιβλίον, ThWNT, I, 1933, S. 617. G. Schrenk, Art. γράφω usw., a.a.O., S. 744. Schrenk a.a.O. S. 617. Schrenk a.a.O. Vgl. Cairds Überschrift „The Scroll“ (S. 69) sowie Schrenk a.a.O. Vgl. Bauer-Aland Sp. 333; Schrenk a.a.O.; Blass-Debrunner § 215. Zahn teilt jedoch die Worte wie folgt ab: „inwendig beschrieben“ (also nur inwendig!) und „auf der Rückseite versiegelt“ (nur dort!), S. 327f. Aber Ez 2,9f widerrät einer solchen Trennung, die auch betr. der Siegel wenig sinnwoll ist. Vgl. Brütsch S. 244. 226 Ebenso Lohse S. 41; Kraft S. 103; Schlatter BFchTh S. 61; Schrenk a.a.O. S. 617; Caird S. 71; Aune S. 339. Anders Bousset S. 254.
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um eine Botschaft voll „Klagen und Seufzen und Wehe“. In Offb 5,1 dagegen geht es um etwas viel Umfassenderes, nämlich um sämtliche „heilig festgelegten göttlichen Ratschlüsse über die Zukunft“.227 Zum Buch fügt Johannes jetzt noch eine zweite Bemerkung an: versiegelt mit sieben Siegeln. Wieder ist eine ganze Reihe von Aussage-Dimensionen zu bedenken, die in diesen wenigen Worten angerührt werden. Zum Äußeren: Ein Buch wurde versiegelt „durch die Siegelung des Bandes, das die Rolle oder das Buch umschlang“.228 Trug also die Buchrolle von Offb 5,1 eine Art Einband oder eine alles umschlingende Schnur?229 Man muss bei solchen Details aber äußerste Vorsicht walten lassen. Was Johannes wichtig war, sagt er. Was er nicht sagt, war für ihn nicht wichtig. Deshalb ist Heinrich Kraft grundsätzlich zuzustimmen: „Zu den unsachgemäßen Fragen gehört ferner das Problem, wie das Buch eigentlich versiegelt gewesen sei.“230 Zwei Punkte jedoch waren für Johannes offensichtlich wichtig: das Versiegelt-Sein und die sieben Siegel des Buches. Mit dem Siegel verbinden sich in der Antike in der Regel ganz bestimmte Eigenschaften und Funktionen:231 1) Das Siegel kennzeichnet das Eigentum, 2) es kennzeichnet eine Originalurkunde im Unterschied zur Abschrift, 3) es dient der Sicherung eines Testaments, 4) es hat seine Bedeutung als Staats-, Amts- oder Königssiegel, 5) es dient der Geheimhaltung, 6) wer es führt, ist Träger einer Macht. – Im AT dient das „Siegel“ dazu, etwas rechtsgültig zu machen (z.B. Jer 32,10f.25.44) oder zu verschließen (z.B. Jes 8,16; 29,11; Dan 8,26 LXX; 12,4.9) oder seinen hohen Wert zu bezeichnen (z.B. Dtn 32,34; Hohesl 8,6; Jer 22,24; Hag 2,23). Fast alle diese Dimensionen spielen bei Offb 5,1 eine Rolle. Das Buch auf der rechten Hand Gottes wird von Johannes als versiegelt wahrgenommen, weil es ausschließlich Gottes Eigentum ist, weil es die „Originalurkunde“ der künftigen Geschichte ist, weil es eine Urkunde des höchsten Königs ist und weil sein Inhalt bis dahin geheim war. Von ferne ist es auch mit der Wirkung eines Testaments vergleichbar, aber diese Parallele hinkt, weil sich der lebendige Gott nicht mit einem Erblasser vergleichen lässt. Deshalb geben auch die
227 So formuliert es Schrenk a.a.O. S. 618. Vgl. S. 617: eine „unabsehbare Fülle der Ereignisse“ als Inhalt. 228 G. Fitzer, Art. σφραγίς usw., ThWNT, VII, 1964, S. 940. 229 So z.B. Behm S. 34. 230 Kraft S. 105. 231 Vgl. zum Folgenden Fitzer a.a.O. S. 940ff.
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sechs oder sieben Zeugen des römischen Testamentsrechts232 wenig zum Vergleich her.233 Dagegen sind die Siegel am Buch wie im AT ein Ausdruck des bisherigen Verschlossenseins, der Rechtsgültigkeit und des höchsten Wertes. Doch wie haben wir die Zahl Sieben aufzufassen? Die „Sieben“ erwies sich bisher als Gottes-Zahl. Insbesondere kennzeichnete sie den Heiligen Geist (1,4; 4,5). Mit der „Sieben“-Zahl wird also betont, dass das Buch wirklich Gottes Buch ist, ganz und gar sein Eigentum. Außerdem wird bekräftigt, dass es eine Botschaft des Heiligen Geistes, also ein göttlich inspiriertes Wort enthält.234 Man darf aus den sieben Siegeln aber nicht den Schluss ziehen, das Buch habe nur die 7 Siegelgesichte von Offb 6–8 zum Inhalt. Nein, sein Inhalt ist viel umfassender. Er umschließt die ganze von Gott bestimmte Zukunft. Mit anderen Worten: Im Buch ist alles enthalten, was jetzt Offb 6–22 verkündet. Theologisch zugespitzt: Das Buch ist die Urkunde der Allmacht, der Allwissenheit und Geschichtslenkung Gottes.235 Die Tatsache, dass die Buchrolle innen und außen beschrieben ist, deutet im Einklang damit auf „die unabsehbare Fülle der Ereignisse“.236 Auch hier ist es nicht ratsam, zu viele Details bestimmen zu wollen. Wenn Johannes in V. 2 fortfährt Und ich sah, markiert er damit einen spürbaren Einschnitt. Was am Thron geschieht, ist einmalig. Die Engelwelt bildet eine andere Kategorie und eine andere Stufe. Dort sieht er jetzt einen starken Engel. Denselben Ausdruck benutzt er später in 10,1; 18,21. Stark (ἰσχυρός [ischyros]) kann sogar von Gott gesagt werden (Offb 18,8). Es bedeutet „mächtig“, „viel bewirken könnend“.237 Der starke Engel hat also eine hervorragende Position und besondere Autorität.238 Beides ist angemessen, weil seine Frage und sein Suchen einen zentralen, entscheidenden Vorgang einleiten. Beides drückt sich auch in seiner lauten Stimme aus. Für das, was und wie er spricht, benutzt Johannes nicht λέγειν [legein], was angesichts von 232 Vgl. dazu Fitzer a.a.O. S. 941.951. 233 Anders Fitzer S. 951; Schrenk a.a.O.; Frey S. 78; Grünzweig S. 153; Behm S. 34; Zahn S. 340ff. Wie wir Aune S. 342f. 234 Lohse S. 41 hebt speziell auf die „Größe des Geheimnisses“ und die „Zahl der umfassenden Fülle“ ab. 235 Vitringa fügt S. 200 sehr schön hinzu: „quod Ecclesiae in adversis est consolationi maximae“. 236 So Schrenk a.a.O. S. 617f; Lohse S. 41; Kraft S. 103; P. Müller S. 21; Vitringa S. 199; Bengel S. 318f. Bengel warnte auch mit Recht vor einer Eingrenzung auf die göttlichen Gerichte. Jedoch Hartenstein S. 91: „Buch der großen Gerichte Gottes“. 237 Vgl. W. Grundmann, Art. ἰσχύω usw., ThWNT, III, 1938, S. 400ff; Bauer-Aland, Sp. 776. 238 Kraft S. 105.
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4,8.10 durchaus denkbar gewesen wäre, sondern κηρύσσειν [keryssein]. Seltsamerweise ist aber Offb 5,2 die einzige Stelle, an der κηρύσσειν [keryssein] im johanneischen Schrifttum vorkommt.239 κηρύσσειν [keryssein] bedeutet hier „ausrufen“, so wie ein Herold seine Botschaft mit lauter Stimme hören lässt, zugleich mit dem Nebenton der Aufforderung und Einladung.240 Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen? Manche HSS ergänzen ein ἐστιν [estin], was aber sinngemäß sowieso in diesem Halbvers steckt.241 Vor Gottes Thron musste man keine Frage stellen: Wer ist würdig …? Hier war es seit Ewigkeiten klar, dass Gott der Würdige sei („Du bist würdig“, 4,11). Wenn aber so rasch nach dem ἄξιος εἶ [axios ei] von 4,11 die Frage folgt: τίς ἄξιος [tis axios]?, dann wird sofort die Richtung angegeben, in der die Suche erfolgreich sein kann: Nur in Richtung auf ein Wesen mit göttlicher Würde. Das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen stellt ein Hysteronproteron dar.242 Zuerst muss man ja doch die Siegel lösen, bevor man das Buch öffnen kann. Aber Johannes stellt das Wichtigere voran, und das ist die Öffnung und das Lesen des Buches. Öffnen wird nun zum Leitwort des Kapitels (vgl. 5,2.3.4.5.9). Was bisher verborgen war, tritt ans Licht. Gott teilt seinen Willen und seine Ziele mit. Mehr noch: Er will sie mitteilen. Denn der starke Engel handelt nur nach dem Befehl Gottes. An dieser Stelle sollten wir uns noch einmal daran erinnern, dass wir es hier nicht mit irdisch-materiellen Dingen zu tun haben, sondern mit göttlichen und geistlichen. Zwar sieht und hört Johannes Anschauliches und Realistisches. Es sind wirklich reale Vorgänge. Aber sie befinden sich nicht auf der Ebene von „Fleisch und Blut“, sondern auf der Ebene von Gottes Geist (vgl. Joh 3,6ff; 1Kor 15,50ff). Lösen bedeutet hier schlicht „losmachen“.243 Es hat also nicht den aggressiven Sinn von „zerstören“, „abbrechen“.244 Vielmehr liegt darin dieselbe Mühelosigkeit wie im hebr. [ ָבָּראbara] des Schöpfungsberichts. Und niemand konnte … (καὶ οὐδεὶς ἐδύνατο [kai udeis edynato]): Der Ruf, die Aufforderung, die Einladung des Engels verhallt in der Schöpfung. Aber nicht deshalb, weil niemand wollte. Sondern weil niemand konnte. 239 240 241 242 243 244
G. Friedrich, Art. κῆρυξ usw., ThWNT, III, 1938, S. 702. Vgl. Friedrich a.a.O. S. 696.709. Blass-Debrunner § 127,4. Kraft a.a.O. Vgl. F. Büchsel im Art. λύω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 337. Besser vermeidet man also die Redewendung „die Siegel brechen“. Richtig Neue Jersualemer Bibel.
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Angesichts des himmlischen Boten und seines Rufs verging jede Einbildung, jede Anmaßung. Es blieb nur die Feststellung „Ich bin nicht würdig“ als Fazit aus der Realität. Niemand (οὐδείς [udeis]) wird jetzt expliziert: weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde.245 Offensichtlich soll damit die Gesamtheit der Geschöpfe bezeichnet werden. Aber hat Gott in seiner Allwissenheit nicht zuvor gewusst, dass kein Geschöpf es konnte? Schlatter hat darauf die richtige Antwort gegeben: Es sollte „die Gerechtigkeit Gottes allen Geschaffenen, den Engeln und den Menschen, in ihrem fehllosen Glanze sichtbar“ werden.246 Seine Gerechtigkeit ließ ihn das Buch nicht sofort dem Sohn übergeben, sondern allen anbieten, damit die Würde des Sohnes umso mehr zutage treten konnte. Sehen wir uns V. 3 genauer an: Himmel, Erde und unter der Erde werden als drei Bereiche der Schöpfung genannt, die alle Geschöpfe umfassen. Man sollte von der veralteten Auffassung Abschied nehmen, als ob die Bibel „drei Stockwerke“ lehre.247 Das tut schon das AT nicht (vgl. 1Kön 8,27), erst recht nicht das NT (Joh 4,24; 1Kor 15,28; 1Tim 6,15f). Vielmehr geht es um drei Erfahrungsdimensionen, die wir bis heute nicht besser formulieren können. Sie liegen öfters den alttestamentlichen Aussagen zugrunde (vgl. Ex 20,4; Dtn 5,8). So auch hier in Offb 5,3. Übrigens zeigt Offb 5,3, dass das zweite Gebot des Dekalogs, nichts zu verehren „von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist“, berechtigt ist. Mit Hermann Sasse ist speziell zur Offb festzuhalten, dass sie „im Unterschied von der jüdischen Apokalyptik … keine eigentlichen kosmologischen Lehren“ enthält.248 Wenn von den Geschöpfen im Himmel (ἐν τῷ οὐρανῷ [en to urano]) die Rede ist, erinnern wir uns daran, dass der Himmel im AT eine doppelte Bedeutung besaß. Einerseits steht der Himmel „hinsichtlich seiner Geschöpflichkeit mit der Erde durchaus auf gleicher Stufe“249 und kann deshalb auch von Geschöpfen bewohnt werden (vgl. Gen 1,1; Jes 65,17; 66,22). Andererseits ist er der unnahbare Bereich Gottes (1Tim 6,15f). „Im Himmel“ wohnen die Engel. Bis zum Sturz Satans, den Offb 12 schildert, gehören dazu auch Satan und seine bösen Engel (Lk 10,18; Offb 12,3ff; Hiob 1,6ff; 1Kor 8,5).250 245 Zu den grammatischen Verbindungen vgl. Blass-Debrunner § 445. 246 Schlatter S. 186. 247 Gegen Kraft S. 105. Richtig G. v. Rad, Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, S. 502: Solche Einteilungen entspringen „einfach der elementaren Anschauung“. 248 H. Sasse, Art. γῆ usw., ThWNT, I, 1933, S. 677. 249 G. v. Rad a.a.O. S. 508.
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Es fällt auf, dass auch der Satan und die bösen Engel/Mächte auf die Frage des Engels in V. 2 schweigen. Noch auf Erden (οὐδὲ ἐπὶ τῆς γῆς [ude epi tes ges]): Das ist der Bereich der uns zugänglichen Schöpfung. Oft bilden Himmel und Erde in ihrer Zweipoligkeit den hebräischen Ausdruck für die gesamte Schöpfung251. Aus der Menschenwelt also und allen Geistern, die hier hausen, kommt ebenfalls nur ein Schweigen. Keine Philosophie, keine der weltgeschichtlichen Religionen, keine Esoterik und keine Ideologie, kein Mystiker und kein Genie kann die Frage Wer ist würdig? mit einem „Ich“ oder „Wir“ beantworten. Aber auch keiner der „Gerechten“.252 Noch unter der Erde (οὐδὲ ὑποκάτω τῆς γῆς [ude hypokato tes ges]):253 Die dreigliedrige Formel bei Johannes erinnert an Phil 2,10. An sich wäre Himmel und Erde zur Bezeichnung der ganzen Schöpfung ausreichend. Aber Johannes will ein Bild von der Fülle der Schöpfung und ihrer Geschöpfe vermitteln. Deshalb vermutlich fügt er noch unter der Erde an. Was ist damit gemeint? Ein Ersatz für das Meer von Ex 20,4; Dtn 5,8?254 Da die Offb vom Meer gerne und in verschiedenen Bezügen spricht, hätte Johannes vermutlich auch hier wie in V. 13 θάλασσα [thalassa] geschrieben, wenn er es gemeint hätte. So ist die Annahme wahrscheinlicher, dass er hier in V. 3 den Bereich der Totenwelt und der finsteren Mächte255 wie z.B. „Tod“ und „Hades“ (Offb 20,13) gemeint hat (vgl. auch 1,18).256 Das Buch öffnen und in es hineinsehen: Öffnen vermittels Lösung der Siegel (V. 2), hineinsehen (βλέπειν [blepein]) als Wahrnehmen aller Inhalte des Buches. Mit Recht bemerkt W. Michaelis zu βλέπειν [blepein] in Offb 5,3: es „schließt offenbar das Lesen ein (= Einsicht nehmen)“.257 Johannes betrachtete das Ergebnis von V. 3 als endgültig, sonst hätte er nicht geweint. Die Endgültigkeit kommt nun explizit zum Ausdruck in den Worten: niemand wurde für würdig befunden (οὐδεὶς ἄξιος εὑρέθη [udeis
250 251 252 253 254 255 256 257
H. Traub, Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, S. 533. V. Rad und Traub a.a.O. S. 502ff.514ff. Morris S. 95: „no saintly man on earth“. Die Auslassung dieser Worte in manchen HSS ist sicher nicht ursprünglich, wenn auch verständlich. So Traub a.a.O. S. 518,161. Traub a.a.O. S. 541 „unterirdische Mächte“. Vgl. Sasse a.a.O. S. 680; F. Büchsel, Art. κάτω usw., ThWNT, III, 1938, S. 640ff. P. Müller S. 21 („Finsterniswelt“). Ebenso Neue Jerusalemer Bibel S. 1790; Bengel S. 321 unter Hinweis auf Hiob 28,22; Vitringa S. 201; Bousset S. 256. Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, S. 343; ebenso Bengel a.a.O.; Vitringa S. 201 („inspicere“).
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axios heurethe]), das Buch zu öffnen und in es hineinzusehen“ (V. 4).258 Die zweite Vershälfte ab ἀνοῖξαι [anoixai] stimmt wörtlich mit dem Schluss von V. 3 überein. Niemand wurde für würdig befunden (oder: kein Würdiger wurde gefunden) kann auch so übersetzt werden: „Gott fand niemand als einen Würdigen“ … εὑρίσκειν [heuriskein] bedeutet hier „nach Suchen finden“.259 Wir haben es also gewissermaßen mit einem „offiziellen“ Urteil zu tun. Nach Zeitdauer und Zeitpunkt des Suchens oder Urteilens darf man hier nicht fragen. Nur soviel ist klar: Vor der Kreuzigung Jesu wurde „niemand gefunden“. Und ich weinte sehr (καὶ ἔκλαιον πολύ [kai eklaion poly]260) schreibt Johannes. Das Imperfekt als iteratives oder duratives Imperfekt261 nötigt uns, hier ein wiederholtes und starkes Weinen als Ausdruck schmerzlichster Trauer anzunehmen. Die prophetische Schau schließt ja im Unterschied zur Trance menschliches Denken, Reden und Fühlen nicht aus. Doch sollte man vorsichtig sein mit Bewertungen wie „starker Erregung“.262 Der Schmerz des Johannes ist nicht nur seelischer, sondern auch geistlicher Art (vgl. Joh 11,3335).263 Nachdenkenswert bleibt, was Bengel am Ende von V. 4 bemerkt: „Ohne Thränen ward die Offenbarung nicht geschrieben: ohne Thränen wird sie nicht verstanden.“ Die erste Szene, die V. 1-5 umfasst, wird nicht geschlossen mit dem Weinen, sondern mit einem trostvollen Zuspruch. Er geht aus von einem der 24 Ältesten und richtet sich direkt an Johannes: Da sagt einer der Ältesten zu mir (V. 5). Johannes lässt uns an der Dramatik des Vorgangs teilnehmen, indem er das Präsens gebraucht: sagt (λέγει [legei]). Es ist also einer der Ältesten (εἷς ἐκ τῶν πρεσβυτέρων [heis ek ton presbyteron]), der das Wort ergreift, und nicht eines der vier Wesen. Schon daraus kann man schließen, dass es um die Heilsgeschichte und eine Mitteilung an die Gemeinde geht, denn die Ältesten repräsentieren ja die Gemeinde. Weine nicht (μὴ κλαῖε [me klaie])! Das ist sonst ein göttliches Wort (vgl. Jer 31,16; Lk 7,13; 8,52). Wenn es der Älteste hier gebraucht, dann tut er es nach Gotttes Befehl und Auftrag. Der Zuspruch ist begründet: Siehe, es hat gesiegt der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids. 258 Warum V. 4 in manchen HSS ausgelassen wurde, wissen wir nicht. 259 Vgl. H. Preisker, Art. εὑρίσκω, ThWNT, II, 1935, S. 767f, der aber die Bedeutung „geistiges Finden“ annimmt. 260 Zu πολύ [poly] vgl. Blass-Debrunner § 154,3. 261 Vgl. Blass-Debrunner § 325.327. 262 So Bousset S. 256; Behm S. 34. 263 Bengel S. 321: „Das waren großmüthige Tränen.“
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Der Älteste – ein Engel, wie wir sahen – hat eine wahre Siegesbotschaft. Gesiegt hat (ἐνίκησεν [enikesen]) sagt er, wie man im politischen oder militärischen Bereich sagen würde: „Gesiegt hat Alexander“ – „Gesiegt hat Augustus“, oder wie man bei den Spielen sagen würde: „Gesiegt hat Leonidas.“ Um diesen Ton hier zur Geltung zu bringen, haben wir νικάω [nikao] mit siegen und nicht wie in den Sendschreiben mit „überwinden“ übersetzt.264 Im Siehe steckt ja schon der Hinweis, dass hier ein „letzter und unbegrenzter Sieg“265 der Weltgeschichte zur Sprache kommt. Aber der Älteste gebraucht in Offb 5,5 keinen Namen. Er wählt einen anderen Weg, um den Sieger zu bezeichnen: der Löwe aus dem Stamm Juda. Das kann nur ein Zitat aus Gen 49,9 sein:266 „Ein junger Löwe ist Juda“. H.-J. Zobel rechnet Gen 49,8-12 wie auch Dt 33,7 zu „den historisch zuverlässigen … Texten“ der alttestamentlichen Vätertraditionen.267 Seither geht das Bild vom Löwen als messianische Bezeichnung durch die jüdische Geschichte. Speziell zu Gen 49,9 bemerkt W. Michaelis, „auch das Spätjudentum“ habe diese Stelle „auf den Messias gedeutet“.268 Kein Zweifel also: Der Älteste meint Christus, nämlich Jesus Christus. Dass Jesus aus dem Stamm Juda hervorgegangen ist, betont auch der Hebräerbrief (7,14). Was der Älteste duch die Nennung des „Löwen aus dem Stamm Juda“ zum Ausdruck bringt, ist also dies: Uralte messianische Verheißungen sind dadurch in Erfüllung gegangen, dass Jesus Christus gesiegt hat. Verstärkt wird diese Aussage durch eine zweite Bezeichnung: die Wurzel Davids (ἡ ῥίζα Δαυίδ [he rhiza Dauid]. Dieselbe Bezeichnung wird uns noch einmal am Schluss der Offb, in 22,16, begegnen. Auch sie geht auf das AT zurück, nämlich auf die messianische Stelle Jes 11,1: καὶ ἐξελεύσεται ῥάβδος ἐκ τῆς ῥίζης Ιεσσαι καὶ ἄνθος ἐκ τῆς ῥίζης ἀναβήσεται [kai exeleusetai rhabdos ek tes rhizes Iessai kai anthos ek tes rhizes anabesetai] (LXX). Hier ist von dem Nachfahren Isais und zugleich Davids die Rede, der als Messias und Erlöser Gottes Ziele verwirklichen soll (vgl. Jes 1,10).269 „Der Synagoge ist das Bild vom Messias als der Wurzel Isais geläufig“, schreibt Christian Maurer.270 Wir nennen als Beispiele für diese dem antiken Judentum geläufige Siehe dazu O. Bauernfeind, Art. νικάω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 941ff. So Bauernfeind a.a.O. S. 944. So auch W. Michaelis, Art. λέων, ThWNT, IV, 1942, S. 258; Schlatter BFchTh S. 47. Art. י ְהוּו ָה, ThWAT, III, 1982, Sp. 521; vgl. den ganzen Artikel a.a.O. Sp. 512ff. A.a.O. Zu Qumran vgl. 1QSb V, 29. Der Wechsel von „Wurzel Isais“ zu „Wurzel Davids“ sollte uns nicht beunruhigen. Denn hier liegt ein Fall von „alchemy of Christ“ vor, wie Caird S. 74 treffend schreibt. 270 Art. ῥίζα usw., ThWNT, VI, 1959, S. 988. Vgl. Aune S. 350f; E. Lohse, Art. υἱὸς Δαυίδ, ThWNT, VIII, 1969, S. 482ff; Schlatter BFchTh S. 48. 264 265 266 267 268 269
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Redeweise nur Ps Sal 17,21ff; 18,7; ä Hen 48,1; 49,3; 4Qp Jes III, 10ff. Das NT legt großen Wert auf die davidische Abstammung Jesu (Mt 1,1ff; Lk 1,32f; 2,1ff; Röm 1,3 u. ö.). Es ist also auch hier in Offb 5,5 völlig klar, von welcher Wurzel die Rede ist: von Jesus, dem Sohn Davids. Röm 15,12 zeigt, dass Paulus dasselbe verkündigt.271 Vom Sieg Jesu sprechen auch Offb 3,21 und das Johannesevangelium (16,33). Die Schlussworte in V. 5: das Buch zu öffnen und seine sieben Siegel (ἀνοῖξαι τὸ βιβλίον καὶ τὰς ἑπτὰ σφραγῖδας αὐτοῦ [anoixai to biblion kai tas hepta sphragidas autu]) geben durch die Infinitiv-Konstruktion zu erkennen, dass die Öffnung des Buches und der Siegel eine Folge des Sieges Jesu Christi sind.272 Öffnen, ἀνοῖξαι [anoixai] erweist sich erneut als Leitwort unseres Kapitels. Doch um was für einen Sieg handelt es sich, der diese erlösende Öffnung ermöglicht? Die Antwort finden wir in V. 6. V. 6 ist der Zentralvers des Kapitels.273 Zum ersten Mal in der Gesamtschau der Kapitel 4 und 5 erblickt Johannes Jesus. Er beschreibt ihn auffallend ausführlich. Und ich sah (καὶ εἶδον [kai eidon]) markiert ein neues Bild. Und ich sah in der Mitte des Thrones und der vier Wesen und in der Mitte der Ältesten ein Lamm stehen, wie wenn es geschlachtet wäre … Erneut macht die Angabe in der Mitte des Thrones Schwierigkeiten (vgl. 4,6). Auch wenn 4,6 und 5,6 in diesen Worten zusammenstimmen, ist es höchst fraglich, ob beide Male dasselbe gemeint ist. Hier in 5,6 passt jedenfalls der Zahn’sche Vorschlag, „in der Mitte des Thrones“ als „in halber Höhe des Thrones“ zu verstehen,274 nicht mehr. Denn das Lamm als gleich hoch wie die vier Wesen und nur halb so hoch wie den Thron darstellen zu wollen, kann man Johannes schlecht unterstellen. Die parallelen Wendungen in der Mitte der vier Wesen und in der Mitte der Ältesten deuten eher auf einen räumlichen Sinn dieser Aussagen. Zahn war sich dessen vermutlich bewusst, als er in seiner Erklärung von Offb 5,6 schrieb: „Das Lamm steht auf dem Throne Gottes.“275 In unserem Kommentar sehen wir den Weg zum Verständnis durch Offb 3,21 gebahnt. Dort sagt der Auferstandene von sich selbst, er habe sich mit seinem 271 Vgl. wieder Maurer a.a.O. S. 990. A.a.O. stellt Maurer zugleich fest, dass ἡ ῥίζα Δαυίδ [he rhiza Dauid] mit „Wurzelspross aus David“ übersetzt werden muss. Aune S. 321ff übersetzt deshalb „Wurzel“ sachgemäß mit „descendant“. Wie Maurer auch Lohse a.a. O. S. 491; Zahn S. 335. 272 Blass-Debrunner § 391,8; Zahn S. 335,33. 273 Bezüglich des Lammes in V. 6f Charles I S. 141 nach J. Weiss: „the kernel of the Vision“. 274 Zahn S. 325. 275 Zahn S. 335.
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Vater „auf seinen Thron gesetzt“. Deshalb verstehen wir auch Offb 5,6 so, dass sich das Lamm auf dem Thron des Vaters befindet.276 Eine solche Deutung liegt umso näher, als das Stichwort νικάω [nikao] („siegen“) ebenfalls in Offb 3,21 auftaucht. Sinngemäß heißt in der Mitte des Thrones jedenfalls soviel wie „in Gottes nächster Nähe“.277 In der Mitte der vier Wesen bedeutet dann: Innerhalb des Kreises der vier Wesen (vgl. 4,6) und näher bei Gott als diese. Erst recht steht das Lamm innerhalb des Kreises der 24 Ältesten (in der Mitte der Ältesten) unvergleichlich viel näher bei Gott dem Vater als der Ältesten-Kreis.278 Warum sieht Johannes es erst jetzt? Schlatter meinte: „Bisher war … das Auge des Propheten gehalten, sodass er ihn noch nicht sah.“279 Es gibt aber noch eine andere Deutung, die ebenso viel für sich hat: Das spätere Sehen des Lammes bedeutet, dass es von seinem Sieg am Kreuz zum Thron des Vaters zurückkehrte (vgl. Dan 7,13; Joh 20,17; Apg 1,9ff; 1Tim 3,16). Schlatter sprach die Vermutung aus, dass Johannes Jesus Christus deshalb nicht in Menschengestalt sehen durfte, weil die Einheit Gottes durch „zwei menschliche Gestalten“ nebeneinander verletzt würde.280 Dies bleibt jedoch nur eine Vermutung. Wir müssen uns jetzt dem zuwenden, was Johannes mit klaren Worten sagt: Ich sah ein Lamm (ἀρνίον [arnion]). Seit Irenäus281 hat diese Aussage die christliche Theologie beschäftigt. Dass der Messias und Erlöser „Gottes Lamm“ (ὁ ἀμνὸς τοῦ θεοῦ [ho amnos tu theu]) ist, hat zum ersten Mal Johannes der Täufer eindeutig formuliert und zur Grundlage seiner Christologie gemacht (Joh 1,29.36). Es erfüllte sich, als Jesus am Karfreitag zu derselben Stunde starb, in der im Tempel die Passahlämmer geschlachtet wurden (Mt 27,46; Lk 23,44ff; Joh 19,26). Dass Jesus, das Lamm, für uns geschlachtet sei, haben Johannes (Joh 19,26; Offb 5,6), Paulus (1Kor 5,7) und Petrus (1Petr 1,19) gemeinsam gelehrt, die frühe christliche Theologie hat es übernommen.282 In dem Begriff „Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“ (ὁ ἀμνὸς τοῦ θεοῦ ὁ αἴρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου [ho amnos tu theu ho airon ten hamartian tu kosmu] Joh 1,29) fließen zwei alttestamentliche Aussagereihen zusammen. Die eine ist die Prophetie vom Gottesknecht, der in Jes 53,7 „wie 276 Ebenso Zahn a.a.O.; Hartenstein S. 93. 277 Schlatter S. 188. 278 Ebenso Bengel S. 323. Anders Caird S. 75f: zwischen dem Thron und den Wesen einerseits und den Ältesten andererseits. Wie Bengel und wir auch Morris S. 97; Bousset S. 257. Aune dagegen im Endergebnis wie Caird (S. 351f), ebenso Charles I S. 140. 279 Schlatter a.a.O. 280 Schlatter a.a.O. 281 Adv. haer. IV, 20,2.11. 282 Vgl. Irenäus a.a.O.; vorher schon Lukas Apg 8,32.
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ein Lamm“ (LXX ὡς πρόβατον ἐπὶ σφαγὴν ἤχθη καὶ ὡς ἀμνὸς [hos probaton epi sphagen echthe kai hos amnos] usw.) geschildert wird.283 Die andere ist die Liturgie des Großen Versöhnungstages, die in Lev 16,20ff einen „Sünden“-Bock vorschreibt (χίμαρος [chimaros] LXX), der alle Sünden Israels auf sich nimmt (16,22 LXX: ἐφ᾿ ἑαυτῷ τὰς ἀδικίας αὐτῶν [eph’ heauto tas adikias auton]).284 In der Zusammenschau beider Aussagereihen nimmt also der Messias als Gottesknecht die Sünden der Menschen auf sich und schafft ָ [ ָאascham]) sie durch sein Opfer der Lebenshingabe am Kreuz (Jes 53,10 שׁם hinweg. Und zwar mit Geltung für die gesamte Schöpfung, nicht nur für Israel (Joh 1,29; Kol 1,20; 1Joh 2,2). ἀρνίον [arnion] ist ein typischer Begriff der Offb. Außer Joh 21,15 begegnet er nur in der Offb, hier allerdings 29 Mal285. Seine Bedeutung Lamm ist nach Joachim Jeremias „gesichert“.286 Im Ergebnis hält Jeremias fest: „Die Aussagen der Offb über Christus als ἀρνίον schildern ihn als Erlöser und Weltherrscher.“287 Es wäre also abwegig, wenn wir mit dem „Lamm“ den Gedanken der Schwäche oder des Unvermögens verbinden würden.288 Außerdem müssen wir die Aussage wie wenn es geschlachtet wäre (ὡς ἐσφαγμένον [hos esphagmenon]) sorgfältig beachten. Sie hat ihren exegetischen Anhaltspunkt ebenfalls beim Gottesknecht in Jes 53,7: ὡς πρόβατον ἐπὶ σφαγὴν ἤχθη [hos probaton epi sphagen echthe], ferner in Jer 11,19: ἐγὼ δὲ ὡς ἀρνίον ἄκακον ἀγόμενον τοῦ θύεσθαι [ego de hos arnion akakon agomenon tu thyesthai] (LXX). Das griechische Wort σφάζω [sphazo] wird sowohl auf Tiere als auch auf Menschen angewendet und bedeutet „töten“, schlachten. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, dass es auch bei religiösen Schlachtungen, speziell den Opfern, Verwendung findet.289 Wieder ist σφάζω [sphazo] ein tyischer Begriff der Offb. Nur in 1Joh 3,12 begegnet es uns im NT außerhalb der Offb, in der Offb aber achtmal.290 Otto Michel zieht daraus den Schluss: „Das ‚geschlachtete Lamm‘ ist das grundlegende christo283 Dagegen Zahn S. 334,31. Richtig aber Charles I S. 141. 284 Als dritte Aussagereihe ist die über das Passalamm zu bedenken. Am Passa gedachte Israel der Erlösung, auch der künftigen (vgl. Ex 12,1ff; Num 28,16ff; Dtn 16,5ff). Allerdings dient das Passalamm nicht in gleicher Weise der Sühne wie die oben erwähnten Opfer des Gottesknechts und des Großen Versöhnugstages. Anders Zahn zu Offb 5,6: „Gegenbild des israelitischen Passalamms“. 285 J. Jeremias, Art. ἀμνός usw., ThWNT, I, 1933, S. 344f. 286 A.a.O. 287 A.a.O. S. 345. Ebenso Behm S. 36. 288 Schwierig hier Bengel S. 323: Johannes habe Jesus „als ein kleines zartes Lamm vor sich gehabt“. 289 Vgl. O. Michel, Art. σφάζω usw., ThWNT, VII, 1964, S. 925ff. 290 Michel a.a.O. S. 934.
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logische Motiv der johanneischen Apokalyptik“.291 Für Offb 5,6 ergibt sich, dass Jesus Christus hier als der Gottesknecht und Messias geschaut wird, der am Kreuz sich selbst zum Opfer gegeben hat und den Sühnetod für uns starb.292 Allerdings muss auch beachtet werden, dass Johannes nicht schreibt „das geschlachtet ist“, sondern nur: wie wenn es geschlachtet wäre.293 Man darf das wie (ὡς [hos]) wohl so verstehen, dass der auferstandene Jesus Christus noch immer die Wundmale der Kreuzigung an sich trägt, also sofort als der Gekreuzigte erkennbar ist (vgl. 1,7). ὡς [hos] wird gesetzt, weil er ja lebt.294 Folglich ist unstreitig, dass er der Erlöser ist.295 Ausleger wie J. Jeremias und O. Michel erklären Offb 5,6 genauer in der Weise, dass das Lamm „den Schächtschnitt noch am Halse trägt“.296 Dieses Lamm als der gekreuzigte und sühnende Erlöser steht (ich sah stehen, ἑστηκός [hestekos]). Zwar ließe sich ἑστηκός [hestekos] auch schwächer übersetzen mit „es war da“.297 Aber zu V. 7 („kam“ – „nahm entgegen“) passt besser die Übersetzung stehen. Wenn es sich auf dem Thron des Vaters befindet – wie wir oben gesehen haben –, fällt dieses „Stehen“ umso mehr auf. Die nächste Parallele ist wohl Apg 7,55. Demnach stünde Jesus Christus als „der treue und wahrhaftige Zeuge“ (Offb 3,14) für die Seinen zur Rechten des Vaters und würde das kommende Heil für die Erlösten auf den Weg bringen. Es bleibt aber auch die andere Deutung möglich, wonach Jesus „als Herr der ganzen Menschheit“ „aufrecht, triumphierend“ steht.298 Weil das Lamm eine solche zentrale Bedeutung hat, fügt Johannes noch zwei weitere Einzelheiten an: 1) Er sieht das Lamm mit sieben Hörnern. ἔχων [echon] („habend“) wird von Blass-Debrunner zu den „auffälligsten Solözismen“ im NT gerechnet.299 Ist aber Jesus Christus das Lamm, dann darf das maskuline ἔχων [echon] als constructio ad sensum nicht überraschen. Die Sieben ist uns als Gotteszahl schon vertraut. Horn, κέρας [keras], hebr. ֶקֶרן 291 A.a.O. 292 Mit E.M.B. Green spricht Hemer von „the prominence of the theme of the sacrificial death of Christ throughout the book“ (= der Offb), S. 44. 293 Im Gegensatz zur NGÜ sollten die Übersetzungen deshalb das „wie“ nicht unterschlagen. 294 Charles I S. 141. 295 Vgl. Jeremias a.a.O. 296 Michel a.a.O.; Jeremias a.a.O.; Bengel S. 324; Neue Jerusalemer Bibel S. 1790; Schlatter S. 189; Behm S. 36; Zahn S. 335; Charles I S. 141. 297 Bauer-Aland Sp. 775. 298 Neue Jerusalemer Bibel a.a.O. Schon Bengel a.a.O.; Jeremias a.a.O. („Weltherrscher“); Irenäus Adv. haer. IV, 20,2; Brütsch S. 254ff. 299 § 136,4.
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[qeren], „ist im AT direkter Ausdruck für Macht“.300 Als Ausdruck der Macht muss es auch in Offb 5,6 verstanden werden. Eine Erschwerung des Bildes tritt allerdings dadurch ein, dass das Horn in der Offb „mit den es tragenden Tieren in keiner organischen Verbindung steht“.301 Aber der Sinn ist klar: Mit sieben Hörnern besitzt das Lamm „die göttliche Fülle der Macht“.302 2) Johannes sieht das Lamm mit sieben Augen und bemerkt gleich dazu: das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.303 In 3,1 bezeichnet sich der Auferstandene selbst als den, der die sieben Geister Gottes hat. Das heißt, er hat den Heiligen Geist (vgl. 1,4; 4,5). Jetzt werden in Offb 5,6 diese sieben Geister Gottes als sieben Augen geschildert. Das heißt, der Auferstandene ist als Träger des siebenfachen Gottesgeistes (Jes 11,2) „allsehend“.304 Diese ganze Sprache ist gleichzeitig geprägt durch Sacharja (3,9; 4,10).305 Offb 5,6 verkündet also in den Schlussworten die Allmacht und Allwissenheit des Lammes. Ähnlich hat schon Irenäus interpretiert.306 Es bestätigt sich hier, was wir oben sagten, dass nämlich das Lamm nicht als Sinnbild der Schwäche oder des Unvermögens aufgefasst werden darf. Vieles geht hier über unsere technische oder organische Vorstellungskraft hinaus. Umso mehr sollten wir uns an J.A. Bengels einleitende Bemerkungen zu Offb 5 erinnern: „Daß in dem Himmel selbs kein Buch von Papier oder Pergamen (sic!) befindlich sey, das wird hoffentlich nicht nöthig seyn, einigen Menschen zu erinnern: eben so gewiß aber ist es auch, daß Jesus Christus nicht wirklich in der Gestalt eines Löwen oder Lämmleins in dem Himmel stehe oder gehe etc. sondern es ist diß alles Johanni im Gesicht also vorgestellet worden … Deswegen ist ein lauterer Sinn und grosse Vorsichtigkeit nöthig, daß man den Nachdruck der Weissagung nicht entkräfte, und doch
300 W. Foerster, Art. κέρας ThWNT, III, 1938, S. 668. 301 Foerster a.a.O. S. 670. Zahn beurteilt dies jedoch anders: Die Hörner seien „die angeborenen Schutz- und Trutzwaffen dieser Tiergattungen“ (S. 336). 302 Foerster a.a.O. 303 ἀπεσταλμένοι [apestalmenoi] bezieht sich auf ὀφθαλμοί [ophthalmoi]. Auf πνεύματα [pneumata] bezieht es Charles I S. 142. 304 Jeremias a.a.O. S. 345; Zahn S. 336. Anders Morris S. 97: Das Lamm hat die perfekte Allwissenheit. 305 LXX Sach 4,10. ἑπτὰ οὗτοι ὀφθαλμοὶ κυρίου εἰσὶν οἱ ἐπιβλέποντες ἐπὶ πᾶσαν τὴν γῆν [hepta hutoi ophthalmoi kyriu eisin hoi epiblepontes epi pasan ten gen]. Vgl. schon Bengel S. 324; Hemer S. 142. 306 Adv. haer. IV, 20,2. Sodann Bengel S. 325: „die göttliche Herrlichkeit Jesu Christi“. Ebenso Behm S. 36; Zahn S. 335; Brütsch S. 254.
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auch dem Buchstaben nicht ungebührlich nachhänge. Diß lassen wir uns bey gegenwärtiger Auslegung beständig angelegen seyn.“307 Jetzt schon sei außerdem bemerkt, dass Offb 5,6 ganz durchdrungen ist von dem Gedanken der Erfüllung des Alten Testaments. Denn Jesus wird ausschließlich in messianischen Bildern und Begriffen des Alten Testaments geschildert: Lamm – geschlachtet – mit sieben Hörnern – mit sieben Augen – gesandt in alle Lande. Verstärkt wird diese Erfüllungsgewissheit durch die Titel von V. 5: der Löwe aus dem Stamm Juda – die Wurzel Davids. In dem unglaublich breiten Spektrum der messianischen Weissagungen, die sich alle in Jesus erfüllen (2Kor 1,20), ist auch der scheinbare „ungeheure Widersinn“308 begründet, dass der Löwe zugleich als Lamm auftritt, und der Gekreuzigte zugleich alle Macht des Himmels und der Erde in sich vereinigt (vgl. Mt 28,18). Die zweite Szene setzt sich fort in V. 7. Im Unterschied zu den mehrfach geladenen Begriffen von V. 5 und V. 6 begegnen uns hier sehr einfache, elementare Worte. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es noch immer mit dem zentralen Vorgang des 5. Kapitels zu tun haben. Und es (= das Lamm) kam: So kurz die Bemerkung ist, so viel hat sie an Diskussion unter den Auslegern ausgelöst. Kam Christus, weil er erst „zum Thron emporsteigen“ musste?309 „Kam“ hier „Der von seinem Opfergang (= zum Kreuz) heimkehrende Sohn“?310 Oder bedeutet „kam“ gar keine größere räumliche Bewegung, sondern eher eine Bewegung des Bittens im Sinne von Ps 2,8?311 Da ἔρχομαι [erchomai] öfters nur „auftreten“ oder „zur Vornahme einer Handlung schreiten“ bedeutet,312 liegt die zuletzt genannte Bedeutung in Offb 5,7 am nächsten. Denn das Lamm befindet sich ja schon „in der Mitte des Thrones“. Eine besondere Bewegung des „Hinaufsteigens“ ist hier überflüssig. Johannes beschreibt also, wie sich das Lamm bittend und zugleich mit „hohem Recht“313 dem Vater zuwendet. Es – das Lamm! – ist also würdig (ἄξιος [axios], V. 2), das Buch zu öffnen, seine sieben Siegel zu lösen und hineinzusehen (vgl. V. 2-4). Das heißt zugleich: Die Absichten Gottes auszuführen, die Ziele in Kraft und Namen des Vaters zu erreichen. Kein Engel, kein Cherub, kein Saraf, kein Mose, kein Elia 307 Bengel S. 316f. 308 So Behm S. 35. 309 So z.B. Frey S. 80; Caird S. 76; Brütsch S. 258; Zahn S. 343; Behm S. 36; Charles I S. 143; NGÜ. 310 So z.B. Grünzweig S. 160. 311 So Bengel S. 325.324. 312 Joh. Schneider, Art. ἔρχομαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 663; Bauer-Aland Sp. 629. 313 Bengel S. 325.
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hat diese Würde. Sie resultiert allein aus Jesu Gehorsam „bis zum Tode“ und seiner völligen Hingabe im Sühnetod am Kreuz (vgl. Phil 2,5ff). Nur der Sohn ist würdig, das Buch zu empfangen.314 Und es nahm entgegen (καὶ εἴληφεν [kai eilephen]): In Offb 5,7 steht kein Akkusativobjekt. Dennoch ist völlig klar, was das Lamm entgegennahm: das Buch (vgl. V. 9). Das Perfekt εἴληφεν [eilephen] neben dem Aorist ἦλθεν [elthen] (kam) lässt sich als „erzählender Gebrauch des Perfekts erklären“315, das demnach neben dem Aorist durchaus möglich ist. Es fragt sich jedoch, ob Johannes in das Perfekt nicht doch mehr hineingelegt hat. Unseres Erachtens hat hier Zahn richtig interpretiert, wenn er schreibt: Johannes „macht … der freudigen Erregung Luft, die ihn … ergreift, mit dem Wort: ‚und er hat’s erreicht‘.“316 λαμβάνω [lambano] kann heißen „nehmen“, auch mit Gewalt („wegnehmen“), „annehmen“ oder „empfangen“/„bekommen“.317 Hier in Offb 5,7 kann nur „empfangen“ bzw. „bekommen“ zutreffen.318 Wir haben deshalb mit entgegennehmen übersetzt. Denn auch das andere ist klar: Die rechte Hand des Vaters überreicht dem Sohn das Buch. Der Vater will, dass es von ihm geöffnet, gelesen und ausgeführt wird. Auch da hat Bengel das Richtige gesehen: Der Vater „bot es öffentlich dar, es dem, der da würdig sey, zu geben“.319 Gott der Vater ist ja derjenige, der auf dem Thron sitzt (vgl. 4,2.9f; 5,1.13; 6,16; 7,10.15; 19,4; 21,5; 1Kön 22,19; 2Chron 18,18; Ps 47,9; Jes 6,1; Sir 1,8). Seine rechte Hand hielt nach Offb 5,1 das Buch empor. Die Rechte („Hand“ fehlt im Urtext wie in 5,1) symbolisiert die Kraft und das Heilshandeln Gottes. Man darf also – wie bereits bemerkt – den Inhalt des Buches nicht auf die göttlichen Gerichte begrenzen, sondern muss auf das Ganze der Wege blicken, die letztlich der Erlösung und dem Heil der Erlösten dienen. „Nun liegt“, sagt Hartenstein320, „das Schicksal der ganzen Menschheit und ihrer Geschichte, nun liegt der Weg und die Zukunft seiner Gemeinde in den Händen Jesu Christi: O Wunder, das kein Menschenherz zu fassen vermag, o Herrlichkeit, über der wir nur anbeten können!“
314 Vgl. Behm S. 36. 315 So Blass-Debrunner § 343,1; Charles I S. 143 mit Moulton und Blass; Hemer S. 144. 316 Zahn S. 343. Bousset sieht das Perfekt ebenfalls „mit Absicht“ gesetzt, weil Christus es „als bleibenden Besitz“ erlangt. Ähnlich Aune S. 354: Das Perfekt bewirkt, dass „The center of the action is highlighted“. 317 Vgl. G. Delling, Art. λαμβάνω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 5ff. 318 Irrig Behm a.a.O.: „mit schnellem, sicherem Griff“. 319 Bengel S. 316, vgl. S. 326. Vgl. Zahn S. 338: Gott „reicht es … dem Lamm hin“. 320 Hartenstein S. 95.
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Wer hat das Buch geschrieben? Es kommt nur derjenige infrage, der auf dem Thron sitzt, also Gott der Vater selbst. Sonst müsste das Lamm, also der Sohn, das Buch nicht öffnen und die Siegel lösen, um hineinsehen zu können. Dass Gott selbst schreibt, geht aus vielen Belegen im AT hervor (vgl. Ex 31,18; 34,1ff; Dtn 4,13; 9,10ff; 10,2).321 Verstehen wir richtig, so wusste bis Offb 5,6 auch der Sohn (das „Lamm“) nicht alles, was in dem Buch stand. Das scheint auch aus Mt 24,36par; Apg 1,7; Mt 20,23par hervorzugehen. Bevor wir zum Lobpreis des Lammes in V. 8f weitergehen, ist noch ein Punkt festzuhalten, den vor allem Bousset und Charles betont haben: Das Lamm erhält in Offb 5,6f „direkt“ die Attribute Gottes.322 Die Gottheit Jesu Christi steht für die Offb fest. Sie vertritt damit auch die Trinität. Für die Christologie der Offb sind das entscheidende Wahrheiten.323 Die Verse 8-14 bilden die dritte Szene. Bousset kann sie nicht genug rühmen: „ein wundervoller Abschnitt von grandiosem Aufbau“.324 Dieser Aufbau geschieht in drei konzentrischen Kreisen: 1) die vier Wesen und die Ältesten V. 8-10, 2) eine unzählbare Engelschar V. 11-12, 3) alle Geschöpfe V. 13. Dann beschließen die vier Wesen und die Ältesten den Lobgesang (V. 14). Es fällt auf, dass im Unterschied zu 4,8 die vier Wesen keinen eigenen Hymnus anstimmen. Doch hören wir den Bericht des Johannes: Und als es das Buch entgegennahm (καὶ ὅτε ἔλαβεν τὸ βιβλίον [kai hote elaben to biblion], V. 8): Schon Vitringa beschäftige sich eingehend mit der Frage, wie ein Lamm etwas „entgegennehmen“ könne: Mit den Füßen? Oder wie?325 Vitringa gibt darauf selbst die Antwort, Christus habe entweder nur teilweise einem Lamm geglichen, im Übrigen aber eine figura humana („menschliche Figur“) gehabt oder er habe auch als Lamm Hände gehabt.326 Wir erinnern uns an Bengels Bemerkung, „dass Jesus Christus nicht wirklich in der Gestalt eines … Lämmleins“ im Himmel gestanden habe. Vielmehr müsse dies als Bild verstanden werden.327 In der Richtung dieser alten Ausleger wird man tatsächlich die Antwort finden müssen.328 Die Frage, ob hier die Füße, der Mund oder evtl. doch Hände gemeint seien, ist also unsach321 Vgl. G. Schrenk, Art. γράφω usw., ThWNT, I, 1933, S. 744f; Zahn S. 337ff. 322 So Bousset S. 258; Charles I S. 142f. 323 Bengel zu Offb 5,7: „Da wurde er als der Herr und Richter aller Creaturen auf das allerfeyerlichste vorgestellet“ (S. 326). Gegen trinitanische Aussagen in der Offb Holtz S. 146. 324 Bousset S. 259. 325 Vitringa S. 210f. Vgl. Zahn S. 337. 326 A.a.O. 327 Bengel S. 316f. 328 Auch Luther scheint dahin zu deuten (Luthers Vorreden S. 182).
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gemäß. Johannes hat hier jedenfalls kein Problem, sonst würde er den Vorgang näher erklären. Da fielen die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm: Die vier Wesen sind wie in 4,8ff zuerst genannt. Das ist sachlich darin begründet, dass sie dem Thron Gottes näher stehen als die Ältesten (4,6). Die Anbetung dehnt sich also vom innersten Kreis der Geschöpfe immer weiter in die Schöpfung hinein aus. Wenn sie vor dem Lamm niederfielen (ἔπεσαν329 ἐνώπιον τοῦ ἀρνίου [epesan enopion tu arniu]), vollzieht sich ein Akt der Anbetung,330 der dem Lamm die Würde der Gottheit zuerkennt.331 Vor Engeln fällt man nicht nieder (Offb 22,8f). Das Niederfallen leitet zugleich den Lobpreis ein. Dabei hatte ein jeder eine Harfe. ἔχοντες [echontes] bezieht sich grammatisch näher auf die Ältesten, schließt vermutlich aber doch auch die vier Wesen mit ein.332 Wollte man die Harfen und die Schalen nur den Ältesten zugestehen, dann müsste man die Subjekte von ἔπεσαν [epesan] und ἔχοντες [echontes] voneinander trennen, was unnatürlich anmutet. Für Harfe steht κιθάρα [kithara]. Die κιθάρα [kithara] taucht auch in Dan 3,5 LXX auf. Dort leitet sie die Anbetung des Bildes Nebukadnezars ein. Es scheint, dass Offb 5,8ff die wahre Anbetung im Gegensatz zur falschen in Dan 3 darstellt. Diese Deutung wird verstärkt durch die Beobachtung, dass die κιθάρα [kithara] auch in 1Kor 14,7, also im frühchristlichen Gottesdienst, und in Offb 14,2; 15,2 zur wahren Anbetung dient. Hinzu kommt die weitere Beobachtung, dass [ ִכּנּוֹרkinnor], das hebräische Wort, das die LXX oft mit κιθάρα [kithara] wiedergibt,333 im alttestamentlichen Gottesdienst eine wichtige Rolle spielt.334 Die Formen dieser „Harfen“ waren offensichtlich verschieden, außerdem diente [ ִכּנּוֹרkinnor] „als Bezeichnung für verschiedene Musikinstrumente“.335 Eine genauere Beschreibung der „Harfen“ von Offb 5,8 zu wagen ist deshalb nicht ratsam. Eines allerdings lässt sich deutlich erkennen: Die Liturgie von Offb 5,8f schließt sich an den wahren Gottesdienst des AT an, nimmt ihn gewissermaßen zum Modell. Die Anbetenden trugen außer den Harfen auch goldene Schalen voll Räucherwerk (φιάλας χρυσᾶς γεμούσας θυμιαμάτων [phialas chrysas gemusas
329 Die Aoriste in V. 8 sind erzählende Aoriste, die bestimmte konkrete und punktuelle Ereignisse schildern, vgl. Blass-Debrunner § 318. 330 W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 163f. 331 Jeremias a.a.O. S. 345; Morris S. 98. 332 Anders Bengel und Vitringa zur Stelle. Wie wir Morris S. 98; Hartenstein S. 96. 333 Vgl. dazu M. Görg, Art. כּנּוֹר ִ , ThWAT, IV, 1984, Sp. 216. 334 Vgl. Görg a.a.O. Sp. 215; Aune S. 355ff. 335 Görg a.a.O. Sp.216.
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thymiamaton]). φιάλη [phiale] ist die Schale, speziell die „Opferschale“.336 Das Wort kommt nur in der Offb vor. Dass es goldene Schalen sind, erinnert uns an den goldenen Räucheraltar in Stiftshütte und Tempel (Ex 30,1ff) sowie an die goldenen Schalen in Ex 25,29. Wir sind also wie bei der κιθάρα [kithara] (Harfe) in einem gottesdienstlichen Vorgang, einer himmlischen Liturgie. Das drückt sich auch darin aus, dass kein irdisches Räucherwerk dargebracht wird. Vielmehr besteht das Räucherwerk aus den Gebeten der Heiligen (αἱ προσευχαὶ τῶν ἁγίων [hai proeuchai ton hagion]). Wer sind diese Heiligen? Die Gerechten des Alten Bundes (vgl. Mt 27,52)? Oder Engel (Mk 8,8; Offb 14,10)? Oder gläubige Christen?337 Letzteres ist der überwiegende Sprachgebrauch der Offb (13,7.10; 14,12; 16,6; 17,6; 18,20.24; 19,8; 20,9; 22,11). Aber da Offb 5,8 an Ps 141,2 anklingt338 und zumindest in Offb 11,18 auch alttestamentliche Gläubige gemeint sein können (vgl. noch Mt 27,52; Lk 1,70; Apg 3,21; Eph 3,5; 2Petr 3,2), empfiehlt sich eine weitere Fassung der „Heiligen“. Wir verstehen darunter also diejenigen Mitglieder des Gottesvolkes sowohl im Alten als auch im Neuen Bund, die in die neue Schöpfung aufgenommen werden. Wir verstehen darunter außerdem sowohl die Mitglieder der Ecclesia militans (der noch auf Erden leidenden Gemeinde) als auch der Ecclesia triumphans (der im Glauben bereits vollendeten, verstorbenen Menschen).339 Mit Otto Procksch beziehen wir den Begriff „Heilige“ auf Menschen340 und nicht auf Engel. Wie reich mögen die Gebete gewesen sein, die dem Lamm in 5,8 dargebracht wurden! προσευχή [proseuche] bezeichnet ja „das Gebet im umfassendsten Sinne“.341 Man kann darunter Gebete der Anbetung, des Lobpreises, des Dankes, aber auch der Klage und des Schmerzes z.B. der Märtyrer verstehen (Offb 6,9ff). Alles geschieht in der Gewissheit „Du erhörst Gebet“ (Ps 65,3) und „Lass als Rauchopfer vor dir stehen mein Gebet“ (Ps 141,2). „Das Gebet eines Gerechten vermag viel“ (Jak 5,16). Es wird deutlich, dass der dreieinige Gott schon begonnen hat, „den Geist der Gnade und des Gebets“ auszugießen (Sach 12,10). Schöpfung und Menschheit durchzieht eine Sehnsucht nach Erlösung. Weil jetzt die Vollendung naht, steigen allenthalben die Gebete zu Gott und dem Lamm empor. 336 Bauer-Aland Sp. 1711. Bengel S. 327: „Priester=Gefäße“. 337 Schlatter S. 191; Bousset S. 259; Aune S. 359; schon Irenäus Adv. haer. IV, 17,6; dann Behm S. 37. 338 Schon Vitringa S. 214f wies darauf hin. 339 Frey S. 81 grenzt ein auf „das Gebet der Gemeinden auf Erden“, in der Sache ebenso Grünzweig S. 162f. 340 O. Procksch im Art. ἅγιος usw., ThWNT, I, 1933, S. 1933, S. 111. 341 H. Greeven im Art. εὔχομαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 807.
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Und sie singen ein neues Lied (καὶ ᾄδουσιν ᾠδὴν καινὴν λέγοντες [kai adusin oden kainen legontes], V. 9): Das sind die vier Wesen und die 24 Ältesten gemeinsam (vgl. V. 8). Das Präsens sie singen sticht hervor aus den erzählenden Aoristen der Verse 7 und 8 (ἦλθεν [elthen] – ἔλαβεν [elaben] – ἔπεσαν [epesan]). Es soll wohl andeuten, dass dieses neue Lied in Ewigkeit nicht verklingt und auch alle künftigen Äonen füllt. Mit dem Begriff ein neues Lied berühren wir ein Thema, das im Alten wie im Neuen Testament wichtig ist (vgl. Ps 33,3; 40,4; 96,1; 98,1; 144,9; 149,1; Jes 42,10; Offb 5,9; 14,3). Es kann sich auf einen Einzelnen beziehen, der ein neues, von Dank erfülltes Gottesverhältnis erfährt (Ps 40,4; 144,9). Häufiger aber geht es darum, dass das ganze Gottesvolk zu neuem Dank und neuer Erkenntnis eingeladen wird bzw. die neuen, herrlichen Wunder Gottes preist. „Singet dem Herrn ein neues Lied“ konzentriert so unseren Lobpreis und unsere Anbetung auf den herrlichen Gott (Ps 33,3; 96,1; 98,1; 149,1; Jes 42,10). Hier in Offb 5,9 sind es die Repräsentanten der gesamten Schöpfung (die vier Wesen) und des Volkes Gottes (die 24 Ältesten), die dieses neue Lied anstimmen: ein Zeichen der Weltenwende. Jetzt erfüllen sich Ps 96,1; 98,1; 149,1; Jes 42,10 im Tiefsten. ִ Für das Verständnis von Offb 5,9 ist es wichtig, dass das hebräische שׁיר [schir] nicht nur Lied, sondern auch „Gesang“ und „Musik“ bedeuten kann.342 Diesem hebr. Begriff entspricht es, wenn in Offb 5,8f auch die Musik ִ [schir] = „Lied“/„Musik“ „ausder Harfen beteiligt ist. In den Psalmen hat שׁיר schließlich religiös-sakrale Bedeutung“.343 Auch darin dokumentiert sich, dass wir uns in V. 8f in einer himmlischen Liturgie, ja gewissermaßen dem „Gottesdienst aller Gottesdienste“ befinden. Speziell zu der Aufforderung, Gott ein neues Lied zu singen, notiert G. Brunert eine „universale Ausrichtung“, wobei Gott als „Weltenlenker gepriesen und die Welt zu seinem Lobpreis aufgerufen wird“.344 Auch dies trifft auf Offb 5,9 zu. Für theologisch „hoch bedeutsam“ hält es Brunert, dass das „neue Lied“ häufig endzeitlich ausgerichtet und „gottgewollt“ ist. Es sei ein „Ausdruck der gläubigen Erwartung zukünftiger Rettung“.345 All dies passt ausgezeichnet zu Offb 5,9: Die universale Erlösung vollzieht sich ab jetzt durch das Lamm, und der Lobpreis des Lammes ist gottgewollt.346 342 343 344 345 346
G. Brunert / M. Kleer / G. Steins, Art. שׁיר, ThWAT, VII, 1993, Sp. 1265. A.a.O. Sp. 1266. A.a.O. Sp. 1274. A.a.O. Sp. 1278. Vgl. H. Schlier, Art. ᾄδω usw., ThWNT, I, 1933, S. 163ff; J. Behm, Art. καινός usw., ThWNT, III, 1938, S. 451.
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Würdig bist du (ἄξιος εἶ [axios ei]): Der Hymnus für das Lamm fängt genau gleich an wie der Hymnus für den Vater auf dem Thron (4,11). Erneut zeigt sich die Gottheit des Lammes als des Sohnes Gottes347. Vgl. die Erklärung bei 4,11. Auch hier ist nur von der Würde, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen, die Rede (vgl. 5,2). Die wirkliche Eröffnung der Siegel erfolgt erst 6,1. Wer die Gottheit nicht hat, kann weder nehmen noch öffnen. Entscheidende Bedeutung besitzt die Begründung der Würde: 1) Denn du wurdest geschlachtet, 2) du hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft, 3) du hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht. Alles ist hier konzentriert auf das Du: das Lamm, also Jesus, den Sohn Gottes. Du wurdest geschlachtet: Der historische Aorist blickt auf das einmalige Geschehen der Kreuzigung zurück. Zum Begriff schlachten vgl. die Erklärung oben bei V. 6. Und leitet die Folge der Kreuzigung ein: Du hast mit deinem Blut348 Menschen für Gott erkauft. Das Blut, das Jesus am Kreuz vergoss, hat sühnende Bedeutung.349 Vorausgesagt war das schon bei Jesaja (53,7-10). Im ganzen Neuen Testament, bei Paulus, Petrus, Johannes und dem Hebräerbrief, kommt der Sühne durch das Blut Jesu Christi entscheidende Bedeutung zu – auch in der Offb.350 Nachdem ihre Sünden gesühnt sind, können die Glaubenden ihrerseits für Gott leben (vgl. Röm 14,8). Sie sind jetzt Menschen für Gott erkauft. Diese erlösende Sühne hat nicht, wie man fälschlich verstehen könnte, eine „automatische“ Wirkung für die gesamte Menschheit. Sie setzt für ihre Wirksamkeit vielmehr die gläubige Annahme durch den einzelnen Menschen voraus (vgl. Offb 13,10). Erkaufen, ἀγοράζω [agorazo], kann als Tat Jesu Christi nur im Zusammenhang mit seinem Erlösungswerk gesehen werden. „Erkauft“ oder „freigekauft“ wurden wir aus der Sklaverei von Sünde, Tod und Teufel (vgl. Mt 12,24ff; Röm 6,19ff; 7,7ff; 1Kor 6,20; 7,23; 15,55ff; Offb 1,18). Dies geschah durch das Blut Jesu, den höchsten Kaufpreis der Geschichte (1Kor 6,20; 7,23; 1Petr 1,18f; 2Petr 2,1; Offb 5,9; 14,3f).351 Auch wenn die Annahme dieser Erlösung individuell geschieht, sammelt Jesus Christus die Erlösten in einer universalen Gemeinschaft aus allen Stämmen (ἐκ πάσης φυλῆς [ek pases phyles]) und Sprachen (γλώσσης [glosses]) und Völkern (λαοῦ [lau]) und Nationen (ἔθνους [eth347 348 349 350 351
Ebenso Caird S. 76. Bzw. „durch dein Blut“. Das ἐν [en] vertritt den Gen. pretii (Blass-Debrunner § 219,3). J. Jeremias a.a.O. S. 345; O. Michel a.a.O. S. 934; Schlatter S. 192. Vgl. J. Behm, Art. αἷμα usw., ThWNT, I, 1933, S. 173ff. Vgl. F. Büchsel, Art. ἀγοράζω usw., ThWNT, I, 1933, S. 126: In Offb 5,9 wird „die Größe der Leistung des Lammes gefeiert“.
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nus]). Der Lobpreis blickt an dieser Stelle auf das End-Ergebnis. Der Anfang im Israelland war freilich winzig, vergleichbar einem Senfkorn (Mt 13,31-32). Stamm, φυλή [phyle], kommt im NT am häufigsten in der Offb vor352, ein Zeichen ihrer alttestamentlichen Sprachprägung. Stamm bezeichnet einen durch gemeinsame Abstammung charakterisierten Verband von Menschen (z.B. die 12 Stämme Israels). Sprache, γλῶσσα [glossa], meint hier die von einer politischen oder soziologischen Menschengruppe gesprochene Sprache (vgl. Apg 2,11).353 Volk, λαός [laos], hebräisch [ ַעםam], bezeichnet die „Völkerschaft“.354 Nation wählten wir als gebräuchliche Übersetzung für ἔθνος [ethnos]. Dieses ἔθνος [ethnos] lässt sich nur schwer von λαός [laos] abgrenzen, tendiert aber entsprechend dem hebräischen [ גּוֹיgoj] zur Beziehung der „Heidenvölker“ im Unterschied zu Israel.355 Wie in der Forschung häufig bemerkt, fasst Offb 5,9 φυλαί [phylai] (Stämme), γλῶσσαι [glossai] (Sprachen), λαοί [laoi] (Völker) und ἔθνη [ethne] (Nationen) zusammen, „um den Gesamtumfang der Menschheit in ihrer völkischen und sprachlichen Gliederung zu bezeichnen“.356 Diese Zusammenfassung hat ihr Vorbild im Danielbuch.357 Auffallenderweise stoßen wir wieder auf Dan 3, wo zweimal ἔθνη [ethne], φυλαί [phylai] und γλῶσσαι [glossai] beim falschen Gottesdienst vor Nebukadnezars Bild erwähnt werden (Dan 3,4.7)358 Aber auch das positive Gegenbild findet sich im Danielbuch. In Dan 7,14 wird nämlich dem göttlichen Erlöser, dem Menschensohn, die Herrschaft über „alle Völker, Nationen und Sprachen“ übertragen.359 In Offb 5,9 kommen wieder beide Linien zusammen: Das Lamm, der Menschensohn Jesus Christus, wird gepriesen als endzeitlicher Erlöser für Menschen aus allen Völkern und Sprachen, und außerdem findet hier der wahre Gottesdienst schlechthin statt, mit Geltung für die gesamte Schöpfung und Menschheit (vgl. Offb 7,9; 10,11; 11,9; 13,7; 14,6; 17,15). Auch V. 10 gehört noch zum gemeinsamen Lobpreis der vier Wesen und der vierundzwanzig Ältesten: und hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden. Du: nämlich das 352 Nach Christian Maurer einundzwanzigmal von insgesamt einunddreißigmal (Art. φυλή, ThWNT, IX, 1973, S. 244). 353 Siehe J. Behm, Art. γλῶσσα usw., ThWNT, I, 1933, S. 719ff. 354 H. Strathmann im Art. λαός, ThWNT, IV, 1942, S. 33. 355 Vgl. G. Bertram / K.L. Schmidt, Art. ἔθνος usw., ThWNT, II, 1935, S. 362ff. 356 H. Strathmann a.a.O. S. 51. 357 Vgl. J. Behm a.a.O. S. 720; Aune S. 361. 358 Vgl. Bousset S. 260, der auch auf 4 Esr 3,7 hinweist. 359 Vgl. meinen Kommentar „Der Prophet Daniel“, WStB, 1982, S. 282f. Die LXX hat hier nur πάντα τὰ ἔθνη τῆς γῆς κατὰ γένη [panta ta ethne tes ges kata gene].
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Lamm (vgl. V. 9). Der Vers entspricht weitgehend Offb 1,6 (vgl. auch Offb 20,6). Vgl. die Erklärung dort. Im Unterschied zu 1,6 heißt es jetzt allerdings sie, nämlich die „Menschen aus allen Stämmen usw.“, und nicht mehr „uns“.360 Außerdem ist jetzt zwischen βασιλείαν [basileian] und ἱερεῖς [hiereis] ein καί [kai] eingeschoben. Schließlich wurde „Gott“ erweitert zu unserem Gott. Die innige Verbindung zum Lamm (du) besitzt also ihr Pendant in der innigen Verbindung zum Vater (unserem Gott). Wieder wird die Erfüllung von Ex 19,6 gefeiert.361 Der Lobpreis der Wesen und Ältesten endet mit den Worten: und sie werden herrschen362 (βασιλεύσουσιν [basileususin]) auf Erden. Erstmals erscheint hier βασιλεύω [basileuo] in der Offb, das aber auch in Offb 20,4.6 und 22,5 eine große Bedeutung hat. In Offb 11,15.17; 19,6 ist es von Christus bzw. Gott ausgesagt. Eine nahe Parallele bildet der Überwinderspruch in 2,26ff. Wer mit Christus lebt, wird auch mit Christus herrschen.363 Ein unüberhörbarer Akzent liegt auf den letzten drei Worten ἐπὶ τῆς γῆς [epi tes ges] (auf Erden).364 Angesichts Offb 20,4.6 müssen wir diese Worte auf das Tausendjährige Reich beziehen. Die alte, sündenbeladene Erde mit ihren schrecklichen Tyrannen wird also am Ende der Geschichte, nach Jesu Wiederkunft, eine Segensherrschaft der Erlösten erleben.365 Mit V. 11 treten wir in den zweiten Teil der dreifachen Doxologie in Offb 5 ein. Dieser zweite Teil umfasst die Verse 11-12. Sein Inhalt ist der Lobpreis einer unzählbaren Engelwelt. Mit den Worten Und ich sah (καὶ εἶδον [kai eidon]) markiert Johannes ein neues Bild. Auf das Sehen folgt das Hören: und ich hörte eine Stimme vieler Engel rings um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten. Zuerst spricht Johannes nur von undefinierbar vielen Engeln. Wir erinnern uns daran, dass auch die Wesen und die Ältesten Engelgestalten sind, wenn auch hervorgehoben vor den Übrigen.366 Die vielen Engel bilden einen Kreis rings um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten. Einen HalbKreis könnte man sich hier nur schwer vorstellen. Es ergeben sich aufgrund 360 ἡμᾶς [hemas] in einigen HSS ist vermutlich Korrektur nach 1,6. 361 Auch Jes 61,6 erfüllt sich. 362 Vorausgesetzt, das Futur ist ursprünglich, was allerdings von der besseren Bezeugung geboten wird. Vgl. Blass-Debrunner § 177,2; Zahn S. 345. 363 Schlatter S. 192: „Das Gebet der Ältesten wird zur Weissagung.“ 364 „Über die Erde“ bleibt eine mögliche Übersetzung. Sinngemäß ändert sich dadurch nichts. 365 Richtig Bousset S. 261: Hier zeige sich bereits die „chiliastische Grundanschauung“ des Apokalytikers. Vgl. Schlatter S. 193 sowie Zahn S. 345, der auf Mt 5,5 verweist. Ablehnend gegenüber einem Bezug auf das Tausendjährige Reich Caird S. 77; Morris S. 100. 366 Anders Vitringa S. 219, der die Wesen und die Ältesten nicht zu den Engeln rechnet.
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der Aussagen in Kap. 4 und 5 bisher also drei konzentrische Kreise um den Thron: 1) Der Kreis der vier Wesen (4,6), 2) der Kreis der 24 Ältesten (4,4), 3) der Kreis der vielen Engel. Dementsprechend schreitet das Lob von innen nach außen fort: von den Wesen (4,8) zu den Ältesten (4,8) und jetzt von beiden gemeinsam (5,9f) zu den weiter entfernt befindlichen Engeln. Was sie mit ihrer Stimme sagen, berichtet V. 12. Und es war ihre Zahl Myriaden von Myriaden und Tausende von Tausenden: Zahl (ἀριθμός [arithmos]) ist ein typisches Wort der Offb. Von 14 Belegen im NT gehören sieben zur Offb (acht zum johanneischen Schrifttum insgesamt). O. Rühle schrieb:367 „Zahlenspekulation und Zahlenmystik sind in der Johannesapokalypse stark ausgeprägt.“ Auch wenn man nicht so weit gehen will wie Johann Albrecht Bengel, so darf man doch die Bedeutung der Zahlen in der Offb nicht unterschätzen. Bisher waren es die 7 (1,4 u. ö.), die 3 (1,4f u. ö.), die 10 (2,10), die 24 (4,4 u.ö.) und die 4 (4,6 u. ö.), die uns als solche Zahlen mit bestimmter Bedeutung begegnet sind. In ihnen spiegelt sich Gottes Ordnung, Gottes Weisheit, Gottes Schönheit und Gottes Wille. Jetzt aber, in Offb 5,11, ist es eine unbestimmte Zahl. Myriaden von Myriaden (μυριάδες μυριάδων [myriades myriadon]) haben wir in den Begriffen des Griechischen stehen gelassen. Bauer-Aland gibt als Übersetzung für μυριάς [myrias] an: „die Myriade (zehntausend)“.368 Demgemäß könnte man im Deutschen sagen: „Zehntausende von Zehntausenden“ bzw. „Zehntausend mal Zehntausende“. Für Tausende steht das normale griechische Wort für „Tausendschaft“: χιλιάς [chilias]. Es besteht weitgehende Übereinstimmung, dass Johannes die „Zahl Myriaden von Myriaden und Tausende von Tausenden“ „im Anschluss an Dan 7,10“ formuliert hat.369 Dort sagt die LXX: χίλιαι χιλιάδες … καὶ μύριαι μυριάδες [chiliai chiliades … kai myriai myriades] (Offb 5,22: … καὶ χιλιάδες χιλιάδων [kai chiliades chiliadon]). Aramäisch steht dahinter: [ ֶאֶלף ַאְלִפים … ְוִרבּוֹ ִר ְבּוָןeleph alphim … weribbo ribbewan]. Das sind die höchsten Zahlbegriffe, die Daniel zur Verfügung standen. Wir würden heute sagen: „Millionen und Milliarden“ oder einfach: „Unzählige“. Übrigens stimmt die Offb bei den unzähligen Engeln mit antiken jüdischen Schriften wie dem äthiopischen Henochbuch überein (ä Hen 14,22; 40,1; 60,1; 71,8).370 Wir sind hier wieder ganz in der Welt des AT
367 Art. ἀριθμέω usw., ThWNT, I, 1933, S. 462. Ähnlich E. Lohse, Art. χιλιάς usw., ThWNT, IX, 1973, S. 458. 368 Sp. 1072. 369 Lohse a.a.O.; Schlatter BFchTh S. 19; Aune S. 363. 370 Vgl. Lohse a.a.O.
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und des frühen Judentums.371 Für das hebräische [ ְרָבָבהrewawah] = „Zehntausend“ bemerkt H.-J. Fabry, es bezeichne „eine unbestimmte – die Zählbarkeit übersteigende – große Menge, dies besonders in der Verbindung mit ᾿alapim ‚Tausende‘“.372 Das also ist auch der Sinn der Zahlenangabe in Offb 5,11. V. 12 teilt uns nun mit, was sie mit lauter Stimme und in völliger Einheit373 sagten. λέγοντες [legontes], das wir durch „sagten“ wiedergegeben haben, kann ebenso gut durch „sagen“ wiedergegeben werden.374 Im ersten Fall bezieht es sich auf die Schilderung des „Damals“ der Schau des Johannes, im zweiten Fall auf den ewig gesungenen und ewig gültigen Hymnus. Wir müssen beide Möglichkeiten offenlassen.375 Statt ἄξιος εἶ [axios ei] (4,11; 5,9) heißt es, jetzt ἄξιόν ἐστιν [axion estin]. Die „du“-Formulierung ist also zu Ende. Drückt sich darin vielleicht die größere Distanz zum Throngeschehen aus – nicht als innere Distanz, sondern als größere Entfernung der Lobpreisenden vom Thron?376 Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist: Auch dieser Hymnus gilt dem Lamm auf dem Thron. Und auch hier bleibt das Merkmal des Gekreuzigten, für uns Menschen geschlachtet und geopfert zu sein, von zentraler Bedeutung. In alle Ewigkeit wird Jesus nicht nur der Auferstandene, sondern auch der Gekreuzigte bleiben. Als der wahrhaft würdige Gottessohn darf Jesus nehmen = empfangen, was ihm die Lobpreisenden anerkennend bestätigen. Zunächst die Kraft (τὴν δύναμιν [ten dynamin]). Sie kommt nach 4,11 auch Gott dem Vater zu. Weil es nur eine Gottheit in Gestalt der Personen des Vaters und des Sohnes gibt, kann das, was an Würde von der einen Person ausgesagt wird, zugleich von der anderen Person gesagt werden. Zur Kraft vgl. die Erklärung bei 4,11. Dort sind auch die Erklärungen zu Ehre (τιμή [time]) und Preis (δόξα [doxa]) zu finden. Aber nun erweitert sich der Lobpreis beim Lamm zu einer siebenfachen Doxologie. Dem Lamm kommt auch Reichtum (πλοῦτος [plutos]) zu. Gemeint ist in unserem Zusammenhang die Fülle des Wirkens, das, was Gott oder Christus in grenzenloser Fülle besitzen.377 Ihm kommt Weisheit (σοφία [sophia]) zu. Gemeint ist die göttliche Weisheit, die alle menschliche Weisheit unendlich übertrifft (vgl. 1Kor 1,19ff).378 Zur Weisheit tritt die Stär371 Vgl. auch Hebr 12,22; Jud 14. Blass-Debrunner § 164,1 spricht in Offb 5,11 von einem „Übersetzungssemitismus“. 372 Art. רב ַ , ThWAT, VII, 1993, Sp. 300. Vgl. Morris S. 100. 373 Morris a.a.O.: „the unity of their song“; Schlatter S. 193 „ganz einträchtig“. 374 So z.B. Schlatter S. 193. 375 Zu λέγοντες [legontes] als Solözismus vgl. Blass-Debrunner § 136,5. 376 So jedenfalls deutet Bengel S. 332. 377 Bauer-Aland Sp. 1355. Vgl. F. Hauck/W. Kasch, Art. πλοῦτος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 328. Anders Schlatter S. 193: der Reichtum, „mit dem er alle begaben kann“.
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ke (ἰσχύς [ischys]) hinzu. ἰσχύς [ischys] bezeichnet „Stärke“, „Macht“, „Vermögen“ und gehört zu Gottes ewigem Wesen und Gottheit.379 Die Siebenheit der Doxologie schließt mit dem Lob (εὐλογία [eulogia]). εὐλογία [eulogia] hat hier wahrscheinlich den Sinn von Preis, Ruhm und Lob, den die Gottheit mit Recht empfängt.380 Der Hymnus besitzt eine große Schönheit. Das Polysyndeton der Aufreihung Kraft und Reichtum usw. „ruft durch die Summierung den Eindruck von Größe und Fülle hervor“.381 Man wird erinnert an Wilhelm Bousset, der an anderer Stelle zu Offb 5 bemerkte: „Wieder sind die Erlebnisse des Visionärs von gigantischer Mächtigkeit.“382 Eine enge Parallele erscheint im siebenfachen Gottesgeist des Messias nach Jes 11,2, wo unter anderem die Stichwörter σοφία [sophia] und ἰσχύς [ischys] (LXX) wieder auftauchen. Sodann hat Schlatter auf das Lob der Engel in Ps 103,20-22 hingewiesen.383 In der Tat lässt sich Offb 5,11-12 als Erfüllung von Ps 103,20-22 verstehen. Noch näher allerdings ist die Doxologie in 1Chron 29,11f, die David sprach und aus der der Vaterunser-Schluss stammt, mit Offb 5,12 verwandt.384 Der 13. Vers bringt den dritten Teil der großen Doxologie von Offb 5. Er enthält den Lobpreis aller Geschöpfe. Der Anschluss in V. 11f ist überraschend einfach. Es steht nur das schlichte καί [kai]. Das Prädikat ἤκουσα [ekusa] begegnet weit abgerückt in der Mitte des Verses, während das Akkusativobjekt ganz nach vorne gezogen ist. καί [kai] ließe sich ebenso gut mit „auch“ statt „und“ übersetzen. Johannes hörte jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was in ihnen ist, … sagen. Damit hat er alle nur denkbaren Geschöpfe im universalsten Sinne zusammengefasst. Diese Beschreibung ist noch vollständiger als in V. 3, weil er jetzt noch speziell das Meer und alles, was in ihnen ist, erwähnt. Für den Begriff des Geschöpfes (κτίσμα [ktisma]) ist es wichtig, dass „κτίζω und seine Derivate … im NT nur vom göttlichen Schaffen gebraucht werden“,385 ähnlich dem hebräischen [ בראbara]. κτίσμα [ktisma] ist dann das einzelne Geschöpf,
378 Vgl. U. Wilckens im Art. σοφία usw., ThWNT, VII, 1964, S. 489ff.525. 379 Vgl. W. Grundmann, Art. ἰσχύω usw., ThWNT, III, 1938, S. 402. 380 Bauer-Aland Sp. 653; H.W. Beyer im Art. εὐλογία usw., ThWNT, II, 1935, S. 761. Bengel S. 331 übersetzt mit „Segen“. 381 Blass-Debrunner § 460,3f. 382 Bousset S. 255. 383 BFchTh S. 20. 384 Vgl. Behm S. 37; Morris S. 101; Aune S. 364. 385 W. Foerster, Art. κτίζω usw., ThWNT, III, 1938, S. 1027.
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das sich dem Willen Gottes verdankt. Es verwundert, dass hier auch jedes Geschöpf, das im Himmel ist genannt wird. Sind nicht die Engel schon in V. 11 erwähnt worden? Gibt es da noch einen Rest? Bei der Antwort auf diese Frage müssen zwei Aspekte einbezogen werden: 1) kann an diejenigen gedacht werden, die nach dem Sterben im „Paradies“ (Lk 23,43), in „Abrahams Schoß“ (Lk 16,22) oder im „dritten Himmel“ (2Kor 12,2) – kurz gesagt: im Warteraum der verstorbenen Erlösten sind. Möglicherweise sind sie schon zu den Geschöpfen, die im Himmel sind, gerechnet; 2) werden am Ende auch der Teufel und die gefallenen Engel in das Lob des Lammes und des Vaters einstimmen müssen (Phil 2,10). Überhaupt steht Phil 2,6ff ganz nahe bei Offb 5,13. Schaut also Offb 5,13 schon auf die Vollendung der Geschichte, dann können hier durchaus auch die gefallenen Engel, die bis dato Geschöpfe im Himmel gewesen sind, einbezogen sein.386 – Zu den Geschöpfen auf Erden und unter der Erde vgl. die Erklärung bei V. 3. Hier treten die Geschöpfe auf dem Meer387 und in ihnen (= in Himmel, Erde, unter der Erde und Meer) mit hinzu. Solche Aufreihungen enthalten auch schon die Psalmen des Alten Testaments (z.B. Ps 146,6). Für Johannes, der jahrelang in der Welt der Ägäis und inmitten des meerbegeisterten Griechentums gewirkt hat, mochte sich eine solche Aufzählung schon von daher nahelegen. Ohne Zweifel bestätigt Offb 5,13 die Aussage von Werner Foerster: „Ein wichtiges Zeugnis von Gott dem Schöpfer ist Offb.“388 Aber nun ist doch noch einmal festzuhalten, dass dieser Hymnus nicht nur Gott gilt, sondern auch dem Lamm. Wir können diesen Sachverhalt nur so deuten, dass Jesus Christus, das Lamm, der Schöpfungsmittler ist.389 Eine weitere Frage ist die, ob Johannes nur von der belebten oder auch von der „unbelebten“ Kreatur spricht. Der Ausdruck jedes Geschöpf (πᾶν κτίσμα [pan ktisma]) legt die zweite Möglichkeit nahe. Mit Foerster390 gehen wir also davon aus, dass beides, die belebte wie die unbelebte Kreatur, gemeint ist. Wieder unterstützen die Psalmen (Ps 148; 96,12; 97,6; 98,4ff) und das AT insgesamt (Jes 55,12) unsere Deutung. Eine besondere Frage ist diejenige, wie Johannes alle diese Geschöpfe wahrnehmen und hören konnte. Wir können sie im Einzelnen nicht beantworten. Aber der, dessen Blick, vom heiligen Geist erleuchtet, bis zum Thron
386 387 388 389 390
Bengel S. 333: „Es mögen heilige oder abgefallene Geschöpfe seyn.“ Oder: „im Meer“. A.a.O. S. 1029. So auch Foerster a.a.O. S. 1032. A.a.O. S. 1031. Ebenso P. Müller S. 22; Vitringa S. 221.
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Gottes, dem Zentrum aller Dinge, dringt, der ist wohl auch in der Lage, von diesem Zentrum aus das Ganze aller Dinge wahrzunehmen. Der Lobpreis der vier Wesen, der 24 Ältesten und der unzähligen Engel hatte dem Lamm gegolten. Die Wesen und die Ältesten hatten ja schon zuvor den Vater gepriesen (4,8.11). Jetzt gilt der Lobpreis aller Geschöpfe gemeinsam dem Vater (Dem, der auf dem Thron sitzt) und dem Lamm. Die Schöpfung bekennt damit an einer wichtigen Stelle die Trinität. Statt der siebenfachen Doxologie von V. 12 bringt sie eine vierfache dar. Das erscheint als sehr sinnvoll, da die Vier die Zahl der gesamten Schöpfung ist. Im Einzelnen sind es: das Lob (εὐλογία [eulogia]) – die Ehre (τιμή [time]) – der Preis (δόξα [doxa]) – die Macht (κράτος [kratos]). Bekanntlich sind es typische Attribute Gottes, vgl. die Erklärung zu V. 12. Erneut wird also die Gottheit Jesu Christi, des Lammes, ausgesagt.391 Neu ist τὸ κράτος [to kratos]. Es tritt hier wohl an die Stelle von ἰσχύς [ischys] (V. 12). Im ganzen Neuen Testament wird κράτος [kratos] (Macht) niemals „vom Menschen ausgesagt“.392 Mit κράτος [kratos] ist „die überlegene Macht Gottes gemeint, der auch der Endsieg gehören wird.“393 Dies gehört oder „gebührt“ für Zeit und Ewigkeit (von Ewigkeit zu Ewigkeit) dem dreieinigen Gott. Es fällt auf, dass Judas 25 eine nahe Parallele zu Offb 5,13 bildet. Noch einmal sei hervorgehoben, dass Offb 5,13 keine Momentaufnahme schildert. In der ewigen, himmlischen Welt Gottes hört Johannes vielmehr das Lob, das ewig, und das heißt ganz praktisch: am Ende der Zeiten, erschallen wird (vgl. Phil 2,10).394 Es bestimmt aber schon die Gegenwart. Denn die himmlische Welt ist die Zone der geschichtsbestimmenden Entscheidungen. Im Übrigen zeigt Offb 5,13, dass alle Geschöpfe dazu geschaffen sind, dass sie den dreieinigen Gott loben (vgl. 1Kor 15,28). Gott will nicht nur in der unmittelbaren Umgebung seines Thrones, sondern in der gesamten Schöpfung gelobt sein. V. 14 bringt die Bestätigung durch die Wesen und die Ältesten: Und die vier Wesen sagten: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an. Wie in V. 8-10 handeln die Wesen und die Ältesten gemeinsam. Gemeinsam haben sie die doxologische Trilogie begonnen, gemeinsam schließen sie sie ab. Auch hier stehen die vier Wesen an der Spitze, weil sie dem Thron näher sind. Aber gemeinsam haben beide Gruppen von Engeln das Recht, auf das 391 392 393 394
Morris S. 102. W. Michaelis, Art. κράτος usw., ThWNT, III, 1938, S. 907. Michaelis a.a.O. S. 908. Schlatter S. 196: Es „kommt das Endziel der göttlichen Regierung schon hier zur Darstellung“. Ebenso Brütsch S. 287; Hartenstein S. 97; Grünzweig S. 167.
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Lob der übrigen Geschöpfe das Amen zu sprechen und die himmlische Liturgie abzuschließen. Beide handeln in völliger Harmonie. Dennoch sollten wir eine feine Differenz nicht übersehen. Sie liegt darin, dass nur die vier Wesen das „Amen“ sagen, während andererseits nur die Ältesten anbetend niederfallen. Die himmlischen Aufgaben sind also verschieden, wie auch die Aufgaben der Erlösten in der neuen Schöpfung verschieden sein werden (vgl. Lk 19,1719; Offb 22,3)395. Das Imperfekt ἔλεγον [elegon] (sagten) deutet als iteratives oder duratives Imperfekt396 an, dass das Amen immer wieder und bis in alle Ewigkeit gesprochen wird. Dieses hebräisches „Amen“, das die Offb liebt (1,7; 3,14; 5,14; 7,12; 19,4; 22,20), ist also ein wirkliches Ewigkeitswort.
IV Zusammenfassung 1. Die Kapitel 4 und 5 bilden die größte zusammenhängende Einzelvision in der ersten Hälfte der Offb. Es hat ein nicht zu überschätzendes Gewicht, dass die Offb den Blick auf den Thron Gottes noch vor die geschichtlichen Abläufe stellt. Dadurch wird von Anfang an klargemacht, dass alle Entscheidungen über die Geschichte und über die Gemeinde am Thron Gottes fallen. 2. Von den insgesamt 25 Versen der beiden Kapitel entfallen fünf auf Doxologien. Bezieht man deren Vorbereitungen und Abschlüsse mit ein, dann ergeben sich insgesamt elf Verse, die der Doxologie gewidmet sind: also fast die Hälfte des Inhalts der beiden Kapitel. Im Einzelnen sind es fünf Doxologien, die wir hier vernehmen. Das heißt: Das nachhaltigste Geschehen am Thron Gottes ist der Lobpreis, ist die Liturgie, ist der Gottesdienst im eigentlichsten Sinne. Das ist ein Ausdruck höchsten Wirkens und nicht einfach „majestätischer Ruhe“, wie viele Ausleger behaupten. Man könnte zugespitzt sagen: Die Liturgie regiert die Geschichte. 3. In der Doxologie kristallisiert sich die Trinität heraus. Zuerst erblicken wir Gott den Vater und den Heiligen Geist (4,2.5), dann das Lamm als Gottes Sohn (5,6). Die Doxologien selbst konzentrieren sich auf den Vater und den Sohn, Gott und das Lamm (5,9-14). Sie geschehen im Heiligen Geist, worauf das „neue Lied“ als von Gott gewolltes Lied deutet. Sie sind auf Schöpfung (4,11) und Erlösung bezogen (5,9f.12.13): Diese beiden sind das Werk des dreieinigen Gottes, ohne dass man sie säuberlich trennen und auf Vater oder Sohn verteilen könnte. 4. Die Erlösung jedoch ist in erster Linie eine Tat des Lammes. Das Lamm wird gepriesen als Erlöser. Seine Lebenshingabe im Sühnetod durch Vergie395 Ähnlich Bengel S. 335. 396 Vgl. Blass-Debrunner § 325ff.
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ßen seines Blutes („geschlachtet“) bedeutete den Freikauf der Menschen aus der Gewalt der Sünde, des Todes und des Teufels. Nun sind die glaubenden Menschen zu ewiger königlicher und priesterlicher Existenz bestimmt (5,9f). 5. Die Beschreibung durch Johannes ist tief vom Alten Testament geprägt. Tragende Begriffe wie die „Wesen“, die „Ältesten“, die „weißen Kleider“, der „Löwe aus dem Stamm Juda“, „die Wurzel Davids“, „die sieben Geister Gottes“, das „Lamm“, das „neue Lied“, die „Könige und Priester“ und das „Amen“ sind ohne das Alte Testament gar nicht zu verstehen. Besonders häufig stießen wir auf Hesekiel, Daniel, Jesaja, Sacharja und die Psalmen als Grundlage der Beschreibung. 6. Wirkungsgeschichtlich gehen viele Lieder der Christenheit und viele Mosaiken, Fresken und Bilder auf Offb 4 und 5 zurück. Das gilt vor allem für die Darstellung Christi als des Lammes. Man denke an „Christe, du Lamm Gottes“, „O Lamm Gottes unschuldig … geschlachtet“, „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, oder an das Osterlied „Es hat der Löw aus Judas Stamm heut siegreich überwunden, und das erwürgte Gotteslamm hat uns zum Heil erfunden …“.397 Zur Kunstgeschichte vgl. Brütsch S. 254ff. 7. Man kann annehmen, dass der urchristliche Gottesdienst manche Motive und Wendungen aus Offb 4–5 aufnahm bzw. schon enthielt. Eine Ableitung der Doxologien in Offb 4–5 aus dem urchristlichen Gottesdienst ist aber unseres Erachtens nicht möglich. Andererseits setzen die Doxologien der Offb offenbar die Psalmentradition des AT ein Stück weit fort. Sie sind jedoch ein „neues Lied“ auch in dem Sinne, dass Christus jetzt zentrale Bedeutung hat. 8. Es sei noch angemerkt, dass die Kirchenväter seit Irenäus (Adv. haer. III, 11, 8) die vier Evangelistensymbole von den Cherubim und den vier Wesen von Offb 4 abgeleitet haben.
2. Das Lamm öffnet die ersten sechs Siegel, 6,1-17 I Übersetzung 1 Und ich sah: Als das Lamm das erste398 von den sieben Siegeln öffnete, da hörte ich eines der vier Wesen wie mit Donnerstimme sagen: Komm! 399 2 Und ich sah, und siehe: ein weißes Pferd. Und der auf ihm 397 Evangelisches Gesangbuch, Württemberg, 1996, Nr. 190,2; 190,1; 83; 114,6. Weitere Beispiele a.a.O. Nr. 87,2; 90,1; 101,5; 190.3. Vgl. Zahn S. 334. 398 Kraft: „eines der sieben Siegel“ (S. 116). 399 Die Zufügung καὶ ἴδε [kai ide] ist sekundär. Vgl. Morris S. 103. Gegen Bengel; Vitringa S. 241. Zahn S. 348 übersetzt „Geh hin!“.
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saß, hatte einen Bogen, und es wurde ihm eine Krone gegeben, und er zog sieghaft aus und um zu siegen. 3 Und als es das zweite Siegel öffnete, hörte ich das zweite Wesen sagen: Komm! 4 Und es kam ein anderes Pferd heraus, ein feuerrotes. Und dem, der auf ihm saß, wurde es gegeben, den Frieden von der Erde wegzunehmen, sodass sie einander hinschlachten, und ihm wurde ein großes Schwert gegeben. 5 Und als es das dritte Siegel öffnete, hörte ich das dritte Wesen sagen: Komm! Und ich sah, und siehe: ein schwarzes Pferd. Und der auf ihm saß, hatte eine Waage in seiner Hand. 6 Und ich hörte etwas wie eine Stimme inmitten der vier Wesen sagen: Eine Chönix Weizen für einen Denar, und drei Chönix Gerste für einen Denar,400 aber das Öl und den Wein sollst du nicht schädigen. 7 Und als es das vierte Siegel öffnete, hörte ich die Stimme des vierten Wesens sagen: Komm! 8 Und ich sah, und siehe: ein fahles Pferd. Und der auf ihm saß, trug den Namen „Tod“,401 und das Totenreich folgte ihm.402 Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, um zu töten durch403 Schwert und durch Hunger und durch Pest und durch die wilden Tiere auf Erden. 9 Und als es das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen, das sie hatten, hingerichtet worden waren. 10 Und sie riefen mit lauter Stimme: Bis wann, o Herr,404 du Heiliger und Wahrhaftiger, richtest du nicht und schaffst Recht für unser Blut bei denen, die auf der Erde wohnen? 11 Und es wurde jedem von ihnen ein weißes Gewand gegeben, und ihnen gesagt, dass sie noch eine kleine Zeit ruhen müssten, bis auch ihre Mitknechte und ihre Brüder vollzählig wären, die auch noch wie sie getötet werden sollten. 12 Und ich sah: Als es das sechste Siegel öffnete, da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack und der Mond wurde ganz wie Blut, 13 und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von einem starken Wind geschüttelt wird, 14 und der Himmel wich wie ein Buch, das zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln wurden wegbewegt von ihren Orten. 15 Und die Könige der Erde und die Vornehmen und die militärischen Befehlshaber und die Reichen und die Starken und alle Knechte und Freien verbargen sich in den Höhlen und in den Felsen der Berge, 16 und sie sagen zu den Bergen und 400 401 402 403 404
Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 141,11; 252,4; 480,4. Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 128,3; 144,2. Vgl. Blass-Debrunner § 193,2. Blass-Debrunner § 195,4: „mit“. Vgl. Blass-Debrunner § 147,5.
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zu den Felsen: Fallt über uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! 17 Denn es ist gekommen der große Tag ihres Zornes, und wer kann bestehen?
II Struktur Das sechste Kapitel der Offb hat einen festen Rhythmus. Er wird gebildet durch die Zahlen der geöffneten Siegel. Dadurch erinnert Offb 6 an den Anfang der Genesis mit ihrem Rhythmus der Schöpfungstage. Sechs von den sieben Siegeln werden hier geöffnet. Das siebente folgt erst in 8,1, also zwei Kapitel später. Durch diese Anordnung erhält das siebente und letzte Siegel eine besondere, weiterführende Bedeutung. Der Zusammenhang der sieben Siegel-Öffnungen von 6,1 bis 8,1 wird üblicherweise mit dem Begriff der „Siegel-Gesichte“ bezeichnet. Dabei muss aber bedacht werden, dass 7,1-8 und 7,9-17, jeweils eingeleitet durch μετὰ τοῦτο (ταῦτα) εἶδον [meta tuto (tauta) eidon], eine wichtige und eigenständige Bedeutung besitzen. Wir werden dieser Bedeutung bei der Besprechung des siebten Kapitels nachgehen. Der Neuansatz des sechsten Kapitels ist verhältnismäßig schwach ausgeprägt durch καὶ εἶδον [kai eidon], das auch in 5,1; 5,6; 5,11 die Einleitung bildete. Damit wird angedeutet, dass wir die Kapitel 4–6 in einem verhältnismäßig engen Zusammenhang sehen müssen. Schlatter hat dies dadurch ausgedrückt, dass er Kap. 4–6 zu einer größeren Einheit zusammenstellte unter der Überschrift „Jesus öffnet Gottes Buch“.405 Auch wenn die Öffnung der Siegel quantitativ den meisten Raum beansprucht, darf doch nicht vergessen werden, dass das Lamm die Zentralgestalt des sechsten Kapitels darstellt. Sein Handeln ist der Ausgangspunkt aller Geschehnisse. Ob diese Geschehnisse einen fortlaufenden Charakter haben, also einen Geschichtsablauf darstellen, muss in der folgenden Auslegung geprüft werden. Die Gliederung ist durch das Nacheinander der sechs Siegelöffnungen fest vorgegeben.
III Einzelexegese Der Anfang des 1. Verses καὶ εἶδον ὅτε … καὶ ἤκουσα [eidon hote … kai ekusa] wirkt holprig. Doch ist die Offb kein am Schreibtisch ausgefeiltes Werk eines mitteleuropäischen Professors. Sie ist reflektiert, aber nicht elegant-raffi405 S. 177. Vgl. auch Pohl S. 192.
