Die Offenbarung des Johannes: Neubearbeitung 9783666513879, 9783525513873, 9783647513874


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Die Offenbarung des Johannes: Neubearbeitung
 9783666513879, 9783525513873, 9783647513874

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I

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525513873 — ISBN E-Book: 9783647513874

II

Das Neue Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk In Verbindung mit Horst R. Balz, Jürgen Becker, Peter Lampe, Eduard Lohse, Ulrich Luz, Helmut Merkel, Eckart Reinmuth, Wolfgang Schrage, Nikolaus Walter und Ulrich Wilckens herausgegeben von Karl-Wilhelm Niebuhr und Samuel Vollenweider

Teilband 11

Die Offenbarung des Johannes

Vandenhoeck & Ruprecht

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III

Die Offenbarung des Johannes

Übersetzt und erklärt von Traugott Holtz Herausgegeben von Karl-Wilhelm Niebuhr

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. I SBN 978-3-525-51387-3

© 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Dörlemann-Satz, Lemförde. Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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V

Inhalt

Inhalt Einleitung A

1, 1–3

Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

B

1, 4–22, 21

Der Offenbarungsbrief . . . . . . . . . . . . .

15

I I1 I2

1, 4–16 1, 4–8 1, 9–16

Präskript und Proömium Präskript . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Empfang der Offenbarung . . . . . . .

20 20

II

1, 17–3, 22

II 1 II 2 II 2. 1

1, 17–20 2, 1–3, 22 2, 1–7

II 2. 2

2, 8–11

II 2. 3

2, 12–17

II 2. 4

2, 18–29

II 2. 5

3, 1–6

II 2. 6

3, 7–13

II 2. 7

3, 14–22

Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beauftragung . . . . . . . . . . . . . . Die Sendschreiben . . . . . . . . . . . . . Das Sendschreiben an die Gemeinde in Ephesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sendschreiben an die Gemeinde in Smyrna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sendschreiben an die Gemeinde in Pergamon . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sendschreiben an die Gemeinde in Thyatira . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sendschreiben an die Gemeinde in Sardes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III

4, 1–22, 5

III 1 III 2

4, 1–11 5, 1–14

III 3 III 3. 1 III 3. 1. 1

6, 1–20, 10 6, 1–8, 15 6, 1–8

Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott, das Fundament der Welt . . Das Lamm, der Herr der Geschichte . . . . . . . Der Lauf der Geschichte . . . . . . . Die sieben Siegel . . . . . . . . . . . . . Die ersten vier Siegel . . . . . . . . .

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25 30 30

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33

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35

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38

...

40

...

42

...

45

...

47

..... .....

50 53

. . . .

54 58 63 63

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

VI

Inhalt

III 3. 1. 2

6, 9–11

III 3. 1. 3

6, 12–17

III 3. 1. 4

7, 1–17

III III III III III III III III III III

7, 1–8 7, 9–12 8, 1–5 8, 6–11, 19 8, 6–13 9, 1–21 10, 1–11 11, 1–13 11, 14–19 12, 1–14, 20

3. 1. 4. 1 3. 1. 4. 2 3. 1. 5 3. 2 3. 2. 1 3. 2. 2 3. 2. 3 3. 2. 4 3. 2. 5 3. 3

III 3. 3. 1

12, 1–17

III 3. 3. 2

12, 18–13, 18

III 3. 3. 3

14, 1–20

III 3. 4

15, 1–19, 21

III 3. 4. 1

15, 1–4

III III III III III

15, 5–16, 21 Kap. 17–19 17, 1–18 18, 1–24 19, 1–10

3. 4. 2 3. 4. 3 3. 4. 3. 1 3. 4. 3. 2 3. 4. 3. 3

III 3. 4. 3. 4 19, 11–21 III 3. 5 20, 1–15 III 3. 5. 1

20, 1–10

III 3. 5. 2 III 4 III 4. 1

20, 11–15 21, 1–22, 5 21, 1–8

III 4. 2

21, 9–22, 5

Das fünfte Siegel – das Geschick der Märtyrer . . . . . . . . . . Das sechste Siegel – der Untergang der Welt . . . . . . . . . . . . . Die 144 000 Versiegelten – die Schar der Geretteten . . . . . . . . . . . . Die Siegelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ungezählte Schar der Erlösten . . . . . Das siebente Siegel . . . . . . . . . . . . . . . . Die sieben Posaunen . . . . . . . . . . . . . . . Die ersten vier Posaunen . . . . . . . . . . . . Die fünfte und sechste Posaune . . . . . . . [Der starke Engel und das Büchlein] . . . Der Tempel und die zwei Zeugen . . . . . Die siebente Posaune . . . . . . . . . . . . . . [Beginn und Ziel der Geschichte des Christus Jesus und der seiner Gemeinde] [Die Geburt des Kindes und der Sturz des Drachen] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Drache – das Tier aus den Meer und das Tier aus dem Land . . . . . . . . . . Das Ziel der Geschichte im Horizont der Posaunen-Vision . . . . . . . . . . . . . . . [Letzte Visionen betreffs der Weltgeschichte] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Lied des Mose und des Lammes – Vorspiel der letzten sieben Plagen . . . . . Die sieben Zornesschalen . . . . . . . . . . . Die Kulmination der Geschichte . . . . . . [Die gottlose Macht] . . . . . . . . . . . . . . . Der Untergang der Stadt . . . . . . . . . . . . Die Feier des Sieges Gottes und des Lammes im Himmel . . . . . . . . . . . . . . . Der Reiter auf dem weißen Pferd . . . . . . Das tausendjährige Reich und sein Ziel (das letzte Gericht) . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bändigung Satans über das tausendjährige Reich . . . . . . . . . . . . . . . [Das Gericht über die Welt] . . . . . . . . . Die neue, heile Welt Gottes . . . . . . . . . . Der Anbruch des Neuen unter dem Wort Gottes . . . . . . . . . . . . . Das Gesicht des Neuen Jerusalem . . . . .

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65 67 68 68 71 72 74 74 76 79 82 88 89 89 95 101 108 108 109 113 113 117 121 123 127 127 131 132 135 141

Inhalt

IV IV 1

22, 6–21 22, 6–20

IV 2

22, 21

VII

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Die Wahrheit der Zukunft – der Herr Jesus kommt . . . . . . . . . . . . . . 141 Schlußgruß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Inhalt

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Vorwort Als Traugott Holtz unerwartet am 3. Juli 2007 starb, hinterließ er einen fast vollendeten Kommentar zur Johannes- Offenbarung. Dem Herausgeber oblag es lediglich, die Korrektur und Überarbeitung des Manuskripts in der Weise zu Ende zu führen, wie sie an den vom Autor selbst noch abschließend überarbeiteten Seiten erkennbar war. Darüber hinaus war das Manuskript lediglich formal abschließend zu bearbeiten; Literaturverzeichnis, Abkürzungsverzeichnis und Stellenregister waren zu erstellen und mehrere Korrekturgänge durchzuführen. Dabei erfuhr der Herausgeber wertvolle Hilfe durch seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Franz Tóth. Franz Tóth überprüfte zudem gründlich die Übersetzung und sämtliche Stellennachweise. Das Stellenregister erstellte stud. theol. et phil. Alexander Lucke. Einleitung und Kommentierung hat Traugott Holtz dem Format des NTD entsprechend ganz ohne explizite Verweise auf die Sekundärliteratur gehalten. Gleichwohl war ihm die Forschung zur Johannesoffenbarung bis in die jüngste Zeit hinein gegenwärtig, wie sich an seinem großen Literaturbericht in der „Theologischen Rundschau“ von 1997 und an einer Reihe von einschlägigen Rezensionen in der „Theologischen Literaturzeitung“ seither zeigt. Die Literaturhinweise am Schluß des Kommentars gehen von den Werken aus, die Traugott Holtz bei der Kommentierung ständig bei der Hand hatte, und ergänzen lediglich in den Rubriken „Neuere wichtige Literatur“ und „Sammelbände zur Johannesoffenbarung“ einige Titel aus jüngster Zeit, um weiterführende Zugänge zur aktuellen Forschung zu erleichtern. Dass sich das wissenschaftliche Werk des verehrten Lehrers, das mit seiner Dissertation über „Die Christologie der Apokalypse des Johannes“ (TU 85, Berlin 1962, 2. Aufl. 1971) einsetzte, mit dem nunmehr vorliegenden Kommentar zur Johannesoffenbarung vollendet hat, erfüllt den Schüler mit tiefer Dankbarkeit. Nachdem sich Traugott Holtz um seinen 70. Geburtstag herum entschlossen hatte, die Kommentierung für „Das Neue Testament Deutsch“ in der Nachfolge des verdienstvollen Kommentars von Eduard Lohse zu übernehmen, hat er in den folgenden mehr als fünf Jahren kontinuierlich an dieser Auslegung gearbeitet. Wenige Monate vor seinem Tod signalisierte er deren bevorstehenden Abschluß. Das Manuskript, das auf seinem Schreibtisch liegen geblieben war, als er sich zu einer an sich harmlosen Operation ins Krankenhaus begab, hatte er noch bis Kap. 9 korrigiert und überarbeitet, dazu die Einleitung und die Über-

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Vorwort

setzung. Diese Übersetzung, die ganz in der ihm eigenen, ausgetretene Bahnen der Textwiedergabe vermeidenden, aber immer sehr sorgfältig bedachten und präzisen Diktion gehalten ist, verdient sicher die besondere Beachtung der Benutzer des vorliegenden Kommentars. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Traugott Holtz in der Gewißheit des Glaubens an Jesus Christus, den Herrn der Geschichte und Heiland der Welt, gestorben ist, von dem seine Auslegung des letzten Buches der Bibel Zeugnis ablegt. Requiescat in pace! Markkleeberg, Ostern 2008

Karl-Wilhelm Niebuhr

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Einleitung

1

Einleitung 1. Das Problem der Gattung Der Offenbarung des Johannes wird in der Regel sowohl i n den Bibelausgaben als auch in der wissenschaftlichen Beurteilung ihrer literarischen Eigenart mit Blick auf das übrige Neue Testament eine singuläre Stellung zugewiesen; sie wird einer eigenen, spezifischen Gattung zugeordnet, den „Apokalypsen“. Das erste ist zweifellos berechtigt, das zweite hingegen problematisch. Trotz intensiver und durchaus anregender Versuche ist es nicht gelungen, eine literarische Gattung „Apokalypse“ überzeugend zu definieren. Der Name der „Gattung“ ist aus dem ersten Wort unseres Textes abgeleitet, in dem es indessen keine literarische Bedeutung hat oder beansprucht, sondern den Inhalt dessen benennt, was im Folgenden von dem Verfasser des Buches bezeugt wird, „Offenbarung (d. h. Enthüllung der wahren Wirklichkeit) Jesu Christi“. Freilich ist das Wort (in Abhängigkeit von Offb) hernach zu einer Bezeichnung für Schriften geworden, indessen für Texte sehr unterschiedlicher literarischer Gestalt, hat also inhaltliche, nicht gattungsdefinierende Bedeutung (s. z. B. die „Apokalypsen“ des Jakobus, Petrus, Adam in den Nag-Hammadi-Texten). Eine auch nur umrißhafte gemeinsame Form für die Texte, auch für die, die sich ausdrücklich „Apokalypse/Offenbarung“ nennen, ist nicht erkennbar. Und das gilt ebenso für vorchristlich-jüdische Schriften, die wir so nennen (Dan, 1Hen oder gar Jub, TestXII). Nur durch literarkritische Operationen lassen sich aus ihnen Texte gewinnen, die einer zuvor definierten Gattung „Apokalypse“ entsprechen. Doch auch wenn man der Annahme, es habe in der Zeit um die Entstehung der Offb im jüdisch-christlichen Bereich eine eigenständige literarische Gattung „Apokalypse“ gegeben, skeptisch gegenübersteht, darf man doch nicht übersehen, daß es in ihrem literarischen und historischen Umfeld zahlreiche und gewichtige Texte gab, die entweder in sie prägendem Maße oder doch in bestimmten Teilen Partien enthalten, die wir als „apokalyptisch“ bezeichnen. Sie haben Enthüllungen über die Welt und ihre Geschichte in deren Beziehung zu Gott und seiner Welt zum Inhalt, die dem gleichsam normalen Blick verborgen sind und dabei von einer ihnen gemeinsamen Beurteilung solcher Beziehung (wenigstens in ihrer Grundlage) geprägt sind. Sie finden sich in Schriften der verschiedensten Arten und Gattungen der jüdisch-christlichen Literatur, in einem frühesten Beispiel in der sog. „Jesaja-Apokalypse“ Jes 24–27 (vgl. Sach 9–14), in den

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Einleitung

Evangelien in der „synoptischen Apokalypse“ Mk 13 par., bei Paulus 1. Thess 4, 15–17. Andererseits enthalten alle überkommenen Schriften, die der Gattung „Apokalypse“ zugerechnet werden und von denen her sie definiert wird, wesentliche Partien, die ganz anderen Charakters sind, im 1Hen etwa das „astronomische“ Buch (Kap. 72–82), in Dan die ersten sechs Kapitel mit der Daniel-Erzählung, in Offb die sieben Sendschreiben (Kap. 2 f.). Die Offb ordnet sich überdies als Ganze klar und betont einer ganz anderen Gattung zu, nämlich der durch Paulus „autorisierten“ Form des Gemeindebriefes. Dieser Befund drängt zu dem Urteil, daß es eine eigene selbständige Gattung „Apokalypse“ in der fraglichen Zeit nicht gegeben hat, sondern „apokalyptische“ Texte (stets) – beherrschend oder nur peripher – in die literarische Produktion ihrer Verfasser integriert worden sind. Das bedeutet zugleich, daß sie von der sie jeweils umgebenden geistigen, theologischen Umwelt nicht isoliert gewesen sind, sondern ihr zugehörig, wenn auch in durchaus differenzierter Akzentuierung, nicht aber ohne Partizipation an und im Austausch mit ihr. Besonders hervortretendes Element „apokalyptischer“ Theologie ist zunächst ein ausgeprägter „Dualismus“ hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der gegenwärtigen geschichtlichen Welt und Gott und seiner Welt („dieser Äon – jener Äon“), ohne indessen in religionsgeschichtlich genauer Weise den Monotheismus preiszugeben (erst Markion wird das tun und scheidet damit aus dem jüdisch-christlichen Konsens aus); Gott bleibt der Grund (als Schöpfer) und die Hoffnung (als Erlöser) der Welt, die Erfahrung der Gegenwart aber wird bestimmt von der Herrschaft der gegengöttlichen Gewalt der sich selbst als göttlich wähnenden Machthaber der Erde. Die als krisenhaft empfundene Zuspitzung des Konflikts der widergöttlichen Macht der Welt mit dem Anspruch Gottes auf seine Herrschaft und der überwältigenden Erfahrung geschichtlicher Ohnmacht seiner Anhänger nährt die glaubende Erwartung an das (baldige) endgültige Eingreifen Gottes in den katastrophalen Verlauf der Geschichte, der „alles neu machen“ wird (Offb 21, 5). Die gegenwärtige Geschichte der Welt freilich ist nicht mehr zu retten, die Heilshoffnungen und -erwartungen werden transponiert in eine radikal andere Welt, deren Kontinuität mit der Einen Welt, die der Eine Gott schuf, sich darin manifestiert, daß in ihr die prophetisch angesagten Heilszusagen Gottes in Erfüllung gehen. Offb zeigt dieses letztgenannte Element „apokalyptischer“ Theologie in besonders ausgeprägter Weise, indem ihr Aufdecken dessen, „was geschehen wird in Bälde“ (1, 1), weitestgehend in Worten der Schrift ergeht. Schon die ursprünglichen Heilsworte der Propheten haben in hohem Maße metaphorischen Charakter; das gilt um so mehr für ihre „apokalyptische“ Fortschreibung. Ohnehin kann, bedingt durch den bereits angesprochenen Geschichtsdualismus, mit Blick auf „apokalyptische“ Wirklich-

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Einleitung

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keit nur metaphorisch geredet werden, da scharf zwischen den beiden Welten, zwischen diesem Äon und dem kommenden Äon, geschieden werden muß. Deren Parallelität ist freilich insofern ungleichgewichtig als der gegenwärtige Äon radikal temporär begrenzt ist durch den end-gültigen, eschatologischen Einbruch des kommenden Äons, dieser aber als die Welt Gottes doch auch schon vorgreifend gegenwärtig ist in der zeitübergreifenden Existenz Gottes (s. Offb 1, 4. 8 u. ö.), nämlich in seinem Wort, seinen Verheißungen, in seinem Volk. Darin bewahrt sich die überkommene jüdische Identität derer, die sich mit dem „dualistischen“ Geschichtsverständnis der nachexilischen Zeit des Judentums in steigendem Maße religionsgeschichtlichen Einflüssen einer sich neu formierenden Umwelt öffneten. Ein solches Amalgam aus Krisenerfahrung und die Aufnahme dualistisch fundierter transzendenter Elemente in das Weltverständnis ist offenbar der Nährboden „apokalyptischer“ Vorstellungen. Dem entspricht historisch, daß „apokalyptisches“ Denken und sein literarischer Niederschlag in der Periode der jeweils zwei Jahrhunderte um Christi Geburt sich besonders intensiv im Bereich des östlichen Mittelmeers entfalteten. Es ist vielleicht etwas überspitzt, sicher aber nicht ganz verfehlt, von einem Quantensprung des gesamten Denkens und Fühlens, veranlaßt durch den Schock der geistigen und politischen Hellenisierung dieses gesamten Raumes (einschließlich Ägypten), zu sprechen. Freilich wirken deutlich Elemente und Anstöße älterer Entwicklungen nach (z. B. Ez; Sach; Jes [24–27; 63–65]), wie denn auch in späteren Zeiten – bis in die Gegenwart – „apokalyptische“ Texte und Vorstellungen sich entfalten. In der Zeit um die Entstehung unserer Offb jedenfalls spielen sie in weiten Teilen des religiösen Denkens und Fühlens eine gewichtige Rolle und dringen in die Literatur in z. T. erheblichem Maße ein, immer aber in Verbindung mit theologischen Elementen, die die Texte als ganze als einer breiteren (Glaubens-)Gemeinschaft zugehörig ausweisen. 2. Charakter der Offb Diesem Milieu gehört Offb zweifellos zu und teilt mit ihm wesentliche Grundlagen. Das betrifft vor allem das Welt- und das heißt hier das Geschichtsverständnis. Die Welt ist von Gott geschaffen und findet in ihm ihr Telos, ihr Ziel und Ende. Die Gegenwart aber steht weitgehend unter der Gewalt der gegengöttlichen Mächte, deren Herrschaft sich katastrophal steigert, zugleich aber auch seinem Ende durch den richtenden und erlösenden Zugriff Gottes bzw. seines Beauftragten ganz nahe ist. Nur ein Rest, eine auf das äußerste bedrängte Schar treuer Knechte Gottes hält

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dem Ansturm des Bösen stand, Zeugen und Bürger der Zukunft des Gottesvolkes. Daß all das in Wahrheit doch unter der Macht Gottes steht, offenbart sich darin, daß sich in dem gesamten Geschehen nichts anderes vollzieht, als was in der Schrift seit jeher über die Geschichte Gottes und der Welt angesagt ist; die Ansagen der Propheten in Verheißungen und Drohungen vollziehen sich in den Erfahrungen der Gegenwart. Der Verfasser der Offb ist offenbar bestrebt, den von ihm Angeredeten die Erfahrungen, die sie in der gegenwärtigen Welt erleiden, durch die Fülle der sich in ihrer und seiner Tradition anbietenden prophetischen Metaphern als die verheißene Geschichte Gottes mit ihnen zu erschließen. Darin dürfte die erdrückende Fülle der „apokalyptischen“ Schilderungen dessen begründet sein, was über die Welt hereinbricht, wie ebenso die Fülle der Gottes- und Christusprädikationen und auch der Heilsverheißungen für die, die Teilhaber der Gottesherrschaft sind und werden. Die aufeinander folgenden Plagenreihen haben gewiß keine streng zeitliche Abfolge innerhalb einer festgelegten Endgeschichte im Blick; sie erschließen die Geschichte der Rezipienten des Buches unter immer neuen Aspekten und Perspektiven, um ihre volle Wirklichkeit offenbar zu machen. Es ist ein Zeichen gestalterischer Kraft, daß Johannes die Fülle der Traditionen, die er aufzuarbeiten sich gedrungen fühlt, in eben der Form zu bändigen vermochte, wie sie in seinem Werk vorliegt. Der Vergleich mit anderen uns überkommenen „Apokalypsen“ läßt das eindrücklich erkennen. Die literarische Gestaltung des gesamten Buches dient einer aktuellen Deutung des Überkommenen aus dem Glauben daran, daß die Geschichtsherrschaft Gottes in Jesus Christus endzeitlich gültig Gestalt gewonnen hat. Offb ist nicht eine gerade so eben christlich eingefärbte jüdische Apokalypse, sondern ein vom Christus- Glauben von Anfang bis Ende wesenhaft bestimmtes Buch, dessen Ziel es ist, die in „apokalyptischer“ Gestalt artikulierten Erwartungen des Judentums als in der Christus- Geschichte erfüllt aufzuweisen. Offb dient vornehmlich dazu, den Glauben der Gemeinde(n) und ihrer Glieder zu bestärken und sie ihrer eigenen Geschichte zu vergewissern angesichts der gegenwärtigen geschichtlichen Bedrängnisse als der Geschichte des Einen, mit sich selbst identischen Gottes, der immer schon durch die Propheten sich seinem Volk offenbarte – gewiß auch der Synagoge gegenüber. So ist Offb primär ein Buch, das den Glauben an Gott angesichts der Gewalt einer gottwidrigen Welt festigen will; daß es dadurch auch ein Trostbuch ist oder werden kann, ist gewiß richtig, auch wenn darin nicht ihr eigentliches Ziel liegen dürfte.