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niert. Die Wortfolge καὶ εἶδον [kai eidon] (und ich sah) – ἤκουσα [ekusa] (da hörte ich) bedeutet eine Abfolge der Erlebnisse: Zuerst sieht Johannes die Siegelöffnung durch das Lamm, danach erst hört er eines der vier Wesen sprechen. ὅτε [hote] heißt jedenfalls als.406 Der Grundvorgang besteht also im Handeln des Lammes = Jesu Christi. Als das Lamm das erste407 von den sieben Siegeln öffnete: Zur SiebenZahl vgl. die Erklärung bei 5,1. Wie das Lamm das erste Siegel öffnete, wird nicht gesagt. Es kann durch Wort oder Tat geschehen sein. Die Siegelöffnung hat zunächst eine relativ kleine Folge: Eines der vier Wesen – Johannes sagt nicht, welches408 – beginnt zu reden. Wie bei der Schöpfung steht am Anfang das Wort! Allerdings wie (beachte das Vergleichswort!) mit Donnerstimme. Dass Donner vom Thron Gottes ausgehen, sagte uns 4,5. Was dieses Wesen ausspricht, gibt also den Willen Gottes wieder. Aber dass Gott nicht direkt redet, hat doch seine Bedeutung. Offensichtlich steht Gott in einer gewissen Distanz zu dem, was nun geschieht, er vollbringt – in der Sprache Luthers zu reden – ein „fremdes Werk“. Es ist nur ein einziges Wort, das Johannes berichtet: Komm! Im Imperativ Präsens ἔρχου [erchu] kommt eine „bestimmte einmalige Handlung“409 zum Ausdruck. Das hier angerufene Geschöpf410 kommt also nicht ewig und ewig wieder, sondern in einer oder mehreren abgrenzbaren Phasen der Geschichte. Aber es gehorcht aufs Wort. Komm! bleibt geheimnisvoll. Woher kommt es? Das erfahren wir nicht. „Komm“ hat hier den Sinn von „Tritt auf!“, „Geh ans Werk!“411 Wir erinnern uns an die biblische Redeweise, wonach besondere Tage (vgl. V. 17) oder Gerichte über die Erde kommen (vgl. 3,10).412 Und ich sah, und siehe: ein weißes Pferd (V. 2): Auffallenderweise schildert Johannes das Pferd vor dem Reiter. Das „Pferd“ ist in der Bibel weder das Reittier Moses – trotz der berühmten ägyptischen Pferde (1Kön 10,28f) –, noch Davids noch das des Messias (Sach 9,9). Rosse und Wagen sind eher ein Bild für Feinde (Ex 15,1; 2Sam 15,1; Hab 1,8) oder sonst ein negatives
406 407 408 409 410
Vgl. Blass-Debrunner § 382,9. Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 247. Bengel S. 337 identifiziert es mit dem löwenartigen Wesen. Blass-Debrunner § 336,3.5. Fälschlicherweise bezieht Bengel a.a.O. das „Komm“ auf Johannes. Vgl. dagegen Bousset; Charles I S. 161; Zahn S. 348ff. 411 Anders Pohl S. 192f: „Lauf!“ Richtig Morris S. 103: „It calls him (the horseman) into action.“ 412 Vgl. Joh. Schneider, Art. ἔρχομαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 667ff.
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Bild (Ps 20,8; 32,9; 33,17; 147,10; Jes 31,3; Hos 1,7).413 Daneben steht aber eine andere Reihe von Aussagen des AT. Hier sind Pferde und Rosse Vollstrecker des Willens Gottes, ihre Reiter „himmlische Boten“, die „in kriegerischer Gestalt (Funktion)“ die Aufträge Gottes erfüllen,414 z.B. 2Kön 2,11; 6,17. In dieser zweiten Reihe ragen die Nachtgesichte Sacharjas hervor, die jetzt das Modell für die sog. „apokalyptischen Reiter“ von Offb 6 abgeben: Auch bei Sacharja spielt die Vier-Zahl eine Rolle, auch bei Sacharja sind die Pferde verschiedenfarbig, auch bei Sacharja tragen sie die Farben „Weiß“, Schwarz und Rot, auch bei Sacharja führen sie bestimmte Aufträge durch (Sach 1,8ff; 6,1ff). Robert Hanhart spricht denn auch in seinem großen Sacharja-Kommentar von einer „Aufnahme der nachsacharjanischen Tradition in der Johannesapokalypse in der Gestalt der ‚apokalyptischen Reiter‘ (6,18).“415 Und der auf ihm saß, hatte einen Bogen, und es wurde ihm eine Krone gegeben, und er zog sieghaft aus und um zu siegen: Hier ist es entscheidend, an welcher Stelle die Deutung ansetzt. Man kann beim weißen Pferd des wiederkommenden Messias Jesus und den weißen Pferden des himmlischen Heeres von Offb 19,11ff ansetzen und kommt dann zu der Deutung, der Reiter (der auf ihm saß) sei eine positive Gestalt, ja der Messias selbst. Diese Deutung hat unter anderem deshalb Gewicht, weil sie Irenäus als einer der alten und meist zuverlässigen Kirchenlehrer vertrat.416 Aber der Bogen fehlt in Offb 19,11ff. Hier jedoch, in Offb 6,2, ist der „Bogen“ das charakteristische Merkmal des ersten apokalyptischen Reiters. Setzt man bei diesem Charakteristikum an, dann kommt man zu einer ganz anderen Deutung. Zunächst hat schon Johann Albrecht Bengel darauf hingewiesen, dass die folgenden drei Siegelöffnungen jeweils einen Gerichtsvorgang schildern und folglich auch beim ersten Siegel keine positive Gestalt erwartet werden darf. Vielmehr sei der Sieger „ein Conquerant“.417 Das wird durch die Beobachtungen bestätigt, die wir zum „Bogen“ machen. Zahlreiche assyrische Abbildungen zeigen zum Beispiel, dass die Bogenschützen eine Hauptwaffe der assyrischen Eroberer darstellten.418 Für Israel war der „Bogen“ dagegen nicht Vgl. O. Michel, Art. ἵππος, ThWNT, III, 1938, S. 337. Michel a.a.O. Hanhart S. 75f. Ebenso die meisten Ausleger. Adv. haer. IV, 21,3. Ebenso Victorinus, Primasius, Beda, Bullinger, Grotius, Vitringa, B. Weiss, Hartenstein. (Charles I S. 164). Dagegen Bengel S. 347ff. 417 Bengel S. 346. Anders Bousset S. 265. 418 Vgl. S. Mittmann in GBL, 3, S. 1660ff; T. Kronholm. Art. שׁת ֶ ֶק, ThWAT, VII, 1993, Sp. 222. Zum Bogen als charakteristische Waffe der Perser vgl. Herodot Hist V, 49; VII, 61. Schon Vitringa S. 243: „ex moribus Gentium Asianarum“. 413 414 415 416
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besonders typisch. Andererseits jedoch steht der „Bogen“ „als Metapher für ‚Krieg‘“;419 außerdem für Ehre, Stärke und Kampfkraft.420 Otto Michel hat also recht, wenn er den Reiter von Offb 6,2 als jemanden bezeichnet, „der von außen mit fremder Waffe … angreift“.421 Alle diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass der erste apokalyptische Reiter in Offb 6,2 den Typus des Welteroberers422 darstellt. Das weiße Pferd ist dann im Sinne von Sach 1,8ff; 6,1ff zu verstehen: Es symbolisiert den göttlichen Auftrag, den Welteroberern freie Bahn zu geben, und symbolisiert zugleich deren Siege.423 Ihr Durchsetzungsmittel ist der Krieg. Die Krone bzw. der „Kranz“ ist das Kennzeichen des Siegers, des Triumphators und des Herrschers.424 Beispielsweise trägt Augustus auf der Ara Pacis einen solchen στέφανος [stephanos]. Lorbeerkränze kennzeichnen in Rom den Triumphator und seine Soldaten. Auch die Siegesgöttin (Victoria) wird üblicherweise mit einem Siegeskranz in der Hand dargestellt.425 Besondere Beachtung verdient das gegeben (ἐδόθη [edothe]). Im Bereich der johanneischen Sprache bedeutet es stets „Gott hat gegeben“: vor allem den Weltreichen und gottfeindlichen Mächten hat Gott eine (befristete) Wirkungsmöglichkeit übertragen, wobei Gott Herr des Geschehens bleibt. (Joh 19,11; Offb 13,5.7.14.15). ἐδόθη αὐτῷ στέφανος [edothe auto stephanos] heißt also: Gott gewährt ihm für eine bestimmte Zeit Triumph und Herrschaft.426 Wie mögen dies die ersten Leser gelesen und gehört haben, wenn sie sich unter dem Bild des ersten Reiters Augustus, Claudius, Nero, Domitian oder Trajan oder der Barbarenkönige vorgestellt haben! Wie unendlich groß standen darüber Gott und das Lamm! So nahe eine solche zeitgeschichtliche Deutung auf die Römer427 oder – vor allem in der Moderne beliebt428 – auf die Parther liegt, so kann sie doch nur eine Teilerfüllung darstellen. Man muss sich dafür offenhalten, dass der erste apokalyptische Reiter alle Welteroberer einschließ-
419 420 421 422 423 424 425 426 427 428
Kronholm a.a.O. Sp. 224. Kronholm a.a.O. A.a.O. S. 338. Bengel: „Conquerant“. Vgl. Charles I S. 163. Vgl. W. Michalis, Art. λευκός usw., ThWNT, IV, 1942, S. 247ff; Charles I S. 162. Charles I S. 163; Kraft S. 116; Wikenhauser S. 59; Morris S. 104. Vgl. dazu W. Grundmann, Art. στέφανος usw., ThWNT, VII, 1964, S. 619f. Vgl. O. Bauernfeind, Art. νικάω usw. ThWNT, IV, 1942, S. 943. Nach Bousset S. 266 möglich (Spitta). Auf Trajan deutet Bengel S. 348ff. Wikenhauser S. 59; Lohse S. 47; Charles I S. 163; Kraft vorsichtig S. 116; Bousset S. 266; Charles I S. 163 (Bezug auf Vologaeses’ Sieg über die Römer 62 n.Chr.), der Holtzmann, Ramsay und Swete als weitere Vertreter nennt; Schlatter S. 196; Caird S. 80.
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lich des Antichrist bis zum Ende der Geschichte symbolisiert.429 Er zog sieghaft aus (ἐξῆλθεν νικῶν [exelthen nikon]) oder einfach „als Sieger“430, zeigt subjektiv sein Selbstbewusstsein und objektiv die erfolgreiche erste Zeit seines Auftretens. Und um zu siegen (καὶ ἵνα νικήσῃ [kai hina nikese]) zeigt die künftige siegreiche Ausdehnung. Seine Macht wälzt sich wie in Dan 7,5ff scheinbar unwiderstehlich über immer weitere Teile der Erde. Aber sein Sieg bringt Krieg und Leid über die Menschen.431 Wer ist nun dieser Reiter? Die Reiter von Sach 1,8ff sind nach R. Hanhart „Engelwesen“432. Dasselbe müssen wir für Offb 6,1ff annehmen. Es handelt sich also um einen Engel, einen Boten Gottes, der die Geschichtsereignisse auf der Erde in Gang setzt, hier konkret: die verschiedenen Züge der Welteroberer. Dies geschieht im Auftrag Gottes. Ihm dient dieser Engel in aller Treue. Der Zweck der Ereignisse ist ein innergeschichtliches Gericht, das zur Buße der Menschen führen soll (vgl. Lk 13,1ff; 2Petr 3,9.15; Offb 9,20f; 16,9). Offb 6,2 hebt also nicht die menschliche Verantwortung auf, sondern stellt gerade in diese Verantwortung hinein. Bevor wir zu V. 3 weitergehen, müssen wir noch eine Parallele notieren, die viele Ausleger beschäftigt hat,433 nämlich Mt 24,6 (Mk 13,7; Lk 21,9). Dort nennt Jesus in seiner Endzeitrede als erstes eschatologisches Geschehen den Krieg. Besteht eine Verwandtschaft im Aufbau von Mt 24,6ff parr und Offb 6,1ff? Wir müssen diese Frage im Auge behalten.434 In V. 3 und 4 öffnet das Lamm das zweite Siegel. Wieder ertönt – diesmal vom zweiten Wesen – der Befehl Komm (ἔρχου [erchu])! Heraus kam ein anderes Pferd. Und wieder wird nicht gesagt, woher es kommt. Doch lässt sich aus dem Kontext entnehmen, dass sich jetzt ein zweites Engelwesen (der zweite apokalyptische Reiter) auf den Weg zur Erde macht. Sein Pferd ist ein feuerrotes (πυρρός [pyrros]). Auch Sacharja sah „rote Pferde“ (ἵπποι πυρροί [hippoi pyrroi], 1,8; 6,2 LXX). In der Offb ist der große Drache „feuerrot“ (12,3). Von daher schließt Friedrich Lang auf einen „kampflüsternen, mörde429 Anders Bousset S. 265, der nur die zeitgeschichtliche Deutung auf die Parther zulässt. Vgl. aber Kraft S. 116f; Morris S. 104f; Grünzweig S. 172ff; P. Müller S. 23. Auf den Antichrist deutet Pohl I S. 194f; auf den menschlichen Hochmut Brütsch S. 282f; auf die weltliche Obrigkeit M. Luther 1530 (Vorreden S. 182). 430 Bauernfeind a.a.O. 431 Es geht also auch nicht um den Siegeslauf des Evangeliums, wie Zahn S. 352f, Hilgenfeld, Kübel, J. Weiss, Andreas Caes., Lyra, Ribeira u.a. wähnten (Charles I S. 164). Vgl. Michel a.a.O. S. 339, 11. 432 Hanhart S. 79. 433 Vgl. Brütsch S. 282. 434 Bejahend Charles I S. 161.
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rischen Charakter“, der mit dem „Feuerrot“ zum Ausdruck gebracht werde.435 Die Angaben über den Reiter können das nur bestätigen: Und dem, der auf ihm saß, wurde es gegeben, den Frieden von der Erde wegzunehmen, sodass sie einander hinschlachten, und ihm wurde ein großes Schwert gegeben. Offenbar kann Gott durch seine Gerichtsengel jederzeit den Frieden von der Erde wegnehmen. Positiv gewendet bedeutet dies: Jede Friedenszeit auf Erden ist eine Gabe Gottes, für die wir danken sollten. Die Menschen haben seit Kain die natürliche Neigung, einander hinzuschlachten. Gibt Gott ihnen den Weg frei, tun sie es auch. Johannes hat keine Scheu, hier dasselbe Wort σφάζω [sphazo] = schlachten zu benutzen wie beim geschlachteten Lamm. Zweimal erscheint hier das Stichwort ἐδόθη [edothe] = es wurde (von Gott) gegeben. Nichts geschieht ohne Gottes Zulassung und Geschichtslenkung. War das Zeichen des ersten apokalyptischen Reiters der Bogen, so ist es hier beim zweiten das Schwert: Und ihm wurde ein großes Schwert gegeben. Damit stoßen wir auf die Trias des Verderbens, die im AT in der Tora, bei Hesekiel und Jeremia immer wieder auftaucht: Schwert, Hunger und Pest (vgl. Lev 26,23-26; Ez 5,12.17; 14,21; 33,27; Jer 14,12; 15,2; 21,7; 24,10; 27,8.13; 29,17f; 32,24.36; 34,17; 38,2; 42,17.22; 44,12ff). Die Offb nimmt sie auf.436 In 6,4 ist das Schwert also, wie Michaelis formuliert, das „Symbol grauenvollen Blutvergießens“. 437 Hier geht es nicht mehr um Welteroberer, wie in 6,2, sondern um Blutvergießen ganz allgemein, in Bürgerkriegen438 wie in Kriegen verschiedener Staaten und auch im Kampf verschiedener Systeme, wie z.B. nichtstaatlichen Kriegen und Terrorismus.439 Eine nahe Parallele ist Mt 24 parr, wo der Erwähnung von Kriegen (24,6) noch die Erwähnung von Kämpfen zwischen Völkern (ἔθνη [ethne]) und „Herrschaften“ (βασιλείαι [basileiai]) folgt (24,7). In V. 5 öffnet das Lamm das dritte Siegel. Das dritte Wesen gibt den Komm!-Befehl. Diesmal sieht Johannes ein schwarzes Pferd. Schwarz hat im damaligen Judentum meist eine düstere Bedeutung und kennzeichnet z.B. die Trauerkleidung.440 So werden wir auf düstere Ereignisse vorbereitet. Der dritte apokalyptische Reiter hatte eine Waage in seiner Hand. Die Waage (ζυγός [zygos]) kann man in diesem Zusammenhang nur als Symbol des GeArt. πῦρ usw.,ThWNT, VI, 1959, S. 952f. Wikenhauser S. 59; Bousset S. 264. Art. μάχαιρα, ThWNT, IV, 1942, S. 531. Vgl. Bousset S. 267. Morris S. 105: „civil war“. Ebenso Michel a.a.O. S. 339. Schlatter S. 196: „Bürgerkrieg, Empörung und Mord“. Behm S. 39: „Kampf …, der dem inneren Zusammenbruch der menschlichen Gesellschaft folgt“. Vgl. Kraft S. 117; Wikenhauser a.a.O. 440 Vgl. W.Michaelis, Art. μέλας, ThWNT, IV, 1942, S. 554ff.
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richts, genauer: als „Repräsentanten der Teuerung und Hungersnot“,441 auffassen.442 Das alttestamentliche Modell für Offb 6,5 findet sich wie bei Offb 6,4 in Leviticus (Lev 26,26) und Hesekiel (4,16).443 Außerdem fällt erneut die enge Parallele zu Mt 24 parr auf. Auch dort folgen in Mt 24,7 auf das Blutvergießen Hungersnöte (λιμοί [limoi]). Es tritt also immer deutlicher zutage, dass Offb 6 den Plagen in Lev 26 und Mt 24 entspricht. Die „Waage“ bedeutet Rationierung, vor allem des Brotes, des Grundnahrungsmittels.444 Der Ablauf ändert sich beim dritten Siegel gegenüber den ersten beiden Siegeln (V. 6). Es gibt also beim großen Gott keinen Schematismus. Johannes „hörte“ jetzt etwas wie eine Stimme inmitten der vier Wesen sagen: Eine Chönix Weizen für einen Denar, und drei Chönix Gerste für einen Denar. Das vorsichtige Wort „wie“ warnt uns vor einer Vermenschlichung der Stimme. Johannes versteht zwar das Gesagte, aber es handelt sich um eine himmlische Sprache. Merkwürdig ist, dass diese Stimme inmitten der vier Wesen erschallt. Also spricht in Offb 6,5f nicht nur das dritte Wesen! Gott selbst kann es aber kaum sein.445 Denn Gott wird nicht als „Mitte der vier Wesen“ umschrieben. Vielmehr wird es ausdrücklich erwähnt, wenn er selbst spricht (vgl. 21,5ff). Es fällt überhaupt auf, dass Gott der Vater in den Kapiteln 4–6 nirgends spricht. Damit wird seine grenzenlose Überlegenheit nur umso eindrücklicher. Er kann sozusagen die Alltagsgeschäfte der Geschichte den Engeln überlassen. Allerdings hat er den Schlüssel zu aller Geschichte dem Sohn, dem Lamm, übergeben. Wir beziehen also die Stimme bzw. das, was einer Stimme ähnelt, auf eines (das dritte?) oder alle vier Wesen. Eine genauere Festlegung ist nicht möglich.446 Eine Chönix Weizen für einen Denar: Die Chönix (χοῖνιξ [choinix], wir ließen das Wort unübersetzt) ist ein griechisches Getreidemaß. Es „wird unterschiedlich auf 0,8–1,2 l geschätzt, der beste Nährungswert beträgt wohl gut 1 Liter“.447 Nach Herodot448 erhielt jeder Mann des persischen Heeres beim Angriff auf Griechenland „täglich eine Chönix Weizen“. Man kann demzufolge „eine Chönix Weizen“ als eine Tagesration betrachten. Nach Cicero 441 K.H. Rengstorf im Art. ζυγός usw., ThWNT, II, 1935, S. 901. Ebenso Michel a.a.O. 442 Vitringa S. 257 verweist jedoch auf Ausleger, die in der Waage das Symbol des Überflusses (abundantia) sehen. 443 Vgl. Rengstorf a.a.O. sowie meinen Kommentar „Das dritte Buch Mose“, WStB, 1994, S. 461. 444 Vgl. Aune S. 396. 445 Gegen Morris S. 106; Aune S. 397. 446 Auch Bengel S. 355 hält die Deutung offen. 447 D.J. Wiseman / D.H. Wheaton, GBL, 2, S. 938. 448 Hist VII, 187.
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zahlte man normalerweise für 12 Maß Weizen 1 Denar.449 Eine Chönix für einen Denar stellt deshalb eine wirkliche Teuerung mit bösen Folgen für die ärmere Bevölkerung dar. Beim Denar (δηνάριον [denarion]) handelt es sich um die römische silberne Hauptmünze. Zu Neros Zeiten betrug ihr Gewicht 115 g.450 δηνάριον [denarion] gibt das lateinische denarius wieder. „1 Denar“ war nach Heinz Schröder der übliche Tageslohn für einen Arbeiter, der 12 Stunden am Tage arbeitete.451 Auch von daher ist 1 Denar für 1 Liter Weizen Ausdruck einer starken Teuerung. Drei Chönix Gerste für einen Denar übersteigt wieder weit das Übliche. Cicero nannte einen halben Denar als Preis für 12 Maß Gerste.452 Nach Heinz Schröder galt zur Zeit Neros 1 Denar als Preis für 7 Chönix Weizen, der Preis für „Gerste“ sei die Hälfte oder ein Drittel des Weizenpreises gewesen.453 Beides, Weizen und Gerste, lieferte das Brot als Hauptnahrungsmittel. Allerdings galt „Gerste“ als „Sklaven-Ernährung“.454 Nach den soeben erwähnten Berechnungen stellt also 1 Denar für 3 Chönix Gerste das Fünffache des üblichen Preises dar. Als alttestamentliches Beispiel für die Teuerung bei Grundnahrungsmitteln vgl. 2Kön 6,24ff; 7,1ff. Aber das Öl und den Wein sollst du nicht schädigen: Mit du wird der Reiter auf dem Pferd, also der Gerichtsengel, angeredet. ἀδικέω [adikeo] heißt hier beschädigen, „verderben“.455 Das heißt: Öl und Wein bleiben von der Teuerung ausgenommen. Die Hungersnot ist nur eine teilweise. Auch „Öl“ (ἔλαιον [elaion]) und „Wein“ (οἶνος [oinos]) sind wichtige Nahrungsmittel. Öl = Olivenöl wird vielfältig gebraucht, von der Nahrung über die Kosmetik bis zur Medizin.456 Wein gehörte zusammen mit dem Öl zu den Haupterzeugnissen des Israellandes.457 Jesus trank Wein, wie in Israel üblich.458 Das Neue Testament warnt zwar wie das Alte Testament vor übermäßigem Weingenuss, rechnet aber den Wein zur normalen und erlaubten Nahrung des Menschen, ja empfiehlt gelegentlich „ein wenig Wein“ (1Tim 5,23; vgl. LK 10,34; Joh 2,1ff; Kol 2,16ff; 1Tim 4,3).459 Eine Deutung von Offb 6,6, wie sie z.B. Seesemann vertritt460, wonach „nur die Früchte einer Jahreszeit (Weizen und Gerste) ver449 450 451 452 453 454 455 456 457 458 459 460
Wikenhauser S. 59. D.H. Wheaton / S. Mittmann, GBL, 1, S. 433. Schröder S. 87. Vgl. Mt 20,1ff. Wikenhauser a.a.O. Schröder S. 115ff. Schröder S. 116. Vgl. GBL, 1, S. 14. Bauer-Aland Sp. 32 Vgl. H. Schlier, Art. ἔλαιον, ThWNT, II, 1935, S. 468ff. Vgl. H. Seesemann, Art. οἶνος, ThWNT, V, 1954, S. 163ff. Seesemann a.a.O. S. 164. Vgl. Seesemann a.a.O. passim. A.a.O. Auch Bengel S. 356; Behm S.40.
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nichtet werden sollen“, empfiehlt sich nicht. Vielmehr hat Heinrich Schlier recht, wenn er Offb 6,6 als „Teilstrafe“, als „prophetische Verkündigung einer teilweisen ökonomischen Krise“461 betrachtet. Das griechische Maß und der Latinismus δηνάριον [denarion] = denarius462 weisen auf die Verhältnisse im Imperium Romanum hin.463 Hungersnöte wie die unter Claudius und Domitian können das in Offb 6,6 Gemeinte veranschaulichen,464 dienten aber nicht als Modell für Offb 6,6.465 Johannes lebte von dem , was er wirklich sah, so wie er es auf seinem alttestamentlichjesuanischen Hintergrund verstehen konnte. Die Öffnung des vierten Siegels durch Jesus Christus als das Lamm (V. 7) führt ein viertes Mal zu dem Befehl Komm! Nun ist es das vierte Wesen, das diesen Befehl ausspricht. Was Johannes beim vierten Siegel erblickt, ist erneut ein Pferd. Aber diesmal ein fahles Pferd (ἵππος χλωρός [hippos chloros]). χλωρός [chloros] kann „grünlich, hellgrün“ heißen oder fahl, „blass“. Vermutlich liegt in Offb 6,7 letztere Bedeutung vor. Denn χλωρός [chloros] = „fahl“ galt als „Farbe der Krankheit“ und der Reiter heißt hier Tod.466 Johannes bemerkt ausdrücklich: Sein Reiter trug den Namen „Tod“.467 Es handelt sich um die erste Namensnennung in der Reihe der apokalyptischen Reiter. An der Personhaftigkeit des Reiters sollte man nicht zweifeln.468 Hier reiten nicht nur „Abstraktionen“ oder „allegorische Figuren“ an uns vorüber, wie Kraft meinte,469 sondern „der Tod als dämonische Person“470 „mit Hades als Knappen“.471 Künstler wie Albrecht Dürer haben dafür ein feines Gespür gehabt. Vgl. Offb 1,18; 20,13f. Wie der Tod (θάνατος [thanatos]) aufzufassen ist, bleibt umstritten. Viele fassen ihn als „Pest“ auf.472 Dafür spricht: a) „die durchgängige Wiedergabe“
461 Schlier a.a.O. S. 469.468. Schon Bengel S. 356; ebenso Caird S. 81; Schlatter S. 196; Zahn S. 355. 462 Vgl. Blass-Debrunner § 5,5.8. Dass die „Reichen“ ihren „Luxus“ behalten, ist in Offb hineingelesen. Gegen Pohl I S. 199; Morris S. 106. 463 Auf Ägypten deutet Bengel S. 355. 464 Apg 11,28ff; Sueton Dom 7,2. Vgl. Hemer S. 4.158ff; Vielhauer S. 503. 465 So mit Recht Schlier a.a.O. S. 468. 466 Vgl. Bauer-Aland Sp. 1760; Michel a.a.O. S. 339, Bousset S. 265. 467 Ob ὁ θάνατος [ho thanatos] oder artikelloses θάνατος [thanatos] ursprünglich ist, lässt sich nicht mehr sicher entscheiden. 468 Vgl. Bauer-Aland Sp. 31.714. 469 Kraft S. 117. 470 R. Bultmann, Art. θάνατος usw., ThWNT, III, 1938, S. 14. 471 Michel a. a. O. 472 So z.B. Michel a.a.O.; Wikenhauser S. 58f; Bauer-Aland Sp. 714, vgl. Blass-Debrunner § 4,8 (evtl. „Judengriechisch“).
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von [ ֶדֶּברdever] „mit θάνατος durch die LXX“,473 b) die Spezifizierung von Todesarten wie Welteroberung oder Schwert in 6,2ff. Dagegen spricht die Verbindung θάνατος [thanatos] – ᾅδης [hades], die eher an einen umfassenden Begriff des „Todes“ denken lässt. Uns scheint es angemessener, hier mit dem umfassenden Begriff des Todes zu rechnen. Damit stehen wir vor dem zweiten Begriff, dem des Totenreichs (ὁ ᾅδης [ho hades]): Und das Totenreich folgte ihm. Vielleicht ist μετ᾿ αὐτοῦ [met autu] bei ἠκολούθει [ekoluthei] nicht nur Ersatz eines Dativus sociativus, wie Blass-Debrunner meinen,474 sondern dient der anschaulichen Beschreibung eines engen Miteinanders, einer Art Zweierschaft475 (vgl. Offb 1,18; 20,13f). Schon in Hos 13,14 sind Tod (ָמו ֶת [mawet]) und Totenwelt (שׁאוֹל ְ [scheol]) enge Genossen. Jedenfalls entspricht ְ [scheol].476 Dieser ὁ ᾅδης [ho hades] im NT dem alttestamentlichen שׁאוֹל 477 „Hades“ ist einerseits eine „Macht“ (vgl. Mt 16,18), andererseits der Bereich, in den die Verstorbenen bis zu ihrer Auferstehung eingehen, vor allem die gottlos Verstorbenen.478 Er ist also, wie Joachim Jeremias betont, „eine rein zwischenzeitliche Größe“.479 Infolge seiner Verbindung mit dem Tod und als Ort vorzüglich für die Gottlosen hat der Hades = das Totenreich im NT einschließlich der Offb durchweg einen negativen Klang. J.A. Bengel wies darauf hin, dass dem Hades „kein besonder Pferd“ zugeteilt werde.480 In der Tat müssten es hier zwei Pferde sein. Aber das „Totenreich“ erscheint eben in so enger Gemeinschaft mit dem Tod, dass ein Pferd für beide zusammen genügt. Mit Recht warnt Bengel zugleich vor unnützen Spekulationen: hier kämen wir „an die Grenze der unsichtbaren Dinge“.481 Ihnen482 (wieder sind Tod und Totenreich als Einheit zusammengefasst!) 483 wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, um zu töten durch Schwert und durch Hunger und durch Pest und durch die wilden Tiere auf Erden. Zum vierten Mal erscheint hier das ἐδόθη [edothe] (es wurde gegeben). Immer wieder werden wir darauf gestoßen, dass alle 473 G. Mayer, ThWAT, II, 1977, Sp. 133. 474 § 193,1. 475 Vgl. Michels anschaulichen Ausdruck vom Hades „als Knappen“ des Todes (a.a.O.). Man beachte auch das durative Imperfekt ἠκολούθει [ekoluthei]. 476 J. Jeremias, Art. ᾅδης, ThWNT, I, 1933, S. 146ff. 477 Jeremias a.a.O. S. 149. 478 Vgl. Jeremias a.a.O. S. 148f. 479 A.a.O. S. 148. 480 S. 358. Vgl. Brütsch S. 289f; Morris S. 107; Zahn S. 356; Behm S. 40. 481 A.a.O. Aune S. 401 betrachtet die Erwähnung des Hades wie Charles als eine spätere Glosse. 482 αὐτοῖς [autois] ist besser bezeugt. 483 Zum Teil bezieht die Auslegung das Ihnen auf alle Reiter, vgl. dazu Aune S. 402.
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apokalyptischen Reiter einer göttlichen Erlaubnis bedürfen, um tätig werden zu können. Denn das ἐδόθη [edothe] enthält ja eine doppelte Begrenzung: Es begrenzt a) den Bereich bzw. Reichweite und b) die Zeit ihrer Tätigkeit. Die Begrenzung meldet sich hier sogleich in den Worten über den vierten Teil der Erde. Drei Viertel dürfen also nicht geschädigt werden. Wie stets in Offb 6,1-8 handelt es sich nur um ein teilweises Gericht. Aber das erwähnte vierte Teil erlebt das schlimme Wüten von Tod und Totenreich: Die beiden dürfen töten durch Schwert und durch Hunger und durch Pest und durch die wilden Tiere auf Erden. θάνατος [thanatos] muss hier mit Pest übersetzt werden, weil es um eine spezifische Todesart neben anderen Todesarten geht.484 Schwert und Hunger waren schon in V. 4 und 5 angesprochen. Vermutlich handelt es sich in V. 8 um eine Steigerung gegenüber V. 4 und 5. Neu ist jetzt die Erwähnung von Pest und wilden Tieren. Aber erneut zeigt sich hier die Parallelität zu Hesekiel (5,12.17; 14,21; 33,27) und Leviticus (26,22ff), aber auch zu Jeremia (14,12; 15,2f). Vor allem Ez 5,17 und 14,21 stellen enge Parallelen dar.485 Solche „Reihen“ von Strafen „explizieren Gottes Gericht“486 schon im AT. Wir befinden uns also im Bereich der biblischen Gerichtsterminologie. W. Michaelis denkt bei ῥομφαία [rhomphaia] Offb 6,8 „eher an Mord“.487 Wir werden aber gut daran tun, alle menschlichen Tötungshandlungen, ob individuell beim Mord oder generell beim Krieg bzw. Bürgerkrieg, im Schwert (ῥομφαία [rhomphaia]) zusammengefasst zu finden. So entspricht es auch dem alttestamentlichen [ ֶחֶרבcherew], das hinter ῥομφαία [rhomphaia] steht.488 Die Pest repräsentiert die Seuchen, die wilden Tiere deuten auf verwüstete und verwilderte Regionen. θηρία [theria] hat auch ohne Zusatz die Bedeutung wilde Tiere. W. Foerster versteht die θηρία τῆς γῆς [theria tes ges] noch spezifischer als „Raubtiere“.489 Insgesamt wirkt V. 8 wie eine Zusammenfassung der Gerichtsereignisse, die nach Offb 6,1-8 über die Menschheit kommen. 484 Ebenso Brütsch S. 289; Morris S. 107; Zahn S. 356. 485 Ebenso W. Michaelis, Art. ῥομφαία, ThWNT, VI, 1959, S. 997. Die LXX in Ez 5,12ff: τὸ τέταρτόν σου [to tetarton su] usw., lässt die Verwandtschaft mit Offb 6,8 noch stärker hervortreten. 486 G. Mayer a.a.O. Sp. 134. Vgl. überhaupt den Artikel von G. Mayer passim. Schon Bengel S. 359 wies darauf hin, auch Vitringa S. 265. 487 A.a.O., ebenso Zahn S. 356. 488 Michaelis a.a.O. S. 994. 489 Art. θηρίον, ThWNT, III, 1938, S. 134. Bengel S. 360 dachte an Hinrichtungen, das Vorwerfen vor wilde Tiere, Zahn S. 356 an „die giftigen Schlangen, die reißenden wilden Tiere, die stechenden Insekten und Bazillen“. Die Stellen aus der frühen jüdischen Literatur, die Aune S. 402 zitiert, fußen alle auf den Stellen in der Tora und den Propheten.
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Dennoch darf der eigenständige Charakter des vierten Pferdes und Reiters nicht aufgehoben werden. Der vierte Reiter (und sein Genosse) bildet nicht nur die Summe der ersten drei, sondern stellt auch eine Steigerung gegenüber den ersten drei dar.490 Damit sind die ersten vier Siegel geöffnet. Die Reihe der Pferde und Reiter endet. Es folgt mit den Siegeln Nr. 5 bis Nr. 7 eine zweite Untergruppe der insgesamt 7 Siegel. In Vers 9 öffnet das Lamm das fünfte Siegel. Der Versanfang Καὶ ὅτε ἤνοιξεν [Kai hote enoixen] lautet genau gleich wie in V. 2.5.7. Und doch führt uns Johannes jetzt in eine ganz andere Welt. Das gilt zunächst für den Umfang. Die Schilderung wird ausführlicher als beim 1.-4. Siegel. Das gilt aber noch mehr für den Inhalt, dem wir uns jetzt zuwenden. Unvermittelt spricht Johannes von einem Altar (θυσιαστήριον [thysiasterion]). Bisher hat er nichts von einem himmlischen Tempel berichtet, und wir mussten alle Aussagen der Forschung über einen himmlischen „Thronsaal“ oder ein himmlisches Gebäude als Spekulation zurückweisen. Jetzt aber sah er unter dem Altar die Seelen derer, die um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen, das sie hatten, hingerichtet worden waren. Fortan spielt der Altar (θυσιαστήριον [thysiasterion]) in der Offb eine große Rolle (vgl. 8,3.5; 9,13; 11,1; 16,7). θυσιαστήριον [thysiasterion] kann den Brandopferaltar im Vorhof des Tempels oder den Räucheraltar im Tempelgebäude bezeichnen.491 Da in 5,8 von „Räucherwerk“ die Rede war, lässt sich für Offb 6,9 die Bedeutung „Räucheraltar“ durchaus begründen.492 Näher liegt es jedoch, an den Opferaltar, also an den Brandopferaltar, zu denken.493 Aber nun geht es hier gar nicht um den Altar selbst, sondern um den Bereich unter dem Altar. Dabei muss man sich immer klarmachen, dass wir uns nicht in einem naturwissenschaftlich vermessbaren Raum befinden, sondern in einer prophetischen Schau mit fließenden Grenzen, den irdischen Bedingungen enthoben.494 „Unter dem Altar“ ist deshalb himmlische, überirdische „Geografie“ und außerdem vor allem ein Beziehungsverhältnis. Wer sich hier befindet, steht in einem nahen Verhältnis zu Gott, beteiligt sich vermutlich sogar an den „Gebeten der Heiligen“, die uns in 5,8 begegneten. Johannes sah dort Seelen 490 Ähnlich Bengel S. 359. Anders z.B. Caird S. 80: der vierte Reiter sei „an epitome of all the others“. 491 Vgl. J. Behm, Art. θύω usw., ThWNT, III, 1938, S. 182. 492 So Bauer-Aland Sp. 745; Morris S. 108; Brütsch S. 294. 493 So Michel, Art. σφάζω usw., ThWNT, VII, 1964, S. 935; Bengel S. 363; Neue Jerusalemer Bibel S. 1791f; Vitringa S. 270f; P. Müller S. 25; Behm S. 41; Zahn S. 358. 494 Daher sollte man besser nicht übersetzen: „am Fuß des Altars“. Gegen NGÜ S. 686; Pohl I S. 202; Behm S. 40. Vgl. Bengel S. 363.
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(ψυχάς [psychas]), also verstorbene Menschen. Das irdische Leben liegt hinter ihnen, sonst könnten sie nicht unter dem himmlischen Altar sein. Die Auferstehung aber haben sie noch vor sich, denn von Auferstehungen erfahren wir in der Offb erst später (vgl. 20,4ff). Demnach handelt es sich um verstorbene Persönlichkeiten, die noch auf die Auferstehung warten und noch keinen Auferstehungsleib besitzen.495 Sie befinden sich also im Zwischenzustand zwischen irdischem Leben und Auferstehung.496 Es hat keinen Sinn, einen solchen Zwischenzustand, der bewusst erlebt wird, zu leugnen497 (vgl. Lk 16,19ff). Mit dem Ausdruck Seele (ψυχή [psyche]) kann Johannes an den alttestamentlichen Begriff [ נ ֶֶפשׁnephesch] anknüpfen, der die Person, das Individuum, auch über den Tod hinaus bezeichnet.498 Diese „Seelen“ charakterisiert Johannes näher als diejenigen derer, die um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen, das sie hatten, hingerichtet worden waren. Es handelt sich also um verstorbene Märtyrer,499 und zwar um die bisherigen christlichen Märtyrer.500 Für hingerichtet steht ἐσφαγμένων [esphagmenon], wörtlich „geschlachtet“.501 Für den biblischen Märtyrer ist nicht der frei gewählte Tod eines Sokrates oder der Tod für irgendwelche Ideale maßgebend, sondern der Tod um des Wortes Gottes willen, das heißt wegen der Treue zum wahren Wort Gottes in Lehre und Leben. Dafür lassen sich Jakobus (Apg 12,1f), Stephanus (Apg 7,54ff) und Antipas (Offb 2,13) sowie Petrus und Paulus als Beispiele nennen. Im Neuen Bund konkretisiert sich die Treue zum Wort Gottes im Zeugnis, das von Jesus Christus und seinem Evangelium abgelegt wird. Dieses Zeugnis ist auch hier (um des Zeugnisses willen) gemeint, obwohl die Einfügung der Worte τοῦ ἀρνίου [tu arniu] textlich als sekundär zu beurteilen ist.502 Vgl. Offb 1,2.9; 12,11.17; 19,10; 20,4. ἣν εἶχον [hen eichon] (das sie
495 Vgl. E. Schweizer im Art. ψυχή usw., ThWNT, IX, 1973, S. 654. 496 Auch Schweizer a.a.O. Jeremias a.a.O. S. 148: „leibgelöste Seelen“. 497 Große Zurückhaltung bei Schweizer a.a.O. und S. 657, noch abweisender Bultmann a.a.O. S. 17. Mit Recht anders Jeremias a.a.O. S. 148ff. Ablehnend Aune S. 410. Trillhaas rechnet die Lehre vom Zwischenzustand sogar zu den „vier eschatologischen Häresien“ (S. 454f). 498 H. Seebass, Art. ש ׁ פ ֶ ֶ נ, ThWAT, V, 1986, Sp. 550f; E. Schweizer a.a.O. S. 654; E. Jacob im Art. ψυχή usw., ThWNT, IX, 1973, S. 616ff; Vitringa S. 270. 499 Ebenso Michel a.a.O.; Jeremias a.a.O. ; Vitringa S. 271. 500 Bengel S. 362f rechnet mit allen „Selig-abgeschiedenen“, ebenso Grünzweig S. 184f. Caird S. 84 bezieht auch die Märtyrer des AT mit ein. Wie wir Aune S. 406; Wikenhauser S. 63; Bousset S. 274. Kraft S. 119 denkt nur an alttestamentliche Märtyrer. 501 Vgl. Michel a.a.O. 502 Bengel S. 364.
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hatten) bedeutet vermutlich: „das sie ablegten bzw. festhielten“, und nicht: „das ihnen Gott bzw. Christus beigelegt hatte“.503 Wieder erinnert die Abfolge der Siegel – jetzt die Märtyrer – an Mt 24parr,504 vgl. Mt 24,9ff. Der Eindruck, dass Offb 6 und Mt 24 im Aufbau parallel verlaufen, verstärkt sich damit. Vorsicht muss aber gegenüber Ausmalungen von Offb 6,9 angemahnt werden. Viele Ausleger lassen sich durch die Erwähnung des Altars dazu verleiten, die Gedankenlinie Brandopferaltar – Blut der Märtyrer stärker zu betonen, als es Johannes tut. Selbst der sonst so nüchterne Schlatter schreibt: „Wie am Altar im Tempel das Blut der Opfertiere an den Grund des Altars geschüttet wird, so liegen hier am Grund des Altars die Seelen getöteter Menschen“;505 und Pohl: „dass Johannes hier ausgegossenes Märtyrerblut erblickte“.506 Nur dass Johannes das Blut in V. 9 nicht erwähnt. ὑποκάτω [hypokato] lässt sich auch nicht auf „unten am“ oder „am Fuß“ festlegen, sondern hat ebenso gut die Bedeutung „unter“.507 Ob eine Beziehung zwischen dem Altar von Offb 6,9 und dem Urbild der Stiftshütte von Ex 25,9 besteht, muss vorläufig offenbleiben. Wir verstehen also Offb 6,9 dahin, dass hier der Aufenthaltsort der im Glauben verstorbenen Märtyrer in einem Bereich unter dem himmlischen Altar gesehen wird. Es handelt sich um einen Bereich, der dem „Schoß Abrahams“ (Lk 16,22), dem „Paradies“ (Lk 23,43; 2Kor 12,4) und dem „dritten Himmel“ (2Kor 12,2) vergleichbar ist.508 Kurz gesagt: Es handelt sich um einen Warteraum gläubig Verstorbener. Und sie riefen mit lauter Stimme: Bis wann, o Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, richtest du nicht und schaffst Recht für unser Blut bei denen, die auf der Erde wohnen? (V. 10): Ihr Rufen macht uns deutlich, dass sie auch als Verstorbene noch ein Bewusstsein besitzen. Dasselbe ergibt sich aus Lk 16,19ff. Sie setzen sich ein für ein Ende der Verfolgungen. Damit üben sie Fürbitte für die noch auf Erden Lebenden (vgl. wieder Lk 16,19ff). Bib-
503 Ebenso Bauer-Aland Sp. 670; Neue Jerusalemer Bibel S. 1792; Vitringa S. 271; Zahn S. 360. Anders Morris S. 108; Kraft S. 119. 504 So mit Recht Behm S. 41; Pohl I S. 201. 505 S. 197. Ähnlich Behm S. 41; Zahn S. 359; Caird S. 84; Michel a.a.O. S. 935; Frey S. 85. 506 Pohl I S. 202. 507 Vgl. wieder Bauer-Aland Sp. 1683. 508 So auch Jeremias a.a.O. S. 149. Nach Wettstein S. 774 deuten alle vergleichbaren jüdischen Stellen auf einen solchen Raum im Himmel unter dem Altar. Bousset S. 272f weist besonders auf 4Esr 4,35; ä Hen 47,2-4 hin.
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lisch ist es also so, dass die Verstorbenen für die noch Lebenden bitten, dass aber die noch Lebenden nicht umgekehrt für die Verstorbenen bitten sollen.509 κράζειν φωνῇ μεγάλῃ [krazein phone megale] (rufen mit lauter Stimme) ist in Offb 6,10 wie bei Jesus (Mt 27,50) ein Gebetsruf. W. Grundmann nennt ihn hier einen „Hilferuf“.510 Die Märtyrer nennen Gott δεσπότης [despotes], ἅγιος [hagios] und ἀληθινός [alethinos]. δεσπότης [despotes], Herr, kennzeichnet Gott als den Allmächtigen.511 Als der Heilige und Wahrhaftige (ὁ ἅγιος καὶ ἀληθινός [ho hagios kai alethinos]) ist er aller menschlichen Kritik entzogen, der allem Bösen Entgegentretende und unbedingt Zuverlässige und Gerechte.512 Die Seelen unter dem Altar äußern also keinerlei Kritik an Gott oder Gottes Geduld, sondern rufen ihn an als denjenigen, der die absolute Macht über die Geschichte hat, allem Bösen ein Ende setzt und alles recht machen wird (vgl. Ps 37,5). Aber in tiefstem Schmerz fragen sie, wie lange Gott dem Treiben der Verfolger der Gemeinde noch zusehen will: Bis wann richtest du nicht und schaffst Recht für unser Blut bei denen, die auf der Erde wohnen? Der Ruf Bis wann? oder „Wie lange?“ ist in der ganzen Bibel zu hören.513 Oft ist es Gottes Ruf an den Menschen, um ihn aufzurütteln (z.B. Num 14,11.27; 1Sam 16,1; 1Kön 18,21; Mt 17,17). Oft ist es aber auch die Klage des leidenden Menschen (vgl. Ps 6,4; 13,2; 62,4; 79,5; 80,5; Jes 6,11; Sach 1,12). So auch hier. Richten = „das wahre Recht aufrichten“, aber auch „der Gnade und dem Heil zum Durchbruch verhelfen“, gehört in der Bibel zu den ureigensten Tätigkeiten Gottes.514 Für unser Blut Recht schaffen (ἐκδικεῖν [ekdikein]) heißt: den Mord an den unschuldigen Märtyrern bestrafen.515 Beide Aussagen, die über das Richten und die über das Recht schaffen, beinhalten nicht nur das eigene Anliegen der Märtyrer, sondern auch die Bitte um ein Ende des Leidens der Gemeinde. Die auf der Erde wohnen bezeichnet die Menschheit auf Erden.516 Im AT bildet das „Schreien des Blutes Abels“ eine Parallele (Gen 4,10; Hebr 12,24).517 509 Nur in der apokryphen Schrift 2. Makkabäer (12.43ff) wird von einer Fürbitte für Verstorbene berichtet. Die Praxis von 1Kor 15,29 vollzieht Paulus für sich selbst nicht. 510 Art. κράζω usw., ThWNT, III, 1938, S. 899. 511 Vgl. K.H. Rengstorf, Art. δεσπότης usw., ThWNT, II, 1935, S. 43ff. Vitringa S. 272 sieht hier Christus angesprochen, vgl. dagegen Aune S. 407. 512 Vgl. O. Procksch im Art. ἅγιος usw., ThWNT, I, 1933, S. 101ff; R. Bultmann im Art. ἀληθινός, a.a.O., S. 249ff; Morris S. 108f. 513 Aber auch bei den Rabbinen, vgl. Schlatter BFchTh S. 63. 514 Vgl. den Art. κρίνω usw., im ThWNT, III, 1938, S. 920ff. 515 Vgl. J. Behm, Art. αἷμα usw., ThWNT, I, 1933, S. 172. 516 Hemer S. 164 fasst es enger: „the enemies of the church“; ähnlich Aune S. 410; Caird S. 87f. Wie wir Bousset S. 272f; Kraft S. 119. 517 Vitringa S. 272; Brütsch S. 301; Zahn S. 360f.
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Im Übrigen sollte man nicht „an alttestamentlichen Rachedurst“ denken.518 Brütsch schreibt sogar: „Auf alle Fälle ist keine Vergebungsbereitschaft herauszuhören“ (S. 298). Mit Recht hat schon Bengel auf die einfache Wahrheit hingewiesen: „In dem Himmel gibt es keine unlautere Affecten mehr“ (S. 365). In Offb 6,10 geht es um die elementare Frage, wie lange das Böse existieren und Gott Hohn sprechen soll.519 Vgl. Dtn 32,43; 2Kön 9,7; Ps 79,10; Lk 18,7. Die Märtyrer müssen weiter warten (V. 11). Als Antwort auf ihren Gebetsruf geschieht zweierlei. Erstens wurde jedem von ihnen ein weißes Gewand gegeben (καὶ ἐδόθη αὐτοῖς ἑκάστῳ στολὴ λευκή [kai edothe autois hekasto stole leuke]). Weiße Gewänder kennzeichnen die Überwinder (Offb 3,4f.18; 7,9.13) und die Engel Gottes (Offb 4,4; 19,14). Die Übergabe des weißen Gewandes signalisiert also, dass die Märtyrer bei den Erlösten der neuen Schöpfung sein werden.520 στολή [stole] bedeutet das Obergewand. Im Gewand kommt zum Ausdruck, was der Betreffende in Wirklichkeit ist.521 Die Überreichung von Gewändern setzt voraus, dass die Märtyrer-„Seelen“ erkennbare Persönlichkeiten sind. Zweitens wurde ihnen gesagt, dass sie noch eine kleine Zeit ruhen müssten,522 bis auch ihre Mitknechte und ihre Brüder vollzählig wären, die auch noch wie sie getötet523 werden sollten. Das Passiv ἐρρέθη [errethe] bringt genau so wie das vorausgehende ἐδόθη [edothe] zum Ausdruck, dass hier Gottes Wille geschieht. Es wurde gesagt bedeutet also ein Gotteswort, wobei wir nicht wissen, wer es überbrachte.524 ἀναπαύομαι [anapauomai] heißt: ruhend verharren, „warten“.525 Aber darin steckt noch ein zweiter Sinn, den wir nicht überhören sollten: ἀναπαύομαι [anapauomai] bedeutet auch „sich erquicken“, „erquickt werden“.526 Es geht hier also nicht um ein erzwungenes oder ungeduldiges Warten, sondern um ein Ruhen im Frieden mit Gott und in der Gewissheit, erlöst zu sein. Die Zeitangabe noch eine kleine Zeit (ἔτι χρόνον μικρόν [eti chronon mikron]) darf nicht nach menschlichen Zeitvorstellungen verstanden werden. Hier ist einer 518 Gegen Brütsch S. 298; Kraft S. 119. 519 Wie wir Caird S. 85; Morris S. 109; Zahn S. 361; Schlatter S. 197; Behm S. 41f; Wikenhauser S. 63. 520 Vgl. W. Michaelis, Art. λευκός usw., ThWNT, IV, 1942, S. 255f; Schlatter BFchTh S. 59f. 521 Vgl. U. Wilckens, Art. στολή, ThWNT, VII, 1964, S. 691f. 522 Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 369,5. 523 Zu ἀποκτέννεσθαι [apoktennesthai] vgl. Blass-Debrunner § 73,8. 524 Anders Aune S. 410f: „certainly God“. 525 O. Bauernfeind, Art. ἀναπαύω usw., ThWNT, I, 1933, S. 353. 526 Bauernfeind a.a.O. S. 352.
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der berühmten Bengelschen Berechnungsfälle. Bengel berechnete diese Zeit auf 1111 1/9 Jahre, ließ sie mit Trajans Regierungsantritt 97/98 beginnen und mit 1208/9 enden.527 Diese Zeitspanne bezog er auf die staatlichen römischen Verfolgungen, während er ab 1208/9 die Martyrien, die von den Päpsten verursacht wurden, in Anschlag brachte. Der Geschichtsverlauf hat Bengels gelehrte Berechnungen widerlegt, ganz abgesehen davon, dass die Offb keine Anleitung zu einem solchen Zahlensystem enthält. In anderen Punkten bleibt jedoch Bengels Auslegung überaus wertvoll. Wir gehen davon aus, dass Offb 6,11 im Lichte von 2Petr 3,8; Ps 90,4 verstanden werden muss. Bei Gott ist es also „eine kleine Zeit“, bei den Menschen kann es eine unerwartet lange Zeit sein (vgl. 2Petr 3,9).528 Nun folgt ein geistlich und theologisch schwerer Gedanke: Gott hat eine Vollzahl (Gesamtzahl) von Märtyrern bestimmt. So lange diese Zahl nicht erreicht ist, hören die Verfolgungen und Martyrien nicht auf. Die verstorbenen Märtyrer müssen also warten, bis auch ihre Mitknechte und Brüder vollzählig wären, die auch noch wie sie getötet werden sollten. Mitknechte (σύνδουλοι [synduloi]) bedeutet, dass alle wahren Märtyrer „Knechte“ Gottes sind, von Gott geliebt. In einem solchen Bewusstsein konnten die Märtyrer ihren Weg im Glauben gehen. Wir zitieren als Beispiel aus dem Brief, den Bischof Ignatius von Antiochien um 110–115 n.Chr. als Todgeweihter an die Gemeinde in Rom schrieb: „Nun erst fange ich an, Jünger zu werden. Nichts von den sichtbaren und unsichtbaren Wesen möge mich reizen; denn Jesus Christus will ich gewinnen. Es mögen über mich kommen Feuerqualen, Kreuzigung, Rudel wilder Tiere, es mögen meine Gebeine zerstreut, meine Glieder zerhackt, mein ganzer Leib zermalmt werden, es möge der Teufel mich schinden: wenn ich nur Jesus Christus finde!“529 Neben „Mitknechte“ steht Brüder. Frauen, „Schwestern“, sind darin eingeschlossen.530 πληρωθῶσιν [plerothosin] heißt: „vollgemacht werden“, „bis zu einer festgelegten Zahl aufgefüllt“ bzw. vollzählig werden.531 Aber warum muss hier eine bestimmte Zahl erreicht werden? Warum sollen (μέλλοντες [mellontes], nach göttlichem Ratschluss unausweichlich532) andere auch noch wie sie getötet werden 527 528 529 530
Bengel S. 366ff. Ebenso Vitringa S.272f; Grünzweig S. 188. Zitiert nach Euseb H.E. III, 36,9 (aus Ign ad Rom 5). Zahn S. 362 bezieht die „Mitknechte“ auf „die Propheten des alten Bundes“, die „Brüder“ jedoch auf christliche Märtyrer. Eine solche Unterscheidung bleibt fragwürdig. Eher handelt es sich um zwei Aspekte bei ein und demselben Personenkreis, nämlich den christlichen Märtyrern. Wie wir auch Aune S. 411. 531 Vgl. G. Delling, Art. πλήρης usw., ThWNT, VI, 1959, S. 293. 532 Vgl. Bauer-Aland Sp. 1015f.
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(ἀποκτέννεσθαι ὡς καὶ αὐτοί [apoktennesthai hos kai autoi])? Ein oberflächliches Gottesverständnis wird mit solchen Aussagen nicht zurechtkommen. Es genügt auch nicht, auf ähnliche Aussagen der Schrift an anderen Stellen (z.B. Kol 1,24; Hebr 11,40) zu verweisen. Wir rühren hier an ein Geheimnis Gottes, das wir erst nach unserer Auferstehung ganz begreifen werden. Soviel aber ist heute schon deutlich: 1) Jedes Martyrium im Namen Jesu zeigt, dass sich unser Glaube selbst in den allerschwersten Situationen bewährt, dass er tragfähig ist (vgl. Röm 5,3ff; Jak 1,2; Offb 13,10). Deshalb sind die Märtyrer einzigartige Glaubensvorbilder. 2) Aus den Martyrien hat die Kirche aller Zeiten immer wieder neue Kraft und missionarische Impulse gewonnen: „Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche“ geworden (vgl. Tertullian, Apologeticum 50). 3) Gott hat dem Bösen nach dem Geheimnis seines Willens eine bestimmte Zeit gegeben. Mit Ausnahme von Mt 24,22 schränkt er diese Zeit nicht ein (vgl. Mt 13,30). 4) Wenn der Böse und die Bösen bis zur Vollzahl der Märtyrer ihr Wesen treiben, zeigt sich darin sowohl ihr Unrecht als auch Gottes Gerechtigkeit. Wenn Gott sie mit ewiger Verdammnis straft, handelt er also gerecht. Auch durch die Vollzahl der Märtyrer wird Gottes Gerechtigkeit offenbart.533 Ist aber die kleine Zeit abgelaufen, dann wird Gott richten. Dann ist die Bitte der Märtyrer erfüllt. Dann kommen alle Schuldigen ins göttliche Gericht.534 Wichtig bleibt, dass Verstorbene bewusst die Vorgänge auf der Erde wahrnehmen und Adressaten von Gottes Wort bleiben535 (vgl. 1Petr 3,19; 4,6; Lk 16,19ff).536 Den Abschluss des sechsten Kapitels bildet die Öffnung des sechsten Siegels. Auch dafür wird viel Raum gewährt (6,12-17). Genau besehen besteht dieser Abschnitt aus zwei Unterabschnitten: einem kosmischen Teil und einem menschheitsgeschichtlichen Teil (V. 12-14 bzw. V. 15-17). Das Lamm bleibt die Hauptperson. Nur weil es würdig und fähig ist, das sechste Siegel zu öffnen (V. 12), geschehen die Dinge, die in diesen Versen beschrieben werden. Alle Vorgänge kosmischer Art finden sich auch in der Prophetie des AT. Das wird gleich im Einzelnen festzustellen sein: 533 Mart. Polyc. 14 und Euseb H.E. V, 1, 13 sind an diesem Punkt wohl von Offb 6,11 abhängig. Vgl. Aune S. 412. 534 Vgl. dazu G. Delling, Art. χρόνος, ThWNT, IX, 1973, S. 588; Morris S. 110. 535 P. Müller S. 25. 536 Vgl. hierzu die immer noch bedenkenswerten Ausführungen von J.T. Beck, Petrusbriefe S. 203ff.
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Zuerst sah Johannes: da geschah ein großes Erdbeben537 (καὶ σεισμὸς μέγας ἐγένετο [kai seismos megas egeneto]). Erdbeben sind Zeichen der Gegenwart Gottes (z.B. Ex 19,18).538 Zweitens aber sind sie Zeichen des nahenden Gerichtes Gottes oder schon Teil des Gerichts, so Jes 13,13; Ez 38,19f; Joel 2,10f; Am 2,13f; Mt 24,7.539 Die Bedeutungsbreite im Alten Testament warnt uns davor, das Erdbeben von Offb 6,12 vorschnell als „Schrecken des Weltendes“ zu identifizieren.540 Näher liegt es, die geschichtlich wohlbekannten Erdbeben als Warnungen vor dem Weltende aufzufassen, wie es auch Mt 24,7 entspricht. Allerdings bedeutet der Ausdruck großes Erdbeben eine Warnung in ungewöhnlicher und dringlicher Form. Offenbar leitet dieses Erdbeben die Endereignisse ein. Über die Reaktion der Menschen berichten dann die Verse 15ff. Nach dem Erdbeben nimmt Johannes Vorgänge an Sonne und Mond wahr: Und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack und der Mond wurde ganz541 wie Blut. Sonst ist die Sonne ein Symbol für Helligkeit und Glanz (Ri 5,31; Ps 121,6; Mt 13,43 u.ö.). Jetzt aber verwandelt sie sich in die Verkörperung des Dunklen und Traurigen: sie wurde schwarz.542 Verglichen wird sie mit einem härenen Sack. Sack ist hier das Trauer- und Bußgewand, das aus Tierhaaren hergestellt wurde. Weil man dazu oft schwarze Ziegenhaare nahm, ist der schwarze „härene Sack“ ein guter Vergleich für die verfinsterte Sonne.543 Insofern, als der Sack ein Symbol der Buße und Betrübnis ist und im AT zu einem ausgesprochenen Bußritus (vgl. Neh 9,1; Hiob 16,15; Jona 3,5-8; Dan 9,3) gehört, muss man Offb 6,12 wohl so deuten: Die Schöpfung trauert und tut Buße über dem, was auf Erden bei den Menschen geschieht. Hier ist das Ende nahe, das Gericht wird eröffnet. Gustav Stählin bemerkt mit Recht: „Das unmittelbare Vorbild ist Js 50,3“.544 Dort geht es ebenfalls um einen Schuld-Zusammenhang (vgl. Jes 13,10ff). Auch der Mond ist als Licht, das die Nacht regiere neben dem großen Licht der Sonne geschaffen (Gen 1,16). Nun verliert er wie die Sonne seine Helligkeit. Er wurde ganz wie Blut. Also nicht nur partiell rot, sondern völlig
537 538 539 540 541 542 543 544
Zum Teil wird nur vom „Beben“ gesprochen. Aber auch Kraft S. 122 z.B. „Erdbeben“. Vgl. G. Bornkamm, Art. σείω usw., ThWNT, VII, 1964, S. 196f. Bornkamm a.a.O. Gegen Bornkamm a.a.O. S. 197. Wie wir Bengel S. 372; Caird S. 88. Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 275,5. Vgl. W. Michaelis, Art. μέλας, ThWT, IV, 1942, S. 554ff. Vgl. G. Stählin, Art. σάκκος, ThWNT, VII, 1964, S. 56ff. A.a.O. S. 61.
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rot.545 Mit dem Verdunkeln von Sonne und Mond ist dem Tag wie der Nacht das Licht entzogen. Ohne Licht aber gibt es auf die Dauer kein Leben. Damit ist die alte Schöpfung zum Tod verurteilt. Beide Elemente, die Verfinsterung sowohl der Sonne als auch des Mondes, finden sich häufig in den Gerichtsansagen des Alten Testaments (vgl. Jes 13,10; 50,3; Ez 32,7f; Joel 2,10; 3,4; 4,15; Am 8,9; Koh 12,2).546 Und was für uns ebenso so wichtig ist: Jesus hat noch vor seiner Kreuzigung solche Vorgänge prophezeit und sie zu Zeichen seiner Wiederkunft gemacht (Mt 24,29f). Eine Gefahr für die Auslegung liegt hier darin, dass man die prophetische, jesuanische und neutestamentliche Erwähnung solcher kosmischen Vorgänge zum apokalyptischen „Stil“, zum apokalyptischen „Apparat“ oder zum apokalyptischen „Szenarium“ erklärt. Johannes hat aber ebenso wie die Propheten und Jesus die Vorgänge von Offb 6,12 tatsächlich geschaut. An dieser Stelle zeigen sich die negativen Folgen der existenzialen Interpretation, die die sog. kosmische Eschatologie preisgab. Für viele wegweisend, hielt Rudolf Bultmann die kosmologische Eschatologie für eine „unhaltbar gewordene mythologische Vorstellung“.547 In der Tat konnte sich Bultmann ein Weltende nur „als das Ergebnis der natürlichen Entwicklung“ vorstellen.548 Damit war die Frage nach dem Weltende praktisch an die Naturwissenschaft abgegeben. Es war dann nur konsequent, wenn Wolfgang Trillhaas im Gefolge Bultmanns einen Abschnitt seiner „Dogmatik“ 1962 mit „Die Ausscheidung der kosmologischen Eschatologie“ überschrieb.549 Unmissverständlich hält er darin fest: „Dauer der Welt und künftiges Schicksal der Erde sind naturwissenschaftliche Fragen und als solche aus der Zuständigkeit der Theologie zu entlassen.“550 Der Gegensatz zur Offb des Johannes könnte nicht größer sein. Es ist doch wohl typisch, dass unsere Stelle Offb 6,12 bei Trillhaas nur als Belegstelle für die Verwendung von Joel auftaucht! Wer die kosmologische Eschatologie preisgibt, entlässt in Wirklichkeit Gott aus dem Weltregiment. Offb 6,12 hat in der Kirchengeschichte mehrfach eine Rolle gespielt. Dazu zwei Beispiele: Der Franziskanerspirituale Petrus Johannis Olivi deutete in 545 Zum „Blut“ als Zeichen für „eschatologische Schrecknisse“ vgl. J. Behm, Art. αἷμα usw., ThWNT, I, 1933, S. 175. 546 Vgl. Stählin a.a.O.; Schlatter BFchTh S. 80. 547 Ott S. 434. 548 Neues Testament und Mythologie, abgedruckt in Kerygma und Mythos, hrsg. von Hans Werner Bartsch, 2. Aufl., Hamburg-Volksdorf, 1951, S. 18. 549 Trillhaas S. 475. 550 Trillhaas S. 476.
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seiner Postilla super Apocalypsim von 1297 die Öffnung des sechsten Siegels auf die Abfassung der Regula Francisci.551 Und der täuferische Prophet David Joris wies in seinem Drohbrief an den Gerichtshof von Holland im Jahre 1539 auch auf Offb 6,12ff hin.552 Das Gericht, das Johannes sah, schreitet in V. 13 fort: Und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von einem starken Wind geschüttelt wird. Sonne, Mond und Sterne bilden eine biblische Trias (Gen 1,16; Ps 8,4; 148,3; Jer 31,35; 1Kor 15,41). Zusammen mit Sonne und Mond werden die Sterne im AT oft das Heer des Himmels genannt. Daraus leitet sich der Gottesname „Jahwe Zebaoth“ = „Jahwe (bzw. Herr) der Heerscharen“ ab. Interessanterweise können auch die Engel „Heer des Himmels“ heißen (z.B. 1Kön 22,19).553 Das verbindende Element dieser Redewendungen besteht darin, dass die Sterne als Lebewesen, genauer: als Engel, betrachtet werden.554 Weil „Sterne“ Lebewesen sind, können aber auch menschliche Führungspersönlichkeiten als „Sterne“ bezeichnet werden. So gerade in der Offb (1,16.20 u. ö.). Vgl. Jud 13 im NT und Jes 14,12ff; Num 24,17 im AT. Bei dieser Bedeutungsbreite für die Sterne des Himmels stehen bei Offb 6,13 mehrere Deutungsmöglichkeiten offen. Sind es die geschaffenen Gestirne? Sind die Engel gemeint, die sie repräsentieren? Sind es Führer der Menschheit? Oder gar Gemeindeleiter bzw. Personen mit Bedeutung für die Kirche? Bevor wir eine Antwort versuchen, sei der Vergleich geklärt. Wie ein Feigenbaum (συκῆ [syke]) seine Feigen abwirft (βάλλει τοὺς ὀλύνθους [ballei tus olynthus]), wenn er von einem starken Wind geschüttelt wird“, so ist das Fallen der Sterne. ὁ ὄλυνθος [ho olynthos] ist die noch unreife Spätfeige.555 Um solche unreifen Feigen herabzuschütteln, braucht es einen sehr starken Sturm,556 denn „Unreife Feigen hängen sehr fest“ an ihrem Baum.557 Offb 6,13 knüpft hier an Jes 34,34 LXX an: καὶ πάντα τὰ ἄστρα πεσεῖται ὡς φύλλα ἐξ ἀμπέλου καὶ ὡς πίπτει φύλλα ἀπὸ συκῆς [kai panta ta astra peseitai hos phylla ex ampelu kai hos piptei phylla apo sykes].558
551 552 553 554 555 556 557 558
Vgl. Maier Offb S. 183. A.a.O. S. 261. Vgl. Gesenius S. 671. Vgl. W. Foerster, Art. ἀστήρ usw., ThWNT, I, 1933, S. 501f. C.–H. Hunzinger, Art. συκῆ usw., ThWNT, VII, 1964, S. 752. Kraft S. 122: „eine unvorstellbare Heftigkeit“. Kraft a.a.O. Hunzinger a.a.O. S. 757; Kraft a.a.O.; Ritt S. 46f.
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Die fallenden Sterne gehen außerdem auf Mt 24,29 zurück. Überhaupt sind Veränderungen in der Welt der Sterne Zeichen des göttlichen Gerichts (vgl. neben Jes 34,4; Mt 24,29 noch Jes 13,10; Ez 32,7; Joel 2,10; 4,15). Damit stehen wir erneut vor der Frage, was mit den Sternen von Offb 6,13 gemeint ist. Es wird gut sein, am engeren Wortsinn anzusetzen und in der Fortsetzung der kosmischen Zeichen von V. 12 auch den 13. Vers so auszulegen, dass hier zunächst der dem Menschen sichtbare Sternenhimmel gemeint ist.559 Die Frage, wie die herabfallenden Sterne auf der Erde Platz finden könnten, ist unangemessen und für das prophetische Bild uninteressant.560 Man sollte auch nicht wie Bousset von einer „etwas übertriebene(n) Schilderung“ sprechen.561 Der biblische Zusammenhang legt nun allerdings nahe, die Sterne zugleich als geistige Größen aufzufassen. Man erinnere sich an Hiob 25,5: „Siehe, auch … die Sterne sind nicht rein vor seinen Augen“ (LXX: ἄστρα δὲ οὐ καθαρὰ ἐναντίον αὐτοῦ [astra de u kathara enantion autu]; vgl. Hiob 4,18; 15,15). Sie müssen vergehen (Hebr 1,11f), ja sie kommen mit der ganzen alten Schöpfung ins Gericht (Hiob 4,18; 15,15; Offb 20,11). Sofern es sich um Engelmächte handelt, ist dieses Gericht im NT deutlich angesprochen (vgl. 1Kor 6,3; 2Petr 2,4; Jud 6). Man kann also im Sturz der Sterne auf die Erde den Beginn eines Gerichts über die Sterne bzw. Engel sehen. Hinzu kommt eine dritte Dimension. Schon Vitringa562 hat mit Fleiß eine Reihe von Zeugnissen zusammengetragen, die für die Deutung der Sterne auf menschliche und kirchliche Führungspersönlichkeiten sprechen. Unter anderen nannte er Dan 8,10; Offb 1,20; 12,1. Er schloss daraus, dass hier in Offb 6,13 die „doctores“ und angesehene Leiter der Kirche gemeint seien. Auch wenn diese Deutungsmöglichkeit nicht ganz sicher ist, sollte man doch für sie offenbleiben.563 Jedenfalls hat Hartenstein recht mit der Bemerkung: „Es ist kein Bild des Fortschritts, der eigenen Höherentwicklung“ der Welt,564 das wir in Offb 6,13 finden. Ob er auch mit seiner Prophezeiung recht behält: „Die Kriege der Endzeit werden Religionskriege sein“565 (zu Offb 6,13)? 559 So z.B. auch Lohse S. 50; Bengel S. 374; Wikenhauser S. 64; H. Traub, Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, S. 534. 560 Vgl. Bengel a.a.O.; Lohmeyer zur Stelle. 561 Bousset S. 275. 562 Vgl. Vitringa S. 286f. 563 Für diese dritte Dimension z.B. Hartenstein S. 113f (Sterne = „Wächter der Gemeinde“). 564 Hartenstein a.a.O. 565 Hartenstein S. 114.
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Lässt man für Offb 6,13 eine Deutung der Sterne auf geistige Größen zu, dann muss für Offb 6,12 Entsprechendes gelten. Auch Erdbeben, Sonne und Mond haben vermutlich einen Doppelsinn. In erster Linie sind es Vorgänge und Teile des sichtbaren Kosmos. In zweiter Linie aber handelt es sich wohl auch um geistige Vorgänge und Größen, deren genauere Bestimmung der Gemeinde der Endzeit möglich sein wird. Vorschnelle Identifizierungen sind nicht ratsam.566 Mit V. 13 sind wir dem Ende der alten Schöpfung ein großes Stück nähergerückt. Unverkennbar steigert sich die Dramatik in der Reihe großes Erdbeben – Sonnenfinsternis – Mondfinsternis – Herabfallen der Sterne. Aber noch immer ist das Ende nicht erreicht. Vielmehr halten wir mit Eduard Lohse fest, dass „die hier geschilderte kosmische Katastrophe noch nicht die Ankündigung des Endes selbst, sondern Höhepunkt und Abschluss der in Kap. 6 beschriebenen Einleitung des apokalyptischen Dramas“ ist.567 Kirchengeschichtlich ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Deutung der Sterne auf himmlische oder irdische Personen weit verbreitet ist. So deutete sie Martin Luther auf die „Obrigkeiten“568, Coccejus (Johannes Koch oder Koken) auf die bischöflichen Würdenträger.569 Über Vitringa s.o.570 Endlich ist mit V. 14 ein vorläufiges Ende erreicht: und der Himmel wich wie ein Buch (ὡς βιβλίον [hos biblion]), das zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln wurden wegbewegt von ihren Orten. Ausgangspunkt ist zunächst die Prophetie von Jes 34,4: „Der Himmel wird zusammengerollt werden wie eine Buchrolle“ (LXX: καὶ ἐλιγήσεται ὁ οὐρανὸς ὡς βιβλίον [kai eligesetai ho uranos hos biblion]). Johannes verschärft diese Diktion durch ἀπεχωρίσθη [apechoriste] (entwich), das an Offb 20,11 erinnert. Zum Vergleich dient die Buchrolle. Wie das Schriftmaterial aus Papyrus oder Pergament571 nach dem Lesen wieder um den Stab gewickelt bzw. zusammengerollt wurde, so kehrt der Himmel (ὁ οὐρανός [ho uranos]) an seinen Ausgangspunkt zurück.572 Als Schöpfer hat Gott den Himmel zu Beginn „ausgespannt“, vgl. z.B. Jes 40,22: „Er spannt den Himmel aus wie einen 566 567 568 569 570 571 572
Man vgl. das, was Irenäus über die Zahl 666 (Offb 13,18) in Adv. haer. V, 30 ausführt. Lohse S. 49. Ähnlich Aune S. 415. Vorreden S. 183. Vgl. Maier Offb S. 327. Vgl. weiter Hartenstein S. 113; P. Müller S. 26. Vgl. G. Schrenk, Art. βίβλος usw., ThWNT, I, 1933, S. 613f. Vgl. hier und im folgenden G. v. Rad und H. Traub im Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, S. 496ff. Interessanterweise deuten Ausleger wie Vitringa (S. 287) oder Zahn (S. 365) die Stelle so, dass der Himmel von Astronomen und Astrologen nicht mehr gelesen werden kann bzw. durch Wolken verhüllt wird.
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Schleier und breitet ihn aus wie ein Zelt.“ Nun rollt ihn der Schöpfer als Richter wieder zusammen. Das ist ein Gerichtshandeln an den Menschen auf der Erde und zugleich am Himmel selbst (vgl. Hiob 4,18; 15,15; 25,5; 2Petr 3,10; Hebr 1,11f; Offb 20,11)573. Im AT ist es längst angekündigt (vgl. Jes 34,4). So zeigt die Offb auch an dieser Stelle die Erfüllung der Prophetie des Alten Testaments. Die Ausleger sprechen bei Offb 6,14 von einer „Symphonie des Untergangs“.574 „Die Ordnung des Alls löst sich auf“,575 es ereigne sich ein „Zerbrechen des Firmaments“,576 es finde der „Endaufruhr der Elemente“ statt577. Es muss jedoch bedacht werden, dass die Erde mit ihren Bergen und Inseln, mit ihren Felsen und Klüften (V. 14-16) immer noch vorhanden ist. Auch in Mt 24,29ff, unserer nächsten jesuanischen Parallele, besteht die alte Erde trotz des Wankens der Kräfte des Himmels bei der Wiederkunft Jesu fort. Traub beobachtet sogar, dass die Katastrophe von Offb 6,12-14 „die Erde mit den Menschen merkwürdigerweise unberührt lässt“.578 Angesichts dieses Sachverhalts kann Offb 6,14 nur ein vorläufiges Ende markieren, noch nicht das Ende der alten Welt im vollen Sinne. Von Offb 20,11 sind wir noch ein ganzes Stück weit entfernt. Das zeigt sich jetzt gleich bei der zweiten Hälfte von V. 14: Und alle Berge und Inseln wurden wegbewegt (ἐαινήθησαν [eainethesan]) von ihren Orten. Ihre Orte sind die Plätze, die ihnen der Schöpfer angewiesen hat.579 Jetzt hebt der Schöpfer bei seinem Gerichtshandeln diese lange gültigen Plätze auf. Aber nicht die Berge und Inseln als solche! Der Umsturz alle Ordnungen greift jetzt also vom Himmel auf die Erde über. Dabei galten die Berge als „das Festeste auf Erden“580 ( vgl. Ps 65,7; Jes 54,10). Doch auch das Festeste ist jetzt nicht mehr fest, nicht mehr verlässlich. Erneut erfüllt sich hier die alttestamentliche Prophetie (vgl. Jes 24,18ff; Jer 4,24; Ez 26,15; 38,20; Nah 1,5).581 Allerdings will beachtet sein, dass es zu Offb 6,14b keine genaue Parallele im AT gibt.582 Noch immer steht das Ende im Vollsinn aus. Mit 573 574 575 576 577 578 579 580 581
Vgl. Wettstein S. 775, der auch auf die Vorzeichen in Josephus B.J. VI, 288ff hinweist. Ritt S. 46f. Lohse S. 50. Traub a.a.O. S. 534. Brütsch S. 304. Traub a.a.O. Vgl. H. Köster, Art. τόπος, ThWNT, VII, 1969, S. 187ff. W. Foerster, Art. ὄρος, ThWNT, V, 1954, S. 479; Behm S. 43. Vgl. Bousset S. 275; Kraft S. 122. Die jüdischen Apokalypsen und Auslegungen schließen sich hier an, z.B. Or Sib III, 82f; VIII, 233.413. 582 Köster a.a.O. S. 207,150.
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Recht formuliert W. Foerster zu unserer Stelle: „In der Erschütterung von Bergen und Inseln 6,14 kündigt sich [erst!] die kommende Erschütterung von Himmel und Erde an.“583 Wir werden also zur Beachtung des οὔπω [upo] von Mt 24,6 gezwungen.584 Eine geistliche Deutung585 von Offb 6,14 muss im Rahmen einer biblischen Typologie ebenso offenstehen wie bei V. 12 und 13. Doch bleibt Zurückhaltung gegenüber vorschnellen Identifizierungen geboten. Die Reaktion der Menschen schildern nun V. 15-17: Und die Könige der Erde und die Vornehmen und die militärischen Befehlshaber und die Reichen und die Starken und alle Knechte und Freien verbargen sich in den Höhlen und in den Felsen der Berge (V. 15). Sieben Gruppen von Menschen werden hier aufgezählt. Sehr wahrscheinlich ist diese Siebenzahl beabsichtigt, wie so oft in der Offb. Sie drückt hier wohl die Fülle aus, sodass die genannten Gruppen die gesamte Menschheit repräsentieren. „Das Schema“, das dabei in Offb 6,15 auftaucht, „ist sonst nicht bekannt“.586 Könige der Erde (βασιλεῖς τῆς γῆς [basileis tes ges]) stammt jedoch aus Jes 24,21 oder auch Ps 2,2; 89,28.587 Der Ausdruck hat etwas Abwertendes an sich, weil er den Gegensatz zu Gott und Christus enthält.588 Die Vornehmen (οἱ μεγιστᾶνες [hoi megistanes]) versteht H. Kraft als „die Grandseigneurs“ und will sie aus Ez 39,18-20 oder Jes 34,12 ableiten.589 Da die unmittelbare Nachbarschaft zu den Königen gegeben ist, sind in den μεγιστᾶνες [megistanes] aber am ehesten die „Großen“, die „Räte“ oder „Würdenträger“ um die Könige zu sehen (vgl. Dan 3,24.27; 5,1ff; Mk 6,21). Im heutigen Sprachgebrauch: die Politiker im Zentrum der Macht.590 Die χιλίαρχοι [chiliarchoi] haben wir mit militärische Befehlshaber übersetzt. χιλίαρχος [chiliarchos], eigentlich der „Anführer von 1000 Mann“,591 „ist in nt.licher Zeit der röm tribunus militum, der Befehlshaber einer Kohorte. χιλίαρχος ist auch als Fremdwort von den Rabb übernommen und verwendet worden.“592 Damit treten die „höheren 583 Foerster a.a.O. S. 486. 584 Nach Brütsch S. 307 ist hier allerdings „schon das Weltende angezeigt“. Wie wir jedoch Caird S. 88. 585 Beispiele bei P. Müller und Hartenstein a.a.O.; Caird S. 90; früher Vitringa S. 287f; Luther a.a.O.; Bullinger (nach Brütsch S. 306). Brütsch S. 306f urteilt ähnlich wie wir. 586 Kraft S. 122. 587 Für die Psalm-Stellen K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, S. 576. 588 Vgl. K.L. Schmidt a.a.O. S. 577. Bengel hält S. 375 die Könige für Tote. 589 Kraft a.a.O. 590 Die Deutung auf Adlige der Parther z.B. durch Mommsen ist nicht zu begründen (Brütsch S. 310; Kraft a.a.O.). Vgl. auch Zahn S. 365,45. 591 E. Lohse, Art. χιλιάς usw., ThWNT, IX, 1973, S. 455. 592 Lohse a.a.O. S. 455,2.
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Offiziere“593 als die militärischen Großen neben die politischen Großen. Es folgen die Reichen und die Starken (οἱ πλούσιοι καὶ οἱ ἰσχυροί [hoi plusioi kai hoi ischyroi]). Wer reich ist, ist nach den biblischen Aussagen auch stark.594 Hier ist die gesellschaftliche und politische Oberschicht gemeint. Am Ende stehen die beiden Grundklassen, in die sich die antiken Menschen teilten: Knechte und Freie, das heißt „freie“ Staatsbürger und Sklaven bzw. Abhängige.595 Man vgl. die Zusammenstellungen in Offb 13,16; 19,18, aber auch in Mk 6,21. Knechte und Freie kommt den Verhältnissen des Imperium Romanum, der damaligen griechischen und römischen Welt, am weitesten entgegen. Wir haben es also in Offb 6,15 mit der gesamten Menschheit zu tun. Das Handeln der Menschen wird wieder ganz mit Worten aus dem Alten Testament beschrieben: Sie verbargen sich in den Höhlen und in den Felsen der Berge (ἔκρυψαν ἑαυτοὺς εἰς τὰ σπήλαια καὶ εἰς τὰς πέτρας τῶν ὀρέων [ekrypsan heautus eis ta spelaia kai eis tas petras ton oreon]596). Man vgl. dazu Jes 2,10 LXX: εἰσέλθετε εἰς τὰς πέτρας καὶ κρύπτεσθε εἰς τὴν γῆν [eiselthete eis tas petras kai kryptesthe eis ten gen] oder Jes 2,18f LXX: κατακρύψουσιν εἰσενέγκαντες εἰς τὰ σπήλαια καὶ εἰς τὰς σχισμὰς τῶν πετρῶν [katakrypsusin eisenengkantes eis ta spelaia kai eis tas schismas ton petron], oder Jes 2,21; Jer 4,29.597 Man kann sich die Darstellungsweise des Johannes nur so erklären, dass er Offb 6,15 als Erfüllung dieser alttestamentlichen Prophetie versteht. Sich verbergen meint das Schutzsuchen, die Felsen der Berge bedeuten genauer die „Klüfte der Felsen in den Bergen“.598 Die Höhlen (σπήλαια [spelaia]) im Bergland dienten schon David und seither ungezählten Generationen als Unterschlupf (vgl. 1Sam 24,4ff; Ps 142,1; 1Makk 2,35; Jes 2,18f). Im Übrigen zeigt es sich, dass trotz der kosmischen Veränderungen an Himmel und Erde (V. 12-14) tatsächlich die alte Erde mit ihren Bewohnern fortexistiert, ja dass es noch Höhlen, Felsen und Berge gibt. Das letzte Ende ist noch nicht gekommen. Als geistliche Deutungsversuche seien erwähnt: Hartenstein sieht in Offb 6,15 den „Geist der Auflehnung und Trennung von Gott“ (S. 114), Brütsch das „Ende des Fortschrittsmythus und alles Selbsterlösungswahns“ (S. 310), Caird
593 Lohse a.a.O. zu Offb 6,15. 594 Vgl. W. Grundmann, Art. ἰσχύω usw., ThWNT, III, 1938, S. 400ff; F. Hauck / W. Kasch, Art. πλοῦτος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 316ff. 595 Vgl. K.H. Rengstorf, Art. δοῦλος usw., ThWNT, II, 1935, S. 264ff; H. Schlier, Art. ἐλεύθερος usw., a.a.O., S. 484ff. 596 Zur Form ὀρέων [oreon] vgl. Blass-Debrunner § 48,1. 597 Vgl. Schlatter BFchTh S. 80; Kraft a.a.O. 598 Vgl. O. Cullmann, Art. πέτρα, ThWNT, VII, 1959, S. 96.
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„the overthrow of human arrogance“ (S. 89). Man hat den Eindruck einer starken Subjektivität.599 Und sie sagen zu den Bergen und zu den Felsen: Fallt über uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! Denn es ist gekommen der große Tag ihres Zornes, und wer kann bestehen? (V. 16-17). Mit Recht stellt Vitringa auch diese Verse unter die Überschrift „Gottes Gericht über die Feinde der Kirche“ (Judicium Dei in hostes Ecclesiae).600 Gezeichnet sind sie nach der Vorlage von Hos 10,8601, die dann von Jesus in Lk 23,30 aufgenommen wird: καὶ ἐροῦσιν τοῖς ὄρεσιν καλύψατε ἡμᾶς καὶ τοῖς βουνοῖς πέσατε ἐφ᾿ ἡμᾶς [kai erusin tois oresin kalypsate hemas kai tois bunois pesate eph’ hemas] (LXX). Die Menschen suchen alle miteinander Schutz vor dem Gericht Gottes (dessen, der auf dem Thron sitzt, vgl. 4,2.9f; 5,1.7.13) und vor dem Zorn des Lammes. Hier gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem König und dem Sklaven.602 Über uns fallen und verbergen beschreiben denselben Wunsch: Die Menschen wollen sich verstecken vor dem richtenden Gott.603 Seit dem Sündenfall versucht sich „Die lichtscheue Art des natürlichen Menschen … vor dem richtenden Gott zu verstecken“604 (vgl. Gen 3,8; Ps 139,7ff; Jer 23,24; Joh 3,19ff; Eph 5,11ff). Aber dies ist unmöglich.605 Der Zorn des Lammes (ὀργὴ τοῦ ἀρνίου [orge tou arniu]) hat die Ausleger stark beschäftigt. Schon die beiden Bilder Zorn und Lamm kann man nur schwer zusammen denken. Und wie soll man sich den Zorn des Lammes Jesus Christus vorstellen?606 Hier wird der Zusammenhang der Bibel von Neuem wichtig. Dem Lamm Jesus Christus kommt nach Offb 5,12f Kraft (δύναμις [dynamis]), Stärke (ἰσχύς [ischys]) und Macht (κράτος [kratos]) zu, es ist kein schwächliches Lamm. Die Offb sieht dieses Lamm als „Weltherrscher“ (z.B. 5,7ff; 14,1; 17,14; 21,27), als „Sieger“ und „Herr aller Her-
599 Respektabler erscheint der Versuch von Vitringa S. 289ff, bisherige Erfüllungen von Offb 6,12ff in der Weltgeschichte auszuweisen. 600 Vitringa S. 289. 601 Schlatter BFchTh S. 80; Kraft S. 123. Vgl. die Bemerkungen zur hebräischen Sprache bei Blass-Debrunner § 155,3; 217,1. 602 Brütsch S. 311. 603 Vgl. A. Oepke, im Art. κρύπτω usw., ThWNT, III, 1938, S. 976f. 604 Oepke a.a.O. S. 976, vgl. S. 968. 605 P. Müller a.a.O. betont zu Recht, dass die Angst „nicht den fallenden Sternen, sondern dem Gericht Gottes und des Lammes“ gilt. 606 Caird sieht in „Zorn des Lammes“ nur ein Zitat aus dem Mund der Menschen und eine Verkehrung der biblischen Wahrheit („a travesty of the truth about Christ“, S. 93), Aune S. 420 eine redaktionelle Glosse.
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ren“ (z.B. 17,14; 19,16).607 Sachlich beruhen solche Aussagen sowohl auf dem Alten als auch auf dem Neuen Testament. Auf dem AT insofern, als dort der Messias über die Völker und die Welt herrscht (2Sam 7,12ff; Ps 2; Jes 9,5ff; 11,1ff; Dan 7,13ff). Auf dem NT insofern, als dort der Vater dem Sohn das Gericht übergeben hat (Joh 5,19ff). ὀργή [orge] aber bezeichnet in erster Linie nicht einen „Affekt“ Gottes, sondern seinen Gegensatz zur Sünde und allem Bösen und deshalb sein heiliges Zorngericht über alle gottfeindlichen Mächte und alle gottlosen Menschen. Dieses Zorngericht aber hat er, wie soeben bemerkt, seinem Sohn, dem Lamm Jesus Christus übertragen, und deshalb ist hier in Offb 6,16 vom Zorn des Lammes die Rede. Mit Recht hat Gustav Stählin darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Zorn ein fester Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums ist (vgl. Mt 3,7par; Lk 21,23ff; Röm 1,18ff; Joh 3,36).608 Ganz alttestamentlich heißt es zum Schluss in V. 17: Es ist gekommen der große Tag ihres Zornes, und wer kann bestehen? Vgl. Joel 2,11; 3,4; Nah 1,2ff; Zeph 1,14f; Röm 2,5 sowie zu „bestehen“ Nah 1,6; Mal 3,2. ἡ ἡμέρα ἡ μεγάλη [he hemera he megale] ist der „eschatologische Gerichtstag Gottes“.609 Die Wendung ihres Zornes zeigt Vater und Sohn, Gott und das Lamm „in voller aktiver Einheit“.610 Die wenigen Worte wer kann bestehen? (τίς δύναται σταθῆναι [tis dynatai stathenai]) enthüllen eine tiefe, allerdings sehr späte Erkenntnis: Niemand kann im Gericht Gottes bestehen, weil wir alle verlorene Sünder sind – verloren, wenn wir nicht die Erlösung durch Jesus Christus angenommen haben (vgl. Röm 2–3). Die Menschen sind sich also zum Zeitpunkt von Offb 6,16f „ihrer Schuld bewusst“.611 Eines aber fehlt in Offb 6,15-17: Die Buße. Kein Wort der Umkehr zu Gott, wie sie sich zum Beispiel in Ninive vollzogen hatte (vgl. Jona 3–4; Mt 12,41)! Dasselbe wird uns rätselhafterweise auch später in der Offb begegnen (9,20f; 16,9.11.21). Mit allem Ernst stellt uns die Offb vor die Erkenntnis: Es gibt ein Böses, das sich nicht bekehrt. Vitringa hat in seinem Kommentar scharfsichtig herausgearbeitet, dass sich die Menschen in Offb 6,15-17 nicht zur Scham und Besinnung verkriechen, sondern um sich als Sünder zu verteidigen: „ut se…
607 So mit Recht J. Jeremias, Art. ἀρνίον, ThWNT, I, 1933, S. 345. Ebenso Behm S. 43. 608 Im Art. ὀργή usw., ThWNT, V, 1954, S. 423ff. Lohse S. 50 nennt dazu 2Kor 5,10; Mt 7,22f. 609 W. Grundmann, Art. μέγας usw., ThWNT, IV, 1942, S. 537. 610 Ritt S. 47. 611 Lohse S. 50.
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defenderent adversus Iram Majestatemque Dei Judicis et scelerum suorum Vindicis.“612 Zuletzt sei festgehalten, dass das sechste Siegel nicht nur eine Botschaft an die Leser der Offb, sondern auch an die Seelen der Märtyrer unter dem Altar (V. 9ff) enthält. Diese Botschaft lautet: Gottes Gericht ist schon auf dem Wege. Gott wird am Ende tatsächlich „Recht schaffen“ (vgl. V. 10).
IV Zusammenfassung Eine kurze Zusammenfassung des inhaltsreichen sechsten Kapitels zu geben ist schwer. Sie sei in folgenden Punkten versucht: 1. Das sechste Kapitel der Offb bildet insofern eine Einheit, als es die Öffnung der ersten sechs Siegel durch das Lamm beschreibt. Es beinhaltet aber zwei deutlich voneinander unterschiedene Gruppen von Siegeln. Die erste Gruppe besteht aus dem ersten bis vierten Siegel und hat die Plagen zum Gegenstand, die von den apokalyptischen Reitern für die Menschheit ausgehen.613 Die zweite Gruppe besteht aus den Siegeln Nr. 5 und Nr. 6, die von den Seelen der Märtyrer und von den Ereignissen handeln, die das Gericht Gottes einleiten. 2. Offb 6 und Mt 24 / Mk 13 sind weitgehend parallel. Die Abfolge Krieg/ Eroberung – Krieg/Blutvergießen – Hunger ist in Mt 24,6f und Offb 6,2-8 genau gleich. Das bedeutet: Der Auferstandene knüpft mit seiner Botschaft in Offb 6 an die Botschaft des irdischen Jesus in Mt 24 an. Es gibt insofern in der Offb keinen neuen Ablauf. 3. Eine Konsequenz daraus ist, dass die vier apokalyptischen Reiter noch nicht zu den Endereignissen im eigentlichen Sinne zählen. „Es ist noch nicht das Ende“: Dieses Wort aus Mt 24,6 gilt auch für Offb 6,2-8. Man kann nur von einem „Anfang der Wehen“ reden.614 Die vier apokalyptischen Reiter bringen also eine Grundstimmung der ganzen künftigen Geschichte zum Ausdruck. Damit hängt zusammen, dass es sich bei Offb 6,2-8 immer nur um teilweise Gerichte handelt (vgl. Mt 24,6; Mk 13,7; Lk 21,9). 4. Die vier apokalyptischen Reiter von Offb 6,2-8 sind nach unserer Auslegung Engel. Sie sind damit Gerichtswerkzeuge Gottes. Die Botschaft dieser Verse lautet nicht: Gott wirkt (oder will gar!) das Böse. Vielmehr lautet sie: Gott straft das Böse und gibt der ungehorsamen Menschheit die Chance der Buße. An einem besteht keinerlei Zweifel: Gott und das Lamm regieren die 612 Vitringa S. 289. 613 Vgl. Wikenhauser S. 58. 614 Wikenhauser S. 58f.
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gesamte Geschichte ohne jede Ausnahme. Auch die Akteure des Bösen können nur soweit auftreten und handeln, als ihnen Gott Raum und Zeit gibt. 5. Gottes Gericht kommt. Es wäre falsch, damit nicht zu rechnen. Aber es kommt zu der Zeit, die Gott allein bestimmt. Auch das Hilfe suchende Gebet der Märtyrer kann es nicht beschleunigen oder die Zeitmasse verändern. 6. Was die Märtyrer betrifft, so ist aus der Geschichte der Zeit um 100 n.Chr. klar, dass die damalige Kirche jedenfalls in gewissen Regionen – darunter Kleinasien – eine Märtyrerkirche war. Daraus erwuchs die brennende Frage nach dem Eingreifen Gottes und nach seinem befreienden Gericht, das allem Bösen ein Ende macht. 7. Offb 6,9-11 gestattet uns bei den „Seelen der Märtyrer“ auch einen Blick in den Zustand der verstorbenen Gläubigen. Auffallenderweise scheut sich Johannes nicht, sie als „Seelen“ (ψυχαί [psychai]) zu bezeichnen. Sie befinden sich in einem bestimmten Raum „unter dem Altar“. In Verbindung mit Lk 16,19ff; 23,43; 2Kor 12,2-4 lässt dies darauf schließen, dass es für die verstorbenen Gläubigen bestimmte Räume gibt, in die sie nach ihrem Tode Aufnahme finden. Ihre Auferstehung steht noch aus. Sie besitzen aber Bewusstsein, nehmen Vorgänge auf der Erde wahr und beten für die noch auf der Erde lebenden Menschen bzw. Gläubigen. Die Annahme eines solchen „Zwischenzustandes“ ist keine „eschatologische Häresie“,615 sondern eine dogmatische Notwendigkeit. 8. In Offb 6,12-17, dem sechsten Siegel, begegnen wir großen kosmischen und irdischen Erschütterungen. Sie stehen in deutlicher Parallele zu Mt 24,29. Die Frage wird relevant: Ist Offb 6,12-17 schon das Ende der Welt, der alten Erde und des alten Himmels? Der Text selbst und auch der Vergleich mit dem AT und dem übrigen NT raten hier zur Vorsicht. Es sind Stationen auf dem Weg zum endgültigen Ende, aber noch nicht dieses selbst.616 Die Situation von Offb 20,11ff ist noch nicht erreicht. Daraus folgt auch, dass die Offb ein Nacheinander der Ereignisse, eine deutliche Zukunftslinie617 aufweist. Sie sagt keineswegs immer dasselbe in konzentrischen Kreisen. 9. Die Offb korrigiert das europäische, aus der Aufklärung kommende „Bild des Fortschritts, der eigenen Höherentwicklung“.618 Sie zeigt stattdessen „das Bild des großen Zusammenbruchs in der Geschichte“,619 und zwar 615 Gegen Trillhaas S. 454f. 616 Richtig Hartenstein S. 113: „die Endentwicklung der Geschichte“. Anders Brütsch S. 307. 617 Vgl. O. Cullmann, Christus und die Zeit. 618 Hartenstein S. 113f. 619 Hartenstein S. 114.
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gemeinsam mit Mt 24, der großen Endzeitrede Jesu. Es lässt sich kein größerer Gegensatz denken als der zwischen der Zukunftsperspektive Lessings in der „Erziehung des Menschengeschlechts“620 und Offb 6. Aber die Offb tut dies im Horizont einer unbesiegbaren christlichen Hoffnung. Sie gibt deshalb der Kirche und allen glaubenden Menschen die Kraft, auch die schlimmsten Nöte und unvorstellbares Leid durchzustehen.621 10. Der alttestamentliche Hintergrund wird überall greifbar. Ohne AT wäre die Offb in der gegenwärtigen Form nicht entstanden. Im Kommentar haben wir insbesondere auf die Bezüge zu Lev 26; zu den Psalmen; zu Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Daniel, Hosea, Joel, Nahum, Zefanja, Sacharja und Maleachi hingewiesen. Dennoch ist die Offb keine Zitaten-Kollektion aus dem AT wie z.B. 4Q Flor, sondern eine eigenständige, christuszentrierte Schau, die durch ihre Sprache die Erfüllung des AT dokumentiert. 11. Hermeneutisch bedeutet Offb 6 eine Herausforderung, gewohnte theologische Positionen neu zu überdenken. Haben wir es hier mit allein historischen oder kosmischen Vorgängen zu tun, die über den äußeren Wortsinn hinaus nicht gedeutet werden dürfen? Oder müssen wir nicht doch im Einklang mit der Kirchengeschichte darüber hinausgehende geistliche Deutungen zulassen? Stürzen wir damit in das wilde Meer der Subjektivität? Oder gibt uns das NT und das AT Maßstäbe an die Hand, um zu einer exegetisch und dogmatisch begründeten geistlichen Deutung zu gelangen? 12. Offb 6 hat eine starke Wirkungsgeschichte entfaltet. Das gilt zunächst kunstgeschichtlich. Es ist das große Plus des Kommentars von Charles Brütsch, dass er stets den kunstgeschichtlichen Spuren der Offb liebevoll nachgegangen ist. So auch bei Offb 6.622 Seine Hinweise lassen sich ohne Weiteres ins fast Uferlose erweitern, beispielsweise durch die beiden Apokalyptischen Reiter, die Wassily Kandinsky 1911 und 1914 gemalt hat623, oder Kohlers Gemälde in der Kirche von Oberstadion bei Biberach. Erst recht zeigt die Kirchengeschichte den Einfluss von Offb 6. Eine Epoche wie die Reformation und Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts kann man sich ohne Offb 6 gar nicht vorstellen. Dazu wieder ganz minimale, exemplarische Hinweise: Leonhard Schiemer dichtet sein „O Herr wie lang wiltu dazu doch schweigen?“ nach Offb 6.624 Thomas Müntzer feuert 1525 die Bauern
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Lessing § 81–85. Vgl. Schlatter S. 198. Vgl. Brütsch S. 291f.297.309. In der Städtischen Galerie Lenbachhaus München. Maier Offb S. 214.
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u.a. mit Offb 6 an.625 Justus Menius nennt 1530 Offb 6 unter den am häufigsten von den Täufern benutzten Schriftstellen.626 David Joris bedroht 1539 den Gerichtshof von Holland mit Offb 6.627 Über die geistlichen Deutungen von Offb 6 bei den Franziskaner-Spiritualen628 und in der reformierten Föderaltheologie eines Coccejus oder Vitringa629 haben wir schon gesprochen. Eine gegenläufige Bewegung, die gerade wegen Offb 6 den christlichen Charakter der Johannesoffenbarung in Abrede stellt, beobachten wir z.B. bei Semler, Stroth und Oeder im 18. Jh.630. Alle diese kirchengeschichtlichen Beobachtungen können nur die bleibende Aktualität unseres Kapitels unterstreichen.
3. Die Gemeinde wird bewahrt, 7,1-17 I Übersetzung 1 Danach sah ich vier Engel stehen an den vier Ecken der Erde, die hielten die vier Winde der Erde fest, damit kein Wind über die Erde oder über das Meer oder über irgendeinen Baum wehe. 2 Und ich sah einen anderen Engel heraufkommen vom Sonnenaufgang her, der hatte das Siegel des lebendigen Gottes, und er rief mit lauter Stimme den vier Engeln zu, denen Macht gegeben war, der Erde und dem Meer Schaden zu tun: 3 Tut keinen Schaden der Erde oder dem Meer oder den Bäumen, bis wir die Knechte unseres Gottes an ihren Stirnen versiegelt haben! 4 Und ich hörte die Zahl der Versiegelten: Hundertvierundvierzigtausend, versiegelt aus jedem Stamm der Söhne Israels: 5 Aus dem Stamm Juda zwölftausend Versiegelte, aus dem Stamm Ruben zwölftausend, aus dem Stamm Gad zwölftausend, 6 aus dem Stamm Asser zwölftausend, aus dem Stamm Naftali zwölftausend, aus dem Stamm Manasse zwölftausend, 7 aus dem Stamm Simeon zwölftausend, aus dem Stamm Levi zwölftausend, aus dem Stamm Issachar zwölftausend, 8 aus dem Stamm Sebulon zwölftausend, aus dem Stamm Josef zwölftausend, aus dem Stamm Benjamin zwölftausend Versiegelte. 9 Danach sah ich, und siehe, eine große Menge, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und 625 626 627 628 629 630
A.a.O. S. 224f. A.a.O. S. 293. A.a.O. S. 261. A.a.O. S. 183. A.a.O. S. 306ff. A.a.O. S. 456.
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Stämmen und Völkern und Sprachen, die stand vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Gewändern und Palmzweige in ihren Händen, 10 und sie rufen mit lauter Stimme und sagen: Das Heil gehört unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm! 11 Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an 12 und sagten: Amen, das Lob und der Preis und die Weisheit und der Dank und die Ehre und die Kraft und die Stärke gebührt unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. 13 Und einer von den Ältesten fing an und sagte zu mir: Wer sind diese und woher sind sie gekommen, die da mit den weißen Gewändern angetan sind? 14 Und ich sprach zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sagte zu mir: Diese sinds, die aus der großen Trübsal kommen, und ihre Gewänder gewaschen und weiß gemacht haben im Blut des Lammes. 15 Deshalb sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel, und der, der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen. 16 Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten, und es wird auch weder die Sonne noch irgendeine Hitze auf sie fallen, 17 denn das Lamm in der Mitte631 des Thrones wird sie weiden und sie leiten zu den Quellen lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
II Struktur Offb 7 ist ein Diptychon,632 ein Doppelbild. Es zeigt die Gemeinde der Erlösten, aber in zwei Bildern. Auf dem ersten Bild sind Versiegelte, an eine festgesetzte Zahl gebunden. Auf dem zweiten Bild ist eine ungezählte Schar, nicht versiegelt, sondern mit Palmzweigen und mit weißen Kleidern (7, 1-8 bzw. 7,9-17). Durch μετὰ τοῦτο [meta tuto] in 7,1 einerseits und die Öffnung des siebten Siegels in 8,1 andererseits ist Offb 7 als eigene Einheit deutlich gegen das sechste und das achte Kapitel abgehoben. Unser Kapitel hat darin seine thematische Einheit, dass es beide Male um das Gottesvolk geht. In 7,1-8 wird es als „Knechte unseres Gottes“ (7,3) und in 7,9-17 als die Gerechtfertigten (weiße Kleider!) durch das „Blut des Lammes“ (7,14) bezeichnet. Inwieweit der erste Teil sich auf das Gottesvolk aus Israel und der zweite Teil sich auf das Gottesvolk aus der übrigen Menschheit bezieht, wird im Kommentar zu prüfen sein. 631 Blass-Debrunner übersetzt ἀνά [ana] mit „zwischen“ (§ 204,1). 632 Vgl. Aune S. 439.
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Die Sprache dieses Kapitels ist durchaus variantenreich. Im ersten Teil herrscht eine gemessene, zahlenmäßig rhythmisierte Sprache, die fast an Gen 1 erinnert. Im zweiten Teil ist sie weniger streng, lässt Raum für einen Hymnus (V. 12) und ein Gespräch (V. 13-17). Sehen und Hören lösen sich in beiden Teilen ab. Johannes ist alles andere als schematisch. Nach den Ereignissen in der Schöpfung und Menschenwelt kehren wir jetzt also zum Thema Gemeinde/Gottesvolk zurück. Dieser Duktus aber entspricht erneut Mt 24 (siehe Mt 24,9ff nach Mt 24,6ff).
III Einzelexegese 1. Der erste Teil: Die Versiegelung der Knechte Gottes, 7,1-8 Μετὰ τοῦτο εἶδον [Meta tuto eidon] (V. 1) entspricht dem Kapitelanfang in 4,1. Inzwischen kennen wir diese Art des Johannes, den Ablauf seiner Visionen zu gliedern.633 Nun kommt die Vier-Zahl gleich dreifach ins Spiel. Das zeigt, dass es um etwas Weltumspannendes geht. Zuerst sah er vier Engel stehen. Nach den Reitern und den dramatischen Entwicklungen von Kap. 6 gibt dieses Stehen der Szene eine große Ruhe. Man ahnt, dass jetzt eine der Pausen im apokalyptischen Ablauf eintritt.634 Sie standen an den vier Ecken der Erde (ἐπὶ τὰς τέσσαρας γωνίας τῆς γῆς [epi tas tessaras gonias tes ges]). Entgegen Joachim Jeremias635 ist damit nicht gesagt, dass Johannes sich „die Erde viereckig gedacht“ hätte. Ecken bedeutet hier vielmehr soviel wie „Enden“ im Sinne unserer Windrichtungen (vgl. Ez 7,1; Mt 24,31; Apg 1,8).636 Die Engel umstehen also die ganze Erde. Dazu passt, dass sie die vier Winde der Erde festhielten. Das sind alle Winde der Erde. Schon im AT stehen die vier Winde für die vier Windrichtungen und zugleich für weltumspannende Bewegungen, die die ganze Völkerwelt betreffen (Jer 49,36; Ez 37,9; Dan 7,2; Sach 2,10; 6,5).637 Sie hielten fest bedeutet also: Sie hielten alle eschatologischen Vorgänge an. Gott will, dass zuvor noch etwas anderes geschieht. Dabei erinnern wir uns daran, dass gerade die Engel „beim endzeitlichen Geschehen“ der Bibel eine Hauptrolle spielen.638 Jetzt sorgen sie dafür, dass kein Wind über die Erde (= auf dem 633 634 635 636 637 638
Typisch auch für das Evangelium des Johannes, s. Blass-Debrunner § 459,4. Auch Charles I S. 189: „a pause“; Hartenstein S. 118. Art. γωνία usw., ThWNT, I, 1933, S. 792; ebenso Behm S. 44. Aune S. 450 übersetzt „quarters“. Aune a.a.O. G. Kittel im Art. ἄγγελος usw., ThWNT, I, 1933, S. 83.
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Gebiet der Erde639) oder über das Meer oder über irgendeinen Baum (= auf jeden beliebigen Baum hin640) wehe. Sie tun das im Auftrag Gottes. Alle Verderbensstürme sind jetzt untersagt. Weder Erde noch Meer noch Baum soll Schaden leiden (vgl. V. 3). Wer in der Offb nur fortlaufende Weltuntergänge sehen will, wird hier eines Besseren belehrt. Auffallend ist die Erwähnung des „Baumes“. Gedacht ist entweder an die Fruchtbäume oder an Bäume als Sinnbild des Lebens (vgl. Ps 1,3; 92,12ff; Jer 17,8).641 Mit καὶ εἶδον [kai eidon] beginnt eine neue Szene (V. 2). Ein anderer Engel erscheint und leitet die folgenden Geschehnisse ein. Er ist in Bewegung, kommt herauf (oder „steigt herauf“) vom Sonnenaufgang her (oder „im Osten“,642 ἀπὸ ἀνατολῆς ἡλίου [apo anatoles heliu]). Das Kommen „vom Osten“ deutet darauf hin, dass er von Gott kommt, von ihm entsandt wurde. „In Offb 7,2 ist ἀνατολή die gute Gegend“.643 ἀναβαίνειν [anabainein], heraufkommen, „heraufsteigen“ hat hier den Sinn von „auftreten“,644 vermutlich auch im Sinne einer heiligen, kultischen Handlung.645 Damit stimmt zusammen, dass er das Siegel des lebendigen Gottes mit sich führt. Wem Gott sein Siegel anvertraut, dem gibt er eine hohe Stellung. Daraus folgt die Autorität des anderen Engels. Er kann den vier Engeln von V. 1 befehlen: Er rief mit lauter Stimme (ἔκραξεν φωνῇ μεγάλῃ [ekraxen phone megale])646 den vier Engeln zu, denen Macht gegeben war,647 der Erde und dem Meer Schaden zu tun … Demnach warteten die vier Engel von V. 1 schon darauf, dass sie die vier Winde loslassen und der ganzen Erde mitsamt dem Meer Schaden tun konnten (ἀδικῆσαι [adikesai]). Sind diese vier also „böse Engel“, wie es Bengel geradewegs sagt648 und auch Luther649 annimmt? Aus dem Wort Schaden tun (ἀδικεῖν [adikein]) könnte man eine solche Deutung ableiten.650 Gottlob Schrenk hat jedoch herausgearbeitet, dass ἀδικεῖν [adikein] – „eine 639 Blass-Debrunner § 233,2. 640 A.a.O. 641 Für Letzteres z.B. Morris S. 113. Manchmal werden die Bäume auf die Gerechten gedeutet, vgl. Hartenstein S. 118; Brütsch S. 320. 642 Vgl. Blass-Debrunner § 141,5; 253,2.7. 643 H. Schlier, Art. ἀνατέλλω usw., ThWNT, I, 1933, S. 354. 644 Vgl. Joh. Schneider, Art. ἀναβαίνω usw., a.a.O. S. 516. 645 Schneider a.a.O. S. 517. 646 Zahns Interpretation „mit schriller und gewaltiger Stimme“ (S. 370) ist etwas übertrieben. 647 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 63,2; 297,2. 648 Bengel S. 378. Hartenstein nennt sie sogar „dämonische Gestalten“ (S. 118), ähnlich Caird S. 94: „their rebellious and demonic character“. 649 Vorreden S. 183; vgl. Hofmann S. 418f. 650 Vgl. dazu G. Schrenk, Art. ἄδικος usw., ThWNT, I, 1933, S. 150ff; Bengel a.a.O.
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Lieblingswendung der Offb“651 (vgl. 6,6; 9,4; 9,19) – hier als ein „schädigen … der Sache“ die Durchführung von „Gerichtstaten am Kosmos“ meint.652 Dann aber kommt Vitringa der Aussage der Offb näher, wenn er die vier Engel als „Ministros, executores illius Judicii“, der „Divinae Providentiae“ untertan, charakterisiert.653 Eine solche Auffassung wird dadurch unterstützt, dass auch die Winde im AT als Boten bzw. Engel Gottes gelten (Ps 104,4; Dan 7,2; Sach 6,5; Hebr 1,7). Wir müssen also festhalten, dass die vier Engel von Offb 7,1ff keine „bösen“, von Gott abgefallenen Engel sind, sondern wahre Engel Gottes, die ihm dienen. Gerade deshalb gehorchen sie dem Wort des „anderen Engels“. Es ist eine legitime, von Gott verliehene Macht (ἐδόθη [edothe] Pass. divinum), die sie im Folgenden ausüben.654 Manchmal identifiziert man die vier Engel mit den vier apokalyptischen Reitern von Offb 6,1-8.655 Doch dafür gibt der Text keinen Anhalt. V. 3 berichtet uns den Befehl des „anderen Engels“: Tut keinen Schaden der Erde oder dem Meer oder den Bäumen, bis wir die Knechte unseres Gottes an ihren Stirnen versiegelt haben! Dieser Befehl hat zwei Teile. Der erste ist ein göttliches „Noch nicht“, ein Aufschub, für den Gott dezidiert sorgt. Aus dem „Noch nicht“ (bis usw.) folgt dann allerdings auch, dass es später zu Gerichten an Erde, Meer und Bäumen kommt. Evtl. haben wir solche Gerichte im neunten Kapitel vor uns (vgl. 9,4). Der zweite Teil enthält die göttliche Absicht, die Knechte Gottes versiegeln zu lassen. Mit Recht hat diese Aussage immer wieder das Interesse der Ausleger auf sich gezogen. Versiegeln kann in diesem Zusammenhang nur bedeuten: in den kommenden Gerichten bewahren.656 Aber nun stehen viele Fragen auf: Wer wird bewahrt? Was bedeutet hier bewahren? Welches ist der Zeitpunkt der Versiegelung? Wie geschieht sie? Die Antwort auf einige Fragen müssen wir auf später verschieben. Zum „Wie?“ können wir jedoch sofort etwas sagen. Die Versiegelung geschieht durch eine Anzahl von Engeln (wir), und zwar nach Anordnung Gottes. Sie geschieht an den Stirnen der Versiegelten. Das erweckt sofort zwei Assoziationen, nämlich an Ez 9,4 und Offb 17,5.657 Während die Hure Babylon ein Stirnband mit ihrem ihr Geheimnis enthaltenden Namen trägt 651 652 653 654 655 656 657
Schrenk a.a.O. S. 161. Schrenk a.a.O. Vitringa S. 296. Aune S. 455. So z.B. Hartenstein S. 118; Caird S. 94. Vgl. G. Fitzer, Art. σφραγίς usw., ThWNT, VII, 1964, S. 951. Vgl. dazu Carl Schneider, Art. μέτωπον, ThWNT, IV, 1942, S. 638ff; O. Betz, Art. στίγμα, ThWNT, VII, 1964, S. 657ff; K.H. Rengstorf, Art. σημεῖον, usw., a.a.O., S. 199ff; Joh. Schneider, Art. σταυρός usw., a.a.O., S. 572ff.
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(Offb 17,5), handelt es sich in Ez 9,4 um den Schutz Gottes für die Seinen. Sie sollen als Gottes treue Gemeinde in geheimnisvoller Weise vor dem Gericht über Jerusalem bewahrt werden. Offensichtlich knüpft Offb 7,3 an dieses Geschehen von Ez 9,4 und zugleich an die Verheißung in Offb 3,12 an.658 Das Zeichen der Versiegelung in Ez 9,4 ist ein hebräisches Taw, also ein Kreuzeszeichen.659 Mit Recht kann man dies als prophetischen Hinweis auf Jesus Christus verstehen. Wir bleiben in der Linie dieser Interpretation, wenn wir nun aufgrund von Offb 14,1 feststellen, dass das Zeichen an den Stirnen in 7,3 der Name Jesu Christi und seines Vaters ist660 (vgl. 3,12). Versiegelt wird also in Offb 7,3 mit diesen Namen. Das Siegel in Gestalt dieser Namen bringt zum Ausdruck, dass die Betreffenden Gottes Eigentum sind und zur unzerstörbaren Gemeinde Jesu gehören.661 Ob sich daraus aber ableiten lässt, dass die Versiegelten „vor dem göttlichen Strafgericht, vor den apokalyptischen Plagen“ geschützt werden,662 bleibt höchst fragwürdig. Müssen sie doch teilweise durchs Martyrium gehen (Offb 6,11; 13,10). Richtigerweise wird man annehmen müssen, dass sie nicht vor den äußeren Nöten (vgl. 7,14), aber vor dem Verlust ihres Glaubens bewahrt werden.663 Martin Luther hatte dafür ein feines Gespür, wenn er zu Offb 7 bemerkte, es sei „ein Trostbild… auf dass man abermals gewiss sei, die Christenheit werde“ weiterhin „fromme Engel und das reine Wort haben“.664 Als Zeitpunkt der Versiegelung kann man sich entweder einen Zeitpunkt vor den Ereignissen von Offb 6 denken665 oder auch unmittelbar vor den Endereignissen, die jetzt geschildert werden. Evtl. soll jedoch die Versiegelung gar nicht auf einen so engen Zeitpunkt festgelegt werden, sondern das alle Zukunft begleitende bewahrende Handeln Gottes an seiner Gemeinde zum Ausdruck bringen.666 Zum Grundgedanken der Bewahrung der Gemeinde vgl. noch Mt 24,22. Auch hier legt sich Mt 24 als Parallele nahe. Vgl. noch Ex 12,13. 658 Carl Schneider a.a.O. S. 639; Betz a.a.O. S. 663; Fitzer a.a.O. S. 951; Kiddle S. 133; Schlatter BFchTh S. 74; Hirschberg S. 140. 659 Vgl. Joh. Schneider a.a.O. S. 579; Carl Schneider A.a.O.; Fitzer a. a. O.; Rengstorf a.a.O. S. 207. 660 O. Betz a.a.O. S. 663. 661 Fitzer a.a.O. S. 951f; Joh. Schneider a.a.O.; Hirschberg S. 165. 662 So Carl Schneider a.a.O. S. 638. 663 Die Einschränkung des Schutzes auf „demonic agencies in the coming reign of Antichrist“ (so Charles I S. 196) empfiehlt sich nicht. 664 Nach Vorreden S. 183. Ähnlich Brütsch S. 321; Behm S. 45; ja schon Irenäus Adv. haer. V. 30,2; auch Charles I S. 189. 665 Zahn S. 370: vor 6,12ff. 666 In diese Richtung deutet Bengel S. 382.
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Merkwürdig ist die nächste Aussage des Johannes: Und ich hörte die Zahl der Versiegelten (Καὶ ἤκουσα τὸν ἀριθμὸν τῶν ἐσφραγισμένων [Kai ekusa ton arithmon ton esphragismenon]), V. 4. Er selbst zählt nicht, sieht auch die Zahl nicht vor sich. Vielmehr hörte er sie. Die nächstliegende Annahme ist, dass er sie von einem Engel (vgl. 10,6ff) oder einem der Ältesten (vgl. 5,5; 7,13) hörte (ähnlich 9,16). Die sogenannten heiligen Zahlen betreffend bemerkt Oskar Rühle: „Die Literatur ist sehr weitschichtig.“667 Dieses Urteil gilt auch für die Zahl, mit der wir es hier zu tun haben. Es sind mehrere respektable Deutungsversuche zu Offb 7,4-8 unternommen worden. Unser Verfahren soll so sein, dass wir zunächst streng philologisch am Text entlanggehen und uns dann den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten zuwenden. Hundertvierundvierzigtausend Versiegelte668 sind es insgesamt. Die Gesamtzahl wird also vorangestellt. Ein Vergleich mit Offb 6,11 einerseits und mit Offb 14,1.3 andererseits zeigt, dass diese Zahl 1) eine von Gott festgelegte Vollzahl ist und b) in der Offb für die Beziehung zwischen dem Lamm und seiner Gemeinde eine besondere Bedeutung hat. Die Versiegelten kommen aus jedem Stamm der Söhne Israels. Söhne ְ ׂ ִ [ ְבּנ ֵי יbene jisrael]) ist GesamtbeIsraels (υἱοὶ Ἰσραήλ [hyioi Israel] = שָרֵאל 669 zeichnung für alle Israeliten. Israel hat dabei den charakteristischen heilsgeschichtlichen Klang als Bezeichnung des Gottesvolkes.670 Jeder Stamm meint die Zwölfzahl der Stämme in Israel, also die Nachkommen der Söhne Jakobs.671 Offb 7,4 ist schon deshalb hochinteressant, weil es mit der Existenz der zwölf Stämme in der Endzeit rechnet, und zwar schon vor dem Tausendjährigen Reich und vor der Neuschöpfung672. Die Wiederherstellung des 12-Stämme-Verbandes, der nach dem Untergang Samarias bzw. des Nordreiches im Jahre 722 v.Chr. weithin zerstört war, gehörte zur zäh festgehaltenen endzeitlichen Hoffung Israels (vgl. Ez 47,13ff; 48,30ff; Sir 48,10; Mt 19,28). Auch im NT ist diese Hoffnung deutlich ausgeprägt (vgl. Mt 19,28; Lk 22,30; Apg 1,6; Jak 1,1; Offb 21,12)673. Das Beispiel der Prophetin Hanna „aus dem Stamm Asser“ (Lk 2,36) zeigt jedoch, dass bis in die neutestamentliche Zeit 667 Art. ἀριθμέω usw., ThWNT, I, 1933, S. 461,1. 668 ἐσφραγισμένοι [esphragismenoi] wird bei Blass-Debrunner § 136,2 unter den schweren Solözismen aufgeführt, aber kaum zu Recht. 669 G. Fohrer in Art. υἱός usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 346. 670 Vgl. W. Gutbrod im Art. Ἰσραήλ usw., ThWNT, III, 1938, S. 386ff. 671 Vgl. C. Maurer im Art. φυλή, ThWNT, IX, 1973, S. 240f. 672 Vgl. P. Müller S. 27. 673 C. Maurer a.a.O.
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Angehörige der Nordreichstämme im Israelland lebten. Ferner geht Josephus, der als jüdischer Geschichtsschreiber zur Zeit des Johannes lebte (ca. 37–100 n.Chr.), davon aus, dass die zehn Stämme des Nordreichs nach wie vor in Asien existierten. Er schreibt in Bezug auf seine Gegenwart, „dass zwei Stämme in Asien und Europa den Römern untertan seien, während bis heute (ἕως δεῦρο [heos deuro]) die zehn Stämme jenseits des Euphrat lebten, Myriaden, die man gar nicht zählen kann“.674 Man sollte also nicht von den „völlig verschwundenen zehn Stämme(n)“ des Nordreichs sprechen und dies gar als Argument bei der Auslegung von Offb 7,4ff gebrauchen.675 Was V. 4 generalisierend zusammenfasste, wird nun in V. 5-8 im Einzelnen entfaltet: Aus dem Stamm Juda zwölftausend Versiegelte (ἐκ φυλῆς Ἰούδα δώδεκα χιλιάδες ἐσφραγισμένοι [ek phyles Iuda dodeka chiliades esphragismenoi]), V. 5: Juda steht hier voran. Die Reihenfolge in Offb 7,5-8 lautet: Juda – Ruben – Gad – Asser – Naftali – Manasse – Simeon – Levi – Issachar – Sebulon – Josef – Benjamin. Die ursprüngliche Genealogie in Gen 29,31ff; 30,1ff; 35,16ff lautet: Ruben – Simeon – Levi – Juda – Dan – Naftali – Gad – Asser – Issachar – Sebulon – Josef – Benjamin. Die erste Liste in Gen 35,22ff hat die Reihenfolge: Ruben – Simeon – Levi – Juda – Issachar – Sebulon – Josef – Benjamin – Dan – Naftali – Gad – Asser. Die Liste der Zukunft in Ez 48,30ff zählt folgende Namen auf: Ruben – Juda – Levi – Josef – Benjamin – Dan – Simeon – Issachar – Sebulon – Gad – Asser – Naftali. Insgesamt kann man im AT von 20 Listen oder listenmäßigen Aufzählungen der Stämme Israels ausgehen (Gen 29,31ff; 35,22ff; 46,8ff; 49,3ff; Ex 1,2ff; Num 1,5ff; 2,1ff; 7,12ff; 10,11ff; 13,4ff; 26,5ff; 34,16ff; Dtn 27,11ff; 33,6ff; Jos 15-19; 21,4ff; 1Chron 2-8; 12,25ff; Ez 48,1ff; 48,30ff). Die Zählungen schwanken hier allerdings.676 Aber soviel lässt sich sagen: Weder in der Ordnung noch in den Namen der Stämme gibt es eine völlige Übereinstimmung dieser Listen.677 Leon Morris zitiert beispielsweise G.R. Gray mit der Feststellung, bei den ca. 20 Listen des AT lägen nicht weniger als 18 verschiedene Anordnungen vor.678 Und auch David E. Aune bemerkte, „that few lists of the tribes of Israel within the OT itself are exactly identical with regard to order or num-
674 Ant XI, 133. 675 Gegen Schlatter S. 203; Grünzweig S. 208; Caird S. 95; C. Maurer a.a.O. S. 245. Richtig Aune, der S. 461 weitere Belege aufführt. 676 Vgl. Aune S. 460ff. Charles I S. 193 zählt „twenty different arrangements of the tribes in the O. T.“. 677 Schon Bengel S. 390 hat dies betont. 678 Morris S. 115. Beckwith S. 542 zählt 19 verschiedene Anordnungen.
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ber“.679 Auf diesem Hintergrund wird es sehr viel verständlicher, dass Offb 7,5-8 in keiner Liste des AT eine genaue Parallele hat.680 Sehen wir uns jetzt die Einzelheiten von Offb 7,5-8 an. Dass Juda auf dem ersten Platz steht, begegnet uns auch in Num 2,1ff; 7,12ff; 10,11ff und in 1Chron 2,3ff; 12,25ff. In Offb 7,4ff ist diese Voranstellung außerdem dadurch gerechtfertigt, dass Jesus der Löwe aus dem Stamm Juda ist (Offb 5,5).681 Nun wird jedoch nicht ganz Juda versiegelt, sondern nur ein Teil davon, nämlich zwölftausend aus (ἐκ [ek]) diesem Stamm. Das kann nur heißen: Nicht die fleischliche Zugehörigkeit zu diesem Stamm zählt, sondern allein der Glaube.682 Eine solche Deutung stimmt überein mit der Vollzahl der geretteten Gläubigen aus den Völkern in Röm 11,25 (πλήρωμα τῶν ἐθνῶν [pleroma ton ethnon]). Sie stimmt auch überein mit dem, was wir bei der Vollzahl der Märtyrer in Offb 6,11 beobachtet haben, und schließlich mit dem, was Paulus in Röm 2,28f sagt. Von da aus muss auch die Zahl Zwölftausend selbst interpretiert werden. Sie bedeutet die Vollzahl der von Gott Bewahrten. Diese Zahl ist Gott aufgrund seiner Allwissenheit und Allmacht bekannt, aber nicht prädestinatianisch festgelegt.683 Als „symbolische“684 Zahl der bewahrten Gläubigen ist sie keine Realzahl in dem Sinne, als würden hier etwa die „Christen jüdischer Herkunft zur Zeit der Apokalypse mehr oder weniger genau“ erfasst.685 Später müssen wir die Zahlen 12 000 und 144 000 noch einmal bedenken. Bis V. 8 folgen die Angaben über die jeweils zwölftausend aus den Stämmen Ruben, Gad, Asser, Naftali, Manasse, Simeon, Levi, Issachar, Sebulon, Josef und Benjamin in immer gleichem Rhythmus und gleicher Wortwahl. Nur dem ersten und dem letzten Eintrag der Liste (Juda und Benjamin) wird ein ἐσφραγισμένοι [esphragismenoi] („Versiegelte“) hinzugefügt. All dies hört Johannes nur, er sieht es nicht. Wenn er das Gehörte in der richtigen Reihenfolge im Gedächtnis behielt, muss ihm aufgefallen sein, dass diese Liste ihre Besonderheiten hatte. Aber er kommentiert diese Besonderheiten nicht. Er lässt sie geheimnisvoll so stehen. Charles spricht von „irregularities“ („Unregelmäßigkeiten“).686 Neben der Vorrangsstellung von Juda, 679 Aune S. 464. 680 Aune a.a.O. 681 Vgl. Charles I S. 194; Bengel S. 386; Morris S. 115; Caird S. 98; Brütsch S. 25; Behm S. 45. 682 Ebenso Charles a.a.O. 683 Also kein Begriff der „destiny“ (gegen Kiddle S. 136). 684 So richtig Kiddle S. 133. 685 Gegen Zahn S. 371f. 686 Charles I S. 207. Ähnlich Aune S. 461: „a very irregular list“.
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die sich aber gut erklären lässt (s. oben), nennt er die Auslassung von Dan, die Erwähnung von Manasse neben Josef und schließlich die „völlig unverständliche Ordnung“ („wholly unintelligible order“) aller Stämme.687 Die Auslassung von Dan hat die Exegeten am meisten beschäftigt. Schon im 2. Jh. n.Chr. hat die Kirche über die Gründe dieser Auslassung nachgedacht. Irenäus nennt ca. 180 n.Chr. als Grund, dass der Antichrist aus Dan komme: „Deshalb wird dieser Stamm in der Apokalypse nicht zu denen gezählt, die gerettet werden.“688 Bis heute hat diese Ansicht zahlreiche Nachfolger gefunden.689 Aber Irenäus schöpft seine Ansicht lediglich aus einer Interpretation von Jer 8,16 und nicht aus der Überlieferung der Presbyter oder der kleinasiatischen Schule des Johannes.690 Auf Irenäus kann man in diesem Falle also nicht bauen. In der Literatur weist man öfters auf den Götzendienst von Dan nach Ri 17–18 hin.691 Darin läge der Grund für die Auslassung in Offb 7,4ff. Doch war die Schandtat der Benjaminiter in Ri 19f etwa geringer?692 Da Johannes keinen Grund für die Auslassung Dans angibt, sollte man mit Spekulationen vorsichtig sein. Der biblische Befund enthüllt Folgendes: Auch andere Listen lassen Stämme Israels aus, so Ex 1,2-4 Josef, Dtn 33,6ff Simeon; Num 1,5ff; 13,4ff; Ez 48,1ff Levi und 1Chron 2,3–8,40 ebenfalls Dan.693 Teilweise wird Dan sogar nach vorne gezogen, so in Ez 48,1ff auf Platz 1 oder in Num 34,16ff auf Platz 4. Hätte es grundsätzliche Bedenken gegen Dan gegeben, hätte dies nicht geschehen dürfen. Im Übrigen fehlt Dan sonst nirgends, der Stamm wird in den Listen des AT keineswegs negativer als andere bewertet. Umgekehrt spricht für Dan schlussendlich, dass sein Name auf den Toren des endzeitlichen Jerusalem stehen soll (Ez 48,30ff; Offb 21,12). Woher hat dann Irenäus seine negative Bewertung? Die einleuchtendste Auskunft ist immer noch die, dass Irenäus hier einer jüdischen Lehrmeinung folgt, die evtl. vorchristlich ist.694 Spuren davon finden sich in den „Testamenten der zwölf Patriarchen“, die bis ins 2. Jh. v.Chr. zurückgehen,695 und
687 A.a.O. 688 Adv. haer. V, 30,2. 689 Vgl. Charles I S. 209, der u.a. Eucharius, Augustin, Jakob von Edessa, Theodoret, Arethas, Beda, Bousset, Holtzmann und Joh. Weiss erwähnt. Auch Hippolyt in De Antichristo 14 befindet sich evtl. in der Nachfolge des Irenäus , so jedenfalls Zahn S. 374. 690 Vgl. F.F. Bruce, GB, 1, S. 251. 691 Vgl. C. Maurer a.a.O. S. 243; Morris S. 115; Hirschberg S. 181; Bengel S. 387; Grünzweig S. 208. Zahn S. 374 wendet sich gegen diese Argumentation. 692 Vgl. Brütsch S. 326. 693 Auf diese Auslassung Dans in 1Chron 2,3ff weisen u.a. Bengel S. 395; Caird S. 99 hin. 694 So auch Charles I S. 208; Brütsch S. 325. 695 Jürgen Becker in JSHRZ, III, 1974, S. 17.
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in denen Satan gelegentlich als „Herrscher“ Dans bezeichnet wird.696 Auch negative Äußerungen aus dem Talmud kann man hier heranziehen, z. B. b Sanh 96 a, wo der Stamm Dan als götzendienerisch charakterisiert wird – übrigens wie bei Irenäus unter Verweis auf Jer 8,16! Aber wie vorsichtig man auch bei der Evaluierung solcher Aussagen bleiben muss, zeigen gerade die „Testamente der zwölf Patriarchen“. Jürgen Becker wendet sich in seinem Kommentar ausdrücklich gegen die Auffassung, „dass der Stamm Dan durch diese Aussage (von Test Dan V, 6) vom Heil ausgeschlossen sein soll“ und verweist dabei auf Test Dan V, 9ff; VI, 5ff.697 Er kommt zu dem Schluss: „So fällt es schwer, das Fehlen des Stammes Dan in Apc 7,4 mit TD (= Test Dan) in Verbindung zu bringen.“698 Alles in allem müssen wir sagen, dass wir für das Fehlen des Stammes Dan in Offb 7,5ff keinen Grund nennen können699, weil a) Offb 7,5ff keinen solchen Grund erkennen lässt und b) auch aus dem gesamtbiblischen Kontext ein solcher Grund nicht abgelesen werden kann. Ob Bengels Meinung, Dan sei „auf eine verborgene Weise“ in Offb 7,5ff „eingeschlossen“,700 nicht doch der Wahrheit nahekommt? Als dritte „Unregelmäßigkeit“ notierte Charles die Erwähnung von Manasse (V. 6) neben Josef (V. 8).701 Er geht davon aus, dass Manasse deshalb in die Liste aufgenommen wurde, um Dan zu ersetzen, und bezeichnet diese Ersatzaufnahme als „illogical“.702 Aber warum sollte man Johannes, dem man sonst die ernsthaftesten Überlegungen zubilligt, oder gar die göttliche Stimme der „Unlogik“ beschuldigen? Die Situation ist schon deshalb kompliziert, weil man auch ganz anders fragen könnte: Warum wurde Ephraim ausgelassen, wenn doch Manasse erwähnt wurde? Ist die Auslassung von Ephraim nicht ebenso bemerkenswert wie die von Dan?703 Wir müssen auch an dieser Stelle bekennen, dass wir keinen Grund für die Erwähnung von Manasse angeben können. Die vierte „Unregelmäßigkeit“, die Charles in seinem sehr gründlichen Kommentar aufzählt, ist die seines Erachtens „wholly unintelligible order“704 696 697 698 699 700 701 702 703 704
Test Dan V, 6. A.a.O. S. 95. A.a.O. Auch die Erklärung mit einer „Textverderbnis“, die z.B. F.F. Bruce (GBL, 1, S. 251) für möglich hält, lässt sich nicht genügend begründen. Bengel S. 385.395. Er begründet seine Meinung mit V. 4, wo es heißt: „aus jedem (!) Stamm“. Dan sei „unter Manasse gestecket“. Charles I S. 207f. A.a.O. S. 208. H.-J. Fabry, Art. מטה, ThWAT, IV, 1984, Sp. 823, schreibt, dass von Josef im AT „nie als ‚Stamm‘ gesprochen“ würde. Diese Aussage wird aber durch Ez 48,30ff widerlegt. Charles I S. 207.
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der Stämme. Hier ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass das AT keine festgelegte Ordnung der Stämme kennt und dass auch seine Listen mannigfach differieren. Endlich muss die Frage beantwortet werden: Wer wird hier versiegelt und bewahrt? Aune nennt fünf mögliche Antworten, die in der Auslegung angeboten werden: 1) Es sei der gläubige Rest Israels, 2) es seien Judenchristen, 3) es seien christliche Märtyrer, 4) es seien die Christen allgemein, gleich, ob Juden- oder Heidenchristen, 5) es seien hauptsächlich Heidenchristen.705 Die fünfte Antwort ist nur eine Variante der vierten und muss deshalb nicht extra diskutiert werden. Die erste Antwort verträgt sich kaum mit dem Kontext, der jedenfalls in Offb 6,9ff und 7,9ff nicht von Israel, sondern von Christen handelt. Ernsthafter ist die dritte Antwort in Betracht zu ziehen.706 Für sie sprechen vor allem zwei Argumente: 1) der Auswahlcharakter der Versiegelten (ἐκ φυλῆς … ἐκ φυλῆς [ek phyles … ek phyles]), 2) die Ähnlichkeit der bestimmten Zahl 144 000 mit der Vollzahl der Märtyrer in Offb 6,11.707 Dagegen sprechen jedoch folgende Erwägungen: 1) Es ist schwierig, anzunehmen, dass nur die Märtyrer „versiegelt“ = bewahrt werden sollen, während die andern Christen unversiegelt durchkommen. 2) Auch als symbolische Zahl erscheint 144 000 sehr hoch gegriffen für die Zahl der christlichen Märtyrer. 3) Warum sollen speziell die Märtyrer mit den Stämmen Israels verbunden werden? Es bleiben also die Antworten Nr. 2 (Judenchristen) und Nr. 4 (die Christen allgemein) als wichtigste Antwortmöglichkeiten übrig. Dass es sich um Judenchristen handelt,708 lässt sich ohne Zweifel gut begründen: 1) Die Zwölfzahl der Stämme deutet auf das geschichtliche Israel, 2) wenn Juda in 5,5 wörtlich zu nehmen ist, warum dann nicht auch in 7,5?709 3) Was sollte die Aufzählung der Stämme für einen Sinn machen, wenn es nicht um Israel im eigentlichen Sinne ginge?710 4) Röm 11,26 mit der Errettung der eschatologischen Vollzahl Israels lässt sich gut mit einer judenchristlichen Deutung von Offb 7,4ff verbinden, 5) eine solche judenchristliche Deutung lässt sich auch eng mit Ez 9,1ff verbinden, 6) eine Erweiterung des 705 Aune S. 460. 706 Vertreten u.a. durch Charles I S. 201ff; Kiddle S. 133ff; Caird S. 94ff. Schon Vitringa S. 301ff deutete auf die „Confessores Evangelicae Veritatis“. 707 Kiddle S. 133: „It takes us back to vi.11.“ 708 Dafür u.a. Sabatier; Hirscht; Holtzmann; Bousset; Bengel S. 384f (aber mit Einschluss der Heidenchristen S. 385f!). 709 Dieses Argument spielt z.B. bei Bengel S. 385 eine Rolle. 710 Vgl. dazu Brütsch S. 326.
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„Israel“-Namens auf die Gemeinde des Neuen Bundes ist abgesehen von Gal 6,16 im übrigen NT nicht ohne weiteres nachweisbar.711 Die oft herangezogenen Stellen 1Petr 1,1; Jak 1,1 können jedenfalls nicht als Beweis für eine Übertragung des „Israel“-Namens auf die heidenchristliche Kirche dienen (vgl. Gal 2,9).712 Aber es gibt andererseits doch auch gewichtige Gründe, die gegen eine Begrenzung der Versiegelung auf die Judenchristen sprechen: 1) Sollen nur Judenchristen „versiegelt“ = bewahrt werden und die andern Christen ohne Versiegelung = Bewahrung ins ewige Leben kommen?713, 2) so wenig die vollendete Kirche (ecclesia triumphans) im Offb 7,9ff nur aus Heidenchristen bestehen kann, so wenig kann die kämpfende Kirche (ecclesia militans) in 7,4ff nur aus Judenchristen bestehen, 3) in der Parallelstelle Offb 14,1ff stammen die 144 000 aus der ganzen Menschheit, soll es dann in 7,4ff anders sein?714, 4) eine Vollzahl für alle Christen gibt es auch in Röm 11,25f, 5) die Situation in Offb 7,4ff ist eine andere als in Offb 7,9ff, sodass wir nicht gehindert sind, in 7,4ff und 7,9 identische Größen von Gläubigen anzunehmen.715 Man wird die beiden zuletzt genannten Antwortmöglichkeiten – Judenchristen oder alle Christen – nebeneinander stehen lassen müssen. Offb 7,4ff bleibt in der Tat, wie Kiddle bemerkt, „one of the most disputed passages in Revelation“ („eine der meistdiskutierten Passagen in der Offenbarung“).716 Wir neigen jedoch der Annahme zu, dass es sich hier um alle Christen handelt,717 und zwar aus den oben genannten Gründen. Dabei gehen wir davon aus, dass die Judenchristen den geschichtlichen Ausgangspunkt der gesamten Kirche bilden.718 Das bleiben sie für alle Zeiten. Deshalb kann die Kirche hier im Bild der zwölf Stämme erscheinen. Man darf also nicht so argumentieren, als ob die Christen jetzt einfach die Nachfolger des alttestamentlichen Israel
So jedenfalls Walter Gutbrod, ThWNT, III, 1938, S. 386ff im Artikel Ἰσραήλ usw. Gegen Kiddle S. 136; Morris S. 114; Caird S. 95; Behm S. 45. So auch Morris S. 114; Caird S. 95; Schlatter S. 206; Hirschberg S. 140. So auch Pohl I S. 217. So auch Charles I S. 189. Kiddle S. 132. Vgl. Charles I S. 189. Die Ausscheidungen im Textbestand, die z.B. Spitta, Völter, Vischer, Pfleiderer, Schmidt, Erbes u.a. vornahmen, sind hier unbegründet und keine Lösung. Ebenso wenig Charles Hypothese „from Jewish sources“ (I S. 191ff). 717 Ebenso im Ergebnis Bengel S. 385f; Rengstorf a.a.O.; Maurer a.a.O.; Morris S. 114f; Brütsch S. 328; Pohl I S. 217; Behm S. 45; Grünzweig S. 207ff; Schlatter S. 203ff; Hartenstein S. 119; Frey S. 89. P. Müller S. 27 lässt es offen. 718 Ähnlich Brütsch S. 324; Grünzweig S. 208.
711 712 713 714 715 716
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wären.719 Das hieße, Israel zugunsten der Christenheit zu berauben. Paulus zeigt uns in Röm 9–11, dass wir Christen nicht einfach Israel ersetzen, sondern vielmehr in Israel eingepflanzt werden! Derselbe Grundgedanke erscheint auch in Offb 7,4ff. Ist unsere Deutung richtig, dann können wir zusammen mit andern Auslegern720 annehmen, dass es in 7,4ff und 7,9ff jedes Mal um dieselbe Kirche Christi geht: In 7,4ff treffen wir sie vor den letzten Trübsalen in irdischer Not, in 7,9ff aber in der himmlischen Vollendung.721 Inklusive ist damit auch die Frage beantwortet, mit der Kap. 6 schloss: „Wer kann bestehen?“ (6,17).722 Jetzt enthüllt sich auch die Bedeutung der Zahl Hundertvierundvierzigtausend (V. 4). Sie ist eine Zahl der Vollkommenheit,723 ähnlich den Zahlen in Ez 40–48 und Offb 21. Sie drückt die Vollzahl aller geretteten Christen aus, die trotz Verführung und Verfolgung ans Ziel ihres Glaubens kommen, und zwar dank der göttlichen Bewahrung (vgl. 1Petr 1,5). 144 000 ist außerdem eine heilige Zahl, zusammengesetzt aus 3 (Trinität) mal 4 (gesamte Schöpfung) sowie aus 12 (Gottesvolk) mal 1000 (Fülle). Resultat: Der heilige dreieinige Gott bringt seine Gemeinde durch alle Nöte der Endzeit hindurch ins ewige Leben. 2. Der zweite Teil: Die ungezählte Schar der Erlösten, 7,9-17 Danach sah ich (V. 9): Diese Worte leiten eine neue Vision ein. Sie ist aber eng mit V. 1-8 verbunden, wie wir gleich sehen werden. Es ist eine große Menge (ὄχλος πολύς [ochlos polys]), die niemand zählen konnte, die Johannes hier erblickt. Die Aussage die niemand zählen konnte verbindet uns sofort mit Offb 7,4. Beide Male wird uns die Größe der Gemeinde Jesu eindrücklich vor Augen gestellt. Für damalige wie für heutige Leser liegt darin ein großer Trost: Gottes Volk ist immer größer als wir denken (vgl. 1Kön 19,10.14-18). ὄχλος [ochlos] findet sich außer in der Offb nur in den Evangelien und der Apg724: ein weiterer Beleg für die Zusammengehörigkeit von Offb und Evangelien. ὄχλος [ochlos] erscheint „meist“ mit der Jesusgeschichte der Evangelien verbunden (vgl. Joh 11,42; 12,9.17).725 „Eine besondere Bedeutung kommt dem Begriff ὄχλος im Joh719 Gegen K.H. Rengstorf, Art. δώδεκα, ThWNT, II, 1935, S. 324f; Morris a.a.O.; Caird S. 95; Behm S. 45. 720 So z.B. Charles I S. 189ff; Caird S. 95. 721 Vgl. C. Maurer im Art. φυλή, ThWNT, IX, 1973, S. 244f; Morris a.a.O.; Hartenstein S. 119f; Hirschberg S. 139.195. 722 Ebenso Caird S. 93; Brütsch S. 328. 723 Ebenso K.H. Rengstorf a.a.O. 724 So R. Meyer, Art. ὄχλος, ThWNT, V, 1954, S. 585 725 Meyer a.a.O. S. 586.
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Ev zu.“726 Hier im JohEv sind offenbar vor allem die kleinen Leute gemeint, die Jesus anhängen – oft gegen den Rat und den Willen der Oberen des jüdischen Volkes. Ein Zusammenhang mit dem [ ַעם ָהָאֶרץam haarez] („Volk des Landes“ im Sinne ungelehrter Leute, vgl. Apg 4,13) liegt vermutlich nahe.727 Es ist hochinteressant, dass dieser ὄχλος πολύς [ochlos polys] (eine große Menge) hier in der Offb wieder auftaucht, und zwar ausgerechnet als Bezeichnung der himmlischen Schar der Erlösten! Es ist, als wollte Johannes uns sagen: Seht, die verachteten und im Weltlauf oft beinahe pulverisierten Christen, da stehen sie als herrliche Erlöste! Sie kommen aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen. Das ist dieselbe Aufzählung wie in 5,9. Nur die Reihenfolge hat sich geändert. Nation (ἔθνος [ethnos]), Stamm (φυλή [phyle]), Volk (λαός [laos]) und Sprache (γλῶσσα [glossa]) sind oben bei 5,9 erklärt. Dort wurde auch schon auf das Danielbuch hingewiesen, aus dem diese Aufzählung vermutlich stammt (Dan 7,14 und 3,4.7). Auch in Offb 7,9 soll eine umfassende Gesamtheit zum Ausdruck gebracht werden. Es ist die Gemeinde, die als Frucht der weltweiten Mission entstanden ist.728 Insofern bildet Mt 24,14 eine enge Parallele. Die Parallelität Offb – Mt 24 setzt sich also fort. Immerhin bleibt bemerkenswert, dass die Ursprünge der einzelnen Christen in ihren jeweiligen Völkern, Staaten und Kulturbereichen nicht vergessen werden. Die alte Schöpfung wird in der neuen nicht einfach vergessen oder unkenntlich gemacht729, sondern in wertvollen, bleibenden Impulsen aufgenommen (vgl. Offb 14,13; 21,24-26; 1Kor 3,12ff). Was der Hymnus Offb 5,9 lobte, ist jetzt in Offb 7,9ff vollendete Wirklichkeit. Insofern kann man Offb 7,9ff als „proleptisch“ („voraussehend“) bezeichnen.730 Denn hier sehen wir die Gemeinde am Ziel. Vers 9 macht noch genauere Angaben. Die Menge der Erlösten stand vor dem Thron (= Gott dem Vater) und vor dem Lamm. Auch das Lamm = Jesus Christus befindet sich auf dem göttlichen Thron (5,6; 3,21; 7,17).731 Dass die Menge stand (ἐστῶτες [estotes]), erinnert an die jüdische Gebetshaltung im Tempel (Lk 18,11-13) und entspricht der Haltung der Engel in V. 11. Die Erlösten sind angetan mit weißen Gewändern und (halten) Palm726 Meyer a.a.O. S. 587. 727 Meyer a.a.O. S. 587ff. 728 Schon Ticonius interpretierte in diesem Sinne: „Nihil est enim, quod praeter ecclesiam describat“ (vgl. meine Offb S. 116f). 729 Ganz anders das römische Recht der damnatio memoriae! 730 Vgl. Brütsch S. 329.331; Aune S. 470. 731 Vgl. Morris S. 116.
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zweige in ihren Händen. Die weißen Gewänder (στολαὶ λευκαί [stolai leukai]) kennzeichnen sie als Überwinder im Sinne von Offb 3,4f.18, das heißt als Menschen, die in die reine, neue Schöpfung aufgenommen werden und das ewige Leben haben. Diese στολαὶ λευκαί [stolai leukai] verleihen ihnen außerdem dieselbe Würde wie den Märtyrern (vgl. 6,11).732 Die Märtyrer werden also im ewigen Leben nicht pauschal bessergestellt als die übrigen treuen Gläubigen. φοίνικες [phoinikes] sind hier die Palmzweige.733 Solche „Palmzweige“ gehören zum Laubhüttenfest mit der Feier der Erlösung aus Ägypten, aber auch der Feier der künftigen Erlösung (Lev 23,40ff). Sie sind außerdem Zeichen der Freude und des Sieges, so bei der Wiedereinweihung des Tempels in der Makkabäerzeit (2Makk 10,6ff).734 Die Palmzweige von Offb 7,9 sind also würdige Symbole – nicht Zweige aus irdischen Stoffen! – der Feier, der Freude und des göttlichen Sieges735 bei der Vollendung der Erlösung.736 Man vgl. die Palmzweige beim Einzug Jesu in Jerusalem Joh 12,13. Bengel fiel es auf, dass 7,9ff ebenso wie 7,1ff keine ausdrückliche Einordnung in ein Siegel-Gesicht erfahren.737 Er hielt es für möglich, dass Kap. 7 in das sechste Siegel eingeschlossen sei.738 Das ist ein Beweis für Bengels inklusives Denken. Aber offensichtlich unterbricht Johannes den Fluss aller Gesichte durch Pausen. Wichtig ist, dass Offb 7,9 die Erfüllung sowohl von Dan 7,14 als auch von Gen 12,3; 15,5 und von Mt 26,28 parr darstellt.739 Und sie rufen mit lauter Stimme und sagen (V. 10): Offb 7,10 erinnert stark an die Tempelweihe in 2Makk 10,7: „Sie trugen … Palmwedel und priesen mit Lobgesängen den, der es gefügt hatte, dass seine heilige Stätte wieder gereinigt wurde.“ Speziell erinnert die laute Stimme außerdem an den Lobgesang der Engel in 5,12 und an die Märtyrer in 6,10. Es ist ein triumphierender Siegesruf, der hier erschallt: Das Heil gehört unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm! Grundmann nennt ihn einen „Jubelruf“.740 Alles, was die Erlösten zu sagen haben, konzentriert sich in dem Begriff des Heils (σωτηρία [soteria]). Auch an dieser Stelle wird deut732 Vgl. Morris S. 116. Caird S. 100 sieht auch in Offb 7,9ff nur Märtyrer, ebenso Behm S. 46. 733 Bauer-Aland Sp. 1723. 734 Vgl. 1Makk 13,51. 735 Caird S. 99 nennt Offb 7,9ff „The Song of Victory“; vgl. Aune S. 468. 736 Behm S. 46. 737 Vgl. Bengel S. 396. 738 A.a.O. 739 Vgl. Aune S. 366. 740 W. Grundmann, Art. κράζω usw., ThWNT, III, 1938, S. 903.
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lich, dass der soteriologische Hauptbegriff des NT weder die Rechtfertigung noch die Heiligung ist, sondern das „Heil“ (σωτηρία [soteria], σῴζειν [sozein]). Ihm liegt vor allem die hebräische Wurzel [ ישׁעjascha] zugrunde, von der auch der Name „Jesus“ ([ ֵישׁוַּעjeschua]) abgeleitet ist.741 Das Heil gehört unserem Gott … und dem Lamm bedeutet: Gott, der Vater, und das Lamm = Gottes Sohn, Jesus Christus, haben unser Heil zustande gebracht, ihnen verdanken wir es ganz und gar (vgl. Ps 3,9). Offb 7,10 ist das Ende jedes Selbstruhms. Dabei umfasst „Heil“ die gesamte endzeitliche Erlösung im Sinne dessen, was in Offb 21–22 beschrieben ist.742 Mit Werner Foerster kann man festhalten, dass σωτηρία [soteria] den „Klang des Sieges“ hat und Offb 7,10 „in hymnenartigem Stil“ Gott mit dem Lamme preist.743 In diesen Lobpreis fallen nach Offb 7,11 die Engel ein. Der Vers nennt ausdrücklich alle Engel (πάντες οἱ ἄγγελοι [pantes hoi anggeloi]). Dies ist das einzige Mal, dass in der Offb von „allen Engeln“ gesprochen wird. Offenbar ist die gerettete und erlöste Gemeinde für die gesamte Engelwelt das Wunder aller Wunder (vgl. 1Petr 1,12). Am Anfang der himmlischen Liturgie standen sie, und zwar rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen. Zum Thron Gottes vgl. die Erklärung bei 4,2f, zu den Ältesten die Erklärung bei 4,4 und zu den vier Wesen die Erklärung bei 4,6. Die strenge Reihenfolge lautet Thron – vier Wesen – 24 Älteste. Wie in 5,11 bilden also die Engel einen vierten Kreis, weiter vom Thron entfernt als die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten. Nun fielen sie nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an744 (vgl. Offb 11,16). Wenn sie Gott anbeteten, dann ist das Lamm nach V. 10 eingeschlossen. Denn es handelt sich um den dreieinigen Gott, wie er sich den Menschen offenbart hat. Wie Bengel beobachtete,745 fallen nach der Offb die Engel nur ein einziges Mal auf ihr Angesicht nieder, und das ist hier in Offb 7,11. Bengel schrieb dazu: „Das himmlische Ceremoniel hat seine gewisse Ordnung und Masse.“746 Vers 12 hält fest, was die anbetenden Engel sagten: Amen steht am Beginn ihrer Doxologie. Amen beendet sie auch. Das doppelte Amen, mit dem Jesus viele seiner Worte begann, rahmt also diese Doxologie. Das doppelte Amen ist 741 Vgl. G. Fohrer im Art. σῴζω, ThWNT, VII, 1964, S. 970ff. 742 Vgl. W. Foerster a.a.O. S. 989ff, dem wir jedoch nicht in allen Einzelheiten folgen. 743 A.a.O. S. 999. Überzogen ist es, wenn Caird S. 100 σωτηρία [soteria] mit „victory“ übersetzen will. Dasselbe gilt gegenüber Aune S. 426ff. Vgl. Bauer-Aland Sp. 1597f. 744 Aune S. 471 erweitert dies auf die Ältesten und die vier Wesen. 745 Bengel S. 400. 746 A.a.O.
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gerade für das JohEv charakteristisch – ein weiterer Beleg für die Zusammengehörigkeit beider (vgl. Joh 1,51; 3,3.5.11; 5,11 usw.). Dieses ἀμήν [amen] ([ ָאֶמןamen]) heißt: „Es steht fest und es gilt.“747 Was die Engel sagen, bleibt also für ewig wahr748 und gilt für die gesamte Schöpfung. „Amen“ ist beliebt in der Offb (1,7; 5,14; 7,12; 19,4; 22,20 und 3,14) und sogar zu einem Namen Jesu geworden (3,14). Siebenfach wird ausgesprochen, was unserem Gott (dem dreieinigen!) gebührt. Erneut stoßen wir also auf die Siebenzahl. Es sind: „das Lob“ (wie in 5,13 steht der Artikel vor εὐλογία [eulogia]) – der Preis (ἡ δόξα [he doxa]) – die Weisheit (ἡ σοφία [he sophia]) – der Dank (ἡ εὐχαριστία [he eucharistia]) – die Ehre (ἡ τιμή [he time]) – die Kraft (ἡ δύναμις [he dynamis]) – die Stärke (ἡ ἰσχύς [he ischys]). Auch in 5,12 fanden wir eine siebengliedrige Doxologie. Dort wurden die Begriffe Lob, Preis, Weisheit, Ehre, Kraft und Stärke schon erklärt. Gegenüber 5,12, dem Lobpreis des Lammes, hat 7,12 nur einen einzigen neuen Begriff, nämlich Dank (εὐχαριστία [eucharistia]). Aber dieser Begriff tauchte schon in 4,9 auf und ist dort erklärt. Unsere Doxologie erinnert einerseits an das Gotteslob in Ps 96 und andererseits an den siebenfachen Gottesgeist, der nach Jes 11,2 auf dem Messias = dem Sohne Gottes liegt. So wird in Offb 7,12 tatsächlich der dreieinige Gott gepriesen.749 Nach 4,8; 4,11; 5,9f; 5,12; 5,13 und 7,10 ist Offb 7,12 schon die siebte Doxologie der Offb. Übrigens entspricht der Amen-Schluss in Offb 7,12 demjenigen in Offb 5,14. Was die Engel in 7,12 sagen, ist a) eine Bekräftigung des Jubelrufs der Erlösten in 7,10750, und b) ein noch umfassenderer Lobpreis Gottes.751 Aus der feierlichen himmlischen Liturgie, die die Verse 9-12 beherrscht hat, treten wir mit V. 13 jetzt heraus. Einer von den Ältesten, ein Zeuge der Vorgänge in V. 9-12, beginnt an Johannes Fragen zu richten (V. 13). Niemals nennt Johannes einen Ältesten mit Namen. Und auch bei den Engeln ist er damit äußerst vorsichtig (vgl. jedoch Offb 12,7 und 12,9). Es kommt in der Offb aber zweimal vor, dass einer von den 24 Ältesten das Wort ergreift und sich an Johannes wendet (5,5; 7,13). Καὶ ἀπεκρίθη [Kai apekrite] heißt nicht: „Und er antwortete“, als 747 So H. Schlier, Art. ἀμήν, ThWNT, I, 1933, S. 339. 748 Vgl. das „von Ewigkeit zu Ewigkeit“. 749 Lohmeyer 3 S. 71, sieht ab Offb 7,12 nur mehr Gotteslieder, keine „Christuslieder“. Diese Alternative und diese Meinung sind falsch, wie wir oben gezeigt haben. 750 Morris S. 117; Behm S. 46. 751 Richtig Bengel S. 400. Aune begrenzt das Amen auf „a response to the song of victory in v 10“ (S. 471).
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hätte Johannes zuvor mit ihm sprechen wollen. Vielmehr heißt es: „Und er hob an“ oder Und er fing an.752 Es ist also der Älteste, der das Gespräch eröffnet. Zwei Fragen sind es, die er an Johannes richtet. Die erste lautet: Wer sind diese, die da mit den weißen Gewändern angetan sind? Die zweite lautet: Woher sind sie gekommen? Beide Fragen wollen bestimmte Sachverhalte unauslöschlich einprägen, und zwar sowohl dem Johannes als auch sämtlichen Lesern seines Buches. τίνες [tines] (Wer? Welche?) will klären, wer zu der herrlichen unzählbaren Schar von V. 9 gehört. πόθεν [pothen] (Woher?) will klären, welche Umstände bei den Erlösten dazu geführt haben, dass sie jetzt in himmlischer Herrlichkeit vor Gottes Thron stehen. Nicht, als ob der Älteste das nicht wüsste! Aber er will, dass Johannes und die christliche Gemeinde darüber gründlich nachdenken und es erfassen. Die Erlösten von V. 9 kennzeichnet er mit einer einzigen Bemerkung: Es sind die, die mit den weißen Gewändern angetan sind.753 Diese Wendung wurde oben bei V. 9 erklärt. Hier steht jetzt in V. 13 allerdings der Artikel, der wohl darauf aufmerksam macht, dass Johannes die Betreffenden ja sieht. Halten wir noch einmal fest, dass στολή [stole] das lang wallende Obergewand bezeichnet,754 λευκός [leukos], weiß, „die Gabe des ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit dem“ dreieinigen Gott als „Ausdruck der himmlischen“ Herrlichkeit.755 Diese weißen Gewänder sind ja die Kleider des Heils (Jes 61,3.10), die Gott uns aufgrund unseres Glaubens an Jesus schenkt. Und ich sprach zu ihm (V. 14): Das ist eine großartige Antwort auf die beiden Fragen des Ältesten.756 εἰρηκα [eireka] entspricht hier einem Aorist.757 Mein Herr, du weißt es (κύριέ μου, σὺ οἶδας [kyrie mu, sy oidas]). Ebenso antwortete Hesekiel seinem Gott (Ez 37,3). κύριος [kyrios] Herr, entspricht hier hebr. [ ָאדוֹןadon] und kann auch bei menschlichen Vorgesetzten angewandt werden.758 In der Zeit Jesu dient κύριος [kyrios] auch als Äquivalent für [ רבוןrabun], [ רבrab] und [ ָמֵראmare].759 In Offb 7,14 ist es, wie Werner Foerster feststellt,760 „Anrede an Engel“, konkret also an den Ältesten.
752 F. Büchsel im Art. κρίνω usw., ThWNT, III, 1938, S. 947; Blass-Debrunner § 420. Aune S. 471: „a Semitism“. 753 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 159,1. 754 U. Wilckens, Art. στολή, ThWNT, VII, 1964, S. 687. 755 W. Michaelis, Art. λευκός usw., ThWNT, IV, 1942, S. 255f. 756 Bengel S. 403: „Johannes gestund seine Unwissenheit offenherzig“. 757 Blass-Debrunner § 343,2. 758 G. Quell im Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, S. 1056; W. Foerster a.a.O. S. 1083. 759 Foerster a.a.O. S. 1085. 760 A.a.O.
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Du weißt es (σὺ οἶδας [sy oidas]) enthält mehrere Aussagen: 1) Weil du (σύ [sy]) betont ist, legt Johannes Wert darauf, dass der Älteste die richtige Antwort und Interpretation hat, nicht aber er als Apostel und Prophet, 2) Johannes ordnet sich demütig den himmlischen Wesen und Autoritäten unter, 3) er erklärt, wie Paulus 1Kor 13,9, unser menschliches Wissen für defizitär. Alle drei Aussagen sind im heutigen menschenzentrierten Europa suspekt. Die Antwort des Johannes öffnet jedoch die Tür zur Auskunft des Ältesten: Diese sindʼs, die aus der großen Trübsal (ἐκ τῆς θλίψεως τῆς μεγάλης [ek tes thlipseos tes megales]) kommen … Das Präsens die kommen761 (οἱ ἐρχόμενοι [hoi erchomenoi]) und die später folgenden Aoriste ἔπλυναν [eplynan] und ἐλεύκαναν [eleukanan] stehen sich deutlich profiliert gegenüber.762 Es ist, als würden die Erlösten fortwährend kommen.763 Diese Beobachtung warnt uns davor, die Erlösten von 7,9ff zu schnell auf eine bestimmte Generation oder Gruppe einzuschränken. Der Artikel vor der θλῖψις [thlipsis] (Trübsal) deutet dagegen auf eine bestimmte und dem Johannes wohlbekannte Epoche. Es ist die θλῖψις μεγάλη [thlipsis megale] (große Trübsal) von Mt 24,21, die ihrerseits wieder an Dan 12,1 anknüpft. Erneut drängt sich uns die Parallelität der Offb mit Mt 24 auf. Die „große Trübsal“ erreicht ihren Gipfel in den Bedrängnissen der Antichrist-Zeit (vgl. Kap. 13). Aber nun ist es wichtig, zu sehen, dass die „große Trübsal“ „schon in der Gegenwart des Verfassers begonnen hat“764 (vgl. Offb 1,9). Sie ist ein Prozess, der „schon eröffnet ist“,765 wie es Heinrich Schlier herausgearbeitet hat. Jener Prozess gelangt dann beim Antichristus zu seiner Ausreifung und seinem Höhepunkt. Wir nehmen deshalb an, dass in Offb 7,9ff nicht nur die Erlösten aus der Zeit des Antichrist zu sehen sind, sondern alle, die um Christi willen „durch viele Trübsale in das Reich Gottes“ eingegangen sind (Apg 14,22). Damit hat der Älteste schon eine erste Antwort auf die Frage Woher sind sie gekommen? (V. 13) gegeben. Sie alle, die hier als Erlöste stehen, mussten durch Trübsal gehen. Ohne Leiden gibt es keine Herrlichkeit. Aber nun folgt eine zweite Antwort: und die ihre Gewänder gewaschen und weiß gemacht haben im Blut des Lammes.766 Das Bild ist kühn, aber unerhört aussagekräftig. Das rote Blut des Christus, der sich selbst für uns Lutherbibel fälschlich „die gekommen sind“. Von Aune S. 473 eingeebnet. Vgl. Bengel S. 404. H. Schlier, Art. θλίβω usw., ThWNT, III, 1938, S. 145. Schlier a.a.O. S. 146. Ebenso Caird S. 102: „a prolonged process“; Morris S. 117. Schon Bengel S. 404. 766 Die Aoriste enthalten eine Lebensentscheidung. Vgl. Morris S. 117.
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opferte, schafft das Weiß der himmlischen Herrlichkeit der Erlösten. In dieser Aussage steckt eine unaufhebbare Exklusivität: Nur das Blut des Lammes hat diese rettende Kraft. Jesus selbst und die Apostel haben dies immer wieder betont (vgl. Mt 20,28; 26,28 und die ganze Abendmahlstradition; Röm 3,24f; Eph 1,7; 1Petr 1,18f; 1Joh 1,7–2,2). Das „Blut des Lammes“ ist es, das unsere Sünden tilgt. Die Begriffe waschen und weiß machen (πλύνω [plyno], λευκαίνω [leukaino]) bedeuten in unserem Zusammenhang das Befreien vom Schmutz der Sünde. Sie gehen auf alte biblische Traditionen zurück ( vgl. Ex 19,10.14; 2Kön 5,10; Hiob 9,30; Ps 51,4.9; Jes 1,16-18; 4,4; Jer 2,22). Vielleicht besteht eine besonders enge Beziehung zwischen Offb 7,14 und Jes 1,18, in der Wortwahl auch zu Gen 49,11. Doch erhebt sich gerade an dieser Stelle ein theologisches Problem. In Offb 7,14 hat es den Anschein, als würden sich die Erlösten selbst von ihrer Sünde befreien: Sie haben offenbar ihre Gewänder selbst weiß gemacht, sie haben selbst ihre Gewänder gewaschen. Wie verträgt sich das damit, dass es Gott ist, der uns die „Kleider des Heils“ schenkt (Jes 61,10), dass Gott uns nach dem vierten Bußpsalm (Ps 51,4.9) und nach Ez 36,25 waschen muss, und dass wir alles Heil ohne Verdienst und Würdigkeit empfangen (Röm 3,24)?767 Die Lösung dieses Problems liegt darin, dass der Mensch das Angebot des Heils annehmen muss. Das Heil wirkt nicht automatisch, sondern „allein durch den Glauben“ (Röm 3,28; Joh 6,29 und 3,16). Der Mensch wird nicht gezwungen und in diesem Sinne auch nicht prädestiniert, sondern eingeladen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20). Wer nun das Heil annimmt, der hat sein Gewand gewaschen und weiß gemacht im Blut des Lammes. Kurz gesagt: Er ist im Glauben ein Nachfolger Jesu geworden.768 Die zweite Antwort des Ältesten in Offb 7,14 beantwortet also die Frage: Wer sind diese (τίνες εὶσίν [tines eisin])? (V. 13). Es sind diejenigen (οὗτοι [hutoi] V. 13), die Jesus im Glauben nachfolgten, die treu blieben auch in der Trübsal (vgl. 12,11). Was daraus folgt, sagen die Verse 15-17: Deshalb sind sie vor dem Thron Gottes (V. 15). Nur Jesus kann diesen Zugang zu Gott vermitteln (vgl. Eph 3,12; Hebr 4,16; 10,19; 1Joh 3,21). Der Thron Gottes ist zugleich der Thron des Lammes (Offb 3,21; 22,13). Und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel: Tag und Nacht bedeutet „auf ewig“. Von diesem ewigen Dienst der Erlösten spricht auch Offb 22,3. λατρεύω [latreuo], dienen (hebr. [ עבדavad]), hat nicht nur den „Sinn von Anbe767 Mit dieser Frage ringt die Auslegung, vgl. Michaelis a.a.O. S. 256; Brütsch S. 337; Caird S. 101f. 768 Ähnlich Schlatter S. 207; Zahn S. 378.
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tung“,769 sondern drückt auch aus, dass man mit der ganzen Existenz Gott zur Verfügung steht. Doch was ist mit dem Tempel gemeint? Unzweifelhaft setzen Offb 3,12; 11,19; 14,15.17; 15,5f.8; 16,1.17 einen solchen „Tempel“ im Himmel voraus, während die neue Schöpfung keinen solchen Tempel mehr kennt (21,11).770 Vom „Tempel“ kann jedoch in sehr verschiedener Weise geredet werden. Man vgl. Ps 11,4 oder 18,7 sowie die Rede Jesu über sich selbst in Joh 2,19ff oder die Bezeichnung „Tempel“ für die Gemeinde (1Kor 3,16f; Eph 2,21; 2Thess 2,4) oder einzelne Gläubige (1Kor 6,19). Apg 7,48 mahnt: „Der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“, und fügt dann aus Jes 66,1 an: „Der Himmel ist mein (= Gottes) Thron.“ Rechnet man die Bildhaftigkeit und die Symbolik der Sprache der Offb dazu, dann wird man im Blick auf allzu wörtliche, der irdischen Welt verhaftete Vorstellungen vorsichtig bleiben. Deshalb versteht man den „Tempel“ in Offb 7,15 am besten so, dass er einen Bereich besonderer Nähe zu Gott bezeichnet. In dieser Nähe dürfen die Erlösten Gott dienen.771 Und schließlich macht die Erwähnung des „Tempel“ klar, dass sie zu einem „priesterlichen Amt berufen“ sind (vgl. 3,12; 20,6).772 An diese Interpretation schließt sich ausgezeichnet die Fortsetzung in V. 15 an: und der, der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen (σκηνώσει ἐπ᾿ αὐτούς [skenosei ep’ autus]). Dass Gott am Ende bei seinen Erlösten wohnt, gehört zur alten eschatologischen Erwartung der Propheten (vgl. Ez 34,30; 37,27; 48,35). In Offb 21,3 finden wir die Erfüllung dieser Hoffnung. σκηνόω [skenoo], „wohnen“, darf nicht auf ein Wohnen im Zelt bezogen werden, sondern meint das dauerhafte Wohnen.773 Zahn übersetzte σκηνώσει [skenosei] mit „er wird sie wie ein Zelt bedecken“.774 Eine solche Übersetzung ist nicht unmöglich. Aber da der Gedanke an ein Zelt vermutlich ferne liegt, übersetzt man besser er wird über ihnen wohnen.775 Darin drückt sich die liebevolle Beziehung Gottes zu den Erlösten aus.776 Allerdings ist das σκηνώσει μετ᾿ αὐτῶν [skenosei met auton] in Offb 21,3 noch enger und umfassender. Was für wundervolle Perspektiven hat die Ver-
769 So H. Strathmann, Art. λατρεύω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 63 zu Offb 7,15. 770 Vgl. dazu O. Michel, Art. ναός, ThWNT, IV, 1942, S. 892ff. 771 Morris S. 118 ähnlich, er sieht jedoch „the whole of heaven“ als den Tempel. Ähnlich auch Schlatter S. 208: Der Tempel sei „der Ort, wo Gott regiert“. 772 Michel a.a.O. S. 893; Behm S. 47. 773 So W. Michaelis, Art. σκηνή usw., ThWNT, VII, 1964, S. 387.379. 774 Zahn S. 376.379. Ähnlich Vitringa S. 316. 775 So auch Bauer-Aland Sp. 1509. 776 Behm S. 47: „schützend über ihnen“; Bengel S. 405: „ein Schirm“; ähnlich Frey S. 91.
3. Die Gemeinde wird bewahrt, 7,1-17
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bindung mit Jesus und die Glaubensnachfolge! Diese Verse locken uns geradezu in die Nachfolge Jesu.777 V. 16 ist in großen Teilen ein Zitat aus der Heilszusage von Jes 49,10. Die LXX hat hier: οὐ πεινάσουσιν οὐδὲ διψήσουσιν οὐδὲ πατάξει αὐτοὺς καύσων οὐδὲ ὁ ἥλιος [u peinasusin ude dipsesusin ude pataxei autus kauson ude ho helios]. Man vgl. aber auch Ps 34,11 und Ez 34,13ff. Nicht mehr hungern und dürsten heißt erstens: Alle Lebensbedürfnisse sind gestillt, alle Not ist beendet.778 Sachlich sind wir hier in größter Nähe zum Johannesevangelium (vgl. Joh 4,10ff; 6,26ff).779 Wenn Offb 7,16 so ausführlich aus dem AT zitiert, kann das nur bedeuten: In Offb 7,16 ist erfüllt, was in Jes 49,10 prophezeit wurde. Zu beachten bleibt zweitens, dass hungern sehr oft ein Gericht darstellt.780 Man vgl. Lev 26,16ff; Jes 5,13; 8,21; Ez 4,16; 5,12. Nicht mehr hungern und dürsten bedeutet also auch: nicht mehr unter Gottes Gericht stehen. Die Bergpredigt zeigt uns dazu eine dritte Dimension (Mt 5,6): Wer nicht mehr nach Gottes Gerechtigkeit hungern und dürsten muss, der hat Gottes Gnade und Gott selbst gefunden.781 Wir sollten in Offb 7,16 alle drei Dimensionen mithören. Die Beschreibung der Seligkeit, die die wahren Gläubigen bei Gott finden, setzt sich in Offb 7,16 fort mit den Worten: und es wird auch weder die Sonne noch irgendeine Hitze auf sie fallen. Inhaltlich wird hier erneut an Jes 49,10 angeknüpft. Man kann diese Aussage nur verstehen, wenn man an die lebensbedrohende Hitze denkt, die die Sonne im Israelland und im Orient entfalten kann (vgl. Jak 1,11 und Ps 121,6; Mt 13,6). Es ist also die Sonnenglut, die auf die Betreffenden fällt.782 Ähnlich bedeutet καῦμα [kauma], Hitze, die verderbliche Sonnenhitze (vgl. 16,9).783 Erneut ist zu bedenken, dass eine solche Hitze seit Lev 26,9 zugleich ein göttliches Strafgericht darstellt. Wieder ergibt sich: Die Erlösten sind aller Not, allen Verderbensmächten und auch dem göttlichen Gericht entnommen. Eine geistliche Deutung von Sonne und Hitze auf die Mächtigen und Weltherrscher, auf die Verfolger der Ge-
777 Vitringa a.a.O. und andere erinnern an die „Schechina“, Gottes Gegenwart in der Stiftshütte. Ein solcher Bezug ist durchaus möglich. 778 Vgl. dazu L. Goppelt, Art. πεινάω, ThWNT, VI, 1959, S. 12ff. 779 Ebenso Goppelt a.a.O. S. 22. 780 Goppelt a.a.O. S. 15. 781 Vgl. Goppelt a.a.O. S. 17; Hartenstein S. 121; Grünzweig S. 220. 782 Vgl. Bauer-Aland Sp. 700. 783 Vgl. Joh. Schneider, Art. καῦμα usw., ThWNT, III, 1938, S. 643.
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Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
meinde, wie wir sie z.B. bei Vitringa finden,784 bleibt nach wie vor statthaft.785 Die Verheißungen von V. 15-17 kulminieren im letzten Vers, V. 17. Auch hier regiert das Futur: ποιμανεῖ [poimanei] – ὁδηγήσει [hodegesei] – ἐξαλείψει [exaleipsei]. Eine Überraschung, die der routinierte Leser kaum mehr registriert, liegt in der Zentralstellung des Lammes: Denn das Lamm (τὸ ἀρνίον [to arnion]) in der Mitte des Thrones wird sie weiden und sie leiten zu den Quellen lebendigen Wassers. Nach Ez 34,11 („Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen“) hätte es Johannes leicht gehabt, zu schreiben: „Denn Gott selbst wird sie weiden …“. Aber er schreibt anders: Das Lamm wird sie weiden … So sagte es der Älteste (V. 13), so hat er es treu festgehalten. Das Lamm wird auch hier wie insgesamt neunundzwanzigmal in der Offb τὸ ἀρνίον [to arnion] genannt.786 Es erhält seine nähere Kennzeichnung durch die Worte τὸ ἀνὰ μέσον τοῦ θρόνου [to ana meson tu thronu] (in der Mitte des Thrones). Dieselbe Beschreibung fanden wir in 5,6. Wir mussten diese Worte so interpretieren, dass das Lamm sich auf dem göttlichen Thron befindet, ihn mit dem Vater teilt (vgl. Offb 3,21; 22,1.3).787 Der Älteste legt also Wert auf die göttliche Würde des Lammes. Es wird sie (= die Erlösten) weiden (ποιμανεῖ αὐτούς [poimanei autus]): Das heißt, ihr guter Hirte sein. Als diesen guten Hirten hat sich Jesus in Joh 10 vorgestellt. Auch hier wird die enge Beziehung zwischen der Offb und dem Johannesevangelium sichtbar. Als der gute Hirte erfüllt Jesus sowohl Ps 23,1 als auch Ez 34,11ff; 34,23; Sach 13,7 (vgl. Mt 26,31) und andere Prophezeiungen des AT (vgl. Jes 40,11; Jer 3,15; 31,10). Gerade die Offb legt besonderen Wert auf diese Hirten-Stellung Jesu (vgl. 2,27f; 7,17; 12,5; 19,15, aber auch Hebr 13,20 und 1Petr 2,25; 5,4).788 Aus der weiten Tätigkeit des Hirten erwähnt Offb 7,17 eine Dimension besonders: Er wird sie leiten (ὁδηγήσει [hodegesei]) zu den Quellen lebendigen Wassers (ἐπὶ ζωῆς πηγὰς ὑδάτων [epi zoes pegas hydaton]). Im trockenen, heißen Weideland der Steppe war das Auffinden von Wasserquellen eine besondere wichtige Aufgabe des Hirten, oft mit Kampf und Auseinandersetzung verbunden (vgl. Gen 21,25ff; 26,15ff; Ex 2,16ff; Num 21,18; Ps 23,2f; Jes 49,10). Es gehört Macht, Kenntnis und Kompetenz dazu, die Herde zu den Quellen lebendigen Wassers zu leiten. Dies alles hat der gute Hirte Jesus Christus. ὁδηγήσει [hodegesei] entspricht dem ὡδήγησεν [hode784 785 786 787 788
Vitringa S. 316: „Imperatores et Principes Mundi“. Vgl. P. Müller S. 28: Hartenstein S. 121; Grünzweig S. 220; 1Petr 4,12! Vgl. wieder J. Jeremias, Art. ἀμνός usw., ThWNT, I, 1933, S. 344f. So auch Jeremias a.a.O. S. 345. Vgl. J. Jeremias, Art. ποιμήν usw., ThWNT, VI, 1959, S. 484ff.
3. Die Gemeinde wird bewahrt, 7,1-17
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gesen] von Ps 23(22),3 LXX und dem ἄξει [axei] von Jes 49,10 LXX. ὁδηγέω [hodegeo], leiten, gebraucht man auch für das Führen der Blinden (vgl. Mt 15,14; Lk 6,39).789 Wenn uns Jesus Christus „leitet“, bedeutet das, dass wir ohne seine Leitung blind wären und das lebensrettende Wasser nicht finden könnten. Die Quellen lebendigen Wassers oder „Quellen des Wassers des Lebens“790 (vgl. Jer 2,13 LXX) sind ein Symbol für das umfassende Heil, für das ewige Leben in seiner ganzen Fülle.791 Nicht genug damit: Der Älteste fügt noch ein Wort aus Jes 25,8 an,792 um die Größe der Seligkeit der Erlösten auszudrücken. Allerdings differiert der Wortlaut in Offb 7,17 sowohl von Jes 25,8 MΤ als auch von Jes 25,8 LXX, ohne dass dadurch gravierende Unterschiede entstünden: Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. In Offb 21,4 wird dies wörtlich wiederholt. ἐξαλείφω [exaleipho] beschreibt eine zugleich machtvolle und innige Handlung. Denn das Abwischen der Tränen von ihren Augen ist zunächst eine liebevolle und innige Tat der Eltern an ihren Kindern.793 Zweitens aber bedeutet das griechische ἐξαλείφω [exaleipho] zugleich „beseitigen“ und „ausstreichen“ (vgl. Offb 3,5) bis hin zu „vernichten“ und „vertilgen“ (vgl. Kol 2,14). Gott vernichtet am Ende alle Tränen! Hier erfüllt sich, was in Ps 39,13; 56,9; 116,8; 126,5; Jes 25,8; 60,20; Jer 31,16 ersehnt und verheißen war.794 Am Schluss von 7,9-17 stellt sich noch einmal die Frage: Was ist das für eine große Menge? Sind es die Märtyrer, wie es besonders Caird795 vertritt? Mit Hirschberg796 halten wir eine Einschränkung auf die Märtyrer nicht für möglich. Einer solchen Einschränkung widerspricht a) die unzählbar große Menge, b) der alttestamentliche Hintergrund in Dan 7,14 und anderswo, der ebenfalls keine Märtyrerschar nahelegt, und schließlich c) der Umstand, dass der Text nicht von Märtyrern redet. 789 Vgl. W. Michaelis, Art. ὁδός usw., ThWNT, V, 1954, S. 104. 790 Zur Übersetzung vgl. W. Michaelis, Art. πηγή, ThWNT, VI, 1959, S. 117; Blass-Debrunner § 168,1. 791 Die „Quellen“deutet man gern auf Gott, so z.B. Grünzweig S. 221; Pohl I S. 226. Umfassend jedoch wie wir z.B. Hartenstein S. 121; schon Augustin DCD XX, 17. Auch Morris S. 119; Michaelis a.a.O.; Schlatter S. 208; L. Goppelt, Art. ὕδωρ, ThWNT, VIII, 1969, S. 325. 792 Vgl. Hemer S. 230; Zahn S. 379; Schlatter BFchTh S. 58. 793 Pohl I S. 226 verweist auf Jes 66,13. Vgl. Grünzweig a.a.O. 794 Ticonius deutete in Offb 7,17 das Abwischen der Tränen „spiritaliter“ auf die Vergebung der Sünden (Maier Offb S. 119). 795 Caird S. 100ff. Aber auch Behm S. 46f; Aune S. 480. 796 Siehe seine gründliche Studie von 1999 passim. Vgl. ferner Morris S. 118; Brütsch S. 339; Hartenstein S. 120ff.
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Warum in 7,4ff und in 7,9ff dieselbe Kirche Jesu Christi gemeint ist, einmal vor der Trübsal (7,4ff) und einmal nach der Trübsal (7,9ff), haben wir schon oben bei 7,4ff begründet. Es sind unseres Erachtens also jedes Mal sowohl Juden- als auch Heidenchristen gemeint. Eine Entrückung vor der Trübsal anzunehmen empfiehlt sich wegen 7,14 (sie kommen aus der großen Trübsal) nicht.797 Die Frage nach dem Zeitpunkt der Ereignisse von Offb 7,9ff hat besonders Zahn beschäftigt. Im Blick auf die Seligkeit von Offb 7,14-17 schrieb er: „Der Einzelne erlebt dies in dem Augenblick, in dem er seinen Geist in die Hände Gottes und Christi dahingibt“,798 das heißt im Augenblick des Sterbens. Zahns Ansicht steht aber in einem Gegensatz zu Offb 6,9ff. Denn wenn sogar die Märtyrer noch warten müssen, warum sollen dann die anderen verstorbenen Gläubigen sofort nach ihrem Sterben zur palmentragenden, lobpreisenden Schar erhoben werden? Besser ist es, wie oben vorgeschlagen, Offb 7,9-17 auf die Seligkeit des ewigen Lebens, also auf die neue Schöpfung, zu deuten. Offb 7,9ff ist also tatsächlich proleptisch zu verstehen.799
IV Zusammenfassung 1. Offb 7 ist in der Tat eines der kräftigsten Trostkapitel der Johannesoffenbarung, „bis zum Rande gefüllt … mit Trost und Friede“.800 Zugleich aber liegt hier ein Zurüstungs-Kapitel vor. Denn – wie Schlatter schreibt – die Offb hat auch den Zweck, dass „die Kirche jede Ungeduld bezwinge und sich gegen den Leidensweg nicht auflehne, sondern sich mit Entschlossenheit dazu bereit mache.“801 2. Das Eingangsbild vom Diptychon hat sich bewahrheitet. Es ist nämlich beide Male, in 7,1-8 wie in 7,9-17, dasselbe Gottesvolk, das wir erblicken. Es ist die gesamte, wahre Gemeinde Jesu Christi aus Israel und aus den Völkern. Es ist aber diejenige Gemeinde, die sich aus Israel herausentwickelt hat (Joh 4,22) und die deshalb für immer auch unter dem Bild der 12 Stämme dargestellt werden kann. Man sollte besser nicht von einer „übertragenen Bedeutung“ des Israel-Namens sprechen802, sondern besser von einer „inklusiven Bedeutung“. Denn Israel bleibt der historische und für alle Zeiten grundlegende Ausgangspunkt der Kirche. 797 798 799 800 801 802
Ebenso Brütsch S. 336; Zahn S. 379; Hartenstein S. 121. S. 377. So auch Bengel S. 406; P. Müller S. 28. Hartenstein S. 120. Schlatter S. 198. Gegen Maurer a.a.O. S. 245.
4. Das siebte Siegel, 8,1-5
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3. Es sind aber zwei verschiedene Situationen, die wir in Offb 7 antreffen. Denn in 7,1-8 geht es um die Versiegelung des Gottesvolkes vor allen Proben, Nöten und Verfolgungen, in 7,9-17 aber um das Ziel, das die bewahrte Gemeinde nach allen Nöten und Verfolgungen erreicht hat. 4. Der Kerngedanke ist der der Bewahrung.803 Versiegeln hat hier hauptsächlich den Sinn von Bewahrung. Weil die Gemeinde von Gott bewahrt wird, kommt sie ans Ziel. „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28): Dieses Wort Jesu wird durch Offb 7 in die apokalyptische Sprache übersetzt. Zugleich erfüllt sich hier Mt 24,22. 5. Das Studium von Offb 7 hat gezeigt, dass es weder in Offb 7, 1-8 noch in Offb 7,9-17 nur um die Märtyrer gehen kann. Im Gegenteil: Wir werden hier vor das Bild einer unzählbar großen Schar, eines aus der ganzen Menschheit stammenden Gottesvolkes gestellt, das nur die Kirche im Ganzen bedeuten kann. 6. Auch hier erfüllen sich zahlreiche Prophetien des Alten Testaments. Prophetien aus Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Daniel und den Psalmen stehen dabei im Vordergrund. Vor allem ist das, was die Erlösten nach 7,14-17 erleben werden, überwiegend in Zitat-Form aus der alttestamentlichen Prophetie geschildert. Man wird hier erinnert an das alte Lied (EG 12,2): „Was der alten Väter Schar / höchster Wunsch und Sehnen war / und was sie geprophezeit / ist erfüllt in Herrlichkeit.“ Die Symbolik der Bilder darf uns dabei nicht davon abhalten, die Realität wahrzunehmen, die sie ausdrücken. 7. Aus dem Gesagten ergibt sich schließlich, dass die Aussage von Offb 7,9-17 proleptisch (vorausnehmend) ist. Sie unterbricht den Fluss der Ereignisse in Kap. 6–9, um uns durch den Blick aufs Ziel gewiss zu machen. Man darf jedoch nicht den Fehler begehen, mithilfe von Offb 7 dann Offb 21–22 korrigieren zu wollen oder umgekehrt. Vielmehr ist das, was in Offb 7,9ff steht, dem Johannes jetzt gesagt, ohne dem Späteren vorzugreifen.
4. Das siebte Siegel, 8,1-5 I Übersetzung 1 Und als es das siebte Siegel öffnete, trat eine Stille im Himmel ein, etwa eine halbe Stunde lang. 2 Und ich sah die sieben Engel, die vor Gott stehen, und es wurden ihnen sieben Posaunen gegeben. 3 Und ein anderer
803 Vgl. Hartensteins Überschrift „Die Bewahrung der Gemeinde“ S. 115.
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Engel kam und trat an den Altar,804 wobei er eine goldene Räucherpfanne hatte, und es wurde ihm viel Räucherwerk gegeben, damit er es für die Gebete aller Heiligen auf dem goldenen Altar vor dem Thron darbringe. 4 Und der Rauch des Räucherwerks stieg für die Gebete der Heiligen aus der Hand des Engels hinauf vor Gott. 5 Und der Engel nahm die Räucherpfanne und füllte sie aus dem Feuer des Altars und warf es auf die Erde, und es geschahen Donner und Stimmen und Blitze und ein Erdbeben.
II Struktur In Offb 6,12ff war die Öffnung des sechsten Siegels berichtet. Darauf folgte die Doppelvision von Kap. 7, die den Gang der Handlung unterbrach. Jetzt endlich erfolgt in 8,1-5 die Öffnung des siebten und letzten Siegels. Der Einschnitt zwischen 7,17 und 8,1 ist relativ klar. Doch wie steht es mit dem Verhältnis von Offb 8,1 zu den folgenden Versen? Wir beobachten, dass ab 8,6 das Stichwort „Posaune“ anstelle der bisherigen „Siegel“ dominiert. Diese sog. „Posaunen-Gerichte“ reichen jedenfalls bis 11,19. Das ist der Grund, weshalb Ausleger wie Leon Morris Offb 8,6–11,19 unter der Überschrift „The Seven Trumpets“ o.ä. zusammenfassen.805 Andere erblicken die Dominanz des „Posaunen“-Themas schon ab 8,2 und sehen deshalb 8,2-11,19 als geschlossenen Abschnitt an, z.B. unter der Überschrift „Die sieben Posaunen“.806 Dabei gibt es allerdings differierende Einteilungen.807 Wieder andere gliedern einfach nach den Kapiteln der Offb.808 Diese Unsicherheit hat sachliche Gründe. Denn die Eigenart der Offb liegt auch darin, dass die AussageGruppen auseinander hervorgehen und sich nicht einfach ablösen.809 So folgen die sieben Posaunen aus den sieben Siegeln (8,1f), und die Gesichte der Kapitel 12–15 (genauer: 12,1–14,20) aus den sieben Posaunen. Es ist, als würden Gott und das Lamm einen einzigen „roten Faden“ durch diese Gesichte spannen.
804 Anders übersetzt Schlatter S. 209: „stellte sich auf den Altar“. Dagegen mit Recht Zahn S. 383. 805 Morris S. 43. 806 So Bengel S. 48; Zahn S. 383. 807 So z.B. Hartenstein S. 122 (8,1–9,21); Aune S. 480 (8,1–11,14 als „The Seventh Seal and the First Six Trumpets“). 808 So z.B. Brütsch; Schlatter. 809 Anders Brütsch S. 345. Wie wir Bengel S. 409.
4. Das siebte Siegel, 8,1-5
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Um diesem „Ineinander“ Ausdruck zu verleihen, lassen wir wie Caird810 die Verse 1-5 in Offb 8 beieinander und stellen sie unter die Überschrift „Das siebte Siegel“. Für die Struktur ist wichtig, dass wir es hier nur mit Ereignissen im Himmel zu tun haben. Dort öffnet das Lamm das letzte Siegel, dort entsteht die Stille, dort werden die sieben Engel mit den sieben Posaunen ausgerüstet, dort opfert der Engel am Altar das Räucherwerk, von dort schüttet er den Inhalt der Räucherpfanne auf die Erde. Nur als Auswirkung dieser Ereignisse kommt es auch zu Donner, Blitz und Erdbeben.
III Einzelexegese Wie 6,3.5.7.9 und 6,12 beginnt 8,1 mit den Worten Und als es das … Siegel öffnete (Καὶ ὅταν811 ἤνοιξεν τὴν σφραγῖδα … [Kai hotan enoixen ten sphragida …]). Diesmal ist es das siebte und letzte Siegel an dem Buch von Offb 5,1. Obwohl „das Lamm“ nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist es völlig klar, dass nur das Lamm das Subjekt des Nebensatzes sein kann (vgl. 5,1–6,17). Auch weiterhin ist es also das Lamm (= Jesus Christus), das die Geschichte in Gang setzt und regiert. Die erste Folge dieser Siegelöffnung ist verblüffend: Es trat eine Stille im Himmel ein, etwa eine halbe Stunde lang. Im rasenden Getümmel unserer Geschichte kommt uns diese Stille im Himmel seltsam vor. σιγή [sige] lässt sich auch durch „Schweigen“ übersetzen. Aber Stille vermittelt etwas von jenem respektvollen, im Angesicht der Majestät Gottes zutiefst bewegten Stillesein der Geschöpfe.812 Ein solches Stillesein der Geschöpfe leuchtet im AT immer wieder auf (Ps 46,11; 76,9; Hab 2,20; Zeph 1,7; Sach 2,17). Hier in Offb 8,1 unterstreicht es die Bedeutung der Ereignisse, die durch die Öffnung des letzten Siegels ausgelöst werden. Insofern hat Bengel recht: „Diß ist das allerwichtigste Sigel.“813 ἡμιώριον [hemiorion] kommt nur hier im NT vor. Uns mag eine halbe Stunde kurz erscheinen. Für den Seher Johannes, der bisher eine unglaubliche Fülle zu schauen bekam, scheint es aber eine erstaunlich lange Pause gewesen zu sein.814 Übrigens notiert er, dass diese Stille nur 810 Caird S. 103. Ähnlich Morris S. 43. 811 Oder doch ὅτε [hote]? Jedenfalls entspricht ὅταν [hotan] dem ὅτε [hote] (Blass-Debrunner § 367,4; 382,4). 812 Vgl. dazu Zahn S. 380. P. Müller S. 29: „ein Zeichen größten Erstaunens“. Brütsch S. 345: „ein betretenes Schweigen“, S. 346: „eine negative Bewertung“ naheliegend. Aber der Überblick bei Brütsch S. 347 zeigt, dass die frühen und mittelalterlichen Ausleger die Stille von Offb 8,1 positiv bewerteten. 813 Bengel S. 407. Ähnlich Schlatter S. 209. 814 Ähnlich Zahn S. 382.
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im Himmel geschah. Auf Erden wurde dieses Innehalten offensichtlich nicht vollzogen. Jedenfalls bleibt es dabei, dass die bedrängendsten Geschehnisse des Weltlaufs mit einer himmlischen Stille und nicht einer himmlischen Höchstaktivität beginnen. Mit Vers 2 setzt ein neues Geschehen ein, deutlich markiert durch das καἰ εἶδον [kai eidon] am Anfang: Und ich sah die sieben Engel, die vor Gott stehen, und es wurden ihnen sieben Posaunen gegeben. Zunächst überrascht der Artikel (die, τούς [tus]) bei den Engeln. Denn bisher sind uns diese Sieben nicht begegnet. Johannes bezeichnet damit offenbar eine ganz bestimmte Engelgruppe und nennt sie eben die sieben Engel, die vor Gott stehen. Zwar sind diese sieben Engel weder mit den vier Wesen von 4,6 noch mit den Ältesten von 4,4 identisch, sondern in einem weiteren Kreis um den Thron zu suchen. Dennoch kennzeichnet die Sieben-Zahl zusammen mit der Bemerkung die vor Gott stehen eine besondere Nähe zu Gott. Es ist also eine ausgewählte Engelgruppe, die nun für Gott und das Lamm tätig wird.815 Überhaupt häuft sich in V. 1-2 die Siebenzahl: das siebte Siegel – die sieben Engel – sieben Posaunen. Weil das Lamm das Buch vollständig geöffnet hat, kommt jetzt Gottes Wille mehr und mehr zur Ausführung. In diesem Sinn möchten wir die Siebenzahl hier verstehen. Traditionsgeschichtlich spricht auch Tobit 12,15 „von den sieben Engeln, die vor dem Herrn stehen“, und nennt einen davon sogar mit Namen: Rafael. Andererseits mutet der Bericht des Johannes so frisch an und ist in der Offb die Siebenzahl so häufig, dass man nicht zu der Annahme gezwungen ist, Johannes nehme hier auf Tob 12,15 Bezug. Doch was ist mit den sieben Posaunen? σάλπιγξ [salpingx] lässt sich sowohl durch „Trompete“ als auch durch Posaune wiedergeben. Da in der deutschsprachigen Auslegungsgeschichte aber meist von den „Posaunen-Gerichten“ die Rede ist und der Ausdruck „helle Posaune“ bzw. „letzte Posaune“ in Mt 24,31; 1Kor 15,52; 1Thes 4,16 fest verwurzelt ist, bleiben wir bei der Übersetzung „Posaune“. σάλπιγξ [salpingx] gibt in der LXX meist zwei hebräische Begriffe wieder: [ שׁוָֹפרschophar] („Horn“) und [ ֲחֹצְצָרהchazozerah] („Trompete“). Beide müssen aber unterschieden werden. Das [ שׁוָֹפרschophar] = Horn ist ein gebogenes Blasinstrument. Die [ ֲחֹצְצָרהchazozerah] dagegen ist „ein langes, schmales, gerades Metallinstrument“,816 in der Regel aber kein
815 Behm S. 48 identifiziert sie mit den sieben Erzengeln von Tob 12,15, ähnlich Morris S. 119. Schlatter S. 209: „Fürsten im Engelheere“. Auch Zahn S. 384ff für sieben Erzengel, ebenso Caird S. 107; schon Bengel S. 412f; Aune S. 509. 816 G. Friedrich, Art. σάλπινγξ usw., ThWNT, VII, 1964, S. 76.