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3. Formen Die Briefform der Offb fügt sich überraschend genau in das Schema der Paulus- und der sich seines Namens bedienenden Briefe aus der Zeit der frühen christlichen Gemeinde ein. Das muß als eine bewußte Entscheidung verstanden werden. Denn der Inhalt und Charakter der Schrift legt die Briefform als solche nicht nahe, schon gar nicht diese besondere. Jak 1, 1; Apg 15, 23; 23, 26, auch die Ignatius-Briefe weisen eine ganz andere Form auf, erst recht die Gemeindebriefe Offb 2 f. Johannes setzt offensichtlich ebenso wie die nachpaulinischen Briefe – nicht nur Eph oder die Pastoralbriefe sondern wohl auch 1. u 2. Petr – die Autorität des Paulus in den von ihm angeredeten Gemeinden voraus und sieht sie manifestiert vor allem in der auf ihn gründenden Kommunikationsform des „Apostel“-Briefes. Er benutzt sie für die Befestigung der eigenen Autorität. Das setzt voraus, daß er sich selbst versteht als in einer Linie mit dem Apostel stehend. Das muß freilich nicht – entgegen manchen Erwartungen – heißen, daß er paulinische Theologie gleichsam mit anderen Mitteln fortsetzen wollte oder gar müßte; auch ist nicht zu erwarten, daß er sich in irgendeiner Weise ausdrücklich auf Paulus (literarisch) beziehen müßte – das tut er selbst „seiner“ Bibel, dem Alten Testament gegenüber nicht. Aber er bezeugt das „Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi“ (1, 2), wie es die „Heiligen, Apostel und Propheten“ (18, 20; vgl. konträr 2, 2) taten (zu denen, wie wir annehmen dürfen, für ihn Paulus gehörte – ebenso wie Petrus). Wegen dieser (autoritätsstiftenden) Funktion der Briefform darf nun aber auch diese nicht in Richtung konkreter epistolographischer Kommunikation überdehnt werden. Offb hat nicht primär einen dialogischen als vielmehr einen anredenden Charakter. Natürlich spricht sie damit gleichzeitig in eine von ihr wahrgenommene bestimmte Situation hinein, die auch – wenigstens hypothetisch – erkennbar ist und die bei der Auslegung bedacht werden muß. Am deutlichsten tritt diese in den sieben Sendschreiben Kap. 2 f. zutage. Sie haben eine feste Form, die sich bei allen von ihnen durchhält, die sich aber sonst in der vergleichbaren Literatur so nicht nachweisen läßt. Freilich gibt es dort „Himmelsbriefe“, die aber kein Formschema bereitstellen, nach dem die vorliegende Reihe gleichartiger, aufeinander bezogener Schreiben der Offb (vgl. bes. die „Weckrufe“ 2, 7 usw., aber auch die Absenderangaben mit ihrem Bezug auf 1, 12 ff.) gebildet sein könnten. Ein Vorbild mögen vielleicht feste Redeformen urchristlicher Propheten gewesen sein, doch wissen wir über diese in Wahrheit nichts, bleiben mithin in bloßen Vermutungen hängen. Daß die Sendschreiben als ganze in der Form der Offb von deren Verfasser selbst stammen, ist nicht zweifelhaft; sie sind literarisch unlöslich mit den übrigen Teilen des Buches verbunden.

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Das gleiche gilt auch für alle anderen Abschnitte, die einen mehr oder weniger starken Eindruck einer gewissen Selbständigkeit machen, angefangen von der Epiphanie 1, 12–20 über die Theophanie Kap. 4 bis hin zur Beschreibung des Neuen Jerusalems 21, 9–22, 5. Sie mögen z. T. zunächst selbständig ausgearbeitet sein, jedenfalls unter Verwendung dem Verfasser überkommenen Traditionsmaterials unterschiedlichen Charakters und zu verschiedenen Zeitpunkten; aber alle sind sie von Johannes bearbeitet und (erst) durch ihn zu einem einheitlichen Werk zusammengefügt worden, ohne daß man wirklich begründet zwischen zwei oder mehr selbständigen Stufen („Auflagen“) unterscheiden könnte. Daß zu den überkommenen Traditionen, die Johannes in die Gestaltung seines Buches einarbeitet, auch solche der christlichen Gemeinde (bis hin zur Jesus-Überlieferung; s. z. B. 3, 3; 16, 15) gehören, ist selbstverständlich und hat in christologischen Aussagen zentrale Bedeutung. Gerade dort aber zeigt sich der eigene reflektierte Umgang mit der überkommenen Tradition besonders deutlich. Ein hervorstechendes literarisches Organisationsprinzip ist die Sieben, auch wenn die Stoffülle nicht zwingend durch sie beherrscht zu sein erscheint. Dazu entfaltet diese zu stark eine eigene Dynamik, die auf Vollständigkeit drängt. 4. Das visionäre Element Mit der Frage nach der Form verbindet sich die nach dem visionären Element, das der Verfasser für seine Darstellung beansprucht. Sie zu beantworten ist überaus schwierig, in jedem Fall nur mehrschichtig möglich. Ein Blick etwa in die erste Ausgabe der vollständigen Lutherbibel von 1534 zeigt, daß kein anderes Buch der Heiligen Schrift mit so vielen Bildern ausgestattet ist wie Offb. Das ist ein Zeichen ihrer visuellen Dynamik. Reflexion und Vision schließen sich nun aber nicht aus, gerade im Bereich künstlerischer Gestaltung, wie beeindruckende Zeugnisse von Autoren literarischer Werke ausweisen, die vom Umgang mit ihren (fiktiven) Gestalten berichten. So darf man auch für den Verfasser der Offb visionäre Erfahrungen bei der Arbeit an seinem freilich im Ganzen sorgfältig theologisch und literarisch durchdachten Text nicht ausschließen. Sie zu isolieren und vielleicht gar psycho(-patho)logisch zu analysieren ist allerdings weder möglich noch angemessen. Dominant ist fraglos die Reflexion von Form und Inhalt bei der Verarbeitung überkommener, verbindlicher Traditionen im Dienst der eigenen Erfahrung und Überzeugung angesichts der geschichtlichen Situation, in die die Gemeinde des Christus ohne die Möglichkeit eigener aktiver Gestaltung hineingerissen ist.

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5. Verfasser Der Verfasser der Offb nennt sich ohne jedes Anzeichen einer Mystifikation und ohne irgendeine Näherbestimmung mit Namen: Johannes. Und das nicht erst in dem brieflich stilisierten Eingang 1, 4, sondern sogleich in der grundsätzlichen Annoncierung des Gesamtwerkes 1, 1 und ebenso an seinem Abschluß 22, 8. Den Namen selbst für eine Fiktion zu halten, besteht keinerlei Anlaß, schon gar nicht unter Berufung auf ein hypothetisches Gattungsmerkmal für „Apokalypsen“. Man müßte andernfalls die Adressierung der gesamten Schrift, zumindest an die Gemeinden der Asia, repräsentiert durch die 1, 11 sowie die in den Sendschreiben Genannten, für fiktiv halten. Vorausgesetzt ist vielmehr, daß der Verfasser in den (westlichen) kleinasiatischen Gemeinden bekannt ist und ein hohes Maß von Glaubwürdigkeit und Autorität genießt. Nichts deutet darauf hin, daß das fundamental in den Gemeinden angefochten ist, unbeschadet dessen, daß es durchaus Gegner der von ihm vertretenen Linie in ihnen (bes. 2, 14 f.; 2, 20–24, wohl auch 2, 2) gibt, wobei freilich nicht ersichtlich ist, wie stark diese gewesen sind. Auffällig ist, daß Johannes geradezu sorgfältig darauf bedacht zu sein scheint, seinen Namen mit keiner näheren Prädikation zu verbinden, obwohl er sich deutlich den ihm und „seinen“ Gemeinden bekannten „Propheten“ funktional verbindet (vgl. z. B. 10, 11; 22, 7–10). Das deutet darauf hin, daß er – zumindest selbst – eine besondere, singuläre Autorität beansprucht, die ihn nicht mit den „Propheten“ der Gemeinde auf eine Stufe stellt. Leider wissen wir weder über die Verfassung der damaligen Gemeinden der Asia, ihre und ihrer Funktionsträger Geschichte und Herkunft, noch über Gruppierungen in ihnen wirklich Verläßliches. Das gilt auch für die „Nikolaiten“ (2, 15) oder die sich „Prophetin“ nennende Isebel, ihre Buhlen und „ihre“ Kinder (2, 20–23). Es gibt zahlreiche, auch durchaus ernst zu nehmende Vermutungen; indessen hängen sie schließlich doch in der Luft, so daß man besser von ihnen absieht. Auch über die Herkunft und Geschichte unseres Verfassers sind wir im Unklaren. Mit einem sonst im Neuen Testament Genannten ist er freilich kaum zu identifizieren. Die übrigen unter dem Namen des „Johannes“ bekannten Schriften des Neuen Testaments, das vierte Evangelium und die drei Johannesbriefe, erheben selbst nicht den Anspruch auf den ihnen sekundär, freilich früh beigelegten Namen für ihren Autor „Johannes“. Und trotz durchaus ernsthafter Überlegungen, Offb und das Johannesevangelium in eine engere personale Beziehung zu setzen, entspricht das kaum dem Tatbestand. Auch kann man den Verfasser nicht überzeugend selbst in weiterem Sinn einem „johanneischen“ Kreis oder einer „johanneischen“ Schule zuordnen. Natürlich partizipiert er an Traditionen, die auch für das Johannesevangelium wichtig waren; aber das gilt auch für den pauli-

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nischen Bereich, nach meinem Urteil sogar mehr als für den johanneischen; das dürfte auch dem Ort seiner Wirksamkeit, dem westlichen Kleinasien, am ehesten entsprechen. Freilich besagen solche Überlegungen noch nichts darüber, wo der Ort seiner Herkunft zu finden ist. Sicher entstammt er dem Judentum, ebenso wie fast alle neutestamentlichen Autoren. Das beweist seine umfassende Kenntnis jüdischer Überlieferungen, die das Alte Testament, insbesondere die Propheten, zum Fundament hat. Dadurch ist sein Denken bestimmt, wobei indessen stets zu bedenken ist, daß die Rezeption der Schrift immer eine – direkt oder indirekt – vermittelte ist. Die Vorstellung, er habe souverän über eine „Vollbibel“ – etwa gar im uns überdies konfessionell unterschiedlich vertrauten Umfang – verfügt, ist abwegig. Die Neigung, die Quelle solcher Vermittlung in Palästina zu verorten, läßt häufig vermuten, daß er zu denen gehört, die z. Z. des beginnenden Jüdischen Kriegs (in den 60 er Jahren) Palästina verließen und in den syrischen und kleinasiatischen Gemeinden Einfluß gewannen als Wanderpropheten und Charismatiker. Darauf könnte auch sein besonderer Umgang mit dem Text der Schrift, der nicht von der LXX abhängig zu sein scheint, sowie auch mit der eigenen (griechischen) Sprache deuten. In der Tat ist beides sehr auffällig, beides aber auch ambivalent. Zweifellos basiert die Kenntnis des Alten Testaments nicht (nur) auf der LXX, sondern trägt Züge unabhängigen Umgangs mit dem semitischen Text. Doch ist kaum zu entscheiden, wie weit das auf Tradition oder Benutzung anderer Übersetzungen zurückgeht (die Geschichte der griechischen Übersetzung des Alten Testaments im 1. Jh. ist komplex); auch ist die Kenntnis des Hebräischen bzw. Aramäischen nicht strikt auf Palästina zu beschränken. Das ist auch bei dem Urteil über die Sprache der Offb zu bedenken. Zunächst ist festzustellen, daß Johannes das Griechische voll beherrscht. Das zeigen gerade die schwersten Verstöße gegen die Regeln der griechischen Grammatik (Solözismen), durch die die Sprache mit voller Absicht in den Dienst des Inhalts, den sie vermitteln soll, gestellt wird; in vergleichbar gebauten Phrasen ohne solchen Inhalt folgt er korrekt den grammatischen Regeln! Er handhabt weit darüber hinaus auch sonst das Griechische als Medium seiner Botschaft, indem er ein stark semitisierendes Griechisch schreibt, ohne indessen die Grenzen der Möglichkeiten der Koine zu verletzen. Als gebürtigen Palästiner weist er sich dadurch nicht zwingend aus, wohl aber als jemand, der in der Welt des „apokalyptischen“ Judentums zu Hause ist. Das aber schließt eine kleinasiatische Beheimatung keineswegs aus. Seine Verortung in Ephesus aufgrund einer durch Eusebius, Hist. Eccl. III 39, 4 überlieferten Aussage des Papias (um 125 n. Chr.), der neben dem „Herrenjünger“ einen (anderen) Presbyter Johannes, einen Jünger des Herrn, in Ephesus gekannt und zur Herren-Überlieferung befragt haben

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will, ist ganz unsicher, sowohl hinsichtlich ihres Inhalts als auch ihrer historischen Verläßlichkeit. Wir müssen davon ausgehen, daß Elemente durchaus unterschiedlicher Traditionen in dem Raum Kleinasiens zusammengeflossen sind oder auch nebeneinander existierten. Die wesentlich besser überschaubare Geschichte der paulinischen und der ihr unmittelbar folgenden Mission läßt eine erstaunlich lebhafte Kommunikation über weite Gebiete des östlichen Mittelmeers erkennen, auch wenn wir sie im einzelnen nur begrenzt verifizieren und fixieren können. Das wird einige Jahrzehnte später kaum zum Erliegen gekommen sein. Vermuten kann man hier natürlich viel, doch sollte man dem keine zu große Sicherheit zusprechen und dann weitere Annahmen damit begründen. Schließlich ist selbst die präzise Nennung des Ortes, an dem Johannes den Befehl zum Schreiben seines Buches an die sieben hier erstmalig genannten Gemeinden empfing, die Insel Patmos, 1, 9, mehrdeutig. Daß sie einen historisch zutreffenden Haftpunkt hat, sollte man freilich nicht bestreiten. Doch die seit der frühen Zeit (Irenäus [nach Eusebius], Clemens Alexandrinus, Origenes) belegte Annahme, er sei dorthin verbannt gewesen, ist nicht so sicher wie oft vorausgesetzt; topographische und juristische Bedenken sind neuerlich dagegen überzeugend geltend gemacht worden, V. 9 ist keineswegs ganz eindeutig. Dennoch ist es wahrscheinlich, daß der Autor der Offb das Berufungserlebnis für sein Werk auf Patmos empfing und daß er sich dort im Zusammenhang seiner Verkündigung des Evangeliums befand. Nur muß man nicht damit rechnen, daß er es insgesamt dort niedergeschrieben hat. Und das gilt erst recht für die Zeitangabe „am Herrentag“, die freilich ein wichtiges Zeugnis für die frühchristliche Geschichte des Sonntags bleibt. 6. Zeit Seit Irenäus (Adv. Haer. V 30, 3 [um 180 n. Chr.]), der Offb auf das Ende der Zeit Domitians, d. h. ca. 95 n. Chr., datiert, wird dieses Datum weitgehend als zutreffend akzeptiert. Im 19. Jh. freilich richtete sich der Blick der kritischen Forschung stärker auf die Zeit zwischen der neronischen Christenverfolgung 64 n. Chr. und der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr; in der neueren Zeit hingegen besteht eine Neigung, Offb erst auf den Anfang des 2. Jh., die Zeit Trajans, zu datieren. Tatsächlich ist Domitian nicht der Christenverfolger gewesen, als den besonders Euseb ihn in der Kirchengeschichte etabliert hat, doch war die Situation der jungen christlichen Gemeinden in Kleinasien am Ende des 1. Jh. nicht derart, daß die Entstehung der Offb in dieser Zeit ausgeschlossen oder auch nur in Frage gestellt werden müßte, zumal wenn man zwischen der damalig empfundenen und der von uns kritisch rekonstruierten Situation zu diffe-

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renzieren bereit ist. Der etwa gleichzeitige und in das gleiche Territorium gerichtete 1. Petr zeigt die bedrängte Lage der damaligen Gemeinden, darüber hinaus aber auch die Vielgestaltigkeit des Gemeindelebens in ähnlicher topographischer und temporaler Situation. Leider gestatten weder Offb 13, 18 noch 17, 10 f. entgegen vielfach vorgetragenen und zu begründen versuchten Deutungen eine überzeugende Lösung der Datierungsfrage, wie an den genannten Stellen zu zeigen sein wird. Eine Datierung der Offb in ihrer uns vorliegenden Gestalt (eine andere kennen wir jedenfalls nicht; sie zu vermuten ist ein ungesichertes Wagnis) auf das Ende des 1. Jh. schließt nun aber die Vermutung nicht aus, daß Textstücke in sie von ihrem Verfasser integriert sind, die bereits durch ihn selbst oder auch andere erstellt waren und die dadurch Signale einer anderen Ursprungssituation in sich tragen. Doch sind sie in den Gesamttext und seine Komposition so integriert, daß sie nicht mehr mit hinreichender Sicherheit literarkritisch als einst eigene Texte isoliert werden können. Die im Ganzen beeindruckende literarische Kraft des Verfassers hinsichtlich der Integration und vor allem der Komposition durchaus heterogener Traditionen und aktueller Erfahrungen schließt indessen nicht aus, daß gelegentlich der Eindruck entsteht, die Fülle des verarbeiteten, z. T. wohl auch parallelen Materials sprenge die Grenzen der konzeptionellen Möglichkeiten. Doch sollte man sich hüten, die Gestaltungsfreiheit eines literarischen Kunstwerkes, das Offb durchaus auch ist, zu stark dem eigenen Urteil zu unterwerfen. Und vielleicht kann das auch davor bewahren, die inhaltliche Botschaft des Buches über der Faszination durch seine Form zu übersehen. 7. Zur Komposition der Offb Zweifellos hat die Komposition des Buches für die Kommunikation seiner Botschaft fundamentale Bedeutung, und zwar von seinem Autor so gedacht und geplant. Das zeigt für Offb unübersehbar die Gesamtanlage des Werkes wie ebenso die durchreflektierte Ausarbeitung sowohl von umfangreichen als auch von einzelnen Teiltexten. Und doch gelingt es nicht überzeugend, eine Gliederung des gesamten Werkes so aufzuweisen, daß alle seine Teile als naht- und zwanglos in sie eingefügt sich erweisen lassen. Die Textpartien im einzelnen lassen sich als planmäßig konzipierte Einheiten verstehen und analysieren, ihre Zusammenfügung zu dem vorliegenden Gesamtwerk indessen ist als Produkt einer geplanten Komposition, die sich einer inhaltlichen Aussage verdankt, nicht sicher zu erkennen. In diesem Fall wird das Phänomen des hermeneutischen Zirkels geradezu erstickend wirksam: Der Gegenstand, der verstanden werden soll, ist selbst der Schlüssel seines Verstehens, das