4. Das siebte Siegel, 8,1-5
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Musik-, sondern ein Signalinstrument.817 Das Muster für die [ ֲחֹצְצָרהchazozerah] bilden die „silbernen Trompeten“ von Num 10,1ff, die auf dem Titusbogen des Forum Romanum abgebildet sind. Im AT lässt sich beobachten, dass das Schofar reiche Verwendung bei kultischen und profanen Zwecken fand, während die Chazozrah „ein ausgesprochenes Kultinstrument gewesen“818 ist. Vor allem diente die Chazozrah („Trompete“) dem Zusammenrufen des Gottesvolkes (Num 10,2ff) und dem Anrufen Gottes in einem gerechten Krieg (Num 10,9). Wichtig ist außerdem, dass das Horn (Schofar) das Erscheinen Gottes im AT begleitet (vgl. Ex 19,16ff; 20,18; Sach 9,14).819 Von da aus ist der Schritt nicht weit zu der Prophetie, dass auch in der Endzeit das „Horn“ (Schofar, „Posaune“) erklingen wird (Jes 27,13; Joel 2,1; Zeph 1,16; Sach 9,14). Das frühe Judentum hat beide Begriffe, das „Horn“ (Schofar) und die „Trompete“ (Chazozrah), aufgenommen und sowohl für den eschatologischen Krieg820 als auch für den Kult821 vorgesehen. Für unseren Zusammenhang ist es besonders interessant, dass im frühen Judentum „Horn“ und „Trompete“ die eschatologischen Ereignisse ankündigen und begleiten, so z.B. Ps Sal 11,1; Schemone Esre 10; 4Esr 6,23; Apk Mos 22; Or Sib IV, 173f; VII, 239.822 Von daher darf es uns nicht wundern, wenn Jesus und die Apostel in Mt 24,31; 1Kor 15,52 und 1Thess 4,16 an diese alttestamentliche und frühjüdische Erwartung anknüpfen.823 Wenn die Endzeit von der „hellen“ oder „letzten Posaune“ begleitet wird, dann bedeutet dies dreierlei: 1) Gott und Jesus Christus erringen den Sieg über alle bösen und gottfeindlichen Mächte, 2) sie versammeln Gottes Volk aus Toten und noch Lebenden bei sich, 3) der endzeitliche Gottesdienst der Befreiung und Erlösung wird gefeiert. – Dabei muss in der σάλπινγξ [salpingx] stets beides gesehen werden: das „Horn“ (Schofar) und die „Trompete“ (Chazozrah). Wenn jetzt den sieben Engeln die sieben Posaunen gegeben werden, dann muss ein Zusammenhang mit der eschatologischen Rolle der σάλπινγξ [salpingx] („Posaune“) im Alten und im Neuen Testament bestehen. Das heißt für die Auslegung von Offb 8,2: Die Posaunen kündigen die folgenden endzeit-
817 818 819 820
Vgl. hier und im folgenden Friedrich a.a.O. S. 71ff sowie Caird S. 107ff. Friedrich a.a.O. S. 76. Vgl. Friedrich a.a.O. S. 79f. Vgl. vor allem 1QM 3,1ff; 7,13ff; 8,1ff; 9,1ff; 16,5ff; 17,10ff und Friedrich a.a.O. S. 81f. 821 Friedrich a.a.O. S. 82f. 822 Vgl. Friedrich a.a.O. S. 84. 823 Friedrich a.a.O. S. 86; Caird S. 110.
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lichen Ereignisse an824, sie symbolisieren das Gericht über Gottes Feinde und den göttlichen Sieg, sie wollen aber auch das endzeitliche Gottesvolk um Gott und das Lamm versammeln. Man sollte also die „Posaunen“ nicht zu schnell auf die Gerichte einschränken. Es wurden ihnen gegeben kann in unserm Zusammenhang nur bedeuten: auf Gottes Befehl gegeben (ἐδόθησαν [edothesan]). Von wem, wird nicht gesagt. Übrigens erscheinen auch beim eschatologischen Krieg in der Kriegsrolle von Qumran sieben Trompeten (1QM 3,6ff). Und schon im AT treffen wir bei besonderen Ereignissen „sieben“ Trompeten an, so bei der Eroberung Jerichos (Jos 6,4ff), der Einholung der Bundeslade durch David (1Chron 15,24) und der Einweihung der Stadtmauer Jerusalems durch Nehemia (Neh 12,41).825 Nur darf man sich durch diese Parallelen nicht zu der Annahme verführen lassen, Johannes habe Offb 8,2 aus solchen Angaben willkürlich abgeleitet. Nein, er hat, wie er sagt, die sieben Posaunen selber gesehen. Allerdings ist auch in Offb 8,2 zu bedenken, dass „sieben“ immer „die Zahl der Totalität“, der Fülle und der „Vollkommenheit des göttlichen Wirkens“ bedeutet.826 Wann fand die Übergabe der Posaunen statt? Noch während der halbstündigen Stille von V. 1?827 Wohl kaum. Denn ein solches Berufen und Ausrüsten der sieben Engel verträgt sich schwer mit der umfassenden „Stille im Himmel“. Deshalb nehmen wir an, dass die Posaunen-Übergabe erst nach dem Ende der Stille stattfand. Doch noch ist es nicht so weit, dass die Posaunen erschallen. Vielmehr bringen die Verse 3-5 erneut eine Zwischenszene. Ein anderer Engel, so berichtet Johannes, kam und trat an den Altar, wobei er eine goldene Räucherpfanne hatte (V. 3). Immer wieder greift in der Offb ein anderer Engel in das Geschehen ein (7,2; 8,3; 10,1; 14,6.8.9.15.17.18; 18,1). Dadurch erhält dieses Geschehen eine spannungsvolle Dramatik. Zugleich jedoch werden die unerschöpflichen Möglichkeiten und Machtkompetenzen Gottes offenbar. Woher dieser andere Engel kam, wird nicht gesagt und ist auch nicht wichtig. Er trat an den Altar (ἐστάθη ἐπὶ τοῦ θυσιαστηρίου [estathe epi tu thysiasteriu]): Zum zweiten Mal seit 6,9 ist von einem Altar die Rede.828 Zahn meinte, in der Offb werden „deutlich“ ein Brandopfer- und ein Räucheraltar 824 Darin eingeschlossen ist die „Bezeichnung des Anfangs der heiligen Zeiten“, auf die Schlatter S. 209 abhebt. 825 Vgl. Friedrich a.a.O. 826 K.H. Rengstorf, Art. ἑπτά usw., ThWNT, II, 1935, S. 629. 827 So z.B. Hartenstein S. 128f; Grünzweig S. 227. 828 Vgl. Jes 6,6 und Schlatter BFchTh S. 27.
4. Das siebte Siegel, 8,1-5
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voneinander unterschieden.829 Allein es heißt stets nur τὸ θυσιαστήριον [to thysiasterion]. Begrifflich unterscheidet die Offb die Altäre nicht. Dieser Umstand ist ein weiterer Grund dafür, dass wir uns den himmlischen Altar nicht einfach nach Maßgabe des irdischen Altars in Jerusalem vorstellen dürfen, sondern besser mit einem Bereich in der Nähe Gottes in einem übertragenen Sinn rechnen sollten. Das tut der Realität der Vorgänge, die Johannes schaute, aber keinen Abbruch.830 Beim Herantreten hatte (ἔχων [echon]) der Engel eine goldene Räucherpfanne (λιβανωτὸν χρυσοῦν [libanoton chrysun]) bei sich. λιβανωτός [libanotos] muss nach W. Michaelis in Offb 8,3ff mit Räucherpfanne übersetzt werden.831 Die alten Übersetzungen sprechen hier noch vom „Rauchfass“.832 Es handelt sich um jenes kultische Gerät, mit dem man Räucherwerk, meist Weihrauch, darbrachte (vgl. Ez 8,11; 2Chron 26,19).833 In der Stiftshütte musste man täglich, morgens und abends, ein solches Räucherwerk auf dem goldenen Räucheraltar innerhalb des Raumes vor dem Vorhang (dem sog. „Heiligen“) opfern (Ex 30,1ff; 37,25ff). Man trug es auf der Räucherpfanne herbei (vgl. Ex 30,34ff; 40,26f). Unten in der Pfanne lagen glühende Kohlen, darüber Weihrauch bzw. das sonstige Räucherwerk.834 Noch Zacharias brachte auf diese Weise das Räucheropfer dar (Lk 1,8ff). Aber nun geschieht in Offb 8,3 etwas Besonderes. Nicht der Engel bringt das nötige Räucherwerk835 herbei, sondern es wurde ihm gegeben, und zwar viel. Man kann dies nur so verstehen, dass ihm auf Gottes Befehl ein reiches Räucherwerk gegeben wurde. Dabei muss man sich auch hier von irdischen Vorstellungen frei machen und stattdessen mit geistlichen Vorgängen rechnen.836 Was bedeuten dann die Worte damit er es (= das Räucherwerk) für die Gebete aller Heiligen auf dem goldenen Altar vor dem Thron darbringe? Der Dativ ταῖς προσευχαῖς [tais proseuchais] ist insofern klar, als es sich um einen Dativus commodi handelt,837 der Engel also zugunsten der Gebete der Heiligen tätig werden soll. Der Dativ lässt aber zunächst offen, ob für die Gebete a) ein „anstelle der Gebete“ bedeutet, oder b) ein „zur 829 Zahn S. 384. Dagegen Behm S. 49. 830 Auch J. Behm rechnet in seinem Artikel θύω usw., ThWNT, III, 1938, S. 182 nur mit einem Altar. Ebenso Behm S. 49. 831 Art. λίβανος usw., ThWNT, IV, 1942, S. 269. Ebenso Bauer-Aland Sp. 961. 832 Zahn S. 383. 833 Michaelis a.a.O. S. 268. 834 Vgl. Michaelis a.a.O. S. 269. 835 θυμιάματα [thymiamata], Pluralform, vgl. Bauer-Aland Sp. 742. 836 Übrigens bemerkt Bengel S. 423 mit Recht, dass es heißt „vor den Thron“ und nicht „vor dem Vorhang“. Es dürfen also nicht ohne Weiteres unsere Vorstellungen vom Jerusalemer Tempel eingetragen werden. 837 Blass-Debrunner § 188,1.
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Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Unterstützung der Gebete“. In Offb 5,8 wurde das Räucherwerk mit den Gebeten der Heiligen identifiziert. Das spricht für die Deutung a). Aber warum wird dann nicht auch in Offb 8,3 eine solche Identifikation vorgenommen? Deshalb scheint die Deutung b) doch näherzuliegen. Diese zweite Deutung stimmt sehr gut mit Röm 8,26f zusammen, wo der Heilige Geist die Gebete unterstützt, und außerdem mit Tobit 12,12. Deshalb verstehen wir V. 3 so, dass das viele Räucherwerk den Heiligen Geist symbolisiert, der die Gebete aller Heiligen unterstützt, sodass sie vor dem Thron Gottes in angemessener Weise gehört werden können.838 Die Verbindung zwischen Räucherwerk und Gebet ist schon durch Ps 141,2 geschaffen worden. Alle Heiligen sind alle Glieder der Gemeinde Jesu (vgl. 1Kor 1,2)839. Für Gebet steht hier προσευχή [proseuche], was „das Gebet im umfassendsten Sinne“ bezeichnet.840 Es ist also nicht nur an Bitten, etwa während der Verfolgungen,841 zu denken, sondern auch an Anbetung, Lobpreis und Dank. Die enge Parallelität zwischen „Gebet“ und Opfer in Offb 8,3 bedeutet, dass das Gebet ebenso wie das Opfer Gott geweiht ist und vor seinen Thron aufsteigen muss. „Johannes sieht, wie das Bitten der Gemeinde und Gottes königliches Walten ineinandergreifen, sodass Gottes Werk nicht ohne das Gebet der Christenheit geschieht, sondern ihm die Erhörung bringt“ (Schlatter S. 209).842 Nach Vers 4 kommen die Gebete der Heiligen hinauf vor Gott. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass unsere Gebete hinauf vor Gott gelangen. Man denke an die häufige Bitte „erhöre mein Gebet“ (Ps 4,2; 39,13; 54,4; 84,9; 102,2; 143,1). Man denke andererseits an eine Aussage wie Klgl 3,44: „Du hast dich mit einer Wolke verdeckt, dass kein Gebet hindurchkonnte“ (vgl. Sir 35,21). Aber hier in Offb 8,4 steigt aus der Hand des Engels, genauer: aus der Räucherpfanne, die er in der Hand hält,843 der Rauch des Räucherwerks hinauf vor Gott. Weil dies für die Gebete der Heiligen geschieht, also zu ihrer Unterstützung (vgl. V. 3),844 dringen auch diese Gebete 838 Ebenso Zahn S. 383; Brütsch S. 350; ähnlich Schlatter S. 210f; Morris S. 120; Behm S. 49; P. Müller S. 29; Hartenstein S. 129; Aune S. 512, Pohl II S. 23; Frey S. 94; Grünzweig S. 227. Anders Caird S. 107: Räucherwerk und Gebete der Heiligen sind identisch. Wieder anders Bengel S. 421: Das Räucherwerk bedeute die Gebete der Engel und nicht der Menschen. 839 Vgl. O. Procksch, Art. ἅγιος usw., ThWNT, I, 1933, S. 107ff; Aune S. 512. 840 H. Greeven, Art. εὐχομαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 807. 841 Darauf grenzt Aune S. 512f ein. 842 Ähnlich Morris S. 120. 843 Bengels Vorstellung: „Der Engel hat während den Räucherns die Räucherpfanne nicht in der Hand“ (S. 423) lässt sich schwer nachvollziehen. 844 Vgl. wieder Blass-Debrunner § 188,1.
4. Das siebte Siegel, 8,1-5
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an Gottes Ohr.845 Behm hat recht: Eine solche Zusage ist ein starker Trost für die kämpfende Christenheit auf Erden.846 Mit Vers 5 erfolgt eine Umkehrung. Bisher herrschte die Perspektive des Hinauf (hinauf vor Gott). Jetzt dominiert die Perspektive des Hinab (auf die Erde). Und der Engel nahm847 die Räucherpfanne und füllte sie aus dem Feuer848 des Altars: Das kann erst nach dem Vorgang der Verse 3 und 4 gewesen sein. Darin steckt auch die Botschaft: Erst nimmt sich Gott der Gebete der „Heiligen“ an, bevor er auf Erden einschreitet.849 Bei der Räucherpfanne und dem Feuer des Altars ist wieder zu bedenken, dass es um Dinge aus der immateriellen, ewigen Welt geht. Zu fragen, wie ein Feuer in der Nähe Gottes unterhalten werden und ob es nicht gefährlich sein könne, wäre töricht. Genug: der Engel füllt seine goldene Räucherpfanne mit diesem himmlischen Feuer und tut etwas, was die irdischen Priester nicht taten: Er warf es auf die Erde. Nur die Asche des Altarfeuers warfen die irdischen Priester auf die Erde neben dem Altar (Lev 6,1ff), nicht aber das Feuer. Um den Vorgang von Offb 8,5 richtig zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass Feuer vom Himmel ein Kennzeichen und ein Mittel des göttlichen Gerichts ist (Gen 19,24; Ex 9,24; Lev 9,24; 10,2; 2Sam 22,6ff; 2Kön 1,10; Hiob 1,16). Ein solches „Gerichtsfeuer“ wird auch in der prophetischen Eschatologie angekündigt (z.B. Jes 33,11f; 66,15f; Ez 38,22; 39,6; Joel 2,3; Zeph 1,18; 3,8; Sach 12,6; Mal 3,19).850 Jesus und die Apostel nehmen dieses Bild auf.851 In diesem Sinne ist es auch in Offb 8,5 zu verstehen. Mit der eindrucksvollen Handlung des „Feuer-auf-die-Erde-werfens“ macht der Engel klar, dass jetzt Gerichte über die Erde gehen werden. Die begleitenden Erscheinungen Donner (βρονταί [brontai]), Stimmen (φωναί [phonai]), Blitze (ἀστραπαί [astrapai]) und Erdbeben (σεισμός [seismos], Sing.) weisen darauf hin, dass hier Gott sein Gericht vollstreckt (vgl. Ex 9,28; 2Sam 22,6ff; 2Kön 1,12; Hiob 1,16; Ps 29,7; Jes 29,6; Ez 1,13; Offb 4,5; 11,19; 16,18)852. Sehr stark werden wir außerdem an die Stelle Ez 10,2 erinnert, die wie ein alttestamentliches Modell von Offb 8,5 anmutet. Schließlich sollten wir den Zusammenhang mit der Versöhnungstagsliturgie in Lev 16,12 nicht übersehen. Daraus ergibt sich, dass der „Engel“
845 846 847 848 849 850 851 852
Richtig Bengel S. 423: „beedes wird erhöret“. Behm S. 49. Das Perfekt εἴληφεν [eilephen] ist hier aoristisch gebraucht, Blass-Debrunner § 343,2. Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 172,4. Vgl. Frey S. 93. Vgl. F. Lang, Art. πῦρ usw., ThWNT, VI, 1959, S. 935ff. Lang a.a.O. S. 941ff. Vgl. Lang a.a.O. S. 934.
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von Offb 8,1ff nicht wie ein militärischer Racheengel handelt, sondern wie ein priesterlicher Bote Gottes.853
IV Zusammenfassung 1. Die Öffnung des siebten und letzten Siegels führt zu vier verschiedenen Vorgängen, die in Offb 8,1-5 auffallend kurz beschrieben werden: 1) einer überraschenden „Stille im Himmel“, 2) der Übergabe von sieben Posaunen an sieben Engel, 3) der Darbringung der Gebete der Gläubigen an Gott, 4) der Ausgießung himmlischen Gerichtsfeuers auf die Erde. 2. Hier verknüpfen sich himmlische und irdische Vorgänge zu einem grandiosen heilsgeschichtlichen Geschehen: auf Erden die Gebete der Gläubigen und die Vorboten des Gerichtes mit Donner, Stimmen, Blitzen und Erdbeben, im Himmel ein Innehalten, das Empfangen der Gebete der Gemeinde und die Vorbereitung der Gerichte. Ähnlich wie in den Kapiteln 4–6 geht dem geschichtlichen Ablauf der Blick in den Himmel, ja eine Stille voraus. 3. Das siebte Siegel ist nicht das Ende,854 sondern der Anfang einer langen geschichtlichen und heilsgeschichtlichen Entwicklung. 4. Die Zentralfigur dieser geschichtlichen Entwicklung bleibt das Lamm, also Jesus Christus. Nur er hat die Möglichkeit und die Autorität, das siebte Siegel zu öffnen und damit alles Folgende in Gang zu setzen. 5. Gerade die Gerichte, die auf Erden so verheerend wirken, zeigen, dass Gott die Geschichte regiert. 6. Auch diese wenigen Verse Offb 8,1-5 sind dicht gefüllt mit alttestamentlichen Anklängen und Bezugnahmen. Dazu gehört die Rolle der Posaunen, das Bild vom Altar, von der goldenen Räucherpfanne, vom Räucherwerk, vom aufsteigenden Rauch, vom Feuer des Altars und die Erwähnung der Donner, Blitze usw. als Ausdruck für Gottes Handeln. Dazu gehört aber auch das priesterliche Handeln des Engels und der Vorbildcharakter von Ez 10,2 und nicht zuletzt die Rolle der Stille. Ziemlich sicher steht auch die Tradition von Tob 12,12 im Hintergrund, evtl. Tob 12,15. Offb 8,1-5 demonstriert also eindrücklich die Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament. 7. Im Blick auf das Folgende erscheint Offb 8,1-5 wie ein Wurzelknoten oder Keim, aus dem sich ein reiches Zukunftsgeschehen entfaltet.
853 Ebenso Behm S. 49. 854 Gegen Caird S. 104.
5. Die sieben Posaunen, 8,6 –11,19
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5. Die sieben Posaunen, 8,6 –11,19 Aus Gründen der Übersicht ziehen wir hier die Überlegungen zur Struktur (II.) vor.
II Struktur Es besteht kein Zweifel, dass die sieben Posaunen nach dem geplanten Aufbau der Offb ebenso zusammengehören wie die sieben Siegel (vgl. Offb 5,1–8,5). Daraus ergibt sich ein großer Zusammenhang, der von 8,6 bis mindestens 11,19 reicht und der nicht zerrissen werden darf. Stoffmäßig aber hat Johannes in diese vier Kapitel viel mehr hineingepackt als in die Öffnung der sieben Siegel (6,1-17; 8,1-5). Während die Siegelöffnung im engeren Sinne nur 22 Verse umfasst, enthalten die sog. Posaunengerichte 34 Verse (8,6–9,21; 11,15-19). Hinzu kommt aber bei den Posaunen noch ein weit größeres Zwischenstück als bei den Siegeln. Die Siegel wurden durch Kap. 7 mit 17 Versen unterbrochen, während die Posaunen durch die Kapitel 10 und 11,1-14 mit 25 Versen unterbrochen werden. Außerdem bleibt die Möglichkeit offen, die Posaunen-Gesichte direkt mit den Schalen-Gesichten zu verbinden, die mit 15,1 beginnen. In diesem Falle lässt sich die siebte Posaune bis 14,20 erstrecken, was noch einmal zu einer Ausweitung der Posaunen-Gesichte von 8,6 bis 14,20 und damit zu einer Ausweitung auf insgesamt sieben Kapitel führt. Es ist keine leichte Entscheidung, ob der Ausleger sich mit 8,6–11,19 als Inhalt der Posaunen-Gesichte begnügt oder ob er den Zusammenhang mit 8,6– 14,20 größer ansetzt. Im letzten Fall besteht die Gefahr, dass das Gewicht der Kapitel 12 und 13, die irgendwie ein Zentralstück bilden, eingeebnet wird. Man muss sich ferner klarmachen, dass bei Johannes zwar eins aus dem andern hervorgeht, deutlich sichtbar bei der Abfolge Siegel und Posaunen 8,1-5, aber Johannes unter der Kraft und der Wucht der empfangenen Gesichte doch nicht schematisch handelt. Wo seine Zählungen bei der Schilderung der Gesichte nicht mehr deutlich sichtbar sind, haben wir die Freiheit, nach dem Gewicht der Gesichte zu gliedern. In 8,6–11,19 aber heben sich gut erkennbar folgende Unterabschnitte vom Gesamtzusammenhang ab: 1) Die ersten sechs Posaunen 8,6–9,21, 2) Engel mit dem Büchlein 10,1-11, 3) die beiden Zeugen 11,1–14,4, 4) die siebte und letzte Posaune 11,15-19. Wir wenden uns dem ersten Unterabschnitt zu:
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Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
5.1 Die ersten sechs Posaunen, 8,6–9,21 I Übersetzung 6 Und die sieben Engel, die die sieben Posaunen hatten, machten sich bereit zu blasen. 7 Und der erste855 blies seine Posaune. Und es entstand Hagel und Feuer, vermischt mit Blut, und wurde auf die Erde geworfen. Und der dritte Teil der Erde wurde verbrannt, und auch der dritte Teil der Bäume wurde verbrannt, und alles grüne Gras wurde verbrannt. 8 Und der zweite Engel blies seine Posaune. Und etwas wie ein großer brennender856 Berg wurde ins Meer geworfen. Und der dritte Teil des Meeres wurde zu Blut, 9 und es starb der dritte Teil der lebendigen Geschöpfe857 im Meer, und der dritte Teil der Schiffe wurde zerstört. 10 Und der dritte Engel blies seine Posaune. Und es fiel ein großer Stern aus dem Himmel, brennend wie eine Fackel, und fiel auf den dritten Teil der Flüsse und auf die Wasserquellen. 11 Und der Name des Sterns heißt „Der Wermut“. Und der dritte Teil der Wasser wurde zu Wermut, und viele von den Menschen starben von den Wassern, weil sie bitter geworden waren. 12 Und der vierte Engel blies seine Posaune. Und es wurde geschlagen der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der dritte Teil der Sterne, sodass ihr dritter Teil verfinstert wurde und der Tag zu einem Drittel sein Licht verlor und ebenso die Nacht. 13 Und ich sah, und ich hörte, wie ein Adler, der im Zenit des Himmels flog, mit lauter Stimme sagte: Wehe, wehe, wehe denen, die auf Erden wohnen, wegen der übrigen Posaunenstöße der drei Engel, die noch posaunen sollen! 9,1 Und der fünfte Engel blies seine Posaune. Und ich sah einen Stern, der aus dem Himmel auf die Erde gefallen war, und ihm wurde der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben, 2 und er öffnete den Brunnen des Abgrunds. Und Rauch stieg auf aus dem Brunnen wie Rauch von einem großen Ofen. Und es wurde verfinstert die Sonne und die Luft durch den Rauch des Brunnens. 3 Und aus dem Rauch kamen heraus Heuschrecken auf die Erde, und ihnen wurde Macht gegeben, wie die Skorpione der Erde Macht haben. 4 Und es wurde ihnen gesagt, dass sie keinen Schaden tun sollten dem Gras auf Erden noch irgendwelchem Grün noch irgendeinem Baum, sondern nur denjenigen Menschen, die das Siegel Gottes 855 Vgl. Blass-Debrunner § 129,3. 856 Wörtlich: „mit Feuer brennender“ (Blass-Debrunner § 196,6). 857 τῶν κτισμάτων … τὰ ἔχοντα [ton ktismaton … ta echonta] ist Solözismus (Blass-Debrunner § 136,2).
5. Die sieben Posaunen, 8,6 –11,19
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nicht an ihren Stirnen haben. 5 Und es wurde ihnen Macht gegeben, dass sie sie nicht töteten, sondern dass sie sie fünf Monate lang quälten. Und ihre Qual war wie die Qual vonseiten eines Skorpions, wenn er einen Menschen sticht. 6 Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, aber ihn nicht finden, und sie werden sterben wollen, aber der Tod wird sie fliehen.858 7 Und die Gestalten der Heuschrecken glichen den Rossen, die zum Kampf gerüstet sind, und auf ihren Köpfen war so etwas wie Kronen aus Gold, aber ihre Gesichter glichen Menschengesichtern, 8 und sie hatten Haare wie Frauenhaare und ihre Zähne waren wie Löwenzähne, 9 und sie hatten Panzer859 wie Eisenpanzer, und der Lärm ihrer Flügel war wie der Lärm der Wagen vieler Rosse, die in den Kampf laufen, 10 und sie haben Schwänze wie Skorpione und Stachel, und in ihren Schwänzen liegt ihre Macht, fünf Monate lang den Menschen Schaden zu tun. 11 Sie haben über sich als König den Engel des Abgrunds. Auf Hebräisch heißt er Abaddon, und auf Griechisch860 heißt er Apollyon. 12 Das erste Wehe ist vorüber. Siehe, es kommen noch zwei Wehe danach.861 13 Und der sechste Engel blies seine Posaune. Und ich hörte eine Stimme von den vier Hörnern des goldenen Altars her, der vor Gott steht. 14 Die sagte zu dem sechsten Engel, der die Posaune hatte: Löse die vier Engel, die am großen Strom Euphrat gebunden sind!862 15 Und es wurden gelöst die vier Engel, die bereit waren für die Stunde und den Tag und den Monat und das Jahr, damit sie den dritten Teil der Menschen töteten. 16 Und die Zahl der Reiterheere war zweimal Myriaden von Myriaden. Ich hörte ihre Zahl. 17 Und so sah ich im Gesicht die Rosse und die darauf saßen: Sie hatten feuerrote und hyazinthfarbige und schwefelgelbe Panzer, und die Köpfe der Rosse waren wie Löwenköpfe, und aus ihren Mäulern kommt Feuer und Rauch und Schwefel. 18 Von diesen drei Plagen wurde der dritte Teil der Menschen getötet, vom Feuer und vom Rauch und vom Schwefel, der aus ihren Mäulern kommt. 19 Denn die Macht der Rosse liegt in ihrem Maul und in ihren Schwänzen. Ihre Schwänze glichen nämlich Schlangen und hatten Köpfe, und mit ihnen tun sie Schaden. 20 Und die übrigen von den Menschen, die nicht durch diese Plagen getötet wurden, bekehrten sich doch nicht von den Werken ihrer Hände, 858 Noch wörtlicher: „flieht vor ihnen“. 859 Die Bedeutung „Panzer, Brustpanzer“ ist gegenüber „Brust, Brustkorb“ doch vorzuziehen. Vgl. Bauer-Aland Sp. 746; Morris S. 130. 860 Zur Konstruktion vgl. Blass-Debrunner § 241,9. 861 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 136,5; 247,3. 862 Zu den Solözismen vgl. Blass-Debrunner § 136,2.4.
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dass sie nicht mehr anbeteten die Dämonen und die goldenen und silbernen und ehernen und steinernen und hölzernen Götzen, die weder sehen noch hören noch gehen können. 21 Und sie bekehrten sich auch nicht von ihren Morden und ihren Zaubereien und ihrer Unzucht und ihren Diebereien.
II Struktur Wir haben es hier mit einem großen zusammenhängenden Stück zu tun. Sechs Posaunen erklingen, und jedes Mal wird die Konsequenz der betreffenden Posaune geschildert. Dadurch, dass die siebte Posaune auf später verschoben wird, tritt eine starke, nach vorne orientierte Spannung ein. Dazwischen schieben sich kleinere, andersartige Stücke: Die Schau von dem Adler in 8,13 und die Bemerkung über die drei Wehe in 9,12. Wir haben zu prüfen, wie sich diese Stücke zum Übrigen verhalten. Dass 8,6–9,21 als zusammenhängende Einheit geplant ist, ergibt sich aus dem Scopus in 9,20f: Die Posaunen-Gerichte führen nicht zur Bekehrung der Menschheit. Eine enge Verzehrung mit dem Vorausgehenden wird dadurch gewährleistet, dass 8,6 auf 8,2 zurückverweist. 8,6–9,21 geht gewissermaßen aus 8,1-5 hervor. Dagegen bricht der Gedankengang von 8,6–9,21 vorläufig mit 10,1 ab. Es geht schon aus dem mehrfachen ἐδόθη [edothe] hervor (9,1.3.5), dass „der Dreieine“,863 der dreieinige Gott der Bibel, das bestimmende Subjekt des Geschehens bleibt. Auch das relativ häufige ἐξουσία [exusia] deutet darauf hin (9,3.10.19). Ein dritter Hinweis liegt in der Begrenzung des Schadens, z.B. auf den „dritten Teil“, der geradezu ein Charakteristikum dieses Abschnitts bildet (8,7.8.9.10.11.12; 9,15.18). Das Leitmotiv des „dritten Teils“ zusammen mit anderen Begrenzungen (9,4.5.10), der Ankündigung weiterer Gerichte (8,13; 9,12) und dem offenkundigen Fortleben der Menschheit (9,6.20f) lässt darauf schließen, dass wir hier noch nicht am letzten Ende der Geschichte, sondern noch mitten in der Geschichte stehen. Das aber ist eben jetzt näher zu prüfen.
III Einzelexegese Der Beginn des Abschnitts 8,6–9,21 überrascht uns. Denn Johannes leitet ihn nicht mit einem „Danach“ oder „Ich sah“ bzw. „hörte“ ein, sondern mit einer bloßen Feststellung: Und die sieben Engel, die die sieben Posaunen hatten, machten sich bereit zu blasen (ἵνα σαλπίσωσιν [hina salpisosin]), V. 6. Al863 Vgl. dazu Philberth Dreieine passim.
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lerdings wird auch diese Feststellung von dem ich sah (εἶδου [eidu]) in V. 2 umgriffen. Dies und der offenkundige Bezug auf V. 2 (vgl. die Artikel die sieben Engel / die sieben Posaunen) verdeutlichen die Absicht des Johannes, 8,1ff und 8,6ff auf das Engste miteinander zu verbinden. Besondere Beachtung fordert die Wendung sie machten sich bereit (ἡτοίμασαν αὐτούς [hetoimasan autus]). Denn das Sich-bereit-Machen der Engel spiegelt „das göttliche Schaffen“ in der Geschichte wider, für das ebenfalls das Verb ἑτοιμάζω [hetoimazo] benutzt wird.864 Es geht also um den Vollzug des göttlichen Willens, der schon seit Urzeiten festliegt (vgl. Offb 1,1 und Zeph 1,7ff; 1Petr 1,5). Vitringa weist überdies darauf hin, dass der Lobpreis Gottes bei den Opfergottesdiensten durch posaunenblasende Priester eingeleitet wurde.865 In der Tat waren die Posaunen den Priestern anvertraut. Auch daraus ergibt sich, dass die Engel von Offb 8,1ff nicht als böse Racheengel auftreten, sondern als priesterliche Diener Gottes. Alttestamentliche Stellen wie Jes 27,13; 66,6 und Sach 9,14, auf die Schlatter hinwies866, können das nur bestätigen. Mit V. 7 treten wir ins Geschehen ein: Und der erste Engel blies seine Posaune. In rhythmischer Folge wiederholt sich diese Einleitung: Und der zweite Engel … / und der dritte Engel“ usw. Bengel bemerkt richtig: Hier hat alles seine „Ordnung“.867 Und es entstand Hagel und Feuer, vermischt mit Blut, und wurde auf die Erde geworfen: Wie die Ausleger durchgehend notieren, erinnert die Offb hier an die ägyptischen Plagen, in V. 7 speziell an Ex 9,22-26. Die ägyptischen Plagen erweisen sich also im Lauf der Weltgeschichte als eine Art Modell der göttlichen Gerichte868 (vgl. Ez 38,22; Joel 3,3). Dort in Ex 9,22ff sind schon Hagel (χάλαζα [chalaza] LXX) und Feuer (πῦρ [pyr] LXX) miteinander verbunden. Allerdings fehlt das Blut. Wie in Ägypten können sich „Hagel“, „Feuer“ und „Blut“ als „eschatologische Schrecknisse“869 nur auf die Erde im Ganzen, also vor allem auf die Nichtgläubigen beziehen (und wurde auf die Erde geworfen). Geworfen (ἐβλήθη [eblethe]) bedeutet: Die Menschheit hat keine Möglichkeit, es zu verhindern. Vers 7 schildert nun die Folge: Und der dritte Teil der Erde verbrannte, und auch der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras 864 865 866 867 868 869
Vgl. W. Grundmann, Art. ἕτοιμος usw., ThWNT, II, 1935, S. 702ff. Vitringa S. 339 aufgrund rabbinischer Überlieferung (Tamid VII, III). Schlatter BFchTh S. 83. Bengel S. 424. Lohmeyer 3 S. 75: „eschatologische Umbildung ägyptischer Plagen“. J. Behm, Art. αἷμα usw., ThWNT, I, 1933, S. 175, dort auch speziell zum Blut in diesem Zusammenhang.
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verbrannte. Halten wir dazu fest: 1) Nicht die Menschen selbst werden hier verletzt, sondern die Vegetation (Erde – Bäume – Gras). 2) Es wird hier gerade das getroffen, was nach 7,3 noch verschont bleiben sollte (Erde, Bäume). 3) Die Parallele mit Ägypten wird dort verlassen, wo eine Beschränkung auf den dritten Teil erfolgt (τὸ τρίτον [to triton]). Allerdings ist nur bei der Erde und den Bäumen eine solche Einschränkung vorgenommen, während beim grünen Gras alles verbrannte. – Damit wird unsere Aufmerksamkeit auf den dritten Teil (τὸ τρίτον [to triton]) gelenkt. Schon die Rolle des „Drittels“ in den Gerichtsweissagungen Hesekiels (5,2ff) und Sacharjas (13,7ff) lässt es wenig wahrscheinlich erscheinen, dass es sich in Offb 8,7 lediglich um eine „runde Zahl“ handelt.870 Die häufige Erwähnung des „dritten Teils“ in Offb 8,7-12; 9,15.18; 12,4 macht es noch weniger wahrscheinlich. Vielmehr müssen wir im „dritten Teil“ eine göttliche Maßregel erblicken, die in sorgfältiger Abwägung erfolgt und die bewusst das Unheil begrenzt, damit es noch Raum zur Buße gibt (vgl. 9,20f). Ferner fällt das dreifache κατεκάη [katekae] (wurde verbrannt)871 auf. In dem Passiv κατεκάη [katekae] erkennt man den Willen Gottes, der hinter allen diesen Geschehnissen steht. Die Einteilung der Vegetation in Bäume und grünes Gras entstammt dem Alten Testament (vgl. Gen 1,11ff). Ergebnis bei Offb 8,7: Der Schaden ist global, aber das Leben der Menschheit nicht ernstlich bedrohend. Doch nun erheben sich zwei Fragen: 1) Was ist der Schaden? 2) In welcher Zeit ereignet sich das? Zu 1): Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten, den Schaden zu bestimmen. Entweder handelt es sich um reale Schäden an der Vegetation, oder Hagel, Feuer und Blut sind symbolische Namen für ein anderes, evtl. geistliches, Unheil. Die symbolische Deutung hat weite Verbreitung gefunden. Schon Luther vertrat sie. Ihm zufolge ist der „erste böse Engel“ eine Ketzerei, und zwar „Tatianus mit seinen Enkratiten“ (= Asketen).872 Bengel deutet den Hagel auf einen feindlichen „Ein= und Ueberfall“, das Feuer auf „Zwitracht“ und „Verwüstung“, das Blut auf Krieg.873 Paul Müller unterscheidet in seiner klaren Diktion zwischen einer „vordergründigen Auslegung“, der Explosion einer Atombombe, und einer „geistlichen Deutung“, die eine „Zerstörung der Erde“ in Renaissance, Aufklärung, Bolschewismus und modernen Entwicklungen erblickt. Hier sind die Bäume mächtige Menschen, das Gras die Un-
870 871 872 873
So aber G. Delling, Art. τρεῖς usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 220. Vgl. dazu Blass-Debrunner § 76,1. Luther Vorreden S. 183. Bengel S. 429.
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tertanen usw.874 Einen mittleren Weg geht Vitringa, der zunächst Hagel, Feuer und Blut auf Hunger, Pest und Krieg deutet.875 Demgegenüber erklären andere Ausleger diese Phänomene als „Naturkatastrophen“. So sieht Gerhard Friedrich in den ersten vier Posaunen „Strafgerichte Gottes in Form von Naturkatastrophen über die 4 Bereiche der Schöpfung“.876 Eines wird man von vornherein ausschließen dürfen: nämlich die Deutung der Erde auf die Gemeinde.877 Denn die „Erde“ ist überall in der Bibel ein Land oder der ganze Erdball und nicht die Gemeinde.878 Auch die ägyptischen Plagen, die mit Offb 8,7 in engster Beziehung stehen, treffen gerade Ägypten und nicht Israel (Ex 9,26). Bleibt man beim biblischen Sprachgebrauch, dann sind Hagel, Feuer und Blut Gerichte Gottes an Schöpfung und Menschheit (vgl. Gen 19,24; Ex 9,22ff; Jes 66,15f; Ez 38,22; 39,6 u.ö.).879 An diesem Sprachgebrauch sollten wir festhalten. Der Schaden von Offb 8,7 besteht also in erster Linie in einer Naturkatastrophe, besser gesagt: in einer Reihe von Naturkatastrophen.880 Für den modernen Menschen mag es allerdings schwierig sein, auch hinter den „Naturkatastrophen“ das Handeln Gottes zu sehen. Wie öfters in der Offb müssen wir jedoch auch einer geistlichen Deutung Raum geben. Sie darf aber nicht die reale, die „vordergründige“ Deutung preisgeben oder in die Beliebigkeit verfallen. Insofern behält Paul Müller recht: Wir „dürfen … beide Auslegungen ohne Widerspruch nebeneinander betrachten“.881 Deshalb sollten wir uns niemals auf Details festlegen. Zu 2): In welcher Zeit ereignet sich das? Die Endzeit im strengsten Sinne kann es nicht sein.882 Zwar wird „Die Schraube“ gegenüber 6,8, wo nur „der vierte Teil der Erde“ betroffen war, „enger angezogen“.883 Die Gerichte steigern sich also unverkennbar von Kap. 6 zu Kap. 8. Wenn aber zwei Drittel der Erde unverbrannt bleiben, wenn die Menschheit weiterlebt und noch nicht einmal der Antichrist (Kap. 11 und 13) erschienen ist, dann kann Offb 8,7 keine Aussage über die wirklich letzte Zeit sein.884 Die hier genannten Ereig874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884
P. Müller S. 29. Ähnlich Frey S. 99; Grünzweig S. 232; Hartenstein S. 130. Vitringa S. 342. Art. σάλπιγξ usw., ThWNT, VII, 1964, S. 86f. Gegen Frey a.a.O. Vgl. H. Sasse, Art. γῆ usw., ThWNT, I, 1933, S. 676ff. Vgl. F. Lang, Art. πῦρ, ThWNT, VI, 1959, S. 935ff. So auch Zahn S. 389; Schlatter S. 214; Behm S. 50 (denkt bei Blut an „roten Saharasand“); Pohl II S. 28; Caird S. 112; Aune S. 519. P. Müller a.a.O. Lang a.a.O. S. 942: nicht der „Endakt“; Friedrich a.a.O. S. 87: „noch nicht Endbestrafung“; Brütsch S. 352: nur „Warnung“; Schlatter S. 214; Zahn S. 389; Bengel S. 425. Brütsch a.a.O. Lohmeyer 3 S. 76: „nur Vorboten des Endes, nicht das Ende selbst“.
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nisse müssen sich also innerhalb unserer Geschichte abspielen. Von dieser Erkenntnis ausgehend finden sich nun aber sehr verschiedene Einzeldeutungen. Theodor Zahn sah in Offb 8,7ff einen Rückblick auf den Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n.Chr.885 Luther datierte Offb 8,7 auf das 2. bzw. 3 Jh. n.Chr.886 Bengel sah hier die jüdisch-römischen Kriege unter Trajan und Hadrian (98– 117 bzw. 117–138 n.Chr.) beschrieben887. Auch Vitringa bezog Offb 8,7 auf das Römische Reich.888 Hartenstein dachte an die verschiedenen Verfolgungen der Christenheit.889 Genug der Beispiele. Auch hier empfiehlt es sich nicht, auf ein einzelnes Datum oder Ereignis einzugrenzen. In Parallele zu Mt 24,7890 legt es sich vielmehr nahe, Offb 8,7 auf eine Folge zunehmender Gerichte im Verlauf unser ganzen Menschengeschichte zu beziehen, die einmal in die letzten, schwersten Gerichte kurz vor der Neuschöpfung einmünden werden.891 Das zweite Posaunen-Gericht wird etwas länger beschrieben als das erste (V. 8-9). Die Einleitung entspricht der ersten Posaune: Und der zweite Engel blies seine Posaune (V. 8). Darauf wurde etwas wie ein großer brennender Berg ins Meer geworfen. Johannes sagt nicht: „ein brennender Berg“, sondern: etwas wie ein brennender Berg (ὡς ὄρος [hos oros] usw.). Schon diese Formulierung widerrät einer Deutung auf den Vesuv892 oder ähnlich engen Begrenzungen. Worum es sich handelt, kann nur vorsichtig aus den Folgen erschlossen werden: Und der dritte Teil des Meeres wurde zu Blut, und es starb der dritte Teil der lebendigen Geschöpfe im Meer, und der dritte der Schiffe wurde zerstört (V. 8-9). Wieder wird jeweils nur der dritte Teil (dreimal τὸ τρίτον [to triton]) in Mitleidenschaft gezogen. Auch diese Naturkatastrophe ist limitiert. Auch hier ist die Endzeit im engsten Sinne noch nicht angebrochen. Auffallenderweise wird als erste Folge des Sturzes des einem großen Berg Ähnlichen nicht eine Art Tsunami genannt, sondern eine TeilVerwandlung des Meeres in Blut. Die Verwandtschaft mit den ägyptischen Plagen ist erneut mit Händen zu greifen. Diesmal handelt es sich um die erste Plage, nämlich um die Verwandlung des Nils und der Gewässer in Blut (Ex 7,14ff). In Offb 16,3 begegnet uns noch einmal Ähnliches. Meer, das zu Blut wurde, lässt sich wirtschaftlich nicht mehr oder kaum mehr nutzen. Entspre885 886 887 888 889 890 891 892
S. 391ff. A.a.O. S. 390: „vergangene Tatsachen“. Luther a.a.O. Bengel S. 327ff. S. 341ff. Hartenstein S. 130. Darauf wies schon Vitringa S. 342 hin. Ebenso Zahn S. 389. Ählich Morris S. 123: „throughout the ages“. So Zahn S. 391ff. Vgl. Aune S. 519f.
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chend verliert der dritte Teil der lebendigen Geschöpfe im Meer seinen Lebensraum. Vgl. dazu den Tod der Fische in Nil Ex 7,18ff. Lebendige Geschöpfe umfasst jedoch mehr als nur die Fische. Auch die Meeres-Säuger, die Kleinstlebewesen usw. sind darin eingeschlossen. Dies alles starb. Erst jetzt kommt eine Aussage, die an einen Tsunami oder Ähnliches denken lässt: Und der dritte Teil der Schiffe wurde zerstört. Diese Aussage öffnet eine neue Verbindungslinie zu den Gerichten des Alten Testaments, nämlich zu den Gerichten über Tyrus und Sidon in Ez 26–28. Auf dem alttestamentlichen Hintergrund fließen also Ägypten und Tyrus ineinander. Sie werden auch später in der Offb wieder auftauchen (11,8; 18,9ff). Jetzt wird noch einmal deutlich, dass Offb 8,7ff vor allem die Welt und ihre Reiche betreffen und nicht in erster Linie die Gemeinde. Die Stichworte Schiffe, Ägypten und Tyrus erwecken erneut die Frage, ob die Auffassung von einer Naturkatastrophe den ganzen Inhalt von Offb 8,8f abdeckt. In Jer 51,25 ist Berg ein Bildwort für die Weltmacht Babel. Überhaupt erinnert Jer 51,25 MT stark an Offb 8,8.893 Hinzu kommt, dass auch Tyrus auf einem „Berg“ geschildert wird (Ez 28,14ff), von dem es aufgrund seiner Sünden herabgestürzt wird (ἐτραυματίσθης [etraumatisthes] – ἔρριψά σε [erripsa se] LXX). Trotz aller Unterschiede liegt die Prophetie von Offb 8,8 (ὡς ὄρος μέγα … ἐβλήθη [hos oros mega … eblethe]) nicht allzu weit von Ez 28,14ff; Jer 51,25 entfernt. Jedenfalls ist es hier wie dort der richtende Gott (Passiv ἐβλήθη [eblethe]!), der vor unsere Augen tritt. Im Endergebnis wird man zwar von einem schrecklichen Naturereignis auszugehen haben, aber für eine geistliche Deutung im Sinne des Sturzes eines bemerkenswerten Reiches oder einer imponierenden globalen Ideologie offenbleiben müssen. An geistlichen Deutungen in der Geschichte der Auslegung notieren wir: Luther erblickte in Offb 8,8f „Marcion mit seinen Kataphrygern, Manichäern, Montanisten etc., die ihre Geisterei rühmen über alle Schrift und fahren wie dieser brennende Berg zwischen Himmel und Erden, wie bei uns der Müntzer und die Schwärmer“.894 Bengel bezog Offb 8,8f auf die Goten und andere Völker der Völkerwanderung, die ins Römische Reich einfielen. Die Geschöpfe im Meer waren „allerley Menschen“, die Schiffe Staaten.895 Vitringa deutet den Berg unter Berufung auf Launaeus und Coccejus auf ein großes Reich oder Volk.896 Bengel folgte ihm darin.897 Schon Ticonius (gest. ca. 390 893 894 895 896 897
So schon Vitringa S. 347; Bengel S. 432. Luther a.a.O. Bengel S. 432f. Vitringa S. 346ff. A.a.O.
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n.Chr.) hat Offb 8,9 auf die civitas diaboli (Teufelsstaat) gedeutet.898 Solche geistlichen Deutungen setzen sich bis in unsere Tage fort,899 zum Teil mit Bezug auf konkrete Personen (Lenin) oder Ideologien (Marxismus, fanatisierter Islam, Nationalismus).900 Die breite Vielfalt der geistlichen Deutungen mahnt uns auch hier zur Vorsicht. Die Deutung auf realistische Vorgänge in Umwelt und Natur muss die grundlegende bleiben901. Das fordert auch der biblische Sprachgebrauch. Zeitlich sind diese Posaunen-Gerichte nach den Siegel-Gerichten anzusetzen.902 Eine Steigerung der Nöte ist unverkennbar. „Aber es ist noch nicht das Ende“ (Mt 24,6). Und der dritte Engel blies seine Posaune (V. 10). Die Geschehnisse, die dann folgen, erinnern in manchem an das zweite Posaunen-Gesicht (8,8f), zugleich aber an 9,1. Diese Wiederholung von Motiven macht klar, dass es gewissermaßen um ein wiederholtes Anklopfen Gottes bei der Menschheit geht, die zu Gott umkehren soll. Und es fiel (ἔπεσεν [epesen]) ein großer Stern aus dem Himmel, brennend wie eine Fackel: fiel erinnert an ἐβλήθη [eblethe] in V. 8. Groß (μέγας [megas]) ist wie in V. 8 nicht nur vom Umfang, sondern auch von der Wirkung ausgesagt. Aber nun ist es ein Stern, der herabkommt. Das Wörtchen „wie“ fehlt hier: Es ist ein wirklicher Stern, und es wird ausdrücklich bemerkt, dass er aus dem Himmel (ἐκ τοῦ οὐρανοῦ [ek tu uranu]) fiel. Brennend wie eine Fackel (καιόμενος ὡς λαμπάς [kaiomenos hos lampas]) erinnert wieder an den brennenden Berg (ὄρος πυρὶ καιόμενον [oros pyri kaiomenon]) in V. 8. Das dritte Posaunen-Gericht ist also so etwas wie eine „natürliche“ Fortsetzung des zweiten. Doch was ist der Stern? Notieren wir zuerst die einzelnen Wirkungen: Er fiel auf den dritten Teil der Flüsse und auf die Wasserquellen. Dieser dritte Teil der Wasser wurde zu Wermut (V. 11). Infolgedessen starben viele von den Menschen von den Wassern, weil sie bitter geworden waren (V. 11). Notieren wir sodann seinen Namen, der auffälligerweise genannt wird: Und der Name des Sterns heißt „Der Wermut“ (καὶ τὸ ὄνομα τοῦ ἀστέρος λέγεται ὁ Ἄψινθος [kai to onoma tu asteros legetai ho Apsinthos], V. 11). ἄψινθος [apsinthos] ist normalerweise Femininum. Aber als Name des (ὁ [ho]) ἀστήρ 898 Vgl. Maier Offb S. 115. 899 Dafür spricht auch das Material, das W. Foerster zur symbolisch-geistlichen Bedeutung des Berges in AT und NT gesammelt hat (Art. ὄρος, ThWNT, V, 1954, S. 480ff, 485f). 900 Vgl. Frey S. 99; Grünzweig S. 233f; Hartenstein S. 131; P. Müller S. 130. 901 Inwiefern aber auch eine naturbezogenen Deutung vorsichtig bleiben muss, sieht man an den Spekulationen über Johannes’ „Meeres“-Erlebnisse auf Patmos. Vgl. dazu Hemer S. 20.222. 902 Thiessen S. 115.
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[aster] ist es hier ein Masculinum.903 Auffallende Namen begegnen in der Offb öfters (vgl. 9,11; 12,7; 12,9; 13,17f), und es muss versucht werden, ihre Inhalte bzw. ihr „Programm“ festzuhalten. ἄψινθος [apsinthos]904 geht zurück auf hebr. [ ַלֲענ ָהlaanah], das im AT achtmal vorkommt.905 Generell haftet dem hebr. Wort „etwas Übles, Widerwärtiges, Negatives an“.906 Die griechische Bibel (LXX) übersetzt es auch mit „Bitterkeit“ (πικρία [pikria]), „Galle“ (χολή [chole]), „Kummer“ (ὀδύνη [odyne]) und „Nöte“ (ἀνάγκαι [anangkai]). Ein Bezug zu einer bestimmten Pflanze, Artemisia absinthium oder Artemisia herba alba oder Artemisia judaica, fällt schwer.907 Immerhin scheint es sich ursprünglich um eine Pflanze zu handeln. Meist verbindet sich [ ַלֲענ ָהlaanah] mit [ ֹראשׁrosch] = Gift oder Giftpflanze, „an einigen Stellen wird tödliche bzw. lebensgefährliche Wirkung erwartet“908 (so Dtn 29,17; Jer 9,14; 23,15; Klgl 3,19; Am 6,12). Aber auch in Prov 5,4; Klgl 3,15; Am 5,7 bedeutet der Vergleich mit Wermut bittere und schlimme Not. Wichtig ist ferner, dass „Wermut“ ([ ַלֲענ ָהlaanah], ἄψινθος [apsinthos]) von allem Anfang an als Bild und Metapher diente.909 Klar ist jetzt: Der Stern Wermut in Offb 8,10f bringt bittere Not, ja den Tod vieler Menschen. Klar ist ferner: Johannes greift hier auf die Begrifflichkeit des Alten Testaments zurück, evtl. auch in Verbindung mit der Exodus-Überlieferung in Ex 15,23. Doch ist damit das Geheimnis des Sterns noch nicht entschlüsselt. Handelt es sich auch hier um eine kosmische Katastrophe? Oder öffnet sich vom biblischen Sprachgebrauch her noch eine zweite Dimension? Zwar bleibt Werner Foerster hier skeptisch. Er sieht in Offb 8,10 „nur die Größe und Herkunft der schädlichen Wirkung bildlich angedeutet“.910 Aber „Stern“ bezeichnet im AT an einigen Stellen durchaus mächtige Herrscher oder Gestalten, so in Num 24,17; Jes 14,12; 24,21; Dan 8,10; 12,3. Überdies sind die „Sterne“ belebte Wesen (z.B. Ri 5,20; Hiob 25,5; Jes 40,26).911 Diesen Sprachgebrauch hat das NT übernommen (Lk 1,78; Mt 13,43; 24,29?), vor allem die Offb (1,16ff; 2,1; 3,1; 9,1; 22,16). Von da aus steht das Recht zu einer übertragenen, geistlichen Deutung grundsätzlich fest. Dementsprechend deutete Luther Offb 8,10f auf
903 904 905 906 907 908 909 910 911
Bauer-Aland Sp. 260; Blass-Debrunner § 49,1. Im NT nur hier. Vgl. hier und im Folgenden K. Seybold, Art. ענ ָה ֲ ַל, ThWAT, IV, 1984, Sp. 586ff. Seybold a.a.O. Sp. 587. Seybold a.a.O.; Zohary S. 184.186. Seybold a.a.O. Vgl. Zohary S. 186. Seybold Sp. 588. Art. ἀστήρ usw., ThWNT, I, 1933, S. 502. Foerster a.a.O. S. 501.
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Origenes, der „die Schrift verbittert und verderbet hat“,912 Bengel ebenfalls auf „einen Lehrer der Kirche“, und zwar Arius.913 Vor Bengel finden wir eine solche Deutung schon bei Vitringa.914 Später treffen wir geistliche Deutungen auf die Gottlosigkeit, auf gottwidrige Ideen, auf dämonische Mächte oder Engel und deren die Menschheit infizierende Erkenntnisse (Fackel).915 Die Tatsache, dass auch die frühe jüdische Theologie solche geistlichen Deutungen vornahm, z.B. ä Hen 18,3ff, spricht ebenfalls für eine solche Möglichkeit.916 Nun sind noch einige Einzelheiten zu klären. Aus dem Himmel (V. 10) hat doppelten Sinn: a) Sterne fallen für menschliches Wahrnehmen eben von oben, vom Himmel, und b) gerade dieser Stern von Offb 8,10f übt sein Gericht auf Gottes Weisung „aus dem Himmel“.917 Bei fiel darf man nicht fragen, ob er auf der Erde Platz hat oder wie es möglich ist, dass er nur auf den dritten Teil der Flüsse und auf die Wasserquellen fiel.918 Fiel hat hier den Sinn von „befallen“, „seine Wirkung ausüben auf“.919 Im dritten Teil der Flüsse drückt sich wieder eine gnädige Begrenzung des Schadens aus. Die Erwähnung der Wasserquellen (πηγαὶ τῶν ὑδάτων [pegai ton hydaton]) muss man wohl in diesem Zusammenhang so verstehen, wie es W. Michaelis tut: „Es ist gemeint, daß die Flüsse schon von ihren Quellen an bitter geworden waren.“920 Wenn der dritte Teil der Wasser (also der Flüsse und Quellen zusammen) zu Wermut wurde, so heißt das, dass ein Drittel des Süßwassers auf Erden bitter und giftig wurde. Und wenn viele von den Menschen von den Wassern starben, weil sie bitter geworden waren, dann setzt dies nicht unbedingt voraus, dass die Menschen solch bitteres Wasser tranken. Es könnte sehr gut „auch gemeint sein, dass die bitteren Gewässer die Luft verpesteten oder die Haut angriffen und so zu Krankheiten führten, an denen die Menschen starben“.921
912 913 914 915 916 917 918 919 920 921
Vorreden S. 184. Vgl. Hofmann S. 420f. Bengel S. 434ff. Vitringa S. 357. Vgl. Frey S. 100; Grünzweig S. 234; Hartenstein S. 131; P. Müller S. 30. Grünzweig deutet a.a.O. die Wasser auf die „geistigen Quellen der Menschen“, Frey a.a.O. auf die „geistigen Nährquellen“. Vgl. S. Uhlig, JSHRZ, V, 6, 1984, S. 550. Zu SibOr V, 158f vgl. Aune S. 520f. Hartenstein S. 131 deutet „vom Himmel“ auf „Hohe Geister aus der Umgebung Gottes“. Wie wir Schlatter S. 214. Vgl. Aune S. 521. Aune a.a.O. Art. πηγή, ThWNT, VI, 1959, S. 115. An die „Wasser unter der Erde“ zu denken gibt es keinen Grund (gegen K.H. Rengstorf, Art. ποταμός usw., a.a.O., S. 604). Michaelis a.a.O. S. 115,15; ders., Art. πικρός, a.a.O., S. 124; ähnlich P. Müller S. 30.
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Fazit: Der Fall des Sterns bedeutet zunächst eine kosmische Krise und Katastrophe.922 Die Schöpfung ist von den ersten Seiten der Bibel an in die Geschichte der Menschen einbezogen, erleidet das Gericht wegen der Sünde der Menschen und wird selbst zum Mittel des Gerichts an den Menschen. So auch hier in Offb 8,10f. Man darf dabei nicht den Fehler machen, nur an Vorgänge der Vergangenheit zu denken. Nein, Katastrophen dieser Art treten immer wieder in der Geschichte auf und steigern sich bis zu den unmittelbaren Endereignissen. Aber in Offb 8,10f sind wir noch nicht bei den unmittelbaren Endereignissen. Falsch wäre es auch, bei diesen kosmischen Gerichten zu sehr ins Detail zu gehen. Wohl kann Offb 8,10f eine globale radioaktive Verseuchung oder einen atomaren Krieg oder eine Zerstörung der Wasserqualität bedeuten, aber was es dann im Einzelfall sein wird, wissen wir nicht. Darüber hinaus kann Offb 8,10f eine zweite, geistliche Dimension enthalten.923 Unter diesem Gesichtspunkt kann der Stern sehr wohl den Einbruch einer verderblichen Geistesmacht bedeuten, die den Menschen Schaden und sogar geistlichen Tod bringt. Aber auch in dieser Hinsicht darf man nicht nur an Vergangenheit oder Gegenwart denken. Vielmehr werden solche Ereignisse auch in Zukunft zu erwarten sein. Die menschliche Geschichte ist in der Offb nicht eine ständige Höherentwicklung oder Weltverbesserung, sondern eine Geschichte wachsender Bedrohungen und Gottesferne. Nach Hagel, Berg und Stern erwartet man auch beim vierten Engel (V. 12), dass etwas auf die Erde herabstürzt. Dies geschieht jedoch nicht. Dafür sind die Auswirkungen der vierten Posaune viel universaler: Es wurde geschlagen (ἐπλήγη [eplege]) der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der dritte Teil der Sterne, sodass ihr dritter Teil verfinstert wurde und der Tag zu einem Drittel sein Licht verlor und ebenso die Nacht. Fünfmal taucht hier die Bestimmung τὸ τρίτον [to triton] („ein Drittel“) auf: ein Zeichen, dass Gottes Gnade immer noch das Schlimmste zurückhält. So entsteht eine merkwürdige Balance zwischen weltweitem Grauen und aufhaltender Gnade. Betroffen sind jetzt die Gestirne.924 Nach Art des AT werden sie in der Trias Sonne, Mond und Sterne genannt (vgl. Gen 1,16; Ps 136,8f; Offb 6,12f). Vgl. die Erklärung bei Offb 6,12f. Das Betroffensein wird
922 So deuten wohl die meisten modernen Ausleger. Vgl. Friedrich a.a.O.; Lang a.a.O.; L. Goppelt, Art. ὕδωρ, ThWNT, VIII, 1969, S. 324f; A. Oepke, Art. λάμπω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 27; Behm S. 50. 923 Wenn Friedrich a.a.O. in Offb 8,10 nur einen Angriff auf die Flüsse sieht, ist dies zu einseitig. 924 Friedrich a.a.O. S. 87.
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durch ἐπλήγη [eplege] = es wurde geschlagen ausgedrückt.925 Wie das geschieht, wird nicht gesagt. Es könnte in Form einer Klimakatastrophe, Umweltkatastrophe, eines atomaren Krieges oder von ganz anderen galaktischen Veränderungen erfolgen. Nur das Ergebnis wird gemeldet: Jeweils ihr dritter Teil wurde verfinstert (σκοτισθῇ [skotisthe]). Infolgedessen büßen der Tag (der vom Licht der Sonne lebt) und die Nacht (die vom Licht des Mondes und der Sterne lebt) je ein Drittel ihres Lichtes ein (μὴ φάνῃ [me phane]).926 Gelegentlich finden sich in der alttestamentlichen Prophetie ähnliche Ankündigungen (Joel 3,4; Am 8,9),927 aber nicht in dieser universalen Ausweitung. Hans Conzelmann hat sicher recht: In Offb 8,12 ist die Verfinsterung „real kosmisch gedacht“.928 Dahin deutet die Verwandtschaft mit der alttestamentlichen Prophetie. Dahin deutet aber auch eine gewisse Parallelität mit der neunten ägyptischen Plage (Ex 10,21ff).929 Seltsamerweise werden in Offb 8,12 keine Auswirkungen auf die Erde geschildert. Aber nun erhebt sich die Frage: Wie ist das Verhältnis von Offb 8,12 zu 6,12f? Wenn die Posaunen-Gerichte den Siegel-Gerichten folgen, dann beschreibt Offb 8,12 ein Geschehen, das dem in 6,12f Geschilderten folgt. Wer geistlich-weltgeschichtlich deutet, kann dieses Nacheinander ohne Weiteres nachvollziehen. So deutet Bengel Offb 6,12ff auf die Zeit von Herodes, Pilatus und Trajan,930 dagegen Offb 8,12 auf die Teilung des Römischen Reiches und den Untergang Westroms.931 Man kann in Offb 8,12 aber auch ein Wiederholung von Offb 6,12f sehen. Da wir in unserem Kommentar grundsätzlich von einem Nacheinander ausgehen, beschreibt Offb 8,12 nach unserem Verständnis eine neue Welle von Not und göttlichen Wunderzeichen, die zur Buße führen sollen. Dass das Ausmaß der Katastrophe in 8,12 geringer ist als in 6,12f, stellt dieses Nacheinander nicht in Frage. Wir haben ja schon früher bemerkt, dass die Offb keine einlinige Katastrophentheorie nach dem Motto: „Alles wird nur immer schlimmer“ vertritt. Dagegen nehmen wir wahr, dass typische Geschehnisse, Motive und dergleichen sich öfters wiederholen, wie es ja auch dem Verlauf der realen Geschichte entspricht. So auch im Verhältnis Offb 8,12 zu 6,12f.
925 Neutestamentliches Hapaxlegomenon. 926 Vgl. Blass-Debrunner § 72,1; Bauer-Aland Sp. 1352. Falsch Lohmeyer 3: „zu einem Drittel lichtlos“. 927 Vgl. Brütsch S. 359f. 928 Art. σκότος usw., ThWNT, VII, 1964, S. 440. 929 Conzelmann a.a.O. S. 441, 151. 930 Bengel S. 375f. 931 Bengel S. 437ff.
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Für unsere Deutung bleiben wir dabei, dass wir mit Offb 8,12 noch nicht am Ende der Geschichte stehen, „noch nicht Endbestrafung“ sich ereignet,932 sondern der Lauf der Geschichte gemäß Mt 24,6 vorerst weitergeht. Allerdings rückt das Eschaton näher (vgl. Röm 13,11). Ferner sehen wir in Offb 8,12 in erster Linie ein kosmisch-reales Ereignis.933 Wertvoll ist der Hinweis von Bengel, dass hier nicht alles auf einen Schlag erfolgen muss, „sondern“ eventuell „nach und nach eintritt“,934 was in Offb 8,12 verkündigt wird. Dagegen bleibt die übertragene Deutung, die Sonne, Mond und Sterne auf die Menschen des ganzen Weltkreises935 oder noch spezieller auf geistige Größen936 bzw. auf das Evangelium, die Religionen der Völker und die Engel937 deuten will, ohne genügende Präzision und Überzeugungskraft. Beim Wehe-Ruf des Adlers in V. 13 ist zunächst zu klären, wie er in das Ganze von Offb 8,6–9,21 eingeordnet werden muss. Aune beispielsweise zieht V. 13 als „Introduction“ zu dem Unterabschnitt 8,13–9,21.938 Morris sieht den Vers als „Zwischenspiel“ („interlude“), das weder zur vierten noch zur fünften Posaune gehört.939 Zahn betrachtet V. 13 als Schlussvers der „4 ersten Trompetensignale c. 8,6-13“.940 Für Bengel wiederum gehören die drei Wehe zu den Hauptstrukturen der Offb.941 Wir gehen davon aus, dass V. 13 zwischen der Posaune des vierten Engels in 8,12 und der Posaune des fünften Engels in 9,1 seinen Platz hat und schon deshalb als Folge der vierten Posaune erscheint. Daran ändert auch die Einleitung des Verses durch καὶ εἶδον [kai eidon] und ἤκουσα [ekusa] nichts Wesentliches. Denn das dreifache „Wehe“ des Adlers wird explizit auf die drei folgenden Posaunen bezogen und auf diese Weise unmissverständlich in die Abfolge der Posaunen eingeordnet. Im Endergebnis betrachten wir deshalb Offb 8,13 als Konsequenz der vierten Posaune.942 Dies allerdings mit der Besonderheit, dass Offb 8,13 als „eine
932 Richtig Friedrich S. 87. 933 Wie Lohmeyer 3 S. 77: Die ersten vier Plagen gelten „vor allem der Natur“; ebenso J.M. Hahn S. 246: „außerordentliche Naturbegebenheiten“. 934 Bengel S. 438. 935 So Bengel S. 438f. 936 So P. Müller S. 30; Frey S. 100f; Grünzweig S. 235. 937 So Hartenstein S. 132. Luther Vorreden S. 184 deutete Offb 8,12 auf Novatus, die Katharer und Donatisten. 938 Aune S. 492. Ähnlich Behm S. 50; Pohl II S. 31; Caird S. 116. 939 Morris S. 125. 940 Zahn S. 388f. 941 Vgl. Bengels Einleitung § 9.10.23.31.37.38. 942 Ebenso J.M. Hahn S. 245.
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scharfe Grenzlinie“943 die ersten vier Posaunen von den nachfolgenden drei Posaunen scheidet und abhebt. Was ist nun der Inhalt von Vers 13? Und ich sah, berichtet Johannes, und ich hörte: Beides trifft zu. Er sah den Flug und hörte die Stimme des Adֶ ֶ [ נnescher], hat es in der lers.944 Mit dem Adler, griech. ἀετός [aetos], hebr. שׁר ֶ ֶ [ נnescher] bebiblischen Tradition eine besondere Bewandtnis. Das hebr. שׁר zeichnet sowohl den Adler als auch den Geier, vor allem den Gänsegeier „mit fast 3 m Flügelspannweite und fahlbraunem Gefieder“.945 Dass auch im NT neben dem Adler ἀετός [aetos] den Geier bezeichnen kann, geht aus Mt 24,28; Lk 17,37 hervor. In beiden Bedeutungen genießt dieser „Adler“ aber hohen Respekt. Schon im AT ist er „seiner Schnelligkeit … wegen berühmt“ (vgl. 2Sam 1,23; Hiob 9,26; Jer 4,19; Klgl 4,19; Hos 8,1; Hab 1,8), ebenso wegen „seiner extraordinären Flugfähigkeit“946 (vgl. Ez 17,3.7; Dan 7,4). Er dient als Symbol für Könige (Ez 17,3.7). Der Adler kann seine Kraft erneuern (Ps 103,5; Jes 40,31). Er erscheint als eines der vier Gesichter der Cherubim (Ez 1,10; 10,14). Vor allem aber ist der Adler ein „Symbol der kraftvollen und sorgsamen Aktivität Gottes“,947 der sein Volk bei der Befreiung aus Ägypten wie „auf Adlerflügeln getragen“ hat (Ex 19,4; Dtn 32,11).948 Obwohl der Adler nach Lev 11,13; Dtn 14,12 nicht gegessen werden darf, kommt ihm so doch eine hohe Würde zu. Das alles ist bei der Auslegung von Offb 8,13 zu berücksichtigen. Der Adler ist offensichtlich ein hochrangiger Bote Gottes, ja, wie der Vergleich mit Offb 14,6 (πετόμενον ἐν μεσουρανήματι [petomenon en mesuranemati]) bestätigt, ein bevollmächtigter Engel Gottes.949 Er flog im Zenit950 des Himmels, das heißt, im höchsten Scheitelpunkt des Himmels. Wir werden hier an Prov 23,5; 30,19 erinnert, wonach „der Weg des Adlers am Himmel“ „sprichwörtlich wundersam“ ist.951 Zugleich aber bedeutet der Flug am hohen Himmel die Nähe zu Gott.952 Ob ein (ἑνός [henos]) vor „Adler“ nur den unbe-
943 Zahn S. 389. 944 Bengel S. 441. Die Änderung von „Adler“ zu „Engel“ in manchen Handschriften ist unberechtigt, vgl. Lohmeyer 3 S. 77; Morris S. 125. 945 T. Kronholm Art. שׁר ֶ ֶ נ, ThWAT, V, 1986, Sp. 683. Vgl. den ganzen Artikel Sp. 680ff. 946 Kronholm a.a.O. Sp. 682. 947 Kronholm a.a.O. Sp. 687. 948 Vgl. Kronholm a.a.O. 949 Lohmeyer 3 S. 77; P. Müller S. 30. Anders Grünzweig S. 236: „wohl … eine dämonische Gestalt“. Anders auch Schlatter S. 215: ein irdisches Geschöpf. 950 Zu μεσουράνημα [mesuranema] vgl. Blass-Debrunner § 109,2. 951 Kronholm a.a.O. Sp. 682.688. 952 Vgl. H. Traub, ThWNT, V, 1954, Art. οὐρανός usw., S. 534.
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stimmten Artikel τις [tis] ersetzt, wohin Blass-Debrunner § 247,5 tendieren, oder doch den Sinn von „ein bestimmter“ Adler hat, muss offenbleiben.953 Dagegen wiederholt sich ἀετὸς πετόμενος [aetos petomenos] in Offb 4,7 und bringt damit den hohen, fast den Cherubim bzw. „Wesen“ verwandten954 Rang des Adler-Engels zum Ausdruck. Schließlich bekräftigt auch seine laute Stimme diesen Rang (vgl. Offb 1,10; 4,1; 5,2.12; 6,1; 7,2). Seine Botschaft ist ein dreifaches Wehe (οὐαί [uai]). Es gilt denen, die auf Erden wohnen (κατοικοῦντες ἐπὶ τῆς γῆς [katoikuntes epi tes ges]), das heißt, der gesamten Menschheit955 (vgl. 3,10; 6,10; 11,10; Jes 24,27; 26,21).956 Das griechische οὐαί [uai] ist ein Semitismus, nämlich „Transkription von הוֹי, אוֹי im prophetischen Stil“.957 Nach den Ausführungen von H.-J. Zobel958 ist in Offb 8,13 eher [ אוֹיoj] als Hintergrund zu denken. Dieses [ אוֹיoj] macht dem Adressaten – in unserm Falle den Erdbewohnern – deutlich, dass ihnen „Untergang, Tod Verderben bevorstehen“.959 Zobel klassifiziert die hebräischen [אוֹיoj]-Worte als „Angstruf“ und „Drohruf“.960 Letzteres gilt sicher auch für Offb 8,13. Jedoch kann dieses Drohwort im Zusammenhang des Neuen Testaments nicht als unbarmherzig-kalte Botschaft verstanden werden. Es ist immer noch der gnädige und barmherzige Gott, der zu diesem Erziehungsmittel greift. Deshalb hat Johann Michael Hahn etwas Richtiges erfasst, wenn er den Adler „aus tiefem Mitleiden über die Erdenbewohner“ sprechen lässt.961 Das „Wehe“ hat einen ganz bestimmten Grund. Es erfolgt nämlich wegen der übrigen962 Posaunenstöße der drei Engel, die noch posaunen sollen. ἐκ [ek] heißt hier „infolge“ und hat kausative, begründende Bedeutung.963 In der Tat kommen noch drei Engel mit ihren Posaunen (9,1; 9,13; 11,15). Diese also sindʼs, die das dreifache Wehe auslösen.964 Man kann daraus schon den Schluss ziehen, dass die drei letzten Posaunen-Gerichte schlimmer sein wer-
953 Vgl. Morris S. 125. 954 Hemer reduziert auf „the enemies of the church“ (S. 164) und verengt damit die Aussage. 955 Dies bemerkt auch J.M. Hahn S. 246. 956 Zur Konstruktion vgl. Blass-Debrunner § 190,2. 957 Blass-Debrunner § 4,6. 958 Art. הוֹי, ThWAT, II, 1977, Sp. 382ff. 959 Zobel a.a.O. Sp. 384. 960 A.a.O. 961 J.M. Hahn S. 245. 962 λοιπαί [loipai] hat in Offb 8,13, wie Hemer S, 144 richtig bemerkt, den Sinn von reliqua, nicht von cetera. 963 Vgl. Blass-Debrunner § 212. 964 Schon Luther Vorreden S. 184 hob dies hervor.
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den als die ersten vier.965 Außerdem gliedert die Botschaft des Adlers die gesamten sieben Posaunen in zwei Gruppen: a) die ersten vier (8,6-13), b) die letzten drei (9,1–11,19).966 Und der fünfte Engel blies seine Posaune (9,1): Das fünfte PosaunenGericht beginnt ganz wie die ersten vier. Und ich sah eine Stern, der aus dem Himmel auf die Erde gefallen war: Auch dies erscheint wie eine Doublette zur dritten Posaune in 8,10. Selbst die Worte aus dem Himmel wiederholen sich hier. Das ist sicher kein „Zufall“. Vielmehr sollen die wiederholten Motive auf das mehrfache Anklopfen Gottes hindeuten, auf seine „Langmut“, die „zur Buße leitet“ (Röm 2,4). Eine scheinbare Nebenbemerkung lässt jedoch schon die Verschärfung der Situation von Offb 9,1ff gegenüber 8,10f erkennen. Denn in 9,1 steht ausdrücklich auf die Erde, was mehr ist als nur der dritte Teil der Flüsse und die Wasserquellen in 8,10. Das Folgende setzt sich noch stärker von 8,10f ab. Dem Stern wurde nämlich ein Schlüssel gegeben, und zwar der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds (καὶ ἐδόθη αὐτῷ ἡ κλεὶς τοῦ φρέατος τῆς ἀβύσσου [kai edothe auto he kleis tu phreatos tes abyssu]). ἐδόθη [edothe] zeigt, dass dies letztlich auf Weisung Gottes geschah. Keinen Augenblick lässt sich Gott die Lenkung der Geschichte aus der Hand nehmen. Sofort ist auch klar, dass dieser Stern eine Person sein muss. Öfters hatten wir schon Anlass, darauf hinzuweisen, dass „Sterne“ in der Sprache der Bibel mächtige Gestalten, u.a. Engel, bedeuten können (vgl. Num 24,17; Jes 14,12; 40,26; Dan 8,10; Offb 1,16.20)967. Nach dem Kontext handelt es sich auch in Offb 9,1 um einen Engel. Was ist es für ein Engel? Wenn er aus dem Himmel auf die Erde gefallen war (es heißt nicht: „gesandt war“), dann kann es sich nur um einen abgefallenen, eine bösen Engel handeln. Diese Deutung wird durch Offb 8,10; 12,9ff bestätigt.968 Gott räumt also dem Bösen einen Wirkungsbereich und einen abgemessenen Zeitraum ein. Gerade dies kommt auch im Bildwort vom Schlüssel zum Ausdruck. Denn der Schlüssel versinnbildlicht die Vollmacht, die Verfügungsgewalt.969 Ursprünglich besitzt nur Gott diesen Schlüssel (vgl. Gebet Manasses 965 J.M. Hahn S. 246; Morris S. 125; Behm S. 50; Schlatter S. 214: schon Luther a.a.O. 966 Bengel deutet den Adler von Offb auf die zahlreichen Offb-Kommentare, die um 500 n. Chr. erschienen: Andreas Caesariensis, Primasius, Apringius, Cassiodorius (S. 442). 967 Bei W. Foerster, Art. ἀστήρ usw., ThWNT, I, 1933, S. 501f leider nur knapp angesprochen. 968 Vgl. Foerster a.a.O. S. 502; W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 163; Lohmeyer 3 S. 78. Anders Bengel S. 446: „ein heiliger Engel“; Bousset S. 298. Für Brütsch S. 366 symbolisiert der Engel „die Menschensünde“. Morris S. 127 unentschieden. 969 Vgl. J. Jeremias, Art. κλείς, ThWNT, III, 1938, S. 745.
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3), kann ihn aber geben, wem er will.970 Den Brunnen des Abgrunds (τὸ φρέας τῆς ἀβύσσου [to phreas tes abyssu]) erklärt Joachim Jeremias als „Geistergefängnis“, das „als brunnenartiger Schacht“ vorgestellt wird.971 φρέαρ [phrear] ist der künstlich gegrabene Brunnen oder Schacht (vgl. Joh 4,11.12; Lk 14,5). In der ἄβυσσος [abyssos] hausen die Dämonen (Lk 8,31), der Teufel (Offb 20,1ff), das Tier von Offb 11,7 und 17,8 und auch Tote (Röm 10,7). Da die griechische Bibel (LXX) das Wort ἄβυσσος [abyssos] (Abgrund) „fast durchgängig“ als Übersetzung für das hebräische [ ְתּהוֹםtehom] benutzt,972 nimmt man an, dass dieses hebräische Wort hinter dem „Abgrund“ steht.973 Aber [ ְתּהוֹםtehom] bezeichnet eigentlich die „Tiefe“ oder „Urflut“ und ist häufig ein positiver Begriff.974 Gelegentlich allerdings repräsentiert die Tiefe „die Sphäre des Todes“.975 Nach C. Westermann hat aber [ ְתּהוֹםtehom] „im AT nicht die Bedeutung einer widergöttlichen Macht, … es wird nicht personifiziert und hat keine mythische Funktion“.976 Erst „Im Spätjudentum und im NT verlagert sich die Bedeutung von tehom und ἄβυσσος auf die Erdentiefe als Geistergefängnis und als Totenwelt“.977 Dem Bedeutungsgehalt von Abgrund / ἄβυσσος [abyssos] scheint im Hebräischen viel besser die ְ [scheol]) zu entsprechen.978 Vor allem auch deshalb, weil sie Scheol (שׁאוֹל nahe an dem Begriff „Abaddon“ steht, der jetzt in Offb 9,11 auftaucht, ja sogar durch diesen Begriff ersetzt werden kann.979 Insgesamt bleibt für uns der Begriff „Abgrund“ (ἄβυσσος [abyssos]) in der Offb geheimnisvoll. Man kann nur vermuten, dass dieser Sprachgebrauch des Johannes auf Jesus (Lk 8,31) zurückgeht. So viel aber ist klar: Der gefallene Engel (Stern) von Offb 9,1 bekommt von Gott die Befugnis, den Raum der dämonischen Geister in der Tiefe zu öffnen und damit eine schlimme Plage herbeizuführen. Der Engel handelt, wie er soll: Und er öffnete den Brunnen des Abgrunds (9,2). Wie beim Öffnen der Siegel (6,1ff) geht es nicht ohne göttliche Vollmacht. Das ist ein Trost für uns. Schon das „Öffnen“ aber wird schmerzlich für die Menschen: Und Rauch stieg auf aus dem Brunnen wie Rauch 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979
Jeremias a.a.O. A.a.O. Vgl. J. Jeremias, Art. ἄβυσσος, ThWNT, I, 1933, S. 9. E.-J. Waschke, Art. תּהוֹם ְ , ThWAT, VIII, 1995, Sp. 571. So auch Jeremias a.a.O. ; Schlatter BFchTh S. 85; Bousset S. 298. Waschke a.a.O. Sp. 563ff; C. Westermann, Art. תּהוֹם ְ , THAT, II, 1984, Sp. 1026ff. Waschke a.a.O. Sp. 570 nach H.-J. Kraus A.a.O. Sp. 1031. Westermann a.a.O. Vgl. L. Wächter, Art. שׁאוֹל ְ , ThWAT, VII, 1993, Sp. 901ff. Wächter a.a.O. Sp. 906.
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von einem großen Ofen. Anders als der Rauch von 8,4 oder Ex 19,18 ist es kein wohlriechender, zum Gottesdienst gehörender Rauch, sondern der üble Rauch des Gerichts wie bei Sodom und Gomorra (Gen 19,28; vgl. Jes 34,10).980 Infolgedessen wurde die Sonne und die Luft981 durch den Rauch des Brunnens verfinstert. Die Katastrophe geschieht also mitten am (jetzt verfinsterten!) Tag. Die Parallele zu Joel 2,10; 3,3 liegt auf der Hand.982 Bald wird auch die Parallele zu den ägyptischen Plagen (Ex 10,1ff) deutlich werden.983 Übrigens erinnert der Rauch an die Verfinsterung der Sonne und des Landes durch die riesigen Heuschreckenschwärme, wie sie in Joel 2,10 vorausgesagt und jetzt in Offb 9,3ff beschrieben ist.984 Wir beobachten, dass Offb 9,1f in der Exegese der alten Kirche intensiv bedacht wurde. Um 200 n.Chr. beschäftigte sich Gaius von Rom, der Kerinth als den Verfasser der Offb betrachtete, mit unserer Stelle.985 Ca. 385 n.Chr. deutete Ticonius den Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds auf die falsa dogmata des Teufels986. Augustin sah im „Abgrund“ die Menge der Gottlosen987. Im Gefolge der joachimistischen Eschatologie erblickten manche Täufer in den Heuschrecken von Offb 9 das Heer der Türken.988 Luther deutete den Stern von Offb 9,1 zuerst auf Thomas von Aquin, dann auf Arius und seine Anhänger.989 Vitringa dagegen glaubte, dass Offb 9,1ff den Einfall der Goten im Römischen Reich und in Rom prophezeie990. Für Bengel wiederum waren die Heuschrecken von Offb 9,1ff die Perser, die im 6. Jh. n.Chr. die Juden drangsalierten.991 Wettstein sah in Offb 9,1ff eine Prophezeiung auf den Jüdisch-Römischen Krieg von 66–73 n.Chr.992 Unsere Aufgabe bleibt es, auch hier sorgfältig dem Text zu folgen und nüchtern zu prüfen. Als Nächstes notiert Johannes: Und aus dem Rauch kamen heraus Heuschrecken auf die Erde (V. 4). Also nicht der Rauch verwandelt sich. Viel980 Bengel S. 449 deutet den Rauch auf die heidnische Lehre der Perser. 981 Die „Luft“ (ὁ ἀήρ [ho aer]) ist hier nicht das Dämonenreich, sondern die schöpfungsmäßige Lufthülle um die Erde. Vgl. W. Foerster, Art. ἀήρ, ThWNT, I, 1933, S. 165. 982 Schlatter BFchTh S. 85; Caird S. 119; Lohmeyer 3 S. 77. H. Conzelmann in ThWNT, VII, 1964, S. 441: „Vorstellung vom Höllenfeuer“; Bousset S. 298. 983 Schlatter und Lohmeyer a.a.O. 984 Vgl. Caird S. 119; Aune S. 527. 985 Vgl. Maier Offb S. 75. 986 A.a.O. S. 115.125. 987 DCD XX, 7. Vgl. Maier Offb S. 165. 988 Maier Offb S. 225f. 989 A.a.O. S. 295f; Vorreden a.a.O. 990 Vitringa S. 390ff. 991 Bengel S. 449ff. 992 Wettstein S. 781.
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mehr kommen die Heuschrecken aus ihm heraus wie aus einer Wolke.993 Sie kamen auf die Erde, waren aber nicht „von der Erde“. Damit ist sofort eines klar: Johann Jakob Wettstein behält recht, wenn er schreibt: „Non erant autem locustae verae“ („es waren aber keine wirklichen Heuschrecken“).994 Heuschrecken bestimmen mit die Geschichte des Orients. Allein das Handwörterbuch von Gesenius-Buhl führt 11 verschiedene hebräische Begriffe für die Heuschrecken auf: ein Zeichen ihrer Bedeutung. Man sehe sich nur Lev 11,22 an, um einen Eindruck von dieser Vielfalt zu bekommen. Dabei ist der Begriff „Heuschrecke“ nicht ohne Weiteres negativ. Vielmehr listet Lev 11,22 nicht weniger als vier Arten auf, die rein und essbar sind. Auch im NT legt Mt 3,4 davon ein positives Zeugnis ab. Andererseits machte der Orient verheerende Erfahrungen mit den Zügen der Wanderheuschrecken. Sie reichen bis in die moderne Zeit. 1889 soll ein Schwarm Wanderheuschrecken das Rote Meer überquert haben, wobei er eine Fläche von 5 000 Quadratkilometern bedeckte.995 Sie fraßen ganze Landstriche kahl. Daraus resultiert die negative Seite des Bildes von der „Heuschrecke“. Heuschrecken gehören zu den ägyptischen Plagen (Ex 10,1ff). Da schon mehrfach Parallelen zwischen Offb 8,6ff und den ägyptischen Plagen zu beobachten waren (vgl. Offb 8,7.8.12), liegt wohl auch hier in Offb 9,3 eine bewusste Erinnerung an die ägyptischen Plagen vor (vgl. Sap Sal 16,9). Fortan waren die Heuschrecken ein Symbol für die unzählige Schar der Feinde (Ri 6,5; 7,12; Jer 46,22f; 51,27; Judit 2,11) und für Verderben (Jes 33,4; Dtn 28,38).996 Aber sie wurden spätestens im 8. Jh. v.Chr. auch zu Symbolen der Gerichte Gottes (Joel 1,4; 2,1ff; Am 7,1). Wir erkennen jetzt den Ton, den die Aussage in Offb 9,3 hat: Mächte aus dem Abgrund werden zu Gottes Gerichts-Werkzeugen an einer gottfeindlichen Menschheit. Der Vers vergleicht die Macht (ἐξουσία [exusia]), die ihnen von Gott gegeben wurde, mit der Macht der Skorpione der Erde. Die Erde ist hier vermutlich pointierter Gegensatz zum Abgrund, aus dem die Heuschrecken stammen.997 Wir sollen uns also die Skorpione des Orients als Anschauungsbeispiele nehmen. Auch davon gibt es verschiedene Arten. „Die größte in Palästina vorkommende Art kann bis zu 15 cm lang werden“.998 993 994 995 996
Bousset S. 299. Wettstein S. 782. Vgl. Zahn S. 397. G.S. Cansdale / M. Schütz-Schuffert, GBL, 3, S. 1567. Der sprichwörtliche Gebrauch auch bei Josephus, worauf Wettstein S. 781f aufmerksam macht. 997 Bousset S. 299; Zahn S. 397. 998 Cansdale/Schütz-Schuffert S. 1568.
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Gerade das Gift der in Palästina vorkommenden Arten verursacht Qualen, ist aber für Erwachsene in der Regel nicht lebensgefährlich.999 „Charakteristisch ist der Schwanz mit dem Stachel, mit dessen Gift der Skorpion seine Beute lähmt.“1000 Auch der Skorpion wurde zum Symbol der Schädlichkeit und der Züchtigung bzw. des Gerichts (vgl. 1Kön 12,11; Ez 2,6; Sir 39,36; 1Makk 6,51)1001. In diesem Sinne hat auch Jesus von ihm gesprochen (Lk 10,19; 11,12). Übrigens nannte man in der Sprache des Militärs den vergifteten Pfeil ebenfalls „Skorpion“.1002 Die Macht, von der in Offb 9,3 die Rede ist, meint gleichzeitig die Erlaubnis, die Vollmacht und die tatsächliche Fähigkeit, aber alles nur in den Grenzen, die Gott zieht.1003 Jetzt erkennen wir den Inhalt von Offb 9,3 deutlich: Die Mächte aus dem Abgrund sind ein Teil des Gerichtes Gottes im Verlauf der Geschichte. Sie quälen die Menschen, aber sie töten sie nicht (vgl. V. 5). Noch ist keineswegs das Ende da (vgl. Mt 24,6).1004 Alles, was geschieht, soll die Menschen wieder zurück zu Gott bringen. Nur eine Frage ist offengeblieben: Was sind diese Mächte, diese Heuschrecken eigentlich? Haben wir es mit einer Steigerung menschlicher Nöte ins „Phantastisch-Großartige“ zu tun?1005 Geht es um eine militärische Invasion?1006 Sind es die Verwüster des Evangeliums, die alle Katheder und Regierungssitze besetzen, wie es Luther 1521 annahm?1007 Wir haben oben schon verschiedene Deutungen aus der Kirchengeschichte erwähnt. In den letzten Jahrzehnten gab es, analog den Verwendungen der Begriffe „Heuschrecken“ und „Skorpione“, erneut eine große Bandbreite von Deutungen, von militärischen Vorgängen über den Zeitgeist, die zunehmende Orientierungslosigkeit und Gottentfremdung bis hin zu „bezaubernden“ „Ideen“ der Macht und Größe, des Sinnengenusses und der Verführung. Was mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, ist dies: 1) Es handelt sich um dämonische Mächte, 2) sie sind und bleiben aber Werkzeuge in Gottes Hand, 3) die Menschen, auch die gottlosen, empfinden sie als qualvolle Aggression 999 1000 1001 1002 1003 1004
A.a.O. A.a.O. Auch bei den Griechen, vgl. Bauer-Aland Sp. 1512. Wettstein S. 783. Vgl. W. Foerster, Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, S. 564. Friedrich a.a.O. S. 87; Lohmeyer 3 S. 76; Pohl II S. 34. Anders Frey S. 102: „der letzte Akt des Endes“. 1005 Lohmeyer 3 S. 77. 1006 Wettstein S. 784: „Non erant locustae, sed milites“. Modern etwa die Neue Jerusalemer Bibel S. 1794: „wahrscheinlich die Parther“. 1007 Vgl. Maier Offb S. 295.
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und keineswegs als helfende, tröstliche Mächte, 4) die Not der Menschen ist ganzheitlich, also leiblich wie geistig und geistlich, 5) es geht nicht nur um Ereignisse der Vergangenheit, sondern auch um Ereignisse der Zukunft, 6) das Ende steht noch aus. Genauere Festlegungen sind aber weder empfehlenswert noch nötig.1008 Die Verse V. 4 und 5 schildern den Auftrag der Heuschrecken. Es wurde ihnen gesagt (ἐρρέθη αὐταῖς [errethe autais]), heißt es hier. Dasselbe ἐρρέθη [errethe] kennen wir aus der Bergpredigt (Mt 5,21ff). Kein Zweifel, wer das Subjekt ist: Gott (Passivum divinum!). Er lässt seinen Auftrag und Befehl sehr wahrscheinlich wie in 7,2 durch einen seiner Engel übermitteln. Als Auftrag an die Heuschrecken klingt V. 4 überraschend: dass sie keinen Schaden tun sollten dem Gras auf Erden noch irgendwelchem Grün noch irgendeinem Baum. Aber Gras, Grün und Baum sind doch ihre Speise! Vgl. Ex 10,15; Dtn 28,38. Hier bestätigt sich jedoch, dass es keine wirklichen Heuschrecken sind.1009 Im Übrigen erinnert Offb 9,4 in der Formulierung an 7,3.1010 Schaden tun sollen sie einzig und allein denjenigen Menschen, die das Siegel Gottes nicht an ihren Stirnen haben. Das ist ein klarer Rückbezug auf Offb 7,3ff und Ez 9,4ff.1011 Wir haben es also auch an dieser Stelle mit geistlichen Vorgängen zu tun. Denn die „Siegel“ von Offb 7,3ff sind unsichtbar. Wie aber sollen wir uns vorstellen, dass die wahren Gläubigen von diesen Heuschrecken verschont bleiben? Eine erste Antwort gibt uns die Geschichte der ägyptischen Plagen im Exodus-Buch. Dort werden Israel bzw. Goschen ausdrücklich von der 4., 5., 7., 9. und 10. Plage ausgenommen (Ex 8,18ff; 9,4; 9,26; 10,23; 11–12). Analog dazu werden also die versiegelten Gläubigen ebenfalls beim fünften Posaunen-Gericht verschont. Eine zweite Antwort liegt im Wesen der Heuschrecken, die ja dämonische Mächte darstellen: Gott gibt seine Gemeinde nicht den Dämonen preis. Die aber das Siegel Gottes nicht an ihren Stirnen haben, verfallen sichtbar oder subtil diesen dämonischen Mächten. Es bleibt jedoch ein Rest von Geheimnis über 9,4. Denn als Christen leben wir ja mitten in der Welt (Joh 17,15), wir sind ihr nicht entnommen, leiden mit ihr, üben Liebe und können von den 1008 Vgl. Hartenstein S. 133ff; P. Müller S. 31; Frey a.a.O.; Grünzweig S. 237ff; J.M. Hahn S. 247; Lohmeyer 3 S. 77f; Friedrich a.a.O. S. 87; Bousset S. 299; Behm S. 51; Aune S. 527; Philberth S. 183ff; Limbach S. 30; Römer S. 96ff; Lawton S. 68f. Interessanterweise spricht man jetzt wieder von „Heuschrecken“ bei der Aktienübernahme an den Börsen. 1009 Wettstein S. 782. Frey deutet S. 102 allegorisch: Gras und Bäume sind gläubige Menschen, früher schon Bengel S. 452. 1010 Aune S. 529 geht zu weit, wenn er von „doublets“ spricht. 1011 Bousset S. 299; Lohse S. 59; Morris S. 129.
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Konsequenzen der Heuschrecken nicht einfach ausgenommen bleiben. Joh 17,15 ist direkt ein Kommentar auch zu Offb 9,4. Deshalb ist der Sinn von Offb 9,4 wohl der: Nicht die Gemeinde ist das Ziel dieser Angriffe – wie z.B. bei den Christenverfolgungen1012 –, die Gemeinde wird vielmehr als Wunder Gottes hindurchgetragen, aber sie bekommt doch manches mit zu spüren. Manche Autoren sehen in Offb 9,4 einen Widerspruch zu Offb 8,7, wo „alles grüne Gras verbrannt wurde“.1013 Handelt es sich aber – wie wir in diesem Kommentar annehmen – um ein Nacheinander wiederholter Ereignisse in der Weltgeschichte, dann gibt es diesen Widerspruch nicht.1014 Denn nach den Vorgängen von Offb 8,7 erneuert sich ja das Gras wieder mit dem Fortgang der Geschichte. An der Spitze von 9,5 steht ein neues ἐδόθη [edothe] (es wurde ihnen1015 Macht gegeben). Dreimal begegnete uns dieses ἐδόθη [edothe] schon in 9,1-5 (V. 1.3.5), dazu hin ἐρρέθη [errethe] in V. 5. Es ist, als wolle uns Johannes einprägen: Keinen Millimeter können diese Mächte die gottgezogene Grenze überschreiten. Jeder Vorgang in der Offenbarung bleibt völlig abhängig von Gott, dem Schöpfer und dem Pantokrator. Also Vollmacht und Möglichkeit (ἐξουσία [exusia], V. 3) haben die Heuschrecken nur, um zu quälen (βασανίζειν [basanizein]), nicht aber, um zu töten (μὴ ἀποκτείνωσιν [me apokteinosin]). Auch darin zeigt sich die Begrenzung, die Gottes bewahrende Gnade vornimmt (vgl. Hiob 1,12; 2,6). Und wieder wird deutlich: Es geht noch keineswegs um das „Ende“ im Sinne eines Finales der Geschichte. Vielmehr befinden wir uns immer noch in den Geschichtsabläufen, von denen Jesus in Mt 24,6.8 sprach.1016 Die Qual der nicht versiegelten Menschen wird mit der Qual vonseiten eines Skorpions verglichen, wenn er die Menschen sticht. Der Vergleich mit einem wohl in Palästina vorkommenden Skorpion ergibt, dass es nicht um Lebensbedrohung, sondern um Lebenserschwerung geht. Aber nun ist die Frage: Um welche Art von „Qual“ handelt es ich hier? Nach Johannes Schneider bezieht sich βασανίζειν [basanizein] (quälen) im NT auf fünf Fälle: a) die Qual der Krankheit (Mt 8,6), b) die Qual der Dämonen bei der Begegnung mit Jesus (Mt 8,29), c) die Qual während der Geburtswehen (Offb 12,2), d) die Qual durch Sturm und Wellen (Mt 14,24) und e) die innere seelische Qual
1012 1013 1014 1015 1016
Vgl. dazu Wieseler passim. So z.B. Aune S. 528; Pohl II S. 35. Gegen Pohl II S. 35,292. αὐτοῖς [autois] masc. als constructio ad sensum. Friedrich a.a.O.; Pohl II S. 35; Schlatter S. 216.
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etwa beim Anblick gottlosen Tuns (2Petr 2,8).1017 Geht man von dieser Bedeutungsbreite aus, dann können die Leiden der Menschen sowohl aus Krankheit als auch aus anderen äußeren Nöten oder aus inneren seelischen Nöten resultieren. Die Fälle b) und c) scheiden hier wohl aus. Die genannten Beobachtungen warnen uns davor, uns zu schnell auf bestimmte Details oder Einzeldeutungen einzugrenzen. Doch was besagt die Einschränkung auf fünf Monate? Gerhard Delling hat wohl darin recht, dass „die Fünfzahl“ in Offb 9,5 nicht „als runde Zahl aufzufassen“ ist, „da es viele runde Zahlen gibt“, die für die Symbolik geeigneter wären.1018 Es bleiben dann noch verschiedene andere Deutungen, die Charles Brütsch im Anschluss an M. Rissi aufgelistet hat: a) die fünf Monate sind die Lebenszeit der Heuschrecke,1019 b) in den fünf Monaten April/Mai bis August/September können Verwüstungen durch Heuschrecken stattfinden,1020 c) es ist eine absichtlich „gebrochene Zahl“,1021 d) es ist die Zahl der Monate vom Skorpion bis zum letzten Zeichen des Tierkreises,1022 e) es sind die 5 Monate jüdischer Wirren unter dem Prokurator Florus Gessius gemeint,1023 f) es handelt sich, wie z.B. Delling annehmen möchte, um eine von Johannes übernommene „apokalyptische Tradition“.1024 Davon scheidet d) offensichtlich aus, weil für Johannes kein Interesse nachweisbar ist, astrale Vorstellungen an die frühen Gemeinden zu vermitteln. Ebenso wenig dürfte f) in Frage kommen, weil wir zu wenig über diese Tradition wissen und Johannes nicht mit uninterpretierten „Traditionen“ dieser Art arbeitet. Die Ereignisse unter Florus Gessius (e) wiederum sind für den großen Rahmen der Offb zu unbedeutend, als dass sie als Modell für die Zukunft dienen könnten. Eine „gebrochene Zahl“ (c) könnte es jedoch insofern sein, als Gott Gerichte immer wieder einschränkt oder abkürzt (vgl. Mt 24,22; Offb 12,12; 13,5).1025 Daneben bleiben a) und b) als Möglichkeiten bestehen. Eines aber ist unübersehbar: Mit der ungewöhnlichen Zahlenangabe von „fünf Monaten“ ist noch einmal klargemacht, dass die Mächte des Verderbens nicht frei schalten und walten 1017 Art. βάσανος [basanos] usw., ThWNT, I, 1933, S. 561. 1018 Art. μήν usw., ThWNT, IV, 1942, S. 644. Anders Aune S. 530; Pohl II S. 35f, der auf 1Kor 14,19; Lk 12,6; 14,19; Joh 4,18 verweist. Vgl. Morris S. 129; der weitere Stellen nennt: Lk 12,52; Mt 25,2.15; 2Kor 11,24; Apg 20,6; 24,1; Lk 16,28; Mt 14,17. 1019 Z.B. Lohse S. 59; Behm S. 52; Morris S. 129. 1020 Z.B. Bousset S. 299; Römer S. 99. 1021 Brütsch S. 371 nennt dafür Hengstenberg; Reisner. 1022 Nach Brütsch a.a.O. z.B. Boll. 1023 So St. Giet nach Brütsch a.a.O. 1024 Delling a.a.O.; Brütsch S. 370f. 1025 Morris S. 129 erwägt bewusste „incompleteness“: 5 Monate sind nur 5/12 eines Jahres.
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können, sondern von Gott bis ins Letzte kontrolliert werden und sich seinem Willen beugen müssen. Weil sie begrenzt sind, leuchtet mitten in der Not die Gnade auf.1026 Vers 6 beschreibt die Reaktion auf die Heuschrecken: Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, aber ihn nicht finden, und sie werden sterben wollen, aber der Tod wird sie fliehen. Die Reaktion ist alles andere als positiv. Die von Gott gewollte Buße bleibt aus. Gerhard Friedrich hat es auf den Punkt gebracht: „Die Menschen suchen nicht Gott, sondern den Tod, nicht die Vergebung, sondern die Vernichtung.“1027 Wir werden an Hiobs Frau erinnert (Hiob 2,9). Es bleibt ein Geheimnis der menschlichen Existenz, dass sie auch „unter den schrecklichsten Umständen“1028 lieber das Verderben sucht als den Heimweg zu Gott. Aber der Tod unterwirft sich nicht dem Menschen, es liegt keineswegs in unserer Macht, ihn jederzeit zu finden (vgl. Hiob 3,21; Jer 8,3).1029 Auffällig sind die Verse 7-10. Denn sie beschreiben mit erstaunlicher Ausführlichkeit das Aussehen und Auftreten der Heuschrecken, ohne weitere Konsequenzen dieses Auftretens zu nennen. Und die Gestalten1030 der Heuschrecken glichen den Rossen, die zum Kampf gerüstet sind (V. 7): Wenigstens in bestimmten Entwicklungsstadien gleicht der Kopf der Heuschrecke dem Pferdekopf.1031 Offensichtlich erfolgt hier eine Anlehnung an die Heuschreckenvision von Joel 2,4ff:1032 „Sie sind gestaltet wie Pferde und rennen wie die Rosse … (ὡς ὅρασις ἵππων ἡ ὄψις αὐτῶν καὶ ὡς ἱππεῖς οὕτως καταδιώξονται [hos horasis hippon he opsis auton kai hos hippeis hutos katadioxontai] LXX) … wie ein mächtiges Volk, das zum Kampf gerüstet ist (ὡς λαὸς πολὺς καὶ ἰσχυρὸς παρατασσόμενος εἰς πόλεμον [hos laos polys kai ischyros paratassomenos eis polemon])“. Wenn der Bezug zu Joel so stark ist, will Johannes damit offenbar andeuten: Das, was ich sah, ist die Erfüllung von Joel 2,4ff. Vgl. aber auch Hiob 39,19ff. Und auf ihren Köpfen war so etwas wie Kronen aus Gold: Johannes bringt hier nur einen Vergleich (wie, ὡς [hos]), spricht aber nicht direkt von 1026 Vgl. Brütsch S. 371f. Bengel S. 457ff sah in den fünf Monaten fünf sog. „prophetische Monate = 79 1/3 Jahre und deutete deshalb auf Ereignisse zwischen 510 und 589 n.Chr. 1027 A.a.O. 1028 R. Bultmann, Art. θάνατος usw., ThWNT, III, 1938, S. 14. 1029 Vgl. Bousset S. 299. 1030 Zur Übersetzung vgl. Joh. Schneider, Art. ὅμοιος usw., ThWNT, V, 1954, S. 191. 1031 Vgl. Cansdale/Schütz-Schuffert a.a.O.; Morris S. 130; Caird S. 119; Pohl II S. 36. 1032 Vgl. O. Michel, Art. ἵππος, ThWNT, III, 1938, S. 337; Lohse S. 59; Schlatter BFchTh S. 85; Zahn S. 397,15; Morris S. 130.
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goldenen Kronen. Traugott Holtz hat wohl darin recht, dass diese Bemerkung des Johannes die Heuschrecken als siegreich kennzeichnet.1033 Aber ihre Gesichter glichen Menschengesichtern (καὶ τὰ πρόσωπα αὐτῶν ὡς πρόσωπα ἀνθρώπων [kai ta prosopa auton hos prosopa anthropon]): Wieder herrscht der Vergleich (wie, ὡς [hos]). Erneut kommen wir in die Nähe von Joel 2,7: „Sie werden laufen wie die Helden (ὡς μαχηταί [hos machetai]) und … wie Krieger (ὡς ἄνδρες πολεμισταί [hos andres polemistai])“. Eine Fehldeutung wäre hingegen ein Vergleich mit dem Menschengesicht der Cherubim in Ez 1,10; 10,14 oder der Wesen in Offb 4,7. Und sie hatten Haare wie Frauenhaare (ὡς τρίχας γυναικῶν [hos trichas gynaikon]) und ihre Zähne waren wie Löwenzähne (V. 8): Aune hat Recht, dass hier ein Wechsel von anthropomorphen (menschenähnlichen) und theriomorphen (tierähnlichen) Motiven vorliegt.1034 Gestalt, Zähne, Flügel und Schwänze sind tierähnlich, Kronen, Gesichter, Haare und Panzer menschenähnlich. Die Verbindung von Tierischem und Menschlichem ist offenbar charakteristisch für das Dämonische. Über die Haare gibt es zahlreiche Bemerkungen der Ausleger. Für einen Strang der Exegese verbindet sich damit der Gedanke der Unsittlichkeit.1035 Für einen andern Strang der Auslegung ergibt sich aus der Definition Frauenhaare soviel wie „ungeordnetes Haar“ („disheveled hair“) oder „langes Haar“ und folglich schlimmes Aussehen. Es fällt jedoch auf, das Offb 9,8 nicht von „langen Haaren“ redet. Im Übrigen galten lange Haare in Israel als etwas Positives, selbst bei Männern: „Langes und volles Haar … galt als Schmuck des Mannes.“1036 Erst recht traf dies für Frauen zu (vgl. Jes 3,17ff; 2Kön 9,30; Judit 10,3).1037 Daneben trug man in Sonderfällen lange, frei herabfallende Haare, so bei Trauer oder als Gottgeweihter.1038 Aber Trauer oder Naziräat (Gottgeweihtsein) kommen für die siegreichen („Kronen“!) Heuschrecken wohl nicht in Frage. Eher kann man daran denken, dass „Soldaten, die in die Schlacht zogen“, ihr Haar lose hängen ließen.1039 Aber warum dann der Vergleich mit Frauenhaaren? Es bleiben am Ende nur zwei Erklärungsmöglichkeiten: 1) der Vergleich ist ganz natura-
1033 Holtz S. 131. Vgl. W. Grundmann, Art. στέφανος usw., ThWNT, VII, 1964, S. 630: Zeichen des „Triumphators“. 1034 Aune S. 532. 1035 Vgl. Aune a.a.O. 1036 G.J. Botterweck, Art. לּח ַ ִגּ, ThWAT, II, 1977, Sp. 8. 1037 Botterweck a.a.O. Sp. 9. 1038 Vgl. Botterweck a.a.O. Sp. 10ff. 1039 D.F. Payne, Art. Haar, GBL, 2, S. 501.
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listisch auf die feinen Füllhaare der Heuschrecken abgestellt1040, 2) der Vergleich zielt doch auf die äußerlich weichen, attraktiven Züge der Heuschrecken, evtl. Züge der Unsittlichkeit, die aber nur ihre brutale Art verhüllen.1041 Demgegenüber sind ihre Zähne grauenerregend wie Löwenzähne. Dieser Vergleich fußt wieder ganz auf Joel 1,6.1042 Alte „(astral-) mythologische Vorstellungen“ brauchen für Offb 9,8 nicht herangezogen zu werden.1043 Die Reißzähne des angreifenden Löwen flößen sprichwörtliche Furcht ein (vgl. Hiob 4,10; Ps 57,5; 58,7; Sir 21,3). Vers 9 fährt fort: sie hatten Panzer (θώρακας [thorakas]) wie Eisenpanzer. Aune hat diese Stelle ausführlich kommentiert und insbesondere die Beziehung zum Reiterheer der Parther betont.1044 Schon Bengel war von dieser Beziehung ausgegangen.1045 Deutlich verstärkt sich jetzt das militärische Element in der Schilderung. Das steht wiederum im Einklang mit Joel 2,4ff. Man wird davon ausgehen müssen, dass mit den Panzern bzw. Eisenpanzern die Brustplatten der Pferde gemeint sind, mit denen in der Antike die schwere Kavallerie ausgerüstet wurde und die dem Schutz der Pferde in der Schlacht dienten.1046 Die zweite Hälfte von V. 9 führt den Vergleich mit den Kriegspferden fort: Und der Lärm ihrer Flügel war wie der Lärm der Wagen vieler Rosse, die in den Kampf laufen. Ihre Flügel sind die Flügel der Heuschrecken. Die Wagen (ἅρματα [harmata]) sind Streitwagen1047 Hinter ἅρμα [harma] steht das hebräische [ ֶמְר ָכָּבהmerkavah],1048der ganze Halbvers 9b ist eine Wiederaufnahme von Joel 2,5 (φωνὴ ἁρμάτων … εἰς πόλεμον [phone harmaton … eis polemon]). Der Lärm der Wagen, ihr Rasseln, war sprichwörtlich (vgl. Jes 66,15; Jer 4,13; Nah 3,2; Joe 2,5).1049 Die Wendung viele Rosse erweckt den Eindruck, dass wir es mit einem großen Dämonenheer zu tun haben.1050 Die Charakteristik die in den Kampf laufen (τρεχόντων εἰς πόλεμον [trechonton eis polemon]) nimmt das Stichwort εἰς πόλεμον [eis polemon] (zum 1040 Vgl. Lohse S. 59, wonach ein arabisches Sprichwort die Fühlhörner der Heuschrecke mit den Haaren einer Jungfrau vergleicht, sowie Caird S. 119f. 1041 Beides muss wohl nebeneinander stehen bleiben. 1042 Aune a.a.O. 1043 Gegen W. Michaelis, Art. λέων, ThWNT, IV, 1942, S. 257f. 1044 Aune S. 533. 1045 Bengel S. 456. 1046 Aune a.a.O. 1047 Vgl. dazu den instruktiven Artikel von T.C. Mitchell, GBL, 3, S. 1656ff über „Waffen und schweres Kriegsgerät“, bes. S. 1669. 1048 Vgl. W.B. Barrick/H. Ringgren, Art. רכב, ThWAT, VII, 1993, Sp. 508ff. 1049 Vgl. Barrick/Ringgren a.a.O. Sp. 513. 1050 O. Michel, Art. ἵππος, ThWNT, IV, 1942, S. 339.
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Kampf, „zum Krieg“) von V. 7 wieder auf. Hier sollten wir uns an die Beobachtung von Traugott Holtz erinnern, dass πολεμεῖν [polemein] oder πόλεμος [polemos] in der Offb „mit einer Ausnahme [12,7] ausschließlich zur Bezeichnung von Aktionen der dämonischen Mächte gebraucht“ wird.1051 Vers 10 fasst manches zusammen, was in den Versen 3-9 schon gesagt oder angedeutet war. Sie haben Schwänze wie Skorpione und Stachel erinnert an den Vergleich mit Skorpionen in V. 3 und 5. Jetzt wird ausdrücklich bemerkt, dass die Heuschrecken wie Skorpione Schwänze und Stachel haben. Und in ihren Schwänzen liegt ihre Macht, … den Menschen Schaden zu tun: Solche Worte trafen wir schon in V. 3.4. und 5. Wie beim Skorpion sitzt offenbar der giftige Stachel (κέντρον [kentron]) am Ende des Schwanzes.1052 Das Zustechen mit diesem Stachel hat in der Tat etwas Heimtückisches.1053 Dabei wird allerdings die Begrenzung des schädlichen Willens auf fünf Monate wiederholt, eine Begrenzung, die ja ebenfalls schon in V. 5 ausgesprochen war. Vgl. die Erklärung dort. Lothar Schmid bemerkte einst zu Offb 9,10: „Es handelt sich … um dämonische Fabelwesen, von orientalischer Fantasie erdacht.“1054 Eine solche Bemerkung umgeht den Ernst der Aussage. Denn Offb 9,10 ist nicht „gedacht“, sondern geschaut, kein Produkt der „Fantasie“, sondern Botschaft der Prophetie, nicht als fantastisch abzutun, sondern in der Realität der Geschichte zu erwarten. Was diese Verse sagen sollen, ist dann nach V. 12 zu reflektieren. Die Präsens-Formen (haben, liegt) verstärken die dramatische Bedeutung des Geschauten.1055 Mit V. 11 endet die Beschreibung des Aussehens der Heuschrecken. Es kommt jetzt ein Blick auf ihre Gesamtorganisation: Sie1056 haben über sich als König den Engel des Abgrunds (ἔχουσιν ἐπ᾿ αὐτῶν βασιλέα τὸν ἄγγελον τῆς ἀβύσσου [echusin ep auton basilea ton anggelon tes abyssu]). Dieses Heuschrecken-Heer ist also gegliedert und besitzt eine feste Ordnung. Damit erfüllt sich, was in Prov 30,7 und Joel 2,5ff geschrieben steht. Außerdem bestätigt sich hier, was Jesus in Mt 12,34ff über die Einheit des satanischen und dämonischen Reiches sagt.1057 Der Anführer wird König (βασιλεύς [basileus]) genannt. Dass Jesus auf der Kreuzesinschrift und in Wahrheit ebenfalls „König“ genannt wird, hält Johan1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057
Holtz S. 160. L. Schmid, Art. κέντρον, ThWNT, III, 1938, S. 668. Vgl. Brütsch S. 375; Grünzweig S. 242. A.a.O. Morris S. 130. Das καί [kai] am Versanfang ist vermutlich nicht ursprünglich. Ebenso P. Müller S. 31; Grünzweig S. 243. Prov 30,27 bedeutet dazu keinen Widerspruch, denn dort handelt es sich um die natürlichen Heuschrecken.
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nes nicht davon ab, dem Anführer des Heuschreckenheeres denselben Titel zuzugestehen. Es ist wie mit allen heiligen und ehrwürdigen Worten in der Welt: Es gibt neben dem wahren immer auch den falschen Gebrauch und umgekehrt.1058 Wer ist dieser König? Zunächst eine geheimnisvolle Gestalt mit geheimnisvollen Namen: ein Engel, der mit dem Abgrund (der ἄβυσσος [abyssos]) verbunden ist, Abaddon und Apollyon. ἄγγελος [anggelos] heißt hier wirklich Engel und nicht nur „Bote“ des Abgrunds. Das ergibt sich schon aus der Parallelstelle 9,1f. Auf Hebräisch heißt er Abaddon, und auf Griechisch heißt er (oder: hat er den Namen) Apollyon. Vom Hebräischen und Griechischen her sind beide Namen gut verständlich, ganz im Gegensatz zu den Namensnennungen z.B. in den Zauberpapyri.1059 Abaddon, [ ֲאַבדּוֹןavaddon], ist ein Name (Hauptwort) zur Wurzel [ אבדavad] = zugrunde gehen oder umherirren1060. Abaddon heißt „Untergang“ oder „Totenreich“. Der Engel Abaddon ist also „eine Personifizierung des Todes und in diesem Sinn ein Verderber“.1061 Auch in Qumran spielte dieser Begriff eine Rolle (1QH 3,16.19.32), ebenso bei den frühen Rabbinen.1062 Als Person und Macht in einem erscheint „Abaddon“ schon in Hiob 28,22, evtl. auch in Hiob 26,6; Prov 15,11; 27,20.1063 Auch wenn die Heuschrecken ausdrücklich nicht töten dürfen (9,5), so bilden sie doch eine Verderbens- und Untergangsmacht. Ihr Haupt wird mit „Abaddon“ angemessen bezeichnet. Das griechische Wort Apollyon, das nur hier in Offb 9,11 im NT vorkommt, ist offenkundig Übersetzung für das hebräische „Abaddon“ und bedeutet ebenfalls „Verderber“. Mit guten Gründen nimmt man jedoch an, dass in der Wortbildung „Apollyon“ zugleich eine bewusste Anspielung auf den griechischen Gott „Apollo“ steckt. Apollo war nicht nur der Gott der Künste, sondern auch der Pestgott. „Apollyon“, „Verderber“, bekommt von daher zugleich den Sinn von „Verderbergott“. Ob die Heuschrecke sein Tier war, ist nicht sicher.1064 Caird nimmt an,1065 dass dieser Engel Abaddon oder Apollyon derselbe ist wie der Stern, dem nach V. 1 der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben wurde. Aber das ist wenig wahrscheinlich. Viel näher liegt die Annahme, dass er als König der HeuschreVgl. K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, S. 576ff. Vgl. Leipoldt/Grundmann S. 70ff. Vgl. B. Otzen, Art. בד ַ ָא, ThWAT, I, 1973, Sp. 20ff. Otzen a.a.O. Sp. 24. Otzen a.a.O. Vgl. Schlatter BFchTh S. 86. Vgl. Otzen a.a.O.; J. Jeremias, Art. Ἀβαδδών, ThWNT, I, 1933, S.4. Vgl. A. Oepke, Art. Ἀπολλύων, ThWNT, I; 1933, S. 396; Jeremias a.a.O.; BauerAland Sp. 191; Caird S. 120; Lohse S. 59; Morris S. 131; anders Behm S. 52. 1065 A.a.O. Anders Aune S. 534.
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cken mit diesen zusammen aus dem Abgrund auftaucht. Darauf deutet ja auch die Bezeichnung „Engel des Abgrunds“. Jedenfalls aber ist es ein wirklich „höllischer Engel“, ein „Unterweltsfürst“,1066 ein abgefallener Engel also.1067 Weit gespannt sind wieder die kirchengeschichtlichen Deutungen. Nur wenige Beispiele seien genannt: Um 385 n.Chr. nahm Ticonius Offb 9,11 als Beweis für seine Konzeption vom Gottesstaat und Teufelsstaat.1068 Luther deutete 1530 Offb 9,11 auf Arius, nachdem er den „Verderber“ früher auf Aristoteles gedeutet hatte.1069 Vitringa erwog die Deutung auf Alarich und die Goten.1070 Zahn berichtet von einer Deutung auf Napoleon, die im 19. Jh. anzutreffen war.1071 Brütsch meint, wir müssten heute „psychopathologische Kategorien“ zur Deutung „verwenden“.1072 Erst wenn wir das Gesamtbild von Offb 9,1-12 reflektieren, können wir dazu Stellung nehmen. Das erste Wehe ist vorüber (ἀπῆλθεν [apelthen]), sagt V. 12. Damit wird Offb 9,1-11 eindeutig als das erste Wehe im Sinne von Offb 8,13 identifiziert. Vorüber heißt: es ist wirklich „weggegangen“ und „vergangen“. Anderes und Neues wird sich in der Geschichte ereignen: Siehe, es kommen noch zwei Wehe danach (μετὰ ταῦτα [meta tauta]), vgl. 8,13.1073 Damit liegt ein Gesamtbild von Offb 9,1-12, des fünften Posaunen-Gerichts, vor. Es hat sich gezeigt, dass die Deutung mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden ist. Eine erste Weichenstellung ergibt sich durch die Antwort auf die Frage: Bezieht sich Offb 9,1ff auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft? Luther, Vitringa und Bengel stehen für eine Deutung auf die Vergangenheit. Aber keine der Vergangenheitsdeutungen ist in sich überzeugend genug. Auch vom Gesamtaufbau der Johannesoffenbarung her scheint es besser, Offb 9,1-12 auf noch zukünftige Ereignisse zu beziehen. Dann aber ist es ratsam, im Blick auf Einzelheiten vorsichtig zu bleiben. Alle zu sehr ins Einzelne gehenden Erklärungen wurden bisher überholt, sie erwiesen sich als vorschnelle Aktualisierungen. Gesünder ist es, sich an den alten Grundsatz des Irenäus von Lyon (ca. 180 n.Chr.) zu halten: „Sicherer und gefahrloser ist 1066 So Jeremias a.a.O. 1067 Bengel S. 460; Morris S. 131; Zahn S. 400. Pohl II S. 39f deutet dagegen auf den Antichrist; Aune S. 534ff und Zahn S. 405 auf Satan. Pohl a.a.O. macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Johannes die hebr.-griech. Doppelbezeichnungen liebt (vgl. Offb 1,7; 12,9; Joh 1,38.42; 4,25; 9,7; 19,13; 19,17). 1068 Vgl. Maier Offb S. 115. 1069 Luther Vorreden S. 184. Vgl. Maier Offb S. 295f. 1070 Vitringa S. 389ff. 1071 Zahn S. 400,23. Vgl. Brütsch S. 376,5. 1072 Brütsch S. 375. 1073 Bengel berechnete den „Stillstand zwischen dem ersten und zweyten Weh“ gemäß Offb 9,12 auf die Zeit von 589–634 n.Chr. (S. 1060).
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es also, die Erfüllung dieser Prophetie abzuwarten, als allerlei Namen zu vermuten und zu weissagen.“1074 Wir müssen uns also offenhalten für ein Spektrum von Erfüllungsmöglichkeiten: a) Es kann sich um eine militärische Invasion handeln, wie sie z.B. Bernhard Philberth in seinem Buch „Christliche Prophetie und Nuklearenergie“ (3. Aufl. 1963) so faszinierend beschrieben hat.1075 Eine solche Invasion könnte aus irgendwelchen Gründen die gläubigen Christen schonen. Aber der Rückblick auf Bernhard Philberth zeigt auch schon, wie rasch eine detaillierte Auslegung überholt ist. b) Es kann sich um einen Einbruch gottfeindlicher Ideen und geistlicher Verführungen handeln, wie es oft in der Literatur angenommen wurde. Hier liegt es nahe, einzelne Züge auf einzelne Laster oder Programme zu deuten, z.B. die Frauenhaare auf „die sinnliche, geschlechtsgebundene Luft“ oder den Lärm der Flügel auf das Rasseln der „Phrasen“.1076 Weil es um geistliche Verführung geht, kann die christliche Gemeinde „versiegelt, bewahrt, durchgetragen“ werden.1077 c) Weniger wahrscheinlich ist die Deutung auf das Böse schlechthin, das uns in unserer menschlichen Geschichte begleitet. So will z.B. G.B. Caird im Abgrund und seinen Heuschrecken ganz allgemein „the cumulative power and virulence of evil, to which all men contribute“, sehen1078. Aber dass Gott mit einem so speziellen Bild wie Offb 9,1-12 nur eine allgemeine, fast jeder Seite der Bibel zu entnehmende Wahrheit zum Ausdruck bringen will, leuchtet nicht recht ein. Auch sind die Christen ja keineswegs gegen das Böse so gefeit, dass sie im Sinne von Offb 9,1ff als bewahrt bezeichnet werden könnten. Wichtig ist, dass wir von Mt 24,6ff her aufgefordert sind, nicht nur mit einmaligen, bestimmten Ereignissen, sondern mit der Wiederholung solcher Ereignisse in der Geschichte zu rechnen. Denn Offb 9,1-12 ist ja, wie wir gesehen haben, noch keineswegs das Ende selbst. Gerade eine solche Interpretation ermöglicht es uns, in der Geschichte immer wieder Modelle zu entdecken, die teilweise schon Offb 9,1-12 entsprechen. Das trifft z.B. für diktatorische Regimes, auf Seuchen oder auf globale Unmoral zu. Sie alle bleiben begrenzt, können die Grenze der „fünf Monate“ nicht überschreiten. Aber sie markieren zugleich den Weg, auf dem die Geschichte unaufhaltsam ihrem Ende zuschreitet. An diesem Ende wird sich alles noch einmal unvorstellbar zuspitzen. 1074 Adv. haer. V, 30,3 1075 S. 180ff. Caird S. 119 scheint in ähnliche Richtung zu gehen; P. Müller S. 31; Grünzweig S. 242f. 1076 So Hartenstein S. 134; ähnlich Römer S. 98; Frey S. 102; Grünzweig S. 242f. 1077 So wieder Hartenstein S. 133; P. Müller a.a.O. 1078 S. 119
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Von V. 13 bis V. 21 haben wir es nun mit dem sechsten Engel und mit der sechsten Posaune (V. 13) zu tun. Der sechste Posaunenstoß löst zunächst eine Stimme aus – nicht viel, wenn man von den unzähligen Stimmen dieser Welt ausgeht. Aber es kommt immer darauf an, wer da spricht. Schon mehrfach ist uns in der Offb das entscheidende Gewicht von „Stimmen“ begegnet (vgl. 1,10; 3,20; 4,5; 5,2.11ff; 6,1ff; 7,2; 8,5.13). φωνή [phone] ist im NT u.a. „das bedeutsame, autoritative Wort“, wie Otto Betz bemerkt.1079 Hier kommt die Stimme1080 von den vier Hörnern des goldenen himmlischen Altars her, ist also eindeutig von Gott autorisiert.1081 Vier Hörner kennzeichneten auch den Altar der Stiftshütte (Ex 27,2; 30,1ff):1082 „Die vier Ecken der Altarplatte waren als Hörner geformt.“1083 Der goldene Altar, der vor Gott steht, begegnete uns auch in Offb 8,3, nur wird er dort „der goldene Altar vor dem Thron“ genannt. Wie in Offb 8,3 darf man nicht fragen, ob der himmlische Brandopfer- oder der Räucheraltar gemeint sei. In der Offb ist stets nur von einem Altar (τὸ θυσιαστήριον [to thysiasterion]) in einem zusammenfassenden Sinn die Rede.1084 Wichtig ist jedoch etwas anderes: Der himmlische „Altar“ wird in Offb 8,3ff mit den Gebeten der Heiligen verbunden. Die Entscheidung Gottes, die Ereignisse von Offb 9,13-21 herbeizuführen, fällt also nicht ohne die Gebete seiner irdischen Gemeinde. Das gibt allem Folgenden seinen besonderen Zuschnitt.1085 Die Stimme vom Altar her wendet sich weder an Johannes noch an die Menschen. Sie wendet sich vielmehr an den sechsten Engel, der die Posaune hatte (V. 14). Diesem sechsten Engel wird der Befehl erteilt: Löse die vier Engel, die am großen Strom Euphrat gebunden sind! Wie schon in 7,1ff stoßen wir also auf den Tatbestand, dass ein Engel einem anderen Engel oder mehreren anderen Engeln im Namen Gottes einen Befehl erteilen kann. Die Welt der Engel ist gegliedert, sie weist verschiedene Rangstufen auf, und zwar sowohl bei den guten wie bei den bösen Engeln (vgl. Mt 12,25ff; 26,53). Der 1079 Art. φονή usw., ThWNT, IX, 1973, S. 288. 1080 μίαν [mian] ist unbestimmter Artikel, vgl. Blass-Debrunner § 247,2; Bousset S. 302. Anders Vitringa S. 400: aus vier Hörnern kommt eine einzige Stimme; ebenso BauerAland Sp. 465; Zahn S. 401ff. 1081 Ebenso Betz a.a.O. S. 291; Vitringa S 400. Zahn lässt die vier Hörner selbst sprechen (S. 401,26), ebenso Pohl II S. 44; Aune S. 536; Schlatter S. 218; Bousset S. 302. Wie wir Lohse S. 60. 1082 Vgl. W. Foerster, Art. κέρας, ThWNT, III, 1938, S. 668. 1083 T.C. Mitchell / T. Pola, Art. Altar, GBL, 1, S. 49f. Dort S. 48f auch Abbildungen. 1084 Vgl. J. Behm, Art.: θύω usw., ThWNT, III, 1938, S. 182 1085 Morris S. 132f; Römer S. 99; Caird S. 121; Zahn S. 403; P. Müller S. 32; Pohl II S. 45; Bousset S. 302; Lohse S. 60. Kraft S. 144 sieht hier eine „Antwort auf die … Märtyrer“ von 6,10.
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Befehl ist seltsam genug. Denn er gibt dem sechsten Posaunen-Engel den Auftrag, seinerseits wieder vier anderen Engeln etwas zu befehlen. Löse die vier Engel: Der Artikel (τοὺς τέσσαρας ἀγγέλους [tus tessaras anggelous]) zeigt, dass der Posaunen-Engel sehr wohl weiß, um wen es sich handelt. Löse! hat den Sinn von „Mache los!“1086 Die Zahl Vier bedeutet vermutlich wieder eine Universal-Zahl (vgl. 7,1), das heißt, sie zeigt ein weltumfassendes, globales Ereignis an.1087 Dass die vier Engel gebunden sind, zeigt, dass es sich um abgefallene, gottfeindliche Engel handelt.1088 Gute Engel brauchen nicht gebunden zu werden. Geheimnisvoll ist der große Strom Euphrat (ἐπὶ τῷ ποταμῷ τῷ μεγάλῳ Εὐφράτῃ [epi to potamo to megalo Euphrate]). Er kommt noch einmal in 16,12 vor. Karl Heinrich Rengstorf weist darauf hin, dass hier „eine alttestamentliche Bezeichnung“ aus Gen 15,18; Dtn 1,7; Jos 1,4 aufgenommen wird.1089 Denkt man an ähnliche Bezeichnungen im AT wie z.B. Ninive, „die große Stadt“ (Gen 10,12; Jona 1,2), dann wird klar, dass groß soviel wie „bedeutsam in Gottes Augen“ heißt. Man darf also nicht an der äußeren Geografie hängen bleiben. Immerhin markierte der Euphrat im Sinne der oben genannten Stellen die Grenze des Verheißenen Landes. Jenseits des Euphrat begann der Bereich feindlicher Völker. Ganz ähnlich war es aus der Sicht des Römischen Reiches, in dem Johannes lebte. Auch für die Römer bildete der Euphrat die Ostgrenze des zivilisierten Reiches und östlich davon erstreckte sich die gefürchtete Herrschaft der schrecklichen Parther (Perser) und ihrer Reiterheere.1090 Löse die Engel am Euphrat heißt demnach: Die Feinde der Menschenwelt erhalten Zutritt zu dieser Menschenwelt, um sie zu attackieren. In der Auslegungsgeschichte versuchte man immer wieder, das Rätsel zu lösen, wer sich hinter Offb 9,13ff verberge. Philipp Jakob Spener (1635– 1705) schrieb sogar im Jahr 1664 seine Dissertation über Offb 9,13ff.1091 Dabei lobte er den Apokalypse-Kommentar des Joachim von Fiore, den er sich aus Mömpelgard kommen ließ.1092 Ticonius (ca. 385 n.Chr.) bezog Offb 9,14 auf das Leiden der Kirche vor dem Ende.1093 Gaius von Rom (ca. 200 1086 F. Büchsel, im Art. λύω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 337. 1087 Vgl. H. Balz, Art. τέσσαρες usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 134; Behm S. 53f. 1088 Balz a.a.O.: „Verderberengel“; Bengel S. 465; P. Müller S. 32; Grünzweig S. 245; Morris S. 133; Aune S. 536. Anders Pohl II S. 46. 1089 Art. ποταμός usw., ThWNT, VI, 1959, S. 604. 1090 Rengstorf a.a.O.; Brütsch S. 381f; Caird S. 122; Schlatter BFchTh S. 86f; Bousset S. 304ff; Lohse S. 61. 1091 Vgl. Maier Offb S. 337f.354.361. 1092 Joachims Expositio, gedruckt in Venedig 1527. 1093 Vgl. Maier Offb S. 117.
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n.Chr.) fand in Offb9,15 einen Beleg dafür, dass der Apostel Johannes nicht der Verfasser sein könne, denn Engel dürften keine Kriege führen.1094 Luther sah in Offb 9,13ff das Wüten Mohammeds und der Sarazenen.1095 Bengel datierte die Geschehnisse von Offb 9,13ff auf das 7. Jh. n.Chr. und deutete sie ebenfalls auf die Sarazenen.1096 Wettstein deutete auf Rom.1097 Die geistliche Deutung bei Hartenstein und Römer geht auf „eine dämonische Suggestion, der der dritte Teil der Menschen verfällt“ bzw. auf „geistige Mächte des Verderbens“.1098 Bei Frey sind es „Völkermassen“, regiert durch „überirdische Mächte“,1099 bei Philberth wieder reale, militärische Riesenheere von realen „Kriegsparteien“.1100 Die Vielfalt der Deutungen mahnt uns erneut zur Vorsicht. Dem Befehl wird Folge geleistet: Und es wurden gelöst die vier Engel (V. 15). Alles geschieht nach den Anordnungen Gottes. Nun bringt V. 15 eine interessante Anmerkung zu den losgemachten vier Engeln: die bereit waren für die Stunde und den Tag und den Monat und das Jahr. So genau – wir würden sagen: „auf die Sekunde“ – ist ihr Einsatz festgelegt! Bereit (ἡτοιμασμένοι [hetoimasmenoi]) ist eine Passivform des Perfekts („bereit gemacht worden waren“), die indirekt Gottes Handeln zum Ausdruck bringt. In dieser geschichtlichen Abfolge erkennen wir also eine göttliche Prädestination.1101 Eine solche Prädestination darf freilich auf die Antwort des Menschen gegenüber Gott, sein Ja oder Nein, nicht übertragen werden. Aber die Unheilsengel können keine Stunde über Gottes Befehl und Erlaubnis hinaus wirken. Wieder ein großer Trost für die Gemeinde! Am Ende von V. 15 steht ihr Auftrag: damit sie den dritten Teil der Menschen (τὸ τρίτον τῶν ἀνθρώπων [to triton ton anthropon]) töteten. Auch hier hat Gott mit der Beschränkung auf den dritten Teil eine Grenze gezogen (vgl. 8,7ff). Andererseits ist ihr Auftrag schrecklicher als der der Heuschrecken in 9,1-12. Denn diese durften nur „quälen“, nicht töten (V. 5). Jetzt aber steigert
1094 1095 1096 1097 1098
Vgl. a.a.O. S. 75. Vorreden S. 184. Bengel S. 468ff. Wettstein S. 785: „Sicut Babylonia Roma est: ita Euphrates Tibris [Tiber].“ Hartenstein S. 136; Römer S. 100; ähnlich Lawton S. 72; Limbach S. 30; Grünzweig S. 245 („dämonische Mächte“). 1099 Frey S. 103. 1100 Philberth S. 188f; ähnlich P. Müller S. 32. 1101 Anders Brütsch S. 382. Wie wir Behm S. 53.
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sich die Not. Sie wird zur wahren Todesnot: Die vier Engel sollen „töten“.1102 Getötet werden sowohl Heiden als auch Christen.1103 Vers 16 gehört zu den Überraschungen der Apokalypse. Ohne Vorankündigung tauchen jetzt riesige Reiterheere auf, während von den vier Engeln nicht mehr die Rede ist.1104 Manche Ausleger sehen in den Engeln die Anführer der Reiterheere,1105 anderen genügt es, dass „sie die Barriere geöffnet haben“.1106 Jedenfalls wird man nach dem Zusammenhang die vier Engel als die Auslöser der folgenden Geschehnisse betrachten müssen, ihre Rolle als „Anführer“ bleibt eine reine Vermutung. Vers 16 sagt nur: Und die Zahl der Reiterheere (τῶν στρατευμάτων τοῦ ἱππικοῦ [ton strateumaton tu hippiku]) war zweimal Myriaden von Myriaden (δισμυριάδες μυριάδων [dismyriades myriadon]). Berechnet hat Johannes diese Zahl (τὸν ἀριθμὸν αὐτῶν [ton arithmon auton]) nicht. Er hat sie auch nicht „gesehen“. Er hat sie nur gehört (ἤκουσα [ekusa]) wie in 7,4. Das Verständnis der Einzelheiten ist nicht ganz einfach. στράτευμα [strateuma] heißt „Heeresabteilung“ oder „Heer“.1107 ἱππικός [hippikos] heißt „das Reiten betreffend“.1108 Michel fasst deshalb στρατεύματα τοῦ ἱππικοῦ [strateumata tu hippiku] in Offb 9,16 als „Reiterheere“ auf,1109 BauerAland1110 als „Reitertruppen“. Kraft versteht unter dem ἱππικόν [hippikon] jedoch „das Gespann“ und neigt dazu, in Offb 9,16 „an Streitwagen“ zu denken.1111 Geht es um Reiterheere, dann ist leichter zu verstehen, dass hernach Rosse und Reiter zu einer Einheit verschmelzen und nur noch von den Rossen die Rede ist.1112 Wir bleiben deshalb bei der Übersetzung Reiterheere. Aber auch die Zahl bringt ihre Probleme. In solchen Fällen ist es immer ratsam, den alttestamentlichen Hintergrund aufzusuchen. Schon Wettstein wies auf Ps 68,18 und Dan 7,10 hin.1113 In der Tat liegt die Vermutung nahe, dass Offb 9,16 eine Art finsteres Gegenstück zu Dan 7,10 bildet, wo „zehntausendmal Zehntausende“ (LXX: μύριαι μυριάδες [myriai myriades], „zehntausend My1102 Über die Rolle solcher Gerichtsengel in der apokalyptischen und rabbinischen Literatur vgl. Aune S. 537f; Bousset S. 303f; Lohse S. 60; Aune S. 539. 1103 Bengel S. 472. Anders Lohse S. 60: nur „ungläubige Menschen“ würden getötet. 1104 Aune S. 538: „an abrupt transition … an apparent gap“. Schon Bousset S. 303. 1105 So Behm S. 53; Zahn S. 407; Schlatter S. 217; Morris S. 134; Bousset S. 304; Lohse S. 60f. 1106 So Pohl II S. 46. 1107 O. Bauernfeind, Art. στρατεύομαι usw., ThWNT, VII, 1964, S. 702. 1108 Bauer-Aland Sp. 771. 1109 Art. ἵππος , ThWNT, III, 1938, S. 339. 1110 A.a.O. 1111 Kraft S. 144. 1112 Vgl. Bousset S. 304; Brütsch S. 383. 1113 Wettstein S. 785. Bengel S. 473 auf 2Chron 14,8.
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riaden“) von Engeln Gott dienen. Die Handschriften sind sich uneins, ob wir μυριάδες μυριάδων [myriades myriadon] = „Myriaden von Myriaden“ oder δισμυριάδες μυριάδων = zweimal Myriaden von Myriaden zu lesen haben. Doch könnte die erste Form, das nur „einmalige“ „Myriaden von Myriaden“, eine Korrektur nach Dan 7,10 sein. Deshalb bleibt man besser bei der doppelten, bei der „zweimaligen“ Zahl.1114 Soll man sie auf „200 Millionen“ ausrechnen, wie es die Kommentare oft tun?1115 Oder soll man mit Bauer-Aland darin nur eine unbestimmte, eben „sehr große Zahl“ sehen?1116 Man wird hier beides nebeneinander stehen lassen müssen.1117 Soviel ist jedoch deutlich: Auf die Menschheit kommt hier ein riesiger Angriff zu, dem sie mit eigenen Kräften nicht widerstehen kann. Das Ergebnis heißt hier für die Menschheit: Ratlosigkeit, Aporie. Das lässt jeden anthropozentrischen Fortschrittsoptimismus in sich zusammenbrechen.1118 Die Verse 17-19 schildern jetzt genauer die Reiterheere und die Plagen, die sie mit sich bringen. Und so sah ich im Gesicht (Καὶ οὕτως εἶδον … ἐν τῇ ὁράσει [Kai hutos eidon … en te horasei]) beginnt Johannes (V. 17). Bousset beobachtet mit Recht: „Dass der Seher selbst von seinem Gesicht … spricht, kommt nur hier in der Offb vor.“ Bei Daniel ist es häufiger (Dan 7,1f; 8,1f; 9,21; 10,8).1119 An dieser Stelle werden wir noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass Johannes sich persönlich ganz stark zurücknimmt. Es ist keineswegs sein eigener Ruhm, den er mit der Offb im Auge hat. Er sah die Rosse und die Reiter (die darauf saßen). Hier kommen also auch die Reiter vor. Er bemerkt zunächst ihre Panzer: Sie hatten feuerrote und hyazinthfarbige und schwefelgelbe Panzer. Die Ausleger rätseln zum Teil,1120 ob hier die Reiter oder die Pferde solche Panzer tragen. Sicherlich handelt es sich bei diesen „Panzern“ nicht nur um Lederkoller, sondern um metallene Brustplatten.1121 Letztere dienten auch zum Schutz der Pferde bei der Kavallerie. So ist es wohl am besten, die Panzer in Offb 9,17 sowohl auf die Reiter als auch auf die Pferde zu beziehen. Was Johannes einzig und allein 1114 So auch Nestle-Aland zur Stelle, Bauer-Aland Sp. 401; Blass-Debrunner § 63,3; Michel a.a.O. 1115 So Bousset S. 304; P. Müller S. 32; Bengel S. 473; Zahn S. 407; Morris S. 134; Aune S. 538f; Philberth S. 189. 1116 A.a.O. Dahin tendiert Pohl II S. 47. 1117 Morris S. 134 jedoch: „an exact figure is meant“. 1118 Bengel a.a.O. verteilte die 200 Millionen auf 212 ¾ Jahre, wozu der Text aber keine Berechtigung gibt. 1119 Bousset S. 304. Lohmeyer 3 S. 82 übersetzt jedoch mit „Aussehen“. 1120 Vgl. Bousset a.a.O. 1121 Vgl. A. Oepke im Art. ὅπλον usw., ThWNT, V, 1954, S. 308f.
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an ihnen interessiert, sind die Farben. Wir haben schon mehrfach gesehen, dass Farben in der Offb die Mittler einer Botschaft sein können. Die erste Farbe hier ist πύρινος [pyrinos] = feuerrot.1122 Darin liegt sehr wahrscheinlich ein Bezug auf das Feuer als Mittel des göttlichen Gerichts.1123 Die zweite Farbe ist ὑακίνθινος [hyakinthinos]. Weil die erste Farbe Rot ist, muss diese zweite Farbe, hyazinthfarben, eine Art Violett sein.1124 Die dritte Farbe ist θειώδης [theiodes], „schwefelig“, schwefelgelb, von θεῖον [theion] (Schwefel). Immer wieder weisen die Ausleger auf Hiob 41,10ff als alttestamentlichen Hintergrund hin, wo Leviatan ähnlich beschrieben wird.1125 Es sollte aber auch beachtet werden, dass die Kriegsrolle von Qumran die Waffen des endzeitlichen Kampfes mit dem „Feuer“ vergleicht.1126 Offb 9,17 weist also mehrere Bezüge auf. Lohse sieht unter Hinweis auf Offb 14,10; 19,20; 21,8 die Reiterheere „aus der Hölle“ kommen,1127 Kraft leitet alle „Farben von brennendem Schwefel“ ab.1128 Diskutiert wird ferner, ob die drei Farben sich auf drei Reiterabteilungen verteilen, also die Reiterheere „in 3 Kader aufgliedern sollen“, oder ob alle Rosse und Reiter dreifarbig sind.1129 Wir können solche Fragen nicht mehr beantworten, weil sie Johannes nicht beantwortete und sich vermutlich auch nicht für sie interessierte. Nur eins wird man mit Schlatter festhalten müssen:1130 Es sind eben nicht die Parther, die Johannes beschreiben will, sonst hätte er Geschicklichkeit und Taktik beschrieben, die bei den Parthern von Herodot an so berühmt waren.1131 Vielmehr sieht Johannes in Offb 9,17ff ein dämonisches Heer. Das bestätigen die folgenden Aussagen. Und die Köpfe der Rosse waren wie Löwenköpfe, beobachtet Johannes. Wie Brütsch betont,1132 findet sich auch hier eine Kombination von Tierwesen (Rosse – Löwen). Diese Kombination begleitet die menschliche Geschichte seit mindestens 30 000 v.Chr.1133 1122 Bauer-Aland Sp. 1462. 1123 F. Lang, Art. πῦρ usw., ThWNT, VI, 1959, S. 942ff. 1124 Bauer-Aland Sp. 1659. Bousset a.a.O.: „Farbe des Rauches“. Vgl. Brütsch S. 383; Morris S. 134; Aune S. 539; Kiddle S. 163: „dark-blue“. 1125 Bousset S. 305; Kraft S. 144; Lohse S. 61. 1126 Vgl. K.G. Kuhn, im Art. ὅπλον usw., ThWNT, V, 1954, S. 299; 1QM VI, 2f. 1127 Lohse S. 61. Ähnlich Bousset S. 305. 1128 Kraft a.a.O. 1129 Vgl. Bousset S. 304; Lang a.a.O. S. 952; Pohl II S. 48; Morris S. 134. Lohmeyer 2 S. 83: „verschiedene Kader“. 1130 Schlatter S. 218. Ebenso Caird S. 122; Behm S. 54. 1131 Vgl. Herodot Hist IX, 20ff, worauf schon Wettstein S. 786 hinwies. Aus späterer Zeit vgl. Tacitus Ann VI, 40f. 1132 Brütsch S. 382f. 1133 Löwenmensch vom Lonetal/Württ. im Museum Ulm.
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und wird später typisch für die Götzenbilder Ägyptens und des Orients (vgl. auch Dan 7,1ff). Eine solche Kombination deutet auf Gottfeindlichkeit und Götzendienst hin. Speziell im Löwen-Bild symbolisieren sich Kraft und Unüberwindlichkeit.1134 Und aus ihren Mäulern kommt (ἐκπορεύεται [ekporeuetai]) Feuer und Rauch und Schwefel: Das heißt, aus den Mäulern der löwenköpfigen Rosse. Damit werden sie „als verderbenbringende, höllische Ungeheuer charakterisiert“.1135 Man beachte den engen Bezug von Feuer und Schwefel „auf die ewige Verdammnis in der Hölle“1136 (Offb 14,10; 19,20; 20,10; 21,8). Schwefel und Feuer sind die Strafe für Sodom und Gomorra (Gen 19,24), Schwefel, Feuer und Rauch für alle Feinde Gottes (Ps 11,6; Jes 34,9f).1137 Der „Rauch“ erinnert uns überdies an V. 2f. So ergibt sich aus Offb 9,17, dass sich hier ein Gericht über die gottfeindliche Menschheit ereignet. Vers 18 nennt die Wirkung: Von diesen drei Plagen wurde der dritte Teil der Menschen getötet, vom Feuer und vom Rauch und vom Schwefel, der aus ihren Mäulern kommt. Erstaunlicherweise werden keine grausamen Einzelheiten beschrieben. Der Ton des Johannes ist fast trocken. Es steht eben nur fest: Der dritte Teil der Menschen (τὸ τρίτον τῶν ἀνθρώπων [to triton ton anthropon]) wurde getötet. Es handelt sich also um keine spezielle Christenverfolgung. Ebenso wenig jedoch werden die Christen verschont. Sie sind einfach eingeschlossen in den Menschen.1138 Die tödliche Wirkung geht von den löwenköpfigen Rossen aus, genauer vom Feuer und vom Rauch und vom Schwefel, der aus ihrem Mäulern kommt, wie es in V. 17 beschrieben ist. Mit dem dritten Teil wird wie in 8,7ff; 9,15 die Bewahrungsgrenze gezogen. Die alte Gebetsgewissheit der Psalmen: „die Wasserwogen im Meer erheben sich … und brausen mächtig, der HERR aber ist noch größer in der Höhe“ (Ps 93,3f; vgl. 65,8; 89,10f) erfüllt sich hier aufs Neue. Gott regiert immer noch inmitten und über all dem Entsetzen. Der „dritte Teil“ enthüllt sich uns als Symbol der gnädigen Begrenzung des Unheils. Auch hier sind wir noch keineswegs am Ende der Geschichte angelangt.1139 Beachten wir den Begriff Plage (πληγή [plege]). Er stellt offensichtlich wieder eine Parallele zu den „Plagen“ Ägyptens her (vgl. Ex 11,1 LXX). 1134 Vgl. W. Michaelis, Art. λέων, ThWNT, IV, 1942, S. 256ff. Die Ableitung von der Chimäre durch Aune S. 539f ist unnötig und rein spekulativ. 1135 Lang a.a.O. S. 942. 1136 Lang a.a.O. S. 946. 1137 Schon Wettstein S. 786. 1138 So schon Bengel S. 472. 1139 Friedrich a.a.O.
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Vers 19 erweitert die Schilderung der Verse 17 und 18: Die Macht der Rosse liegt in ihrem Maul und in ihren Schwänzen. Erneut treffen wir auf eine Parallele mit 9,1-12, wo ebenfalls die Verderben bringende Macht (ἐξουσία [exusia]) der Heuschrecken in ihren Schwänzen liegt (V. 10). Man hat schon versucht, auch diese Bemerkung auf die Parther zu beziehen. Parthische Reiter schossen von vorn im Angriff, sie konnten aber auch in der Abwendung vom feindlichen Heer rückwärts über die Schulter schießen (sog. „PartherSchuss“).1140 Aber die ganze bisherige Schilderung in Offb 9,13ff und speziell die folgende Bemerkung über die Schlangenähnlichkeit hindern uns, an die Parther zu denken. Näher liegt die Veranschaulichung der Wesen von Offb 9,19 durch die Seepferde-, Meerungeheuer- und Medusa-Darstellungen in den antiken Mosaiken und Kunstwerken. Aber auch diese Veranschaulichung ist ein höchst schwacher Vergleich. Viel näher kommen wir dem, was Johannes meint, wenn wir jetzt den zweiten Satz in V. 19 beachten: Ihre Schwänze glichen nämlich Schlangen und hatten Köpfe, und mit ihnen (= den Köpfen) tun sie Schaden. Die Schlange ist seit Gen 3,1ff in der Bibel ein Symbol des Bösen, Schadenstiftenden. Vor allem in der Offb ist sie „als dämonisches Tier Bild des Satans geworden“.1141 Die Schlangenschwänze von Offb 9,19 versinnbildlichen von daher „höllische Gewalten“.1142 Die Schwänze besitzen sogar Köpfe, in denen sie enden und mit denen sie Schaden tun. Im Unterschied zum nur qualvollen Skorpionen-Stachel (9,10) ist hier an den tödlichen „Biß einer Giftschlange“1143 zu denken. Weiteres erzählt Johannes nicht, sodass die Fantasie vor allzu reichen Ausschmückungen gewarnt bleibt.1144 Im Resultat bleibt es dabei, dass die Rosse von Offb 9,13ff „mit Kopf und Schwanz“ töten.1145 Vers 20f hält das Ergebnis all dieser Ereignisse von V. 13-19 fest: Die Menschen bekehren sich nicht (οὐδὲ μετενόησαν [ude metenoesan]). Was Gott mit seinen Gerichten hatte erreichen wollen, was er durch seine Gerichte angeboten hatte, das trat nicht ein: Die Umkehr der Menschen. Weil es in Glaubensdingen keinen Zwang gibt, blieb den Menschen auch die Ablehnung der Umkehr offen. 1140 Vgl. Caird S. 122; Morris S. 135. 1141 W. Foerster, Art. δράκων, ThWNT, II, 1935, S. 285. Vgl. J. Fichtner / W. Foerster / O. Grether, Art. ὄφις, ThWNT, V, 1954, S. 566f; W. Foerster / K. Schäferdiek, Art. σατανᾶς, ThWNT, VII, 1964, S. 151ff. 1142 Foerster im Art. ὄφις a.a.O. S. 580. 1143 Foerster a.a.O. Ähnlich Schlatter S. 219. Kraft S. 144 dagegen denkt an „Flammenspitzen“. 1144 Davor warnt auch Bengel S. 474; Römer S. 100. 1145 O. Michel, Art. ἵππος, ThWNT, III, 1938, S. 339.
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Sehen wir uns die Verse genauer an: Die übrigen von den Menschen (V. 20) sind die zwei Drittel, die überleben. Die Geschichte geht also weiter. Wie vor den Gerichten von 9,1-12 und 9,13-19 verharrten sie bei ihrem bisherigen Leben. Dieses Leben nennt die Offb die Werke ihrer Hände (ἔργα τῶν χειρῶν αὐτῶν [erga ton cheiron auton]). Ganz grundsätzlich stehen die menschlichen „Werke ihrer Hände“ in einem Gegensatz zu Gottes Wirken, dem „Werk seiner Hände“. Diesem göttlichen „Werk seiner Hände“, den שׂה י ָָדיו ֵ [ ַמֲעmaaseh jadaw], verdankt sich die ganze Schöpfung und Geschichte (Ex 32,16; Ps 8,7; 102,26; 103,22; Jes 19,25; 60,21; 64,7).1146 Wenn sich nun der Mensch an den Werken seiner eigenen Hände orientiert, also sich, den Menschen, selbst zum Maßstab macht (ἄνθρωπον μέτρον ἁπάντων [anthropon metron hapanton]!), dann kommt er zur Selbstvergötzung und zum Götzendienst. Paulus hat das in Röm 1,18ff in aller Deutlichkeit ausgeführt. Die ἔργα τῶν χειρῶν αὐτῶν [erga ton cheiron auton] in Offb 9,20 sind also zunächst einmal das Gesamtverhalten der Menschen (vgl. 1Sam 19,4; Jes 29,15; Mi 6,16; Joh 3,19ff).1147 Man kann aber auch wegen des Zusammenhangs mit dem Götzendienst und aufgrund vieler biblischer Aussagen erwägen, ob die Werke ihrer Hände in Offb 9,20 nicht ganz speziell den Sinn „Götzenbilder“ haben (vgl. Dtn 4,28; Jes 2,8; 17,8; 37,19; Jer 1,16; 25,6ff; Mi 5,12; Apg 19,26).1148 Wie öfter in der Offb wird man beides zusammen sehen und annehmen müssen: a) die „Werke ihrer Hände“ sind ein von Gott abgekehrtes Gesamtverhalten und b) zugleich die Götzenbilder, die daraus resultieren.1149 Davon also bekehrten sich die Menschen nicht. Das ist ein Urteil über die Gesamtheit. Ob sich Einzelne nicht doch bekehrt haben, bleibt offen. Sich bekehren, hebr. [ שׁוּבschuv] = umkehren,1150 griech. μετανοεῖν [metanoein], ist wiederum ein Grundwort biblischer Sprache, das uns tief in die alttestamentlichen Zusammenhänge hineinführt. Die Voraussetzung für den Begriff sich bekehren / „sich umwenden“ / „umkehren“ liegt darin, dass der Mensch als Geschöpf Gott gehört, sich aber aufgrund einer Willensentscheidung von Gott abwenden kann und dann von Gott noch einmal die Möglichkeit erhält, in einer Glaubensentscheidung zu Gott zurückzukehren. Diese Rückkehr hat Jesus im Gleichnis vom verlorenen Sohn in Lk 15,11ff ergreifend beschrieben. 1146 Vgl. G. Bertram, Art. ἔργον, ThWNT, II, 1935, S. 636ff; E. Lohse, Art. χείρ, ThWNT, IX, 1973, S. 416f. 1147 Vgl. Bertram a.a.O. S. 646f; H. Ringgren, Art. שׂה ָ ָע, ThWAT, VI, 1986, Sp. 428ff. 1148 Vgl. Ringgren a.a.O. Sp. 429; Lohse a.a.O. S. 419; Bengel S. 479; Lohmeyer 2 S. 83; Pohl II S. 50; Caird S. 124. 1149 Auch Aune S. 541f sucht diese Weite festzuhalten. 1150 Vgl. dazu H.-J. Fabry / A. Graupner, Art. שׁוּב, ThWAT, VII, 1993, Sp. 1118ff.
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Auch hier in Offb 9,13ff hat Gott inmitten schwerster Gerichte dieses Angebot der Rückkehr gemacht. μετανοεῖν [metanoein], ursprünglich „nachher erkennen“, „umdenken“,1151 hat im NT den vollen Sinn des alttestamentlichen Begriffes [ שׁוּבschuv] = „umkehren“, „sich bekehren“ aufgenommen. J. Behm formuliert es so: Hier habe „das NT den alten Gedanken der religiös-sittlichen Umkehr neu“ gefasst.1152 Auch zu Offb 9,20f notiert Behm: „sich bekehren“ heißt „Abkehr vom Bösen … und Hinkehr zu Gott“.1153 Man kann Offb 9,20f außerdem nicht lesen, ohne an den beständigen Ruf der Sendschreiben: „Tue Buße“, „bekehre dich“ (μετανόησον [metanoeson], 2,5.16.22; 3,3.19) zu denken. Es werden in der Offb also nicht nur die Außenstehenden zur Buße aufgefordert, sondern auch die Christen selbst. Die Offb ist eine Bekehrungsbotschaft par excellence! Wahre Umkehr würde sich darin zeigen, dass sie nicht mehr anbeteten1154 die Dämonen und die goldenen und silbernen und ehernen und steinernen und hölzernen Götzen, die weder1155 sehen noch hören noch gehen können. Für das AT wie für das NT ist Götzendienst ein Dämonendienst (προσκυνεῖν τὰ δαιμόνια [proskynein ta daimonia]).1156 Es berührt eigenartig, dass gerade die von Dämonenheeren (9,1ff; 9,13ff) angegriffene Menschheit nicht davon ablässt, die Dämonen (τὰ δαιμόνια [ta daimonia]) zu verehren. Dabei greift es viel zu kurz, wenn man sich nur primitiven Aberglauben oder schamanistische Kulte vorstellen wollte. Die Sprache von Offb 9,20 schließt durchaus Esoterik, Philosophie, Religiosität aller Stufen ein, auch die Vergötzung des eigenen Ich. Anschaulich wird dies an den Götzen, deren verschiedene Materialien hier genannt werden: goldene – silberne – eherne (= bronzene) – steinerne – hölzerne. Die Stufenfolge ist absteigend. Mit Lohmeyer ist anzunehmen, dass sie „an Dan 5,23 angelehnt“ ist.1157 Doch fehlt es nicht an weiteren Parallelen im AT (vgl. Jes 2,20; 40,19ff). Jedenfalls ist εἴδωλα [eidola] im NT „Bezeichnung der heidnischen Götter und ihrer Kultbilder“.1158 Kiddle1159 macht darauf aufmerksam, dass Johannes und seine Leser „the innumerable pagan shrines of Asia Minor“ vor Augen hatten. Vgl. J. Behm / E. Würthwein, Art. νοέω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 947ff. A.a.O. S. 995. A.a.O. S. 999. Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 369,5. Zur Konstruktion vgl. Blass-Debrunner § 445. Dtn 32,17; Ps 106,37; 1Kor 10,20f. Vgl. W. Foerster, Art. δαίμων usw., ThWNT, II, 1935, S. 10ff. 1157 Lohmeyer 2 S. 83; auch Gnilka S. 400; Kraft S. 144. 1158 F. Büchsel, Art. εἴδωλον usw., ThWNT, II, 1935, S. 375. 1159 Kiddle S. 165. 1151 1152 1153 1154 1155 1156
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Alle genannten Materialien wurden in der Tat benutzt, wovon auch Paulus in Röm 1,18ff Zeugnis ablegt. Für das Judentum waren diese Götzen und Götzenbilder schlimmste Gräuel (vgl. Ex 20,4f; Sap Sal 14,8ff; ä Hen 99,7; Jub 11,4; Or Sib V, 80ff; das Talmud-Traktat Aboda zarah).1160 Die alten Rabbinen gingen soweit, dass sie Zahlungen an Nichtjuden drei Tage vor deren Götzenfesten verboten, damit sich die Nichtjuden nicht über diese Zahlungen freuten und ihren Götzen dankten.1161 Johannes fügt hinzu, dass ja die Götzen weder sehen noch hören noch gehen können. Diese Aussage bekräftigt, was schon in Ps 115,4ff; 135,15ff steht. Während Israel von der Urerfahrung lebt, dass der lebendige Gott spricht, sieht (vgl. Gen 16,13f), hört (Ps 28,6), geht und wandelt (Gen 3,8 u. ö.),1162 bleiben diese Erfahrungen bei den Götzen aus. Es sind also zwei völlig verschiedene Erfahrungs- und Erkenntniswelten, die sich in Gott und den Götzen gegenüberstehen.1163 Im Übrigen behält Bengel1164 recht, der zu Offb 9,20 anmerkt, „daß die Menschen vor diesen Plagen (schon) in der Abgötterey … gestecket“ und dass deshalb „diese Plagen über sie gekommen“ sind. Es gibt keinen Götzendienst in rein theoretischer, intellektueller Sphäre. Jede weltanschauliche und jede religiöse Überzeugung ist mit einer Ethik, einem ganz bestimmten praktischen Tun verknüpft. Wo der lebendige Gott abgelehnt wird, werden auch seine Gebote abgelehnt. Das Ergebnis ist der heidnische Wandel, wie ihn V. 21 jetzt in Kurzfassung beschreibt: Und sie bekehrten sich auch nicht von ihren Morden und ihren Zaubereien und ihrer Unzucht und ihren Diebereien. Heute wird es heftig bestritten, dass die Abkehr vom biblischen Gott zu solchen Konsequenzen führt. Man betrachtet Aussagen wie die von Offb 9,21 mitunter als „Denunziation des Heidentums“. Doch es gibt zwei historische Erfahrungen im Großmaßstab, die Apk 9,21 genau entsprechen. Die eine ist die Erfahrung, die das Juden- und Christentum der damaligen Zeit mit seiner heidnischen Umgebung in der griechisch-römischen Welt machte.1165 Die andere ist die Erfahrung, die wir mit dem Europa der letzten 200 Jahre seit der Aufklärung gemacht haben. Sehen wir wieder die Einzelheiten an:
1160 1161 1162 1163 1164 1165
Lohmeyer 2 a.a.O. Β Ab zarah 1a. Vgl. zu Letzterem F.J. Helfmeyer, Art. הלך, ThWAT, II, 1977, Sp. 431f. Vgl. Lohmeyer 2 a.a.O. Bengel S. 478. Kiddle S. 165 nennt dies „the abominable moral corruption“.
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Die Abfolge Morde – Zaubereien – Unzucht – Diebereien entspricht bis auf die Zaubereien (φάρμακα [pharmaka]) dem fünften, sechsten und siebten Gebot des Dekalogs (Ex 20,13-15; Dtn 5,17-19).1166 In den „Zaubereien“ sieht man ein „spezifisch heidnisches Laster“.1167 Es findet sich bei Isebel (2Kön 9,22), wird aber auch Ninive zum Vorwurf gemacht (Nah 3,4) und ist sowohl bei den Ägyptern (Gen 41,8; Ex 7,11ff) als auch bei den Babyloniern (Dan 2,2ff; Jer 47,12ff) anzutreffen. Außerdem leisteten Zauberer in neutestamentlicher Zeit der urchristlichen Mission erheblichen Widerstand (vgl. Apg 13,6ff; 19,13ff; Sap Sal 12,4; Gal 5,20; Offb 21,8; 22,15). „Zaubermittel“ – so die genauere Übersetzung in Offb 9,211168 – trugen damals zur religiösen Verwirrung und Religionsmischung bei, z.B. in Gestalt der Zauberpapyri. So wundert das Auftauchen dieses Begriffs in Offb 9,21 nicht. Reihungen von Gebotsüberschreitungen, sog. „Lasterkataloge“, findet man in jüdischer und frühchristlicher Literatur relativ häufig. Man vgl. Röm 1,29: μεστοὺς φθόνου φόνου ἔριδος δόλου κακοηθείας [mestus phthonu phonu eridos dolu kakoetheias]; 1Kor 5,11: πόρνος [pornos] – πλεονέκτης [pleonektes] – εἰδωλολάτρης [eidololatres] – λοίδορος [loidoros] – μέθυσος [methysos] – ἅρπαξ [harpax]; 1Kor 6,9: πόρνοι [pornoi] – εἰδωλολάτραι [eidolatrai] – μοιχοί [moichoi] – μαλακοί [malakoi] – ἀρσενοκοῖται [arsenokoitai] oder 2Kor 12,20; Gal 5,19ff; Eph 4,31; 5,3ff; Kol 3,5.8; 1Tim 1,9f; 6,4f; 2Tim 3,2-4; Tit 3,3; 1Petr 4,3. Auch Jesus hat in Mt 15,19 von diesem pädagogischen Mittel Gebrauch gemacht. Seine Aufreihung von φόνοι [phonoi] – μοιχεῖαι [moicheiai] – πορνεῖαι [porneiai] – κλοπαί [klopai] erinnert so auffallend an Offb 9,21 (φόνοι [phonoi] – φάρμακα [pharmaka] – πορνεία [porneia] – κλέμματα [klemmata]), dass man erwägen könnte, ob Offb 9,21 nicht an dieser Stelle von Mt 15,19 abgeleitet ist. Morde (φόνοι [phonoi]) oder „Mordtaten“ führt auf das hebräische רצח [razach] im Dekalog (Ex 20,5; Dtn 5,17) zurück. Dabei geht es um ein „willentliches und darum sittlich verwerfliches Töten eines Mitmenschen“.1169 An den Krieg ist in diesem Gebot des Dekalogs nicht gedacht, wie ja auch auffallenderweise in Offb 9,13ff keine Schlachten stattfinden.1170 Wohl aber schließt schon der Dekalog heimtückische Gewaltakte, pervertierte Justiz und Ausbeutung ein.1171 Im Lichte der Bergpredigt Jesu muss der „Mord“ 1166 1167 1168 1169 1170 1171
Lohmeyer 2 a.a.O.; Kraft a.a.O. ; Lohse S. 61. Lohmeyer a.a.O.; Lohse a.a.O. Bauer-Aland Sp. 1703. F.-L. Hossfeld, Art. רצח, ThWAT, VII, 1993, Sp. 657. Schlatter S. 218. Hossfeld a.a.O. Sp. 657f.
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sogar auf geistige Vorgänge wie Zorn, Herabsetzung und Verfolgung des Mitmenschen erweitert werden (Mt 5,21ff). Zu den Zaubereien vgl. oben. Zur Unzucht (πορνεία [porneia]): Wie das AT ist auch das NT „gekennzeichnet durch die unbedingte Ablehnung jedes außerehelichen oder widernatürlichen Geschlechtsverkehrs“.1172 An dieser Stelle prallten das Heidentum und die biblische Religion – abgesehen vom Götzendienst – am stärksten aufeinander. Kein Wunder, dass sich gerade die Offb von jeder „Unzucht“ scharf absetzt (Offb 2,14.20f; 9,21; 14,8; 17–18; 19,2; 21,8; 22,15).1173 Sie bekämpft sie auch innerhalb der Gemeinde (2,14.20f). Wieder müssen wir im Licht der Bergpredigt hinzufügen, dass schon die ehebrecherischen Neigungen des Menschen unter die „Unzucht“ fallen (vgl. Mt 5,27ff). Mit den κλέμματα [klemmata],1174 Diebereien oder „Diebstählen“, sind schon im Dekalog verschiedene Arten des heimlichen, unrechtmäßigen Ansichbringens gemeint.1175 Jesus hat das Stehlen in der Bergpredigt nicht eigens kommentiert. Schon in der traditionellen Weisheitslehre ist Diebstahl „kein Thema“, „seine Verwerflichkeit sieht jeder ein“.1176 Nach Offb 9,21 bleibt also die Menschheit trotz der Gerichte Gottes bei ihrer gottwidrigen Lebensart. Die Freude an der Sünde überdauert auch die schreckliche Ereignisse von Offb 9,1ff und 9,13ff. Es gibt ein Böses, das sich nicht bekehrt.1177 Wie aber haben wir jetzt Offb 9,13ff zu interpretieren? 1) Es gibt Deutungen zeitgeschichtlicher Art, die Offb 9,13ff auf einen Einfall der Parther ins Römische Reich oder doch etwas Ähnliches deuten.1178 2) Andere Deutungen, wie z.B. bei Bousset,1179 verneinen „einen bestimmten in der Geschichte gegebenen Einfall der Parther“, gehen jedoch von einer „mythologischen“ Erwartung aus, wonach Johannes „das Hervorstürmen der parthischen Reiterscharen am Ende der Zeiten schildern“ will. 3) In jüngerer Zeit ist die Deutung auf einen vergangenen oder künftigen Weltkrieg beliebt, so u.a. bei Zahn, Römer, Philberth, Lawton, Brütsch.1180 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180
F. Hauck / S. Schulz, Art. πόρνη usw., ThWNT, VI, 1959, S. 590. Vgl. Hauck/Schulz a.a.O. S. 594f. Das Wort nur hier im NT. Vgl. V. Hamp, Art. גנב, ThWAT, II, 1977, Sp. 41ff; H. Preisker, Art. κλέπτω usw., ThWNT, III, 1938, S. 753ff. Hamp a.a.O. Sp. 47. Schlatter S. 220: „Das Heidentum ist unerschütterlich.“ Vgl. dazu Brütsch S. 384. Bousset S. 306f. Zahn S. 407; Römer S. 101; Philberth S. 188ff; auch P. Müller S. 32; Lawton S. 71f; Brütsch S. 384.
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4) Häufig ist die Deutung auf dämonische Angriffe gegen die Menschheit, wobei man die dämonischen Einflüsse noch spezifizieren kann auf eine Vergiftung der Atmosphäre, Hass, Verführung, Ideen, Ideologien, dämonisch inspirierte Worte usw. Hier herrscht die Deutung auf geistige Vorgänge vor.1181 5) Im Laufe der Kirchengeschichte gab es weltgeschichtliche und kirchengeschichtliche Deutungen auf vergangene Ereignisse der Geschichte, von denen teilweise oben schon die Rede war. Erinnert sei an Luthers Deutung auf Mohammed und die Sarazenen, an Bengels Deutung auf die Sarazenen (9,15) und auf die byzantinische Bilderverehrung (9,20) oder an Vitringas Deutung auf Sarazenen, Turcomanen, Tataren, Türken und ebenfalls auf die Sünden Ostroms.1182 Alle diese Deutungen haben auch ein Stück Wahrheit bzw. einleuchtende Argumente für sich. Man wird sie nicht einfach als unbeachtlich auf die Seite schieben dürfen. Diese Erkenntnis nötigt zu einer Offenheit im Blick auf die Breite des Deutungsspektrums. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass wir uns mit Offb 9,13ff immer noch im Bereich der Jesusverkündigung von Mt 24,4-14 befinden. Daraus ergeben sich folgende Einsichten: 1) Mit Offb 9,13ff sind wir noch nicht am Ende der Geschichte.1183 2) Wir müssen mit Wiederholungen solcher Ereignisse rechnen, wobei vorlaufende und teilweise Erfüllungen auftauchen, gewissermaßen „Modelle“, bis ein letztes, furchtbares Finale stattfindet. 3) Das heißt auch, dass geschichtliche Ereignisse der Vergangenheit solche „Modelle“ sein können. Wie Anna Lawton schreibt: „Sie sind alle schon über die Erde geritten.“1184 4) Zugleich bedeutet dies, dass wir solches auch für die Zukunft zu erwarten haben. 5) Dabei kann es sich sowohl um militärische, kriegerische als auch um geistliche Angriffe handeln. 6) Auch wird hier die TheodizeeFrage aufgeworfen: Was bedeutet „Gerechtigkeit Gottes“, wenn die Menschen die Umkehr ablehnen?
IV Zusammenfassung: Die ersten sechs Posaunen 8,6–9,21 1. Die Posaunen gehen alle aus dem siebten Siegel hervor. 2. Mt 24,4-14 erweist sich immer wieder als enge Parallele. Deshalb muss Offb 8,6–9,21 im Zusammenhang mit Mt 24,4ff interpretiert werden. 1181 Hartenstein S. 135f; Grünzweig S. 246ff; Limbach S. 30; P. Müller S. 32; Kiddle S. 165 („devilish origin“); Morris S. 135; Behm S. 54; Caird S. 122ff führt die Macht der Dämonen konsequent auf die Sünde der Menschen zurück. 1182 Luther Vorreden S. 184f; Bengel S. 468ff; Vitringa S. 410ff. 1183 Gegen Zahn S. 407. Vgl. Friedrich S. 87; Caird S. 124. 1184 Lawton S. 71.
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3. Deshalb gilt Jesu Grundsatz: „es ist noch nicht das Ende“ (οὔπω ἐστὶν τὸ τέλος [upo estin to telos], Mt 24,6) auch für Offb 8,6–9,21.1185 4. Wir haben mit wiederholten, wenngleich nicht völlig deckungsgleichen Ereignissen in der Geschichte zu rechnen. Allerdings gibt es für Offb 8,6–9,21 jeweils Zuspitzungen mit einer letzten, furchtbaren Erfüllung am Ende der Geschichte. 5. Immer wieder hat sich uns eine Mehrdimensionalität der Erklärung aufgedrängt. Weder darf rein „geistlich“ interpretiert werden – das wäre eine unangemessene Spiritualisierung – noch rein äußerlich, vordergründig; das wäre eine unangemessene Materialisierung. Vielmehr muss man versuchen, beide Dimensionen zusammen zu sehen. 6. Deutlich bestehen die sechs Posaunen aus zwei Gruppen: a) der Gruppe der relativ kurz beschriebenen ersten vier, die zuerst auf die Schädigung der Natur abzielen (8,6-13), und b) der Gruppe der relativ ausführlich beschriebenen letzten zwei, die in erster Linie auf Qual und Tod der Menschen abzielen (9,1-21). 7. Der Sinn der sechs Posaunen-Gerichte liegt darin, dass sie die Menschen zur Umkehr zu Gott bewegen sollen. 8. Doch darin scheitern die Gerichte. Die ernste Frage entsteht: Was wird aus Gottes Gerechtigkeit und Gottes Plänen, wenn die Menschen die Umkehr verweigern? 9. In allen Gerichten gibt es den Gesichtspunkt der göttlichen Geschichtslenkung und der göttlichen Bewahrung. Alle Verderbensmächte bleiben Gott unterworfen und können nur soweit wirken, als es Gott zulässt. 10. Wir dürfen nicht vergessen, dass Offb 8,6–9,21 zu einer angefochtenen Kirche redet (Offb 1,1). Sie soll getröstet werden. Sie soll sich aber auch über den Charakter ihrer heidnischen Umwelt nicht täuschen.1186 Sie soll außerdem lernen, „daß Gottes Zorn noch andere Waffen hat als die, die die Menschheit schon kennt“.1187 11. Obwohl eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen der fünften und der sechsten Posaune existiert, sind beide Posaunen doch deutlich voneinander unterschieden.1188 Die sechste bedeutet eine Steigerung gegenüber der fünften. Jetzt wird die Tötung zahlloser Menschen zum eindeutigen Ziel. Auch liegt der sechsten Posaune eine andere Organisation des Unheils zugrunde
1185 1186 1187 1188
Anders Zahn S. 407. Richtig Friedrich S. 87; Pohl II S. 49. Gut herausgearbeitet von Morris S. 132. Schlatter S. 217. Anders z.B. Limbach S. 30; Foerster ThWNT, V, S. 580; Kraft S. 142.
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als der fünften Posaune. Ferner sollte man die sechste Posaune besser nicht mit dem Gedanken an Gog und Magog (Offb 20,7ff) vermengen.1189 12. Wichtig ist, dass man auch bei Offb 8,6–9,21 die Warnungen Bengels und Schlatters beachtet und alles hier Gedeutete als das nimmt, was es ist: nämlich Bild und Gesicht (ὅρασις [horasis], 9,17). Man kann hier nicht jede Einzelheit herauspressen wollen. Mit Recht sagte Bengel zu Offb 9,17: Man solle „das Gemälde dieser Reiterey nicht scharf nach dem Buchstaben nehmen, sondern so verstehen …, wie es dem Verhalt der Sache selbs gemäß ist“.1190 Und Schlatter fragte: „Sollten die Christen der kleinasiatischen Gemeinden erwarten, sie würden nächstens solche Heuschrecken und Rosse sehen …?“ und antwortet dann mit einem entschiedenen Nein: „Denn sie verstanden die figürliche Sprechweise ihrer Propheten.“1191
5.2 Der Engel mit dem Büchlein, 10,1-11 I Übersetzung 1 Und ich sah einen anderen starken Engel aus dem Himmel herabkommen, bekleidet mit einer Wolke, und der Regenbogen war über seinem Haupt und sein Angesicht war wie die Sonne und seine Beine waren wie Feuersäulen, 2 und er hatte ein geöffnetes Büchlein in seiner Hand. Und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, seinen linken aber auf die Erde, 3 und er schrie mit lauter Stimme, wie ein Löwe brüllt. Und als er schrie, erhoben die sieben Donner ihre Stimmen. 4 Und als die sieben Donner ihre Stimmen erhoben hatten, wollte ich schreiben, aber ich hörte eine Stimme aus dem Himmel sagen: Versiegle, was die sieben Donner geredet haben, und schreibe es nicht auf! 5 Und der Engel, den ich auf dem Meer und auf der Erde stehen sah, hob seine rechte Hand auf zum Himmel 6 und schwor bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel geschaffen hat und was darin ist, und die Erde und was darin ist, und das Meer und was darin ist, dass eine Zeit nicht mehr sein wird. 7 Sondern in den Tagen, wenn man den siebten Engel hören wird, wenn er seine Posaune blasen wird,1192 ist das Geheimnis Gottes vollendet,1193 wie er es seinen Knechten, den Propheten, verkündigt hat. 8 Und 1189 1190 1191 1192 1193
Gegen Caird S. 122f; Lohse S. 61; Kraft S. 144. Bengel S. 474. Schlatter S. 220. Zur Übersetzung vgl. Blass-Debrunner § 356,3. Vgl. wieder Blass-Debrunner § 333,6.
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die Stimme, die ich aus dem Himmel gehört hatte, redete wiederum mit mir und sagte: Geh hin, nimm das geöffnete Buch in der Hand des Engels, der auf dem Meer und auf der Erde steht! 9 Und ich ging hin zu dem Engel und sagte zu ihm: Gib mir das Büchlein! Und er sagt zu mir: Nimm und iss es! Und es wird deinen Bauch bitter machen, aber in deinem Mund wird es süß sein wie Honig. 10 Und ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und aß es, und es war in meinem Mund süß wie Honig, aber als ich es gegessen hatte, wurde mein Bauch bitter. 11 Und sie sagen zu mir: Du musst wiederum weissagen über Völker und Nationen und Sprachen und viele Könige.
II Struktur Mit nur elf Versen ist dieses zehnte Kapitel das kürzeste in der ersten Hälfte der Offb – noch zweieinhalb Zeilen kürzer als Kap. 4, das ebenfalls elf Verse hat. In der ganzen Offb ist nur Kap. 15 noch kürzer. Aber trotz seiner Kürze ist Offb 10 geheimnisvoll. Was ist sein Anliegen? Seine Botschaft? Sein Skopus? Warum soll ein persönlicher Vorfall so wichtig sein, dass er in diesem prall gefüllten Buch ein ganzes Kapitel in Anspruch nehmen darf? Zuerst halten wir mit Ernst Lohmeyer fest, dass Offb 10 „ein in sich geschlossenes und reich gegliedertes Ganzes“ darstellt.1194 Die Anfangsworte Καὶ εἶδον [Kai eidon] markieren den Beginn eines neuen Gesichts und eines neuen Berichtsteils (V. 1). Die Szene wechselt gegenüber Kap. 9. Aber auch 11,1 markiert mit den Anfangsworten Καὶ ἐδόθη [Kai edothe] einen Neu-Einsatz, sodass Offb 10 auch gegenüber der Fortsetzung in Offb 11 deutlich abgehoben bleibt. Gerade dieses geschlossene Ganze lässt aber nun von Neuem die Frage entstehen, wie sich Offb 10 in Bezug auf die Posaunen verhält? Wir haben oben schon entschieden, dass die erkennbare Programmatik der Offb mit ihren 7 Posaunen (8,2ff; 11,15) es erfordert, die beiden Kapitel 10 und 11 in den Gesamtzusammenhang der sechsten Posaune einzuordnen. Dann aber ist Offb 10 eine Art retardierendes Element im Ablauf der sieben Posaunen-Visionen. Dementsprechend lauten die Überschriften über Offb 10: „An interlude“,1195 „Das Intermezzo“,1196 „Zwischenstück“,1197 „Das Ende der Pro-
1194 1195 1196 1197
Lohmeyer 3 S. 83. Morris S. 136 zu 10,1–11,14. Bousset S. 307. Lohse S. 61; Lohmeyer 3 S. 83; Behm S. 54; Pohl II S. 52.
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phetie“,1198 „Erste Episode der 3. Vision“1199 u.ä. Inhaltlich tituliert z.B. Aune: „The Angel and the Little Scroll“.1200 Insgesamt erscheint eine inhaltliche Titulierung angemessener als eine rein formale, da Überschriften wie „Zwischenstück“ oder „Zwischenspiel“ leicht den Eindruck von etwas Nebensächlichem erzeugen können. Was nun die Art des Inhalts von Offb 10 betrifft, so erinnert manches an die vorausgehenden Kapitel: z.B. der starke Engel an 5,2ff und 8,3ff; die redenden Donner an 4,5; 6,1; 8,5; der Schreibbefehl, der allerdings negativ ist, an 1,11.19; 2,1ff. Noch stärker ist die Parallelität zu Ez 2,9f; 3,1ff mit dem Büchlein und dem Essen des Büchleins sowie die Parallelität von 10,11 zu Jer 1,9f. Man kann deshalb überlegen, ob nicht Offb 10 so etwas wie eine Prophetenberufung darstellt, gewissermaßen eine zweite Berufung des Johannes nach 1,9ff.1201 Dass das Auftreten des Engels Züge „atlicher Theophanien“ trägt, wie Lohmeyer bemerkt,1202 passt dazu sehr gut. Und dass Lohmeyer zufolge in Offb 10,4 gleichsam ein „Prolog im Himmel“ stattfindet, der den „Kern der Apc“ einleitet, nämlich die siebte Posaune1203, deutet noch einmal in diese Richtung. Es ginge dann darum, dass Johannes auf das Schwerste der Endzeitbotschaft speziell vorbereitet würde. Daraus würde sich endlich auch die besondere Position und die besondere Bedeutung des zehnten Kapitels erklären.1204 Eine genauere Begründung kann aber erst die Einzelexegese liefern.
III Einzelexegese Unser Kapitel beginnt mit den Worten: Und ich sah einen anderen starken Engel aus dem Himmel herabkommen (V. 1). Diese Worte haben eine lebhafte Diskussion über eine Frage ausgelöst, die eher nebensächlich anmutet: Hat Johannes einen stillschweigenden Standortwechsel vollzogen? Ist er inzwischen zur Erde zurückgekehrt, nachdem er in 4,1f zum Himmel emporgestiegen war?1205 Demgegenüber weisen z.B. Kraft und Lohmeyer darauf hin, dass a) ein Wechsel des Standorts oder Horizonts kein Problem darstellt,1206 b) ein ἐν πνεύματι [en pneumati] befindlicher Seher 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204 1205
Kraft S. 145 zu 10 und 11. Zahn S. 408. Aune S. 547. Ähnlich Caird S. 124; Harrington S. 145. Ähnlich Brütsch S. 392. Lohmeyer 3 S. 84. Lohmeyer 3 S. 85. Ebenso Hartenstein S. 137. So Bousset (1896) S. 360; Lohse S. 62; Zahn S. 410; Behm S. 55; Römer S. 104; Weber S. 23. 1206 Lohmeyer 3 S. 83; Kraft S. 146.
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seinen „Standort“ überall haben kann und hier ein irdisches Ortskriterium unangemessen ist.1207 Darin ist ihnen zuzustimmen. Die Aussage einen anderen starken Engel (ἄλλον ἄγγελον ἰσχυρὸν [allon anggelon ischyron]) bezieht sich offensichtlich auf 5,2 zurück.1208 Damit klingt auch schon die Thematik des „Büchleins“ an. Stark (ἰσχυρός [ischyros]) darf wie in Offb 5,2 nicht nur auf die Stimme oder andere Äußerlichkeiten bezogen werden, sondern drückt eine „gewaltige Machtfülle“ aus.1209 Es handelt sich offenbar um einen „Engel aus Gottes unmittelbarer Umgebung“.1210 Charles und Lohmeyer führen „stark“ auf hebr. [ ִגּבּוֹרgibbor] zurück und vermuten „Gabriel“ als diesen Engel.1211 Diese Annahme dürfte aber zu weit hergeholt sein. Aus dem Himmel herabkommen (καταβαίνοντα ἐκ τοῦ οὐρανοῦ [katabainonta ek tu uranu]) bedeutet dann, aus Gottes unmittelbarer Umgebung heraus vor Johannes zu treten. Dass sich Johannes auf der Erde befindet, wird also nicht notwendig vorausgesetzt.1212 Die Wendungen stark und aus dem Himmel leiten schon das an eine Gotteserscheinung erinnernde (theophane) Geschehen ein. Die folgenden Angaben verstärken dieses Bild. Bekleidet mit einer Wolke (περιβεβλημένον νεφέλην [peribeblemenon nephelen]) war auch Gott beim Auszug aus Ägypten (Ex 13,21).1213 Außerdem erscheint Gott auf den Wolken (Ps 104,3). Es geht also um die „herrliche Erscheinung des Engels“, der gottähnlich auftritt.1214 Und der Regenbogen war über seinem Haupt: Hier werden wir an den Regenbogen oder „Strahlenkranz“ erinnert, der nach 4,3 den Thron Gottes umgibt. Deshalb steht wohl auch der Artikel bei der ἶρις [iris].1215 Auch in Ez 1,28 ist der „Regenbogen“ ein Kennzeichen der Herrlichkeit Gottes.1216 Offb 10,1 ist biblisch der einzige Fall, in dem ein solcher Regenbogen einen Engel umgibt. Erneut wird dadurch seine Legitimation durch Gott selbst ausgesagt. Karl Heinrich Rengstorf vermutet, dass dadurch die bleibende Gnade Gottes für seine Gemeinde inmitten der Gerichte zum Ausdruck kommen soll – ein durchaus möglicher Gedanke 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216
Kraft a.a.O.: „Er ist überall, wenn er ἐν πνεύματι [im Geiste] ist“. Bengel S. 484; Caird S. 125; Aune S. 557; P. Müller S. 38. Kraft S. 147. Kraft a.a.O. Vgl. Lohmeyer 3 S. 84. Lohse a.a.O. Dagegen Kraft a.a.O. Behm S. 55 vorsichtig dafür. Vgl. wieder Lohmeyer a.a.O. Vgl. Kraft a.a.O. Vgl. Bousset (1896) S. 361; Kraft a.a.O.; Lohmeyer a.a.O. Vgl. noch A. Oepke, Art. νεφέλη usw., ThWNT, IV, 1942, S. 910. Als Verhüllung des Engels oder der Botschaft gedeutet bei Grünzweig S. 255 u.a. Vgl. Bousset (1896) S. 361. Anders in Gen 9,13, gegen Lohmeyer a.a.O. Vgl. Kraft a.a.O.
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in Analogie zu Gen 9,13.1217 Und sein Angesicht war wie die Sonne (καὶ τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ὡς ὁ ἥλιος [kai to prosopon autu hos ho helios]): dieselben Worte, wobei nur πρόσωπον [prosopon] an die Stelle von ὄψις [opsis] tritt, charakterisieren in Offb 1,16 den auferstandenen Christus. Auch Mt 17,2 weist auf die theophanieähnlichen Züge in Offb 10,1 hin.1218 Und seine Beine waren wie Feuersäulen (καὶ οἱ πόδες αὐτοῦ ὡς στῦλοι πυρός [kai hoi podes autu hos styloi pyros]): πόδες [podes] bezeichnet hier nicht nur die Füße, sondern die ganzen Beine.1219 Wieder fällt die Nähe zur Christuserscheinung in Offb 1,15 auf. Feuer gehört nach dem Zusammenhang zu den Theophaniezügen (vgl. Ex 13,21; 19,18; Ps 104,4; Ez 1,4ff; Dan 7,9f). Offb 10,1 schildert uns jedenfalls die Beine des Engels als „gewaltig und in herrscherlicher Haltung“.1220 Doch Christus ist es nicht, wie Victorin v. Pettau, Primasius, Albertus Magnus u.a. meinten, auch nicht der Heilige Geist, auf den Vitringa deutete,1221 sondern eben nur ein Engel.1222 Vers 2 setzt die Schilderung des Engels fort: und er hatte ein geöffnetes Büchlein in seiner Hand (καὶ ἔχων ἐν τῇ χειρὶ αὐτοῦ βιβλαρίδιον ἠνεῳγμένον [kai echon en te cheiri autu biblaridion eneogmenon]). Büchlein (βιβλαρίδιον [biblaridion]) ist nach Blass-Debrunner eine Mischung aus den Diminutiven βιβλάριον und βιβλίδιον.1223 Statt ἔχων [echon] müsste eigentlich – weil abhängig von εἶδον [eidon] – ἔχοντα [echonta] stehen. Aber BlassDebrunner hält ἔχων [echon] als typischen Solözismus der Offb für „sozusagen indeklinabel“.1224 Sofort werden wir hier an Offb 5,1 erinnert. Wie der erhabene Gott selbst hält also auch sein Engel ein Buch in der Hand. Einiges haben 5,1 und 10,2 gemeinsam: den Charakter des Buches, die Verbindung des Buches mit der Hand,1225 das Sichtbarwerden vor dem Auge des Sehers. Doch es gibt auch deutliche Unterschiede: 1) Statt des „Buches“ (βιβλίον [biblion]) von 5,1 handelt es sich in 10,2 nur um ein kleines Büchlein (βιβλα1217 K.H. Rengstorf, Art. ἶρις, ThWNT, III, 1938, S. 341ff. 1218 Vgl. Lohmeyer a.a.O.; Kraft a.a.O. (weist auf Ex 34,33.35; 2Kor 3,13 hin); Rengstorf a.a.O. 1219 Bauer-Aland Sp. 1396; Kraft a.a.O. Lohmeyer a.a.O. ; K. Weiß, Art. πούς, ThWNT, VI, 1959, S. 629; Morris S. 137; Aune S. 558. 1220 Weiß a.a.O. Ähnlich U. Wilckens, Art. στῦλος, ThWNT, VII, 1964, S. 736. Bengel bemerkt zu Offb 10,1: „Die Wolke und das Feuer sind hier beysammen“ (S. 485). 1221 Vitringa S. 422f. 1222 Brütsch S. 394. Schon Bengel S. 484f; J.M. Hahn S. 270f; P. Müller S. 33. 1223 Blass-Debrunner § 111,8. Vgl. G. Schrenk, Art. βίβλος usw., ThWNT, I, 1933, S. 615.618. 1224 § 136,5. 1225 Ob es beim Engel die linke Hand war, wie Bengel S. 486 meinte, muss offenbleiben. Linke Hand: auch Aune S. 558.
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ρίδιον [biblaridion]); 2) statt der Versiegelung des Buches in 5,1 begegnet uns in 10,2 ein geöffnetes Büchlein; 3) von einer Beschriftung „innen und außen“ wird in 10,2 im Gegensatz zu 5,1 nichts bemerkt; 4) in 10,2 ist es nur ein Engel und nicht wie in 5,1 Gott selbst, der das Buch in der Hand hält. Fazit: Das Büchlein von 10,2 ist etwas anderes als das Buch von 5,1 und weist offensichtlich einen weniger umfangreichen Inhalt auf.1226 Hesekiel erlebte schon Ähnliches (2,9).1227 Doch was war nun der Inhalt? Gottlob Schrenk dachte an 11,1-14.1228 Lohmeyer meinte, das Büchlein könne nicht „c. 12 bis zum Ende zum Inhalt haben“, weil es dafür zu klein sei.1229 Bengel sah diesen Inhalt in allem noch Ausstehenden, also dem ganzen Rest der Offb („das Remanet“).1230 Im Blick auf den Verkündigungsauftrag in V. 11 scheint Bengel der Sache am nächsten zu sein. Aber da die Offb selbst über den Inhalt nichts Direktes sagt, müssen auch wir uns zurückhalten. Und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, seinen linken aber auf die Erde: Meer und Erde bedeuten die gesamte Erde1231 mit Kontinenten und Ozeanen. „Himmel und Erde“ konnte Johannes nicht sagen, da der Engel nicht die gesamte Schöpfung unter seinen Füßen hat. Den Fuß auf etwas setzen bedeutet: Macht darüber ausüben.1232 Der Engel hat natürlich nur die von Gott verliehene Macht. Und es ist die Macht des Wortes, das die ganze Erde hören muss.1233 In erster Linie geht es also nicht um die „Riesengröße des Engels“1234, sondern um die Größe und geschichtliche Wucht seiner Botschaft. Eine besondere Diskussion rief die Position des Engels hervor. Stand er bei Patmos, wie z.B. Bengel annahm,1235 und hatte er den rechten Fuß auf dem Meer, den linken auf der Erde, dann lag die Annahme nahe, dass er nach Süden blickte, evtl. nach Afrika1236 oder zum Heiligen Land.1237 Auch diese Annahmen überziehen das Konto. Es geht hier nicht um Spezialbotschaften,
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Bousset (1896) S. 361; Kraft S. 147. Vgl. Aune S. 571. Bousset (1896) a.a.O.; Lohmeyer 3 S. 84; Kraft a.a.O.; Lohse S. 62. Schrenk a.a.O. S. 618; auch Lohse a.a.O. Lohmeyer 3 S. 85. Bengel S. 486. Weiß a.a.O. S. 629; H. Sasse, Art. γῆ usw., ThWNT, I, 1933, S. 677; Lohmeyer a.a.O.; Kraft a.a.O.; Vitringa S. 427. Vgl. wieder Weiß a.a.O. S. 628f.626. Bousset (1896) a.a.O. Anders Lohmeyer a.a.O. Bengel a.a.O. Auch Zahn S. 410. So Bengel S. 488. So z.B. Weber S. 23; Limbach S. 31; Römer S. 105.
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sondern gerade um eine universale Botschaft für die ganze Erde.1238 Deshalb sollte man nicht kleinlich den Standort der Füße ausmessen wollen. Die Parallele in Dan 12,6, auf die schon Vitringa hinwies,1239 bestätigt diese Auslegung. Der dritte Vers schildert uns die Stimmen, die Johannes vernimmt. Zunächst ist es die Stimme des Engels: Und er schrie mit lauter Stimme, wie ein Löwe brüllt. Zwei Kennzeichen sind hier wichtig. Da ist zum Ersten die laute Stimme (φωνή μεγάλη [phone megale]). Schon mehrfach haben wir beobachtet, dass die „laute Stimme“ die hohe Autorität und Würde des Betreffenden zu Ausdruck bringt (vgl. 1,10.15; 5,2.10; 7,2.10; 18,2). So auch hier.1240 Sodann wird die Stimme mit dem Brüllen eines Löwen verglichen. Wie Hos 11,10; Am 1,2; 3,8; Jes 31,4; Jer 25,30; Joel 4,16 zeigen, wird dadurch ein Charakteristikum des Redens Gottes auf den Engel als Gottesboten übertragen.1241 Damit setzen sich die Züge einer Theophanie fort. Aber nun bleibt die Stimme des Engels nicht allein. Vielmehr weckt sie wie ein Echo die Stimmen der sieben Donner:1242 Und als er schrie, erhoben die sieben Donner ihre Stimmen, oder noch wörtlicher: „redeten (ἐλάλησαν [elalesan]) die sieben Donner mit ihren Stimmen“. Der Artikel die deutet auf schon Bekanntes. Aber von den sieben Donnern hat Johannes bisher nicht gesprochen, nur von den Donnern am Throne Gottes in 4,5 und den Donnern in 6,1 und 8,5. Wir vermuten, dass Johannes deshalb von „den sieben Donnern“ spricht, weil er sie mit den sieben Geistern Gottes verbindet (Offb 1,4; 3,1; 4,5; 5,6).1243 Ist diese Vermutung richtig, dann sind hier die „Donner“ von Offb 4,5 gemeint, die vom Thron Gottes ausgehen. Diese Vermutung steht auch in Übereinstimmung mit Jer 25,30 und Ps 29,3ff, also denjenigen alttestamentlichen Stellen,1244 die den Hintergrund von Offb 10,3 bilden.1245 Der Begriff redeten (ἐλάλησαν [elalesan]) bzw. erhoben ihre Stimmen zwingt uns dazu, an ein artikuliertes Sprechen zu denken.1246 Es handelt sich also nicht um ein unartikuliertes Brüllen oder Grollen. Das gilt selbst dann, wenn dieses Reden 1238 So auch Grünzweig S. 257; Lawton S. 73f; P. Müller S. 33; Pohl II S. 53f; Frey S. 107; Hartenstein S. 144; Caird S. 126; Morris S. 137; Zahn S. 410. 1239 Vitringa S. 427. 1240 Vgl. O. Betz, Art. φονή usw., ThWNT, IX, 1973, S. 286f. 1241 Betz a.a.O.; W. Michaelis, Art. λέων, ThWNT, IV, 1942, S. 258; Lohmeyer a.a.O. 1242 Vgl. Schlatter S. 222. 1243 Ebenso Kraft a.a.O.; Brütsch S. 396. 1244 So auch Betz a.a.O. S. 289. 1245 Vgl. noch W. Foerster, Art. βροντή, ThWNT, I, 1933, S. 638; Bousset (1896) S. 362; Kraft S. 148; Zahn S. 412. 1246 Vgl. Bauer-Aland Sp. 941; Morris S. 138.
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für Johannes „unverständlich“ war, wie Otto Betz meinte.1247 Aber die Annahme liegt viel näher, dass Johannes es tatsächlich verstanden hat. Bengel kommt vermutlich der Wahrheit nahe, wenn er erklärt: Sie „redeten mit deutlichen vernehmlichen Worten. Vermutlich waren“ es „Stimmen, die an Johannem im Gesicht ergangen sind“.1248 Lohmeyers Vermutung, es habe sich „um einen göttlichen … Dialog“ gehandelt, ist ebenfalls erwägenswert.1249 Wir halten fest: Es sind mächtige, von Gott legitimierte Stimmen, die den Engel unterstützen. In V. 4 begegnet uns etwas Atypisches. Während Johannes sonst unter dem Schreibbefehl steht (1,10; 2,1ff), darf er hier nicht schreiben, obwohl er es will. Und als die sieben Donner ihre Stimmen erhoben hatten, wollte ich schreiben … (ἤμελλον1250 γράφειν [emellon graphein]): Mit BauerAland1251 könnte man hier sogar übersetzen „fing ich an, zu schreiben“. Was? Nun, höchstwahrscheinlich doch das, was die sieben Donner geredet hatten. Folglich wird sie Johannes verstanden haben.1252 Da greift eine Stimme aus dem Himmel ein (φωνὴ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ [phone ek tu uranu]). Damals war die Himmelsstimme, die [ בת קולbat qol], bei den jüdischen Gelehrten und Schriftauslegern eine feste Größe.1253 Aber auch in den Evangelien hat sie einen legitimen Platz (vgl. Mt 3,17; 17,5). In Offb 10,4 wird nicht gesagt, auf wen diese Stimme zurückzuführen ist. Aber da die positiven Schreibbefehle in 1,10; 1,19; 2,1ff vom erhöhten Christus ausgingen, liegt die Annahme nahe, dass auch in Offb 10,4 die Stimme Christi gemeint ist.1254 Jedenfalls sind es weder der Engel noch die Donner, die Johannes wehren, sondern offenbar jemand mit höherer Autorität. Die Stimme sagt: Versiegle, was die sieben Donner geredet haben, und schreibe es nicht auf! Jetzt ist klar, dass Johannes dasjenige aufschreiben wollte, was die sieben Donner geredet haben. Versiegeln muss hier etwas anderes bedeuten als in Dan 8,26; 12,4.9. Denn es geht nicht um die Aufbewahrung von Geschriebenem, sondern um das Verbot jedweder Niederschrift. Versiegeln (σφραγίζω [sphragizo]) heißt hier also
1247 1248 1249 1250 1251 1252 1253 1254
A.a.O. Ebenso Lohmeyer a.a.O. Bengel S. 489. Lohmeyer a.a.O. Zur Augment-Form vgl. Blass-Debrunner § 66,3. Sp. 1015. Bengel S. 490; Aune S. 562; Zahn S. 411; Morris S. 139. Vgl. Betz a.a.O. S. 281ff. So auch Bousset (1896) S. 362; Brütsch S. 396; Bengel a.a.O.; J.M. Hahn S. 273. Vitringa S. 428ff: Deus.