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Objekt und das Subjekt des Verstehens sind miteinander identisch. Die Gefahr der Willkür ist hier besonders groß, alle Deutungen sind nur mit Vorsicht und Zurückhaltung möglich. Vor allem ist kein striktes Schema zu postulieren, weder darf es die Voraussetzung noch das zwingend zu erreichende Ziel der Kompositionsanalyse sein. Das gesamte Werk ab seinem vierten Vers präsentiert sich als eine in sich geschlossene literarische Einheit, nämlich als ein Brief an „die sieben Gemeinden in der Asia“, die alsbald (1, 11) namentlich aufgeführt werden. Der literarisch eindeutige Briefschluß 22, 21 fügt den gesamten Text ab dem Briefeingang 1, 4 zu einer inhaltlichen Einheit zusammen. Die ihr – unsymmetrisch, da ohne Entsprechung am Schluß – vorangestellte übergreifende Bestimmung des Inhalts des Briefes: Offenbarung Jesu, des Christus, gehört gleichwohl unablösbar zum Gesamtwerk hinzu, wie die Seligpreisung 1, 3 ausweist, durch die erst deren Sieben-Zahl im gesamten Buch erreicht wird. Zur Briefform im engeren Sinn gehört neben dem Schlußgruß 22, 21 der Eingangsgruß 1, 4–6 sowie – abgestuft – die Situationsangabe 1,(7-)9–11. Der mit der Epiphanie des Menschensohngleichen 1, 12 beginnende „apokalyptische“ Hauptteil mündet in die Schau des Throns Gottes und des Lammes im Neuen Jerusalem und derer, die vor ihm anbeten, 22, 5. Der Schluß des Briefes 22, 6–20 appliziert seine Botschaft an die Leser/ Hörer. Das Brief-/ Buchkorpus gliedert sich in zwei Teile ungleichen Umfangs, aber gleichen Gewichts. Ein erster Teil hat die Gemeinde(n) unter ihrem Herrn, dem Menschensohngleichen, im Blick, 1, 17–3, 22, ein zweiter die Welt in ihrer Geschichte unter der Herrschaft des auf dem Thron Thronenden, die er in die Hand des (wie) geschlachteten Lammes legt, 4, 1–22, 5. Der erste Hauptteil ist gegliedert durch die Vision des Menschensohngleichen und seine Beauftragung des Sehers mit den Sendschreiben an die Gemeinden, 1, 12–20, und die Präsentation der sieben Briefe, 2, 1–3, 22. Der zweite Hauptteil (4, 1–22, 5) ist wesentlich unübersichtlicher. Er beginnt mit der Schau Gottes als des auf dem Thron Thronenden (Kap. 4) sowie der Einsetzung des (wie) geschlachteten Lammes als des Herrn der Geschichte (Kap. 5). Eine erste Reihe von Visionen hinsichtlich der Schrecken der Geschichte (Kap. 6) mündet nach der sechsten in eine Schau der (endzeitlichen) Bewahrung der Glaubenden (Kap. 7). Sie führt über die Vision der siebenten Siegelöffnung (8, 1–5) in eine neue Reihe von Gesichten sowie, wieder nach dem sechsten und unter Überlagerung einer Dreierreihe (Kap. 8 f.), zu einer Schau der Zuwendung Gottes und des Lammes zur Welt in Form der Prophetie (Kap. 10 f.), der Geburt des Kindes (Kap. 12), aber auch des Heraufkommens der satanischen Mächte (Kap. 13) sowie der engelischen Proklamation des Evangeliums von Gericht und Rettung (Kap. 14).

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Kap. 15 führt hin zu der dritten Siebenerreihe von Visionen betreffs der Weltgeschichte (Kap. 16), die ihren Gipfel haben im Gesicht der Dirne Babylon (Kap. 17) und des Untergangs der Großen Stadt (Kap. 18). Dem folgt die Schlacht, deren siegreiches Ende bereits im himmlischen Hymnus antizipiert aufscheint, mit dem Reiter auf dem weißen Pferd (K. 19). Dem Endsieg über die erdumspannende Macht des Satans geht das – ganz eigenartige – tausendjährige messianische Reich voraus, 20, 1–10; ihm folgt mit dem Ende der Welt und ihrer Geschichte das individuelle Gericht (20, 11–15) und die Erscheinung der Neuen Welt Gottes und des Lammes als die einzige endliche Wirklichkeit der Schöpfung Gottes (21, 1–22, 5). Das ist der große Bogen, den Johannes spannt, um durch ihn der Gemeinde ihre Existenz und ihre Geschichte, in die sie eingebettet ist, zu deuten. Er umfaßt eine Fülle von einzelnen Elementen visionär-literarischen Charakters, die sich ihm einfügen, nicht aber als gleichsam notwendig ihm zugehörig erscheinen, ob nun aus literarischen, sachlichen oder (erkennbar) traditionsgeschichtlichen Gründen. Kaum aber sind sie auch nur etwa aus der kreativen Lust des Autors an seinem Text entstanden; man darf vielmehr annehmen, daß er die Absicht verfolgt, die Gesamtheit der „apokalyptischen“ Erwartungen, die ihm und seinen Gemeinden bekannt und für sie verbindlich waren, in sein Werk einzuarbeiten und damit die umfassende Erfüllung der Gottesgeschichte mit seinem Volk (s. 7, 4–8 [gegenüber 2, 9; 3, 9]) anzusagen. Das hat natürlich für die Verortung des Johannes und der durch ihn vertretenen Gemeinden in der religionsgeschichtlichen Landschaft Kleinasiens, zumindest seines westlichen Teils, eminente Bedeutung, zumal nichts dafür spricht, den Autor und seine Rezipienten sektenhaft separierten Zirkeln zuzuweisen. Die Spannweite der werdenden christlichen Gemeinden dieses Raumes ist offenbar erheblich gewesen. Allerdings nötigt nichts dazu, das Zeugnis der Johannesoffenbarung als exklusiv-einziges für den Redenden und die Angeredeten zu postulieren.

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8. Gliederungsübersicht A B I

Eröffnung 1, 1–3 Der Offenbarungsbrief 1, 4–22, 21 Präskript und Proömium 1, 4–16 I1 I2

II

Präskript 1, 4–8 Der Empfang der Offenbarung 1, 9–16

Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia 1, 17–3, 22 II 1 II 2

Die Beauftragung 1, 17–20 Die Sendschreiben 2, 1–3, 22

III Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte 4, 1–22, 5 III 1 Gott, das Fundament der Welt 4, 1–11 III 2 Das Lamm, der Herr der Geschichte 5, 1–14 III 3 Der Lauf der Geschichte 6, 1–20, 10 III 3. 1 Die sieben Siegel 6, 1–8, 15 III 3. 2 Die sieben Posaunen 8, 6–11, 19 III 3. 3 [Beginn und Ziel der Geschichte des Christus Jesus und der seiner Gemeinde] 12, 1–14, 20 III 3. 4 [Letzte Visionen betreffs der Weltgeschichte] 15, 1–19, 21 III 3. 4. 1 Das Lied des Mose und des Lammes – Vorspiel der letzten sieben Plagen 15, 1–4 III 3. 4. 2 Die sieben Zornesschalen 15, 5–16, 21 III 3. 4. 3 Die Kulmination der Geschichte Kap 17–19 III 3. 5 Das tausendjährige Reich und sein Ziel (das letzte Gericht) 20, 1–15 III 4 Die neue, heile Welt Gottes 21, 1–22, 5 III 4. 1 Der Anbruch des Neuen unter dem Wort Gottes 21, 1–8 III 4. 2 Das Gesicht des Neuen Jerusalem 21, 9–22, 5

IV Epilog 22, 6–21 IV 1 Die Wahrheit der Zukunft – der Herr Jesus kommt 22, 6–20 IV 2 Schlußgruß 22, 21

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1, 1–3: Eröffnung

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A 1, 1–3: Eröffnung 1, 1 Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott auftrug, um seinen Knechten zu zeigen, was alsbald geschehen muß; und er hat sie durch die Entsendung seines Engels aufgezeigt seinem Knecht Johannes, 2 der Zeuge des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu Christi, alles dessen, was er erfuhr, geworden ist. 3 Selig, wer liest, und die, die hören die Worte der Prophetie und die zu dem in ihm Geschriebenen stehen. Denn die Entscheidung ist nahe. Die ersten drei Verse sind dem Gesamtwerk in hervorgehobener Weise vorgeordnet. Sie sind nicht in die literarische Gestalt des Gesamttextes der Offb einbezogen, die ab 1, 4 bis zum Schlußvers, 22, 21, die eines Briefes ist. Da sie offensichtlich betont gewählt ist, hat die Herausnahme dieser ersten Sätze besonderes Gewicht. Andererseits sind sie fest mit dem Gesamttext des Buches literarisch verbunden, so daß sie nicht als erst sekundäre Zufügung beurteilt werden können. Das zeigt sich besonders überzeugend daran, daß es (erst) zusammen mit dem von V. 3 insgesamt sieben Makarismen sind (1, 3; 14, 13; 16, 15; 19, 9; 20, 6; 22, 7. 14), die sich in Offb finden. Angesichts der eminenten Bedeutung, die die Siebenzahl für die literarische Struktur der Schrift hat, kann dieser Vers nicht aus der Gesamtkomposition herausgelöst werden. Darüber hinaus findet sich in dem Schlußteil der Offb, 22, 6–22, eine erkennbar analoge Passage, durch die der Inhalt der gesamten vorangehenden Schrift, seine Herkunft, Vermittlung und die Bedeutung seiner Rezeption, eingeschärft wird. Die exzeptionelle Stellung der ersten drei Verse der Offb signalisiert ihre inhaltliche Bedeutung. Sie sind nicht mit einführenden Zuweisungen, wie sie sich Hos 1, 1; Am 1, 1; Jes 1, 1 oder auch zu Beginn der Didache finden, auf eine Stufe zu stellen, und auch nicht gleichsam ein Vorwort. Vielmehr handelt es sich um eine Summe des ganzen Buches, mit der der Leser/ Hörer sogleich konfrontiert wird. Insofern war es nicht ganz unberechtigt, daß der den Text eröffnende (und ihn tragende) Begriff zum Titel des ganzen Buches wurde, freilich auf Kosten seiner ursprünglichen Bedeutung und Funktion. Das Wort „Offenbarung“ (apokalypsis) kommt in der ganzen Schrift nur 1–2 an dieser Stelle vor, das dazugehörige Verb gar nicht; es spielt auch sonst im Neuen Testament keine zentrale Rolle. Es bezeichnet das Offenlegen der Wirklichkeit von Dingen und Geschehen, die nicht jedermann und je-

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derzeit offen zu Tage liegen. Bei dem folgenden Buch handelt es sich mithin um das Offenlegen der Wirklichkeit Jesu Christi, die von Gott her zukommt. Der Genetiv Jesu Christi hat gleichsam einen doppelten Boden. Er benennt den Autor der Offenbarung. Es ist Jesus Christus, der Johannes die Wirklichkeit seiner Welt, das „was alsbald sich vollziehen muß“, erschließt, durch sein Erscheinen (1, 12 ff.), durch das Diktat der Sendschreiben (Kap. 2 f.), durch die visionären Erfahrungen (ab 4, 1). Zugleich wird damit aber auch die Wirklichkeit Jesu Christi selbst erschlossen; er selbst ist die Wirklichkeit der sich darstellenden Welt. Das alles ist aber eine Wirklichkeit, die nicht in sich selbst ihren Grund hat, sondern eine solche, die auf Gott zurückgeht. Und auf ihn geht auch die Macht zurück, diese Wirklichkeit offen zu legen. Die Offb ist streng darauf bedacht, den Monotheismus zu bewahren; Gott aber begegnet der Welt in Jesus Christus, er stellt sich ihr christologisch dar – sowohl der Gemeinde als auch der Welt. Der Schluß der Offb, 22, 6, nimmt die Aussage von 1, 1 inhaltlich auf und läßt damit ihre Bedeutsamkeit erkennen: der Herr, Gott, ist es, auf den der Aufweis dessen, „was sich alsbald vollziehen muß“, zurückgeht. Übrigens heißt am Buchschluß das, von dem es handelt, nicht (wie 1, 1) „Offenbarung“, sondern „Prophetie“ (22, 7. 10. 18 f.); denn auch die Aufgabe der Prophetie ist es, Gottes Wahrheit für die Welt anzusagen. Adressaten der „Offenbarung“ sind „seine Sklaven“, die Sklaven Gottes. Das für die Welt des klassischen Griechentums schimpfliche Prädikat „Sklave“ hat, bestimmt durch seine Herkunft aus dem Bereich atl.-jüd. Denkens, im Raum der ntl. Sprache im allgemeinen eine positive Bedeutung zur Bestimmung des Gottesverhältnisses des Menschen; dort freilich, wo etwa durch die Verbindung mit der Vorstellung der Gottesbeziehung als Kindschaftsverhältnis der reale Charakter der sozialen Metapher stärker bewußt wird, ist der negative Aspekt wirksam, s. Röm 8, 15; Gal 4, 7; Joh 8, 32–36, auch Hebr 2, 15. Das unterstreicht den an sich harten Klang, den die Metapher hat (die Wiedergabe mit „Knecht“ ist daher im allgemeinen fragwürdig, abgesehen davon, daß auch der Knecht nicht mehr zu unserer sozialen Welt gehört). Gemäß ihrer Vorgeschichte bezeichnet die Wendung „Knecht Gottes“ einerseits besonders hervorgehobene Glieder des Gottesvolkes wie Propheten (s. Am 3, 7, vgl. 1QpHab 7, 4 f.; Offb 10, 7), andererseits aber ebenso alle, die zu Gott gehören (s. Offb 2, 20; 7, 3). Das Oszillieren gleichsam des Personalpronomens in „seine Knechte“ zwischen Christus und Gott ist für Offb charakteristisch, die in ihrem Gegenüber zur Gemeinde beide zu einer Einheit zusammenfassen kann (s. z. B. 11, 15; 22, 3 f.); hinsichtlich des Sehers Johannes selbst wird solche Einheit am Ende von V. 1 christologisch konkretisiert. Das Prädikat „Sklave“ ist inhaltlich bestimmt von seinem Gegenbegriff „Herr“. Dieser ist in der jüdischen und christlichen Tradition (durch die

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Aussprache als adonaj sowie seine griechische Übertragung) an die Stelle des (unaussprechlichen) Gottesnamens (JHWH) getreten und damit zum fundamentalen Gottesprädikat geworden. Dabei ist der semantische Gehalt uneingeschränkt bewußt geblieben. Er bringt, in Übereinstimmung mit der gemeinorientalischen „Theo“-logie, das Gottesverständnis fundamental zum Ausdruck: Gott ist der souveräne Herr und Gebieter, die sich zu ihm Bekennenden gewinnen als seine Sklaven Leben und Heil. Deshalb ist es nicht schmählich, „Sklave, Knecht Gottes/Christi“ zu sein; man empfängt damit vielmehr Freiheit von der Welt. Inhalt der Wirklichkeitsenthüllung ist das, was „alsbald geschehen 3 muß“. Die Wendung nimmt Bezug auf Dan 2, 28 f.45 und signalisiert damit, daß von Endzeitgeschehen die Rede ist. Es steht unmittelbar, „alsbald“, vor dem Vollzug; „denn die Entscheidung ist nahe“, so stellt es der Schlußsatz V. 3 lapidar fest. Das ist die Grundlage des sog. apokalyptischen Denkens, durch das die ganze Offb bestimmt ist: Die Endphase der Geschichte bricht an, und sie ist die Phase der end-gültigen Entscheidung. Diese Geschichte, in der sich die von der anbrechenden Zukunft bestimmte Geschichte der Welt als ihr Wesen darstellt, steht unter einem „Muß“. Gott hat es so verfügt. Schon daß der Seher schaut, was geschehen wird, läßt dieses als prädestiniert, als unabänderlich festgelegt erscheinen. Solche Logik entspricht indessen nicht einem Denken, für das die Souveränität Gottes die absolute Determinante ist; Gott bleibt der Herr seines Plans mit der Geschichte. Fundamental wird das deutlich am Ende des ganzen Buches, im Gebet: „Komm Herr Jesus!“ (22, 20). Es wäre als Gebet sinnlos, wenn das Kommen des Gebetenen nicht für Gott verfügbar wäre. Gottes Souveränität öffnet aber auch dem Menschen den Freiraum des Handelns. Das offenbart sogleich der Makarismus V. 3. „Selig“ ist der, der das doch bereits durch die Prophetie Festgeschriebene bewahrt, ihr Vollzug ist in seine eigene Hand gelegt – durch Gott! Durch solche paradoxe Art der Enthüllung der auf die Welt zukommenden Wirklichkeit wird die eigentliche Qualität der Offenbarung erkennbar. Sie hat bewahrenden Charakter. Offb ist nicht in erster Linie ein Trostbuch, obwohl sie auch das ist; sie will primär ein Buch der Bewahrung sein, der Bewahrung der Glaubenden durch die Krisen der Endzeit hindurch mittels der Bindung an Gott und sein Wort. Jesus Christus vermittelt die ihm von Gott für seine Knechte gegebene Enthüllung der Weltwirklichkeit durch die Sendung seines engelischen Boten an seinen Sklaven Johannes. Es ist auffällig, daß der hier genannte Engel im Folgenden nur in äußerst zurückgenommener Weise in Erscheinung tritt. In den ersten drei Kapiteln, die sich unmittelbar an die Gemeinden richten, ist es Christus selbst, der als Offenbarender erscheint. Erst zum Ende des Buches tritt er fast nur angedeutet hervor (19, 9 f.; 21, 9 ff. und schließlich 22, 6 ff.); aber gerade dort fließt das Offenbarungshandeln

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des von Jesus gesandten Engels (22, 16) wie selbstverständlich mit dem des Christus zusammen. Es ist Christus selbst – und in ihm Gott –, der sich durch seinen Boten vermittelt. Gott – Christus – Gemeinde, das sind die drei Säulen, auf denen die Wirklichkeit der Welt in der Zeit und durch die Zeit ihrer Krise hindurch ruht; Christus – Engel – Johannes, das sind die Instrumente, durch die die Geschichte mit sich selbst konfrontiert wird. Der Makarismus V. 3, den 22, 7 aufnimmt, hebt die Bedeutung der Offenbarung unüberbietbar, freilich einseitig mit Blick auf ihren Evangeliumscharakter hervor. Das ist bemerkenswert angesichts der fast übermächtigen Darstellung der Verdammungsgeschichte, die Offb bietet. Ihr erstes, sie fundamentierendes Wort an ihre Adressaten indessen ist das Angebot des Evangeliums: selig. Der Makarismus ist durch seine Geschichte in der biblischen Überlieferung religiös geprägt, er hat hier, wie etwa auch in der Jesus-Überlieferung (Bergpredigt!), eine eschatologische Ausrichtung; sie gewinnt durch das Schlußsätzchen ihre Dringlichkeit. Am nächsten steht Lk 11, 28 (EvThom 79); zwar ist mit einer direkten literarischen Beziehung kaum zu rechnen, doch sind traditionsgeschichtliche Verbindungen wahrscheinlich. Die Offenbarung des Wesens der Geschichte als der Begegnung mit Gott verheißt das eschatologische Heil. Was es heißt, die Worte der Offenbarung zu bewahren, wird als wichtiges Thema das folgende Buch begleiten. Der Makarismus gibt einen wichtigen Hinweis auf den Umgang mit dem Buch: Es ist zur öffentlichen Verlesung bestimmt. Primär ist an die 1, 11 namentlich aufgeführten Gemeinden gedacht, an die sich die Offb als Brief gesandt darstellt. Daß sie darüber hinaus alle christlichen Gemeinden im Blick hat, zeigen direkt die „Merksprüche“ in allen sieben Gemeindebriefen (2, 7. 11. 17. 29; 3, 6. 13. 22), indirekt der paradigmatische Charakter der sieben genannten Gemeinden. Offb erhebt ökumenischen Anspruch als eine Schrift, deren unantastbarer Inhalt (22, 18 f.) soteriologische Bedeutung hat. Der Weg hin zur kanonischen Geltung, zur Heiligen Schrift, der sich im ältesten Brief des Neuen Testaments bereits andeutet (1. Thess 5, 27; s. auch Kol 4, 16), kommt damit ans Ziel. Johannes definiert seine kanonische Autorität allein über den Inhalt seiner Botschaft, die er betont „Prophetie“ nennt. Sich selbst benennt er mit keinem Titel, obwohl er und offenbar auch seine Gemeinden (s. 2, 20) „Propheten“ als Funktionsträger kennt. Er bezeugt das Wort Gottes, das Zeugnis Jesu Christi, das ihm als ihr Sklave gezeigt worden ist. Gerade dadurch, daß er ganz hinter der ihm aufgetragenen Botschaft zurücktritt, kommt seine einzigartige Geltung zum Tragen. Die Aktualität der Botschaft (das „denn“ hat kausale Funktion, s. auch 22, 10) gründet in der Ortsbestimmung der gegenwärtigen Welt; sie steht unmittelbar vor der end-gültigen Entscheidung über Heil oder Verderben. Das entspricht der Zusammenfassung der Verkündigung Jesu nach

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1, 1–3: Eröffnung

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Mk 1, 15; ein direkter traditionsgeschichtlicher Zusammenhang ist wegen der terminologischen Differenz fraglich. Wohl aber ist ein gemeinsames Grundverständnis der eigenen Gegenwart erkennbar, das wir apokalyptisch zu nennen gewohnt sind (Dan 7, 22, auch Lk 21, 8). Auch Paulus teilt es (1. Kor 7, 29. 31, auch Röm 13, 11 f.).

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1, 4–22, 21 Der Offenbarungsbrief

B Der Offenbarungsbrief (1, 4–22, 21) I Präskript und Proömium (1, 4–16) I 1. Präskript (1, 4–8) 4 Johannes an die Gemeinden in der Asia. Gnade sei euch und Friede von dem, der da Ist, der War und der Kommt und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind 5 und von Jesus Christus, der der treue Zeuge ist, der Erstgeborene der Toten und der Fürst der Könige der Erde. Dem, der uns liebt und aus unseren Sünden erlöst har durch sein Blut, 6 der uns zu einem Königreich gemacht hat, zu Priestern für Gott und seinen Vater, ihm sei Herrlichkeit und Kraft in alle Ewigkeit. Amen! 7 Siehe! Er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen; auch die, die ihn durchbohrt haben, und alle Stämme der Erde werden um ihn trauern. Ja, Amen! 8 Ich bin das Alpha und das O, spricht Gott der Herr, der Ist und der War und der Kommt, der Allmächtige. Das Zeugnis von der Enthüllung Jesu Christi, das Johannes nun seinem Auftrag gemäß weitergibt, stellt sich in Form eines Briefes an historischkonkrete Gemeinden dar. Das ist in vergleichbarer Literatur beispiellos. Denn es handelt sich nicht, wie bei den Sendschreiben Kap. 2 f., um eine in den Gesamttext eingefügte Partie, die einen – vielleicht wichtigen (vgl. z. B. 2Bar 78–86) – Teil von ihm darstellt; der Gesamttext hat die Form eines Briefes. Diese Eigentümlichkeit wird noch einmal geschärft durch den Tatbestand, daß die Ausgestaltung des brieflichen Rahmens (1, 4–6; 22, 21) sich zweifellos beabsichtigt an der Form orientiert, die ihr durch den Apostel Paulus gegeben worden ist. Die Grundlage bildet ein prädikatloser Satz, der im Nominativ den Absender, im Dativ den/die Empfänger nennt (wobei diese näher bestimmt sein können); diesem ersten Satz schließt sich in einem zweiten, wieder prädikatlos, der Eingangsgruß an, der „Gnade und Frieden“ wünscht und (außer in 1./2. Thess) als Quelle dessen mit einer Präposition Gott und Christus nennt. Gal 1, 5 schließt das Präskript mit einer Doxologie, strukturell ähnlich hier V. 5 b.6. Ganz den Paulusbriefen entsprechend ist auch der Schlußgruß 22, 21, wieder prädikatlos und inhaltlich ein christologisch bezogener Gnadenwunsch.

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Präskript (1, 4–8)

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Dieser Briefrahmen ist in seinem charakteristischen Element, wie nachgewiesen worden ist, von Paulus in seinen Briefen entwickelt worden. Daß er gerade in den paulinischen Eigenheiten in Offb begegnet, muß als inhaltlich begründete Nachbildung beurteilt werden. Das hat weitreichende Konsequenzen. Offb setzt nicht nur die Kenntnis von Paulus-Briefen voraus, sondern auch die Wertung ihrer Paulus entsprechenden Form als ein geradezu kanonisch zu nennendes Element verbindlicher Kommunikation zwischen dem mit dem Wort Gottes und dem Zeugnis Jesu Christi beauftragten Zeugen und der christlichen Gemeinde. Es ist davon auszugehen, daß die nachpaulinische frühchristliche Briefliteratur weitgehend von dieser durch die Paulusbriefe begründeten Funktion abhängig ist. Offb ist dafür das besonders auffällige Beispiel. Die deutliche formale Nähe zu den Paulusbriefen macht eine direkte Kenntnis von ihnen wahrscheinlich. Das ist verständlich, da die direkten Empfänger des Buches, 1, 4. 11, in einem Gebiet leben, in dem zumindest teilweise die Paulusmission wirkte, freilich mindestens eine Generation früher! Allerdings greift der Anspruch der Offb auf Geltung weit über diesen Raum hinaus; er ist auf die Ökumene gerichtet. Die kommunikative Basis ist mithin eine ganz andere als die der Paulusbriefe. Die Briefform erhebt jetzt einen autoritativen Anspruch von gleichsam kanonischem Gewicht. Das Gegenüber ist nicht die geschichtlich besondere Situation einer einzelnen Gemeinde, sondern die Gesamtkirche, freilich auch sie in ihrer kontingenten Befindlichkeit. Die Form von Offb ist daher nicht durch eine Absender-Empfänger-Situation bedingt, die der Kommunikationstheorie des Briefes entspricht; Offb ist im unmittelbaren Sinn kein Brief. Über ihre autoritätseinfordernde Form erschließt sie der gesamten Kirche ihrer Tage deren Situation angesichts der von Gott in und durch Christus gesetzten Zeit der Entscheidung, der Endzeit. Johannes, der sich ohne jede Zufügung nennt, richtet sich an die sieben 4 Gemeinden der Asia, d. h. der römischen Provinz dieses Namens, die den Westen Kleinasiens bildet. Die Namen der sieben Gemeinden nennt erst 1, 11. Die Adresse 1, 4 signalisiert, daß Johannes die ganze Christenheit in der Asia (und darüber hinaus in der Ökumene) ansprechen will. Das deutet auch die ausdrückliche Nennung der Zahl Sieben, der Vollzahl, an. Ob es tatsächlich sieben selbständige Gemeinden, die für Johannes erreichbar waren, in der Asia gab, ist durchaus nicht als sicher vorauszusetzen. Die nachgetragene Nennung der Namen der Gemeinde V. 11, die identisch sind mit den Empfängern der Sendschreiben Kap. 2 f., die ihrerseits aber nur ein Teil des Gesamtschreibens an sie gemeinsam sind, weist darauf hin, daß es Einzelgemeinden mit einem je eigenen Gesicht sind, aus denen die Gemeinde des Christus besteht. Eine organisierte institutionelle Gesamtkirche kennt Offb nicht. Alle Gemeinden aber haben im Wort Gottes und dem Zeugnis Jesu Christi eine sie tragende gemeinsame Mitte – und Johannes ist der, der sie verbindlich bezeugt.

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Präskript und Proömium (1, 4–16)

Die Salutatio ist mit dem Wunsch von „Gnade“ und „Frieden“ der paulinischen genau nachgebildet; beide Begriffe spielen in Offb sonst keine Rolle. Als Quelle werden über Paulus hinaus neben Gott und Christus die sieben Thron- Geister Gottes (vgl. 4, 5 und 5, 6) genannt. Darin bahnt sich die Ausbildung trinitarischen Denkens an: Gottes Handeln in der Welt bedarf der Vermittlung, erst in der Vollendung begegnet er direkt, 21, 3 f. Zugrunde liegt die Vorstellung von den Thron-Engeln (s. 8, 2), offenbar aber bereits leicht verschoben in Richtung auf eine spätere pneumatologische Entwicklung trinitarischen Denkens. Zunächst aber ist Gott selbst genannt als Ursprung der (eschatologischen) Heilszuwendung (ferner 1, 8; 4, 8). Nur bei seiner Nennung findet sich der schwere Verstoß gegen die Grammatik, daß der Präposition, die den Genetiv fordert, der Nominativ folgt; die beiden folgenden Wendungen sind grammatisch korrekt gestaltet. Gottes Souveränität ist indeklinabel – eben deshalb bedarf es der Vermittlung seiner Kommunikation. Auch die Gottesbezeichnung selbst geht gewaltsam mit der Grammatik um, indem sie ein finites Verb durch den Artikel substantiviert („der Er war“). Sie ist insgesamt eine theologisch reflektierte „relecture“ des Mose am Dornbusch offenbarten Gottesnamens Ex 3, 14: „Ich bin der Ich-bin.“ Diese Identitätsaussage wird dreigliedrig auf die Zeitdimension hin aufgefaltet und dabei zugleich das Moment der Geschichtlichkeit des „ewig“ mit sich selbst identischen Gottes hervorgekehrt. Das ist bereits der Fall bei der grammatisch unkorrekten Bezeichnung seiner Existenz in der Vergangenheit mit dem finiten „er war“, deutlicher aber noch mit der Prädikation des Zukünftigen als des „Kommenden“ (wofür ein in vergleichbaren Gottesbenennungen belegtes futurisches Partizip von „Sein“ zur Verfügung gestanden hätte). Der endzeitlich gekommene Gott wird denn auch nur noch zweigliedrig („der war und der ist“) bezeichnet (11, 17; 16, 5), ein eindrückliches Zeichen für die sachlich reflektierte Weise der Anwendung scheinbar fest vorgeprägter Prädikationen. 5 An dritter Stelle ist „Jesus Christus“ genannt, dreifach näher definiert durch Bestimmungen, die dadurch hervorgehoben sind, daß sie inkongruent im Nominativ statt im Genetiv stehen und auf solche Weise den Benannten nahe an den Bereich Gottes rücken. Sie sind transparent hin auf Ps 89(88), 38. 28, dadurch gleichsam legitimiert, inhaltlich indessen gefüllt von dem Christus- Glauben der Offb. Christus ist der Zeuge Gottes, der, wie sein „treuer Zeuge“ Antipas in Pergamon, 2, 13, seine (gute) Botschaft mit dem Blut besiegelt hat. Und er ist der „Erstgeborene der Toten“, damit zugleich der, dem andere, die zu ihm gehören, seine Brüder, folgen werden. Mit ihm hat die Geburt der Toten, d. h. die Auferstehung, vorlaufend begonnen, zugleich ist er als Anführer der zukünftig Auferweckten ausgewiesen; der „Erstgeborene“ hat eine einzigartige Stellung, er repräsentiert sein Geschlecht. Das ist – bereits vor Offb – in dem Hymnus

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Präskript (1, 4–8)

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Kol 1, 15–18 von der Gemeinde im Bekenntnis aufgenommen worden; dort ist er der Erstgeborene nicht nur aus den Toten (V. 18), sondern „der ganzen Schöpfung“ (V. 15). Das Bekenntnis hier spricht erst mit Blick auf die Auferstehung von ihm als „Herrscher der Könige der Erde“. In der Auferstehung gründet seine Erhöhung, die ihn dem sein Zeugnis Annehmenden als den Herrn der Welt begegnen läßt. Eine wiederum dreiteilige Doxologie nimmt die Präsentation Jesu Christi in einem Bekenntnis der Gemeinde auf, das seine Geschichte auf die eigene Geschichte bezieht. Daß es sich um ein vorformuliertes, etwa bei der Taufe gesprochenes Credo handelt, ist kaum wahrscheinlich. Wohl aber dürften Elemente der Bekenntnistradition aufgenommen und bearbeitet sein. Grundlegend für das Verhältnis des Christus zu „uns“, seiner Gemeinde, ist die Liebe. Anders als die beiden folgenden Aussagen, die auf eine Tat Christi in der Vergangenheit blicken, redet die erste im Präsens von einer dauernden Zuwendung. Die Liebe, die nicht als emotionaler Affekt mißverstanden werden darf, ist das Fundament, das die Geschichte Christi mit seiner Gemeinde trägt, deren Wesen daran erkannt wird, daß sie es ist, die Christus liebt, 3, 9 (vgl. 20, 9). Die Liebe Christi ist der Grund seiner Zuwendung zur Welt, die ihr in der Hingabe in den Tod das Heil anbietet. Diese Vorstellung ist in der paulinischen Tradition bezeugt, 2. Kor 5, 14 f.; Röm 8, 34 f.; Gal 2, 20; Eph 5, 2. 25, klingt aber auch Joh 13, 1; 15, 12; 1. Joh 3, 16 an. Es ist die Liebe, aus der das Erlösungshandeln Christi erwächst. Die Aussage ist geprägt, die Prägung aber, wie bei einer nicht mehr neuen Münze, bereits abgegriffen (was freilich wie bei einer Münze ihren Wert nicht mindert!). Zugrunde liegt vermutlich die Metapher vom Freikauf aus versklavender Gefangenschaft, der ein neues Patronatsverhältnis begründet (vgl. auch z. B. Gal 4, 5; 1. Kor 6, 20; 2. Petr 2, 1). Die Auslösung befreit aus der „Versklavung“ im Bereich der Sünde, d. h. der Gottesferne, durch den Tod Christi. Das Blut kann als Kaufpreis (5, 9), aber auch als (kultisches) Reinigungsmittel (7, 14; so auch eine sekundäre Lesart an unserer Stelle) vorausgesetzt sein; der Bildgehalt der Metapher ist unscharf geworden. Sie steht gleichwohl klar für den Glauben, daß der Tod Jesu frei für Gott macht. Indessen wird dadurch nicht ein Raum der Beliebigkeit und Ungebun- 6 denheit geöffnet, vielmehr werden die Befreiten zu einem Königtum, zu Priestern für Gott gemacht. Damit wird das Gotteswort an Mose Ex 19, 6 eingelöst. König und Priester, das sind die Träger der höchsten sozialen Ränge in der Gesellschaft, die Offb im Blick hat. Solchen Rang hat jeder, der sich vom Worte Gottes und dem Zeugnis Jesu bestimmen läßt. Indem das für jeden von „uns“ gilt, ist dadurch allerdings das soziale Netz aufgelöst, dem sich die Metapher ursprünglich verdankt. Sichtbar aber wird die unüberbietbare Würde, die Gott in Christus den Glaubenden zuwendet;

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Präskript und Proömium (1, 4–16)

Untertanen und Laien sind nicht vorausgesetzt, dürfen auch nicht in die Szene hineinprojiziert werden. Die Doxologie endet mit einem bekennenden Zuspruch von alle Zeitläufe überdauernder (göttlicher) Herrlichkeit und (göttlicher) Mächtigkeit. Das entspricht jüdisch-urchristlicher Weise, Gott (vgl. 4. Makk 18, 24; Gal 1, 5; 1. Petr 4, 11 u. ö.) und dann auch den Gott repräsentierenden Christus (vgl. 2. Tim 4, 18; 2. Petr 3, 18) zu preisen. Wie häufig beschließt ein befestigendes „Amen“ das Bekenntnis; über die liturgische Funktion dieser Akklamation wird die (gottesdienstliche) Gemeinde virtuell oder tatsächlich in die Doxologie hineingezogen. 7 Auch die beiden folgenden Verse können als liturgische Elemente des Gottesdienstes angesehen werden, den der „Brief“, der Offb zu sein beansprucht, als Ort seiner Publikation voraussetzt. Ob das zutrifft und in welcher Weise, ist aber nur unsicher zu vermuten. V. 7 versichert die Gemeinde des aller Welt sichtbaren Kommens ihres Herrn, zu dem sie sich soeben bekannt hat. Das geschieht mittels eines aus zwei atl. Zitaten zusammengefügten Wortes (Dan 7, 13; Sach 12, 10–12), das nicht erst ad hoc gebildet worden ist. Denn eine gleiche, offensichtlich von unserer Stelle unabhängige Kombination beider Worte des AT, freilich in umgekehrter Reihenfolge, bietet Mt 24, 30 (Justin, Dial. 14, 8; s. a. Did 16, 8); Sach 12, 10 ist auch in Joh 19, 37 christologisch zitiert. Sowohl Dan 7, 13 als auch Sach 12, 10 haben offensichtlich – auch in Kombination – zum Fundus christologischer Schriftzitate der frühen christlichen Gemeinde gehört. Mit den Worten der Schrift kann die unbeschreibliche Erwartung beschrieben werden, daß Gott in der Gestalt des von der Welt getöteten Christus sich end-lich durchsetzen wird in seiner Welt und daß die Welt, daß alle Menschen ihre gescheiterte Geschichte erkennen werden. Daß die Trauer über den Gekreuzigten eine solche der Buße ist, die Heil in sich birgt, ist nicht auszuschließen; so leuchtet von Ferne eine Heilsverheißung auf. Bemerkenswert ist das Fehlen des Titels „Menschensohn“, der traditionsgeschichtlich vom Kontext her zu erwarten wäre. Er wird bewußt vermieden sein; in Offb ist er verbunden mit dem sich seiner Gemeinde Zuwendenden. An diese aber ist, hier jedenfalls, nicht gedacht. Sie freilich ist es, die die Ansage des Kommenden liturgisch geprägt bekräftigt: Das ist gewißlich wahr. Wie ein beigedrücktes Siegel, das eine Urkunde rechtsgültig macht, 8 schließt die Selbstbekundung Gottes den Eingangstext, der die Kommunikationssituation darstellt, ab. Erst 21, 5–8, zur Präsentation des Neuen, Heiligen Jerusalem, wird Gott erneut direkt sein Wort ergehen lassen. Der Satz hier ist kunstvoll gestaltet, drei Prädikationen mit insgesamt sechs Gliedern, dem sich als siebentes die Nennung des Sprechers, „Gott der Herr“, zugesellt, stellen Gottes Wesen dar. In der Mitte steht die bereits

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Der Empfang der Offenbarung (1, 9–16)

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V. 4 begegnende Explikation des Gottesnamens, der Mose offenbart wurde, Ex 3, 14. Den Anfang bildet eine Gottesbezeichnung ohne direkten Bezug zum Alten Testament. Sie ist weder jüdisch noch pagan belegt, gehört aber in den weiteren Umkreis der Buchstabensymbolik, die in beiden Bereichen zu Hause ist. In 21, 6 präsentiert sich noch einmal Gott, 22, 13 Christus als „das Alpha und das O“. Parallel dazu steht 21, 6 „der Anfang und das Ende/ Ziel“, 22, 13 zusätzlich „der Erste und der Letzte“. In allen Fällen sind jeweils absolute Eckpunkte genannt, bezogen auf die vorfindliche Welt und auf die Zeit. Die beiden flankierenden Paare sind so wie hier nur atl.-jüd. gedacht sinnvoll, „das Alpha und das O“, jedenfalls in dieser Form, hingegen nur griechisch möglich. Dennoch wird auch diese Wendung für Johannes sich aus dem jüdischen Raum her gefüllt haben. Das Wesen von Gott und Welt erschließt sich aus der Schrift (so wie das der Zukunft im „Buch“ enthalten ist, 5, 1, auch 10, 2. 8. 10). Gott und sein Christus ist die Wirklichkeit der Schrift. Abgeschlossen wird das – wie die Wendung „spricht Gott der Herr“ ausweist – prophetisch vermittelte Offenbarungswort durch den Namen „Allmächtiger – Zebaot“. Er begegnet in Offb insgesamt und immer nur auf Gott bezogen neunmal, vgl. insbesondere 4, 8 und 11, 17, im übrigen Neuen Testament nur noch 2. Kor 6, 18 (= 2. Sam 7, 8). Er hat für Johannes offensichtlich eine hervorgehobene Bedeutung. In ihm kommt das herrscherliche Moment besonders zur Geltung; zugleich ist, zumal in einer Verbindung mit der Wendung „Gott der Herr“, der Bezug auf den Gott, den das Alte Testament bezeugt, unübersehbar (vgl. Am 4, 13: Jahwe, Gott Zebaoth ist sein Name).