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nicht „sichern“,1255 sondern „nicht offenbaren“.1256 Wir wissen also bis heute nicht, was die sieben Donner geredet haben.1257 Warum hat dann Johannes dieses Ereignis nicht stillschweigend übergangen? Man kann darauf eine dreifache Antwort geben: 1) Weil er nach 1,10.19 alles erwähnen sollte, was er sah; 2) weil er dadurch verdeutlichen konnte, dass er völlig unter göttlicher Leitung, ganz „unter Gottes Geheiß“1258 stand; 3) weil er damit andeuten konnte, dass der Reichtum der göttlichen Gedanken noch größer und herrlicher ist, als es in seinem Buch zum Ausdruck kommt.1259 Man kann sich allerdings nicht auf den „verborgenen Ratschluss Gottes“ (den absconditus deus) berufen, wenn man den offenbarten Ratschluss Gottes in Zweifel ziehen oder kritisieren will. Rein spekulativ ist die Annahme von Bousset, durch Offb 10,4 habe Johannes eine Sieben-Donner-Vision aus seinem Werk ausschließen wollen.1260 Auch Lohmeyers Einschätzung,1261 Offb 10,4 sei analog 2Kor 12,4 der „Ausdruck eines prophetischen Bewusstseins“, dürfte die Tendenz von Offb 10,4 kaum treffen. Die Verse 5-11 bringen jetzt drei Hauptereignisse, die den hauptsächlichen Inhalt von Offb 10 ausmachen: 1) die Zeitansage des Engels (V. 5-7), 2) das Essen des Büchleins durch Johannes (V. 8-10), 3) die erneute Beauftragung des Johannes (V. 11). Die Zeitansage wird eingeleitet durch den Schwur des Engels (V. 5-6). Und der Engel, den ich auf dem Meer und auf der Erde stehen sah, hob seine rechte Hand zum Himmel: Das ist der Rückbezug auf V. 2. Die Abfolge Meer – Erde ist dieselbe. Dass die Hand zum Schwur erhoben wird, ist ganz alttestamentlich. Sogar Gott selbst erhebt sie zum Schwur (Ex 6,8; Num 14,30; Dtn 32,40).1262 Dabei „wird auch im AT der rechten Hand gegenüber der linken bevorzugter Wert zugeschrieben“.1263 Wenn also der Engel seine rechte Hand zum Himmel aufhebt, dann wird sein Schwur dadurch besonders bekräftigt. Und schwor bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, 1255 Gegen Bauer-Aland Sp. 1588. 1256 G. Fitzer, Art. σφραγίς usw., ThWNT, VII, 1964, S. 950; G. Schrenk, Art. γράφω usw., ThWNT, I, 1933, S. 745; Bousset (1896) S. 362. 1257 Dennoch gibt es in der Literatur immer wieder Vermutungen, z.B. Bengel S. 490f: Lob Gottes; Kraft S. 149: „Auferstehung der Toten“; andere Vermutungen bei Brütsch S. 397; Zahn S. 412 meinte, es solle der Gemeinde später verkündigt werden. Richtig J.M. Hahn a.a.O. 1258 Schrenk a.a.O. 1259 Ebenso Schlatter S. 223; Morris S. 139; Behm S. 56; P. Müller S. 33; Lawton S. 74. 1260 Bousset a.a.O. Dagegen mit Recht Kraft S. 149; Caird S. 126. 1261 Lohmeyer a.a.O. 1262 Vgl. E. Lohse, Art. χείρ usw., ThWNT, IX, 1973, S. 419. 1263 Lohse a.a.O. S. 415.
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der den Himmel geschaffen hat und was darin ist: Das griechische ὀμνύειν ְ [ ִנnischba be] zurück.1264 Der lebt ἐν [omnyein en] geht auf hebräisches שׁ ַבּע ְבּ von Ewigkeit zu Ewigkeit (ὁ ζῶν εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων [ho zon eis tus aionas ton aionon]) ist uns seit 4,9 als Gottesbezeichnung vertraut. Jetzt tritt auch ganz deutlich die Verwandtschaft zwischen Offb 10,5f und Dan 12,7 zutage (LXX: καὶ ὕψωσε τὴν δεξιὰν … εἰς τὸν οὐρανὸν καὶ ὤμοσε τὸν ζῶντα εἰς τὸν αἰῶνα θεὸν [kai hypsose ten dexian … eis ton uranon kai omose ton zonta eis ton aiona theon]). Vermutlich hat Johannes hier in Anlehnung an Dan 12,7 formuliert. Auch inhaltlich besteht eine sehr enge Verwandtschaft, denn beiderseits ist die Zeit das Thema.1265 Die Anrufung Gottes als des Schöpfers führt uns in die ältesten Zeiten des AT zurück (vgl. Gen 14,19.22). Die feierliche, dreifache Ausführung des Schöpferhandelns mit dem Himmel und was darin ist, der Erde und was darin ist und schließlich dem Meer und was darin ist stammt erneut aus dem AT (vgl. Ex 20,11; Neh 9,6; Ps 146,6; Jona 1,9). Diese Trinität bringt zum Ausdruck, dass Gott das All ohne Ausnahme geschaffen hat (ἔκτισεν [ektisen]). Wieder bemerken wir die starke Betonung der Schöpfer-Theologie in der Offb (vgl. 4,11). Mit der Betonung des einzigen κτίζων [ktizon] des Alls wird der Gemeinde die unendliche Überlegenheit Gottes über alle Götzen, Weltherrscher und Mächte in Erinnerung gerufen (vgl. Apg 4,24; 14,15; 17,24). Aber warum schwor der Engel? Hat nicht Jesus seinen Jüngern „ein absolutes Schwurverbot“1266 erteilt? Vgl. Mt 5,33ff; 23,16ff; Jak 5,12. Die Antwort muss davon ausgehen, dass Jesu Verbot und der Schwur des Engels in zwei völlig verschiedene Kategorien gehören. Das Schwören der Menschen schafft der Unwahrheit Raum, weil das Nichtbeschworene eben auch nicht zu stimmen braucht. Das Schwören des Engels oder das Schwören von Gott selbst stärkt dagegen den Glauben. Der Mensch, der so leicht verzweifelt oder verzagt, hat dann einen doppelten Halt: das unverbrüchliche Wort Gottes und dazu den Schwur, der es noch einmal bekräftigt (vgl. Gen 22,16; Jes 62,8; Am 4,2; Hebr 6,13ff). So ist es auch hier: Der Schwur des Engels macht seine Botschaft unverbrüchlich fest und unbedingt glaubwürdig und gibt dadurch dem schwachen Glauben des Menschen einen zusätzlichen Halt. Was schwor der Engel nun? In V. 6 sind es im Griechischen ganze drei Wörter – denen freilich noch V. 7 folgt! –, nämlich : χρόνος οὐκέτι ἔσται [chronos uketi estai], auf Deutsch: Eine Zeit wird nicht mehr sein. Den 1264 Bauer-Aland Sp. 1147; Blass-Debrunner § 149,3; 206,2. 1265 Ebenso Joh. Schneider, Art. ὀμνύω, ThWNT, V, 1954, S. 184; Caird S. 127; Aune S. 566. 1266 So Joh. Schneider a.a.O. S. 182.
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Wortlaut der Lutherbibel: „Es soll hinfort keine Zeit mehr sein“ könnte man so verstehen, dass die „Zeit“ von nun an ganz verschwinden und nur noch die Ewigkeit bleiben solle. Manche Ausleger verstehen es auch so.1267 Die Mehrheit der modernen Ausleger nimmt dagegen Zeit (χρόνος [chronos]) als „Verzögerung“ und versteht dann Offb 10,6 als Zusicherung, dass das Ende ohne Verzögerung eintreten wird.1268 Im System Johann Albrecht Bengels spielt „der Chronus“ eine wichtige Rolle, und zwar als Zeitabschnitt von 1111 1/9 Jahren. Bengel versteht nun Offb 10,6 so, dass kein vollständiger Chronus mehr „herauskommen“ wird, sondern nur noch ca. 1000 Jahre bis zu Erfüllung des Heilsplanes Gottes.1269 In einer gewissen Parallelität zu Bengel meinte der zweite große schwäbische Ausleger jener Zeit, Johann Michael Hahn: „Es soll gar keine lange Zeit mehr anstehen“, bis Gott seine Verheißungen erfüllt.1270 Wie sollen wir uns hier orientieren? Da a) die Weissagungstätigkeit des Johannes ausdrücklich weitergehen soll (V. 11) und b) in der Offb später noch verschiedene Zeitabläufe angekündigt werden (10,7; 11,2f; 12,6.12.14; 13,5; 15,8; 17,10.12; 20,2ff.7), wäre eine Aussage in Offb 10,6, dass die Zeit schlechthin aufhören soll, wenigstens an dieser Stelle schwer verständlich. Leichter fällt die Annahme, dass hier tatsächlich eine Verzögerung der Pläne Gottes ausgeschlossen werden soll. Positiv ausgedrückt: Der Engel schwört also, dass Gott unverzüglich seine Pläne umsetzen und die Endereignisse in Gang setzen wird.1271 Eine solche Deutung stimmt sowohl mit Jes 13,221272 als auch mit 2Petr 3,9 überein, wo es heißt: „Der Herr verzögert nicht die Verheißung.“1273 Dieses Resultat muss allerdings gegen das Missverständnis abgesichert werden, als käme hier eine unmittelbare Naherwartung zum Ausdruck. Das ist nicht der Fall, wie die folgenden Zeitabläufe und Fristen, die noch bevorstehen und die wir oben genannt haben, beweisen. Wie schon bei ἐν τάχει [en tachei] Offb 1,1 geht es vielmehr darum, dass Gott ohne Verzug die Vollen-
1267 Offenbar auch G. Bornkamm, Art. μυστήριον usw., ThWNT, IV, 1942, S. 830: Es „endet die Zeit“. Vgl. Aune S. 568; Brütsch S. 398f; Spitta (Bousset S. 310). 1268 So z.B. G. Delling, Art. χρόνος, ThWNT, IX, 1973, S. 587f; J. Schneider a.a.O. S. 184; Bauer-Aland Sp. 1771; Behm S. 57; Morris S. 140; Schlatter S. 223, Hartenstein S. 144; P. Müller S. 133; Grünzweig S. 259; Zahn S. 414; Harrington S. 149; Bousset S. 310; U.B. Müller S. 202. 1269 Bengel S. 494f. 1270 J.M. Hahn S. 274. 1271 Die Alternative bei Aune a.a.O. überzeugt nicht. 1272 Vgl. dazu T. Kronholm, Art. עת, ThWAT, VI, 1989, Sp. 481. 1273 Wettsteins Bezugnahme auf Mt 24,22; Dan 8,19 ist weniger glücklich.
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dung des Heils bewirkt.1274 Darin allerdings liegt ein verlässlicher Trost für die leidende Gemeinde.1275 Vers 7 vollendet die Zeitansage des Engels: Sondern in den Tagen, wenn man den siebten Engel hören wird, wenn er seine Posaune blasen wird, ist das Geheimnis Gottes vollendet. Die Bedeutung dieser Aussage liegt auf der Hand: Die siebte Posaune bringt die Weltgeschichte zur Vollendung und die alte Schöpfung an ihr Ende. Zu den Einzelheiten: Der siebte Engel und die siebte Posaune stehen schon seit 8,2 bereit. In 11,15 wird diese „siebte Posaune“ erschallen. Der Ausdruck in den Tagen (ἐν ταῖς ἡμέραις [en tais hemerais]) ist altbiblisch (Gen 26,1; Ex 2,11; Ri 15,1; Mi 4,1).1276 Es handelt sich hier um einen Zeitabschnitt. Die Ereignisse der siebten Posaune schlagen also nicht wie ein Blitz alle auf einmal ein, sondern benötigen ihre Zeit: „Die folgenden Sätze handeln von zeitlich bestimmten Ereignissen“.1277 Das Geheimnis Gottes (τὸ μυστήριον τοῦ θεοῦ [to mysterion tu theu]), aramäisch ָרז [ras], ist der Ratschluss Gottes. Der Gemeinde ist er bekannt, der Welt, die sich um Gott nicht kümmert, unbekannt. Es geht also nicht, wie das Wort Geheimnis (μυστήριον [mysterion]) zunächst vermuten ließe, um ein „unergründliches Geheimnis“.1278 Was heißt dann: Das Geheimnis Gottes ist vollendet (ἐτελέσθη [etelesthe], nämlich in den Tagen der siebten Posaune)? Der gnomische Aorist, den das griechische ἐτελέσθη [etelesthe] darstellt, bezeichnet etwas „für alle Zeiten“ Gültiges und zugleich etwas Futurisches.1279 Es ist vollendet besagt dann, dass der Ratschluss Gottes bezüglich der ganzen Welt und seiner Gemeinde in den Tagen der siebten Posaune ganz ans Ziel kommen und in Ewigkeit Bestand haben wird. Dann ist alles erfüllt.1280 Dieser Ratschluss stimmt ganz mit dem überein, was Gott seinen Knechten, den Propheten, verkündigt hat. Mindestens seit dem 6. Jh. v.Chr., wahrscheinlich aber noch viel früher (vgl. 1Sam 3,9), ist die Wendung seine Knechte, die Propheten eine feststehende Bezeichnung für die wahren Propheten Israels (vgl. Jer 7,25; 25,4; Dan 9,6.10; Am 3,7; Sach 1,6).1281 Zwar kann man mit 1274 1275 1276 1277 1278
Richtig Römer S. 106. Bengel S. 492: „eine hochfeyerliche Protestation“ gegen die Feinde Gottes. Vgl. J. Bergman / M. Saeb / H. von Soden, Art.: יוֹם, ThWAT, III, 1982, Sp. 559ff. Zahn a.a.O. So mit Recht Zahn S. 413. Vgl. G. Bornkamm, Art. μυστήριον usw., ThWNT, IV, 1942, S. 809ff. 1279 Vgl. Blass-Debrunner § 333. Bousset S. 310: καὶ ἐτελέσθη [kai etelesthe] = τελεσθήσεται [telesthesetai]; ebenso Lohmeyer 3 S. 86. 1280 Vgl. G. Delling, Art. τέλος usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 60: „vollzogen“. 1281 Vgl. H. Ringgren im Art. עבד, ThWAT, V, 1986, Sp. 1002f; K.H. Rengstorf, Art. δοῦλος usw., ThWNT, II, 1935, S. 276.
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W.J. Harrington annehmen, dass in Offb 10,7 sowohl die alttestamentlichen als auch die neutestamentlichen Propheten gemeint sind.1282 Aber nach dem alttestamentlichen Hintergrund der Offb zu schließen scheint der Bezug auf die alttestamentlichen Propheten allein doch näherzuliegen.1283 Was Gott ihnen in der Zeit der Verheißung verkündigt hat (εὐηγγέλισεν [euenggelisen]),1284 das erfüllt sich durch das Lamm Jesus Christus. Auf ein besonderes Moment ist noch hinzuweisen. Das ist der Gebrauch des Verbs εὐαγγελίζειν [euanggelizein] = [ ִבּ ַּשׂרbissar] = „eine Freudenbotschaft verkünden“. Der Gebrauch gerade dieses Verbs zeigt an, dass die Vollendung des Ratschlusses Gottes keine Dominanz einer quälenden Gerichtsszenerie sein wird, sondern Freude, Jubel, Befreiung und Frieden, wie wir es durch das Evangelium heute schon erfahren (Röm 5,1ff). Wo Gott ans Ziel kommt, da ereignet sich die endgültige und befreiende Erlösung der Glaubenden, ja der ganzen Schöpfung (Röm 8,18ff). Im Kern ist die Offb also „Freudenbotschaft“!1285 Der Zeitansage des Engels in V. 5-7 folgt jetzt als zweites Hauptereignis das Essen des Büchleins durch Johannes (V. 8-10). Auslöser auch dieses Ereignisses ist eine Stimme aus dem Himmel: Und die Stimme, die ich aus dem Himmel gehört hatte, redete mit mir und sagte … (V. 8). Für Johannes ist es die bekannte Stimme von V. 4. Folglich ist es auch hier die Stimme Jesu Christi.1286 Grammatisch wirkt V. 8 herb1287: Es fehlt ein Verbum finitum, und außerdem erwartet man statt der Akkusative λαλοῦσαν [lalusan] / λέγουσαν [legusan] einen Nominativ. Aber der Sinn ist klar. Geh hin, nimm (ὕπαγε λάβε [hypage labe]1288) das geöffnete Buch in der Hand des Engels, der auf dem Meer und auf der Erde steht!, lautet der Befehl an Johannes. Was in V. 2 „Büchlein“ (βιβλαρίδιον [biblaridion]) hieß, heißt jetzt Buch (βιβλίον [biblion]). Wir dürfen es also nicht verniedlichen, auch wenn es kleiner bleibt als das Buch von 5,1. Wenn es geöffnet ist, be1282 Harrington S. 149. So auch G. Friedrich, Art. εὐαγγελίζομαι usw., ThWNT, II, 1935, S. 718; Brütsch S. 400; Morris S. 141. Schlatter S. 223; Pohl II S. 58; U.B. Müller S. 202. Nur auf Christen bezieht es Caird S. 129; Bousset S. 311. 1283 So auch Zahn S. 414; Aune S. 570; Bengel S. 499. 1284 Zu εὐαγγελίζειν [euanggelizein] als Übersetzung für בשרvgl. G. Friedrich a.a.O. S. 710. 1285 So auch Friedrich a.a.O. S. 718; Behm S. 57; Limbach S. 31; Pohl II S. 58; Bousset S. 310f; Bengel S. 499. 1286 Bousset S. 312; Lohse S. 63; Anders Zahn S. 415: ein Engel. 1287 Kraft S. 150. 1288 Vgl. dazu Blass-Debrunner § 101,46.
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deutet dies noch einmal, dass Johannes es nicht zu öffnen braucht. Christus bietet das Buch schon in geöffnetem Zustand an und macht damit klar, dass es Johannes lesen und verstehen kann. Der Verfasser ist eindeutig nicht der Engel – der hat es nur in der Hand –, sondern der dreieinige Gott. Hier schon beginnt die Parallele zu Hes 2,8ff, die die Ausleger notieren.1289 Vgl. Ez 2,9 LXX: καὶ ἰδοὺ χεὶρ ἐκτεταμένη πρός με καὶ ἐν αὐτῇ κεφαλὶς βιβλίου [kai idu cheir ektetamene pros me kai en aute kephalis bibliu]. Vers 9 schildert den Gehorsam des Johannes, wie Ez 3,1ff den Gehorsam Hesekiels schildert: Und ich ging1290 zu dem Engel und sagte zu ihm: Gib mir das Büchlein (τὸ βιβλαρίδιον [to biblaridion])! Johannes sagte kein Wort über das hinaus, was ihm befohlen war. Erst jetzt taucht das Stichwort essen auf: Und er sagt zu mir: Nimm und iss es (λάβε καὶ κατάφαγε αὐτό [labe kai kataphage auto])! Und es wird deinen Bauch bitter machen, aber in deinem Mund wird es süß sein wie Honig. Dass das Stichwort essen so spät auftaucht, soll vermutlich verhindern, dass sich der Leser zu stark mit dem Umstand des Verschlingens des Büchleins beschäftigt. κατάφαγε [kataphage] findet sich auch in Ez 3,1 LXX. Wörtlich bedeutet es verschlingen, also völlig in sich aufnehmen.1291 Äußerlich ist das verschlingen/essen vorstellbar, weil es sich um eine Papyrusrolle handelt, die man durchaus aufessen konnte. Aber das Problem liegt woanders: Warum kommt es zu einem solchen Vorgang (vgl. V. 10)? Bei der Antwort ist Folgendes zu bedenken: 1) Das Wort Gottes wird in der Bibel öfters als Speise, Lebenskraft o.ä. bezeichnet (vgl. Dtn 8,3; 32,47; Ps 19,11; 119,103; Jer 15,6)1292, auch von Jesus selbst (Joh 4,31ff; 6,35). 2) Die Verkündiger des Wortes Gottes sollen sich innerlich mit ihrer Botschaft identifizieren (Ez 2,8ff). 3) Eine Berufung, auch eine neue Berufung wie in Offb 10,8ff, macht Gott gerne durch Zeichen fest (vgl. Ex 4,1ff; Ez 2,8ff; Apg 10,1ff). Alle drei Perspektiven kommen in Offb 10,8ff zusammen: Die Botschaft der Offb wird dem pilgernden Gottesvolk als Speise gegeben (vgl. 1,1), Johannes soll sie verinnerlichen und sich ganz mit ihr identifizieren,1293 er soll durch das Essen des Buches auch ein gewiss machendes Zeichen seiner weiteren Berufung erhalten.1294 1289 Bousset a.a.O.; Kraft S. 150; Lohse a.a.O.; U.B. Müller S. 202. Vgl. meinen HesekielKommentar I S. 74f, Schlatter BFchTh S. 72.82. 1290 Zu ἀπῆλθα [apeltha] vgl. Blass-Debrunner § 81,3. 1291 Bauer-Aland Sp. 858. Vgl. Offb 12,4. 1292 Wettstein weist auch auf Hiob 20,14 hin (S. 789). 1293 Vgl. Schlatter S. 224; J.M. Hahn S. 278; Frey S. 109; Grünzweig S. 263. 1294 Vgl. U.B. Müller a.a.O.; Behm S. 57; Schlatter S. 223; Kretschmar S. 38.
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Der Engel sagt dabei voraus: Es wird deinen Bauch bitter machen, aber in deinem Mund wird es süß sein wie Honig. Müsste nicht der Mund vor dem Bauch (κοιλία [koilia]) erwähnt werden? In der Tat verspürt Johannes nach V. 10 zuerst die Süßigkeit im Mund, dann erst die Bitterkeit im Inneren. Aber das bitter machen (πικραίνειν [pikrainein]), wie Wermut „bitter macht“ (Offb 8,11),1295 bedeutet den Hauptakzent des Büchleins und wird deshalb zuerst erwähnt. Johannes muss also schlimme Ereignisse prophezeien. Nicht umsonst verknüpfen die Ausleger die Bedeutung des „Bitteren“ mit den kommenden Leiden in Offb 11ff.1296 Dies ändert aber nichts daran, dass Gottes Wort als solches süß wie Honig (γλυκὺ ὡς μέλι [glyky hos meli], vgl. Ez 3,3) oder gar „süßer als Honig“ (Ps 119,103) ist. Nach Ri 14,18 ist Honig das Allersüßeste auf Erden. Aber Gottes Wort ist es noch mehr. So kommt hier der unendliche Wert des Gotteswortes und die große Freude am Reden Gottes zum Ausdruck.1297 Viele Ausleger erklären das süß in Offb 10,9 so, dass es die Bewahrung der Gemeinde in den schlimmen Ereignissen der Zukunft aussage.1298 Aber dies ist nur ein Teilaspekt. Die umfassendere Deutung, wie soeben vorgetragen, entspricht viel besser Ps 119,103; Ez 3,3 und dem Kontext in Offb 10. Noch weniger empfiehlt sich die Erklärung von Kraft, wonach das bitter machen (πικραίνειν [pikrainein]) möglicherweise „den Widerstand des Propheten gegen seine Berufung“ zum Ausdruck bringe.1299 Von einem solchen Widerstand ist im ganzen Kontext weder etwas zu sehen noch etwas zu spüren. Schlatters Auslegung des Süßen und des Bitteren berührt sich nahe mit der unseren: „Mit dem doppelten Geschmack des Buches ist vielleicht dargestellt, daß sich Seligkeit und Leid im prophetischen Amt innig einigen.“1300 Es geschieht, wie es der Engel prophezeite: Und ich nahm das Büchlein (τὸ βιβλαρίδιον [to biblaridion]) aus der Hand des Engels und aß es (κατέφαγον αὐτό [katephagon auto]), und es war in meinem Mund süß wie Honig, aber als ich es gegessen hatte, wurde mein Bauch bitter (ἐπικράνθη [epikranthe]), V. 10. Als erste Wirkung schildert Johannes, was er in seinem Munde spürte: die Süßigkeit der Botschaft bzw. des Wortes Gottes. Als zweite Wirkung empfindet er die Bitterkeit im Bauch. Dass der ganze Vers nur „He1295 Vgl. Bauer-Aland Sp. 1323. 1296 Vgl. U.B. Müller S. 203. 1297 Vgl. meinen Hesekiel-Kommentar I S. 75 zu Ez 3,3; J.M. Hahn a.a.O.; Hartenstein S. 145; P. Müller S. 33; Grünzweig S. 264. 1298 So z.B. Wikenhauser S. 83; Lohse a.a.O.; Bousset S. 312; U.B. Müller a.a.O. 1299 Kraft S. 151. 1300 Schlatter S. 224. Ähnlich W. Michaelis, Art. πικρός usw., ThWNT, VI, 1959, S. 124.
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sekiel zulieb eingefügt“ sei,1301 rechnet mit einem literarischen Puzzle, das den Absichten des Johannes nicht entspricht (vgl. Offb 1,9ff). Wikenhauser bemerkt zu Offb 10,10: „Über den Inhalt des geöffneten Büchleins sind sich die Erklärer nicht einig.“1302 Eine solche Einigkeit ist auch nicht zu erwarten.1303 Denn Johannes selbst macht keine Aussage über diesen Inhalt. Die Parallelität zu Ez 2,8ff erlaubt uns nur die Schlussfolgerung, dass Johannes in den kommenden Kapiteln schlimme Ereignisse ankündigen muss.1304 Als drittes Hauptereignis in Offb 10 wird jetzt die erneute Beauftragung des Johannes berichtet (V. 11): Und sie sagen zu mir (καὶ λέγουσίν μοι [kai legusin moi]): Du musst (δεῖ [dei]) wiederum weissagen über Völker und Nationen und Sprachen und viele Könige. Das entscheidende Wort ist hier δεῖ (σε) [dei (se)]= Du musst. Das ist eine göttliche Bestimmung, die Johannes als Glaubender akzeptieren kann. δεῖ [dei] darf nicht mit einer schicksalhaften Prädestination verwechselt werden. Vielmehr drückt hier δεῖ [dei] den Willen Gottes aus, der den Menschen persönlich fordert und nur im Glauben angenommen werden kann.1305 Unter diesem δεῖ [dei] standen auch Jesus (vgl. Mt 16,21; Lk 2,49; 4,43; Joh 3,14; 10,16; 20,9), Paulus (vgl. Apg 19,21; 23,11; 1Kor 9,16; Kol 4,4) sowie Jeremia (vgl. Jer 1,10; 20,7ff; 25,30). Der Auftrag des Johannes wird ganz allgemein als προφητεῦσαι [propheteusai] (weissagen) bezeichnet. Weissagen bedeutet, den Willen Gottes zu verkündigen. Das heißt im Falle der Offb vor allem, die gottbestimmte Zukunft zu enthüllen. Aber προφητεῦσαι [propheteusai] ist auch hier in der Offb mehr als nur Zukunftsweissagung. Der Begriff schließt nämlich Bußruf, Mahnung und Tröstung ein.1306 Diese Beauftragung des Johannes lässt uns nach der Bedeutung der neutestamentlichen Propheten fragen. In Mt 23,24 kündigt Jesus an, dass er „Propheten und Weise und Schriftgelehrte“ senden wird. Deshalb gehören Propheten zu den normalen Ämtern der neutestamentlichen Gemeinden. In Apg 13 werden Paulus und vier weitere hervorragende Männer als „Propheten und Lehrer“ bezeichnet. In den Ämterlisten 1Kor 12,28f; Eph 4,11 stehen die Propheten nach den Aposteln auf dem zweiten Rang. Dass Paulus sich selbst auch 1301 1302 1303 1304 1305 1306
So Kraft S. 151. Wikenhauser S. 83. Vgl. Aune S. 571. Öfter wird der Inhalt des Büchleins mit Kap. 11 identifiziert. So Lohmeyer 3 S. 87. Richtig W. Grundmann, Art. δεῖ usw., ThWNT, II, 1935, S. 22f. So mit Recht G. Friedrich im Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, S. 855. Vgl. Lohmeyer 3 S. 87.
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als Propheten betrachtete, geht aus 1Kor 14,1ff hervor. Für Johannes steht dasselbe nach Offb 10,11; 22,9 außer Zweifel. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die Gemeindeordnung in 1Kor 14, denn ihr zufolge hat Korinth – wahrscheinlich ebenso wie andere Gemeinden – mehrere Propheten, die predigen und für Lehre und Ermahnung zuständig sind (1Kor 14,29ff). Den Fall einer Zukunftsweissagung behandelt Paulus in 1Kor 14 gar nicht. Wichtig ist ferner, dass die Propheten = Prediger sich in die Gemeindeordnung einfügen und die Verantwortung nicht auf den Heiligen Geist abschieben dürfen: „Die Geister der Propheten sind den Propheten untertan“ (1Kor 14,32; vgl. V. 29.30.31.33). Offenbar legen also die neutestamentlichen Propheten in der Regel die Bibel des AT sowie die Lehre Jesu und der Apostel aus und tun damit im Grunde dasselbe wie die heutigen Prediger des Wortes. Nur ausnahmsweise kommt es zu Zukunftsweissagungen (vgl. Apg 11,27ff; 21,10ff).1307 Das hervorragendste Beispiel für einen urchristlichen Propheten, der die Zukunft weissagt, bleibt aber der Apostel und Zebedäussohn Johannes. Dass er für eine ganze „Klasse“ christlicher Propheten gesprochen haben soll, wie einst Bousset schrieb, lässt sich nicht einmal aus Offb 22,9 ableiten.1308 Vielmehr ist die Berufung des Johannes so einzigartig wie diejenige eines Jeremia oder Paulus, die auch nicht für ganze „Klassen“ gesprochen haben. Zu den Einzelheiten von V. 11: Zu καὶ λέγουσίν [kai legusin] (Und sie sagen zu mir)1309 bemerkte einst Bousset: „Schwierigkeiten bereitet der Plural.“1310 In Wirklichkeit ist der Plural aber nicht problematisch. So wie in V. 3 eine Mehrheit himmlischer Stimmen auftauchte, so kann auch hier eine Mehrheit solcher Stimmen gemeint sein.1311 Oder es gesellen sich zu dem „andern starken Engel“ von V. 1 noch andere Engel.1312 Jedenfalls aber ist das, was dem Johannes gesagt wird, ein von Gott und Christus kommender Auftrag. Dabei fällt das πάλιν [palin] auf: Du musst wiederum (πάλιν [ palin]) weissagen. Erstaunlicherweise wird in der Literatur auch dieses wiederum problematisiert. Kraft schreibt sogar: „Die Probleme, die dieses πάλιν stellt, schei-
1307 Vgl. Friedrich a.a.O. S. 851ff. 1308 Gegen Bousset S. 311. 1309 Sicher ursprünglich gegenüber λέγει [legei], das eine Erleichterung darstellt. Vgl. Zahn S. 415,57. 1310 Bousset S. 313. Ebenso Kraft S. 151. 1311 U.B. Müller (S. 203), Aune S. 573 und Charles: „man“. Behm S. 57: „Stimme und Engel“. 1312 Dagegen ist es bedenklich und unnötig, hier die Stimme Christi und des Engels vereinigt zu sehen. Warum sollte die Stimme Christi die Verstärkung durch den Engel nötig haben? Gegen Lohmeyer 3 S. 87.
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nen völlig unlösbar zu sein.“1313 Er kann sich die Sache nur so vorstellen, dass Johannes hier seine „Vorlagen“ zusammenarbeitet und in den Vorlagen Jeremia „als wiederkehrender Prophet“ gemeint sei oder besser noch – Hesekiel! 1314 Selbst Wikenhauser vermutet, hier werde Johannes beauftragt, „eine schon aufgezeichnete Prophetie“ (nämlich Kap. 11) „in sein Buch“ aufzunehmen.1315 Solche Annahmen sind abenteuerlich. In Wirklichkeit erinnert Offb 10,11 an die vorausgehenden Weissagungen des Johannes in den Kapiteln 1–10 und beauftragt ihn, „aufs Neue“ prophetisch tätig zu sein, nämlich in den Kapiteln 11–22.1316 ἐπί [epi] kann verschieden übersetzt werden: a) mit „gegen“ im feindlichen Sinne, b) mit über im Sinne der Thematisierung.1317 Da Johannes auch für die Gemeinde aus den Völkern, Nationen usw. weissagt (Offb 7,9), ja sogar ein ewiges Evangelium für alle „Völker und Nationen“ in Aussicht stellt (Offb 14,6), wäre die Übersetzung „gegen“ eine unzulässige Einschränkung. Wie Bauer-Aland1318 ziehen wir deshalb die Übersetzung über vor. Zu den Begriffen Völker (λαοί [laoi]) und Nationen (ἔθνη [ethne]) und Sprachen (γλῶσσαι [glossai]) vgl. die Erklärung bei 5,9. Im AT sind vor allem Jer 1,10 und Dan 3,4ff zu vergleichen. Offb 10,11 ergänzt Völker/Nationen/Sprachen durch viele Könige (βασιλεῖς πολλοί [basileis polloi]). Zweifellos haben die Könige in der Offb einen negativen Klang (vgl. 1,5; 6,15; 9,11; 16,12ff; 17,2ff; 18,3ff; 19,18f). Aber mit der Erwähnung vieler Könige macht Offb 10,11 zugleich klar, dass es in der Prophetie des Johannes nicht nur um kollektive Größen geht, sondern auch um einzelne die Geschichte prägende Gestalten.1319
IV Zusammenfassung 1. Jede zusammenfassende Deutung von Offb 10 muss sich zunächst der Tatsache stellen, dass wir auch hier einer Variationsbreite historischer, literarischer und geistlicher Auslegungen begegnen.
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Kraft a.a.O. A.a.O. Wikenhauser S. 83. Vgl. Aune S. 573. Bousset a.a.O.; U.B. Müller a.a.O.; Lohse S. 63; Morris S. 143; Zahn S. 416; Bengel S. 511 sah das „wiederum“ im Unterschied zu den alttestamentlichen Propheten. Lohmeyer 3 S. 87; Kiddle S. 173. 1317 Vgl. Bauer-Aland Sp. 581f. 1318 Sp. 582. Anders Aune S. 573: „against“. 1319 Vgl. K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, S. 576ff. Auf die kleinasiatischen und europäischen Könige bezieht es Vitringa S. 442.
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So hat Luther in dem Bitteren, von dem Offb 10,9f die Rede ist, „das heilige Papsttum mit seinem großen geistlichen Schein“ gesehen.1320 Der Täufer Melchior Hofman zählte zu den Propheten von Offb 10,7 neben den alttestamentlichen auch seine Zeitgenossen: „Johann Eysenburg, Johann Baptista, Schnepfer Hans, Hans Fust, Jorg Jubele, Barbel, Ursel, Lorenz, Blum“.1321 Johann Coccejus (1603–1669) fand in Offb 10f die Kriegswirren der Jahre 1640–1660 geweissagt.1322 Für J.A. Bengel beginnt ein sog. NonChronus, ein Zeitraum von rund 1000 Jahren, bei Offb 10,6. Er sieht diesen Beginn in der Kaiserkrönung Karls d. Gr. im Jahre 800 n.Chr.1323 Heinrich Corrodi in Zürich findet in der Offb nur die Geschichte der „im ersten Jahrhundert nach Christus lebenden bekehrten Juden und Heiden“.1324 Eine Prophetie auf spätere Zeiten gibt es nicht. Unter den Deutungen des 20. Jh. erwähnen wir diejenige von Bernhard Philberth, weil sie nicht ohne Einfluss auf die politischen Strömungen der 60er- und 70er-Jahre war. Er deutet Offb 10 auf die bevorstehende nukleare Katastrophe eines Atomkriegs.1325 2. Wir setzen ein bei einer formalen Beobachtung: So wie 7,1-8 und 7,9-17 zwischen das sechste und siebte Siegel gestellt sind, so sind Kap. 10 und 11 zwischen die sechste und siebte Posaune gestellt. Der Effekt ist beide Male derselbe: Der siebte Schritt wird jeweils besonders wichtig gemacht, und es wird vor diesem siebten Schritt noch einmal die Möglichkeit zu Besinnung und Buße angeboten.1326 3. Die Tatsache, dass mit Offb 10f die siebte Posaune zunächst verzögert wird, berechtigt uns noch lange nicht, von einem „Zwischenstück“1327 o.ä. zu sprechen. Bousset sah hier wesentlich klarer, wenn er Offb 10 als mächtige „Klammer“ des Buches bezeichnete.1328 Offb 10 hat im Ganzen des Buches eine doppelte Funktion: Das Kapitel leitet erstens die Endereignisse im eigentlichen Sinne ein, und es bekräftigt gerade an dieser Stelle den Auftrag des Johannes durch eine zweite, erneute Berufung. 4. Indem Gottes Engel bei der Einleitung der eigentlichen Endereignisse zum starken Mittel des Schwurs greift, gibt er der leidenden Gemeinde Jesu 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328
Vorreden S. 185. Vgl. Maier Offb S. 255f. Vgl. a.a.O. S. 329. Bengel S. 696ff. Kritische Geschichte des Chiliasmus, Zürich, o. J. (doch wohl 1781), Bd. III, S. 19f, vgl. S. 23. Philberth S. 193. Morris S. 136; Brütsch S. 393; Lohmeyer 3 S. 83. Gegen Lohmeyer 3 S. 89f. Bousset S. 313.
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einen starken Trost: Alles wird nach Gottes Willen verlaufen und darf aus Gottes Hand genommen werden. Anna Lawton hat diesen Trost in die angemessenen Worte gefasst: „Unser Gott schreitet zur Vollendung, zum hohen, herrlichen Ziel, das er sich von Ewigkeit her vorgesetzt hat in Christus Jesus. Das ist das Geheimnis Gottes.“1329 5. Angesichts dieser aus dem Text selbst klar hervorgehenden Aussagen und Interpretationen ist es verfehlt, hier historische Abläufe späterer Zeiten wie z.B. Ereignisse des 9. oder des 17. Jh. prophezeit zu sehen. Ebenso wenig überzeugt die Deutung auf kirchengeschichtliche oder politische, z.B. atomare, Katastrophen. Besser beraten sind wir, wenn wir Offb 10 wie Johannes selbst in den Gang der Offb und in die Berufungsgeschichte des Johannes einordnen. Von da aus ergibt sich im Weg einer typologischen Deutung durchaus auch eine geistliche Anwendung für die heutige Kirche und die heutigen Christen. 6. Es bleibt aber ein Geheimnis, das mit der unausforschlichen Größe Gottes zusammenhängt (vgl. Röm 11,33ff; 1Kor 2,16; 1Tim 6,16): Bis heute wissen wir nicht, was die sieben Donner geredet haben. Gott gibt auch in seiner Offenbarung nicht jede Einzelheit seines Heilsplanes preis, sondern nur das, was wir wissen müssen. So steht am Ende von Offb 10 nicht nur der Trost, sondern auch die tiefe Ehrfurcht des Glaubens.
5.3 Die Messung des Tempels und die beiden Zeugen, 11,1-14 I Übersetzung 1 Und es wurde mir ein Rohr gegeben, das einem Stab glich. Dabei wurde gesagt: Steh auf und miss den Tempel Gottes und den Altar und die dort anbeten. 2 Aber den äußeren Vorhof des Tempels lass aus und miss ihn nicht, denn er wurde den Nationen gegeben, und sie werden die heilige Stadt zweiundvierzig Monate lang zertreten. 3 Und ich werde es meinen zwei Zeugen geben, dass sie tausendzweihundertsechzig Tage lang weissagen, angetan mit Säcken. 4 Das sind die zwei Ölbäume und die zwei Leuchter, die vor dem Herrn der Erde stehen. 5 Und wenn jemand ihnen Schaden tun will, geht Feuer aus ihrem Munde und verzehrt ihre Feinde. Und wenn jemand ihnen Schaden tun will, muss er so ums Leben kommen. 6 Sie haben die Macht, den Himmel zu verschließen, sodass in den Tagen ihrer Weissagung kein Regen fällt, und sie haben auch Macht über 1329 Lawton S. 76.
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die Gewässer, um sie in Blut zu verwandeln und die Erde zu schlagen mit jeder Plage, sooft sie wollen. 7 Und wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben, wird das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt, mit ihnen Krieg führen und wird sie besiegen und wird sie töten. 8 Und ihr Leichnam wird auf der Straße der großen Stadt liegen, die geistlich Sodom und Ägypten genannt wird, wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde. 9 Und Menschen1330 aus den Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen sehen ihren Leichnam dreieinhalb Tage und man erlaubt nicht, ihre Leichname in ein Grab zu legen. 10 Und die Bewohner der Erde freuen sich über sie und sind guter Dinge und werden einander Geschenke senden. Denn diese zwei Propheten haben die Bewohner der Erde gequält. 11 Und nach den dreieinhalb Tagen kam der Geist des Lebens von Gott in sie hinein, und sie stellten sich auf ihre Füße, und große Furcht befiel diejenigen, die sie sahen. 12 Und sie hörten eine laute Stimme aus dem Himmel zu ihnen sagen: Steigt hier hinauf! Und sie stiegen hinauf in den Himmel in der Wolke, und es sahen sie ihre Feinde. 13 Und in jener Stunde geschah ein großes Erdbeben, und der zehnte Teil der Stadt stürzte ein, und es wurden getötet in dem Erdbeben siebentausend Menschen, und die übrigen gerieten voller Furcht und gaben dem Gott des Himmels die Ehre. 14 Das zweite Wehe ist vergangen. Siehe, das dritte Wehe kommt rasch.
II Struktur Der Abschnitt 11,1-14 scheint sich auf den ersten Blick leicht abgrenzen zu lassen. Mit der Überreichung des Rohres beginnt ein neues Geschehen. Die Übergangsbemerkung betreffend das zweite und dritte Wehe in V. 14 rundet den Abschnitt ab. Auf den zweiten Blick erweist sich die Sachlage als komplizierter. Das Thema Messen taucht in V. 3ff nicht mehr auf. Und umgekehrt ist das Thema von den zwei Zeugen ab V.3 überraschend neu und durch nichts in V. 1f vorbereitet. Deshalb zieht Kraft Offb 11,1-2 zu 10,8ff und vereinigt 10,8–11,2 unter der Überschrift „Die Berufung des Propheten“ zu einem eigenen Abschnitt.1331 Auch sonst wird Offb 11,1-14 als spannungsvoll empfunden. So sieht Bousset in 11,1-2 „ein apokalyptisches Fragment“ eigener Art und „mit dem folgenden nur lose verbunden“.1332 Andererseits entdeckt Lohmeyer in Offb 11 „zwei deutliche Abschnitte“, nämlich V. 1-6 (Messen, Auftreten der 1330 Zur Konstruktion des Satzes vgl. Hemer S. 267, der darauf hinweist, dass solche Konstruktionen „all in Johannine writings“ begegnen. 1331 S. 150. 1332 Bousset 1896 S.373.
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zwei Zeugen) und V. 7-14 (Tod, Wiederbelebung, Gericht über die Feinde).1333 Für Aune ist Offb 11,1-13 „a coherent literary unit consisting of two major subunits, vv 1-2 and vv 3-13.“1334 Ähnlich wie Aune möchten wir Offb 11,1-14 in drei Unterabschnitte gliedern: 1) Das Messen von Tempel und Vorhof (V. 1-2), 2) das Wirken der beiden Zeugen (V. 3-13), 3) die Bemerkung über das zweite und dritte Wehe (V. 14). Denn Offb 11,1f hat mit der Berufung des Johannes in 10,11 nichts mehr zu tun, und die Entscheidung, Offb 11,1f als eigenes „apokalyptisches Fragment“ zu behandeln, nimmt den Kontext, den Johannes selbst geschaffen hat, nicht genügend ernst. Trotz der vorhandenen Spannungen empfiehlt es sich also, die Verse 1-14 als kompositorische Einheit zu betrachten. Jedenfalls hat Johannes selbst zwischen V. 2 und V. 3 keine gravierende Zäsur vorgenommen. Eine strukturelle Frage ist auch diejenige, in welchem Rahmen wir uns hier bewegen. Ist es der Rahmen des historischen jüdischen Tempels und des historischen Jerusalem? Oder der Rahmen der ganzen Erde mit ihren Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen? Muss man alles hier Gesagte πνευματικῶς [pneumatikos] (geistlich) verstehen oder streng zeitgeschichtlich, evtl. sogar aus der Zeit um 70 n.Chr.? Wir werden diese Fragestellungen im Auge behalten müssen, können aber erst bei der Einzelexegese darauf antworten. Der tief gehende Einfluss alttestamentlicher Überlieferungen und Verheißungen springt bei Offb 11 besonders ins Auge. Schon auf den ersten Blick zeichnen sich Ez 40, das Zwei-Zeugen-Recht, Sacharja 4, 2Kön 1, 1Kön 17, Ex 7, Dan 7, Ez 37, und 2Kön 2 als Bezugstexte ab. Ohne diese weitreichende Verflechtung mit dem AT ist Offb 11 nicht auszulegen. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach dem Platz von Offb 11 in der Großstruktur der Offb. Wie ist das Verhältnis zu den sieben Posaunen? Wie zu den drei Wehe? Und wie zum „aufsteigenden Tier“ in Offb 13,1ff (vgl. 11,7)? Es lässt sich schon von den strukturellen Betrachtungen her ahnen, dass Offb 11 „zu den dunkelsten Abschnitten der Apc“ gehört.1335
1333 Lohmeyer 3 S. 87. 1334 Aune S. 585. 1335 Lohmeyer a.a.O.; fast gleichlautend U.B. Müller S. 205; ähnlich Bousset (1896) S. 368; Morris S. 144; Kretschmar S. 38; Barclay II S. 75; Mounce S. 218; Kiddle S. 174.
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III Einzelexegese Exkurs: Deutungen von Offb 11 in der Kirchengeschichte Der Einzelexegese muss ein kurzer Exkurs vorausgeschickt werden. Es empfiehlt sich bereits an dieser Stelle ein knapper Überblick über die Deutungen des elften Kapitels in der Kirchengeschichte, um seine Einschätzung als „eines der dunkelsten Kapitel der Offb“ zu substanziieren. Dass man sich früh mit diesem Kapitel beschäftigte, zeigt Irenäus (ca. 180 n.Chr.) in Adv. haer, IV, 18,6. Dort zitiert er Offb 11,19, um zu begründen, dass unsere Gebete und Opfer zum himmlischen Altar gehen. Ob schon Ignatius (ca. 115 n.Chr.) in Ad Trall 7,2 und Ad Eph 5,2f Offb 11 im Kopf gehabt hat, wie Bousset anzunehmen scheint,1336 muss dagegen offenbleiben. Ticonius (ca. 385 n.Chr.) zog Offb 11,13 heran, um seine Sicht von den zwei civitates (Welt und Kirche) zu begründen.1337 Überdies sah er in Offb 11,2f 350 Jahre Kirchengeschichte geweissagt.1338 Augustin dagegen zog aus Offb 11 den Schluss, dass die „letzte Verfolgung durch den Antichrist“ „drei Jahre und sechs Monate“ dauern werde.1339 Im Mittelalter tritt vor allem im Joachimismus die Rolle der zwei Zeugen in den Mittelpunkt. Wie schon Hildegard von Bingen (gest. 1179) sieht auch Joachim von Fiore (gest. 1202) Elia und Henoch als diese beiden Zeugen an.1340 Johann von Parma und Humbert von Romans erklären gemeinsam im Jahre 1255, dass die Orden der Franziskaner und der Dominikaner diese beiden Zeugen darstellten.1341 Bei den Täufern steigert sich die Bedeutung der zwei Zeugen noch einmal. Thomas Müntzer beruft sich auf Offb 11 und nimmt die Elia-Henoch-Vorstellung auf.1342 Jan Mathys in Münster gab sich wie viele andere für Henoch aus. Den in Straßburg eingekerkerten Melchior Hofman erklärte er zu Elia.1343 Mit Offb 11,5 konnte man dann die Anwendung von Gewalt gegen die Gottlosen rechtfertigen.1344 Offb 11 diente gerne zur Begründung, dass man den prophetischen Geist habe.1345 Melchior Hofman nahm in seinen „Formaninghe“ von 1526 die Zahl 3½ aus Offb 11 doppelt und setzte deshalb den Termin des Endes auf 1533 fest.1346 Drei Jahre später, im Dialogus von 1529, lässt er „Elia“ und „Henoch“ von Straßburg aus das Evangelium ein letztes
1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346
Bousset (1896) S. 371,1. Vgl. Maier Offb S. 115. A.a.O. S. 119. Augustinus DCD XX,13. Vgl. Maier Offb S. 177. A.a.O. S. 179. A.a.O. S. 209.223. A.a.O. S. 209.234.237. A.a.O. S. 223. A.a.O. S. 250. A.a.O. S. 254.
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Mal in die Welt hineintragen.1347 Aber der Schock des Scheiterns dieser selbsternannten „Zeugen“, der Elias- und Henoch-Gestalten der Täuferzeit, führte später in Europa dazu, dass kaum noch jemand in diese Rolle schlüpfen wollte. Anders deutete Martin Luther. Er fasste Offb 11 grundsätzlich als „Trostbild“ auf. Hier werde angezeigt, „daß dennoch etliche fromme Lehrer und Christen bleiben sollten unter den zwei vorigen Wehen und dem dritten künftigen Wehe“.1348 Coccejus (1603–1669) sah in den zwei Zeugen gar keine Individuen mehr, sondern zwei Arten der Verkündigung, nämlich Verheißung und Evangelium.1349 Schließlich erwachte das Interesse für die zwei Zeugen neu bei Johann Wilhelm Petersen (1649–1727). Er sah darin endzeitliche Propheten.1350 Um 1700 wollte dann Heinrich Kratzenstein einer der zwei Zeugen und Johann Grumbach der dritte Elia sein.1351 Johann Albrecht Bengels (1687–1752) Zeitrechnung erfasste auch Offb 11. Die Zeit zwischen dem zweiten und dem dritten Wehe (Offb 11,14) setzte er auf 847–947 an.1352 Er brach mit der Annahme, die zwei Zeugen seien die endzeitlichen Elia und Henoch bzw. Elia und Mose. Stattdessen schildert er sie als „zween grosse Wundermänner“ der letzten Zeit.1353 Johann Michael Hahn (1759–1819) deutete im Jahre 1815 Offb 11,1f auf den Tempel, der in Ez 40ff prophezeit ist und den „gottesfürchtige, religiöse Juden“ nach ihrer Rückkehr ins Israelland erbauen werden.1354 Es ist unmöglich, alle Konzepte und Sichtweisen zu erwähnen, die sich an Offb 11 festmachten. Der Gebrauch von Offb 11 beschränkte sich ja auch nicht auf die Eschatologie. Ein Gelehrter wie Ferdinand Christian Baur (1792–1860), Haupt der Tübinger Schule des 19. Jh., konnte beispielsweise Offb 11 als Beweis für den „Antipaulinismus“ der Offb anführen.1355 Erhebliche Bedeutung für die Auslegung von Offb 11 gewann schließlich die Religionsgeschichtliche Schule. Sie fragte nach den Traditionen hinter der Jetztgestalt der Offb. Hermann Gunkel (1862–1932) erklärte auch Offb 11 für einen „Absenker von dem Stamme des babylonischen Chaosmythos“.1356 Seither hing der Offb das babylonische Deutungsmuster an. Es ist auch bei Wilhelm Bousset (1865–1820), der manche Einseitigkeiten Gunkels korrigierte, noch stark zu spüren. So ist gerade Offb 11 einer Vielzahl von Deutungsversuchen unterworfen worden – ein Anlass zur Vorsicht für den heutigen Ausleger. 1347 1348 1349 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356
A.a.O. S. 256. Vorreden S. 185. A.a.O. S. 332. A.a.O. S. 374. A.a.O. S. 377. Bengel S. 627. Bengel S. 526. J.M. Hahn S. 293ff. Vgl. Maier Offb S. 483. H. Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, Göttingen, 1895, S. 360, vgl. S. 336ff.
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Fast unvermittelt setzt V. 1 ein mit der Aussage: Und es wurde mir ein Rohr gegeben (Καὶ ἐδόθη μοι κάλαμος [Kai edothe moi kalamos]). Das Passiv ἐδόθη [edothe] ist uns schon öfters begegnet im Sinne einer göttlichen Anweisung und Wirkungsmöglichkeit (zuletzt 9,1ff). So erhält Johannes auch hier im Auftrag Gottes ein Rohr. Vielleicht ist es der starke Engel von Kap. 10, der es ihm überreicht.1357 κάλαμος [kalamos], eigentlich das Schilfrohr, ist hier der „Rohrstab“. Ausdrücklich wird ja gesagt, dass das Rohr einem Stab glich (ὅμοιος ῥάβδῳ [homoios rhabdo]). Der Stab hinwiederum, ῥάβδος [rhabdos], war ursprünglich Bezeichnung eines biegsamen Zweiges, dann eines festen Stockes.1358 So kann ῥάβδος [rhabdos] u.a. einen Hirten- oder Wander- oder Herrscherstab (Szepter) bezeichnen. Er dient aber auch als Messinstrument: „Stäbe als Meßinstrumente kommen … in der gesamten Antike häufig vor“.1359 Hier in Offb 11,1 fällt sofort die Parallele zu Ez 40,3ff auf.1360 Auch dort ist von einem κάλαμος μέτρου [kalamos metru] (40,3 LXX) die Rede. Evtl. darf man aus den sechs königlichen Ellen von Ez 40,5 auf die Länge des „Rohres“ in Offb 11,1 schließen: Das wären dann ca. 3 m.1361 Vgl. 21,15. Die Fortsetzung in Vers 1 erweist sich als eine „sehr harte Konstruktion“.1362 Im Griechischen fehlt nämlich ein direktes Subjekt und ein neues Verbum finitum. Vor den Worten Steh auf usw. steht lediglich das Partizip λέγων [legon]. Vermutlich muss man λέγων [legon] mit ἐδόθη [edothe] kombinieren, sodass gemeint ist: „Es wurde mir ein Rohr gegeben … mit den Worten“.1363 Wir haben deshalb übersetzt: Dabei wurde gesagt. Ist unsere Vermutung richtig, dann spricht hier der starke Engel von Kap. 10, der den Befehl Gottes überbringt.1364 Steh auf (hebr. [ קוּםqum] = „mach dich auf“) und miss den Tempel Gottes und den Altar und die dort anbeten: gemeint ist dem Wortsinn nach das Tempel-Gebäude (ναός [naos]) mit dem Heiligen und dem Allerheiligsten,1365 sowie der Brandopfer-Altar im inneren Vorhof (θυσιααστήριον [thy1357 So zahlreiche HSS, die καὶ εἱστήκει ὁ ἄγγελος [kai hestekei ho anggelos] einfügen. Auch Bousset (1896) S. 371. Bengel S. 515: Christus selbst; ebenso J.M. Hahn S. 301. Wie wir Zahn S. 419; Pohl II S. 62. 1358 Vgl. C. Schneider, Art. ῥάβδος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 966ff. 1359 C. Schneider a.a.O. S. 968 unter Berufung auf Vitruvius, De Architectura. 1360 So auch Kraft S. 151; Lohse S. 64; K. Deißner, Art. μέτρον, ThWNT, IV, 1942, S. 637; C. Schneider a.a.O., der außerdem an 2Sam 8,2 erinnert; Gnilka S. 400. 1361 C. Schneider a.a.O. S. 968,8. Schon Bengel S. 516. 1362 Bousset (1896) S. 370. 1363 Ähnlich Bousset a.a.O. 1364 Ebenso Zahn S. 419. 1365 Vgl. O. Michel, Art. ναός, ThWNT, IV, 1942, S. 884ff.
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siasterion])1366 und diejenigen, die dort (wörtlich „in ihm“) im inneren Vorhof anbeten (προσκυνοῦντας [proskynuntas]). Der Räucheraltar kann deshalb nicht gemeint sein, weil er sich ja innerhalb des Tempelgebäudes befand. Zuerst legt sich der Gedanke an das irdische Jerusalem und den irdischen Tempel nahe. Messen, μετρέω [metreo], kann dann nicht wie in Ez 40,3ff; Sach 2,5ff „bauen“ oder „errichten“ bedeuten,1367 sondern muss „erhalten“ oder „bewahren“ bedeuten.1368 Ausgehend von dieser Annahme sahen manche Forscher in Offb 11,1f ein zelotisches Flugblatt aus der Zeit kurz vor der Eroberung und Zerstörung des Tempels 70 n.Chr. Einer zelotischen Gruppe, die „im Tempel das Zentrum des Widerstandes eingerichtet hatte“, sei mit Offb 11,1f versichert worden, dass die Römer wohl den äußeren Vorhof, nicht aber das Innere des Tempels erobern könnten.1369 Aber was soll Johannes bewogen haben, im Jahre 95 n.Chr. ein zelotisches Flugblatt von 70 n.Chr. in seine Offb aufzunehmen? Um diese Schwierigkeit zu lösen, gingen Forscher wie Ernst Lohmeyer von einer judenchristlich-palästinischen Strömung im Urchristentum aus, die an der Erhaltung des Tempels interessiert war und von der Offb 11,1f stammt. Johannes habe diese Tradition einerseits bewahrt, andererseits habe sie für ihn ihre „absolute Gültigkeit verloren“, ja sei sogar durch Offb 12ff ersetzt worden.1370 Aber wieder stellt sich die Frage: Was soll Johannes bewogen haben, eine solche Meinung in seine Offb aufzunehmen, wenn sie für ihn doch gar keine „absolute Gültigkeit“ mehr besaß? Und weiter: Warum sollte der auferstandene Christus eine solche Meinung zu einem Teil seiner Zukunftsoffenbarung (Offb 1,1) gemacht haben? Es gibt eine andere Möglichkeit des Verständnisses. Uns ist schon öfters aufgefallen, dass in der Offb von einem Tempel oder einem Altar die Rede war, die wir nur geistlich deuten konnten (vgl. Offb 3,12; 7,15; 6,9; 8,3.5; 9,13). Hinzu kommt, dass im Sprachgebrauch des NT der Tempel oft ein „pneumatischer Tempel“1371 ist und die christliche Gemeinde oder den einzelnen Christen bezeichnet (vgl. Joh 2,19ff; Apg 7,44ff; 1Kor 3,16f; 6,19; 2Kor
1366 Vgl. J. Behm, Art. θύω usw., ThWNT, III, 1938, S. 182. 1367 Als „bauen“ erklärt es allerdings Bengel S. 519. 1368 Deißner a.a.O. S. 637f; C. Schneider a.a.O. S. 968; O. Michel a.a.O. S. 892f. J.M. Hahn S. 295 versteht es als „zählen“. 1369 So z.B. Lohse S. 64; U.B. Müller S. 207 nach Bousset (1896) S. 373f. Ähnlich Kretschmar S. 38. Dagegen z.B. Lohmeyer 3 S. 88; Hemer S. 215; Behm S. 58; Caird S. 131; Kiddle S. 175. Grundsätzlich wäre ein solches Flugblatt vorstellbar, vgl. Joachim Gnilka S. 400, der auf Josephus B.J. VI, 285ff verweist; Barclay II S. 77f. 1370 Lohmeyer 3 S. 89f. 1371 Michel a.a.O. S. 893.
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6,16; Eph 2,20f; 2Thess 2,4; 1Petr 2,5; 4,17).1372 Sollte Johannes in Offb 11,1f nicht ebenfalls von der Bewahrung der Gemeinde Jesu und der wahren Gläubigen geschrieben haben? Diese Botschaft spielt ja schon in Offb 7 eine Rolle. Sie wird in Offb 12 und 13 von Neuem wichtig werden. Wir können „mit guten Gründen“1373 davon ausgehen, dass Offb 11,1f nicht zelotischen Ursprungs ist, sondern originär aus der Patmos-Schau des Johannes stammt. Die Stelle handelt dann in der Tat von der künftigen Bewahrung der wahren Gemeinde und der wahren Gläubigen und gehört zu den Trostbotschaften der Offb.1374 Dass Johannes die ganze Hesekiel-Weissagung von Ez 40–48 später geistlich deutet (Offb 21–22), kann unsere Auslegung nur bestätigen. Vers 2 fährt fort: Aber den äußeren Vorhof des Tempels lass aus (ἔκβαλε ἔξωθεν [ekbale exothen]) und miss ihn nicht: Was ist der äußere Vorhof des Tempels? Es muss hier der sog. „Vorhof der Heiden“ gemeint sein. Dieser war durch eine steinerne Schranke von den nur den Juden zugänglichen Vorhöfen getrennt, also vom Frauenvorhof, Israelitenvorhof und erst recht vom Priestervorhof.1375 Es wurden Warntafeln gefunden, die Nichtjuden vor einem Überschreiten jener Schranke warnten (vgl. Apg 21,27ff). Es stimmt also: Der äußere Vorhof wurde schon rein historisch in Jerusalem um 70 n.Chr. den Nationen (τοῖς ἔθνεσιν [tois ethnesin]) gegeben. Nationen, griechisch ἔθνη [ethne], hebr. meist [ גּוֹי ִםgojim], manchmal auch [ ַע ִמּיםammim],1376 hat im NT einen doppelten Sinn. Es bedeutet a) eine Mehrheit oder die Gesamtheit der Völker, b) in einem speziellen Sinn die „Heiden“ als die Nicht-Israeliten. In Offb 11,2 dürfte die Bedeutung b) vorliegen. Dann aber schließt sich Offb 11,2 eng an die Prophetie des AT an. In ihr ist mehrfach davon die Rede, dass Jerusalem oder gar der Tempel selbst den Nationen oder den Gegnern Israels anheimfallen (Ps 79,1; Jes 63,18; Sach 12,3). Jesus hat diese Prophetie in Lk 21,24 aufgenommen. Wenn nun der Engel in Offb 11,2 sagt: Der äußere Vor-
1372 Vgl. wieder Michel a.a.O. S. 886ff. 1373 So C. Schneider a.a.O. 1374 So auch C. Schneider a.a.O.; Deißner a.a.O. S. 637f; Lohmeyer 3 S. 89; schlussendlich auch Lohse S. 64; Morris S. 146; Behm S. 58; Frey S. 111. Bengel S. 518ff dagegen bezieht das „anbeten“ auf „heilige Israeliten“. Caird S. 132 bezieht auch den äußeren Vorhof auf die Christen und sieht darin ihre Preisgabe ans Martyrium. Vgl. noch Schick S. 78; Grünzweig S. 269ff; P. Müller S. 34; Barclay II S. 77; Schick S. 113f; Mounce S. 219; U.B. Müller a.a.O.; Kiddle S. 179f. 1375 Jostein Ådna, Art. Tempel, GBL, 3, S. 1566ff. Anders Schlatter S. 226, der den „äußeren Vorhof“ auf Israeliten-, Frauen- und Heidenvorhof bezieht. In BFchTh S. 81 sagt er: „Unzerstörbar ist nur das Heiligtum“, nicht die Vorhöfe, und bezieht das Heiligtum auf die Gottesdienste der christlichen Gemeinde. 1376 Vgl. hierzu G. Bertram / K.L. Schmidt, Art. ἔθνος usw., ThWNT, II, 1935, S. 362ff.
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hof wurde den Nationen gegeben, und sie werden die heilige Stadt1377 zweiundvierzig Monate lang zertreten, dann bekräftigt er die Wahrheit der alttestamentlichen Prophetie und der Prophetie Jesu. Die Stichworte ἔθνη [ethne] (Nationen) und πατέω [pateo] (zertreten) tauchen ja sowohl in Lk 21,24 als auch in Offb 11,2 auf. In Lk 21,24 war nur von einer unbestimmten Frist für die heidnische Vorherrschaft die Rede. Jetzt aber spezifiziert der Engel auf zweiundvierzig Monate heidnischer Dominanz, das sind 3½ Jahre. Was bedeutet das nun alles im Zusammenhang von Offb 11? Haben wir oben den Tempel, den Altar und die dort anbeten geistlich gedeutet, dann müssen wir jetzt beim äußeren Vorhof und der heiligen Stadt ebenso verfahren: Der äußere Vorhof bezeichnet diejenigen, die nicht zur wahren Gemeinde gehören. Sie bleiben ohne göttliche Bewahrung.1378 Diese Aussage deckt sich mit Offb 7,1ff. Miss nicht heißt: „bewahre nicht“. Lass aus besagt dasselbe. Allerdings ist die Wortwahl im Griechischen weit kräftiger. Denn ἔκβαλε ἔξωθεν [ekbale exothen] heißt genau genommen: „stoße hinaus“.1379 οἱ ἔξω [hoi exo] sind im NT „die draußen Stehenden“, „die nicht zu den Anhängern Jesu Gehörigen“.1380 Offb 11,1-2 stellt also Leser und Hörer vor die Frage, ob sie wirklich zu Jesus Christus gehören.1381 In den komprimierten Bildern und Worten dieser beiden Verse meldet sich aber – und das steigert die Schwierigkeit der Auslegung – noch eine zweite Botschaft. Es ist die Botschaft von der befristeten Niederlage der Gemeinde in dieser Welt. Die pneumatische heilige Stadt, das christliche Jerusalem oder die Gemeinde, erlebt 3½ Jahre lang, dass sie zertreten wird. Das heißt nicht, dass sie vernichtet wird. Denn vernichtet werden kann sie laut Mt 16,18 nicht. Wohl aber heißt das, dass sie besiegt, verächtlich mit Füßen getreten und misshandelt wird.1382 Im AT ist dies schon durch Ps 79,1; Jes 63,18; Sach 12,3 und Dan 7,25; 8,9ff vorausgesagt. In der Offb wird es in den Kapiteln 12–17 breiten Raum einnehmen.1383
1377 1378 1379 1380 1381
Vgl. Mt 4,5; 27,53; Jes 48,2; 52,1; Dan 9,24. Vgl. Deißner a.a.O. Vgl. F. Hauck, Art. ἐκβάλλω, ThWNT, I, 1933, S. 525f. J. Behm, Art. ἔξω, ThWNT, II, 1935, S. 572f. Ausleger wie Schick S. 115f oder Frey S. 111 sehen hier wie in Mt 24,10 den kommenden Massenabfall von der wahren Kirche geweissagt. Diese Deutung bleibt möglich. Schick erwartet die Zurückdrängung der Kirche auf ein „Sakristeichristentum“ und wertet Offb 11,1f auch als Warnung vor Kompromissen und bloßem „Rand- und Kulturchristentum“. 1382 Vgl. Bauer-Aland Sp. 1281; H. Seesemann im Art. πατέω usw., ThWNT, V, 1954, S. 940f.943: „plündernd entweihen“; Mounce S. 221. 1383 Ähnlich wie wir deutet Morris S. 146f.
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Ein besonderes Thema berühren wir mit der Zahl zweiundvierzig Monate. Erstaunlicherweise nimmt sie Bengel für „gemeine Monate“ nach unserer üblichen kalendarischen Rechnung.1384 Doch sind sich die Ausleger keineswegs einig. Gerhard Delling nennt beispielsweise folgende Erklärungen: a) Es handelt sich um eine „Abrundung der 1150 Tage von Da 8,14“,1385 b) es handelt sich um eine runde Zahl.1386 Aune nennt sie „a symbolic apocalyptic number for a divinely restricted period of time … ultimately derived from Dan 7:25; 12:7“.1387 Einstweilen steht so viel fest: a) Zeitangaben haben im NT eine besondere Affinität zu eschatologischen Aussagen (vgl. Mt 24,3.6.8.22; Lk 21,24; 2Thess 2,2; 2Petr 3,8; Offb 9,5.15; 11,2.3.9.11; 12,6.14; 13,5; 20,2.3.5.6.7). b) Die Offb bezieht sich in der Tat auf Dan 7,25; 8,14; 9,27; 12,7.12 zurück. c) Die Zeitangaben der Offb sind keineswegs schematisch, sondern enthalten beachtenswerte Varianten. Am Schluss der Erklärung von Offb 11,1-14 werden wir noch einmal auf diese Zahlen eingehen müssen. Bevor wir zu V. 3 weitergehen, werfen wir noch einmal einen Blick auf diejenigen Deutungsversuche, die Offb 11,1f auf Israel oder einen Teil von Israel beziehen wollen. Hier ist zuzugeben, dass mehrere Angaben und Details einen solchen Israel-Bezug nahelegen: die Messung in Parallele zu Ez 40,3ff und Sach 2,5ff; die Erwähnung von Tempel, Altar und den Vorhöfen; die Nennung der „heiligen Stadt“; die Ankündigung des „Zertretens“ durch die „Heiden“. Aber wo und wie soll dies alles für Christen nach der Patmos-Schau um 95 n.Chr. eine Rolle spielen? Ausleger wie Joh. Albrecht Bengel und Joh. Michael Hahn antworten: Es soll ja in Zukunft noch der Tempel nach Ez 40– 48 gebaut werden, Israel wird in sein Land zurückkehren und dann sammeln sich dort am hesekielischen Tempel gläubige Juden oder Judenchristen oder ein heiliger Rest von ihnen. Der werde in den endzeitlichen Nöten bewahrt.1388 Andere wie Karl Hartenstein rechnen zwar nicht mit einem Tempel „in seiner äußeren Gestalt“, aber mit einem „Rest aus Israel“, der erhalten wird, weil er sich zu Jesus Christus bekennt. Offb 11,2 interpretiert Hartenstein dann so, dass es „die Scheidung zwischen der wahren Gemeinde Israels, die an Christus glaubt, und dem Volk, das im Vorhof anbetet“, zum Ausdruck 1384 1385 1386 1387 1388
Bengel S. 524. Ihm zufolge ist das „sicher“ (Art. μήν usw., ThWNT, IV, 1942, S. 644). Delling nennt dafür G. Kittel, Rabbinica, 1930, S. 31ff. Aune S. 609. Dort noch andere Erklärungsversuche. Bengel S. 519: „Israeliten sind es, die in dem Tempel anbeten.“ J.M. Hahn S. 293f: Es geht um den Tempel, „welchen Ezechiel … beschrieben hat, welcher nun bald in unsern Zeiten sollte erbaut werden zu Jerusalem“, und (S. 296): „Die wahren Anbeter aus den Juden werden eine bestimmte gemessene Zahl seyn.“
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bringt. Letztes steht unter dem Gericht.1389 Auch Pohl denkt an „das gläubige Israel“, das nach Offb 11,1f durch einen „Sicherungsakt“ bewahrt wird.1390 Bei manchen Auslegungen werden die 3½ Jahre als Zeitmaß des Antichristen in die Deutung beider Verse einbezogen und dann beispielsweise angenommen, dass der Antichrist in den ersten 3½ Jahren seiner siebenjährigen Herrschaft der „israelitischen Gemeinde“ die Anbetung Gottes erlaube.1391 Sogar Ausleger wie Kretschmar, die sich nicht auf Einzelheiten festlegen wollen, verstehen Offb 1,1f „vom irdischen Jerusalem“.1392 Zugunsten einer solchen Deutung auf das irdische Jerusalem wird man mindestens noch Mt 24,15ff anführen können, einen Abschnitt, bei dem Jesus inmitten seiner universalen Endzeitrede auf den Tempel und Jerusalem zu sprechen kommt. Gegen eine solche Israel-Deutung spricht nicht die Erwägung, dass Israel unter dem Gericht stehe1393. Denn Jesus und Paulus sehen in Israel weiterhin das erwählte Volk und hoffen auf seine endzeitliche Errettung (Mt 23,39; Röm 9–11). Was gegen eine solche Deutung auf das irdische Jerusalem und einen irdischen Tempel spricht, sind vielmehr folgende Argumente: 1) Jesus sprach unseres Wissens nie von einem künftigen hesekielischen Tempel auf Erden. 2) Johannes selbst deutet Ez 40–48 nicht auf einen Tempel im irdischen Jerusalem, sondern auf das himmlische Jerusalem (Offb 21–22). 3) Ein künftiger Tempel gemäß den Angaben Hesekiels müsste, wenn man ihn sich irdisch vorstellen wollte, ein Ort riesiger Schlachtopfer sein. Was sollen diese Opfer aber noch nach dem einmaligen, endgültigen Opfer Christi? 4) Schiebt man in den Gang der Zukunftsereignisse noch zusätzlich den Bau eines irdischen, hesekielischen Tempels und die erneute Bedrängnis der dort Anbetenden ein, dann werden die eschatologischen Abläufe viel undurchsichtiger.1394 5) Vor allem aber bietet der Sprachgebrauch des Neuen Testaments, der mit dem „Tempel“ oft die christliche Gemeinde bezeichnet, eine näherliegende Deutung von Offb 11,1f an, und zwar in dem Sinne, wie wir sie oben vorgetragen haben. Mögen also manche Punkte eine Israel-Deutung im engeren Sinne begünstigen, so entspricht doch die Deutung auf die christliche Gemeinde besser den Aussagen Jesu in den Evangelien und dem Gesamtzusammenhang der Offb. 1389 1390 1391 1392
Hartenstein S. 148. Ebenso Pohl II S. 69. Pohl II S. 64. So Weber S. 25. Kretschmar S. 38; Lohmeyer 3 S. 92: „deutlich in Jerusalem“; Lawton S. 78; H. Strathmann, Art. πόλις usw., ThWNT, VI, 1959, S. 530. 1393 Gegen Schlatter S. 224ff; Hartenstein S. 147ff. 1394 Das zeigt sich an Bengels Auslegung S. 516ff.
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Mit Vers 3 beginnt die Botschaft von den zwei Zeugen: Und ich werde es meinen zwei Zeugen geben, dass sie1395 tausendzweihundertsechzig Tage lang weissagen. Aus der Ich-Form und dem Auftrag ist zu schließen, dass hier Christus spricht. Denn er sorgt dafür, dass „wir seine Zeugen (μάρτυρες [martyres]) sind“ (Lk 24,48; Joh 21,24; Apg 1,8). Ob Christus in Offb 11,3 direkt spricht oder seine Worte durch den Engel von 10,1ff übermitteln lässt, muss offenbleiben.1396 Geben hat hier den Sinn von „die Möglichkeit und den Auftrag geben“ (Καὶ δώσω [Kai doso]). Es ist das göttliche δίδωμι [didomi], das wir in der Offb schon oft beobachtet haben (vgl. V. 1). Es bildet eine Art Klammer zwischen V. 1f und V. 3ff. Doch wer sind meine zwei Zeugen (οἱ δύο μάρτυρές μου [hoi dyo martyres mu])? Zwar heißen sie in V. 10 anspruchsvoller „Propheten“ (οἱ δύο προφῆται [hoi dyo prophetai]), aber jetzt werden sie mit einem allgemeinen Christennamen genannt: Zeugen. μαρτυρεῖν [martyrein], „bezeugen“, bedeutet nach Hermann Strathmann1397 ein Doppeltes: a) Zeuge sein im Rechtssinn, b) bezeugen, was man glaubt. Beide Bedeutungen kommen bei den Zeugen Jesu Christi zusammen. Sie bezeugen die Wahrheit und das Recht Gottes, und sie bezeugen zugleich ihren christlichen Glauben. Für die Würde des Begriffs ist es bezeichnend, dass Jesus Christus selbst in der Offb zweimal der Zeuge heißt (1,5; 3,14). Gerade für den Sprachgebrauch der Offb hat Strathmann ferner festgehalten, dass nur diejenigen „Zeugen“ genannt werden, „die als werbende Zeugen evangelistisch tätig sind.“1398 Meine zwei Zeugen können also nur solche sein, die als Christus-Zeugen auftreten. Die Formulierung meine zwei hebt sie nun aber zugleich hervor. Es müssen mit Jesus Christus besonders innig verbundene Zeugen sein. Die nächsten Verse werden uns noch genauer informieren. Die griechische Satz-Konstruktion ist so,1399 dass ihnen von Jesus Christus die Möglichkeit und der Auftrag gegeben wird, dass sie weissagen (καὶ προφητεύσουσιν [kai propheteususin]). Man muss sich hier von dem Gedanken lösen, προφητεύειν [propheteuein] sei nur die Ankündigung der Zukunft. Schon im AT bedeutet „prophezeien“/weissagen weit mehr: ganz allgemein die Weitergabe des Wortes Gottes, in den verschiedensten Dimensionen: Verheißungswort, Drohwort, Heilsbotschaft, Unheilsbotschaft, Zukunftsansage, 1395 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 442,9.13; 471,1. 1396 Anders Mounce S. 22: hier sei Gott der Vater der Sprechende. Wie wir U.B. Müller S. 208; Behm S. 59. 1397 Art. μάρτυς usw., ThWNT, 1942, S. 477ff. 1398 A.a.O. S. 500. 1399 Vgl. wieder Blass-Debrunner § 442,9.13; 471,1
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prophetische Anklage („Scheltwort“), Bußruf, Mahnwort.1400 Im NT setzt sich diese Bandbreite fort. „In umfassendem Sinn“ bedeutet „weissagen“ / προφητεύειν [ propheteuein] „die Botschaft Gottes verkündigen“.1401 Speziell zu Offb 11,3 merkt Gerhard Friedrich an: „Ihre prophetische Verkündigung ist Ruf zur Umkehr.“1402 Das wird sogleich dadurch klargemacht, dass sie mit Säcken angetan waren. Sack, σάκκος [sakkos], entspricht dem hebräischen שׂק ַ [saq]. Es handelt sich um „ein grobes Gewebe … meist aus Ziegenhaar“1403 oder Kamelhaar. Man trägt es als Zeichen der Trauer und Buße (vgl. 2Kön 19,2; Jes 37,2; Jona 3,5f; Mt 11,21). Im Laufe der Zeit wird der „Sack“ so etwas wie ein „Berufskleid“ der Propheten, behält aber seinen Bezug zur Buße. Beispiele sind Elia (2Kön 1,8), Jesaja (20,2) und Johannes der Täufer (Mt 3,4; Mk 1,6).1404 Die zwei Zeugen sind also Bußprediger.1405 Nun stehen noch zwei Angaben von Offb 11,3 aus: dass es sich um die Zahl Zwei handelt, und dass die Zeugen tausendzweihundertsechzig Tage lang tätig sind. Die Zahl Zwei bringt man in der Exegese mit dem Zwei-ZeugenRecht des AT in Verbindung: „Durch zweier oder dreier Zeugen Mund soll eine Sache gültig sein“ (Dtn 19,15; vgl. Num 35,30; Dtn 17,6).1406 Dieses Zwei- oder Drei-Zeugen-Recht hat Jesus im Evangelium aufgenommen (Mt 18,16), und es spielt gerade in den johanneischen Schriften eine Rolle (vgl. Joh 8,17; 1Joh 5,7ff). Wohl im Einklang damit sandte Jesus seine Jünger „je zwei und zwei“ aus (Mk 6,7; Lk 10,1). Sehr wahrscheinlich stehen die zwei Zeugen von Offb 11,3 in einem engen Zusammenhang mit den erwähnten Fakten: Jesus als der Auferstandene schickt in Offb 11 ebenso „zwei Zeugen“, wie er als der Irdische seine Jünger „je zwei und zwei“ geschickt hatte, und bleibt damit dem Zeugenrecht des AT treu. Was aber die tausendzweihundertsechzig Tage angeht, so stimmen sie mit den in V. 2 erwähnten 42 Monaten à 30 Tage überein.1407 Daraus ergibt sich: Ebenso lange, ja offenbar genau zu derselben Zeit,1408 wie die heidnische Dominanz über die Gemeinde Jesu währt, wirken die zwei Zeugen. Das heißt 1400 1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408
Vgl. dazu R. Rendtorff im Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, S. 810ff. G. Friedrich a.a.O. S. 829. A.a.O. S. 855. G. Stählin, Art. σάκκος, ThWNT, VII, 1964, S. 57. Vgl. wieder Stählin a.a.O. Vgl. auch Sach 13,4 sowie Wettstein S. 790; U.B. Müller S. 209. Friedrich a.a.O.; Bengel S. 528; Behm S. 59; Grünzweig S. 276; Wikenhauser S. 85. Z.B. Morris S. 147; Caird S. 135; Behm S. 60; Kretschmar S. 38; Mounce S. 223. Bengel S. 528 wieder: „gemeine Tage“. Aune S. 610f. Hartenstein S. 149; Grünzweig S. 275; Hanhart S. 302; U.B. Müller S. 208.
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nichts anderes, als dass Mt 24,14 bis zum Schluss erfüllt wird: „Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker.“ Erneut zeigt sich die enge Parallelität von Offb und Mt 24. Vers 4 ist nur ein kurzer Vers, aber Anlass zu vielen Fragen: Das sind die zwei Ölbäume und die zwei Leuchter, die vor dem Herrn der Erde stehen. Das leichteste Problem ist der von Blass-Debrunner § 136,3 registrierte Solözismus, wonach die Maskulin-Form ἐστῶτες [estotes] auf die Feminin-Subjekte ἐλαῖαι [elaiai] und λυχνίαι [lychniai] folgt. Denn schon der Versbeginn οὗτοί εἰσιν [hutoi eisin] ist maskulinisch, und sinngemäß handelt es sich um zwei maskulinische Subjekte, wie ja auch der [ ז ַי ִתsajit] (Ölbaum) im Hebräischen ein Masculinum ist. Eine weitere Frage lautet: Wer spricht hier? Ist es wie in V. 3 noch der auferstandene Jesus, oder ist es Johannes, der hier seinen Kommentar zum AT vorträgt? Wenn man von den futurischen Aussagen in V. 7 und 8 ausgeht, liegt es doch wohl näher, im Auferstandenen selbst den Redenden zu sehen.1409 Offenkundig nimmt Offb 11,4 Bezug auf Sacharja 4,3ff. Die Formulierung Das sind … (οὗτοί εἰσιν [hutoi eisin]) ist uns auch aus Qumran wohlbekannt. ֶ [ ֵה ָמּה ֲאhemmah ascher] (vgl. 4QFlor I, 16; s.a. I, Sie entspricht einem שׁר ְ [schene hassetim] ist 2.11.12.17). αἱ δύο ἐλαῖαι [hai dyo elaiai] = שׁנ ֵי ַהזּ ֵיִתים Zitat aus Sach 4,11. Es geht also um eine autoritative Deutung der Ölbäume von Sach 4. Worum handelt es sich? Öl und Ölbaum sind seit Langem „ein Symbol des Reichtums und des Segens“ (Dtn 32,13; 33,24; Hiob 29,6), ja, ein „Symbol des Lebens und des Segens“.1410 Man kann diese Spur von Gen 8,11 an durch das ganze AT verfolgen. Wichtig ist die Verwendung des Öles im gottesdienstlichen Bereich, z.B. als Salböl für Priester und Könige. Es entsteht dann ein sinnbildlicher Gebrauch. Beispielsweise vergleicht Ps 52,10 den Gerechten mit einem Ölbaum. Die Spitze dieses übertragenen Gebrauchs liegt in Sach 4 vor.1411 Dort, in Sacharja 4, werden unter dem Bild von zwei Ölbäumen „die zwei Gesalbten“ gezeigt, „die vor dem Herrscher aller Lande ([ ַעל־ֲאדוֹן ָכּל־ָהָאֶרץal adon kol-haarez]) stehen“. In Sach 4 meint dieses Bild zunächst Serubbabel als den weltlichen Herrscher aus königlichem Stamm und Jeschua als den Hohepriester.1412 Es sind also ursprünglich keine „Messiasse“ im endzeitlichen Sinn. Qumran leitete jedoch von den beiden „Söhnen 1409 1410 1411 1412
Anders Wikenhauser S. 85: Ab V. 4 spreche Johannes: „Nun berichtet er.“ G.W. Ahlström, Art. ז ַי ִת, ThWAT, II, 1977, Sp. 567. Vgl. wieder Ahlström a.a.O. Sp. 568. Ahlström a.a.O.; Weiser S. 111; Hanhart S. 255ff.
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des Öls“ ([ ְבּנ ֵי־ַהיּ ְִצָהרbene-hajjizhar]), wie sie in Sach 4,14 wörtlich genannt werden,1413 die Erwartung zweier endzeitlicher Messiasse ab: eines „Messias Aarons“ und eines „Messias Israels“.1414 Demgegenüber kehrt Offb 11,4 wieder zum ursprünglichen hebräischen Sinn von Sach 4,3ff.11ff zurück. Robert Hanhart beschreibt diesen Sinn so: Serubbabel und Jeschua repräsentieren „das königliche und das priesterliche Amt des irdischen Israel“.1415 Und insofern sie diese wichtigsten Ämter Israels verkörpern, repräsentieren sie sogar ganz „Israel als Volk Jahwes sub specie aeternitatis (= unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit)“.1416 Es geht also weder bei Sacharja noch bei Johannes um „messianische Gestalten“.1417 Hanhart nennt gerade aus der Sicht des Alttestamentlers die Deutung von Sach 4 durch Offb 11,4 eine richtige, eine „zeugnisgemäße Interpretation“.1418 Und wie haben wir die zwei Leuchter zu verstehen? Ein Zitat aus Sach 4,3ff ist dies nicht mehr. Denn dort ist nur von einem Leuchter die Rede. Offensichtlich lehnt sich Johannes zwar an das Begriffspaar Leuchter – Ölbaum in Sach 4 an, bezeichnet aber in geistgeleiteter und zugleich reflektierter Deutung, die auf niemand anderen als auf Christus selbst zurückgeht, die zwei Zeugen zugleich als die zwei Leuchter für die Welt. Hier liegt derselbe Sprachgebrauch vor wie in Mt 5,15f; Mk 4,21f; Lk 8,16; Offb 1,20; 2,5, wonach die Gemeinde Jesu Christi ein Leuchter ist, der sein Licht „leuchten“ lassen soll. Wenn dies aber für die Gemeinde im Ganzen gilt, dann nicht weniger für die repräsentativen Zeugen Jesu Christi!1419 Es ist also mehr als eine bloße „Angleichung an die zwei Zeugen“ oder „Parallelität“, was zu der Aussage in Offb 11,4 bewegt.1420 Zum Begriff Leuchter (λυχνία [lychnia]) vgl. die Erklärung bei 1,20. Sie stehen vor dem Herrn der Erde (ἐνώπιον τοῦ κυρίου τῆς γῆς ἑστῶτες [enopion tu kyriu tes ges estotes]). Hier wird erneut Sach 4,14 zitiert. Dort heißt es im Hebräischen: [ ָהֹעְמִדים ַעל־ֲאדוֹן ָכּל־ָהָאֶרץhaomedim al-adon kol-haarez], LXX: παρεστήκασιν τῷ κυρίῳ πάσης τῆς γῆς [parestekasin to kyrio pases tes ges]. κύριος [kyrios] ist also Übersetzung für [ ֲאדוֹןadon]. Dieses ֲאדוֹן Weiser a.a.O.; Hanhart S. 242: „Söhne der Salbung“. Vgl. 1QS IX,11; 1QSa II,11ff; CD XII,23f; XIV,19; XIX,10f; XX,1. Hanhart S. 295. A.a.O. S. 292. Hanhart S. 304. A. a. O S. 309. Vgl. Hanhart S. 304; U.B. Müller S. 210; Mounce S. 224; Bengel S. 529. Zu eng Kiddle S. 194: nur die „conquerors“ sind solche Leuchter. 1420 Gegen U.B. Müller a.a.O.; Lohmeyer 3 S. 92. Schlatter BFchTh S. 82,2: Warum es zwei Leuchter sind, „ist nicht deutlich“. 1413 1414 1415 1416 1417 1418 1419
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[adon] bezeichnet, wenn es auf Gott angewandt wird, vor allem Gott als „Gebieter“ und will „seine Macht hervorheben“.1421 Da dem auferstandenen Jesus „alle Macht/Gewalt (ἐξουσία [exusia]) im Himmel und auf Erden gegeben“ ist (Mt 28,18), kann sich Herr der Erde sowohl auf Gott den Vater als auch auf Christus beziehen. Interessanterweise wird beim Herrn (κύριος [kyrios]) der zwei Zeugen weder die Offenbarung noch die Lehre noch die Erlösung in die Mitte gestellt, sondern die „Macht“. Das deutet darauf hin, dass Offb 11 in schwere Auseinandersetzungen hineinführt, die auch die Machtfrage stellen lassen. Zu beachten bleibt, dass es um die ganze Erde geht. Bezugspunkt in dieser Hinsicht ist also weder Jerusalem noch allein Israel, sondern die ganze Welt. Die zwei Zeugen haben also einen universalen Auftrag.1422 Blicken wir noch einmal auf das Ganze von V. 4: Öl und Licht sind die bestimmenden Elemente, die Grundausstattung der zwei Zeugen. Öl bedeutet im biblischen Kontext die Salbung zum königlichen und zum priesterlichen Amt. Dabei wird in Offb 11,4 nicht nach Ämtern getrennt: so, als hätte der eine Zeuge das königliche und der andere das priesterliche Amt. Nein, beide haben beides gemeinsam. Darüber hinaus symbolisiert das Öl, wie Wikenhauser1423 mit Recht sagt, dass sie beide „mit dem Geist Gottes ausgestattet“ sind. In der Aufgabe, Leuchter, „Licht der Welt“, zu sein, zeigt sich sodann ihre von Gott gegebene Bestimmung, das Licht des Wortes Gottes in die Welt hineinstrahlen zu lassen (vgl. Ps 119,105; Joh 8,12; 2Petr 1,19).1424 Wer sind diese zwei Zeugen? Wir müssen die Erklärung der Verse 5 und 6 abwarten, bevor sich darauf eine Antwort geben lässt. Die Verse 5 und 6 beschreiben jetzt den Schutz und die Vollmacht, die Gott den zwei Zeugen gibt. Ohne diesen Schutz und diese Vollmacht wären sie wirkungslos, ja sogar verloren: Und wenn jemand ihnen Schaden tun will, geht Feuer aus ihrem Munde und verzehrt ihre Feinde (V. 5). ἀδικῆσαι [adikesai], Schaden tun, umfasst alle Angriffe und Beeinträchtigungen, die man ihnen zufügen will. Dabei sind physische Angriffe ebenso eingeschlossen wie geistliche Angriffe. Die Formulierungen sind sehr offen. Unter jemand (τις [tis]) können sich weltliche oder geistliche Machthaber verbergen, aber auch z.B. Medien. Bei dem Feuer aus ihrem Munde sollte man ebenso wenig bei Vordergründigem stehen bleiben. In der Literatur betont man den Bezug
1421 Vgl. O. Eißfeldt, Art. אדוֹן ֲ , ThWAT, I, 1973, Sp. 65f. 1422 Kiddle S. 176f: „The whole world was moved“. Stehen vor bedeutet so viel wie „zum Dienst bereitstehen“ (Bengel S. 530). 1423 Wikenhauser S. 86. Schon Bengel S. 528f; Zahn S. 428f. 1424 Wikenhauser S. 86: „Träger des göttlichen Lichtes“.
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zur Elia-Geschichte in 2Kön 1,10ff,1425 teilweise auch zur Mose-Geschichte in Num 16,35.1426 Aber die ebenfalls häufig notierte Jeremia-Stelle in Jer 5,141427 präzisiert schon das Feuer aus dem Munde auf das Wort Gottes. Jedenfalls ist es Gottes Feuer (vgl. 2Sam 22,9; Ps 97,3), das die Zeugen schützt, und nicht ihr eigenes. Auch Elia konnte nur um „Feuer vom Himmel“ flehen (2Kön 1,10ff). Ähnlich war für Mose allein das „Feuer vom Herrn“ eine Hilfe (Num 16,35). Fazit: Die Zeugen können sich nur mit den Waffen Gottes wehren (vgl. Eph 6,11ff). Schon der begnadete Ausleger Ben Sira hat diese Einheit von Feuer und „Wort Gottes“ bei Elia festgehalten (Sir 48,1-3). Anna Lawton hat ebenfalls den entscheidenden Punkt getroffen, wenn sie schreibt: „Wann wird die Gemeinde Jesu aufhören, dem antichristlichen Geist auf seiner Ebene zu begegnen und ihn mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen? Wann wird sie sich darauf besinnen, daß es nur eine Waffe, eine Möglichkeit des Sieges gibt: Christus, das Wort Gottes?“1428 Eines ist allerdings klar: Die Wortwahl in Offb 11,5 (ἀδικῆσαι [adikesai], πῦρ [pyr], κατεσθίει [katesthiei], ἐχθρούς [echthrus], ἀποκτανθῆναι [apoktanthenai]) deutet auf „äußerste Bedrohung“1429 und „schlimme Verfolgung“.1430 Man darf ferner aus Offb 11,5 nicht den Schluss ziehen, die Zeugen wären wie der Siegfried der Sage unverwundbar. Es wird ja ganz bewusst nicht gesagt, sie würden unbeschädigt bleiben. Nein, sie besitzen nur die geeigneten Verteidigungswaffen. Sie werden sich sogar eine Zeit lang behaupten: Das Feuer aus ihrem Munde verzehrt ihre Feinde.1431 Wir verstehen dies in erster Linie so, dass sich das von ihnen verkündigte Wort Gottes durchsetzt.1432 Es wird also auch Neubekehrungen geben, getreu dem Wort Jesu in Mt 24,14. Dass sie unter Gottes Schutz stehen,1433 bekräftigt der zweite Satz von Vers 5: Und wenn jemand ihnen Schaden tun will,1434 muss er so ums Leben 1425 So U.B. Müller S. 210; Lohmeyer 3 S. 93. 1426 Lohmeyer a.a.O. 1427 U.B. Müller a.a.O.; Lohmeyer a.a.O.; Bousset S. 319; Bengel S. 531; Morris S. 148; Aune S. 613; Caird S. 134. 1428 Lawton S. 79. 1429 Schick S. 116. 1430 Gnilka S. 401. 1431 Zu κατεσθίει [katesthiei] vgl. J. Behm, Art. ἐσθίω, ThWNT, II, 1935, S. 693, zu πῦρ [pyr] vgl. F. Lang, Art. πῦρ usw., ThWNT, VI, 1959, S. 942. 1432 Bengel S. 531: „Diß ist das Wort Gottes: Jer V. 14.“ Vgl. Morris S. 149. Schon Victorinus, vgl. Aune S. 613f. Heute z.B. Grünzweig S. 277. Schon die Rabbinen deuteten „Feuer aus dem Munde“ auf Worte (Strack-Billerbeck S. 812). 1433 Vgl. Kiddle S. 196f; Mounce S. 224. 1434 Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 372,4; 374,4.
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kommen (οὕτως δεῖ αὐτὸν ἀποκτανθῆναι [hutos dei auton apoktanthenai]), noch wörtlicher: „getötet werden“. Die Formulierung „getötet werden“ (Passiv) deutet darauf hin, dass Gott den Tod der Feinde herbeiführt, und nicht die Zeugen selbst. Sonst würde es vermutlich heißen: „werden sie ihn so töten“.1435 Die alttestamentlichen Beispiele in Num 16,35; 2Kön 1,10ff lassen zunächst an einen physischen Tod denken. Ein solcher ist sicher in Offb 11,5 eingeschlossen. Aber da das NT auch einen zweiten, einen geistlichen Tod kennt, und zwar gerade in der Offb (20,6; 20,14; 21,8; 2,11), darf man sich nicht auf den physischen Tod allein beschränken. Es kann auch ein Tod in den Sünden oder eine andere Art des geistlichen Todes gemeint sein (vgl. Eph 2,1.5; Kol 2,13; Lk 15,24). οὗτος [hutos], so/„auf diese Weise“, zeigt evtl. den Grund des Getötetwerdens an: Es trifft die Feinde deshalb, weil sie den zwei Zeugen Schaden tun wollten.1436 So schützt und ermöglicht Gott die Verkündigung seines Wortes. Christus kennzeichnet die außerordentliche Vollmacht seiner Zeugen in V. 6 dreifach: 1) Sie haben die Macht (οὗτοι ἔχουσιν τὴν ἐξουσίαν [hutoi echusin ten exusian]), den Himmel zu verschließen, sodass in den Tagen ihrer Weissagung kein Regen fällt. Dass hier die Eliageschichte das Muster bildet (1Kön 17,1), liegt auf der Hand und wird durch Lk 4,25, Jak 5,17 bestätigt. Interessant ist jedoch, dass beide Zeugen zusammen und ohne Unterschied mit dieser eliaähnlichen Möglichkeit ausgestattet werden: οὗτοι ἔχουσιν [hutoi echusin] = wörtlich: „diese haben“. ἐξουσία [exusia] bedeutet in Offb 11,6 beides: Macht und „Vollmacht“.1437 Den Himmel verschließen (κλεῖσαι τὸν οὐρανόν [kleisai ton uranon]) als ein Ausdruck für die Verweigerung des Regens ist alte biblische Sprache. Es ist darüber hinaus eine typisch göttliche Strafe (vgl. Lev 26,19f; Dtn 11,17; 28,23f). Interessant ist hier, dass nach einer Überlieferung des Talmud Elia vom Himmel den „Schlüssel des Regens“ ausgeliefert bekam.1438 Gott kann also, wie Joachim Jeremias1439 bemerkt, „den Regenschlüssel an seine Boten abtreten“. Zum ersten Mal kommt hier in Offb 11,6 so etwas wie eine besondere Wunderkraft der zwei Zeugen zum Ausdruck. Sie ist aber begrenzt auf die Tage ihrer Weissagung (τὰς ἡμέρας τῆς προφητείας αὐτῶν [tas hemeras tes propheteias auton]). Unsere Kräfte und Charismen werden immer gerade so gegeben, wie es für un1435 Vgl. dazu Lk 9,54f. 1436 Aune S. 614 bezieht das οὗτως [hutos] auf die Art und Weise des Todes, nämlich durch Feuer. 1437 Vgl. W. Foerster , Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1933, S. 567. 1438 B Sanh 113a; vgl. b Taan 2a. 1439 Art. κλείς, ThWNT, III, 1938, S. 748 unter Verweis auf Offb 11,6.
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sern Dienst, zum Nutzen der Gemeinde (1Kor 12,7) und zum Lob Gottes nötig ist. Da der Regen im AT manchmal mit dem Wort Gottes verglichen wird (Dtn 32,2; Jes 55,10f) und das Verschließen des Himmels eine typisch göttliche Strafe ist, muss man in Offb 11,6 beide Möglichkeiten der Deutung nebeneinander stehen lassen: a) dass der natürliche Regen gemeint ist, b) dass der geistliche Regen des Wortes Gottes gemeint ist. 2) Die zwei Zeugen haben auch Macht über die Gewässer, um sie in Blut zu verwandeln (καὶ ἐξουσίαν ἔχουσιν ἐπὶ τῶν ὑδάτων στρέφειν αὐτὰ εἰς αἷμα [kai exusian echusin epi ton hydaton strephein auta eis haima]). Dabei dient die Mosegeschichte als Muster (Ex 7,17ff), was viele Ausleger dazu gebracht hat, in Offb 11 einen Mose redivivus zu erwarten. Wieder ist ἐξουσία [exusia] sowohl Macht als auch Vollmacht, und wieder haben beide Zeugen ohne Unterschied diese Macht. Wenn Wasser sich in Blut verwandelt, wird uns eine Grundlage des Lebens entzogen. Erstaunlicherweise ist von einer solchen Wunderkraft der Zeugen die Rede, ohne dass eine Verwechslung mit Offb 8,8f befürchtet wird. Da auch Wasser zum Bildwort für das Wort Gottes werden kann (vgl. Ps 42,2; Jes 44,3; 55,10f; 58,11; Jer 2,13; Am 8,11)1440 und da es sich bei den ägyptischen Plagen um göttliche Strafen handelt, muss man erneut offenbleiben für verschiedene Deutungsmöglichkeiten: a) Es handelt sich um Eingriffe der Zeugen in die natürlichen Lebensgrundlagen, b) es handelt sich um ein zeitweises Versagen des lebendigen Gotteswortes und der Sündenvergebung (vgl. Mt 18,18).1441 3) Die dritte Vollmacht stellt eine Art Generalvollmacht dar: (sie haben die Macht) die Erde zu schlagen mit jeder Plage, sooft sie wollen (καὶ πατάξαι τὴν γῆν ἐν πάσῃ πληγῇ ὁσάκις ἐὰν θελήσωσιν [kai pataxai ten gen en pase plege hosakis ean thelesosin]). Auch hier dient die Mosegeschichte als Muster. πατάξαι [pataxai], schlagen, findet sich in Ex 7,20 LXX, πληγή [plege] in Ex 11,1. Sicher ist an die sog. „ägyptischen Plagen“ gedacht (vgl. 1Sam 4,8),1442 wenn vielleicht auch nicht in dem Sinne, dass nur eine Art Wiederholung dieser ägyptischen Plagen stattfindet. Die Aussage so oft sie wollen lässt vielmehr im weitesten Sinn jede Plage zu. Mit Recht macht hier Heinrich Seesemann die Anmerkung: „Eine Einzelausdeutung des πατάσσειν muss jedoch unterbleiben.“1443 Eine Klärung ist allerdings notwendig: Der Begriff Plage (πληγή [plege]) darf nicht dazu führen, in den zwei Zeugen eine Art „Plagegeister“ zu sehen. Vielmehr bedeutet πληγή [plege] dem Wortsinn nach 1440 1441 1442 1443
L. Goppelt, Art. ὕδωρ, ThWNT, VII, 1969, S. 321. Vgl. Goppelt a.a.O. S. 325. Bousset S. 319; Bengel S. 532; Aune S. 615f. Art. πατάσσω, ThWNT, V, 1954, S. 940.