I 2. Der Empfang der Offenbarung (1, 9–16) 9 Ich, Johannes, euer Bruder und Teilhaber an Bedrängnis und königlicher Herrschaft und Beharrlichkeit in Jesus, ich war auf der Insel Patmos um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen. 10 Ich war im Geist am Herrentag, und ich hörte mir im Rücken eine gewaltige Stimme, wie eine Trompete, 11 die sagte: Was du schaust, schreib auf in einem Buch und schick es den sieben Gemeinden, der in Ephesus, der in Smyrna, in Pergamon, in Thyatira, in Sardes, in Philadelphia, in Laodizea. 12 Und ich wandte mich um, die Stimme, die mit mir sprach zu sehen; und da ich mich umsah, erblickte ich sieben goldene Leuchter 13 und in der Mitte der Leuchter einen Menschensohngleichen, angetan mit einem fußlangen Gewand, geschürzt mit einem goldenen Gürtel um die Brust. 14 Sein Haupt und die Haare weiß wie weiße Wolle, wie Schnee, und seine Augen wie loderndes Feuer 15 und seine Füße gleich Golderz wie in

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Präskript und Proömium (1, 4–16)

der Esse geläutert und seine Stimme wie der Schwall vielen Wassers; 16 und er hatte in seiner rechten Hand sieben Sterne und aus seinem Mund trat ein zweischneidiges scharfes Schwert hervor und sein Antlitz war so wie die Sonne scheint in ihrer Macht. 9 Johannes gibt Bericht von seiner Beauftragung zur Niederschrift der Botschaft, die ihm aufgetragen wird. Der Text weckt Assoziationen an prophetische Berufungsberichte; ein bewußt aufgenommener Prätext ist nicht erkennbar. Ein fundamentaler Unterschied zu atl. Berufungs- bzw. Beauftragungsberichten ist, daß nicht Gott, sondern der Menschensohngleiche sich an die, deren Herr er ist, durch seinen Beauftragten wendet. Daher wird nicht nur der Berufene und die kontingenten Umstände seiner Berufung genau vorgestellt, sondern auch der Berufende. Das nimmt denn auch den größten Raum ein und trägt das Gewicht des Textes. Der Umbruch gegenüber der Situation des Alten Bundes wird so evident; Gott begegnet dem Propheten in der Gestalt des Lebendigen, der tot war und – siehe – lebt und die Macht über die Zukunft hat (V. 17 c.18). Kontinuität stellt sich in neuer Gestalt dar. Zunächst aber wird die Kulisse gestellt, die Person des Beauftragten, ihr Aufenthalt und der Grund dafür, ihre Befindlichkeit und der Zeitpunkt. Das hat geradezu den Charakter eines Protokolls, wodurch die Verläßlichkeit der Botschaft verbürgt wird. Johannes nennt sich, wie stets, nur mit seinem Namen (1, 1. 4; 22, 8) ohne weitere ihn individuell identifizierende Näherbestimmung. Das ist kein Zeichen von Bedeutungslosigkeit oder Bescheidenheit, vielmehr eines für höchsten, nämlich singulären Anspruch. So ist er es denn auch allein, der seine singuläre Berufung erfährt, deren alleiniger Zeuge er ist. Gleichwohl steht er in Beziehung zu seinen Adressaten, wie die seinem Namen beigefügte Apposition zeigt, die sich aber gerade keines funktionalen Titels bedient. Er ist ihr Bruder und Gefährte. Das erste Prädikat blickt auf das gemeinsame in Christus begründete Kindschaftsverhältnis zu Gott, das zweite auf das ihnen gemeinsame entscheidende Element der in der Welt gelebten Gottesbeziehung. Als Bruder hat Johannes teil an der Glaubenserfahrung seiner Adressaten, an ihrer Bedrängnis in der gottfeindlichen Welt, aber auch an der ihnen schon erfahrbaren Überlegenheit Gottes über die Endlichkeit der Welt und schließlich an der Fähigkeit, die unerträgliche Spannung der gegenwärtigen Existenz zwischen der Tiefe und der Höhe, dem Sterben und dem Leben zu ertragen. Worauf sich das abschließende „in Jesus“, das bereits die frühe Textüberlieferung als schwierig empfand, bezieht, ist nicht sicher zu erkennen. Es mag die Kraft zum Durchhalten der paradoxen Situation des Glaubens in der Geschichte Jesu, deren Kenntnis Offb bei ihren Lesern voraussetzt (11, 8), gründen wollen.

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Der Empfang der Offenbarung (1, 9–16)

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Johannes befindet sich z. Z. des Offenbarungsempfangs auf der Insel Patmos. Sie gehört zum Verwaltungsgebiet von Milet (heute Milas), war keineswegs besonders abgelegen oder einsam, sondern diente mindestens zeitweise als eine Art Sperrwerk (zusammen mit Nachbarinseln) für die Zufahrt nach Milet durch den latmischen Meerbusen. Als Christ wird Johannes aber auf Patmos tatsächlich einsam gewesen sein; jedenfalls wissen wir nichts anderes; die Begründung für den Aufenthalt dort, um „des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu“ willen, verrät darüber nichts. Unwahrscheinlich ist, daß missionarische Bemühungen angedeutet sein sollen. Bereits sehr früh in der christlichen Tradition (Clemens Alexandrinus, Quis. div. salv. 42 [vor 215 n. Chr.]) ist die Begründung martyrologisch verstanden worden; das kann von 6, 9; 20, 4 her gestützt werden. Doch ist das nicht sicher, die Wendung offenbar nicht festgelegt. Näher liegt, sie von V. 2 her zu verstehen. In jedem Fall ist der Aufenthalt auf Patmos durch den Dienst an der Botschaft, zu dem Johannes in solenner Weise ausersehen ist, bedingt. Das kann eine Verbannung des Christus-Zeugnisses wegen sein, allerdings ist Patmos in der Antike nicht als Verbannungsort belegt, sind die konkreten Umstände eines derartigen Vorgangs auch nur schwer rechtlich und tatsächlich verständlich zu machen. Zeit des Geschehens ist der „Herrentag“, der Sonntag (vgl. Did 14, 1; IgnMagn 9, 1; EvPetr 12 [50]). Eine Hervorhebung des ersten Tages der Woche, des Tages der Auferstehung Jesu (Mk 16, 2 par.) ist im Neuen Testament früh bezeugt, 1. Kor 16, 2, als Tag des Gottesdienstes Apg 20, 7. Nur wenn für Patmos eine christliche Gemeinde vorausgesetzt werden dürfte, könnte an die Feier eines Gottesdienstes als Ort des Geschehens gedacht sein. Das ist indessen unwahrscheinlich. Wohl aber wird durch die Bezeichnung des Tages eine Ablösung von der jüdischen Gewichtung der Woche (unter Bekräftigung ihrer grundsätzlichen Struktur, die nicht so selbstverständlich war, wie es uns in unserer globalisierten Welt erscheinen kann) sichtbar, die die von der Schöpfung her gegliederte Zeit von der Christusgeschichte her neu wertet. An dem Tag, an dem die Gemeinde im Rhythmus der Woche ihrer Fundierung durch die Auferstehung des Herrn gedenkt, empfängt Johannes im Geist von dem Menschensohngleichen dessen Botschaft an die Gemeinden. Er ist „im Geist“. In einen gleichen Zustand wird Johannes in 4, 2; 17, 3; 10 21, 10 versetzt zur Schau einer himmlischen Wirklichkeit. Auch sonst beschreibt im Neuen Testament die Wendung „im Geist“ einen Zustand der Entrückung, der den Zugang zur überirdischen Welt eröffnet. Ebensowenig wie über den Ursprung oder den Verursacher ist damit über die Art, in der sich das nach außen darstellt (in Ekstase oder Trance), etwas gesagt (vgl. 1. Kor 12, 2 f.). Überhaupt können wir darüber, wie Johannes seine Visionen und Auditionen insgesamt empfängt, nichts sagen. Zwar sind sie durchweg literarisch kunstvoll gestaltet und inhaltlich genau durchdacht,

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Präskript und Proömium (1, 4–16)

doch schließt das, wie die Literaturgeschichte hinreichend zeigt, keineswegs aus, daß ein Autor sein Werk als von außen an ihn herantretendes erfährt. Der Spielraum dafür darf als groß angesehen werden. Das Zusammenspiel von als visionär empfundener Erfahrung und reflektierter Gestaltung mittels überkommener Tradition trägt die ganze folgende Darstellung des Johannes. Nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf die Weisung einer machtvollen Stimme wie eine Posaune (s. 4, 1) schreibt der Seher nicht nur die sieben ihm ausdrücklich diktierten Gemeindebriefe auf, sondern ebenso ist an sie alles übrige gerichtet, das ihm im Zustand des Offenbarungsempfangs zukommt. Daß die Stimme diejenige eines Wesens der himmlischen Welt ist, zeigt nicht erst 4, 1, sondern bereits hier ihre nähere Charakterisierung. „Groß“ ist ein göttliches Prädikat (vgl. Apg 8, 10; 19, 28. 34; vgl. das islamische „Gott ist groß“), die Benennung „wie eine Posaune“ weist sie als aus der Welt Gottes kommendes Signal mit eschatologischer Relevanz aus (vgl. 8, 2 usw.; Jes 27, 13; 4Esr 6, 23; Mt 24, 31; 1. Thess 4, 16). Das vergleichende „wie“ gehört zu den Stilmitteln der „apokalyptischen“ Literatur; es kann ohne inhaltliche Folgen fortgelassen werden (vgl. z. B. 5, 6 mit 5, 12: „wie“ = „das“ geschlachtete Lamm). Die Vergleichspartikel will den metaphorischen Charakter der Sprache bewußt machen; die Welt Gottes ist nicht identisch mit der empirischen Welt, auch wenn sie (nur) mit deren Mitteln anschaulich gemacht werden kann. Einen ähnlichen Hintergrund hat der Tatbestand, daß die Sprache der Offb geprägt ist von der des Alten Testaments – ohne je Zitate zu bieten. Es ist eine naheliegende Gefahr, der man nicht erliegen darf, die Vorstellungsweise des Johannes für naiver als unsere eigene zu halten. 11 Der Schreibbefehl der „Stimme“ nennt die Namen der sieben Gemeinden, die 1, 4 nur allgemein als die der Asia angesprochen waren. Sie erscheinen in der gleichen Reihenfolge wie hier in den Zuschriften der Sendschreiben; ob sie einen besonderen Hintergrund hat, ist schwer zu erkennen. Ephesus und Pergamon haben gewiß eine besondere Bedeutung für die Provinz gehabt. Wichtig ist die Siebenzahl; demgegenüber tritt die Frage nach den Kriterien der Auswahl gerade dieser Gemeinden etwas zurück. Möglich ist, daß logistische Überlegungen (Verbreitung über Verkehrswege) eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls setzt Johannes voraus, daß in den Kirchen der Asia seine Botschaft als eine solche mit verbindlichem Offenbarungscharakter zur Geltung gebracht werden kann. Durch eine Hinwendung zu der „Stimme“ eröffnet sich dem Seher 12 schauend und hörend die Szene seiner Berufung, die zugleich das Wesen des Berufenden enthüllt. Als müßte sich der Blick erst an die Gestalt herantasten, werden zunächst die umgebenden sieben Leuchter wahrgenommen. Es sind sichtlich sieben einzelne Leuchter, nicht nur einer mit sieben

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Der Empfang der Offenbarung (1, 9–16)

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Lichtern. Nach 1, 20 repräsentieren sie die sieben angeredeten Gemeinden, die nach 2, 5 einzeln von ihrem Ort entfernt werden können. Ein allerdings frei gestaltetes Vorbild könnten die zehn Leuchter sein, die Salomo im Tempel aufstellte, 1. Kön 7, 49, und die nach einer späteren Tradition je sieben Lampen tragen (EupolHist Frg. 2 [34, 7 f.]); Sach 4, 1 f. schaut einen Leuchter mit sieben Lampen (s. Offb 11, 4). Der Ursprung solcher Vorstellung dürfte in der Astrologie liegen, ist aber nicht mehr produktiv, ebensowenig wie bei zahlreichen weiteren Attributen, die in Offb zur Veranschaulichung der Welt Gottes benutzt werden. Das gilt in geradezu exemplarischer Weise bereits für die Siebenzahl selbst, die ihre allgemeine antike Geltung ursprünglich der Astrologie verdankt. Inmitten der Leuchter befindet sich der Menschensohngleiche. Dieselbe 13 Bezeichnung begegnet noch einmal 14, 14, ebenfalls für Christus (s. dort). Beidemal ist sie grammatisch höchst gewaltsam gebildet. „Menschensohn“ wird so behandelt, als sei es nicht nur ein Vergleich, sondern direkter Name. Da Johannes trotz häufiger Verwendung desselben Wortes für den Vergleichscharakter (homoios, gleich wie) sonst stets grammatisch korrekt ist (mit Dativ), muß die Abweichung hier (und 14, 14) von der Grammatik (mit Akkusativ) einen Sinn tragen. Johannes schaut Christus, und er kennt den Titel „Menschensohn“ für ihn; ebenso weiß er, daß er in der christlichen Tradition mit Dan 7, 13 f. verbunden ist (s. z. B. Mk 14, 62 par.; Offb 1, 7!). So führt er ihn sprachlich auf diese „biblische“ Grundstelle zurück (s. 14, 14), indem er die Aussageweise als Vergleich erhält, zugleich aber den Titel über die (Vergewaltigung der) Grammatik als solchen erkennen läßt. Das entspricht seiner Theologie: In der Geschichte Christi erfüllt sich die prophetische Verheißung der Schrift. Solche Entsprechung führt inhaltlich dazu, daß der Menschensohngleiche – wie Dan 7 vorgibt – als derjenige sich darstellt, der der Herr seiner Gemeinde ist, hier durch die Leuchter, die Sterne (vgl. V. 16. 20), die Sendschreiben Kap. 2 f., Offb 14, 14–16 durch die eschatologische Sammlung der Geretteten (s. dort). Die Erscheinung des Menschensohngleichen wird beschrieben in er- 14–15 kennbar bewußter Anlehnung an Dan 10, 5 f., der ausgeführtesten Schilderung eines himmlischen Wesens (offenbar Gabriel) im Alten Testament. Nur mit „Haare weiß wie Wolle, wie Schnee“ V. 14 (anstelle von „Antlitz“, Dan 10, 6) weicht Johannes von Dan 10 ab und nimmt ein besonders charakteristisches Element der Theophanieschilderung Dan 7, 9 auf. Es ist – übrigens bis heute – so signifikant, daß ein unübersehbarer Bezug über eine Angelophanie hinaus auf eine Theophanie hergestellt wird. Der Menschensohngleiche ist mehr als selbst der höchste Engel, er trägt ein Gottesmerkmal. So stellt sich ein wesentliches Element der Christologie des Johannes dar: Christus ist nicht identisch mit Gott, ihm aber näher als alle Engel. Vielleicht soll auch die Beschreibung der Stimme als „wie der

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

Schall vieler Wasser“ V. 15 (statt wie Dan 10, 6 „wie das Tosen einer Wassermenge“) ihn an die Seite Gottes stellen (vgl. Ez 1, 24; 43, 2; 4Esr 6, 17), doch ist das angesichts Offb 14, 2; 19, 6 unsicher. Die einzelnen Züge der Gestaltbeschreibung werden in den Eingängen der Sendschreiben Kap. 2 f. aufgenommen als Elemente der Legitimation ihres Absenders. Dort kommt auch, freilich nicht in allen Fällen, eine besondere Bedeutung der Einzelzüge zur Geltung. Insgesamt sollen sie das Wesen des Geschauten im Zusammenspiel ihrer durch die „biblische“ Überlieferung geprägten Einzelzüge erkennbar machen. Der Gestalt zugeordnet sind zwei Insignien; in der Rechten hält sie sie16 ben Sterne, aus dem Mund ragt ein zweischneidiges Schwert. Die Sterne werden V. 20 als die „Engel der Gemeinde“ gedeutet, das Schwert bedroht die abtrünnigen Nikolaiten in Pergamon, 2, 16. Beide stellen Funktionen der Gemeinde gegenüber dar, ihr Träger ist deren Herr und Richter. So versteht Johannes die Insignien; ursprünglich entstammen die sieben Sterne natürlich der Astrologie (Planeten, Siebengestirn oder Plejaden) und sollen ihren Träger als Himmelsherrn ausweisen. Das Schwert dient häufiger als Metapher für das Wort, die Zunge (vgl. Ps 57, 5; 64, 4; Spr 24, 22 cLXX; PseudPhok 124, auch Philo, Somn I 103); selten ist sie auch auf das Wort Gottes übertragen worden (Weish 18, 15 f., auch Jes 49, 2; Eph 6, 17; Hebr 4, 12). Das Bild hier, daß das Schwert aus dem Munde des Christus ragt, ist eine kühne Weiterbildung, vielleicht (vgl. Offb 19, 11) angeregt durch Jes 11, 4 (s. PsSal 17, 35). Der Menschensohngleiche ist auch der Gerichtsherr. Beide Prädikationen sind auf die Gemeinde fokussiert; das hat für das Verständnis von 19, 11 ff. Bedeutung. Die abschließende Beschreibung der Gesamterscheinung greift Ri 5, 31 auf. Mt 13, 43 klingt die gleiche Stelle an für die Benennung der „Gerechten im Reich ihres Vaters“ (vgl. Dan 12, 3; 4Esr 7, 97) Der Vergleich von Zugehörigen zur himmlischen Welt (oder in sie Aufgenommenen) mit der Sonne ist jüdisch und christlich verbreitet (vgl. Offb 10, 1).

II Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22) II 1. Die Beauftragung (1, 17–20) 17 Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot, er aber legte seine Rechte auf mich und sprach: Fürchte dich nicht, ich bin der Erste und der Letzte 18 und der Lebendige; aber ich war tot und siehe, ich lebe in

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Die Beauftragung (1, 17–20)

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alle Ewigkeit und ich besitze die Schlüssel des Todes und der Hölle. 19 Schreib nun, was du gesehen hast – und d. h. was ist und was geschehen wird danach. 20 Das Mysterium der sieben Sterne, die du auf meiner Rechten gesehen hast und der sieben goldenen Leuchter: Die sieben Sterne sind Engel der sieben Gemeinden und die sieben Leuchter sind die sieben Gemeinden. Die Bewegung, die mit V. 17 in die Szene kommt, entspricht – zunächst – 17 traditionellen Mustern. Der Empfänger der Epiphanie stürzt wie tot zu Boden (s. Ez 1, 28; Dan 8, 17 f.; 10, 9 f.; auch Offb 19, 10; 22, 8 f.), der Erscheinende wendet sich ihm mittels einer Geste zu, die die Darstellung V. 16 a eigentlich als unmöglich ausschließt; es zeigt sich, daß die „geschauten“ Bilder „nur“ gedacht sind, ohne daß sie dadurch indessen außer Kraft gesetzt würden. Auch die Anrede entspricht der Tradition: Fürchte dich nicht!, gefolgt von der Bekundung der Identität des Begegnenden (s. Mk 6, 50 par.; Joh 6, 20; vgl. Dan 10, 12. 19; Gen 15, 1; Ri 6, 23; Jes 41, 10, auch Sach 9, 9 in Joh 12, 15). Die Gottesbegegnung versetzt in Furcht; denn sie konfrontiert mit dem, der die Welt gründet (vgl. die Einführung der Erklärung aller Zehn Gebote bei Luther). Die Zuwendung des sich offenbarenden Gottes aber löst die Furcht. Gleichwohl bleibt Christus der, der er ist, der Erste und der Letzte und der Lebende. Die Prädikation ist kunstvoll gebildet, die Dreigliedrigkeit entsteht durch zwei Gottesprädikationen, nämlich „der Erste und der Letzte“ (Jes 44, 6; 48, 12) und „der Lebende“ (z. B. Dtn 5, 26; Dan 6, 27; JosAs 11, 10; 1. Thess 1, 9; Mt 16, 16). Freilich ist in Offb „der Erste und der Letzte“ in dieser Form kein von ihr verwendetes Gottesprädikat; 22, 13 aber weist es durch die Zuordnung zu den parallelen Titeln „das Alpha und das O“, „der Anfang und das Ende“, sicher als solches aus. Christus umgreift die Zeit, die der Raum der Geschichte ist; daß er selbst dadurch begrenzt wäre, ist nicht intendiert. Er ist vielmehr – wie vorzüglich Gott – der Lebende schlechthin. Die zweite Dreierreihe bindet das letzte Prädikat der ersten (der Le- 18 bende) in die Geschichte Jesu Christi ein und qualifiziert es damit gleichsam christologisch. Er ist der Lebende, der durch den Tod hindurchgegangen ist und dessen Leben (deshalb) nicht mehr durch die Geschichte begrenzt ist, er hat das geschichtlich durch den Tod begrenzte Leben auf die eschatologische Zukunft hin geöffnet. Und das nicht nur als Möglichkeit, sondern als in seine Hand gegebene Wirklichkeit, er hat die Schlüssel des Todes und des Hades. Ob an Tod und Hades als personifizierte Inhaber dort Schlüssel zur Totenwelt (vgl. 6, 8) oder an den Ort der Unterwelt selbst (vgl. 20, 13) gedacht ist, ist schwer zu entscheiden. Kaum jedenfalls steht eine irgendwie geartete Vorstellung vom descensus ad inferos (Abstieg in die Totenwelt) dahinter. Es handelt sich um eine Erhöhungsaussage: Christus ist der Herr des Todes. Sie wird – in dieser Weise singulär – in an-

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

tithetischer Verkehrung 3, 7 aufgenommen: Christus hat den Schlüssel (zum Hause) Davids (s. Jes 22, 22 MT und Hexapla), d. h. zum Neuen Jerusalem. Das Spiel mit dem Begriff „Schlüssel“ zeigt schön das metaphorische Verständnis der Bilder. 19 Die Vision findet ihr Ziel in dem Schreibbefehl. Zwar enthielt bereits V. 11 einen solchen, doch war der (wie zahlreiche folgende) mehr technischer Art und von begrenzter Reichweite. Jetzt erst ergeht der eigentliche prophetische Auftrag. Es ist bemerkenswert, aber auch charakteristisch, daß er auf schriftliche Kommunikation zielt (vgl. Tob 12, 20; Jub 1, 5. 26; Barn 12, 9). Das Gotteswort gewinnt Geltung nicht so sehr (oder sogar gar nicht mehr) über das aktuell gesprochene Wort, sondern über die Schrift (die freilich gehört und ausgelegt werden will). Offb entspricht mit solcher Fixierung der prophetischen Botschaft als Schrift einer Entwicklung im (Früh-)Judentum und frühen Christentum (bemerkenswert, wenn auch zu differenzieren 2. Kor 10, 10 f.). Die schriftlich fixierte Botschaft wird durch die „Kanonisierungsformel“ 22, 18 f. in ihrem Wortlaut endlich gesichert. Sie, die visuell empfangen ist, hat umfassenden Charakter, sie hat zum Inhalt das, was ist, und das, was geschehen wird danach. Damit ist nicht auf die Gliederung des folgenden Textes in den Sendschreiben und auf den „apokalyptischen“ Teil ab Kap. 4 angespielt, sondern der Gesamtinhalt der Offb gemeint, der das Wesen der Gegenwart und ihrer eschatologischen Zukunft, die bereits jetzt in ihr enthalten ist, prophetisch enthüllt. Und zwar erfolgt das mit einer Wendung (vgl. Jub 1, 4. 26; EzTrag 89; TestHiob 47, 9; Barn 1, 7; 5, 3), die einem breiten, auch pagan geprägten Leserkreis den prophetischen Anspruch der folgenden Botschaft kenntlich macht. 20 Die Schlußworte deuten, in „apokalyptischer“ Manier, den symbolischen Gehalt der Sterne und der Leuchter. Die Deutung der ursprünglich astralen Symbole ist sekundär, wenn auch wohl nicht erst, wenigstens nicht allein ein Werk des Joh. Die überkommenen Requisiten der Vision werden in Beziehung gesetzt zu der Bedeutung und Funktion ihres Zentrums, dem Menschensohngleichen; die Leuchter repräsentieren die sieben V. 11 genannten Gemeinden, die sieben Sterne auf seiner Rechten die „Engel der Gemeinde“. An diese Engel sind die folgenden Gemeindebriefe gerichtet. Ihr Inhalt zeigt, daß sie sich bewußt an die Gesamtgemeinde wenden; sie wird als Einheit angeredet, aber doch gerade in der Differenzierung ihrer Glieder in den Blick (und in das Urteil) genommen (vgl. z. B. 2, 10; 2, 14 f.; 2, 34; 3, 4). Schon von daher ist es unmöglich, daß der „Engel der Gemeinde“ für einen menschlichen Repräsentanten der Gemeinde (etwa ein monarchischer Bischof) steht. Er ist vielmehr eine Individualisierung der jeweiligen kollektiven Gemeinde, repräsentiert sie in ihrem Gehalt und ihrer Geschichte, ohne in ihr als ihr Symbol gleichsam aufzugehen. Ein

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Die Sendschreiben (2, 1–3, 22)

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derartiges Denken liegt offenbar im Alten Testament der Vorstellung vom Knecht Gottes (ebed JHWE) in Deutero-Jesaja zugrunde. Dazu tritt der im gleichen atl.-jüd. Bereich lebendige Glaube, daß menschlichen Gemeinschaften je besondere Engel als Begleiter ihrer Geschichte zugeordnet sind (Dtn 32, 8LXX; Sir 17, 17; Dan 10, 13; 1Hen 89, 59 f. – christlich HermSim V 5, 3; AscJes 3, 15 [„Engel der Kirche“]). Beides verbunden könnte dazu geführt haben, die „Engel der Gemeinde“ als geeignete Empfänger der prophetischen Botschaften Christi darzustellen, durch die der Kirche ihre Situation vor Augen gestellt und die in ihr enthaltene Zukunft eröffnet wird. Sie wird damit als Ganze und in ihren einzelnen Gliedern in die Verantwortung genommen, und es wird ihr bewußt gemacht, daß sie mehr ist als ein durch den Zufall der Geschichte zusammengeführter Verein. Nicht ein Vorsteher oder Bischof repräsentiert die konkrete Einzelgemeinde vor ihrem Herrn, dem Menschensohngleichen, sondern sie sich selbst in ihrer engelischen Entsprechung. Mit seiner Einführung umgeht Joh, bewußt oder ohne sie sich selbst ausdrücklich gestellt zu haben, die Frage, an wen konkret in der jeweiligen angeredeten Gemeinde das Sendschreiben gerichtet ist. Das ist zweifellos schon bei den Paulusbriefen ein Problem, das dort freilich durch die Sonderstellung des Apostels als der „Vater der Gemeinde“ aufgefangen ist (außer bei Röm, der auch deshalb eine Sonderstellung hat). Abwehr einer Engelverehrung in den angeredeten Gemeinden, die das Heil durch ihre Engel garantiert glaubt, liegt gewiß nicht vor; dafür fehlen doch wohl die Voraussetzungen, und 19, 10; 22, 8 f. können eine solche Annahme nicht tragen.

II 2. Die Sendschreiben (2, 1–3, 22) Die sieben Sendschreiben bilden ein eigenes Corpus im Gesamtbrief der Offb. Sie sind literarisch von gleicher Struktur. Ihre Form begegnet im übrigen Brief nicht wieder, hat aber darüber hinaus überhaupt in der uns bekannten Literatur keine genaue Parallele. Andererseits sind sie literarisch unlöslich mit ihrem Kontext verknüpft. Das gilt nicht nur, wenn auch in besonderem Maße, mit Blick auf den vorangehenden Text, sondern auch für den folgenden, auf den die „Überwindersprüche“ gezielt Bezug nehmen. So drängt sich die Vermutung auf, daß auch in der vorliegenden Form die Sendschreiben Schöpfungen des Verfassers der ganzen Schrift sind. Alle sieben Briefe haben einen erstaunlich gleichen Aufbau; dabei ist der Inhalt reich variiert. Alle werden mit dem gleichlautenden Befehl an Joh, dem Engel der Gemeinde in N N zu schreiben, eingeführt. Dieser Teil gehört noch nicht zu dem Sendschreiben selbst. Dieses beginnt, wieder immer genau gleich, mit der Wendung: „So spricht der …“; gefüllt wird die

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

Selbstpräsentation des Sprechers zwar formal ähnlich mit einer nominalen Bezeichnung, die freilich in mehreren Fällen über das Partizip verbalen Charakter hat. Vielfach ist dabei an die vorangehende Vision angeknüpft. Es folgt der stets mit der Wendung „ich kenne“ eingeleitete Hauptteil, der das dem Verfasser Wichtige an der Situation der Gemeinde benennt und der Beurteilung unterwirft, die in Lob und Tadel (mit Bestärkung oder Umkehrforderung) oder auch nur eines von beidem mündet. Es folgen ein immer wortgleicher Aufruf zum Hören sowie eine eschatologische Heilszusage an den „Sieger“, die häufiger Elemente aus dem anschließenden Visionsteil vorwegnimmt. Diese beiden Schlußteile sind beweglich; in den ersten drei Briefen steht der Siegerspruch am Schluß, in den folgenden vier der Aufruf zum Hören. Es lassen sich mithin vier feste Teile unterscheiden, von denen der zweite sich noch einmal untergliedern läßt in „Analyse“ und „Beurteilung“ der Situation. Für alle Einzelteile lassen sich Parallelen aus der paganen sowie der jüdisch-frühchristlichen Literatur beibringen, zu den Sendschreiben als ganze, zumal in ihrer siebenfachen Gleichgestalt, indessen nicht. Vermutungen, sie entsprächen in ihrer Gestalt Formen der urchristlichen Prophetenrede, entbehren der Grundlage, auch wenn man wohl damit rechnen kann, daß einzelne Elemente in der Rede urchristlicher Propheten (vgl. Apg 21, 11) eine Rolle spielten. Noch weniger eignen sich die Sendschreiben dazu, als Beleg für die prophetische Produktion sekundärer Jesus-Worte in Anspruch genommen zu werden, obwohl sie sich als solche des verherrlichten Christus geben. Sie verdanken sich so, wie sie im Kontext der Offb begegnen, vermutlich der literarischen Gestaltungskraft des Verfassers des Gesamtwerkes. Das schließt allerdings nicht aus, daß in ihrem Hintergrund eine inhaltliche Erinnerung an die Art zeitgenössischer obrigkeitlicher Edikte steht, Christus also für die Gemeinden an die Stelle des „Kaisers“ getreten erscheint. Für solchen ihren Ursprung spricht auch, daß sie bei aller unverkennbaren Individualität, die die Kontur der konkret angeredeten Gemeinde deutlich erkennen läßt, doch erst in ihrer Gesamtheit die volle Bedeutung erhalten, nämlich die Kirche als ganze, die sich (nur) in ihren Einzelgemeinden darstellt, von ihrem Herrn angeredet sein zu lassen. Daß jedes Sendschreiben zugleich alle Gemeinden im Blick hat, zeigt der einzige in allen genau wortgleiche Teil, der Aufruf zum Hören. Er schärft ein, daß jede Einzelbotschaft allen gilt. Das wird unterstrichen dadurch, daß für den Absender der Briefe, Christus, begründungslos „der Geist“ als Sprecher eintritt (2, 7 usw.); Christus begegnet der Kirche in der Gestalt des Geistes (vgl. Joh 14, 16. 26; 15, 26; 16, 13 f.; s. auch Offb 19, 10 fin). Bei der Auslegung ist zu beachten, daß die einzelnen Schreiben in ihrer Summe ein Bild der ganzen Kirche bieten wollen. Das gilt übrigens auch für die

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Ephesus (2, 1–7)

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historische Frage nach der sich in ihnen spiegelnden kontingenten Gestalt der Einzelgemeinde; sie erscheint nur holzschnittartig, konzentriert auf charakteristische Einzelzüge. II 2. 1 Das Sendschreiben an die Gemeinde in Ephesus (2, 1–7) 2, 1 Dem Engel der Gemeinde in Ephesus schreibe: Das sagt der, der die sieben Sterne in seiner Rechten hält, der inmitten der sieben Leuchter wandelt: 2 Ich weiß um deine Werke, die Mühe und die Ausdauer, die du hast und daß du Böses nicht zu ertragen vermagst und daß du die, die sich selbst Apostel nennen, erprobt hast; und sie sind es nicht, und du hast sie als Lügner erfunden; 3 und du hast Durchhaltevermögen und warst um meines Namens willen belastbar und ermüdetest nicht. 4 Einzuwenden gegen dich indessen habe ich, daß du deine erste Liebe verlassen hast. 5 Gedenke also, wovon du abgefallen bist, und kehre um und wirke die ursprünglichen Werke. Wenn nicht, dann komme ich zu dir und entferne deinen Leuchter von seinem Platz – wenn du nicht umkehrst. 6 Das freilich hast du, daß du die Werke der Nikolaiten ablehnst, die auch ich ablehne. 7 Wer ein Ohr hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Dem Überwinder werde ich zu essen geben von dem Holz des Lebens, das im Garten Gottes sich befindet. Daß die Gemeinde in Ephesus als erste der sieben Gemeinden angesprochen wird, entspricht offenbar der Bedeutung des Ortes und ebenso dem Ansehen seiner Gemeinde. Ephesus gehört zu den bedeutendsten griechischen Städten Kleinasiens, bevorzugt durch ihre zentrale Lage an der Küste, ausgestattet mit einem wichtigen Hafen. Von herausragender Bedeutung war der riesige Artemistempel, der zu den sieben Weltwundern der Antike gehörte und ein Götterbild barg, das als vom Himmel gefallen galt (vgl. Apg 19, 23–40, bes. V. 27 und 35). Die schärfsten Konkurrenten waren Smyrna und Pergamon. Für das frühe Christentum hatte Ephesus zweifellos die zentrale Bedeutung. Vielleicht nicht erst von Paulus gegründet (s. den – freilich schwierig zu durchschauenden – Bericht Apg 18, 24–19, 7), dann aber sein wichtigstes Missionszentrum in der östlichen Ägäis, diente die Stadt ihm zwei bis drei Jahre (Apg 19, 8. 10 auch 19, 31; s. 1. Kor 15, 32; 16, 8) als Basis seines Wirkens; nach Apg 20, 17–38 übergibt der Apostel den ephesinischen Ältesten in Milet sein Testament als Zeuge Christi. Nach den Pastoralbriefen, die vermutlich z. Z. von Offb geschrieben sind, residiert Timotheus in Ephesus (1. Tim 1, 3; vgl.

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

1. Tim 1, 18; 4, 12). In der altkirchlichen Tradition wird Johannes mit Ephesus in enge Verbindung gebracht, doch ist das historisch schwierig zu verifizieren. Sogar die Mutter Jesu soll dort gelebt haben. 1 Der Autor stellt sich vor als der, der über die „Engel der Gemeinde“ zu verfügen die Macht hat dessen Wirken im Kreis der Gemeinden sein Zentrum hat. Das gilt für Ephesus, ebenso aber auch für alle Gemeinden. Welch ernste Folgen das für sie haben kann, wird V. 5 b ansagen. 2–3 Das Urteil über die Gemeinde richtet sich auf drei Felder: Werke – Mühen – Durchhalten. In 1. Thess 1, 3 hebt Paulus bei der dankenden Erinnerung an seine Gemeinde die gleichen Bereiche als solche der Bewährung von Glaube, Liebe und Hoffnung hervor. Sie sind sichtlich entscheidend für christlichen Lebensvollzug. Johannes ordnet, wie seine Aussageweise annehmen läßt, das Durchhalten den Werken als deren besondere Entfaltung zu (bzw. unter). Dem entspricht die hervorragende Bedeutung, die den „Werken“ in Offb insgesamt und vorzüglich in den Sendschreiben zukommt. Außer in den zwei folgenden, an Smyrna (V. 9) und an Pergamon (V. 13), werden sie in allen als der bzw. ein Bereich genannt, an dem Christus seine Gemeinde erkennt. Daß „Werke“ zum „Glauben“ im Gegensatz stehen könnten, ist nicht im Blick. Sie sind vielmehr dasjenige Verhalten, in dem sich das Wesen der Gemeinde und ihrer Glieder im Lebensvollzug darstellt, das „Bewahren der Weisungen Gottes und das (Durch-)Halten des Jesuszeugnisses“ (12, 17, vgl. 14, 12). Das verwirklicht sich sowohl im aktiven Einsatz für Christus und seine Sache als auch passiv im Durchhalten des Glaubens bis ans Ende (vgl. V. 10 c). In Ephesus indessen – wie hernach in Pergamon und Thyatira – hat sich die Gemeinde einer besonderen Bewährungssituation zu stellen, der Konfrontation mit innergemeindlichen Widersachern. Das sind die zunächst nicht näher charakterisierten „Bösen“, die die Gemeinde nicht zu tolerieren bereit ist. Sie traten mit „apostolischem“ Anspruch auf, doch haben die Angeredeten ihren Anspruch durchschaut und als von keiner Wirklichkeit gedeckt aufgewiesen. Sichtbar wird eines der gewichtigsten Probleme der frühen christlichen Gemeinde, nämlich die Schwierigkeit zu beurteilen, was wirklich „Evangelium Jesu Christi“ ist im Unterschied zu dem, was unter diesem Anspruch verkündigt wird. Zwar sind „Apostel“ die Boten und Garanten des Evangeliums, doch gibt es (noch) kein gesichertes, allgemeinverbindlich akzeptiertes Kriterium, um zu entscheiden, wer unter denen, die Apostel zu sein beanspruchen, es tatsächlich ist. Zwar bildet sich zur Zeit von Offb die Vorstellung vom Zwölfer-Apostolat, der sich Jesus selbst verdankt, heraus (Offb 21, 14), hat aber noch nicht jeden anderen Anspruch auf das Apostelamt verdrängt. Ein gleiches Nebeneinander von ZwölferApostolat und gleichsam freien Aposteln läßt die (vermutlich gleichzeitige) „Lehre der zwölf Apostel“ erkennen, die (Did 11, 4–6) handfeste

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Ephesus (2, 1–7)