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den „Schlag“. Die Zeugen fügen also schmerzhafte „Schläge“ zu, aber sie „plagen“ nicht in einem willkürlichen Sinne. Zu dieser Auffassung führt auch das hebräische Äquivalent für πληγή [plege] in Ex 11,1, [ נ ֶַגעnega]. Denn נ ֶַגע [nega] bedeutet „Plage“, „Krankheit“ oder „Not“.1444 Zu beachten bleibt der Bezug auf die Erde (τὴν γῆν [ten gen]). Die Vollmacht gilt also universal und ist keineswegs auf Jerusalem oder das Israelland beschränkt. Insgesamt lässt V. 6 erkennen, dass die zwei Zeugen die Vollmacht haben, „allen Völkern die Hoheit Gottes und die Schuld der Sünde durch große Zeichen zu zeigen“.1445 Wir sollten diese Zeichen weder rein äußerlich-mirakulös noch rein spirituellgeistig auffassen.1446 Offb 11,6 lässt vielmehr beide Deutungen zu. Es ist nicht gut, sich auf einseitige, exklusive Deutungen festzulegen. Wir können uns jetzt der Frage zuwenden: Wer sind die zwei Zeugen von Offb 11? Eng damit verbunden ist eine zweite Frage: Wo treten sie auf? Eine reiche exegetische Tradition deutet die zwei Zeugen individuell. Es seien Henoch und Elia oder Mose und Elia, die als eschatologische Vorläufer des wiederkommenden Christus auftreten würden. Im Einzelnen gibt es zahlreiche Varianten dieser individuellen Deutung. Alttestamentlich wird sie auf die Elia-Erwartung von Mal 3,1.23f; Sir 48,10 gestützt, neutestamentlich mit Mt 16,14; 17,10ff; Joh 1,21 begründet. Aus Dtn 18,15 wird außerdem die Erwartung eines künftigen Mose als Vorläufer des Messias gefolgert.1447 Weshalb in Offb 11 unbedingt zwei Individuen gemeint sein müssen, hat beispielsweise Theodor Weber ausgeführt: „Mit aller nur möglichen Deutlichkeit sind diese beiden Gestalten als lebendige Persönlichkeiten geschildert, die im Leibe leben, reden und handeln, beten und Wunder tun, leiden und streiten, sterben und sogar ähnlich wie der Herr Jesus eine Auferstehung des Leibes und eine Himmelfahrt erleben.“1448 Für die jüdische Exegese hat schon Jakob Wettstein auf Abot R. Nathan 34 und die Erwartung eines Mose und Aaron hingewiesen.1449 Zugunsten einer individuellen Deutung kann man nach der Entdeckung der Qumran-Schriften vor allem auf die eschatologische Erwartung eines „Messias Aarons“ und „Messias Israels“ hinweisen.1450 Die Rolle der Elia/Henoch-Deutung im Joachimismus und Täufertum haben wir oben schon dargestellt. Bemerkenswerterweise ist die Elia/Henoch-Deutung in der L. Schwienhorst, Art. נ ַָגע, ThWAT, V, 1986, Sp. 224ff. Schlatter S. 231. So z.B. Caird S. 136 (nicht „literally“). Lohse S. 65; Wikenhauser S. 86; Barclay II S. 80f; Lohmeyer 3 S. 87.91; Bousset (1896) S. 375; Flusser S. 421f. 1448 Weber S. 26. 1449 Wettstein S. 791. Vgl. Schlatter BFchTh S. 82. 1450 1QS IX,11; 1QSa II,11ff; CD XII,23f; XIV,19; XIX,10f; XX,1.
1444 1445 1446 1447
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modernen Exegese weithin durch die Elia/Mose-Deutung ersetzt worden. Dabei legte ein Forscher wie Theodor Zahn großen Wert auf die Feststellung, dass „Mose“ und „Elia“ nur „als Typen“, nicht aber als „in das leibliche Leben zurückgekehrt“ angekündigt seien.1451 Die Fülle der Argumente hat dazu geführt, dass auch heute viele Exegeten annehmen, Offb 11 prophezeie zwei Individuen, einen Mose und einen Elia, vor dem Antichrist und vor der Wiederkunft Christi.1452 Nicht auf einen Mose oder Elia, aber doch auf zwei hervorgehobene Personen der Endzeit deuten z.B. Bengel, Frey, P. Müller, Weber, Grünzweig.1453 Nun gibt es aber auch eine ganze Reihe von Argumenten, die einer individuellen Deutung im Wege stehen. Zunächst und ganz elementar: „Ausdrücklich identifiziert mit Elia und Mose sind die beiden Zeugen bei Johannes nicht.“1454 Schon ganz auszuscheiden ist Henoch, „denn Henoch, Esra, Baruch usw. haben in der Eschatologie des Rabbinats keine Stelle“.1455 Ferner: Wie Bousset nachwies, wird im Judentum nur Elia, also ein Zeuge, als Messias-Vorläufer erwartet, nicht aber Mose.1456 Jedenfalls sagt Dtn 18,15 nur „einen Propheten wie mich“ voraus, dieser zweite Mose aber ist identisch mit dem Messias und kein Vorläufer desselben (vgl. Joh 6,14f). Drittens: In der Jesusverkündigung der Evangelien findet sich kein Anhaltspunkt dafür, dass außer dem wiedergekommenen Elia, nämlich Johannes dem Täufer (Mt 11,9f; 17,10ff), vor der Wiederkunft Jesu noch einmal zwei solche Vorläufer wie Elia oder Mose kommen sollen.1457 Viertens: In Offb 11 werden die zwei Zeugen als Einheit behandelt: Sie haben denselben Auftrag, dieselbe Dauer ihres Dienstes, dieselbe Vollmacht, dieselbe Wunderkraft, dieselben Waffen („Feuer aus ihrem Mund“), dieselbe Charakterisierung („Ölbäume“ und „Leuchter“), dieselbe Universalität. Es ist unmöglich, etwas individuell auf sie aufzuteilen.1458 Aus solchen Gründen gibt es auch eine lange exegetische Tradition, die ekklesiologisch, also auf die Gesamtheit der Christen und der Kirche deutet. 1451 Zahn S. 431.429. 1452 Z.B. Lang a.a.O.; W. Michaelis, Art. λύχνος usw., ThWNT, IV, 1942, S. 328,28; Stählin a.a.O. S. 62,52; Bousset S. 318f; Lohse a.a.O.; Wikenhauser a.a.O.; Barclay a.a.O.; Lohmeyer a.a.O.; Zahn a.a.O.; J.M. Hahn S. 303f; Behm S. 59; Weiß-Heitmüller S. 279; Flusser S. 422. 1453 Bengel S. 526; Frey S. 112; P. Müller S. 35; Weber S. 26f; Grünzweig S. 275. 1454 Schlatter BFchTh S. 82; Zahn S. 429. 1455 Schlatter a.a.O. 1456 Bousset (1896) S. 375. 1457 Lohse gibt ohne Weiteres zu, dass seine Mose/Elia-Deutung „im Widerspruch zu den Evangelien“ steht (S. 65). 1458 Vgl. U.B. Müller S. 210; Mounce S. 223; Schick S. 117.
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Man erinnere sich an die Orden der Franziskaner und Dominikaner, die sich 1255 als die beiden Zeugen bezeichneten (s. oben), oder an Martin Luther, der Offb 11 auf „fromme Lehrer und Christen“ deutete. Immer wieder sah man in den beiden Zeugen „das königliche und priesterliche Amt der Gemeinde“,1459 das Gesetz und die Propheten,1460 „das doppelte Zeugnis der Gemeinde Jesu von Gericht und Gnade“,1461 oder ganz umfassend „prophetische Prediger der Kirche“1462 bzw. Prediger oder Märtyrer des Evangeliums1463 oder eben ein „Sinnbild für die Kirche in ihrer Gesamtheit“ in jener eschatologischen Bedrängnis.1464 Welche Deutung ist vorzuziehen? Keine der beiden soeben geschilderten grundsätzlichen Möglichkeiten kann leichtfüßig auf die Seite geschoben werden. Zuletzt bewegen uns jedoch drei ausschlaggebende Überlegungen dazu, die ekklesiologische Deutung auf die zukünftige ganze Gemeinde vorzuziehen. Diese drei Überlegungen sind folgende: das Scheitern der Elia/HenochErwartung in der Reformationszeit bei den Täufern, die Unmöglichkeit, den Text von Offb 11 auf zwei unterschiedliche Personen zu beziehen, und schließlich das Schweigen Jesu in den Evangelien über weitere Vorläufer vor seiner Wiederkunft. Seine Warnung in Mt 24,24 rät eher von einer solchen Vorläufer-Erwartung ab. Die Verheißung von Mk 16,17 zeigt überdies, dass Wunder und Zeichen durchaus der ganzen Gemeinde versprochen sein können (vgl. Offb 11,5f). Es bleibt allerdings möglich, dass am Ende der Zeit von Offb 11 zwei Personen auftreten, in denen sich sozusagen die Weissagung von Offb 11 in besonderer Weise erfüllt. Insgesamt aber gilt: Offb 11,3-6 bezieht sich auf alle wahren Christen jener kommenden Zeit. Damit ist auch Klarheit über den Ort gewonnen, an dem die zwei Zeugen auftreten. Der Zusammenhang der Verse Offb 11,3ff mit den Versen 1 und 2 scheint zunächst dafür zu sprechen, dass sie in Jerusalem auftreten. Eine Reihe von Auslegern nimmt dies auch an.1465 Aber der Text der Verse 3-6 weist in eine andere Richtung. Schon das Beispiel der ägyptischen Plagen führt uns über das Israelland hinaus. Erst recht beschreibt die Vollmacht, „die Erde zu 1459 1460 1461 1462 1463 1464
Frey a.a.O. P. Müller a.a.O. Ähnlich Hartenstein S. 149. Grünzweig a.a.O. U.B. Müller a.a.O. Kiddle S. 183. Schick S. 117f; Gnilka S. 401; Mounce a.a.O.; Satake S. 120ff; Neue Jerusalemer Bibel S. 1795; Caird S. 134ff; Morris S. 148. Roloff S. 115 schränkt auf die christlichen Propheten ein. 1465 So Bousset S. 319 („Bußpredigt unter den Juden“); Schlatter S. 230; Zahn S. 427; Lohmeyer 3 S. 92; Hartenstein S. 149. Schon Bengel S. 529.
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schlagen“, einen weltweiten Auftrag. Hinzu kommt, dass wir die Verse 1 und 2 so verstehen mussten, dass sie nicht den irdischen Tempel und das irdische Jerusalem zum Gegenstand haben, sondern die gesamte christliche Gemeinde. Aus diesen Gründen, und weil wir ja auch die zwei Zeugen auf die ganze künftige Christengemeinde deuten mussten, entfällt eine Beschränkung auf Jerusalem. Der Ort des Auftretens der zwei Zeugen ist vielmehr die ganze Erde.1466 Die Verse 7-13 berichten das weitere Geschick der zwei Zeugen. Futur und Präsens in den Versen 7-10 zeigen, dass hier immer noch der auferstandene Christus spricht. Doch die Vergangenheitsformen in V. 11-13 geben zu verstehen, dass ab V. 11 wieder Johannes berichtet. Und wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben (Καὶ ὅταν τελέσωσιν τὴν μαρτυρίαν αὐτῶν [Kai hotan telesosin ten martyrian auton]), ist eine sehr karge Notiz über das Wirken der Zeugen (V. 7). Keine Erfolgsmeldung! Kein Resultat! Man kann allerdings in der Zusammenschau mit Mt 24,14 davon ausgehen, dass das christliche Zeugnis auch in jener Zeit nicht ohne Frucht bleibt. Jedenfalls gilt, was Bengel hier anmerkte: „So lang sie noch etwas zu verrichten haben, sind sie unüberwindlich … So erging es auch ihrem Herrn selbsten“.1467 Der Plan Gottes kann von keinem Feind durchkreuzt werden.1468 Evtl. steckt in dem Begriff μαρτυρία [martyria], Zeugnis, auch schon der Gedanke, dass sie ihre Tätigkeit mit dem Märtyrertod besiegeln werden.1469 Nun erscheint das Tier. Es erscheint „ganz plötzlich und überraschend“,1470 obwohl der Artikel (τὸ θηρίον [to therion]) es als bekannt vorauszusetzen scheint: … wird das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt (τὸ θηρίον τὸ ἀναβαῖνον ἐκ τῆς ἀβύσσου [to therion to anabainon ek tes abyssu]), mit ihnen Krieg führen und wird sie besiegen und wird sie töten. Woher kennen die Leser dieses Tier? Die Antwort ist unproblematisch: aus Dan 7,3ff.1471 Gerade das Danielbuch wurde bei den frühen Christen intensiv gelesen (vgl. Mt 24,15)1472. In Dan 7,3ff finden sich auch die wichtigen Stichworte θηρίον [therion] und ἀναβαίνειν [anabainein] aus Offb 11,7. Über die ἄβυσσος [abyssos], den Abgrund als Geistergefängnis, vgl. die Erklärung 1466 1467 1468 1469 1470 1471 1472
Vgl. wieder Kiddle S. 176: „The whole world was moved“; Mounce S. 219ff. Bengel S. 533. G. Delling, Art. τέλος usw., ThWNT, VIII, 1969, S. 60. H. Strathmannm Art. μάρτυς, ThWNT, IV, 1942, S. 507f. Bousset (1896) S. 378. Vgl. Lohse S. 66; W. Foerster, Art. θηρίον, ThWNT, III, 1938, S. 134; Schlatter S. 232. Zahn S. 425ff.
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oben bei 9,2 und 9,11. Für Offb 11,7 ist jetzt klar: Das Tier bedeutet ein Weltreich, das sich selbst vergötzt, und das aus den satanischen Tiefen einer widergöttlichen Geisterwelt stammt. In 13,1ff wird es sich als der Antichrist entpuppen. Offensichtlich bildet Offb 11,7ff einen Vorgriff auf Offb 13.1473 Dieses Tier greift die christliche Gemeinde (die zwei Zeugen) mit aller Entschlossenheit an: Es wird mit ihnen Krieg führen (ποιήσει μετ᾿ αὐτῶν πόλεμον [poiesei met’ auton polemon]). Man beachte: Nicht die Gemeinde (die zwei Zeugen) eröffnet den Krieg gegen den Antichrist, sondern umgekehrt. Seit Dan 7,21 ist das Kriegführen gegen das Gottesvolk die ununterbrochene Tätigkeit der gottfeindlichen Mächte (vgl. Mt 24,6; Offb 9,7ff).1474 Allerdings muss auch das Tier von Offb 11,7 warten, bis der Zeugendienst der Gemeinde erfüllt ist und seine von Gott bestimmte Zeit anbricht (wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben). Was nun folgt, ist eine der schwierigsten Aussagen der Bibel: und wird sie besiegen (καὶ νικήσει αὐτούς [kai nikesei autus]). Wie soll man verstehen, dass die Gemeinde Jesu besiegt wird? Dabei ist diese Aussage sowohl in Dan 7,21 als auch in Offb 11,7 und 13,7 (vgl. noch Dan 7,25) zu finden. Gehen wir zurück zur Ausgangsstelle in Dan 7,21. Dort heißt es im Aramäischen „ = ְוי ְָכָלה ְלהוֹןund übermochten sie“.1475 [ יכלjkl] ist im Aramäischen „können“, „vermögen“. Es entspricht damit dem hebräischen [ יכלjkl] = „können“, „vermögen“, „gelingen“, „überlegen sein“, „siegen“, „fassen“.1476 Es geht also keinesfalls um ein Auslöschen der Gemeinde Jesu. Das wäre schon wegen Mt 16,18 nicht anzunehmen. Vielmehr geht es darum, dass das Tier sich in den Augen der Öffentlichkeit als überlegen gegenüber den Christen erweist und diese demütigt. Vermutlich kommt es „zu einer riesigen Abfallbewegung unter den sog. Christen. Aber alle, die ungeheuchelt und ernsthaft mit Jesus verbunden sind, die im Buch des Lebens stehen, werden nicht abfallen. Die Feststellung: ‚besiegte sie‘ [= Dan 7,21] besagt also, dass die Gemeinde schmilzt und der Antichrist nach außen als der Überlegene, als der Besitzer der Wahrheit, als der besser Argumentierende, als der überzeugender Handelnde, kurzum: als der Sieger in einem Geisteskampf dasteht. Für die Gemeinde wird es eine Zeit größter Schmach sein.“1477 Was wir soeben für 1473 Ohne Begründung leugnet Bousset a.a.O. den prophetischen Charakter von Offb 11,7ff. Vgl. Foerster a.a.O. S. 134f; Lohse S. 66; Lohmeyer 3 S. 93; Barclay II S. 81; Schlatter S. 231. 1474 Vgl. O. Bauerfeind, Art. πόλεμος usw., ThWNT, VI, 1959, S. 513f. 1475 Allerdings fehlt νικάω [nikao] dort in der LXX. 1476 Vgl. A. Soggin, Art. כל ֹ ָ י, ThWAT, III, 1982, Sp. 629. 1477 So mein Kommentar „Der Prophet Daniel“, WStB, 1982, S. 288. Vgl. Goppelt S. 524.
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Dan 7,21 angenommen haben, gilt im Wesentlichen auch für Offb 11,7. Zusätzlich sei darauf hingewiesen, dass die Gemeinde auch in Offb 13 nicht ausgelöscht wird. Aber ändert sich das Bild nicht doch durch die letzte Aussage in V. 7: und wird sie töten (καὶ ἀποκτενεῖ αὐτούς [kai apoktenei autus])? Vielleicht ist die Angst vor einem solchen Missverständnis der Grund dafür gewesen, dass viele Handschriften diese Worte auslassen.1478 Zunächst: Viele von den Zeugen Jesu „müssen leiden und sterben“ in der Zeit des Tieres.1479 Es kann kein Zweifel daran sein, dass töten real zu verstehen ist und ein vielfaches Martyrium meint.1480 Aber es heißt nicht: „Es wird sie alle töten.“ Das heißt, ein Teil der Gemeinde überlebt auch das Wüten des Tieres. Der Sinn von Offb 11,7 ist also kein anderer als in Mt 24,9, wo Jesus sagt: „Sie werden euch töten“ (ἀποκτενοῦσιν ὑμᾶς [apoktenusin hymas]), oder in Offb 13,10, wo es heißt: „Wenn jemand mit dem Schwert getötet werden soll, dann wird er mit dem Schwert getötet werden.“ Es ist immer noch Gott, der über das Geschick jedes Einzelnen in seiner Gemeinde bestimmt.1481 Der Antichrist aber dokumentiert hier seine Wesensverwandtschaft mit dem, der „der Mörder von Anfang an“ (Joh 8,44) ist.1482 Wie das Besiegen der Gemeinde konkret aussieht, kann man an V. 8 erkennen: Und ihr Leichnam wird auf der Straße der großen Stadt liegen. Es war eine große Schande, wenn Leichname nicht bestattet wurden (vgl. 2Kön 9,10; Ps 79,2ff; Jer 8,1f; Tob 1,20).1483 Sogar ein Verfluchter, der am Holz hing, musste begraben werden (Dtn 21,22f). Später, in der Zeit der Makkabäer und gerade in der Zeit des Johannes, nämlich bei den Zeloten in Jerusalem, hat man das Unbestattetlassen bewusst als politische Strafe und zur Verhöhnung eingesetzt.1484 Manche Leser der Offb hatten also eine lebendige Anschauung aus der Zeitgeschichte vor Augen. Das griechische Wort für Leichnam in V. 8, πτῶμα [ptoma], ist ein hässliches Wort und bezeichnet vor allem gewaltsam Getötete, zum Teil das Aas.1485 Wenn die Leichname
A nach Nestle-Aland S. 652. Lohse S. 65f. Bengel S. 534. Vgl. noch O. Bauernfeind. Art. νικάω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 943f. Foerster a.a.O. S. 135. Lohmeyer 3 S. 93; Lohse S. 66; Barclay II S. 82. Vgl. Flusser S. 427. Josephus B.J. IV, 316f. Siehe dazu die Anmerkung von Michel-Bauerfeind. Vgl. auch 2 Makk 5,10. 1485 Bauer-Aland Sp. 1456f; W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 167. τὸ πτῶμα αὐτῶν [to ptoma auton] ist nach Michaelis ein „kollektiver Singular“.
1478 1479 1480 1481 1482 1483 1484
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auf der Straße liegen, erinnert dies an die von Hesekiel geschilderten Gräuel (Ez 11,6), aber auch an die zelotischen Gräuel in Jerusalem 30 Jahre zuvor.1486 Doch was ist die große Stadt (ἡ πόλις ἡ μεγάλη [he polis he megale])? Seit Gen 10,12 ist „die große Stadt“ ([ ָהִעיר ַה ְגֹּדָלהhair haggedolah]) typische Bezeichnung für Ninive (vgl. Jona 1,2; 3,2.3; 4,11; Judit 1,6).1487 Auch das persische Ekbatana heißt so (Judit 1,1). Nebukadnezar nennt in Dan 4,27 das von ihm erbaute Babel „das große Babel“, allerdings nicht einfach „die große Stadt“. Es ist zweifelhaft, ob Jerusalem je im AT als „die große Stadt“ bezeichnet wird. Jer 22,8 spricht nur von „einer großen Stadt“, was nicht dasselbe ist wie „die große Stadt“. Die Offb selbst macht deutliche Unterschiede. Das geistliche Jerusalem bzw. das himmlische Jerusalem nennt sie „die heilige Stadt“ (11,2; 21,2.10; 22,19). Dagegen heißt Babylon in der Offb „die große Stadt“ (Offb 16,19; 18,10; 18,21) oder „das große Babylon“ (Offb 14,8; 17,5; 18,2). Angesichts dieser Sachlage ist es wenig wahrscheinlich, dass „die große Stadt“ in Offb 11,8 Jerusalem bezeichnen soll, obwohl dies viele annehmen.1488 Vielmehr bietet Jes 25–26 aus der sog. Jesaja-Apokalypse eine interessante Parallele. E. Otto hebt vor allem „das prophetische Danklied Jes 25,15“ hervor, das Gottes endzeitliches Handeln „auf die Vernichtung der Weltstadt“ zuspitze. Dasselbe Thema findet er im „Hymnus Jes 26,1-6.“1489 Alle diese Beobachtungen zusammengenommen führen uns wie Martin Kiddle zu dem Schluss, dass „die große Stadt“ weder Jerusalem noch Rom1490 bedeutet, sondern die Repräsentantin der Welt, des κόσμος [kosmos] im johanneischen Sinne.1491 Allerdings fügt Offb 11,8 der „großen Stadt“ zwei weitere Merkmale hinzu. Erstens wird sie geistlich Sodom und Ägypten genannt (ἥτις καλεῖται πνευματικῶς Σόδομα καὶ Αἴγυπτος [hetis kaleitai pneumatikos Sodoma kai Aigyptos]). Das bringt uns weit mehr in die Nähe Jerusalems als „die große Stadt“. Denn in Jes 1,9.10 wird Jerusalem selbst als Sodom bezeichnet – neben Gomorra –; in Jes 3,9 und Jer 23,14 wird es mit „Sodom“ verglichen und schließ1486 Josephus a.a.O. 1487 Vgl. Westermann S. 691f. 1488 Z.B. Behm S. 61; U.B. Müller S. 213; Bengel S. 535; Lohse a.a.O.; Aune S. 619; Lohmeyer a.a.O.; Hartenstein S. 150; Lawton S. 78; J.M. Hahn S. 304f; Barclay II S. 81; Schlatter BFchTh S. 80ff; Bousset (1896) S. 379; Pohl II S. 74f. Lohmeyer sieht wohl, dass „die große Stadt“ sonst Babylon ist, meint aber, Johannes sei in Offb 11,8 „durch Tradition gebunden“, nämlich an Jerusalem. 1489 Art. עיר ִ , ThWAT, VI, 1989, Sp. 71. 1490 Für Rom: Caird S. 138; schon Vitringa S. 476 (Rom oder Imperium Romanum). 1491 Kiddle S. 184: die ganze bewohnte Erde. Vitringa a.a.O. kommt mit der Deutung auf das Römische Reich dem sehr nahe. Ebenso Morris S. 150; Grünzweig S. 280.
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lich in Ez 16,46.49.56 die Schwester „Sodoms“ genannt.1492 Dass es Jerusalem ist, das geistlich (πνευματικῶς [pneumatikos]) Sodom genannt werden kann, ist deshalb möglich. Jedoch macht stutzig, dass Jerusalem niemals im AT Ägypten genannt wird. „Ägypten“ ist vielmehr ein Urtypus für die Weltreiche (Jes 31,3; Jer 46,2ff; Ez 29–31). Wenn die große Stadt die Weltstadt ist, also die ganze Welt repräsentiert, wenn diese Welt wie Sodom und Ägypten zu beurteilen ist, sofern man den Maßstab Gottes anlegt und dem Sinn des heiligen Geistes folgt (geistlich, πνευματικῶς [pneumatikos]), dann ergibt auch diese Auslegung im Zusammenhang von Offb 11 einen guten Sinn. πνευματικῶς [pneumatikos], „geistlich“ heißt nach Eduard Schweizer „in prophetischer Sprache“.1493 Doch liegt der Akzent ein wenig anders. Vom Wortsinn her bedeutet πνευματικῶς [pneumatikos] „so wie es dem Geist entspricht“ oder im Blick auf die Heilige Schrift „das geistliche … Schriftverständnis“ (vgl. 1Kor 2,13-14).1494 Zweitens wird „die große Stadt“ durch die Bemerkung charakterisiert: wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde (ὅπου καὶ ὁ κύριος αὐτῶν ἐσταυρώθη [hopu kai ho kyrios auton estaurothe]). Außer Zweifel steht, dass hier vom Kreuzestod Jesu die Rede ist. Das Lamm von Offb 5,6ff wurde also am Kreuz „geschlachtet“. Im Übrigen setzt die Kürze dieser Bemerkung voraus, dass die Leser ausreichend genug über Leben und Sterben Jesu Christi unterrichtet sind. Sie müssen auch wissen, wo er gekreuzigt wurde. Als Ort im engeren Sinn kommt dafür nur Jerusalem infrage. Es gibt jedoch eine zweite Linie im NT, die betont, dass Jesus in dieser gottfeindlichen Welt gekreuzigt wurde. Dieser gottfeindliche Kosmos ist es, der nach dem Johannesevangelium Jesus Christus ablehnte (Joh 1,10f). Es sind auch nach Paulus „die Herrscher dieser Welt“, die den „Herrn der Herrlichkeit“ gekreuzigt haben (1Kor 2,8). Ist die große Stadt die gottfeindliche Welt, dann kann man im Sinne des NT durchaus sagen, dass dort ihr Herr gekreuzigt wurde. Das heißt, die Deutung auf Jerusalem ist keineswegs zwingend. Es stehen jetzt zwei Deutungsmöglichkeiten nebeneinander, die wir beide offenlassen müssen: 1) In Offb 11,8 meint die große Stadt, die geistlich Sodom und Ägypten genannt wird, das irdische Jerusalem. Wenn die Leichname der christlichen Märtyrer dort auf der Straße zu sehen sind, zeigt das, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Jerusalem und der übrigen Welt. Es gibt im Grunde 1492 Bousset (1896) erinnert noch an Dtn 32,32. 1493 Im Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, S. 448. 1494 Bauer-Aland Sp. 1362; Lohmeyer 3 S. 93. Caird S. 138: „figurative“.
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dann keine „heilige Stadt“ auf Erden mehr. Jerusalem ist wie Sodom und Ägypten geworden. Wir können auch in diesem Fall die zwei Zeugen auf die weltweite christliche Gemeinde der Endzeit deuten. Märtyrer gibt es zwar auch anderswo. Aber Jerusalem wäre ein besonders schreckliches Beispiel für die Nöte der Endzeit. 2) In Offb 11,8 meint die große Stadt, die geistlich Sodom und Ägypten genannt wird, die ganze gottfeindliche Welt. Sie kann mit Sodom und Ägypten im AT verglichen werden. Sie steht in nächster Nähe zu „der großen Stadt“ Babylon in Offb 14,8; 16,19; 17,5; 18,2.10.21. Sie trägt Schuld an der Kreuzigung Jesu. – Wir gestehen, dass wir dieser zweiten Deutung zuneigen, weil sie besser mit dem weltweiten Zeugnis der zwei Zeugen = der christlichen Gemeinde und mit der Beteiligung der „Völker und Stämme und Sprachen und Nationen“ in V. 9 in Einklang zu bringen ist.1495 Die Reaktion auf den Tod der zwei Zeugen ist weltweit (V. 9): Und Menschen aus den Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen sehen ihren Leichnam dreieinhalb Tage und man erlaubt nicht, ihre Leichname in ein Grab zu legen. Die Aufzählung Völker (λαοί [laoi]) – Stämme (φυλαί [phylai]) – Sprachen (γλῶσσαι [glossai]) – Nationen (ἔθνη [ethne]) ist, wie 5,9; 7,9 und 10,11 zusammen mit Dan 3,4.7; 7,14 zeigen, ein Ausdruck für die gesamte Menschheit. Es ist eine verzweifelte Auskunft, die dies auf das römische „Belagerungsheer vor Jerusalem“1496 oder auf das „Völkergemisch“ der Einwohner Jerusalems1497 deuten will. Hier scheitert eine zu enge Auslegung, die V. 8 lediglich auf das irdische Jerusalem beziehen will. Nein, wir haben es im ganzen Abschnitt 11,3-13 mit einem weltweiten Geschehen zu tun.1498 Die Präsens-Formen sehen/man erlaubt nicht weisen darauf hin, dass wir es hier immer noch mit einer Ankündigung des erhöhten Christus zu tun haben (vgl. V. 3). Das Präsens hat also den Sinn des Futurs. Frühere Kommentare haben sich mit der Frage herumgeschlagen, wie die Menschheit in nur 3½ Tagen die Leichname sehen könne.1499 Darauf ist zunächst zu antworten, dass es nicht um die Leichname zweier Individuen in einer begrenzten Lokalität geht, sondern um das Sterben der christlichen weltweiten Mission und 1495 Luthers Deutung auf den „weltlichen Bapst“ (Hofmann S. 426) geht in dieselbe Richtung. Ebenso Kiddle S. 184f. Vgl. Vitringas Deutung auf das Römische Reich (S. 476) und Behms Auslegung S. 60f, wonach „Jerusalem“ nur „uneigentlich“ zu verstehen ist und eigentlich die „von Gott geschiedene Welt“ darstellt. 1496 So Bousset (1896) S. 386. 1497 So Hadorn S. 123; Weiß-Heitmüller S. 278; schon Bengel S. 538. 1498 Dies sieht auch Aune S. 621. 1499 Bousset (1896) S. 381.
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Verkündigung im Antichrist-Reich.1500 Sodann aber genügen in der heutigen globalisierten Welt schon wenige Minuten, um ein Ereignis für die ganze Welt sichtbar und erfahrbar zu machen. Ein Einwand gegen die „Kürze der Zeitfrist“1501 käme uns heute lächerlich vor. Über die Schande des Unbestattetlassens vgl. die Erklärung bei V. 8 (vgl. Ps 79,2ff). Möglicherweise ist der Ausdruck in ein Grab zu legen (τεθῆναι εἰς μνῆμα [tethenai eis mnema]) bewusst im Blick auf die Geschichte Jesu formuliert (vgl. Jes 53,9; Mt 27,60; Mk 15,46; Lk 23,53; Joh 19,41f). Unwillkürlich werden wir an das Jesus-Wort in Mt 10,24 erinnert: „Der Jünger steht nicht über dem Meister und der Knecht nicht über seinem Herrn.“ Man hat unsern Vers immer wieder als besonders schwierig empfunden.1502 Das hängt nicht zuletzt mit der Zahlenangabe dreieinhalb Tage zusammen. Oft begnügte man sich mit der Feststellung, diese Zahl sei „analog“ zu den 3½ Jahren in V. 3.1503 Übrigens sind die Zahlen in 11,1-14 durchweg Tages- oder Monatszahlen (11,2.3.6.9.11), was die Entsprechung noch enger macht. Inhaltlich weiter führt aber der Hinweis von U.B. Müller, der in den dreieinhalb Tagen eine „Variation“ der 3½ Zeiten des Danielbuches (7,25; 9,27; 12,7) erblickt.1504 Geht man ferner mit Eduard Schick davon aus, dass die „halbierte Sieben“ so etwas wie ein „Unheilsmaß des Widergöttlichen“ darstellt,1505 dann müsste man evtl. die 3½ Tage nicht im normalen Wortsinn nehmen. Es könnte dann auch eine besondere, eine prophetische Zeitspanne sein. Und wir könnten dann auch in dieser Zahl 3½ den Gedanken finden, „daß alle widergöttlichen Gewalten … auf dem Weg zu dem beabsichtigten Ziel stecken bleiben“.1506 Wir lassen in unserem Kommentar beide Deutungen nebeneinander offen: die Deutung auf 3½ normale Tage und die Deutung auf eine besondere, „prophetische“ Zeitspanne, die sich nicht mit unseren normalen 3½ Tagen decken muss. Dass die Reaktion auf den Tod der zwei Zeugen weltweit ist, bestätigt noch einmal V. 10: Und die Bewohner der Erde freuen sich über sie. Die Bewohner der Erde (οἱ κατοικοῦντες ἐπὶ τῆς γῆς [hoi katoikuntes epi tes ges]) meint die Gesamtheit der Menschheit (vgl. Offb 1500 Freilich sind, wie Mounce unter Verweis auf Offb 2,10 richtig anmerkt, die toten Körper von Offb 11,8f keine Symbole einer geistlich toten Kirche, sondern Symbole eines treuen Martyriums (S. 227). 1501 So Bousset a.a.O. 1502 Z.B. Bousset (1896) S. 380; U.B. Müller S. 208. 1503 So Lohmeyer 3 S. 93; Bousset a.a.O.; Lohse S. 66; Mounce S. 227; Hadorn a.a.O.; Behm S. 61. 1504 U.B. Müller S. 215. 1505 Schick S. 115. Ähnlich Aune S. 621. 1506 Schick S. 116.
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3,10; 6,10; 8,13; Jes 24,17; 26,21). Der Ausdruck lässt jedoch die Möglichkeit offen, dass eine Minderheit betrübt ist und nicht an der allgemeinen Freude teilnimmt.1507 Die Verben freuen sich und sind guter Dinge und werden einander Geschenke senden (χαίρουσιν [chairusin] – εὐφραίνονται [euphrainontai] – πέμψουσιν [pempsusin]) bringen eine dreifach große Freude zum Ausdruck. Sie sind eng miteinander verzahnt.1508 Da εὐφραίνονται [euphrainontai] „seit alters gern für die Freude des Mahles und Festes gebraucht“1509 wird und auch in Lk 12,19; 16,19 an prominenter Stelle auftaucht, haben wir dieser „Stimmung der Freude“1510 durch die Übersetzung sind guter Dinge Ausdruck zu geben versucht. Der Übergang vom Präsens (χαίρουσιν [chairusin], εὐφραίνονται [euphrainontai]) zum Futur (πέμψουσιν [pempsusin]) ist problemlos, da es sich immer noch um die grundsätzlich im Futur zu denkende Ankündigung des erhöhten Christus (vgl. V. 3) handelt. Wie die Exegeten bemerken, liegt bei Offb 11,10 ein enger Bezug zu Esth 9,18f.22 vor, daneben auch zu Neh 8,10.12.1511 Mounce geht so weit zu sagen, Offb 11,10 sei „a perverse counterpart to the Jewish feast of Purim“.1512 Da in V. 9 ein enger Tagesrahmen genannt ist („dreieinhalb Tage“), ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass der Antichrist (V. 7) den Todestag der zwei Zeugen zum hohen Feiertag erhebt.1513 Das wäre aber nicht nur ein „counterpart“ zu Purim, sondern weit mehr noch ein Gegenfeiertag zu Ostern. Jedenfalls trägt Offb 11,10 unübersehbar eine religiöse Färbung. In diesem Licht müssen wir die „Freudenmähler“ sehen, die auf der ganzen Welt stattfinden und ebenso die Geschenke (δῶρα [dora]), vielleicht Anteile an den Festmahlzeiten,1514 die sogar die Ärmsten erhalten (vgl. Esth 9,19.22; Neh 8,10.12).1515 Die enorme religiöse Vitalität des Antichrist wird uns noch in Kap. 13 beschäftigen. Was ist der Grund dieser übermäßigen Freude? Es ist kein Ereignis, das zum Leben führt, sondern ein Ereignis zum Tode. Über sie – gemeint sind 1507 Vgl. Bengel S. 539. 1508 Vgl. R. Bultmann, Art. εὐφραίνω usw., ThWNT, II, 1935, S. 770ff; H. Conzelmann im Art. χαίρω usw., ThWNT, IX, 1973, S. 357ff. 1509 Bultmann a.a.O. S. 770. 1510 Bultmann a.a.O. S. 771. 1511 Bousset (1896) S. 381; Lohse S. 66; Lohmeyer 3 S. 93; Mounce S. 227; Hadorn S. 123. 1512 A.a.O. 1513 Vgl. Mounce a.a.O.: „A holiday is declared with merrymaking and the exchange of gifts.“ 1514 Lohmeyer a.a.O.; Hadorn a.a.O.; Behm S. 60. 1515 LXX Esth 9,19: μετ᾿ εὐφροσύνης ἀποστέλλοντες μερίδας [met’ euphrosynes apostellontes meridas]; 2Esdras 18,12: ἀποστέλλειν μερίδας καὶ ποιῆσαι εὐφροσύνην μεγάλην [apostellein meridas kai poiesai euphrosynen megalen].
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eher die zwei Zeugen, die jetzt tot sind, als speziell nur die Leichname – freut man sich, das heißt: „wegen ihnen“.1516 Warum? Denn diese zwei Propheten haben die Bewohner der Erde gequält (ἐβασάνισαν τοὺς κατοικοῦντας ἐπὶ τῆς γῆς [ebasanisan tus katoikuntas epi tes ges]). Erneut wird die Tätigkeit der zwei Zeugen auf die ganze Menschheit (die Bewohner der Erde) bezogen1517 und nicht etwa nur auf Jerusalem. Die zwei Zeugen heißen jetzt die zwei Propheten, weil sie Gottes Willen verkündigt haben. Aber noch immer handelt es sich um das Zeugnis der ganzen Gemeinde Jesu Christi auf Erden. Dieses Zeugnis quälte die Menschen. Wie Lk 16,23.28 und Ez 32,24.30 LXX; Sap Sal 3,1 zeigen, kann „Qual“ sogar die Höllenqual im Jenseits bezeichnen.1518 βασανίζω [basanizo], quälen, hat drei Grundbedeutungen: a) „erproben“, b) „foltern“, c) „quälen“ im umfassenden Sinn, etwa durch Strafleiden und innere, seelische (Gewissens-)Qual.1519 Alle drei Grundbedeutungen treffen bei den zwei Zeugen = der christlichen Gemeinde der Endzeit zusammen: Sie „erprobte“ die verderbte Menschheit, indem sie ihre Gesetzlosigkeit und Gottlosigkeit durch ihre Verkündigung „entlarvte“ (vgl. Mt 24,12); sie „folterte“ die Menschheit, indem sie an die Verantwortung vor Gott erinnerte, ja sogar die mahnenden Wunder von V. 5 und 6 vollbrachte; und sie quälte sie sogar innerlich, indem sie durch ihre Verkündigung einen Stachel in die Gewissen senkte. Es ist also nicht nur der Hass auf Christus und seine Gemeinde, der hinter V. 10 zu spüren ist (vgl. Joh 15,18ff), sondern zugleich eine ungeheure Erleichterung und Befreiung, dass nun das christliche Zeugnis für ganz kurze Zeit verstummt ist. Vom Urteil der Menschheit jener AntichristZeit aus betrachtet ist der Feiertag von Offb 11,10 ein Befreiungstag (vgl. wieder Ester, Nehemia und Purim).1520 Vom biblischen Zusammenhang her vgl. noch 1Kön 18,17, 21,20; Ps 105,38; Mk 1,24; 5,7; 6,20; Joh 16,20. Vers 11 betrifft zwar ebenso wie V. 7-10 das weitere Geschick der zwei Zeugen. Aber sowohl der Wechsel vom Präsens und Futur zum Aorist als auch die einleitenden Worte Καὶ μετὰ [kai meta] usw. machen deutlich, dass wir jetzt zu einer neuen Stufe des Geschehens kommen. Offensichtlich berichtet Johannes von V. 11 an wieder das, was er selber sah. Und der Vorgang, der 1516 ἐπί [epi] mit Dativ zur Angabe des Grundes, vgl. Blass-Debrunner § 235,2; 196,3. 1517 Weshalb die „Bewohner der Erde“ etwas anderes sein sollen als „die Völker“ usw. von V. 9 (so Bousset 1896 S. 380), ist nicht ersichtlich. Richtig Mounce S. 226f: „the whole earth“; Morris S. 150: „Mankind in general“. 1518 Vgl. Joh. Schneider, Art. βάσανος usw., ThWNT, I, 1933, S. 560f. 1519 Schneider a.a.O. 1520 Bengel merkte einst zu Offb 11,10 an: „Wider das Zeugnis von Christo werden Türken, Juden, falsche Christen und Heiden eines“ (S. 539).
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sich vor seinen geisterleuchteten Augen abspielt, stellt ein größeres Wunder dar, als es die Wunder der Verse 5 und 6 gewesen waren. Und nach den dreieinhalb Tagen kam der Geist des Lebens von Gott in sie hinein (V. 11): Halten wir das Wichtigste sofort fest: Gott kann Tote wieder lebendig machen. Weder der Tod noch der Antichrist noch irgendeine andere Macht kann dies verhindern. Das war schon die Botschaft des Alten Testaments (Gen 5,24; Dtn 32,39; 1Sam 2,6; 1Kön 17,17ff; 2Kön 2,11; 4,18ff; Ps 16,10; 49,16; 73,24; Jes 26,19; Ez 37; Dan 12,2f; Hos 13,14). Das ist erst recht eine der Zentralbotschaften des Neuen Testaments (1Kor 15). Wir beobachten außerdem, dass die Diktion von Offb 11,11 stark an Ez 37,5.10 erinnert.1521 πνεῦμα ζωῆς [pneuma zoes], Geist des Lebens, finden wir in Ez 37,5, εἰσῆλθεν καὶ ἔστησαν [eiselthen kai estesan] in Ez 37,10, und auch die Worte ἐν αὐτοῖς [en autois]1522 und ἐπὶ τοὺς πόδας αὐτῶν [epi tus podas auton] sind nur geringe Abwandlungen für das hesekielische εἰς αὐτούς [eis autus] bzw. ἐπὶ τῶν ποδῶν αὐτῶν [epi ton podon auton] (LXX). Wenn aber Johannes so stark an Ez 37 erinnert wurde, dann hat er einen Vorgang gesehen, der auch den Kategorien von Ez 37 entspricht. Mit anderen Worten: Hier findet keine Auferstehung statt, die der Auferstehung Jesu analog wäre,1523 sondern eine Wiederbelebung anderer Art.1524 Aber wie? Sehen wir uns die Einzelheiten an: Nach den dreieinhalb Tagen (μετὰ τὰς τρεῖς ἡμέρας [meta tas treis hemeras]) hat den Artikel.1525 Es sind deshalb die 3½ Tage von V. 9 gemeint. Ein Begräbnis hat immer noch nicht stattgefunden! Da kam von Gott (ἐκ τοῦ θεοῦ [ek tu theu]) der Geist des Lebens (πνεῦμα ζωῆς [pneuma zoes]) in sie hinein (εἰσῆλθεν ἐν αὐτοῖς [eiselthen en autois]). Dieser besondere Lebensgeist entspringt wie in Ez 37,5ff dem Wort und Anhauch Gottes. Er stellt deshalb ein eminentes Wunder dar und nicht nur „die rein vitale Lebenskraft“, wie Eduard Schweizer meinte.1526 In Ez 37,5 ging es um eine Rückkehr ins irdische Leben, bezogen zunächst auf Israel als Ganzes.1527 Zwar ist Ez 37 durchaus ein Zeugnis für die Kraft Gottes, Tote aufzuerwecken (vgl. Apg 1521 Vgl. Lohmeyer 3 S. 93; Mounce S. 228; U.B. Müller S. 220. 1522 Vgl. dazu Blass-Debrunner § 218,3. 1523 Obwohl viele Forscher in diese Richtung tendieren: Schlatter S. 233 („auferweckt“); Bengel S. 540 („gehören … schon zur ersten Auferstehung“); Roloff S. 118; Schick S. 123; Kraft S. 159. 1524 Richtig Ritt S. 62: „Wiederbelebung der Toten“. 1525 Nicht erkennbar z.B. in der Lutherbibel. 1526 Im Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1939, S. 447. 1527 Vgl. meinen Kommentar „Der Prophet Hesekiel“, 2. Teil, WStB, 2000, S. 203ff. Ebenso S. Tengström, Art. רוח, ThWAT, VII, 1993, Sp. 410.
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26,8). Aber das, was nach Ez 37 geschehen soll, ist eine Wiederbelebung der Hoffnung Israels und auch eine Wiederbelebung Israels.1528 Die Gabe des Lebens erfolgt über den schöpferischen Gottesgeist (vgl. Gen 2,7; Num 16,22; Koh 12,7). Die Leichname der zwei Zeugen in Offb 11,11 werden also wiederbelebt. Infolgedessen stellten sie sich auf ihre Füße,1529 d.h., sie wurden, was sie vor ihrer Tötung waren. Die sie in diesem Zustand der Wiederbelebung sehen, befiel große Furcht. Es muss also möglich gewesen sein, sie sofort und ohne Zweifel zu identifizieren. θεωρέω [theoreo] ist ja ein Wort für das Sehen mit normalen Augen.1530 Repräsentieren die zwei Zeugen die ganze Gemeinde der Endzeit, dann kann Offb 11,11 nur heißen: Zwar verstummt ihre Verkündigung unter der Tyrannei des Antichristen für kurze Zeit, geht dann aber weiter bis zur Wiederkunft Jesu. Diese Aussage von Offb 11,11 stimmt völlig überein mit Mt 24,14. Wir müssen sagen: Dieses Wunder, dass die christliche Verkündigung nicht einmal vom Antichrist ausgeschaltet werden kann, ist noch weit größer, als es eine Wiederbelebung von zwei Individuen wäre. Dass Furcht auf die Feinde des Gottesvolkes fällt, wird in der Bibel öfters berichtet (vgl. Ex 15,16; Ps 105,38; Neh 6,16; Apg 2,43). W. Michaelis hebt „die Plötzlichkeit und Unwiderstehlichkeit“ dieser Furcht hervor.1531 Trotz des Imponiergehabes des Antichrist spüren die Menschen, dass es noch etwas Größeres, dass es noch einen Gott gibt. Den Feinden Gottes bleibt die Furcht, den Glaubenden die Freude, die auch das Martyrium nicht zerstören kann (vgl. Mt 10,28; Joh 16,20.22.33). Obwohl manche Ausleger die Wiederbelebung der zwei Zeugen als eine Parallele zur Auferstehung Jesu betrachten1532 und Caird sogar schreibt: „like him they have their Easter Day“,1533 können wir eine solche Parallele nicht wahrnehmen. Schon die betonte Zeitangabe von dreieinhalb Tagen führt uns zu Daniel (7,25; 9,27; 12,7) und eben nicht zu Jesu Auferstehung. Denn für Letztere sind die drei Tage so konstitutiv, dass sie Johannes nicht einfach zu dreieinhalb abwandeln konnte (vgl. Mt 16,21; 17,23; 20,19; 28,1 parr; Joh 2,19; 20,1ff; Apg 10,40; 1Kor 15,4). Auch dass sie sich auf ihre Füße stell1528 Vgl. wieder Tengström a.a.O. 1529 Vgl. dazu K. Weiß, Art. ποῦς, ThWNT, VI, 1959, S. 628. 1530 Vgl. W. Michaelis, Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, S. 315ff. Nicht auszuschließen ist, dass θεωρέω [theoreo] hier in seiner ursprünglichen Bedeutung erscheint, nämlich „aufmerksamer Zuschauer sein“. Die Menschen würden demnach in einer Art gigantischer Weltarena Zuschauer eines ungewöhnlichen Ereignisses, das sie grundsätzlich zum Nachdenken zwingt. 1531 Im Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, S. 164. 1532 Bengel a.a.O.; Schlatter a. a . O.; Caird S. 138; Bousset S. 326. 1533 Caird a.a.O.
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ten, ist ein völlig anderes Geschehen als dasjenige, das von der Auferstehung Jesu berichtet wird. Drittens bleibt insofern ein Grundunterschied, dass Jesus im Grab lag (1Kor 15,4), während die zwei Zeugen gerade nicht ins Grab gelegt wurden. Viertens werden die zwei Zeugen von einem offenbar viel größeren Personenkreis gesehen, als es bei Jesus der Fall war. Besser betrachtet man also die Wiederbelebung der zwei Zeugen als ein Ereignis eigener Art (sui generis) und nicht als eine Art zweite Auferstehung.1534 Es ist also nicht richtig, von einer „Auferstehung der Zeugen“ zu sprechen oder Offb 11,11 zur „ersten Auferstehung“ von Offb 20,4ff zu rechnen.1535 Vers 12 berichtet das wirkliche Ende, das die zwei Zeugen erleben. Und sie (nämlich die zwei Zeugen) hörten eine laute Stimme aus dem Himmel zu ihnen sagen: Steigt hier hinauf! Und sie stiegen hinauf in den Himmel in der Wolke, und es sahen sie ihre Feinde. Es scheint, dass nur die zwei Zeugen die Stimme hörten (vgl. Dan 10,7; Apg 22,9), also nicht der Antichrist oder die übrige Menschheit.1536 Die laute Stimme ist eine Stimme mit Autorität (vgl. Offb 1,10; 4,1; 5,2.12; 6,1; 7,2.10; 8,13; 10,3). Dass sie aus dem Himmel kommt, deutet darauf hin, dass sie einen Befehl Gottes weitergibt. Ob es die Stimme Christi oder die Stimme eines hohen Engels ist, muss offenbleiben. Das Steigt hier hinauf! (ἀνάβατε ὧδε [anabate hode]) erinnert allerdings an Offb 4,1 und Ex 19,24 und könnte insofern auf die Stimme Christi hindeuten.1537 Und sie stiegen hinauf in den Himmel: Das kann nur durch ein Wunder und die übernatürliche Kraft Gottes geschehen. Als nächste Parallele bietet sich die Geschichte Elias in 2Kön 2,11,1538 ferner die Wegnahme Henochs von der Erde in Gen 5,24 an. Dort heißt es allerdings ἀνελήμφθη εἰς τὸν οὐρανόν [anelemphthe eis ton uranon] bzw. μετέθηκεν [metetheken] (LXX) und nicht wie in Offb 11,12 ἀνέβησαν εἰς τὸν οὐρανόν [anebesan eis ton uranon]. Dennoch bleibt die Elia-Geschichte so etwas wie ein alttestamentliches Modell für Offb 11,12. Dass der Aufstieg der zwei Zeugen in der Wolke (ἐν τῇ νεφέλῃ [en te nephele] mit Artikel!) geschieht, zeigt noch einmal, dass ihre Aufnahme im Himmel mit allen Ehren geschieht. Denn die Wolke ist Gottes Gefährt (Ps 104,3) und ein Zeichen göttlichen Eingreifens (Ex 13,21; 19,16; Dan 7,13). „Du nimmst mich am Ende mit Ehren an“: Diese Aussage von Ps 73,24 erfüllt sich bei den zwei Zeugen wortwörtlich.
1534 1535 1536 1537 1538
Vgl. Aune S. 624. Gegen Roloff S. 118; Kraft S. 159; Schick S. 123; Caird a.a.O.; Ritt S. 62. Anders Bengel S. 541; Pohl II S. 80. Anders Kraft S. 159: Stimme eines Engels. Vgl. Barclay a.a.O.; Kraft a.a.O.
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Und es sahen sie ihre Feinde (καὶ ἐθεώρησαν αὐτοὺς οἱ ἐχθροὶ αὐτῶν [kai etheoresan autus hoi echthroi auton]): An diesen wenigen Worten des Johannes ist dreierlei bemerkenswert. Erstens werden die zwei Zeugen vor den Augen aller Welt ins Recht gesetzt.1539 Ihre Himmelfahrt geschieht nicht im Winkel, nicht im Nebel, sondern offen vor den Augen ihrer Feinde. Dem Antichrist bleibt deshalb der letzte Triumph versagt. Er muss Gottes Überlegenheit und die Herrlichkeit des Herrn der zwei Zeugen anerkennen. Zweitens wird hier sehr klar von ihren Feinden gesprochen. Ja, die Gemeinde Jesu hat nicht nur Sympathisanten, heimliche Wohltäter (vgl. Mt 10,42; Joh 12,42), sondern auch direkte und durch nichts zu gewinnende Feinde (vgl. Mt 24,9; Joh 15,25; Apg 13,10; Röm 12,20; 1Kor 15,25f). In der Endzeit enthüllen sie sich klarer als je zuvor. Drittens gibt das wiederholte θεωρέω [theoreo] – übrigens auch ein Lieblingswort des Johannesevangeliums1540 – zu denken (V. 11.12). Ist hier doch der ursprüngliche Wortsinn „aufmerksamer Zuschauer sein“ und „zum Nachdenken herausgefordert sein“ von Bedeutung?1541 Noch einmal sei auf den Unterschied zur Himmelfahrt Jesu hingewiesen: a) Der Aufstieg der zwei Zeugen geschieht gewissermaßen in ihrer alten, wenn auch wiederbelebten Leiblichkeit, während Jesus nach der Auferstehung eine verwandelte Leiblichkeit besitzt (vgl. Joh 20,19.26); b) die zwei Zeugen fahren sofort nach ihrer Wiederbelebung zum Himmel auf, während Jesus als der Auferstandene noch 40 Tage bei seinen Jüngern weilt (Apg 1,3). Immerhin verbindet die Wolke und der Gang in den Himmel Jesus und seine zwei Zeugen eng miteinander (vgl. Joh 20,17; Apg 1,9f; 2,34). Insgesamt wird man sagen können, dass die Wunder der Aufnahme Henochs (Gen 5,24), Elias (2Kön 2,11), der beiden Zeugen (Offb 11,12) und auch der geheimnisvolle Tod Moses (Dtn 34,5f)1542 eine beeindruckende Kette von Zeugnissen dafür sind, dass der Tod Gott unterworfen ist.1543 Was bedeutet nun der Vorgang von Offb 11,12, wenn die zwei Zeugen die Gemeinde der Endzeit darstellen? Kurz gesagt: dass sie bei Gott angenommen wird, himmlischen Lohn und das ewige Leben empfängt. Aber auch, dass ihre grimmigsten Feinde, darunter der Antichrist in Person, erleben müssen, dass sie nicht ausgelöscht werden kann, sondern ihre Verkündigung am Ende ganz
1539 1540 1541 1542 1543
Dies betont z.B. Schlatter S. 233. Kraft S. 160 erinnert an Sach 12,10. Michaelis a.a.O. S. 345f. Vgl. Michaelis a.a.O. S. 318f. Vgl. Josephus Ant IV, 326. Vgl. W. Haubeck, Art. Himmelfahrt, GBL, 2, S. 578; Joh. Schneider, Art. βαίνω usw., ThWNT, I, 1933, S. 516ff.
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und gar recht behält.1544 Von alledem ist die Entrückung (1Thess 4,17), auf die hin Leon Morris auslegt,1545 nur ein Teilvorgang. Auch ist es nicht statthaft, Offb 11,12 auf die Märtyrer zu beschränken,1546 so wichtig diese auch für die Kirche sind. Vers 13 rundet die Geschichte der zwei Zeugen ab. In der ersten Hälfte berichtet der Vers von Zeichen, die bei ihrer Himmelfahrt geschehen. In seiner zweiten Hälfte werden die Reaktionen der Menschen auf all diese wunderbaren Ereignisse geschildert. Und in jener Stunde geschah ein großes Erdbeben, und der zehnte Teil der Stadt1547 stürzte ein, und es wurden getötet in dem Erdbeben siebentausend Menschen: In jener Stunde (ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ [en ekeine te hora]) bezieht sich offensichtlich auf die Zeit1548 der Himmelfahrt der zwei Zeugen (V. 12). Die Verse 12 und 13 werden also eng miteinander verklammert. Das erste Zeichen, das dabei geschieht, ist ein großes Erdbeben (σεισμὸς μέγας [seismos megas]). Schon einmal hat ein Erdbeben einen Vorgang in der Offb begleitet (8,5). Nahe liegt ferner die Parallele zum Erdbeben beim Tod Jesu (Mt 27,51ff 1549). Was bedeutet das Erdbeben in Offb 11,13? Ist es „ein prophetisches Zeichen, das … die Auferstehung der Toten ankündigt“?1550 Ist es ein Zeichen, dass Gottes Gericht über die Menschheit naht (vgl. Ez 38,19f; Hag 2,6f1551). Oder ein Zeichen, dass Gott die Feinde des Gottesvolkes beseitigt (Jes 29,5ff)? Oder ein Zeichen dafür, dass Gott eine neue Epoche beginnt (vgl. Ex 19,18; Mt 28,2)? Oder ein Vorzeichen des Endes, wie es Jesus in Mt 24,7; Mk 13,8; Lk 21,11 erwähnt?1552 Vermutlich darf man alle diese Aspekte nicht allzu streng voneinander trennen. Das nahende Gericht und das nahende Ende des gegenwärtigen Zeitalters, damit auch das nahende Ende der Feinde Gottes und der Feinde seiner Gemeinde und der baldige Übergang zur Neuschöpfung – das alles liegt schon in der biblischen Tradition eng beieinander. Im Blick auf das Ende des Verses darf man vor allem aber den andern Aspekt nicht vergessen: Gott klopft noch einmal an, Gott schenkt noch einmal Raum zur Buße (vgl. Offb 6,15ff; 9,20). 1544 1545 1546 1547 1548 1549 1550 1551 1552
Ähnlich Mounce S. 228: „the resurrection of the church“. Morris S. 151. Ebenso Pohl II S. 80f; ähnlich Roloff S. 117. Gegen Behm S. 61. Zur Grammatik vgl. Blass-Debrunner § 164,9; 241,10. Stunde, ὥρα [hora], meint auch die „Zeit“, vgl. G. Delling Art. ὥρα, ThWNT, IX, 1973, S. 675ff. In Offb 11,13 übersetzt Delling „sogleich“, „alsbald“ (S. 680). Vgl. Kraft S. 160; Bousset (1896) S. 382; Schick S. 123; Bengel S. 542: Aune S. 627. So Kraft a.a.O. Auf diese Stellen weist Mounce a.a.O. hin. So G. Bornkamm, Art. σείω usw., ThWNT, VII, 1964, S. 197.
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Das zweite Zeichen beim Aufstieg der beiden Zeugen zum Himmel ist die teilweise Zerstörung der Stadt: und der zehnte Teil der Stadt stürzte ein (καὶ τὸ δέκατον τῆς πόλεως ἔπεσεν [kai to dekaton tes poleos epesen]). Mit der Stadt (Artikel) kann nur „die große Stadt“ von V. 8 gemeint sein. Wir haben diese Stadt als Repräsentantin der ganzen Welt erkannt (vgl. die Erklärung bei V. 8). Es ist deshalb müßig, eine Alternative zwischen Rom und Jerusalem aufzustellen oder gar die 7000 Getöteten in eine Relation zu der Bevölkerungsziffer Jerusalems (damals 120 000 Einwohner) oder Roms1553 zu setzen.1554 Überdies darf der zehnte Teil (τὸ δέκατον [to dekaton]) nicht nur als mathematische Größe verstanden werden, sondern muss auch als Ausdruck einer Symbolik aufgefasst werden.1555 Vielleicht drückt die Zahl Zehn hier eine Verbindung zum Wesen des Antichrist mit seinen „zehn“ Hörnern aus (Offb 13,1ff). Eines aber erstaunt: dass so wenig einstürzte. Wie gering mutet dieser zehnte Teil gegenüber dem „dritten Teil“ in Offb 8,5-12; 9,15.18 oder gegenüber dem „vierten Teil“ in Offb 6,8 an! Für diese außerordentliche Milde der Strafe kann man nur die Barmherzigkeit Gottes als Grund angeben, die den Menschen noch einmal Raum zur Buße gibt. Das dritte Zeichen in V. 13 besteht darin, dass in dem Erdbeben siebentausend Menschen getötet wurden. Gelegentlich setzt man die Siebentausend mit dem „zehnten Teil“ gleich und kommt dann auf eine Gesamt-Einwohnerschaft von 70 000.1556 Doch nichts im Text berechtigt uns zu einer solchen Gleichsetzung.1557 Viel weniger noch kann man sagen, die 7000 stünden zur damaligen Bevölkerungszahl Jerusalems „ungefähr (!) im richtigen Verhältnis“.1558 Präziser ist hier Alfred Wikenhauser: „Die beiden Zahlenangaben (von V. 13) stimmen … schlecht zusammen“,1559 und noch deutlicher Heinrich Kraft: „Warum gerade 7000 … weiß niemand“.1560 Angesichts dieser Lage der Dinge versteht man die „Siebentausend“ am besten wie den „zehnten Teil“ als symbolische Zahl1561. Vielleicht stehen die 7000 ebenfalls in einer Verbindung zum Wesen des Antichrist. Denn wenn auch die „Sieben“ in der Regel eine heilige Zahl darstellt, so hat doch auch der Antichrist sieben 1553 Lohmeyer 3 S. 94: „für Rom … unzutreffend“. 1554 Gegen Lohmeyer a.a.O.; Bousset S. 324; Lohse S. 66; Wikenhauser S. 87; Ritt S. 61; Aune S. 628. 1555 Vgl. F. Hauck, Art. δέκα, ThWNT, II, 1935, S. 35f. 1556 Auch Mounce S. 229. 1557 Ebenso Wikenhauser S. 87; Morris S. 152. 1558 Lohse S. 66. Ähnlich Lohmeyer 3 S. 94. 1559 Wikenhauser a.a.O. 1560 Kraft a.a.O. 1561 Vgl. K.H. Rengstorf, Art. ἑπτά usw., ThWNT, II, 1935, S. 628ff.
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Häupter (Offb 13,1ff). Erneut überrascht uns das geringe Ausmaß des Gerichts. Es handelt sich entgegen Ritt eben nicht um eine „riesengroße Zahl der Toten“,1562 sondern um eine erstaunlich kleine Zahl.1563 Wieder vermuten wir die Barmherzigkeit Gottes als Grund für die Milde und Verschonung (vgl. Röm 2,4; 2Petr 3,9.15). Hat die erste Hälfte von Vers 13 drei Zeichen bei der Himmelfahrt der zwei Zeugen genannt, so schildert nun die zweite Hälfte des Verses die Reaktionen der Überlebenden: Und die Übrigen gerieten voller Furcht und gaben dem Gott des Himmels die Ehre. Die Übrigen (οἱ λοιποί [hoi loipoi]) sind eben die Überlebenden.1564 Dass sie voller Furcht wurden (ἔμφοβοι ἐγένοντο [emphoboi egenonto]), zeigt, dass wir es nicht nur mit einer „üblichen“ Erdbebenkatastrophe zu tun haben, sondern in den Geschehnissen von V. 13 und V. 12 Gottes Handeln sehen müssen. Die Überlebenden verstanden, dass Gott zu ihnen sprach. Schon im AT erregte ja Gottes Reden und Handeln Furcht und Schrecken.1565 Doch es bleibt nicht bei der Furcht. Sondern erstaunlicherweise kommt es so weit, dass sie dem Gott des Himmels die Ehre gaben. In Offb 6,15-18 war es nur zur Furcht gekommen. Und weder dort noch in 9,20f hatten die Menschen Gott die Ehre gegeben (V. 13: καὶ ἔδωκαν δόξαν τῷ θεῷ τοῦ οὐρανοῦ [kai edokan doxan to theo tu uranu]). Jetzt aber hören wir zum ersten Mal von einer solchen positiven Reaktion. Wie ist sie zu verstehen? Sie reden ihrerseits Gott an. Und zwar den wahren, lebendigen, biblischen Gott. Er heißt hier wie in Offb 16,11 und in einer Reihe von Stellen des AT der Gott des Himmels (vgl. Esr 1,2f; 5,12; Neh 1,4f; Dan 2,18f.44; Jona 1,9). Vor allem die Nichtisraeliten beutzten diese Gottesbezeichnung, aber auch die Israeliten selbst. Als „Gott des Himmels“ ist er der unendlich überlegene, im Himmel wohnende Gott.1566 Sie gaben ihm die Ehre (ἔδωκαν δόξαν [edokan doxan]): Ist das nun eine wahre Bekehrung? Manche verstehen es so, wie z.B. Wikenhauser, dass „die am Leben gebliebene Bevölkerung … sich von ihrem Unglauben bekehrt und an Christus gläubig wird“.1567 Es würde dann am
1562 1563 1564 1565 1566
Ritt S. 62. Vgl. Bousset S. 324: „außerordentlich günstige(r) Ausgang der Plage“; Morris S. 151. Hemer S. 143f. Vgl. H. Balz / G. Wanke, Art. φοβέω usw., ThWNT IX, 1973, S. 194ff. Vgl. G. v. Rad im Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, S. 503ff; H. Traub a.a.O. S. 519f. 1567 Wikenhauser S. 87f; ähnlich Lohse a.a.O.; Roloff S. 118 („eine Vision endgültigen Heils“); Schick S. 123; Bengel S. 543 („Da wird es … ein ganz christlich heiliges Jerusalem werden“); Caird S. 139f; Schlatter S. 233; Aune S. 628f.
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Ende der Antichrist-Zeit eine weltweite Bekehrung stattfinden.1568 Aber andere Texte der Bibel warnen uns vor einer solchen Deutung. So gibt zwar Nebukadnezar mehrfach Gott die Ehre (Dan 2,46ff; 3,28ff; 4,31ff), ebenso Darius der Meder (Dan 6,26ff) und Kyrus (2Chron 36,22f; Esr 1,1ff), ebenso die heidnische Schiffsbesatzung bei Jona (1,14), aber zu einer wahren Bekehrung ist es dort nicht gekommen. Viel näher liegen Mounce und Kiddle bei der Wahrheit, wenn sie feststellen, dass in Offb 11,13 nur „gezwungenermaßen“ Gott die Ehre gegeben wird.1569 Das heißt: Die Übriggebliebenen anerkennen die überlegene Macht des dreieinigen biblischen Gottes,1570 sprechen dies auch aus und bitten ihn vielleicht um künftigen Schutz und um Erbarmen. Aber Gläubige im Sinne Jesu und des NT werden sie nicht. Jedenfalls muss dieses Urteil von der Mehrheit gelten. Möglich bleibt jedoch, dass Einzelne noch zu einem wahren Glauben fanden. Eine Bemerkung über das zweite und dritte Wehe in V. 14 schließt die Einheit Offb 11,1-14 ab und leitet schon über zur siebten und letzten Posaune: Das zweite Wehe ist vergangen. Siehe, das dritte Wehe kommt noch. So kurz diese Bemerkung ist, so schwer tut man sich in der Exegese mit ihr.1571 Roloff meint, Offb 11,14 sei „im vorliegenden Zusammenhang“ „kaum erklärbar“. Er vermutet hier den „Zusatz eines pedantischen Glossators“.1572 Aber wie ein „pedantischer Glossator“ seiner Endredaktion in der Kirche zu allgemeiner Anerkennung verholfen haben soll, bleibt dabei völlig rätselhaft. Ebenso rätselhaft bleibt, warum er ausgerechnet an dieser Stelle einen Zusatz benötigte und was er damit bezweckte. Eine literarkritische Lösung schlägt auch Kraft vor. 11,14 „schließt“ in seinen Augen „unmittelbar an 9,21 an“, 10,1–11,13 sei also „nachträglich … eingefügt“. Der Schluss-Redaktor jedoch „wird … das dritte Wehe vergessen haben“, es sei bei seiner Redaktionsarbeit „verloren gegangen“.1573 Solche Theorien sind wenig plausibel. Viel eher kann man mit Wikenhauser das dritte Wehe mit der siebten Posaune beginnen sehen1574 oder mit Bengel das dritte Wehe in Kap. 12 und 13 erblicken.1575 Doch sehen wir uns wieder die Einzelheiten an: 1568 So Aune S. 629, der Offb 11,13 auf Nichtjuden bezieht. Andere, wie Schlatter a.a.O., beziehen es auf die endliche Bekehrung Israels. 1569 „They are compelled“ (Mounce S. 229 nach Kiddle). 1570 Vgl. G. Kittel im Art. δοκέω usw., ThWNT, II, 1935, S. 251. 1571 Vgl. Aune S. 630. 1572 Roloff S. 118. 1573 Kraft S. 160. Ähnliche Überlegungen bei Aune S. 630; Lohse S. 66. Schon Bousset S. 324 zu 11,1-13: ein „Nachtrag“. 1574 Wikenhauser S. 83. 1575 Bengel S. 548.
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Das erste Wehe, das der Adler in 8,13 ausrief, war in 9,12 vergangen. Es umfasste also Offb 9,1-11 und deckte sich mit der fünften Posaune. Wenn jetzt V. 14 konstatiert: Das zweite Wehe ist vergangen (exakt parallel zu 9,12: Ἡ οὐαὶ ἡ δευτέρα ἀπῆλθεν [he uai he deutera apelthen]), dann kann man darunter nur die Ereignisse der sechsten Posaune verstehen, die von 9,13 bis 11,13 reichen.1576 Denn auch 10,1–11,13, die man in der Literatur gelegentlich als nachträgliche Einfügung1577 oder als „Zwischenstück“1578 behandeln möchte, gehören zu den Konsequenzen der sechsten Posaune, ebenso wie 7,1-19 zu den Konsequenzen des sechsten Siegels gehörte. Siehe, das dritte Wehe kommt rasch (ἰδοὺ ἡ οὐαὶ ἡ τρίτη ἔρχεται ταχύ [idu he uai he trite erchetai tachy]): vollkommen zutreffend, weil schon der nächste Vers (11,15) die siebte Posaune und damit das dritte Wehe beginnen lässt.1579 Drei Wehe hatte der Adler in 8,13 angekündigt, konkretisiert in der fünften, sechsten und siebten Posaune. Die Zahl Drei hat in der Bibel oft den Charakter der Vollständigkeit oder der Endgültigkeit (vgl. Lk 22,34; 2Kor 12,8).1580 So auch hier: Es kommt kein viertes Wehe mehr. Das dritte Wehe führt uns schon zu den unmittelbaren Endereignissen.1581 Überdies ist das dritte und letzte Wehe das schlimmste von allen. So hat Offb 11,14 im Ganzen der Apokalypse eine weiterführende und sinnvolle Funktion und ist nicht nur ein „eingesprengtes Stück“1582 oder „in isolation“1583 zum Übrigen.
IV Zusammenfassung 1. Eine zusammenfassende Würdigung dieses Abschnitts (Offb 11,1-14) ist nicht einfach. Er wird allgemein als schwierig empfunden. Nach Wikenhauser gehört Offb 11 „zu den dunkelsten Abschnitten der Apokalypse“.1584 Für U.B. Müller ist die Deutung von 11,3-13 „noch mehr“ als diejenige von 11,1-2 „umstritten“.1585 Schon Bousset urteilte, Herkunft und Bedeutung von 11,313 seien „für uns unerkennbar“.1586 Auch einzelne Teile werden mit solchen Urteilen belegt. Beispielsweise ist Offb 11,14 für Roloff „kaum erklärbar“,1587 1576 1577 1578 1579 1580 1581 1582 1583 1584 1585 1586 1587
Vgl. Behm S. 61. So Kraft a. a . O.; Bousset S. 324 (bez. 11,1-13). So Lohneyer a.a.O. Ebenso Behm a.a.O. Vgl. G. Delling, Art. τρεῖς usw., ThWNT, VII, 1969, S. 215ff. Schlatter S. 233. Bousset S. 324. Mounce S. 229. Wikenhauser S. 88. Ebenso U.B. Müller S. 205; Weiß-Heitmüller S. 278. U.B. Müller S. 208. Bousset S. 325. Roloff S. 118.
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während Bousset zu 11,10 anmerkte: „Die Schwierigkeiten häufen sich noch in diesem Vers.“1588 Ein Indikator für die Erklärungsschwierigkeiten ist vielleicht auch die Tatsache, dass Strack-Billerbeck mit Ausnahme der 42 Monate zu Offb 11,1-2.9-14 nichts zu notieren wissen.1589 2. Wenig hilfreich ist es ferner, wenn man 10,1–11,13 oder 11,1-13 als „Nachtrag“,1590 als „eingesprengtes Stück“,1591 als „Zwischenstück“1592 oder gar als „Fremdkörper in der Offb“1593 behandelt. Schon aus allgemeinen Erwägungen wäre eine solche Annahme schwierig. Denn wie soll ein Autor ein oder gar zwei Kapitel an einen Fremdkörper oder eine Nebensächlichkeit verschwenden, die ihm nichts einträgt? Bousset beantwortet diese Frage so, dass er dem fleißigen Redaktor das genügende Nachdenken gar nicht mehr zutraut: Offb 11,1f sei eben von ihm rezipiert, ohne dass man wisse, ob „er überhaupt über deren Bedeutung nachdachte“; und wenig später schreibt er: „Oder hat er über diese Dinge gar nicht nachgedacht?“1594 In Wirklichkeit ist Offb 11 der Auftakt zu den wesentlichen Antichristkapiteln 12 und 13. Die Gemeinde wird sowohl der wunderbaren Bewahrung (11,1f; vgl. 7,1ff) versichert als auch auf ihre entsetzliche Demütigung, ja Niederlage vorbereitet (vgl. 11,7 mit 13,7). Dass das „Tier aus dem Abgrund“ (11,7) ohne Einführung, ohne nähere Kommentierung so plötzlich aufsteigt, entspricht der Wucht, mit der es Johannes in seiner Schau erlebt, und macht es nur umso furchtbarer. Die nächstliegende Annahme ist die, dass Johannes bewusst auf eine nähere Einführung des „Tieres“ bei den Lesern verzichtete, um diesen Effekt hervorzurufen. Vielleicht konnte er auch deshalb auf eine solche Einführung verzichten, weil der Antichrist als „Tier“ seinen christlichen Lesern aus Dan 7 und der frühchristlichen Paränese (Mt 24,15; 2Thess 2,3ff) bereits bekannt war. 3. Mit dem Gesagten ist auch schon deutlich, dass die Annahme jüdischen oder gar zelotischen Ursprungs für Offb 11,1-13 unnötig ist. In der Zeit der Religionsgeschichtlichen Schule und auf dem Höhepunkt der zeitgeschichtlichen Erklärung konnte W. Bousset für eine solche jüdische Ursprungshypothese „nahezu Einigkeit“ unter den Exegeten reklamieren.1595 Er selbst vertrat die These, 11,1-13 sei ein „Nachtrag aus dem Jahre 70“ und insbesondere
1588 1589 1590 1591 1592 1593 1594 1595
Bousset (1896) S. 380. Vgl. Strack-Billerbeck S. 812. Bousset S. 324; Kraft a.a.O. Bousset (1896) S. 382. Lohmeyer 3 S. 94. Bousset a.a.O. Bousset S. 330. Bousset S. 324.
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11,1-2 „ein zelotisches Flugblatt“, beides also jüdisch aus der Zeit vor der Tempelzerstörung.1596 Niemand aber konnte so richtig erklären, wie der christliche Verfasser der Offb, Johannes, solche jüdisch-zelotischen Äußerungen als dermaßen wichtig und notwendig betrachtete, dass er sie in seine Apokalypse aufnahm. Die „jüdische Erklärung“ schafft jedenfalls mehr Probleme als Lösungen. Können wir aber Offb 11 im Gesamtaufbau der Offb verständlich machen, dann erübrigen sich solche spekulativen Hypothesen. Es ist dann auch nicht mehr notwendig, Sätze wie ὅπου καὶ ὁ κύριος [hopu kai ho kyrios] usw. (V. 8) auszuscheiden.1597 4. Mehrfach stellt uns Offb 11,1-14 vor schwerwiegende Entscheidungen. Ist es Zukunft oder Vergangenheit, was Johannes dabei sah? Wir haben beobachtet, dass in der mittelalterlichen und früh-neuzeitlichen Auslegung die Deutung auf Ereignisse und Epochen der Vergangenheit beliebt war. Ist Jerusalem der Schauplatz der Ereignisse? So Vieles spricht dafür (vgl. die Stichworte Tempel, Vorhof, Altar, heilige Stadt, Kreuzigungsort des Herrn). Und es bleibt ein Anliegen der christlichen Gemeinde und damit auch der christlichen Exegese, nach dem endzeitlichen Israel Ausschau zu halten. Wer sind die zwei Zeugen? Sind es, wie seit den Bewegungen der Reformationszeit Viele es wollen, Elia und Henoch bzw. Elia und Mose? Und was geschieht bei ihrer Wiederbelebung? An jeder dieser Fragen gabeln sich die Wege, ohne dass man vorschnell einen dieser Wege verwerfen könnte. In unserer Auslegung orientieren wir uns an der Endzeitrede Jesu in Mt 24 parr und am NT im Ganzen. Von daher sehen wir im „Tempel“ von Offb 11,1f die christliche Gemeinde der Endzeit, und zwar aus den Völkern und aus den Juden. Sie wird bewahrt, insofern es sich um wahre Gläubige („die dort anbeten“) handelt. In den zwei Zeugen Offb 11,3ff sehen wir keine Individuen, sondern gemäß dem Zwei-Zeugen-Recht des Alten Testaments die gesamte Gemeinde der Endzeit, wieder aus den Juden und aus den Völkern. Sie verkündigt, hat ihre Zeit, die niemand außer Gott beschränken kann, trifft auf den Antichrist, wird gedemütigt und besiegt, aber nicht ausgelöscht. Für kurze Zeit wird sie zum Verstummen gebracht („getötet“). Aber Gott nimmt sie in Ehren an, im Himmel und in der neuen Schöpfung auf, und die Menschen müssen anerkennen, dass sie mit ihrer Verkündigung recht hat. Umstritten ist, ob es danach zu einer wirklichen Bekehrung kommt (V. 13). Wir waren vorsichtig, und sahen zwar eine Aner-
1596 Bousset S. 324-326. Noch U.B. Müller S. 207. 1597 Noch 1906 schrieb Bousset, dass „die Kritiker nahezu einstimmig für Ausscheidung“ dieses Satzes votierten (S. 326).
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kennung Gottes, aber jedenfalls für die Mehrheit am Ende noch keinen wahren Glauben. Einen „Elia“ und „Henoch“ oder „Mose“ im Sinne der letzten Jahrhunderte konnten wir nicht bestätigen, weil die zwei Zeugen trotz vieler persönlicher Züge doch insgesamt keine Individuen, sondern die Kirche bzw. die wahre Gemeinde Jesu Christi darstellen. Die „Stadt“ in Offb 11 kann demnach nicht auf Jerusalem eingeschränkt werden. Wohl ist auch Jerusalem ein Teil dieser „großen Stadt“ (11,8) geworden. Aber die Stadt repräsentiert die Welt. Die Welt, die Menschheit, nicht nur die Juden, hat Jesus ans Kreuz geschlagen. Deshalb taucht auch Pontius Pilatus seit den frühesten Zeiten im Glaubenbekenntnis auf (vgl. Joh 18,36ff; 1Tim 6,13). Dass es eine göttliche Verheißung für Jerusalem und Israel gibt, ist aus anderen Stellen des NT völlig klar (z. B. Mt 23,39; Röm 9-11; Offb 7,1.19). Aber man kann sie schlecht auf Offb 11 stützen. Die Wiederbelebung der zwei Zeugen in Offb 11,11f suchten wir aus biblischen Gründen deutlich von einer „Auferstehung“ und insbesondere der Auferstehung Jesu zu unterscheiden. Es handelt sich um ein Ereignis eigener Art, vergleichbar Gen 5,24; 2Kön 2,11; Joh 11,1ff und Ez 37. Das Wunder, dass Gott über den Tod regiert, bleibt einzigartig. Schließlich gehört für uns Offb 11 in die Zukunft, nämlich in die Epoche des Antichristen.1598 5. Es bleibt noch die Frage nach dem Verhältnis von Offb 11 zu den sieben Posaunen und den drei Wehe. Im Verlaufe der Auslegung mussten wir uns dafür entscheiden, dass auch Offb 11,1-14 zu den Konsequenzen der sechsten Posaune gehört. Wohl handelt es sich in Offb 10 um eine Art „Pause“, und wohl hat Offb 11 seinen besonderen Charakter als „Auftakt“ zum Folgenden. Aber Johannes hält doch fest an einem Nacheinander der sieben Posaunen. Und in diesem „Gesamt-Struktur-Programm“ gehört Offb 11 zu den Konsequenzen der sechsten Posaune. Daraus können wir nicht aussteigen. Und ebenso haben die drei Wehe einen gut erkennbaren, geordneten Ablauf. 9,12 und 11,14 markieren die Umschlagpunkte. Jede von der fünften, sechsten und siebten Posaune ist einem Wehe zugeordnet. Folglich beginnt jetzt ab V. 15 das dritte Wehe mit der siebten Posaune.
1598 Deshalb können wir z.B. nicht wie Bengel eine Zuweisung an die Zeit der Sarazenen = Muslime vornehmen.
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5.4 Die siebte Posaune, 11,15-19 I Übersetzung 15 Und der siebte Engel blies seine Posaune. Und es erhoben sich laute Stimmen im Himmel, die sagten: Es ist die Herrschaft über die Welt unseres Herrn und seines Christus geworden, und er wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit. 16 Und die vierundzwanzig Ältesten, die vor Gott auf ihren Thronen sitzen, fielen auf ihr Angesicht und beteten Gott an 17 und sagten: Wir danken dir, Herr, Gott, Allmächtiger, der du bist und der du warst, dass du deine große Macht ergriffen und deine Herrschaft angetreten hast. 18 Und die Völker gerieten in Zorn, da ist dein Zorn gekommen und die Zeit, um die Toten zu richten und den Lohn zu geben deinen Knechten, den Propheten und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten, den Kleinen und Großen, aber die zu verderben, die die Erde verderben. 19 Und der Tempel Gottes, der im Himmel ist, wurde geöffnet und die Lade seines Bundes wurde sichtbar in seinem Tempel, und es geschahen Blitze und Stimmen und Donner und ein Erdbeben und ein großer Hagel.
II Struktur Der Abschnitt Offb 11,15-19 ist klar gegen das Vorhergehende abgesetzt. Die Worte Und der siebte Engel blies seine Posaune (Καὶ ὁ ἕβδομος ἄγγελος ἐσάλπισεν [Kai ho hebdomos anggelos esalpisen]) markieren einen unübersehbaren Neubeginn. Anders ist es mit dem Ende des Abschnitts. Vers 19 kann ebenso gut einen Abschnitt abschließen wie zu einer Fortsetzung überleiten. Da mit dem ὤφθη [ophthe] (wurde sichtbar) sowohl in 11,19 wie in 12,1 wichtige Inhalte transportiert werden und überdies die Szenerie sowohl in 11,19 wie in 12,1 fest im Himmel (ἐν τῷ οὐρανῷ [en to urano]) verortet ist, fehlt für 11,15-19 ein klarer Abschluss. Stattdessen geht 11,15ff ohne Weiteres in 12,1ff über: ein Zeichen der Zusammengehörigkeit beider Abschnitte unter dem Signum der siebten Posaune. Nur das inhaltliche Eigengewicht von 12,1ff empfiehlt, zunächst einmal 11,15-19 als eigenen Abschnitt zu besprechen. Der Form nach gehört 11,15-18 zu den Doxologien. Wir sahen, dass die Offb reich ist an solchen Doxologien (vgl. 4,8.11; 5,9f.12.13; 7,10.12). Genau genommen sind es in 11,15ff zwei Doxologien: 11,15 und 11,17-18. Schon von der Struktur her ist es auffallend, dass der Auftakt zu den schweren Antichristkapiteln mit einer doppelten Doxologie beginnt. Man kann dies zusam-
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men mit den Vergangenheits-Tempora in den Doxologien nur so interpretieren, dass der Sieg Gottes und Christi „so gewiss (ist), daß jetzt schon in der Zeitform der Vergangenheit davon gesprochen werden kann“.1599 Im jetzigen Rahmen nimmt V. 19 eine Sonderstellung ein. Man könnte ihn wohl ohne Weiteres auch zu Offb 12 ziehen.1600 Aber das ist nun im Einzelnen zu prüfen.
III Einzelexegese Der Anfang des 15. Verses versetzt uns in den vertrauten Rhythmus der Posaunen-Gesichte seit 8,6: Und der siebte Engel blies seine Posaune (Καὶ ὁ ἕβδομος ἄγγελος ἐσάλπισεν [Kai ho hebdomos anggelos esalpisen]). Vgl. 8,7.8.10.12; 9,1; 9,13. Der siebte Engel wird an dieser Stelle nicht besonders hervorgehoben, auch wenn Bengel anmerkte: „Die Trompete des siebenden Engels ist die allerwichtigste.“1601 Bengel vermutete, dieser siebte sei Gabriel.1602 Allerdings ist richtig, dass die siebte als letzte Posaune die wichtigste ist und dass Offb 10,7 ausdrücklich auf die Vollendung des „Geheimnisses Gottes“ in der Zeit des siebten Engels mit seiner Posaune hinweist. Es bleibt aber doch beachtenswert, dass die Offb sich bei den Engelnamen aufs Äußerste zurückhält und jede Engelverehrung im Einklang mit den Aposteln abwehrt (vgl. Offb 22,8f; Kol 2,18). Die erste Folge der siebten Posaune sind die lauten Stimmen (φωναὶ μεγάλαι [phonai megalai]), die sich im Himmel erhoben (ἐγένοντο … ἐν τῷ οὐρανῷ [egenonto … en to urano]). Zunächst geschieht auf der Erde nichts, obwohl die siebte Posaune die schwersten Zäsuren auf der Erde mit sich bringt.1603 Aber so ist es ja in der Offb: Alle Ereignisse beginnen und enden im Himmel. Laute Stimmen, so sahen wir es immer wieder (seit Offb 1,10), bedeuten Stimmen mit Autorität. Die himmlischen Stimmen werden zunächst nicht weiter spezifiziert. Jedoch erlebten wir auch in 10,3f ein Gespräch bzw. Reden im Himmel, dort allerdings auf „die sieben Donner“ bezogen.1604
1599 1600 1601 1602 1603
Lohse S. 67. Vgl. Morris S. 153. So macht es Aune S. 632ff. 647ff. Bengel S. 550. Bengel S. 550f. Es ist auch keineswegs sicher, ob sich der Seher auf der Erde befindet, wie Bousset S. 331 annimmt. 1604 Vgl. O. Betz, Art. φωνή usw., ThWNT, IX, 1973, S. 291, der die „lauten Stimmen“ auf die vier Wesen bezieht.
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Was sagten (λέγοντες [legontes])1605 sie? Es ist die Herrschaft über die Welt (ἡ βασιλεία τοῦ κόσμου [he basileia tu kosmu]) unseres Herrn und seines Christus geworden, und er wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit (καὶ βασιλεύσει εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων [kai basileusei eis tus aionas ton aionon]). Das ist die erste Doxologie unseres Abschnitts. Ihre Summe lautet: Gott und sein Christus haben die sichtbare Herrschaft über die Menschheit angetreten und werden sie nicht mehr abgeben. Wir ahnen heute kaum noch, welche Fülle von Weissagungen des AT ein Satz wie Offb 11,15 in Erinnerung rief. Sie alle werden jetzt erfüllt. Vgl. Obadja 21:1606 ְוָהי ְָתה ַליהוָה [ ַה ְמּלוָּכהwehajeta ladonaj hammelukah] = ἐγένετο ἡ βασιλεία τοῦ κυρίου [egeneto he basileia tu kyriu], sowie Ps 22,29; Jes 9,6; Dan 2,44; 7,14.27; Mal 1,11. Herr, κύριος [kyrios], muss hier auf Gott den Vater gedeutet werden. In der Wendung unser Herr und sein Christus (Messias), ὁ κύριος ἡμῶν καὶ ὁ χριστὸς αὐτοῦ [ho kyrios hemon kai ho christos autu] wird Christus = Messias „titular gebraucht“, nicht als Eigenname.1607 Sehr wahrscheinlich stammt ִ [ ַעל־י ְהוָה ְוַעל־ְמal-adonaj weal-meschicho]). diese Wendung aus Ps 2,2 (שׁיחוֹ Das aber beinhaltet erhebliche Konsequenzen. Denn dann haben wir in den folgenden Kapiteln das ganze „Programm“ von Ps 2 zu erwarten: den Aufruf gegen Gott und seinen Messias, die Niederlage der „Könige der Erde“ und den Erweis der Zusammengehörigkeit von Gott und Christus.1608 Bei der βασιλεία τοῦ κόσμου [basileia tu kosmu] (Herrschaft über die Welt) muss τοῦ κόσμου [tu kosmu] Gen. obiectivus sein. Welt, κόσμος [kosmos], kann die ganze Schöpfung, das Weltall, bezeichnen.1609 Es kann aber auch spezifischer die „Menschheit“, den „Schauplatz der Heilsgeschichte“1610 bedeuten. Da wir es im Folgenden mit der „Erde“, den „Völkern“ (V. 18), dem Fortgang der Heilsgeschichte und in der Terminologie von Ps 2 mit den „Königen der Erde“ zu tun haben, liegt unseres Erachtens die Bedeutung Menschheit für das griechische κόσμος [kosmos] näher.1611 Herrschaft kann hier nur die sichtbare, allen Augen manifeste Herrschaft sein, ebenso das herrschen. Dass es sich um eine nicht mehr endende, von Ewigkeit zu Ewigkeit währende Herrschaft handelt, ist das besondere Anliegen des Danielbuches (Dan 2,44; 7,14.27), aber auch der jesajanischen Weissagung (Jes 9,6). In Offb 11,15 stehen das Reich Gottes 1605 λέγοντες [legontes] beurteilt Blass-Debrunner § 136,5 als „sozusagen als indeklinabel“ und reiht es unter die Solözismen ein. 1606 Zur Wichtigkeit von Obadja 21 für die alte Synagoge vgl. Strack-Billerbeck S. 812. 1607 W. Grundmann, im Art. χρίω, ThWNT, IX, 1973, S.569. 1608 Vgl. Caird S. 141. 1609 H. Sasse, Art. κοσμέω usw., ThWNT, III, 1938, S. 883ff. 1610 Ebenso Aune S. 638. 1611 Sasse a.a.O. S. 889ff.
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und das Reich Christi nebeneinander, allerdings aufs Engste miteinander verbunden. Das darf uns nicht verwundern. Denn so ist es schon in Ps 2 und so ist es auch in der neutestamentlichen Verkündigung (Lk 22,29; 1Kor 15,21ff; Eph 5,5). Karl Ludwig Schmitt konnte sogar formulieren, die „βασιλεία Jesu Christi ist zugleich die βασιλεία Gottes“.1612 In Vers 15 haben die himmlischen Chöre ihren ersten Lobpreis angestimmt.1613 Nun folgt die Doxologie der vierundzwanzig Ältesten: Dabei knüpft Johannes mit der Bemerkung, dass sie vor Gott auf ihren Thronen sitzen (ἐνώπιον τοῦ θεοῦ καθήμενοι ἐπὶ τοὺς θρόνους αὐτῶν [enopion tu theu kathemenoi epi tus thronus auton]), direkt an Offb 4,4 an (V. 16). In der Literatur wird dies mit einer gewissen Selbstverständlichkeit notiert.1614 Aber es zeugt doch von einem geistig energischen und konzentrierten Abfassungsprogramm der Offb. Diese „vierundzwanzig Ältesten“ haben uns über viele Kapitel der Offb hinweg begleitet (vgl. 4,4.10; 5,5-8.14; 7,11.13; 11,16). Wenn sie nun auf ihr Angesicht fielen und Gott anbeteten, geschieht im Grunde dasselbe, was wir schon in Offb 4,10 lasen. Daraus lässt sich schließen, dass der Lobpreis Gottes eine ihrer Hauptaufgaben ist und bleibt.1615 Eines sollte jedoch nicht übersehen werden: Wenn jetzt ausgerechnet die Ältesten anbeten, nicht aber die vier Wesen,1616 dann geht es in den folgenden Kapiteln eben in erster Linie um die Gemeinde, das Gottesvolk. Wir haben ja bei Offb 4 festgestellt, dass die vier Wesen die Schöpfung repräsentieren, die vierundzwanzig Ältesten hingegen das Gottesvolk. So wird auch durch Offb 11, 16 eine wichtige Weiche gestellt. Die Doxologie der Ältesten beginnt mit den Worten (V. 17): Wir danken dir, Herr, Gott, Allmächtiger, der du bist und der du warst … Schlatter hob hervor, dass die Ältesten am Anfang „den Namen Gottes nennen“.1617 In der Tat entspricht κύριος [kyrios], Herr, dem alttestamentlichen Jahwe ()יהוה. In dem, was die Gottesbezeichnungen aussagen, liegt schon die ganze Fülle dessen, wofür man Gott danken kann.1618 Nun steht jedoch an der Spitze das εὐχαριστοῦμέν σοι [eucharistumen soi], wir danken dir. Seltsam mutet es an, dass in dem Augenblick, in dem sich Im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, S. 581, vgl. zu Offb 11,15 S. 582. Vgl. dazu Grundmann a.a.O.; Caird S. 141. Vgl. Aune S. 640. Aune betont den Ausnahmecharakter des „Sitzens“, während sonst die Diener der Herrscher stehen (S. 640). Schon Bengel S. 555: „Solches lieset man von keinem Engel.“ 1616 Darauf macht Bengel a.a.O. nachdrücklich aufmerksam. 1617 Schlatter S. 234. 1618 Schlatter a.a.O. 1612 1613 1614 1615
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„die gottfeindlichen Mächte … zum letzten, erbittertsten Kampf rüsten“,1619 im Himmel ein Danklied erschallt. Zwar ist das Substantiv εὐχαριστία [eucharistia] schon im Lobpreis 7,12 ausgesprochen, aber ein danken, εὐχαριστέω [eucharisteo], finden wir hier erstmals in einer Doxologie der Offb. Ein Dankgebet1620 der Ältesten an dieser Stelle kann doch nur bedeuten, dass die Gemeinde der Endzeit für den Sieg Gottes dankt, der am Ende aller Leiden stehen wird. Über Herr siehe oben. Gott, ὁ θεός [ho theos], vertritt wahrscheinlich hebr. Elohim. Es ist der eine große Gott, der sich allein unter allen „Göttern“ Gott nennen darf. κύριος (καὶ) ὁ θεός [kyrios (kai) ho theos] war schon in 4,8 (siehe die Erklärung dort), dann in 4,11 die Anrede. Die dritte Gottesbezeichnung in 11,17, Allmächtiger, ὁ παντοκράτωρ [ho pantokrator], ist uns ebenfalls seit 4,8 bekannt.1621 Nicht anders steht es mit dem der du bist und der du warst, ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν [ho on kai ho en]. Wenn jetzt also die Anrede κύριος ὁ θεὸς ὁ παντοκράτωρ [kyrios ho theos ho pantokrator] aus Offb 4,8 wiederholt wird, dann ist klar, dass Gott der Vater auch in Offb 11,17 gemeint ist. Das Lamm wird dadurch aber nicht ausgeschlossen, weil die Gotteslehre und das Gotteslob der Offb stets inklusiv sind, das heißt, das Lamm Jesus Christus im Vater mitdenken. Ferner wird klar, dass die vier Wesen (Offb 4,8) und die vierundzwanzig Ältesten (Offb 11,17) wechselweise dasselbe Gotteslob darbringen können. Wenn jetzt im Unterschied zu 1,4; 1,8 und 4,8 das ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos] („der da kommt“) fehlt, müssen wir annehmen, dass das „Kommen“ Gottes in Offb 11,17 durch den Antritt seiner Herrschaft ersetzt ist – durchaus sachgemäß.1622 Die Ältesten danken dafür, dass du deine große Macht ergriffen und deine Herrschaft angetreten hast (ὅτι εἴληφας τὴν δύναμίν σου τὴν μεγάλην καὶ ἐβασίλευσας [hoti eilephas ten dynamin su ten megalen kai ebasileusas]). Das passt zu dem Allmächtigen, der ja „Macht über alles … hat“.1623 δύναμις [dynamis], ja sogar große, unüberbietbare δύναμις [dynamis] kommt Gott von Ewigkeit her zu. Aber jetzt macht er von ihr Gebrauch. Deshalb wird von der deutschen Sprachstruktur her δύναμις [dynamis] in Offb 11,17 besser mit Macht statt mit „Kraft“ übersetzt.1624 Du hast ergriffen (εἴληφας [eilephas]) ist Perfekt, der Vorgang wird als schon vollendeter gepriesen. λαμβάνω [lam1619 Behm S. 62. 1620 Vgl. H. Conzelmann im Art. χαίρω usw., ThWNT, IX, 1973, S. 401. 1621 Hinter παντοκράτωρ [pantokrator] steht באוֹת ָ [ ְצzewaot] oder שׁ ַדּי ַ [schaddaj], vgl. W. Michaelis, Art. κράτος usw., ThWNT, III, 1938, S. 914. 1622 Ähnlich Morris S. 153; Bengel S. 556f. 1623 Michaelis a.a.O. 1624 Anders Bauer-Aland Sp. 417; W. Grundmann, Art. δύναμι usw., ThWNT, II, 1935, S. 308.