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Maßstäbe nennt, wie Apostel und Pseudo-Apostel zu unterscheiden sind. Der Kampf des Paulus um die Legitimität seines Apostolats (s. 1. Kor 9, 1–3; 2. Kor 11, 4 ff.) und gegen „Lügenapostel“ (2. Kor 11, 13) macht grell sichtbar, welche Bedeutung dieses Problem hatte. Es gibt im wesentlichen nur das durch den Geist vermittelte (s. 2, 7 a.17 a.29) Urteil Christi, das die Entscheidung über die Wahrheit von Aposteln (Ephesus), Lehrern (Pergamon) oder Prophetinnen (Thyatira) bestätigt (2, 2. 6) oder vorgibt (2, 14. 20). Paulus spricht von dem Charisma der „Unterscheidung der Geister“ (1. Kor 12, 10; s. a. 1. Thess 5, 20 f.). Es liegt nahe, die falschen Apostel (V. 2) mit den „Nikolaiten“ (V. 6, dann noch einmal 2, 15) in Verbindung zu bringen sowie mit den Anhängern der „Isebel“, die sich „Prophetin“ nennt, in Thyatira. Sicher ist das freilich nicht. Auch sollte man beachten, daß nirgends die „Nikolaiten“ selbst, sondern nur ihre Worte (V. 6) und ihre Lehre, die überdies mit der „Lehre Bileams“ identisch zu sein scheint (V. 15), zurückgewiesen wird. Es ist mithin nicht auszuschließen, daß es in den angeredeten Gemeinden gar keine von sich selbst oder anderen so definierte Gruppe von „Nikolaiten“ gegeben hat, sondern daß Johannes selbst ihr als Abfall von Christus sich ihm einheitlich darstellendes Verhalten, das sich selbst als durchaus christlich verstand, so zusammenfassend benennt. Herkunft und Sinn der Bezeichnung sind ohnehin – trotz vieler Bemühungen um seine Erhellung – völlig unklar. Auch die Annahme einer irgendwie gearteten Verbindung zu dem Apg 6, 5 als Angehöriger der Gruppe der „Sieben“ genannten Nikolaos, Proselyt aus Antiochia, ist reine Vermutung, die nur das für sich geltend machen kann, daß der – durchaus geläufige – Name Nikolaos im (z. Z. von Offb freilich noch nicht existierenden!) Neuen Testament sonst nirgends begegnet. Daß die Kirchenväter alsbald mehr über ihn und seine Anhänger wußten, darf nicht verwundern, besagt aber gar nichts. Ob „Nikolaiten“ eine Selbstbezeichnung einer christlichen Gruppe in Kleinasien oder eine von Johannes geschaffene (charakterisierende?) Benennung ist, wir können sie nicht erklären. Über ihre „Werke“, d. h. ihren Lebensvollzug, erfahren wir aus dem Schreiben an Ephesus nichts; erst das nach Pergamon gibt darüber eine gewisse Auskunft, die durch den Blick auf den Brief an Thyatira präzisiert werden kann. Darauf ist zu 2, 14–16 näher einzugehen. Die ephesinische Gemeinde hat in der Abwehr der Lügenapostel und 4–6 der Verführung der Nikolaiten ihr Durchhaltevermögen bewährt, hat die Last des Christusbekenntnisses auf sich genommen und hat nicht resigniert. Freilich ist darüber das ursprüngliche Engagement auf der Strecke geblieben. Die Richtung ihres Weges neigt ins Abseits, die Möglichkeit des Endes als Gemeinde ist nicht mehr auszuschließen, obwohl das eine eigentlich unmögliche Möglichkeit ist. Denn sie ist einer der sieben Leuchter, in deren Mitte der Menschensohngleiche steht (1, 13), deren Vollzahl

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

der Minderung nicht fähig ist. Und doch droht ihr ein Ende, wenn sie nicht bleibt, was sie ist. 7 Die Verheißung an den „Sieger“ nimmt ein Motiv auf, das Schöpfung und Vollendung der Welt miteinander verbindet. Wie einst im Paradies, aus dem der Mensch vertrieben wurde (Gen 2, 9; 3, 22–24), so wird der Baum des Lebens in der endzeitlichen Stadt Gottes stehen und Frucht für die Bewohner tragen (22, 2. 14; vgl. TestLev 18, 11; 4Esr 8, 52). Wer den Kampf des Lebens, der an der Frontlinie zwischen Gott und Widergott geführt wird (vgl. 1QM!), siegreich auf der Seite Gottes besteht, der wird (mit Christus, 3, 21; vgl. 5, 5) Teilhaber sein an der erlösten Welt, die zu ihrem Ursprung zurückgekehrt ist und in der das Leben nicht mehr durch den Tod begrenzt sein wird. II 2. 2 Das Sendschreiben an die Gemeinde in Smyrna (2, 8–11) 8 Und dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und lebendig wurde. 9 Ich weiß mit Blick auf dich um die Bedrängnis und die Armut, aber du bist reich, und um die Schmähungen derer, die für sich selbst beanspruchen, Juden zu sein, es aber nicht sind, sondern eine Synagoge des Satans. 10 Fürchte nichts, was du erleiden wirst. Siehe, der Teufel will Leute von euch in das Gefängnis werfen, damit ihr auf die Probe gestellt werdet, und ihr werdet Bedrängnis erleiden – zehn Tage. Sei treu bis zum Tode, und ich werde dir die Krone des Lebens geben. 11 Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Wer überwindet, der wird vom zweiten Tod nicht überwältigt werden. Smyrna, das heutige Izmir, begegnet im Neuen Testament nur Offb 1 und 2, tritt aber alsbald im Anfang des 2. Jh. (Ignatius von Antiochien) deutlicher als Ort einer christlichen Gemeinde hervor. Auch eine jüdische Gemeinde im 1. Jh. ist sonst nicht bezeugt, ihre Existenz aber durch 2, 9 gesichert. Die nördlich von Ephesus bevorzugt an der Küste gelegene große, mit Ephesus konkurrierende Stadt hatte sich relativ früh und umfänglich dem römischen Staatskult geöffnet. Der Briefautor präsentiert sich als der, der die Geschichte der Welt um8–9 spannt, gleichwohl in sie radikal einbezogen ist, sie aber ebenso radikal unter sich gelassen hat. Die Prädikationen rufen den Eingang des Buches in das Bewußtsein, 1, 8 und 1, 18. Der Verweis auf die Geschichtsmächtigkeit des Christus vergewissert eine Gemeinde, deren Merkmal Bedrängnis, Armut und Verunglimpfung ist, die mithin bereits durch die Signatur eschatologischer Existenz geprägt ist. Die dialektische Verkehrung des Prädikats „Armut“ zeigt, daß es metaphorisch verstanden sein will, ohne

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Smyrna (2, 8–11)

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daß dadurch freilich ein auch materielles Verständnis ausgeschlossen würde (vgl. 3, 17 f.). „Bedrängnis“ und „Blasphemie“ wird kurz und eindrücklich erkennbar gemacht. Die Verleumdung geht von den sich dem Evangelium verweigernden Juden aus. Scharfe Distanzierungen zwischen der christlichen und der jüdischen Gemeinde am jeweiligen Ort treten noch einmal, im Sendschreiben nach Philadelphia (3, 9), hervor. Sie stellen für den heutigen Leser ein besonderes Problem dar. Indessen ist zunächst und sogleich mit allem Nachdruck zu betonen, daß mit dem, was mit uneingeschränktem Recht als Antisemitismus verurteilenswert ist, unser Text nichts zu tun hat. Und das gilt auch im wesentlichen für seine Wirkungsgeschichte. Fundamental ist, daß hier, wie an den meisten Stellen, an denen im Neuen Testament Polemik gegen „Juden“ artikuliert wird, so gut wie sicher ein Jude im Sinn unseres Sprachgebrauchs redet! Das für den „Antisemitismus“ konstitutive Moment der ethnischen, „rassischen“ Abkunft spielt in keiner Weise irgendeine Rolle, vielmehr ausschließlich das Bekenntnis, in ntl. Zeit allein das zu dem gekreuzigten Jesus als Christus (Gottes) bzw. seine Verwerfung. Anzunehmen, daß das Verhalten der Christus-Bekenner gegenüber denjenigen, die es ablehnen oder bekämpfen, durch deren ethnische Herkunft bestimmt sei, wäre absurd. Der „Synagoge des Satans“ in Smyrna entspricht der (sicher pagane) „Thron Satans“ in Pergamon, 2, 13 (s. dort). In welchen Horizont solche Polemik gehört, zeigt die Auseinandersetzung der jüdischen Qumran- Gemeinde mit der jüdischen Muttergemeinde, die als „Rat des Truges, Gemeinde Belials“ (1QH 2, 22) und „Versammlung der Männer des Frevels“ (1QS 5, 1 f.; vgl. 1QM 15, 9) qualifiziert wird. Und wie die Offb über die Zukunftserwartung der heidnischen Gesellschaft, die sich Christus verweigert, denkt, ist Offb 17–19 nachzulesen. Wirkungsgeschichtlich ist darauf zu verweisen, daß neben den schlimmen Judenpogromen des Mittelalters die Ketzerkreuzzüge gegen die Albigenser, die Bogomilen, die Waldenser u. a. stehen, deren Ziel die physische Ausrottung der „Glaubensfeinde“ war. Und daß auch der Jesus Christus ablehnende Teil des Judentums sich scharf und gewaltsam von dem anderen Teil abgrenzte, zeigt gewissermaßen im Vorfeld das Schicksal und Ende Jesu, sodann Stephanus Apg 7, 57–59, der Weg des Paulus (2. Kor 11, 24 f.), Joh 9, 22; 12, 42 bzw. die dahinterstehenden Erfahrungen. Es stehen sich nicht Ethnien, „Rassen“ gegenüber, sondern existenzgründende Glaubensüberzeugungen, hier dazu noch solche, die eine gemeinsame Wurzel haben und sie je für sich beanspruchen. Die gegenwärtige Lage der Gemeinde, die drohende Haft ihrer Glieder, 10 wird von Johannes in keinen Zusammenhang mit dem Verhalten der Synagoge gebracht; der (freilich nur terminologische) Wechsel zwischen „Satan“ und „Diabolos“ als Bezeichnung des eigentlichen Urhebers schließt das eher aus. Zu erwarten hat die Gemeinde ein gewaltsames Vorgehen

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

der Behörden mit unsicherem Ausgang; eine eigenständige Haftstrafe kennt die römische Rechtsprechung nicht. 11 Der Auferstandene nimmt der Gemeinde die Furcht und spricht ihr Hoffnung zu. Das Leiden hat eine positive Bedeutung, es dient ihrer Bewährung und es währt (nur) eine von Gott dafür gesetzte Frist, die der der Erprobung der Lebensweise Daniels am Hofe Nebukadnezars entspricht (Dan 1, 12. 14). Darin dürfte die Erwartung eines guten Ausgangs der Prüfung gesetzt sein. Faktisch kann sie freilich zum Tode führen, wie die Mahnung zur Treue erkennen läßt (s. auch die Verheißung V. 11). Wer sein Leben für Christus einsetzt, wird als Preis das die Grenze des Todes sprengende Leben erhalten, der „Sieger“ wird durch den zweiten, den end-gültigen Tod nicht ver-nichtet werden (s. 20, 6. 14 f.; 21, 8). Die Gemeinde zu Smyrna ist die einzige, deren Weg unbedenklich erscheint. Auch in ihr stellt sich die Gemeinde Christi dar; das Urteil über sie ist eines, das für die ganze Kirche Bedeutung hat. So hebt es der Mahnspruch V. 11 a hervor. II 2. 3 Das Sendschreiben an die Gemeinde in Pergamon (2, 12–17) 12 Und dem Engel der Gemeinde in Pergamon schreibe: Das sagt der, der über das zweischneidige Schwert verfügt. 13 Ich weiß, wo du wohnst: wo der Thron des Satans ist. Aber du hältst meinen Namen fest und verleugnetest den Glauben an mich auch in den Tagen des Antipas, meines Zeugen, meines Getreuen, nicht, der bei euch zu Tode gebracht wurde – dort wo Satan zu Hause ist, 14 Aber ich habe gegen dich einiges einzuwenden, nämlich daß es bei dir solche gibt, die sich an der Lehre Bileams festmachen, der dem Balak beibrachte, die Söhne Israels in die Falle zu locken, Götzenopfer zu essen und Unzucht zu treiben. 15 So hast auch du solche, die gleichfalls sich an die Lehre der Nikolaiten halten. 16 Kehre nun um; wenn aber nicht, komme ich alsbald und werde sie bekämpfen mit dem Schwert meines Mundes. 17 Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Dem Überwinder werde ich geben von dem verborgenen Manna und ich werde ihm einen weißen Stein geben und auf dem Stein steht ein neuer Name geschrieben, den niemand anders kennt als der, der ihn empfängt. Pergamon steht gleichrangig in der Asia neben Ephesus. Vor allem im Bereich des geistig-religiösen Lebens hat die Stadt eine hervorstechende Bedeutung, bes. durch ihre in der Antike weltberühmte Bibliothek sowie ihre Tempelanlagen. Die Bibliothek hatte ihren Ort im Gelände des Tem-

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Pergamon (2, 12–17)

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pels der Athene, deren Statue im Jahr 20 v. Chr. durch ein Standbild des römischen Herrschers Augustus ersetzt wurde. Zuvor schon (29 v. Chr.) erhielt die Stadt die Erlaubnis, einen Tempel für Augustus und die Göttin Roma zu errichten (ursprünglicher Ort unsicher). Durch den PergamonAltar – jetzt in Berlin – ist der große alte Zeusaltar (2. Jh. v. Chr.) bei uns bekannt. Für die Zeit der Offb von besonderem Gewicht war das Asklepius-Heiligtum außerhalb der Stadt, das an Bedeutung Epidaurus kaum nachstand. Es ist verständlich, daß eine solche Großstadt mit sicher auch jüdischer Bevölkerung ein Ort der besonderen Bewährung für die Christen war. Christus stellt sich der Gemeinde mit dem Attribut des Schwertes als 12–13 der Richter dar. Er weiß um die exponierte Situation der Gemeinde an einem Ort, an dem sich heidnisch-hellenistische Kultur, Religion und politische Ideologie einprägsam darstellen und das gesamte soziale Leben beeinflussen. Ob Johannes bei dem Hinweis auf den „Thron des Satans“, die Stätte, „an der Satan wohnt“, an einen bestimmten Ort denkt oder das Gemeinwesen insgesamt im Sinn hat, ist kaum zu entscheiden. Die Gemeinde aber hat im unmittelbaren Umfeld des Gegengottes ihre Treue zu Christus bewahrt, ihren Glauben nicht verraten, auch nicht in der Situation blutiger Konfrontation. Der Märtyrertod des Antipas scheint bereits einige Zeit zurückzuliegen. Auch zeigt die Nennung seines Namens und nur die seines, daß es sich wahrscheinlich um ein singuläres Ereignis handelte. Mag auch den Bekennern blutige Verfolgung drohen (vgl. 20, 4), gegenwärtige Wirklichkeit ist sie (noch) nicht. Dem gewichtigen Lob schließt sich eine (durch „ein wenig“ einge- 14–15 schränkte) Beanstandung an (vgl. 2, 4. 20). Wie in der ephesinischen Gemeinde leben auch in Pergamon solche, die die Lehre der Nikolaiten vertreten. In sprachlich etwas ungenauer Weise wird die Lehre der Nikolaiten zunächst als „Lehre Bileams“ gekennzeichnet. Wohl erst Joh, nicht schon die „Nikolaiten“ selbst, sahen die sachliche Identität beider Falschlehren. Das (im Alten Testament schillernde, in der antiken Wirkungsgeschichte aber natürlich nicht traditionsgeschichtlich zergliederte) Bild des Bileam (Num 22–24; 31, 16 [25, 1 f.]; Jos 13, 22) wurde in der späteren jüdischen Tradition negativ weiterentwickelt; er wird zum Prototyp des habgierigen Verführers. So auch Jud 11; 2. Petr 2, 15 f. Seine durch Balak vermittelte Lehre verstrickt Israel in den Abfall, der mit dem Hendiadyoin: sich dem Götzenopfer und der Unzucht hingeben (Num 25, 1 f.!), gebrandmarkt wird. Da Offb „Unzucht treiben“ eindeutig metaphorisch gebraucht (s. nur 2, 20–22), gilt das ebenso für „Götzenopfer essen“; beide Vorwürfe stehen – wie in jüdischer Redeweise auch sonst – für Abfall hin zu Irrglauben. Über die Art des Irrglaubens sagen sie nichts; alle diesbezüglichen Vermutungen, die sich – methodisch inkonsequent – in der Regel nur an die Wendung „Götzenopfer essen“ knüpfen und daraus auf den Umgang

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

der „Nikolaiten“ mit den religiösen und kulturellen Institutionen und Umgangsformen der paganen Umwelt schließen wollen, hängen weitgehend in der Luft; höchstens könnte man aus der Wahl der atl. Präfiguration folgern, daß Johannes ein Moment der Habsucht einem derartigen Verhalten unterstellt. 16 Neben der deutlichen Einschränkung V. 14 („ein wenig“) läßt auch die „Drohung“ erkennen, daß die Gefährdung der Gemeinde begrenzt ist; nicht sie selbst (vgl. dagegen V. 5!), nur die Irrglaubenden werden dem Gericht unterworfen. 17 Den „Überwinder“ erwartet doppelter Lohn; er wird am eschatologischen Heilsmahl teilhaben (vgl. 2Bar 29, 8 [Sib 7, 148 f.], auch JosAs 16, 14 [Honigwabe]), ihm wird der Los-Stein des Lebens zufallen, auf dem der neue Name steht. Das ist entweder der neue Name des Christus (vgl. 3, 12; 19, 12) oder aber – wahrscheinlicher – der neue Name des Überwinders, der ihn als solchen ausweist (vgl. Jes 62, 2; 65, 15). Das griechische Wort für den Stein sowie seine weiße Farbe legen den Gedanken an einen Stimmstein nahe (s. Apg 26, 10), er fällt das Urteil, das eschatologisches Leben zuspricht. II 2. 4 Das Sendschreiben an die Gemeinde in Thyatira (2, 18–29) 18 Und dem Engel der Gemeinde in Thyatira schreibe: Das sagt der Sohn Gottes, der die Augen wie flammendes Feuer hat und die Füße gleich Golderz. 19 Ich weiß um deine Werk, deine Liebe und den Glauben und die Dienstbereitschaft und dein Durchhaltevermögen; und deine jüngsten Werke sind fülliger als die anfänglichen. 20 Gegen dich aber habe ich, daß du die „Dame“ Isebel, die selbsternannte Prophetin, gewähren läßt, die meine Knechte lehrt und in die Irre führt, nämlich Unzucht zu treiben und Götzenopfer zu essen. 21 Und ich habe ihr eine Frist gesetzt, damit sie umkehrt, aber sie will nicht umkehren aus ihrer Unzucht. 22 Siehe ich strecke sie nieder auf das Krankenlager zusammen mit ihren Ehebrechern, in große Bedrängnis, wenn sie nicht umkehren von ihren Werken. 23 Und ihre Kinder werde ich endgültig töten, und alle Gemeinden werden erkennen, daß ich Niere und Herz durchschaue. Aber ich werde einem jeden von euch zuteilen gemäß euren Werken. 24 Euch indessen, den Übrigen in Thyatira, die dieser Lehre nicht anhängen, die nicht „die Tiefen des Satans“, wie jene sagen, erkannt haben: Ich werfe keine andere Last euch auf. 25 Aber was ihr habt, das haltet fest, bis ich komme. 26 Und wer überwindet und bis zum Ziel meine Werke durchhält, dem werde ich Vollmacht geben über die Völker. 27 Und er wird sie weiden

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Thyatira (2, 18–29)