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bano] hat hier den aktiven Wortsinn „aus eigener Initiative an sich nehmen“.1625 Nach dem ganzen Zusammenhang geht es darum, dass Gott in seiner einzigartigen Kraft „die feindlichen Mächte vernichtet und die Welt ihrer Vollendung entgegenführt“.1626 ἐβασίλευσας [ebasileusas] ist ingressiver Aorist und wurde deshalb übersetzt: du hast deine Herrschaft angetreten. Wie in 11,15 ist die sichtbare Herrschaft Gottes gemeint. Wir beobachten, dass sich ähnliche Gottesbezeichnungen und Doxologien jetzt in dichter Folge durch die Offb hindurchziehen (vgl. 15,3; 16,7.14; 19,6.15; 21,22). Eigenartigerweise bringt V. 18 als Begründung für den Dankeshymnus der Ältesten einen kurzen heilsgeschichtlichen Abriss. Wie George Bradford Caird schon längst bemerkt hat, handelt es ich dabei um eine „exposition of Psalm ii“.1627 Offb 11,18 fasst die gesamte menschliche Rebellion gegen Gott in der Geschichte, nicht zuletzt aber die Geschehnisse von Offb 12–13, zusammen in dem einen Satz: καὶ τὰ ἔθνη ὠργίσθησαν [kai ta ethne orgisthesan] = Und die Völker gerieten in Zorn (oder: waren in Zorn geraten). Mit dieser gegen Gott gerichteten Zornesrebellion der Völker ([ גוֹי ִםgojim]) beginnt auch Ps. 2. Man will Gottes Herrschaft nicht dulden (Ps 2,3). Gerade diese Verbindung von Gottesherrschaft und Völkerzorn charakterisiert auch Offb 11,17f. Andere alttestamentliche Stellen, die man gelegentlich nennt, wie Ex 15,14; Ps 46,7; 99,1, sprechen eher von der Furcht der Völker.1628 In Ps 2 kommt dagegen eine grundsätzliche Konstituante der Menschheitsgeschichte zur Sprache: Der Mensch will sein eigener Gott sein (Gen 3,5), und lehnt Gottes Herrschaft im Ansatz ab – „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche“ (Lk 19,14). Am Ende kämpfen „die zornigen Völker von Offb 11,18“ zusammen mit dem zornigen Drachen (Offb 12,17) „gegen Gott und sein Reich. Es ist der große eschatologische Gegenzorn gegen den Gotteszorn, dargestellt mit Farben aus den Psalmen,1629 sodass das Drama der Offenbarung zum großen Teil als ein Kampf zweier ὀργαί verstanden werden kann.“1630
1625 Vgl. G. Delling, Art. λαμβάνω usw., ThWNT, IV, 1942, S. 5ff. 1626 Grundmann a.a.O. 1627 Caird S. 141. Erstaunlicherweise bringt die sonst so penible Textausgabe von NestleAland (27. Aufl.) keinen Randverweis auf Ps 2. Jedoch hat schon Bengel diese Rolle von Ps 2 betont (S. 558). 1628 Aune S. 643 hingegen will Ps 99,1 (LXX 98,1) zugrundelegen, Schlatter BFchTh S. 87 Ex 15,14; Ps 99,1. 1629 Vgl. auch Ps 110,5f. 1630 G. Stählin im Art. ὀργή usw., ThWNT, V, 1954, S. 440, vgl. S. 431 sowie J. Fichtner a.a.O. S. 398f.
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καὶ ἦλθεν ἡ ὀργή σου [kai elthen he orge su]: Da ist dein (= Gottes) Zorn gekommen. Gottes Zorn war nicht das Erste, sondern Gottes Liebe. Aber der Abfall der Geschöpfe, an dessen Spitze der Mensch als Gottes Ebenbild (Gen 1,26f) stand, forderte Gottes Zorn heraus. Seit dem Sündenfall ist dieser Gottes-Zorn eine zweite Konstituante unserer Geschichte (vgl. Joh 3,36; Röm 1,18ff). So lässt es sich Ps 2 entnehmen (2,4ff). Man beachte, dass dieser Zorn Gottes ein wesentliches Thema der prophetischen Predigt1631 bis hin zum Täufer (Mt 3,7; Lk 3,7; Joh 3,36) und auch in der apostolischen Verkündigung bildet (vgl. Röm 2,5.8; 12,19; 1Thess 1,10). Keinesfalls darf er mit einem menschlichen Affekt verwechselt werden. Solange wir auf der Erde sind, wird Gottes „Zorn“ immer ein schweres Thema, ja zum Teil ein Geheimnis bleiben.1632 Vielleicht kann man so formulieren: Gottes Zorn ist die Ablehnung alles Bösen. Der Satz da ist dein Zorn gekommen drückt dieses eschatologische, befreiende Gericht Gottes aus. Nun wird aus dem endgültigen Sieg Gottes eines, das ganz am Ende steht, noch besonders hervorgehoben: Und (gekommen ist) die Zeit, um die Toten zu richten und den Lohn zu geben deinen Knechten, den Propheten, und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten, den Kleinen und den Großen, aber die zu verderben, die die Erde verderben. Die Ältesten blicken also schon hinaus auf die Zeit von Offb 20,11–22,5. Um dies zu sehen, hat sich alles Warten (vgl. 6,10f) und alle Geduld der Heilsgeschichte gelohnt. Die Ältesten sprechen vom καιρός [kairos], der Zeit. „Zeit“ ist hier wie öfters im NT ein Zeitpunkt oder Zeitabschnitt, der heilsgeschichtlich herausragende Bedeutung hat, entsprechend dem hebräischen [ ֵעתet].1633 Ähnlich formulierte Paulus in Gal 4,4: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war …“ (hier allerdings χρόνος [chronos]). Gekommen (ἦλθεν [elthen] aus dem Vordersatz gilt auch hier) gehört zu einem Wortfeld, das im NT ganz die Erfüllung des göttlichen Willens und der göttlichen Verheißung ausdrückt, wie z.B. ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos] („der da kommt“, vgl. Ps 118,26) oder ἦλθον [elthon] („Ich bin gekommen“, Mt 5,17 usw.). Die Ältesten bejubeln also eine Zeit der Erfüllung. Was umschließt sie? Es ist die Zeit des Jüngsten Gerichts: „um die Toten zu richten“ (τῶν νεκρῶν κριθῆναι [ton nekron krithenai] = ἵνα κριθῶσιν οἱ νεκροί [hina krithosin hoi nekroi]). Seit Jes 26,19 und Dan 12,1-3 erwartet man im Gottesvolk des AT das Gericht über die Toten. Es bringt 1631 Vgl. dazu Fichtner a.a.O. S. 392ff. 1632 Vgl. das Ringen mit diesem Begriff bei Kleinknecht, Grether, Procksch, Fichtner, Sjoeberg, Stählin im entsprechenden Artikel a.a.O. S. 382ff. 1633 Bauer-Aland Sp. 800ff; G. Delling, Art. καιρός usw., ThWNT, III, 1938, S. 460ff.
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ewiges Leben oder ewige Verdammnis (Dan 12,2). Vorausgesetzt ist dabei die Auferstehung der Toten. Mag es zur Zeit des Johannes auch noch Vorbehalte bei einzelnen jüdischen Gruppen gegeben haben (Apg 23,6ff), so war doch im pharisäisch geprägten Judentum und in der apostolischen Verkündigung die allgemeine Totenauferstehung ein wesentlicher Punkt (vgl. Röm 4,17; 2Kor 1,9; Joh 5,21ff).1634 Kein Mensch lebt also, ohne Gott Rechenschaft zu geben (2Kor 5,10). Das Gericht kennzeichnen die Ältesten nach beiden Richtungen: a) um den Lohn zu geben (δοῦναι τὸν μισθόν [dunai ton misthon]). Ebenso wenig wie Jesus oder Paulus hat Johannes Angst vor dem Begriff Lohn (μισθός [misthos]). Seit Gotthold Ephraim Lessings Satz, dass der Mensch das Gute tun wird, „weil es das Gute ist“,1635 und nicht aus Rücksicht auf einen Lohn, ist im Abendland der Begriff Lohn verdächtig. Erst recht verdächtig ist er seit Martin Luthers Kampf gegen den Verdienstgedanken und die „Werkgerechtigkeit“.1636 AT und NT haben eine völlig andere Gesprächsgrundlage. Hier ist es klar, dass Gott ein „Vergelter“ (wörtlich „Lohngeber“, μισθαποδότης [misthapodotes], Hebr 11,6) sein wird.1637 Gott tut den Seinen Gutes – das ist der Grundgedanke. Darüber freut sich der Glaube. Darüber freuen sich die Ältesten in der Ewigkeit. Weil Gott „über Bitten oder Verstehen“ (Eph 3,20) tut, bleibt im NT jede Aufrechnung von Taten und Lohn ausgeschlossen. Die Quelle des Lohns ist nicht unser Verdienst, sondern Gottes Liebe und Gnade (Röm 3,24). Auch unsere stümperhaften Werke werden belohnt (1Kor 3,8; Offb 14,13), und selbst wenn alles von uns Bewerkstelligte wie Heu und Stoppeln verbrennt, werden wir selbst doch durch den Glauben an Jesus Christus „wie durchs Feuer hindurch“ gerettet (1Kor 3,15; Joh 6,28f). Den Lohn an die Seinen, der ein „voller Lohn“ sein wird (2Joh 8), gliedert die Doxologie in Offb 11,18 in drei Gruppen auf: an deine Knechte, die Propheten,1638 an die Heiligen und an die, die deinen Namen fürchten. Diese Wortwahl ist offensichtlich inklusiv, will alle Belohnten einschließen. Bei den Propheten ist in dieser Zusammenstellung wohl an die „Propheten“ des Alten Bundes zu denken,1639 die ja nach dem Erlöser (Christus) Ausschau hielten (vgl. 1Petr 1,10f). Offb 11,18 erinnert diesbezüglich stark an das Jesuswort: „Abraham Vgl. R. Bultmann, Art. νεκρός usw., ThWNT, IV, 1942, S. 897f. Von der Erziehung des Menschengeschlechts §86f. M. Luther, z.B. in De servo arbitrio. Von H. Preisker, Art. μισθός usw., ThWNT, IV, 1942, S. 705 leider als „judaïsierende Weise“ herabgesetzt. 1638 Dass „deine Knechte“ und „die Propheten“ zusammengehören, begründet Aune S. 645. 1639 O. Proksch, im Art. ἅγιος usw., ThWNT, I, 1933, S. 111.
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ward froh, dass er meinen Tag sehen sollte“ (Joh 8,56). Überhaupt stehen sich das Johannesevangelium und die Offb in der Wertung der alttestamentlichen Propheten sehr nahe. Nach den Propheten werden die Heiligen (οἱ ἅγιοι [hoi hagioi]) genannt. Das sind offensichtlich alle Christusgläubigen.1640 Vgl. 1Kor 1,2; Offb 5,8; 8,3f. Was sind die, die deinen Namen fürchten (οἱ φοβούμενοι τὸ ὄνομά σου [hoi phobumenoi to onoma su])? O. Proksch dachte an die proselytische Heidenchristenheit,1641 J.A. Bengel an die geringere „gemeine Classe deren, die ein Lohn von Gott empfangen“,1642 Caird an die in 11,3 in Furcht geratenen und Gott die Ehre gebenden Menschen,1643 Schlatter an solche Menschen, die noch über die Christenheit hinaus „die einfachste und tiefste Beziehung“ zu Gott pflegen,1644 Aune an Heidenchristen.1645 Man wird wohl auch ausgehend von solchen Stellen wie Ps 61,6; Mi 6,9 urteilen müssen, dass es über die Gemeinde Jesu im strengen Sinn hinaus Menschen gibt, die gottesfürchtig sind und von Gottes Gnade noch berührt werden (vgl. Mt 10,42; 25,27). Wer zu ihnen gehört, können wir nicht beurteilen. Das kann nur Gott. Aber auch ihnen gibt er noch Lohn (vgl. wieder Mt 10,42). Um diesen umfassenden Lohn noch einmal weit ausgreifend darzustellen, sprechen die Ältesten am Ende von den Kleinen und den Großen. Damit sind alle Belohnten eingeschlossen (vgl. Offb 19,5; 20,12). Schon im AT galt diese inklusive Formel (Ps 115,13). Kleine und Große ist dabei eine Umschreibung für „alle“.1646 b) In die andere Richtung gehen die wesentlich knapperen Worte: aber die zu verderben, die die Erde verderben (καὶ διαφθεῖραι τοὺς διαφθείροντας τὴν γῆν [kai diaphtheirai tus diaphtheirontas ten gen]). Dem Lohn wird hier die Bestrafung gegenübergestellt. Es fällt auf, dass die Ältesten in ihrem Hymnus der negativen Seite weit weniger Raum geben als der positiven Seite des „Lohnes“. Als Resultat bleibt, dass Gott als der endzeitliche Richter die Feinde Gottes und der Menschen verderben wird. Ähnliches finden wir in Offb 19,2. διαφθείρω [diaphtheiro] hat in Offb 11,18 die Bedeutung „ihre Existenz vernichten“.1647 Sie werden so nicht weiterbestehen, wie sie sind. Was dann aus ihnen wird, steht auf einem andern Blatt. Es erfüllt sich das Gesetz der Gerechtigkeit: So, wie sie die Erde verderben, wird Gott sie verderben. Es 1640 1641 1642 1643 1644 1645 1646 1647
Ebenso O. Proksch a.a.O. S. 107ff. A.a.O. Bengel S. 561. Caird S. 143. Schlatter S. 235. Aune S. 645. O. Michel, Art. μικρός, ThWNT, IV, 1942, S. 651. Vgl. Bauer-Aland Sp. 383; G. Harder, Art. φθείρω usw., ThWNT, IX, 1973, S. 103.
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ist interessant, dass alle Vorwürfe kulminieren in dem die Erde verderben. Das heißt zugleich: „die Menschheit verderben“. Die Erde ist hier ja „Wohnstätte der Menschen“,1648 ist Kreatur,1649 ist das dem Menschen nach Gen 1,28ff; 2,8ff Anvertraute. Man erinnere sich jetzt noch einmal an den Begriff der Erde in Ps 2,2. Die „Erde“ wurde Schauplatz der Rebellion (Ps 2), wurde durch Sünde verunreinigt und entweiht (Mk 2,10; Offb 17,5).1650 Was ist aus Gottes guter Schöpfung (Gen 1,31) und Gabe geworden! Das Gericht ist ganz und gar gerecht: Wer verdirbt, den wird Gott verderben – „seien es Menschen, seien es Geister“, wie Schlatter mit Recht sagt. Seine Gerechtigkeit und Heiligkeit ist vollkommen (Röm 11,33).1651 Wie das geschieht, zeigen die folgenden Kapitel. Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass hier Psalm 2 entfaltet wird. Das bedeutet: Eine zentrale Stellung kommt bei der Durchsetzung des Gotteswillens dem Christus zu. Das bedeutet aber auch, dass weiterhin der Schluss des ְ [ ַאaschre kol-hose Psalmes gilt: „Wohl allen, die auf ihn trauen“ (שֵׁרי ָכּל־חוֵֹסי בוֹ vo]). Auf die Sonderstellung von V. 19 haben wir schon bei II. hingewiesen. Sein Platz im Zusammenhang der Offb kann unter doppeltem Aspekt betrachtet werden: Der Vers kann entweder die Folge der vorausgehenden Doxologie sein oder aber die Eröffnung des Abschnitts Offb 12,1ff.1652 Und der Tempel Gottes, der im Himmel ist, wurde geöffnet und die Lade seines Bundes wurde sichtbar in seinem Tempel: Wie in 7,15; 11,1.2 ist ναός [naos] das Tempel-Gebäude. Offb 14,17 und 15,5 legen es nahe, die Worte ὁ ἐν τῷ οὐρανῷ [ho en to urano] (der im Himmel ist) auf den Tempel und nicht auf Gott zu beziehen. Dann aber ist der Verweis auf den Himmel eine Warnung, dass wir uns nicht allzu menschlich-materialistischen Gedanken hingeben sollen. Wir können uns den himmlischen Tempel also nicht einfach als eine Art Gebäude analog den Jerusalemer Verhältnissen vorstellen. Es muss sich vielmehr um einen Bereich in der Nähe Gottes handeln, der in Johannes den Eindruck eines Tempels erweckt. Nun heißt es: Er wurde geöffnet (ἠνοίγη [enoige]). Wer es tat, wird nicht gesagt. Vermutlich geschah es durch Engelhände (vgl. 14,15.17; 15,5f). Johannes sieht jetzt in dem geöffneten Bereich die Lade seines Bundes (ἡ κιβωτὸς τῆς διαθήκης αὐτοῦ [he kibotos tes diathekes autu]). Das ist alles. So wenig man sich den himmlischen 1648 1649 1650 1651 1652
H. Sasse, Art. γῆ, ThWNT, I, 1933, S. 676. Aune S. 645: „Bewohner der Erde“. Sasse a.a.O. S. 678. Vgl. wieder Sasse a.a.O. Bengel S. 562: „Preiswürdige Talion!“ Vgl. Aune S. 645f; Schlatter S. 235. Ähnlich sieht es Aune S. 661.
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Tempel in der Materialform von Jerusalem vorstellen darf, so wenig darf man sich die Bundeslade in irdisch-materieller Form vorstellen. Die irdische Bundeslade ist seit der Wegnahme durch die Babylonier verschwunden (2Kön 25,9ff; 2Chron 36,18). Auch der Perserkönig Kyrus gab sie nicht zurück (Esr 1,7). So gab es im zweiten Tempel seit der Zeit Haggais und Sacharjas keine Bundeslade mehr (Esr 6,1ff; Hag 1–2). In 2Makk 2,4ff ist zwar eine jüdische Tradition überliefert, dass Jeremia die Bundeslade an einem unbekannten Ort versteckt habe. Das ist jedoch unseres Wissens nur eine Legende. Jesus hat seinen „Neuen Bund“ durch seinen Leib, nicht durch heilige Geräte gestiftet (Mt 26,17ff; Mk 14,12ff; Lk 22,14ff; Joh 19,30; 1Kor 11,23ff). So fällt es auf, dass Johannes hier von der Lade seines (= Gottes) Bundes berichtet. Wie dies aufzufassen ist, ist nach Johannes Behm „nicht erkennbar“.1653 Auffällig ist auch der Singular. Warum wird nur die Lade erblickt? Warum wird nicht von zwei Bundschlüssen, vom Alten und vom Neuen Bund, gesprochen? Offenbar soll diese himmlische Bundeslade den „Bund“ Gottes sowohl mit dem Volk des Alten Bundes (Israel) als auch mit dem neuen Gottesvolk (Gemeinde Jesu aus Juden und Völkern) symbolisieren. Im Zusammenhang heißt das dann: Gott hält gerade in der Antichrist-Zeit unverbrüchlich an seinem Bund fest. Sein Bund setzt sich durch, mögen auch die Feinde noch so toben. Interessant ist auch der Begriff ὤφθη [ophthe], sie (er, es) wurde sichtbar. ὤφθη [ophthe] ist ja ein Kernbegriff in den Auferstehungsberichten (Lk 24,34; 1Kor 15,5ff). Gott schenkt also Johannes den Blick für etwas, das real da ist, das er jedoch nur mit seinen menschlichen Worten ausdrücken kann. Das Erscheinen der Lade wird begleitet durch ganz bestimmte Zeichen: und es geschahen Blitze und Stimmen und Donner und ein Erdbeben und ein großer Hagel. Blitze (ἀστραπαί [astrapai]) und Stimmen (φωναί [phonai]) und Donner (βρονταί [brontai]) waren schon in Offb 4,5 ein Zeichen der Gegenwart Gottes. Zusammen mit dem Erdbeben (σεισμός [seismos]) deuteten sie auch in Offb 8,5 die kommenden Gerichte Gottes an (vgl. Offb 6,12; 11,13). Das alttestamentliche Muster bildet nach Otto Betz1654 die „Sinaitheophanie“ (Ex 19,16ff), was gut zu Offb 11,19 mit dem Bundesthema passen würde. Als fünftes Zeichen kommt hier noch hinzu ein großer Hagel (χάλαζα μεγάλη [chalaza megale]). Auch der Hagel war schon in Offb 8 (8,7) Bestandteil des Gerichts. Er gehört zu den ägyptischen Plagen (Ex 9,13ff). Nimmt man noch Jes 29,6 hinzu, dann zeichnet sich als Aussage von Offb 11,19 ganz deutlich dieses ab: Gott hält seinem Volk den Bund, aber seinen 1653 Im Art. διατίθημι usw., ThWNT, II, 1935, S. 135, 103. 1654 Art. φωνή usw., ThWNT, IX, 1973, S. 289.
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Feinden ist das Gericht bestimmt. Für beides dankten die vierundzwanzig Ältesten in V. 17f – die Ältesten, die ja gerade als Repräsentanten des Gottesvolkes mit der irdischen Gemeinde mitleiden. Beides wird sich nun in den folgenden Kapiteln manifestieren.
IV Zusammenfassung 1. Zunächst ist strukturell festzuhalten, dass wir mit Offb 11,15ff in die Zeit der letzten, der siebten Posaune eingetreten sind. Aufgrund der transparenten Verknüpfung der drei Wehe von Offb 8,13 mit den drei letzten Posaunen besteht außerdem kein Zweifel, dass damit auch das dritte, letzte und schwerste Wehe begonnen hat. 2. Deutlicher als am Anfang der Posaunen-Gerichte (8,6ff) sehen wir jetzt, dass die siebte Posaune bis Offb 14,20 erstreckt werden muss. Ihre Zeit endet nicht mit 11,19. Sonst hätte sie geendet, als sie noch kaum begonnen hatte. Auch sind die Kapitel 12,13 und 14 als Folgen der siebten Posaune erkennbar. Erst mit den Schalen-Gerichten ab 15,1 ist die Zeit der Posaunen zu Ende. 3. Wenn man so will, gehört Offb 11,15-19 zu den „Pausen“ der Apokalypse. Der uns sichtbare „Geschichtsverlauf“ setzt sich erst in 12,1ff fort. Das ist auch ein Argument dafür, dass man 11,19 wie in der traditionellen Kapiteleinteilung bei 11,15ff belassen kann. 4. Viel wichtiger ist etwas anderes: Die heilsgeschichtliche und theologische Rolle der Doxologien in der Offb tritt von Neuem hervor. Sie sind gewissermaßen die Nägel, an denen das Bild der Geschichte aufgehängt wird. Bei ihnen und den zugehörigen Pausen ist der Quellort aller Geschichtsvorgänge. Die Ewigkeit steht über der Zeit, der Lobpreis über allem Tun. Zugespitzt könnte man noch einmal sagen: Die Hymnen, die Lobpreisungen, kurz ausgedrückt: Die himmlische Liturgie regiert die Geschichte. 5. Offb 11,15-19 ist ferner ein Zeugnis für die engste Zusammengehörigkeit von Gott und „seinem Christus“. Keiner agiert ohne den anderen. Die Trinitätslehre ist die unausweichliche Konsequenz. Als ein alttestamentliches Grundmuster sowohl für diese Zusammengehörigkeit als auch für die eschatologische Entscheidung hat sich Ps 2 erwiesen. 6. Die Ältesten werden auch in Offb 11,15-19 gut erkennbar als die Repräsentanten des Gottesvolkes. So wie sie zusammengehören, so gehören auch alttestamentliches und neutestamentliches Gottesvolk zusammen. Ein Ausdruck dieser grundsätzlichen Einheit des Gottesvolkes aller Zeiten ist schließlich die Tatsache, dass es nur einen Tempel und einen Bund gibt. 7. Mit der letzten Posaune kommt es erneut zu einer Steigerung der Dramatik des Endgeschehens. Wir treten jetzt, mit 11,15-19, in die eigentliche End-
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geschichte ein. So sind wir ähnlich wie in Mt 24 darauf vorbereitet, dass jetzt das Schlimmste geschieht.
Literaturverzeichnis zu Band 1
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Autorenverzeichnis
517
Autorenverzeichnis A Aland, Kurt 7, 10, 27, 52, 56, 78, 81, 109, 114, 119, 121, 130, 136, 159160, 169, 175-176, 185, 189, 191, 198, 211, 213, 226-229, 238, 240, 244-245, 259-260, 267, 273-274, 276, 278, 287-288, 290, 299, 301, 305, 310-312, 325-326, 329, 331, 334, 364-365, 370-371, 381, 387, 395, 398, 406, 414, 417, 420-422, 428, 436, 438, 440-442, 445-446, 449, 459, 475, 477, 498-500, 502 Auberlen, Carl August 75 Augustinus 64-65, 454 Aune, David E. 13, 16-21, 25, 27, 30-34, 36, 38-39, 48, 55-56, 77, 79-82, 84-87, 89, 91, 94-95, 97, 99, 101, 103, 105-106, 109-111, 117, 120, 123, 129, 133-135, 138, 146, 150-151, 157-158, 162, 166167, 170, 173, 183, 198, 201-202, 205, 207-208, 213, 220-221, 224226, 229, 231, 236, 240, 249, 257258, 264-265, 268-269, 271, 273274, 276-277, 280, 282, 287-288, 290, 295-297, 302, 304-305, 308, 310, 312, 324, 327-328, 330, 332335, 340, 344, 350-351, 353, 356357, 360, 363-368, 373, 376, 378, 382, 391-392, 396, 399, 404, 407409, 411-412, 414-415, 417-418, 420-423, 425, 434-437, 439, 441442, 444, 447-449, 453, 460, 463, 467-469, 476, 478-479, 484, 486489, 495-497, 499, 501-503
B Barclay, William 18, 34, 36, 166, 453, 457-458, 470-471, 474-476, 484 Bardenhewer, Otto 25 Barth, Karl 127, 285 Bauer, Walter 7, 74, 78, 81, 109, 114, 119, 121, 130, 136, 159-160, 169, 175-176, 185, 189, 191, 198, 211, 213, 226-229, 238, 240, 244245, 259-260, 267, 273-274, 276, 278, 287-288, 290, 299, 301, 305, 310-312, 325-326, 329, 331, 334, 364-365, 370-371, 381, 387, 395, 398, 406, 414, 417, 420-422, 428, 436, 438-442, 445-446, 449, 459, 475, 477, 498, 500, 502 Bayer, Oswald 68 Beale 75 Beale, G.K. 19 Beale, G.L. 13, 16, 18 Beck, Johann Tobias 75, 335 Becker, Michael 33-35, 37, 49-50, 74, 148, 358-359 Beckwith, Isbon T. 15-21, 24-26, 2930, 32-34, 36, 38-41, 44, 47, 5457, 60-62, 64, 75, 269, 356 Behm, Johannes 16, 18, 25, 31, 33, 35-37, 39, 42, 44, 47, 51, 80-82, 87, 91, 93, 95, 99, 104, 106, 108, 111-112, 120-121, 125-126, 128, 130, 135, 138, 141-143, 149, 152, 173, 176, 178, 185, 191, 196, 206, 220, 222, 224-226, 231, 236-238, 241, 247-248, 257, 262-263, 268, 283, 286, 289-290, 294, 298-302,
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Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
305-308, 312, 323, 325, 327, 329, 331-333, 337, 341, 345, 351, 354, 357, 361-362, 364, 366, 370, 373, 378, 381-384, 389, 391, 397, 399, 402, 407, 409, 414, 417-420, 422, 426, 430, 433-435, 440, 442, 444445, 448, 457-459, 462-463, 467, 471, 476, 479-480, 486, 490, 498, 504 Bengel, Johann Albrecht 15, 54, 7273, 78-85, 90-91, 100, 103, 108, 117-123, 126, 128, 130-131, 135, 139-140, 142-143, 147, 166-167, 170-171, 177-178, 183, 186-188, 191, 193, 198, 200, 206, 213, 219221, 225-226, 228, 242, 245, 247248, 250, 257, 260-263, 268-269, 274, 280, 282, 286-288, 290, 293294, 297-305, 310-313, 315-316, 319-321, 324-330, 333-334, 336, 339, 342, 352, 354, 356-361, 364368, 370, 374, 376-378, 381-383, 389-393, 396, 398-400, 402, 404, 407, 410, 412, 415, 418-421, 423425, 427, 430, 432, 435-437, 439440, 442-444, 449-450, 455-458, 460, 463, 465-467, 469, 471-473, 475-476, 478, 480-484, 486, 488489, 493, 495, 497-499, 502-503 Berger, Klaus 16, 106-108, 116-117 Billerbeck, Paul 189, 467, 491, 496 Blass, Friedrich 7, 27, 29, 84, 87, 89, 95, 98-99, 103, 108-109, 113, 116-117, 119, 122, 126, 128, 133, 135, 139, 141-142, 147, 149, 154, 158-160, 162, 164, 169, 172, 193, 195-196, 202, 208, 216, 220, 222223, 225-226, 230, 236, 238, 240, 242, 245-246, 257, 259-261, 265-
266, 269-270, 276-277, 279-280, 286, 288, 291-292, 294, 296, 299, 302, 304, 307, 309, 311-312, 315, 317, 319, 326-327, 333, 336, 343344, 350-352, 355, 367, 373, 377, 381-383, 386-387, 390, 395, 398, 400-401, 417, 421, 426, 432, 436, 439, 441, 443-445, 462, 464, 467, 481-482, 486, 496 Böcher, Otto 14-15, 18, 36, 39-40, 73, 106 Boll, Franz 30, 409 Bösen, Willibald 137, 142, 147, 276, 332, 335, 345, 347, 402, 424, 426, 500 Bousset, Wilhelm 17-18, 20-21, 23, 25, 30-40, 47, 56-59, 61-62, 65, 68, 72-75, 90, 94-97, 99, 108, 110-112, 114, 116-117, 122, 124, 126-128, 130-132, 145-146, 148, 159, 161-162, 167-168, 170-171, 173-176, 183, 185-186, 188-191, 193-194, 198-202, 206, 208-211, 217, 220, 222, 245, 247-249, 251253, 256, 264-266, 268-271, 274, 282, 284, 287-288, 293-294, 297, 302-303, 305, 308-309, 312, 319323, 326, 330-332, 339, 341, 358, 360, 402-405, 407, 409-410, 417418, 420-422, 429, 433-435, 437440, 442-446, 448-450, 452-457, 467, 469-474, 476-481, 483, 486492, 495 Brütsch, Charles 13, 20, 76, 79-80, 84, 87, 93, 95, 104, 110-112, 114, 119, 121, 129-130, 143, 146, 190, 197, 207, 213, 225-226, 241-242, 261-262, 265, 268, 283, 286-288, 299-301, 314, 316, 322, 327-329,
Autorenverzeichnis
332-333, 341-344, 347-348, 352, 354, 357-358, 360-363, 369, 373374, 376-377, 382, 391, 398, 402, 409-410, 413, 415, 418-420, 422, 429, 434, 436, 438-440, 450 Bultmann, Rudolf 26, 40, 85, 99, 126, 185, 206, 219, 236, 242, 269270, 332, 337, 410, 480, 501 C Caird, George Bradford 17-18, 2021, 24, 75, 80, 90-91, 95, 98, 104, 119, 129, 131, 138, 140, 145, 158159, 162, 167, 172-173, 191, 197, 207-208, 211, 225, 245, 248-249, 258, 260-262, 264, 266, 287-288, 295, 297, 301, 307, 309, 321, 326, 329-333, 336, 342-344, 352-353, 356-358, 360-362, 364-365, 368369, 373, 377-379, 382, 384, 391, 399, 404, 410, 412, 414, 416-418, 422, 424-425, 430, 432, 434-435, 438, 440-441, 444, 457-458, 463, 467, 470, 472, 476-477, 483-484, 488, 496-497, 499, 502 Carson, D.A. 15-16, 18-19, 22, 2425, 27, 29, 34-36, 40-42, 53, 5557, 59, 61, 110, 114 Charles, R.H. 15-16, 18-21, 23, 27, 30-32, 41, 44, 74-75, 240, 296303, 319-322, 327, 351, 354, 356362, 435, 448 Christophersen, Alf 26, 74 Conzelmann, Hans 17-18, 20-21, 23, 26, 30, 34-36, 43, 75, 93, 106, 223, 278, 398, 404, 480, 498 Cox, Harvey 34, 42 Cremer, Hermann 39 Cullmann, Oscar 92, 115, 343, 347
519
D Debrunner, Albert 7, 27, 29, 84, 87, 89, 95, 98-99, 103, 108-109, 113, 116-117, 119, 122, 126, 128, 133, 135, 139, 141-142, 147, 149, 154, 158-160, 162, 164, 169, 172, 193, 195-196, 202, 208, 216, 220, 222223, 225-226, 230, 236, 238, 240, 242, 245-246, 257, 259-261, 265266, 269-270, 276-277, 279-280, 286, 288, 291-292, 294, 296, 299, 302, 304, 307, 309, 311-312, 315, 317, 319, 326-327, 333, 336, 343344, 350-352, 355, 367, 373, 377, 381-383, 386-387, 390, 395, 398, 400-401, 417, 421, 426, 432, 436, 439, 441, 443-445, 462, 464, 467, 481-482, 486, 496 Delitzsch, Franz 75, 96, 198 Dormeyer, Detlev 18, 21, 35, 100, 106, 114 E Eckhardt, Karl August 16, 22-24, 26-27, 36 Elwell, Walter A. 18-19, 25, 32-33, 37, 39-44, 75 Esra, Vierter 49 F Feine, Paul 22, 26, 29, 39-40, 46-47 Flavius Josephus 94, 116-117, 159, 169, 171, 175-176, 235, 260, 341, 356, 405, 457, 475-476, 485 Flusser, David 18, 31, 33, 35, 49, 53, 246, 248, 470-471, 475 Ford, J. 16 Frey, Hellmuth 22, 25, 27-28, 37, 39, 41-42, 48, 81, 87, 91, 95, 143,
520
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
153, 173-174, 284, 287, 290, 301, 305, 331, 361, 370, 382-383, 391, 394, 396, 399, 406-407, 416, 419, 438, 445, 458-459, 471-472 Fritz, Eberhard 225 G Giesen, Heinz 18 Gnilka, Joachim 19, 34, 43-44, 47, 51, 131, 146, 154, 426, 456-457, 467, 472 Goppelt, Leonhard 16, 18, 38-39, 43, 48, 247, 371, 373, 397, 469, 474 Grundmann, Walter 80, 120, 131, 137-138, 156, 160-161, 221, 263264, 275, 280-281, 288, 290, 312, 321, 332, 343, 364, 389, 414, 447, 496-499 Grünzweig, Fritz 129, 131, 140, 143, 178, 196, 212, 225-226, 243, 261-262, 290, 301, 305, 314, 322, 330, 334, 356, 358, 361, 371-373, 380, 382, 391, 394, 396, 399-400, 407, 413, 416, 418-419, 430, 435, 438, 442, 445-446, 458, 463, 467, 471-472, 476 Gunkel, Hermann 30, 74, 455 Guthrie, Donald 16, 18-19, 22, 2425, 30, 34-36, 39-44, 47-48, 51, 53, 57, 59, 61-62, 114, 149 H Hadorn, Wilhelm 16, 18, 20-21, 2326, 29, 32-33, 39, 48, 82, 478-480 Hahn, Johann Michael 399, 401402, 407, 436, 439-440, 442, 445446, 455-457, 460, 471, 476
Hanhart, Robert 320, 322, 463-465 Harrington, Wilfrid J. 434, 442, 444 Hartenstein, Karl 37, 53, 80-81, 95, 111-112, 131, 173-174, 261, 263, 274, 287, 290, 297, 302, 304, 314, 320, 339-340, 342-343, 347, 351353, 361-362, 371-374, 376, 380, 382, 391-392, 394, 396, 399, 407, 416, 419, 430, 434, 438, 442, 446, 460-461, 463, 472, 476 Hefele, Carolus Josephus 143, 152 Heim, Karl 16, 35-37, 39, 104 Heitmüller, Wilhelm 471, 478, 490 Hemer, Colin J. 16, 18-19, 31, 33, 35, 39, 53, 55, 59, 62, 90-91, 95, 109-110, 114, 118-119, 121, 128, 130-131, 134, 137-138, 140, 143, 145-146, 149, 151-153, 155-156, 159-162, 166-168, 171, 173, 176, 178, 182, 184, 186-189, 193, 199200, 202, 204-214, 217, 220, 222224, 226-230, 232-233, 235-244, 246, 250-251, 265, 299-300, 302, 326, 332, 373, 394, 401, 452, 457, 488 Hengel, Martin 19, 21-23, 27-28, 33-35, 42-43, 51, 54 Hennecke, Edgar 235 Herodot 93, 204, 320, 422 Hinds, John T. 18, 26 Hirsch, Emanuel 71-74 Hirschberg, Peter 18, 21, 47, 57, 155, 354, 358, 361-362 Hofmann, Hans-Ulrich 59, 63, 67, 70, 75, 352, 396, 478 Holtz, Traugott 14, 40-41, 75, 95, 284, 303, 411, 413
Autorenverzeichnis
I Irenäus 17, 20, 22-24, 37, 45-46, 54, 56, 59-61, 92, 116, 119, 125, 134, 144-145, 147, 173, 189, 194, 210, 297, 299-300, 305, 316, 320, 340, 354, 358-359, 415, 454 J Jacob, Benno 265, 268, 330 Jeremias, Joachim 53, 126-127, 148-149, 198, 211, 219-220, 245246, 257-258, 261, 298-300, 304, 307, 327, 330-331, 345, 372, 402403, 414-415 Jones, A.H.M. 90, 134, 152, 204, 235 K Karrer, Martin 63, 65, 76 Kiddle, Martin 13, 18, 26, 31, 75, 354, 357, 360-361, 422, 426-427, 430, 449, 453, 457-458, 465-467, 472-473, 476, 478, 489 Kretschmar, Georg 18-19, 21, 31, 35-36, 38-39, 43-44, 131, 445, 453, 457, 461, 463 Kümmel, Werner Georg 17-18, 2021, 26-27, 33-35, 38, 42-44, 47, 51, 74 L Lawton, Anna 407, 419, 429-430, 438, 440, 451, 461, 467, 476 Leclercq, H. 18, 25, 109-110 Leipoldt, Johannes 156, 414 Lessing, Gotthold Ephraim 65, 348 Limbach, S. 407, 419, 430-431, 437, 444
521
Lindemann, Andreas 17-18, 20-21, 23, 26, 30, 34-36, 43, 75, 106 Lohmeyer, Ernst 18-22, 27, 29, 3133, 35-36, 38-39, 48, 54, 78, 89, 91, 110, 198, 339, 366, 389, 391, 398-400, 402, 404, 406-407, 421422, 425-428, 433-440, 443, 447450, 452-453, 457-458, 461, 465, 467, 470-472, 474-477, 479-480, 482, 487, 491 Lohse, Eduard 18-21, 23, 31, 33-36, 40, 91, 93-98, 100, 106-108, 110111, 114, 117, 120, 123, 126-128, 131, 145-146, 158-159, 161-162, 170, 173, 175-177, 183, 186, 189, 191, 196, 199, 202, 211, 251-253, 256, 269-270, 287-288, 290, 295296, 310, 321, 339-343, 345, 407, 409-410, 412, 414, 417-418, 420, 422, 425, 428, 432-435, 437, 440, 444-446, 449, 456-458, 470-471, 473-476, 479-480, 487-489, 495 Luthardt, Chr. Ernst 39, 43 M Maier, Gerhard 6, 152, 227, 254, 284, 338, 340, 348, 373, 394, 404, 406, 415, 418, 450, 454-455 Marxsen, Willi 18, 21, 33-35, 38, 49, 51, 54, 128 McDonald, Lee Martin 18, 35-36, 106 Moo, Douglas J. 15-16, 18-19, 22, 24-25, 27, 29, 34-36, 40-42, 53, 55-57, 59, 61, 110, 114 Morris, Leon 14-16, 18-19, 22, 2425, 27, 29-30, 34-36, 38-42, 5253, 55-57, 59, 61-62, 80-81, 8486, 93, 95, 98-99, 106, 110-112,
522
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
114, 117, 120, 123, 128, 130-131, 134, 138, 140, 143-144, 152, 158, 166-167, 172-173, 178, 183, 186187, 191, 193, 196, 198-199, 205, 207, 211, 213, 217, 220, 225, 229, 231, 237-240, 246-247, 249, 257258, 260-266, 268-272, 274, 276277, 280, 287, 293, 297, 300, 304, 309, 311-312, 314, 316, 319, 321324, 326-329, 331-333, 335, 352, 356-358, 361-364, 366, 368, 370, 373, 376-378, 382, 387, 392, 399402, 407, 409-410, 413-415, 417418, 420-422, 424, 430-431, 433, 436, 438-440, 442, 444, 449-450, 453, 458-459, 463, 467, 472, 476, 481, 486-488, 495, 498 Mounce, Robert H. 18, 21, 23, 26, 28-29, 453, 458-459, 462-463, 465, 467, 471-473, 479-482, 486487, 489-490 Müller, Paul 80, 95, 140, 178, 196, 206, 212, 224, 226, 263, 282, 290, 313, 322, 335, 340, 342, 344, 355, 361, 372, 374, 377, 382, 390-391, 394, 396, 399-400, 407, 413, 416419, 421, 429-430, 435-436, 438, 440, 442, 446, 458, 471-472 Müller, Ulrich B. 31-33, 35-36, 47, 99-100, 106-108, 110-111, 114, 117, 119, 121-124, 212, 442, 444446, 448-449, 453, 457-458, 462463, 465, 467, 471-472, 476, 479, 482, 490, 492 Müntzer, Thomas 68-69, 348, 393, 454 N Nauck, Wolfgang 210
Niebergall, Friedrich 14, 26, 39, 42, 47, 283-284 Nitzsch, Friedrich August Berthold 26, 39, 43 O Omerzu, Heike 13, 30 Ott, Heinrich 337 P Philberth, Bernhard 388, 407, 416, 419, 421, 429, 450 Piper, O.A. 18-19, 21, 23, 29-30, 3234, 36, 38-40, 42, 46, 56-60, 63, 65, 67-68, 74-75 Pohl, Adolf 318-319, 322, 326, 329, 331, 361, 373, 382, 391, 399, 406, 408-410, 415, 417-418, 420-422, 425, 431, 433, 438, 444, 456, 461, 476, 484, 486 Porter, Stanley E. 18, 35-36, 106 Prigent, Pierre 101, 110-112, 114, 116-117, 121, 123-126, 128, 143, 145, 153, 155, 158-160, 162, 174177, 183-186, 188-192, 194-195, 211 R Ratzinger, Joseph 21, 26 Rehkopf, Friedrich 89 Rissi, Mathias 19, 25, 33, 39, 409 Ritt, Hubert 15, 95-97, 100, 111114, 117, 122, 131, 145-146, 153, 157, 159, 161-162, 172-173, 176177, 183, 187, 189, 199, 211, 234, 247, 249, 254, 256, 338, 341, 345, 482, 484, 487-488 Robinson, John A.T. 16, 31, 47-48, 50
Autorenverzeichnis
Roloff, Jürgen 472, 482, 484, 486, 488-490 S Satake, Akira 21, 45, 86, 91, 130, 472 Schäfer, Peter 171 Schelkle, Karl Hermann 18 Schick, Eduard 458-459, 467, 471472, 479, 482, 484, 486, 488 Schlatter, Adolf 22, 29-30, 33, 3536, 38-39, 41, 47, 81, 94, 96-97, 102-103, 106, 109, 111, 116-119, 121, 123-124, 131, 134, 140, 143, 153, 173, 177-178, 185, 192-193, 197, 199-200, 207, 212-214, 219220, 223, 225, 230-231, 236, 241, 244, 246, 249, 251, 259-263, 266270, 274-276, 280, 288, 292, 295, 297, 299, 305, 307, 309-312, 314, 318, 321, 323, 326, 331-333, 337, 343-344, 348, 354, 356, 361, 369370, 373-374, 376-378, 380, 382, 389, 391, 396, 400, 402-404, 408, 410, 414, 417-418, 420, 422, 424, 428-429, 431-432, 438, 440, 442, 444-446, 458, 461, 465, 470-474, 476, 482-483, 485, 488-490, 497, 499, 502-503 Schmidt, Ludwig 91, 171, 308, 342, 361, 414, 449, 458 Schnackenburg, Rudolf 21, 36, 51, 55, 131, 153-154 Schneemelcher, Wilhelm 235 Schnelle, Udo 18, 81, 106 Schrenk, Elias 37, 113, 128, 139, 162, 173-174, 177-178, 194, 196, 206, 212, 214, 242-243, 282, 288-
523
290, 303, 340, 352-353, 436-437, 440 Schröder, Heinz 325 Semler, Johann Salomo 13-14, 53, 73, 349 Strack, Hermann L. 7, 189, 467, 491, 496 Strobel, August 16, 18, 25-27, 2930, 32-33, 35, 40, 42, 45, 47, 56 Stuhlmacher, Peter 18-19, 21, 27, 38-41, 43-46, 50, 157 Swete, Henry Barclay 28, 36, 51-52, 56, 75, 114, 166, 321 T Tacitus 204, 218, 235, 239, 280, 422 Thiessen, Jacob 394 Timpe, Dieter 48 Torrey, Charles C. 16, 19-21, 23, 27, 30-31, 33, 38-39, 53, 55 Trillhaas, Wolfgang 43, 330, 337, 347 V Vielhauer, Philipp 18, 20-21, 39, 4647, 106, 110-111, 113-114, 326 Vitringa, Campegius 15, 36-37, 39, 71-72, 95, 100, 117-121, 130-131, 134, 139-140, 143, 153, 162, 167, 171, 175-177, 193, 196, 200, 205, 224-225, 242, 246-247, 250, 254, 257-258, 261-265, 269-270, 274, 290, 293, 303-305, 309, 313, 316, 320, 324, 328-332, 334, 339-340, 342, 344-346, 353, 360, 370-372, 389, 391-393, 396, 404, 415, 417, 430, 436-439, 449, 476
524
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
W Walch, Christian Wilhelm Franz 65 Weber, Otto 285 Weber, Theodor 434, 437, 461, 470471 Weiß, Johannes 118, 121, 212, 369, 436-437, 471, 478, 483, 490 Westermann, Claus 147-148, 403, 476 Wettstein, Iacobus 10, 127, 131, 331, 341, 404-407, 419-420, 422423, 445, 463, 470 Wieseler, Karl 408 Wikenhauser, Alfred 15, 18, 20-21, 24-25, 33, 35-36, 39-41, 51, 9396, 99-101, 106, 108, 110-112, 117, 128, 131, 146, 148, 158-159, 161-162, 172, 175-177, 182-183, 185-186, 189-191, 194, 199-201, 211-212, 247, 249, 256, 321, 323, 325-326, 330, 333, 339, 346, 446447, 449, 463-464, 466, 470-471, 487-490
Wilckens, Ulrich 20-21, 26, 41, 44, 46, 228-229, 312, 367, 436 Z Zahn, Theodor 16-18, 21-23, 25-26, 29, 33, 36, 39, 44-45, 47-48, 77, 79-82, 84-85, 87, 95, 98, 101-102, 106-112, 114, 120-121, 123, 125, 130-131, 140, 143, 152, 159-160, 167, 170, 176, 178, 183, 186, 190191, 193-195, 200, 202, 206, 211212, 214, 221, 225, 229-232, 236, 238-240, 242-243, 247, 250, 256258, 260-263, 265, 269-274, 277, 287-288, 290, 296-303, 309, 316, 319, 322, 326-329, 331-334, 340, 342, 354, 357-358, 369-370, 373374, 376-378, 380-382, 391-392, 399-400, 405, 410, 415, 417, 420421, 429-431, 434, 437-440, 442444, 448-449, 456, 466, 471-473 Zohary, Michael 395
Stichwortverzeichnis
525
Stichwortverzeichnis A Aas 475 Aas 475 Abaddon 387, 403, 414 Abendmahl 175, 176, 200, 245, 247, 369 Abfassung, Abfassungszeit 16, 22, 23, 24, 25, 27, 53, 497 Abgrund 386, 387, 402, 403, 405, 406, 413, 414, 415, 416, 452, 473, 491 Ablauf 32, 72, 277, 318, 324, 346, 351, 384, 408, 442, 451, 493 Abraham 78, 154, 155, 228, 501, 502 Absender 90, 93, 133, 135, 151, 182 Achtzehngebet 50, 156 Adler 255, 273, 386, 388, 399, 400, 401, 402, 490 Adressat 35, 80, 93, 133, 134, 151, 206, 335, 401 Ägypten 43, 58, 62, 267, 364, 389, 390, 391, 392, 393, 398, 400, 404, 405, 407, 423, 428, 435, 452, 469, 472, 476, 477, 478, 504 Ahab 185, 191 Aktualisierung, aktualisiert 13, 415 Alexander 67, 93, 204, 243 Allegorie, allegorisch 34, 61, 62, 63, 65, 149, 260 Allmacht, Allmächtiger 88, 104, 255, 258, 270, 275, 276, 277, 290, 300, 332, 357, 494, 497, 498 Allwissenheit 118, 271, 290, 292, 300, 357 Aloger 20, 23, 25, 57, 58, 61, 62
Altar 31, 305, 317, 329, 330, 331, 332, 347, 376, 377, 380, 381, 383, 384, 387, 417, 454, 456, 457 Alte Kirche 19, 189, 248, 250, 404 Altes Testament 18, 19, 30, 47, 49, 52, 54, 56, 67, 78, 89, 96, 101, 103, 111, 115, 120, 121, 122, 124, 126, 128, 131, 137, 154, 159, 162, 171, 172, 176, 177, 179, 182, 186, 199, 219, 221, 252, 254, 259, 265, 266, 267, 271, 276, 277, 280, 281, 284, 285, 288, 290, 295, 301, 303, 311, 313, 316, 325, 332, 335, 336, 337, 341, 343, 345, 348, 357, 360, 371, 375, 390, 393, 395, 426, 441, 448, 453, 458, 496, 501 Älteste 255, 262, 263, 295, 365, 367, 368, 372 Amen 89, 100, 101, 102, 126, 233, 236, 315, 365, 366 Amt, Leitungsamt 44, 45, 85, 91, 202, 262, 370, 447, 465 Anbetung 122, 125, 256, 261, 263, 279, 280, 304, 382 Antichrist 48, 63, 68, 71, 225, 322, 358, 368, 454, 461, 474, 475, 479, 480, 482, 483, 484, 485, 487, 489, 491, 493, 504 Antinomismus 187 Antisemitismus, Antijudaismus 50, 154, 157, 163, 223 Apokalyptik 13, 33, 34, 35, 42, 71, 72, 84, 106, 128, 292, 299 Apokatastasis 68 Apokryphen 52 Apollyon 387, 414
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Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Apostel, Apostelamt, falsche(r) Apostel 17-21, 23-25, 45, 62, 67, 83, 107, 110, 133, 137f, 146, 153, 172, 187, 252, 254, 262 Apostelgeschichte 45, 92, 156, 184 Apostelkonzil 172, 187 Apostolicum 151 Aramäisch 27, 116, 310, 474 Arbeit 133, 136, 209 Armut 150, 152f, 157 Auferstehung, Auferstandene, Auferstandener 40, 56, 79, 82, 105f, 111, 113, 115, 117, 119, 121-123, 125f, 130, 132, 135, 144, 151, 162, 166, 174, 176, 192, 200, 219, 223f, 231, 236, 247, 249, 252f, 257, 299f, 311, 436, 464, 466, 485 Aufgabe 47, 99, 202, 208, 254, 262, 315, 372, 404, 466, 497 Aufklärung 14, 37, 63, 72, 347, 427 Aufmerksamkeitsruf 133f, 146, 150, 162, 164, 174, 180, 196, 216f, 234, 249 Auge 88, 95, 102, 105, 117f, 180, 182f, 234, 242f, 255, 265, 268, 270f, 274, 285, 300f, 483 Augensalbe 234, 242 B Baal 185f Babel 393, 476 Babylon 48, 66, 95, 262, 264, 353, 428, 455, 476, 478, 504 Balaam 146, 171 Bauch 433, 445f Baum 133, 147-149, 338, 352, 464 Baum der Erkenntnis 147 Baum des Lebens 133, 147-149
Beauftragung, Berufung, Berufungsvision 82, 99, 106, 123, 132, 199, 370, 380, 434, 440, 445-451 Bedrängnis 52, 105, 107f, 139, 150, 152, 157, 159, 226, 368, 461, 472 Bekehrung 70f, 188, 190, 345, 388, 424-426, 467, 488f, 492 Bekenntnis 83, 101f, 124f, 168, 178, 203, 214, 254, 282, 314, 460 Berg 121, 123, 317, 340-344, 392f Bewahrung 31, 216, 224-227, 231, 349, 353-355, 357, 375, 416, 431, 446, 458-461, 491f Bewusstsein 258, 331, 347, 440 Bileam 50, 84, 164, 171f, 168, 200 Bileamiten 47, 146, 171-174, 179, 186f, 200f, 252, 254 Bilinguismus 27 Bischof, Gemeindeleiter, Gemeindeleitung, Episkopat 45, 134, 138, 141, 143, 160, 173, 188, 190, 208, 212, 244, 246, 338 Blitz 255, 264f, 376f, 383f, 494, 504 Blut 40, 46, 88, 98f, 285, 307, 316f, 323, 331f, 335f, 350, 368f, 386, 389-392, 452, 469 Blut Christi 40, 46, 88, 98f, 285, 307, 316, 350, 368f Bogen 317, 320f Böses133, 136f, 142, 144, 185, 194, 260, 268, 276f, 332f, 335, 345347, 379, 402, 416, 424, 426, 429, 500 Brief 36, 41, 78, 89f, 92f, 104, 133, 208 Bronze 119, 426 Bruder 45, 105, 107, 123, 140, 169, 317, 333f
Stichwortverzeichnis
Brunnen 386, 402-404, 414 Buch 52, 56, 58, 86, 93, 101, 105, 113, 203, 213-215, 256, 285-292, 294, 296, 301-303, 307, 317, 340, 378, 433, 436f, 444-446, 474 Buch des Lebens 203, 213-215, 474 Büchlein 432-437, 440, 444-447 Bund 40, 50, 154, 174, 260, 265, 504, 505 Buße, Bußruf, Umkehr 55, 133, 140143, 147, 164, 173, 179f, 185, 188-190, 192f, 195, 203, 210f, 213-215, 234, 238f, 241-247, 250, 252f, 322, 336, 345f, 390, 394, 398, 402, 410, 424-426, 430f, 447, 450, 463, 486f C Cherub, Cherubim 270, 272, 274f, 400, 411 Chiliasmus, Tausendjähriges Reich, 1000 Jahre, (Prä-/Post-/A-)Millenialismus 43, 62-67, 71f, 75, 309, 355, 442, 450 Christentum 38, 40, 50, 74, 99, 163, 185, 187, 201, 235, 457 Christenverfolgung 16, 47f, 166f, 170, 225, 423 Christologie 40f, 98, 132, 151, 199, 253, 297, 303 christologisch 35, 78, 98, 101, 104, 179, 182, 252 Chronologie 42, 75, 87 Corpus Johanneum 22, 27 D Dämonen 388, 396, 403f, 406-408, 411-413, 419, 422, 426, 430
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Daniel 52, 54, 61, 80, 107, 113, 117, 123, 126, 259, 284f, 310, 316, 348, 375, 421, 483 Danielbuch 102, 159, 308, 363, 473, 479, 496 Dank 255, 277-279, 305f, 350, 366, 382, 494, 497-499, 505 Datierung 16f, 48, 63, 205, 235, 252, 262, 392, 419 David 98, 126, 216f, 219, 248, 253, 285, 295f, 301, 312, 316, 343, 380 Dekalog 292, 428f Dieberei, Dieb 203, 207, 211, 388, 427-429 Dienst 6, 84, 110, 141, 156, 180, 184, 228-230, 369, 466, 469, 417, 474 Doxologie, Lobpreis 51, 89, 96, 98102, 104, 256, 275-286, 303-306, 308f, 311f, 314-316, 365, 374, 382, 389, 494-499, 501, 503, 505 Drache 322, 499 E echt 36-39, 74, 131f, 219, 223 Ehebruch 144, 180, 190-192, 252, 429 Ehre 88, 100, 255, 277f, 280f, 286, 311, 314, 350, 366, 452, 488f, 502 Ehrsucht 189 Ekklesiologie 44f, 471f Ekstase, Trance 34, 111, 256, 258, 294 Elia 64, 66, 69f, 185, 257, 454, 463, 467f, 470-472, 484f, 492f Endzeit 33, 50, 52f, 62, 67, 148, 175, 177, 197, 219, 221, 225f, 231, 247f, 250, 306, 322, 339f,
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Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
348, 351, 355, 358, 362, 365, 379f, 391f, 422, 455, 460f, 464, 471, 476, 478, 481, 483, 485, 492, 498, 502 Engel, Engelwesen 34, 45, 68, 77, 82, 83, 88, 95, 105, 117, 118, 120, 122, 129-131, 133, 134, 150, 164, 166, 180, 194, 202, 203, 212, 214, 216, 233, 261, 263, 270-273, 275, 281, 285, 286, 290-293, 295, 304, 305, 309, 310, 312-314, 322, 324, 333, 338, 339, 346, 349-355, 363367, 375-390, 392, 394, 396, 397, 399-403, 407, 413-415, 417-421, 432-446, 448, 450, 456, 458, 459, 462, 484, 494, 495, 497 Entscheidung (freie) 46, 188, 246, 425 Ephesus 20f, 24f, 58, 62, 92f, 105, 110, 113f, 131-150, 165, 171, 182-185, 201, 205f, 210, 218, 235f Erdbeben 204, 218, 229, 235, 239, 317, 336, 340, 376f, 383f, 452, 468-488, 494, 504 Erde 100, 216, 226, 230, 285f, 292f, 309, 312f, 317, 319, 322f, 327f, 331f, 335, 337-339, 341-343, 347, 349, 351-353, 376f, 383f, 386, 389-391, 396-398, 402, 404f, 430, 432-435, 437f, 440f, 444, 452f, 465f, 469f, 472f, 479, 481, 494496, 500, 502f erkaufen 46, 285, 307 Erkenntnis 66, 70, 122, 147, 153, 180, 192, 194f, 216, 224, 243, 250, 263, 284, 306, 345, 392, 396, 426f
Erlöser, Erlösung 40, 45f, 51, 84, 88, 93, 98f, 116, 132, 141, 148, 182, 194, 197, 213, 249, 254, 257, 295, 298f, 302, 305-309, 315, 343, 345, 364f, 379, 444, 466, 501 Ermahnung 150, 157, 224, 448 Erstgeborener 88, 97 Erz 105, 118f, 180, 182f Eschatologie 30, 32, 39, 42f, 51, 60f, 68-71, 84, 87, 94, 99f, 107, 121, 148, 152, 224, 227, 245-247, 250, 276, 322, 337, 345, 347, 351, 360, 370, 379f, 383, 389, 404, 455, 460f, 470-472, 499f, 505 Euphrat 356, 387, 417-419 Evangelium 20-22, 26-29, 41f, 44, 53, 56, 63, 66, 71, 78-80, 83-85, 89, 94f, 97f, 101f, 104, 111, 115, 118, 124, 132, 146, 152, 154, 156, 168, 176, 195, 199, 213, 224, 244, 247, 253, 296, 322, 330, 345, 371f, 399, 406, 444, 449, 454f, 463f, 485, 502 Ewigkeit 46, 88, 98, 100f, 105, 125, 129, 178, 182, 213f, 231, 255, 268, 275-279, 286, 291, 306, 311, 314f, 350, 366, 432, 441-443, 451, 465, 494, 496, 498, 501, 505 F Fackel 255, 264f, 386, 394, 396 falsche Apostel 137f, 146, 252, 254 Farbe 260, 285, 320, 326, 422, 499 Feigenbaum 317, 338 Feind 103, 112, 120f, 198, 249, 266, 276, 319, 344, 380, 405, 418, 423, 451-453, 466-468, 473, 483-486, 499, 502, 504f
Stichwortverzeichnis
Fels 207, 317f, 341-344 Feuer, Feuerflammen 64, 105, 118, 180, 182f, 234, 241, 255, 265, 376, 383f, 386f, 389-391, 422f, 432, 436, 451, 466-468, 471, 501 Flucht 387, 410 Flügel 255, 272-275, 287, 400, 411f, 416 Fragmentenhypothese 31 Frau 180, 185-187, 190, 334, 411, 416, 458 Freiheit 46, 51, 99, 145f, 173, 177f, 188, 194, 201, 214f, 307, 316, 343, 369, 444, 500 Friede 41, 88, 93-95, 317, 323f, 374, 444 Furcht 122, 233, 412, 452, 483, 488, 499, 502 Fuß 105, 116-119, 122, 180, 182f, 216, 223, 247f, 275, 331, 432, 436-438, 483f G Gattung 6, 33f, 36, 106, 276 Geduld 48, 72, 105, 108, 133, 136, 139, 142, 180, 184, 209, 216, 224f, 332, 500 Geheimnis 105, 129f, 132, 182, 193, 257, 276, 284, 335, 353, 395, 432, 443, 451, 495 Geist 38f, 41, 44, 47f, 65f, 95f, 100, 105, 111f, 133-135, 139f, 146f, 149f, 155, 164, 174, 180, 182, 194, 199, 201-203, 205-208, 211, 215f, 220f, 223, 234, 237, 243, 274, 253, 255f, 258, 265f, 268, 271, 290f, 285, 300, 305, 313, 315f, 343, 374, 382, 396, 403, 448, 452, 454, 466f, 477, 482
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Gemeinde 6, 20, 22, 31, 36, 38, 44, 45, 47, 48, 50f, 54, 68, 72, 80-82, 85, 88, 90-92, 94, 102, 103, 105, 107f, 110f, 113f, 117, 120, 125f, 129-141, 143f, 146f, 149-162, 164-174, 178-182, 184f, 187, 191-195, 201-203, 205-207, 209211, 213-222, 224, 226-228, 231235, 237-239, 253, 264, 271, 279, 294, 302, 305, 315, 332, 334, 339f, 350f, 354f, 361-363, 365, 367, 370, 372, 374f, 382, 384, 391, 393, 407-409, 416f, 419, 429, 432, 435, 440f, 443, 446450, 457-461, 463, 465, 467, 469, 472-475, 478, 481, 483, 485f, 491-493, 497f, 502, 504f Gemeindeverfassung 45 Gemeindezucht 137 Gerechtigkeit 139, 176, 183, 197, 209, 213, 292, 332, 335, 350, 371, 430f, 502f Gericht 39, 54, 60, 66, 71-73, 114, 126, 131, 142f, 150, 162f, 174, 176, 178f, 189-192, 196, 198, 210f, 214f, 219, 238f, 241, 244, 302, 319f, 322, 328, 335-339, 341, 344-347, 349, 353f, 371, 376, 378, 380, 313-385, 388-394, 396-398, 401f, 404-407, 409, 415, 420, 422-426, 429, 431, 435, 444, 461, 472, 486, 488, 500f, 503-505 Geschichtsschreibung 93 Gesicht 63, 105, 117, 121, 272f, 387, 421, 432f Gewand, Kleid 105, 116, 161, 203, 212f, 215, 234, 242, 250, 260f, 263, 316f, 333, 350, 367, 369 Gewissen 481
530
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Glaube 6, 48, 73, 85, 88, 109, 119, 135, 137, 143, 150, 152, 155, 158, 164, 168f, 175, 180, 182-184, 192, 205, 209-211, 221-224, 246, 281, 305, 331, 334f, 354, 357, 362, 367, 369, 441, 447, 451, 462, 489, 493, 501 Glaubensbekenntnis 123-127, 187, 219, 238, 493 Gnade 88, 93-95, 193, 211, 219, 242, 260f, 279f, 288, 305, 332, 371, 396f, 401, 408, 410, 423, 435, 472, 501f Gnosis, Gnostiker 47, 50, 127, 153, 173, 189, 194, 201, 257 Gog und Magog 53, 66, 68, 432 Gold 105, 114, 116f, 119, 129, 132f, 135, 183, 204, 234, 241f, 255, 262f, 265, 267, 285, 304f, 376, 380f, 383f, 387f, 410f, 417, 426 Gottesdienst 45, 61, 85, 91, 111f, 138, 256, 260, 264, 283, 304-306, 308, 315f, 379, 389, 404, 458 Gotteslehre 41, 498 Gottesprädikat 218f, 236 Gottesstaat 64f, 415 Götzendienst 167, 188, 190, 358, 423, 425-427, 429 Götzenopfer 47, 164, 171-172, 178180, 186-189, 252 Grab 452, 478f, 484 Gras 386, 389f, 407f Gruß 90, 93, 235 Güte 175 H Haar, Frauenhaar 105, 117f, 387, 411f, 416 Hagel 386, 389-391, 397, 494, 504
Hand 105, 117, 120, 123, 130, 141, 143, 253, 285, 287-289, 302f, 317, 323, 375f, 382, 387, 425, 432f, 436f, 440, 444, 446, 451 Hapaxlegomenon 27, 238, 243, 398 Häresie, Irrlehre 17, 43, 45-47, 57, 60, 150, 172-174, 179, 189f, 193195, 200-202, 205, 210, 222, 237, 252-254, 330, 347 Harfe 285, 304-306 Hass 47f, 133, 144, 268, 430, 481 Hebraismen, Hebräisch 6, 19, 27, 49, 129, 141f, 147, 153, 168f, 191, 208, 223, 236, 244, 266, 277f, 280, 293, 315, 354, 365, 387, 403, 414, 465 Heidenchristentum 161, 360f, 374, 502 Heiligkeit 90, 95, 276, 503 Heilsgeschichte 65f, 70, 72, 75, 294, 496 Hellenismus 220 Henoch, Henochbuch 49, 69f, 257, 310, 454, 470-472, 484f, 492f Herodes, Herodianer 169, 398 Herr 37, 41, 64f, 78, 83, 88, 97f, 102f, 105, 111, 118, 120, 127, 132, 140, 146, 151, 167f, 177, 187, 205f, 213, 226, 233, 241, 248, 255, 275f, 280, 282, 299, 303, 306, 317, 321, 331f, 338, 344, 350, 367, 378, 423, 442, 451f, 464-467, 473, 477, 479, 485, 492, 494, 496-498 Herrlichkeit 40, 51, 79, 97, 102, 106, 108, 118f, 121f, 153, 159, 161f, 176f, 200, 215, 231, 261, 273, 282, 284, 300, 302, 367-369, 375, 435, 477, 485
Stichwortverzeichnis
Herrschaft 97, 99, 126-127, 152, 154, 176, 181, 197, 199, 308f, 321, 418, 461, 494, 496, 498f Herrscher 47, 120, 165f, 197f, 259, 262, 279, 287, 298, 321, 344, 359, 371, 395, 441, 456, 464, 477, 497 Hesekiel 33, 52, 54, 106f, 112f, 116f, 120, 239, 259f, 265, 268, 271-273, 284f, 316, 323f, 328, 348, 367, 375, 390, 437, 445-447, 449, 458, 460f, 476, 482 Heuschrecke 386f, 404-414, 416, 419, 424, 432 Himmel 40, 54, 102, 160, 174f, 199, 216, 220, 230, 242, 255-257, 259, 263, 268, 281, 285f, 292f, 300, 303, 312f, 317, 331, 333, 338, 340-343, 347, 370, 375, 377f, 380, 383f, 386, 393f, 396, 400, 402, 432-435, 437, 439-441, 444, 451f, 466-469, 484f, 487f, 492, 494f, 498, 503 Himmelfahrt 64, 257, 470, 485f, 488 Hiob 158, 220, 267, 273, 292f, 336, 339, 341, 369, 383, 395, 400, 408, 410, 412, 414, 422, 445, 464 historisch-kritisch[e Forschung/Gesichtspunkte/Methode/Theologie] 14, 74 Hohepriester 116f, 132, 160, 176179, 230, 260f, 263, 464 Holz 147, 156, 475 Honig 433, 445f Horn 299f, 378f Hunger, Hungersnot 317, 323-328, 346, 391 Hure, Hurerei 47, 66f, 164, 171f, 180, 186, 188-190, 353
531
Hymnus 32, 44, 100, 281, 303, 307, 311-313, 351, 363, 365, 476, 499, 502, 505 I Insel 61, 105, 109, 112, 317, 340342 Inspiration 38f, 84, 133, 157, 194, 258, 290, 430 Introitus 258, 283 Isebel 180f, 185-191, 193, 196, 201, 252, 254, 428 Israel 49-51, 53, 55, 68, 98, 106, 109, 120, 134, 137, 154f, 163f, 169, 171f, 174, 176-179, 185, 187, 198, 223f, 246, 252f, 262, 264, 267, 282, 298, 308, 320, 325, 349f, 355f, 358, 360-362, 371, 374, 391, 407, 411, 427, 443, 455, 458, 460f, 465f, 470, 472, 482f, 488f, 492f, 504 J Jahwe 82, 95, 120, 155, 276, 338, 465, 497 Jakob 171, 355 Jakobus 23, 55, 107f, 110, 157, 159, 168, 228, 330 Jakobusbrief 55, 107, 253 Jaspis 255, 260 Jerusalem 16, 19, 38, 50, 53f, 60, 68, 81, 175, 184, 188, 197, 216f, 229-232, 257, 260, 354, 358, 364, 380f, 453, 457-461, 466, 470, 472f, 475-478, 481, 487f, 492f, 503f Jesaja 113, 219, 273-276, 284f, 307, 316, 348, 375, 463, 476, 496
532
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
(Jesus Christus,) Messias 35, 40, 50f, 84, 98, 116, 121, 125, 155, 197, 219, 222-224, 241, 245, 248, 253, 297-299, 320, 345, 366, 496 Jesuslogion 253 Jesusworte, Jesusüberlieferung 45, 85, 123, 211, 249, 501 Joachimismus 66-70, 404, 454, 470 Johanneische Schule 17, 19, 46, 56, 92, 116, 210 Johannes der Täufer 16, 50, 155, 297, 463, 471 Johannes von Ephesus 20, 24f, 58 Johannesevangelium, viertes Evangelium, JohEv 20-22, 26-29, 41f, 44, 63, 79f, 83-85, 89, 94, 97f, 101f, 104, 111, 115, 118, 124, 126, 132, 135, 146, 152, 154f, 176, 192, 195, 199, 205, 219, 221, 224, 244, 247, 253, 296, 351, 363, 366, 371f, 477, 485, 502 Johannesoffenbarung 13, 33, 59f, 199, 283, 349, 374 Jubiläen 33 Juda 219, 285, 294f, 301, 316, 349, 356f, 360 Judaismus, Judaisierung 26, 50, 74, 137f, 145, 154, 222, 232 Judenchristentum, Judenchristen 18, 26, 31, 50, 107, 111, 156, 161, 169, 182, 219, 360f, 457, 460 Judentum, Jude 17-19, 24, 26, 33, 35, 40, 48-50, 60, 70f, 99, 107, 111f, 127, 138, 146, 148-150, 152-158, 161-163, 171, 182, 200, 202, 205, 216f, 220, 222-224, 232, 235, 240, 249, 252, 264, 284, 295, 311, 323, 360, 374, 379, 392,
403f, 427, 450, 455, 458, 460, 471f, 481, 492f, 501, 504 Jüngstes Gericht, Endgericht 54, 66, 174, 196, 214f, 244, 500 K Kaiserkult, Kaiserverehrung 16, 47f, 93, 136, 156, 165-167, 252, 281 Kanon 5, 14, 55-59, 61, 63, 67, 75, 137 Kanon Muratori 25, 57f, 61, 113, 235 Kerygma 151, 337 Kinder 47, 154f, 180, 190-192, 246, 260, 373 Kirche 15, 19, 25, 51, 59, 64-67, 70f, 74, 85, 91, 114, 122, 135, 137, 139f, 143, 146, 149f, 157, 163, 170, 173, 178f, 186f, 189, 202, 210, 213, 215, 218, 221, 228, 233, 236, 241, 245, 248-254, 283, 287, 335, 338f, 344, 347f, 358, 361f, 374f, 396, 404, 418, 431, 451, 454, 459, 471f, 497, 486, 489, 493 Kirchengeschichte 13f, 17, 20, 23, 42, 59, 65f, 70-72, 86, 92, 143, 149, 172, 174, 193, 195, 205, 227, 241, 254, 265, 337, 348f, 406, 415, 430, 451, 454 Kleinasien 16, 19, 24, 43, 50, 57, 60, 92f, 109, 144, 151f, 201-204, 251f, 347 Knecht 28, 77f, 80, 82, 131, 180, 186, 317, 333f, 342f, 349-351, 353, 432f, 479, 494, 500f Komposition 28, 32
Stichwortverzeichnis
König 41, 88, 97f, 117, 165, 167, 185, 204, 217, 219, 235, 260, 264, 284, 288f, 316f, 342, 344, 387, 400, 413f, 433, 447, 449, 464, 496 Konzil 59, 92, 172, 187 Kraft 101, 105, 108f, 120f, 123, 147, 179, 201, 206, 215f, 221, 224, 233, 238, 251, 255f, 271f, 280, 284, 286f, 301f, 311f, 316, 321, 335, 344, 348, 350, 366, 369, 385, 400, 423, 482, 484, 498f Krankheit 189, 326, 396, 408f, 470 Kranz, Krone 130, 150, 160-163, 216, 227f, 255, 260-263, 273, 279f, 317, 320f, 387, 410f, 435 Kreuz, Kreuzestod, Kreuzigung, Gekreuzigter, Kreuzeszeichen 40, 45f, 53, 96, 125, 149, 155, 159, 165, 176, 249, 253, 294, 297-299, 301f, 307, 311, 334, 337, 354, 452, 477f, 492f Krieg, Kampf 64, 66, 76, 127, 165, 168, 174, 178, 321-323, 328, 339, 346, 372, 379f, 387, 390-392, 397f, 404, 410-413, 419, 422, 428-430, 450, 452, 473f, 498f, 501 Kristall 255, 266-268 Kunst, Kunstgeschichte 13, 15, 76, 283, 316, 348, 424 Kybele 204 Kyrus 204, 489, 504 L Lade, Bundeslade 380, 494, 503f Lamm 40f, 46, 51, 98, 248, 285f, 296-309, 311, 313-319, 321-324, 326, 329, 335, 344-346, 350, 355,
533
363-366, 368f, 372, 376-378, 380, 384, 444, 447, 498 Laodizea 48, 58, 71, 105, 113f, 162, 181, 217, 227, 233-254 Laodizenerbrief 236 Last 108, 133, 139, 180, 194, 202, 224, 240 Lästerung 150, 152-155 Lazarus 151, 153 Lehre Bileams 50, 164, 171f Leichnam 156, 452, 475, 477f, 481, 483 Leid, Leiden 108, 159, 162f, 175, 178, 224, 242, 322, 332, 348, 368, 374, 409, 418, 443, 446, 480, 498 Leuchter 105, 114f, 117, 129, 132f, 135, 142f, 265, 283, 451, 464466, 471 Libertinismus 138, 145, 173, 187, 189, 252 Liebe 97f, 104, 129, 132f, 135-137, 139-143, 147, 150, 152f, 180, 183-185, 209, 224, 229, 232, 237f, 241, 243f, 254, 276, 407, 500f Lied 44, 245, 267, 285, 306, 315f, 366, 375, 476, 498 Liturgie 44, 95, 263, 277-279, 283f, 298, 304-306, 315, 365f, 383, 505 Lob, Preis, Lobpreis 15, 89, 98, 100, 102, 255, 276-283, 286, 303-306, 308-315, 350, 365f, 374, 382, 389, 440, 469, 497f, 505 Lohn 29, 147, 263, 485, 494, 500502 Löwe 255, 271f, 285, 294f, 300f, 316, 357, 412, 422f, 432, 438 Löwenzähne 387, 411f
534
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Lydia 181f, 187 Lydien 181, 204, 217 M Macht, Mächte 40, 48, 54, 88, 100, 104, 116, 120, 122, 125f, 135f, 147, 160, 174f, 180, 183, 194, 196-199, 220, 227, 231, 263, 266, 270f, 273, 277f, 281, 286, 289, 293, 299-301, 312, 314, 317, 321f, 327, 332, 342, 344f, 349, 352f, 372, 379, 386f, 396, 403, 405-410, 413f, 419, 424, 430, 437, 441, 451, 466, 468, 469, 474, 482, 489, 494, 498f Mahl 234, 247f, 250f, 480 Mahnung 81, 194f, 211, 221, 447 Makarismus, Seligpreisung 46, 78, 84f, 87f, 152f Mammon 187 Manna 164, 174-178 Martyrium, Märtyrer, Märtyrerkirche, Märtyrergemeinde 20, 23f, 48, 51, 60, 63, 83, 91f, 136, 143, 152, 156f, 159f, 162-164, 168170, 184, 218, 221f, 236, 252, 305, 330-335, 346f, 354, 357, 360, 364, 373-375, 417, 458, 472f, 475, 477-479, 483, 486 Meer 255, 266-268, 281, 285f, 293, 312f, 349, 352f, 386, 392-394, 405, 423, 432f, 437, 440f, 444 Mensch 5, 42, 46, 99f, 122f, 135, 142, 163, 177, 188, 192, 194, 214, 240, 242, 247, 253, 255, 273, 278, 287, 325, 332, 369, 410, 419, 425, 441, 447, 499-501, 503 Menschensohn 101f, 105, 115f, 132, 308
Messias siehe Jesus Christus Methode 10, 13-15, 73, 75 Moderne 6, 76, 321 Monate 16, 54, 387, 409f, 413, 416, 451, 454, 459f, 463, 491 Mond 281, 317, 336-338, 340, 386, 397-399 Montanismus 25, 43, 57f, 60-62, 187, 201, 232-233 Mord, Mörder 323, 328, 332, 388, 427f, 475 Morgenstern 180, 199f Mose 80, 83, 96, 113, 121, 128, 267, 455, 467, 136-471, 485, 492f Mythos, Mythologie 30, 116, 120f, 271, 337, 412, 429, 455 N Nachfolge (auch Glaubensnachfolge) 72, 153, 254, 371 Naherwartung 43, 64, 66-71, 87, 129, 196, 227, 285, 442 Name 21, 63, 79, 82f, 90, 92, 107, 120, 133, 139, 164f, 168-171, 173f, 176-179, 185f, 201-203, 206, 212-216, 221f, 228, 230f, 276, 282, 295, 301, 317, 326, 335, 353f, 356, 358, 361, 365f, 374, 378, 386, 390, 394f, 414, 494, 500-502 Nation 285f, 307f, 349, 363, 433, 447, 449, 451-453, 458f, 478 Nebukadnezar 80, 304, 308, 476, 489 Nero, Nero redivivus, neronisch 16f, 47, 63, 75, 243, 321, 325 Neue Schöpfung, Neuschöpfung 32, 39f, 48, 50f, 53f, 60, 66, 148-150, 214, 225-231, 260, 281, 305, 315,
Stichwortverzeichnis
333, 355, 364, 370, 374, 392, 486, 492 Neues Testament, NT 14, 29, 39, 50, 52-59, 69f, 74f, 84, 86, 91-93, 99101, 136f, 147f, 152, 154, 158, 161, 168, 181, 189, 212f, 231, 237, 244, 270, 275f, 279-281, 283, 292, 296, 306f, 314, 325, 345, 347f, 379, 384, 401, 426, 429, 461, 463, 477, 482, 492f, 500f Nikolaiten 47, 133, 137f, 144-146, 164, 172-174, 179, 186f, 189, 201, 252, 254 O Offenbarung 36, 41, 77-80, 86-87, 103, 109, 128-129, 175, 265, 408, 451, 466, 499 Öl 317, 325, 464, 466 P Pantokrator 51, 408 Panzer 387, 411f, 421 Papst, Papsttum, Papstkirche 66, 68, 71, 450 Papyri 414, 428 Papyrusrolle, Pergamentrolle, Schriftrolle, Rolle 112f, 287-290, 340, 379f, 422, 445 Paradies 133. 147-149, 229, 313, 331 Partei 58, 181, 185, 196 Parusie 34, 65, 87 Patmos 105, 109f, 134, 169, 394, 437, 458, 460 Paulinismus 74, 145, 202 Paulus 21, 40, 43, 46, 54, 67, 92, 95-96, 99, 107f, 110, 116, 122,
535
126, 134, 136-138, 140, 142, 147, 152, 154, 156, 159, 165, 182f, 185f, 191, 194, 199, 202, 205, 207, 209, 211, 218, 221, 228, 235, 237, 239, 253f, 296f, 307, 330, 332, 357, 362, 368, 425, 427, 447f, 461, 477, 500f Pergamon 48, 92f, 105, 113f, 144, 162, 164-167, 170-173, 176, 178f, 181, 189, 193, 200f, 203, 208, 212-214, 217, 221, 235, 252f, Pest, Seuche 191, 317, 323, 326328, 391, 414, 416 Petrus 21, 46, 67, 92, 99, 107-108, 110, 157, 159, 172, 177, 185, 211, 228, 257, 297, 307, 330 Pferd 316f, 319-323, 325-327, 329, 410, 412, 421 Philadelphia 48, 105, 113f, 151, 162, 168, 216-224, 226-233, 235, 252-253 Philosophie 43, 93, 259, 293, 426 Phrygien 235 Pietismus 13, 71, 75 Plage 324, 346, 354, 387, 389, 391f, 398f, 403-405, 407, 421, 423, 427, 452, 469f, 472, 504 Pneumatologie 44 Posaune, (Trompete) 32, 63, 105, 111f, 207, 255, 257, 375-380, 384389, 391f, 394, 397-402, 407, 415, 417f, 431-434, 443, 450, 453, 489f, 493-495, 505 Posaunen-Gerichte 385, 376, 378, 388, 392, 394, 398, 401f, 407, 415, 431, 505 Prädestination 46, 147, 188, 192, 214, 228, 246, 251, 357, 419, 447 Präexistenz 123, 182
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Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Präskript 89, 104 Presbyter 19-22, 24, 28, 56, 59-61, 131, 358 Priester, Priestertum 46, 88, 99f, 117, 130, 160, 178, 186, 198, 262, 264, 286, 305, 307f, 316, 383, 389, 464 Prolog 94, 98, 434 Prophet, Prophetenamt, Prophetie, Seher, Weissagung, Zukunftsweissagung 15, 20, 21, 29-30, 33-39, 45, 47-48, 52-53, 68, 75, 77-78, 80, 84-86, 90f, 99, 102, 106, 113, 115, 122, 128, 137-139, 154, 171, 175, 180, 185-186, 188-190, 194, 195, 200-201, 217, 222, 227, 230, 233, 256, 258, 259, 260, 262, 268, 284, 297, 300f, 308-309, 335, 337f, 340-341, 343, 355, 368, 370, 375, 377, 379, 390, 393, 398, 413, 416, 421, 432-434, 436, 442444, 446-452, 455, 458-459, 462463, 468, 471f, 474, 481f, 494496, 500-502 Psalmen Salomos 33, 197 Pseudonym 21, 32, 34f, 82 Q Qual, Feuerqualen 334, 387, 406, 408, 419, 424, 431, 444, 452, 481 Quellen, Quellenkritik 23, 30f, 60, 68, 74, 104, 145f, 233, 239 Qumran, Qumrangemeinschaft, Qumranschriften 33, 49f, 94, 154, 161, 284, 380, 414, 422, 464, 470
R Rabbinen 49, 127, 171, 189, 332, 414, 427, 467 Rat, Ratsversammlung 263 Rauch 376, 382, 386-387, 403-404, 422f Räucherwerk 285, 305, 329, 376377, 381-382 Rechtfertigungslehre 67, 70 Reformation, Reformationszeit 13, 67, 69, 71, 348, 472, 492 Regenbogen 260f, 432, 435 reich 93, 150, 153, 181, 204, 228, 234, 239, 241, 242, 343 Reich Christi, Reich Gottes 37, 43, 61, 70f, 88, 102, 105, 107f, 152f, 220, 247f, 251, 368, 464, 496f, 499 Reich, Königreich 93, 127, 165, 181, 196, 204, 217, 235, 393, 413, 418, 479 Reichtum 76, 163, 204, 234, 239, 282, 286, 311f, 440, 464 Reinheit 118, 176, 178, 212f, 242, 260f, 276 Reiter 76, 319-323, 325-329, 346, 348, 351, 353, 387, 412, 418, 420422, 424, 429 Religionsgeschichtliche Schule 30, 74, 455, 491 Rest 193, 313, 360, 460 Rohr 451f, 456 Rom 23, 25, 47f, 57f, 61f, 131, 143, 149, 165, 218, 321, 334, 404, 418f, 487 Römisches Reich, Römer 31, 48, 81, 93, 110, 114, 151, 157f, 165, 181, 204, 207, 217, 225, 235, 267, 321, 365, 392f, 398, 404, 418, 429, 476
Stichwortverzeichnis
S Sacharja 54, 102, 265, 285, 300, 316, 320, 322, 348, 390, 453, 464f, 504 Sack 317, 336, 463 Sakramente 68 Sara 191 Sarder 255, 260 Sardes 48, 105, 113f, 162, 166, 202218, 222, 234f, 237f, 240, 242, 249, 252f Satan, satanisch, Teufel 47, 50, 60, 64f, 67f, 150, 153-158, 164, 166168, 170, 178-180, 192-194, 216f, 222f, 226, 232, 281, 292f, 307, 313, 316, 334, 359, 394, 403f, 413, 415, 424, 474 Säule 216, 228 Schale, Schalen-Gesichte 32, 63, 285, 304f, 385, 505 Schlange 194, 328, 387, 424 Schlüssel 105, 126f, 216, 219, 253, 324, 386, 402, 404, 414, 468 Schöpfung 39f, 48, 50f, 53f, 66, 116, 123, 126, 148-151, 214, 228-231, 233, 236f, 250, 254, 260, 270273, 278, 281-284, 291-293, 298, 304-306, 313-315, 318f, 333, 336f, 339f, 351, 262-264, 366, 370, 374, 391, 397, 425, 437, 443f, 492, 496f, 503 Schreiben, Schreibbefehl 105, 113, 127f, 131, 133, 135, 146, 151, 163, 230, 251, 432, 434, 439 Schrift 5f, 14f, 17, 25, 27, 29, 33, 38f, 46, 56, 58, 68, 71, 74, 79, 86, 90, 93, 99, 109, 112, 128, 132, 138, 147, 182, 208f, 214, 310, 332, 335, 393, 396, 463, 470, 477
537
Schriftsinn 64, 70f Schwanz 387, 406, 411, 413, 424 Schwefel 387, 421-423 Schwert 105, 121, 164, 166f, 170, 174, 317, 323, 327f, 475 Schwur 440f, 450 Seele 221, 238, 247, 258, 317, 329333, 346f Semitismus, Hebraismus 49, 191, 401 Sendschreiben 36, 45, 47f, 50, 60, 67, 70, 128-131, 133, 135, 146, 149, 187, 193f, 210, 217, 232, 237, 239, 243-245, 249, 251-254 Seraf, Serafim 270, 274f Seuche, siehe auch Pest 191, 328, 416 Siegel, Siegel-Gesichte 32, 66, 256, 285, 288-291, 293, 296, 301, 303, 307, 316-320, 322-324, 326, 329, 331, 335, 338, 346f, 349f, 352, 354, 364, 375-378, 384-386, 394, 398, 403, 407, 430, 450, 490 Silber 119, 379, 388, 426 Skorpion 386f, 405f, 408f, 413, 424 Smaragd 255, 260f Smyrna 17, 24, 48, 92, 105, 113f, 150, 166, 181f, 195, 203, 208, 217f, 221-223, 227, 231f, 252f Sodom 404, 423, 452, 476-478 Sohn Gottes 40f, 84, 100, 124, 128, 155, 180, 182f, 192, 199, 220, 224, 307, 365 Solözismus 89, 95, 116, 230, 251, 299, 311, 355, 386-387, 436, 464, 496 Sonne 105, 121, 281, 317, 336-338, 340, 350, 371, 386, 397-399, 404, 432, 436
538
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Sonnenweib 69 Sonntag 111 Soteriologie 45, 246, 365 Sprache 20, 22, 26-28, 30, 49f, 61, 63, 89, 113, 121, 161, 209, 211, 214, 251, 257, 280, 285, 288, 300, 307f, 319, 321, 324, 344, 348, 350f, 363, 370, 375, 402, 406, 425f, 433, 447, 449, 452f, 468, 477f Staat 47f, 64f, 179, 225, 252, 289, 323, 363, 415 Stab 121, 180, 197f, 200, 451, 456 Stachel 387, 406, 413, 424, 481 Stamm 285, 294f, 301, 308, 316, 349, 355-359, 363, 455, 464 Standhaftigkeit 44, 119, 136, 152, 158f, 161, 164, 183, 228, 232, 263 Stärke 119, 183, 286, 312, 321, 344, 350, 366 Stein 155, 164, 174, 176-178, 255, 260, 268 Stern 105, 120f, 123, 129-131, 133, 135, 143, 171, 200, 202, 205f, 274, 281, 317, 338-340, 344, 386, 394-399, 402-404, 414 Stier 255, 272 Stiftshütte 114, 175, 228, 305, 331, 371, 381, 417 Stille 375, 377-378, 380, 384 Stimme 105, 111-114, 117, 119f, 174, 234, 246, 255, 257f, 264f, 285f, 290f, 309-311, 317, 324, 331f, 349f, 352, 359, 364, 376, 383f, 386f, 400f, 417, 432f, 435, 438f, 444, 448, 452, 484, 494f, 504 Stirn 230f, 349, 353f, 387, 407
Strafe 192, 244, 326, 328, 423, 468f, 475, 487 Strahlenkranz 255, 260-261, 435 Sühne, Sühnetod 46, 298-299, 302, 307, 315 Sühnopfer 46 Sünde 45, 68, 88, 98, 144, 150, 172, 190, 192, 200, 202, 210, 226, 229, 242, 244, 297f, 307, 316, 344f, 369, 373, 393, 397, 402, 429f, 468-470, 500, 503 Sündenfall 172, 229, 344, 500 Symbolik 123, 127, 370, 375, 409, 487 Synagoge 45, 50, 55, 150, 153-157, 184, 205, 216f, 222-224, 232, 252, 295 T Tadel 131, 133, 139, 141, 144, 151, 162, 164, 171, 173, 180, 184f, 215-217, 231f, 234, 238, 240, 244f Tage 54, 150, 159, 319, 387, 410, 432, 443, 451f, 460, 462f, 468, 478-480, 482f Talmud 49, 228, 241, 359, 427, 468 Taufe, Tauftheologie 23, 64, 100, 257 Täufer, Täufertum 13, 67-70, 73, 349, 404, 454, 472 Tausendjähriges Reich 43, 60-62, 75, 249, 309, 355 Tempel 19, 31, 114, 165-168, 178, 204, 216-218, 228-230, 257, 297, 305, 329, 331, 350, 363f, 369f, 381, 451, 453, 455-458, 460f, 473, 492, 494, 503-505 Tempelzerstörung 31, 492
Stichwortverzeichnis
Testamente der Zwölf Patriarchen 33, 148, 358f Teufelsstaat 64f, 394, 415 Theologie 14, 20, 26, 29, 37, 46f, 56, 63, 70f, 73-75, 99f, 144, 146, 169, 194, 205f, 253, 297, 337, 349, 396, 441 Theophanie, Gotteserscheinung 434-436, 438, 504 Thron 40, 88, 95, 164, 166f, 179, 225, 234, 248f, 250f, 255-262, 264-266, 268-270, 275, 277-279, 283-288, 290f, 296f, 299, 301304, 307, 309-311, 313-315, 318f, 344, 350, 363-365, 367, 369f, 372, 376, 378, 381f, 417, 435, 438, 494, 497 Thronsaal 256, 258, 268, 329 Thyatira 47, 67, 105, 113f, 162, 171, 180-190, 193-197, 199-203, 208, 212-214, 217f Tobit 33, 378, 382 Tod, Totenwelt 40, 97, 99, 105, 125127, 132, 159, 162f, 180, 190192, 207f, 215, 249, 293, 307, 316f, 326-328, 347, 387, 403, 410, 414, 468, 478-480, 482, 485, 493 Ton 198 Tora 38, 56, 154, 323, 328 Totenreich, Hades, Scheol 107, 126f, 132, 293, 317, 326-328, 403, 414 Tradition 6, 24, 26, 33, 37, 53, 55, 59, 67, 71, 115, 121, 130, 138, 145f, 155, 170, 175, 263, 268, 271, 278, 282, 320, 369, 378, 384, 400, 409, 455, 457, 470f, 476, 486, 504f
539
Treue 44, 51, 72, 96, 150, 158-161, 163, 180, 183, 193-196, 198f, 212f, 218, 221, 232, 236, 254, 263, 322, 330, 369 Trinität, Dreieinigkeit 41, 44, 95, 100, 182, 284, 303, 314-315, 362, 441 Trompete, siehe auch Posaune 112, 378-380, 399, 495 Trost 51, 103f, 120, 123, 157, 159, 163, 194f, 224, 226f, 281, 286, 294, 362, 374, 383, 403, 419, 431, 443, 447, 451, 455, 458 Tür 87, 216, 220, 233f, 245-247, 249f, 255, 257 Typologie 143, 149, 171, 226, 254, 342, 451 U Überlieferung, Überlieferungsgeschichte 18, 22-24, 30, 85, 110, 115, 128, 197, 210, 241, 453, 468 Überwinder 133, 147, 149f, 174, 177f, 197-200, 214, 228-231, 249, 263, 333, 364 Überwinderspruch 46, 129, 146, 150f, 160, 162, 164, 174, 180f, 196f, 202, 216f, 228, 234, 248, 252, 309 Unzucht 145, 172, 178f, 189, 212, 252, 388, 427-429 V Vater 28, 40f, 65, 79f, 83, 88, 94100, 103, 118, 126, 135, 146, 151, 176, 180, 182, 199, 203, 209, 214, 219, 231, 234, 237, 248, 266, 296f, 299, 301-303, 307, 309,
540
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
311-315, 324, 345, 354, 363, 365, 372, 462, 466, 496, 498 Venus 199 Verfolgung, Trübsal 16, 39, 47f, 50, 52-54, 64, 68, 136, 139, 152f, 156-159, 166f, 169f, 178-180, 184, 187, 190, 207, 215, 221-223, 225, 227, 232, 240, 249, 252, 331, 334, 350, 362, 368f, 374f, 382, 392, 408, 423, 429, 454, 467 Verführung 52, 139, 167, 178f, 215, 362, 406, 416, 430 Verheißung 40, 49-51, 61f, 71, 99, 133f, 148-151, 160, 162, 174, 176-179, 196f, 199, 202, 212-215, 225f, 228-230, 234, 236, 245, 248, 251, 254, 295, 354, 372, 442, 444, 453, 455, 462, 472, 493, 500 Verkündigung 33f, 39f, 48, 51f, 73, 83f, 86, 100, 109, 113, 115, 122, 138, 186, 205, 209, 250, 253, 326, 345, 430, 437, 455, 463, 468, 471, 479, 481, 483, 485, 492, 497, 500f Versuchung 82, 159, 216, 224-226, 231 Vision, Gesicht, Schau 31f, 34, 36, 63, 106, 113, 117, 129, 132, 256f, 261, 267, 269, 285, 287, 290, 311f, 315, 318, 320, 329, 348, 351, 362, 364, 376, 385, 387f, 394, 421, 432-434, 439f, 458, 460, 491, 495 Visionär 34, 36, 65, 68f, 256, 312 Volk 50, 99, 112, 120f, 131, 170, 174, 224, 262f, 271, 279, 282, 305f, 308, 350f, 355, 362f, 374f, 379f, 400, 410, 445, 460f, 465, 474, 483, 486, 497, 500, 504f
Vollendung der Geschichte 42, 313, 443 Vollmacht 20, 98, 128, 151, 197, 248, 402f, 406, 408, 466, 468-472 Vorhof 429, 451, 453, 456-460, 492 W Waage 317, 323f Wagen 319, 387, 412, 420 Wahrheit 37, 39, 41, 44, 96, 158, 205, 223, 228, 232, 268, 413, 459, 462, 474 Wasser 105, 119f, 237f, 281, 292, 350, 372f, 386, 394, 396f, 402, 423, 469 Wehe 32, 54, 140f, 386-388, 399, 401, 415, 452f, 455, 489f, 493, 505 Wein 317, 325 Weisheit 72, 191, 197, 236, 241, 286, 310f, 350, 366 Weizen 317, 324f Welt 54, 93, 107, 111, 120, 124, 139, 143, 150, 152, 158, 161, 176, 179, 182, 194, 200, 214, 219, 228, 236, 256-257, 262, 268, 279, 297, 306, 314, 337, 339, 341, 345, 347, 370, 383, 393, 407, 443, 454-455, 459, 464-466, 476-480, 487, 493-494, 496, 499 Weltgeschichte 192, 256, 295, 344, 389, 408, 443 Werk 28, 30-32, 34f, 37, 57, 62, 133, 135f, 139f, 142, 144, 152, 154, 168, 180, 183f, 190, 192, 196, 202, 206, 209, 216, 220, 233, 237, 253, 318, 387, 425, 501 Wermut 386, 394-396, 446
Stichwortverzeichnis
Wesen 83, 96, 131, 174, 255, 261, 264, 268-277, 279f, 282f, 285f, 294, 296f, 303f, 306, 308-310, 312, 314-317, 319, 322-324, 350, 365, 368, 411, 424, 497f Wiederkunft 39, 43, 53f, 60, 64f, 69, 72, 79, 94, 97, 102, 112, 142, 196, 211, 227, 231-232, 246, 309, 337, 341, 471f, 483 Wille 46, 51, 55, 80, 96, 103, 139, 141, 147, 158, 188, 196, 209, 228, 245, 255, 269, 275, 280-282, 291, 310, 313, 319f, 333, 335, 363, 378, 389f, 410, 413, 425, 447, 451, 481, 500, 503 Willensfreiheit, siehe auch Prädestination 46, 51, 55 Wind 317, 338, 349, 351-353 Wolke 88, 101f, 340, 382, 405, 432, 435, 436, 452, 484f Wort Gottes 5, 44, 51, 77, 83-85, 105, 109, 159, 236, 317, 330, 335, 441, 445, 462, 466-469, 482 Wunder, Wunderzeichen 88, 125, 175, 201, 207, 267, 306, 365, 408, 470, 472, 481-485, 493 Würde 83, 97f, 116, 127f, 132, 155, 183, 186, 259, 285, 291-294, 301f, 304, 307, 311, 335, 364, 372, 400, 438, 441, 462 Z Zahl 32, 34, 54, 72, 90, 285f, 310f, 334f, 350, 355, 357, 420f, 479, 487 Zahlen 1 10, Zehn 54, 159, 310, 487 12, Zwölf 54, 249, 362
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1000, Tausend 54, 64-67, 71f, 362, 442, 450 12000, Zwölftausend 349, 356f 144000, Hundertvierundvierzigtausend 54, 349, 355, 357, 360362 3 3, Drei 54, 65f, 362, 422, 490 3½, Dreieinhalb 54, 69, 452, 454, 459, 461, 478-480, 482-483 4 4. Esra 49 4, Vier 54, , 270, 273, 275, 314, 320, 349, 351, 362, 418 42, Zweiundvierzig 54, 451, 459f, 463 6 666, Sechshundertsechsundsechzig 54, 60f, 72, 75, 340 7 7, Sieben, Siebenzahl 32, 36, 41, 44, 48, 54, 66, 67, 90-91, 95, 105, 113-115, 117, 120, 123, 255-256, 265, 285, 288-290, 299-301, 310, 318, 342, 366, 375-380, 385, 438, 479, 487f 7000, Siebentausend 452, 486f, 487 Zähne 387, 411f Zauberei, Zauberer 185, 388, 427f Zeichen 102, 160, 175, 177, 231, 259, 261, 263-265, 323, 336f, 339, 354, 364, 379, 445, 463, 470, 472, 484, 486-488, 504 Zeit 51, 54, 67, 77, 87, 123, 125, 159, 180, 185, 188, 198f, 225, 276f, 314, 317, 321, 333-335, 347, 391, 432, 441-443, 492, 500, 505
542
Die Offenbarung des Johannes Kapitel 1-11
Zeitalter, Epoche 65f, 70-72, 149, 201, 227, 233, 252, 254, 265, 348, 368, 486, 492f Zeitgeschichte 14, 16, 35, 38, 74f, 242, 250, 321f, 429, 453, 475, 491 Zeuge 21, 28, 46, 64, 67, 69-71, 77, 83f, 88, 96, 164, 168-170, 233, 236, 250, 252, 254, 257, 290, 299, 366, 385, 451-455, 462f, 465-475, 478-481, 483-488, 492f Zeugnis 17, 21, 24f, 29, 44, 52, 61, 77, 83f, 94, 105, 109, 150, 214, 218, 317, 329f, 427, 452, 464, 472-474, 478, 381, 485
Zorn 29, 318, 344f, 429, 431, 494, 499f Zorn des Lammes 318, 344f Zorn Gottes 29, 431, 499f Zukunft 14, 38f, 42, 50f, 72, 78-81, 86, 88, 91, 94, 113, 122, 125, 128f, 132, 148, 157, 136, 186, 215, 217, 220, 222, 254-256, 258, 277, 285, 289f, 302, 347f, 354, 384, 397, 407, 415, 430, 446-448, 457, 461f, 492f Zuversicht 103