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mit ehernem Stab und die irdenen Gefäße wird er zertrümmern 28 so wie ich es von meinem Vater empfangen habe und ich werde ihnen den Morgenstern geben. 29 Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Thyatira ist eine Stadt, über die für die Zeit der Offb nur wenig bekannt ist. Sie liegt auf dem Weg von Pergamon nach Sardes, im Inneren des Landes. Ihre (insgesamt geringe) Bedeutung beruht auf Handel und Handwerk. Eine Spur der Gemeinde könnte Apg 16 begegnen, doch ist ganz unsicher, ob Lydia schon in Thyatira oder erst in Philippi bekehrt wurde; wohl aber darf man eine Synagoge vermuten (Proselytin). Das Gewerbe der Lydia, Purpurhändlerin, mag auf den Charakter der Stadt als Ort von Industrie und Handel hindeuten; jedenfalls spielten offenbar die verschiedensten Zünfte in ihr und für sie eine bedeutende Rolle. Da sie alle in einen irgendwie gearteten religiösen Kontext eingefügt waren, konnte der soziale Kontakt mit der Umwelt für Juden ebenso wie für Glieder der christlichen Gemeinde starken Belastungen ausgesetzt sein. Christus stellt sich als „Sohn Gottes“ vor, ein im Neuen Testament häu- 18 figer, früher Christustitel (vgl. Röm 1, 3 f.; 1. Thess 1, 10), der in Offb aber nur hier begegnet. Von der Anspielung an Ps 2 in der Verheißung V. 27 f. her läßt sich vermuten, daß Johannes den geläufigen Titel „Sohn Gottes“ zwar kennt, ihn aber, da er jüdisch nicht gebräuchlich war, nur in Anspielung auf die Sohn-Verheißung Ps 2 verwendet. Die beiden zugefügten Prädikate (Augen wie Feuerflammen, Füße wir Golderz) nehmen die Eingangsvision (1, 14 f.) auf; der Gottessohn ist (von Kopf bis Fuß!) der Menschensohngleiche. Seiner richterlichen Fürsorge darf die Gemeinde sicher sein. V. 19 lobt die Gemeinde in umfassender Weise. Die viergliedrige Entfal- 19 tung der „Werke“ der Gemeinde fügt in einmaliger Weise den geläufigen „Liebe – Glaubenstreue – Standfestigkeit“ die „Diakonie“, den Dienst hinzu. Im konkreten, „diakonischen“ Dienst bekundet gleichrangig mit Liebe, Treue und Festigkeit die Gemeinde ihr Wesen; und das ist mit der Zeit noch überzeugender geworden, nicht verkümmert, sondern gereift. Das ist – insbesondere im Vergleich mit Ephesus (vgl. 2, 4) – bemerkenswert. Trotz der folgenden schweren Einwände gegen eine verderbliche Bewegung in ihr empfängt sie als ganze hohe, uneingeschränkte Anerkennung (so auch V. 24 f.). Das ist bei der Beurteilung der Situation in Thyatira gebührend zu beachten. Ihrem Herrn zuwider ist die Gemeinde, indem sie das Wirken einer 20–23 Person duldet, die er Isebel nennt und deren Anspruch, Prophetin zu sein, er bestreitet. Joh, der sich selbst nicht als Prophet bezeichnet, auch in den Sendschreiben sonst keine Propheten/ Prophetinnen erwähnt, negiert nicht die Legitimität des Prophetenamtes als solches (vgl. nur 22, 9), wohl

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

aber den Anspruch der Isebel darauf. Freilich zeigt sich, daß Frauen in der frühen Gemeinde (Kleinasiens) an sich Träger der Prophetenfunktion sein und geistlichen Einfluß auf die Gemeinden beanspruchen und behaupten konnten. Denn Isebel wird nicht, weil sie eine Frau ist, abgelehnt. Der Name Isebel ist eine Metapher und stellt die Prophetin auf eine Stufe mit der berüchtigten fremdreligiösen Frau des israelitischen Königs Ahab (1. Kön 16 bis 2. Kön 9), die 2. Kön 9, 22 ausdrücklich der „Hurerei und Zauberei“ bezichtigt wird. Wie der Name der „Prophetin“ in Thyatira so ist auch (ebenso wie V. 14) der Vorwurf, sie lehre und verführe zu Unzucht und Essen von Götzenopfer, metaphorisch gemeint. In der folgenden Explikation dessen wird nur die Metapher der Unzucht aufgenommen, aber nachhaltig entfaltet. Zunächst war Isebel noch eine Frist zu Buße und Umkehr eingeräumt (vgl. Röm 2, 4), sie aber hat sie nicht genutzt. Freilich bleibt die Möglichkeit zur Umkehr bestehen. Die Ansage der Strafe hält an der Metapher „Unzucht“ fest, sie wird aber auf die „Verführten“ ausgedehnt. Dem, was aus dem prophetisch (schein)legitimierten Abfall vom Glauben an den (wahren) Herrn der Gemeinde, den Johannes mit seinem Zeugnis vertritt, als Frucht hervorgeht, wird der Untergang angesagt: Wer sich von Christus abwendet, verfehlt das Leben! Und das ist eine Gegebenheit, die nicht allein dieser Gemeinde gilt, sondern allen Gemeinden; die ganze Kirche hat dem Herz und Nieren prüfenden Blick (s. Jer 17, 10) ihres Herrn standzuhalten mit ihrer gesamten Existenz. Gerade wegen solcher universalen Geltung des Umkehrrufes zu Christus wird die historische Unschärfe der vorangehenden Verurteilungen verständlich, die – gleichsam überzeitlich – mit „Unzucht“ und „Essen von Götzenopferfleisch“ allein auf Abfall zielt, der sich historisch freilich je höchst konkret manifestiert. 24–25 Auch die Zusage an die „Übrigen“ in der Gemeinde, über deren Umfang solche Bezeichnung nichts erkennen läßt (vgl. Röm 11, 7; Lk 18, 11), enthält leider keine wirklich erkennbare Charakterisierung der Gegenspieler. Allerdings läßt die Formulierung „wie sie selber sagen“ – im Vergleich mit 2, 9; 3, 9! – annehmen, daß Isebel und ihre Jünger selbst die „Tiefen Satans“ erkannt zu haben beanspruchen und nicht etwa erst Johannes polemisch „Satan“ anstelle „Gott“ sagt. Was aber damit konkret gemeint ist, bleibt offen, übrigens auch, wenn es ursprünglich „Tiefen Gottes“ geheißen haben sollte. Freilich läßt die Parole ein starkes Überlegenheitsbewußtsein erkennen, das wohl in irgendeiner Weise in theologischen Spekulationen über einen konsequent gedachten Monotheismus gründete. Die bedrohliche Realität auch des Satans, des Widergottes, steht für Johannes jedenfalls nicht in Frage. Die Zusage selbst beschränkt die Not der Gemeinde auf ihre Konfrontation mit der Irrlehre der Isebel. Trotz einer gewissen verbalen Nähe zu Apg 15, 28 („keine andere Last auferlegen“) besteht kein sachlicher Zusammenhang zwischen beiden

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Sardes (3, 1–6)

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Stellen, so daß man den Konflikt in Thyatira mit dem „Aposteldekret“ in Beziehung setzen könnte (vgl. eher Gal 6, 2). Daß die Gemeinde insgesamt intakt ist, versichert der abschließende Satz, der sie zum Bleiben bei sich selbst mahnt; die Verwandtschaft mit 3, 11 ist bemerkenswert. Der „Überwinder“, der der besonderen Situation der Gemeinde ent- 26–27 sprechend als der genannt wird, der bis zu Ende unverrückt zu Christus steht, wird derjenige sein, der sich denen gegenüber, die sich nicht zu dem Gott, den Christus bezeugt, stellen, als überlegen erweist, als der wahre Mensch. Denn er wird an der Vollmacht Christi über die Menschen teilhaben, die in Worten des messianisch verstandenen Ps 2, 8 f. (vgl. Offb 12, 5; 19, 15; auch PsSal 17, 23 f.), mithin metaphorisch beschrieben ist. Die Vollmacht vollzieht sich als Gerichtshandeln; die Situation der Krise verbietet den Kompromiß, bei der Frage nach Leben oder Tod gibt es nur ein Ja oder Nein. Das Wissen um die Härte der Entscheidung zwischen Gott und Widergott trägt die ganze Offb. Ungewiß ist die Bedeutung der Verheißung des Morgensterns. Da 22, 16 28–29 Jesus sich selbst „der glänzende Morgenstern“ nennt, darf man vielleicht annehmen, daß dem Überwinder die Übereignung der Wirklichkeit Christi zugesagt wird, die sich mit der Venus verbindet. Nur wissen wir eben nicht, welche das ist, auch wenn man vermuten kann, daß es sich um den Bereich von Herrschaft und Sieg handelt. Möglicherweise liegt ein Bezug auf das Alte Testament vor, der für uns aufgrund auslegungsgeschichtlicher Entwicklungen nicht erkennbar ist. Jedenfalls rückt die Verheißung den Überwinder an die Seite seines Herrn und über ihn, den Gottessohn (V. 18; Ps 2), an die Seite Gottes. Ab jetzt (V. 29) rückt der Ruf zum Hören an das Ende der Sendschreiben, ohne daß dafür ein besonderer Grund erkennbar würde. II 2. 5 Das Sendschreiben an die Gemeinde in Sardes (3, 1–6) 3, 1 Und dem Engel der Gemeinde in Sardes schreibe: Das sagte der, der die sieben Geister Gottes und die sieben Sterne hat. Ich weiß um deine Werke; du hast den Ruf, daß du lebst; aber du bist tot. 2 Werde wach und stärke den Rest, der am Sterben ist; denn ich habe deine Werke nicht als vollbracht gefunden vor meinem Gott. 3 Erinnere dich doch dessen, wie du empfangen und gehört hast, und halte es fest und kehre um. Wenn du indessen nicht wach wirst, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht erkennen, in welcher Lage ich zu dir komme. 4 Freilich hast du einige wenige Personen in Sardes, die ihre Gewänder nicht besudelt haben, und die werden mit mir in weißen Gewändern wandeln; denn sie sind es wert.

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

5 Der Überwinder wird so in weiße Gewänder gekleidet, und sein Name wird nicht aus dem Lebensbuch getilgt, und ich werde zu seiner Person vor meinem Vater und seinen Engeln stehen. 6 Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Zwar hat die Stadt Sardes eine glanzvolle Geschichte, die mit den Namen von Gyges und Krösus etwa verbunden ist, doch ist ihre politische Bedeutung schon lange vor Offb nur noch gering. Im Jahre 17 n. Chr. ist sie durch ein Erdbeben stark zerstört worden, doch sehr rasch, auch mit Hilfe der römischen „Kaiser“ Tiberius und Claudius, wieder aufgebaut worden. Bemerkenswert ist eine lange zurückreichende jüdische Geschichte in Sardes (Obd 20 [?]), die mit der Stellung der Stadt als Zentrum des Handels zusammenhängen mag. Über pagane Kulte ist – abgesehen von der Existenz eines bedeutenden Tempels der Artemis (Kybele) – wenig bekannt, ebenso wenig über eine besondere Bedeutung des römischen Staatskults in der Stadt. 1–3 Die Präsentation des Briefautors vergegenwärtigt ihn als den, der über die Agenten Gottes (s. 1, 4) und über die Kirche (s. 1, 20) verfügt, d. h. über die Vermittler und den Ort der Verwirklichung des Gotteswillens in der Welt am Abgrund der Geschichte. Freilich, die Gemeinde hat angesichts des Anspruchs, der daraus für sie erwächst, versagt. Sie hat zwar noch die Gestalt einer Gemeinde Christi, aber sie gleicht in Wahrheit einer Mumie. Dieses vernichtende Urteil wird im Folgenden kaum gemildert. Nur der Ruf zum Wachwerden und zur Umkehr läßt Reste des Lebens erkennen, wenige sind es, die sich als Glied der Gemeinde bewahrt haben und ihres Herrn würdig sind. Aber auch sie müssen sich des ihnen ermöglichten Lebens erinnern und aus ihrer Krankheit zum Tode in das Leben zurückkehren. Den Ernst der Situation läßt der Verweis auf das unvorhersehbare, für sie katastrophale Kommen des Christus erkennen, der – in Aufnahme des den Rezipienten aus der Jesus-Überlieferung bekannten Gleichnis-Wortes (Mt 24, 43 f./ Lk 12, 39 f.; vgl. 1. Thess 5, 2; 2. Petr 3, 10) – wie ein Dieb über sie kommt. Das Bildwort begegnet noch einmal, 16, 15. Es durchbricht dort scharf seinen Kontext; dennoch sind Versuche abzuweisen, diesen Vers hier einzufügen, da er dem Stil des Sendschreibens nicht entspricht (s. zu 16, 15). 4 Einige indessen gibt es doch auch in dieser Gemeinde, die nicht fehlgegangen, die ihrem Herrn treu geblieben sind. Die Gewand-Metapher (vgl. Sach 3, 3–5) spielt in Offb eine gewichtige Rolle (s. 3, 18; 6, 11; 7, 13 ff.; 22, 14 ff.); durch das Gewand stellt sich die Wirklichkeit der Wahrheit des christlichen Wesens dar. Die Metapher kann so zugleich parakletisch und paränetisch wirken, die Christen müssen bewahren, was sie – durch Christus – haben. Da es um das Christsein überhaupt geht, ist die Richtung der Gedanken hier nicht auf Einzelbereiche, etwa den der Sexualität, ein-

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia (3, 7–13)

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zugrenzen. Ob in besonderer Weise an die Taufe (und die weißgekleideten Täuflinge) zu denken ist, dürfte (angesichts 3, 18; auch 6, 11) fraglich sein. Daß es um den Lebensweg insgesamt geht, zeigt die Wendung „mit mir gemeinsam wandeln“; Leben ist Bewegung, die sich bereits vollzieht im Bereich des Ziels, auf das hin es führt. Der Siegerspruch befestigt diese zunächst auf die Gegenwart bezogene 5–6 Zusage eschatologisch. In der weiteren Ausgestaltung ist die Gerichtsdrohung, die über der Gesamtgemeinde steht, gegenwärtig, freilich so, daß die Überwinder im Gericht bestehen werden. Zwar liegt dem Bild vom „Buch des Lebens“ die Vorstellung eines himmlischen Bürgerverzeichnisses zugrunde; doch ist der hier vorherrschende Gedanke an ein existenzentscheidendes Buch geradezu notwendig mit dem an das Gericht verbunden (s. 20, 13. 15), wie denn auch ein Löschen aus der Bürgerliste ein forensisches Verfahren voraussetzt. Das Bekenntnis des Christus zum Sieger vor dem Forum Gottes und seiner Engel setzt eine Gerichtsverhandlung voraus, deutlicher übrigens als die uns überkommene Form eines JesusWortes, das den Hintergrund der Verheißung bildet (Mt 10, 32/ Lk 12, 8; s. a. Mk 8, 38 par., sowie 2. Klem 3, 2). Das Sendschreiben will gerade das bewußt halten: auch das Gericht gehört zur Wirklichkeit der Gemeinde. II 2. 6 Das Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia (3, 7–13) 7 Und dem Enge der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat, der Öffner – und niemand wird verschließen, und Schließer – und niemand öffnet. 8 Ich weiß um deine Werke; siehe, ich gab dir vor eine geöffnete Tür, die niemand zu schließen vermag; zwar hast du geringe Macht, aber du hast mein Wort festgehalten und meinen Namen nicht verleugnet. 9 Schau! Ich veranlasse Leute aus der Synagoge des Satans, die sich als Juden ausgeben, aber sie sind es nicht, sondern sie lügen – siehe ich werde bewirken, daß sie kommen und dir zu Füßen fallen und erkennen, daß ich dich lieb habe. 10 Weil du das Wort meiner Geduld durchgehalten hast, werde auch ich dich bewahren durch die Stunde der kommenden Bewährung, die kommen wird über die ganze Welt, um die Erdbewohner auf die Probe zu stellen. 11 Ich komme alsbald. Halte, was du hast, damit niemand deine Siegeskrone nehme. 12 Dem Überwinder werde ich zur Säule im Tempel meines Gottes machen und er wird nie mehr herausgehen und ich werde den Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes, des Neuen Jeru-

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

salems, das aus dem Himmel von Gott herabkommt, und meinen neuen Namen auf ihn schreiben. 13 Wer ein Ohr hat, höre was der Geist den Gemeinden sagt. Die Stadt hat weder eine gewichtige Geschichte (erst in hellenistischer Zeit gegründet, [3. oder] 2. Jh. v. Chr.), noch eine besondere politische oder ökonomische Bedeutung. Das ist angesichts ihrer erdbebengeplagten Lage nicht verwunderlich. Das Sendschreiben setzt die Existenz, jedenfalls den direkten Einfluß einer jüdischen Gemeinde (nicht unbedingt auch eines synagogalen Gebäudes) voraus. Archäologisch ist die Ortslage unerschlossen, das Fehlen archäologischer Zeugnisse daher nicht verwunderlich. Auch die zeitlich nächste Erwähnung der christlichen Gemeinde am Ort (IgnPhld) setzt eine die Gemeinde gefährdende Nähe des Judentums voraus (IgnPhld 6, 1). Das Urteil des Sendschreibens über die Gemeinde ist – ähnlich wie 2, 8–11 (Smyrna) – uneingeschränkt positiv; über ihre Größe ist damit freilich nichts gesagt, hinsichtlich dessen wissen wir hier wie sonst nichts. 7 Die Präsentation Christi im Eingang hat wohl bereits das gewichtigste Problem, das die Gemeinde bedrängt, im Blick, die Auseinandersetzung mit dem ihr feindlichen Judentum. Die Prädikationen „der Heilige, der Wahr(haftig)e“, die nicht der Eingangsvision entnommen sind, weisen ihn als den einen Gott aus (s. 6, 10), den er – gegen den Einspruch der Synagoge – vertritt (vgl. die bei Jesaja häufige Gottesbezeichnung „der Heilige Israels“, Jes 1, 4; 12, 6 u. ö.; zu „wahrhaftig“ s. 1. Thess 1, 9). Das Motiv des Schlüssels nimmt 1, 18 auf, transformiert es aber. Sachlich gemeint wird das Gleiche sein, Christus hat den Schlüssel zum Leben. Aber er ist nun nicht als Werkzeug zum Öffnen des Ausgangs (aus Tod und Hades), sondern des Zugangs zum Neuen Jerusalem (s. 21, 2) begriffen. Die (Um-)Formulierung bedient sich der christologisch-eschatologisch interpretierten Verheißung an Eljakim Jes 22, 22, eine offenbar auf Johannes selbst zurückgehende kreativ-polemische Schriftverwendung. Denn eine vorgegebene messianische Interpretation des Eljakim und seiner Geschichte ist nicht erkennbar. Das hermeneutische Fundament ist das frühjüdisch-urchristliche Wissen darum, daß die ganze Schrift prophetisch von der Endzeit redet (vgl. 1QpHab 7, 1–14; 1. Kor 10, 11). Die Ansage, daß Christus die Darstellung des Wesens der Gemeinde 8 kennt, erinnert zugleich daran, wem die Gemeinde trotz ihrer eigenen Geringfügigkeit die Kraft dazu verdankt, unverrückt zu ihrem Herrn zu stehen, auch in der Krise. Das Bild für solche Gabe der Festigkeit greift die Eingangsprädikation auf, transportiert sie aber aus der eschatologischheilsgeschichtlichen Sphäre in den ekklesiologisch-gegenwärtigen Bereich (s. Apg 14, 27): Der Herr selbst hat ihr die Tür geöffnet, durch die sie zu ihm – und damit zu sich selbst! – gelangt ist. Die Metapher von der

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia (3, 7–13)

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Gemeinde als Bau erscheint am Horizont, unmittelbarer Anschluß aber besteht zu V. 7 c. Zugang zur Gemeinde werden auch, so verheißt es V. 9 wie in schwe- 9 bender Verlängerung der vorangehenden Metapher, solche haben, die zu einer ganz andere Gemeinschaft gehören, die doch in einer besonderen Beziehung zu ihr steht, nämlich aus der jüdischen Synagoge. Sie wird indessen „Synagoge des Satans“ genannt, der Anspruch ihrer Glieder, Juden zu sein, brutal als Lüge bestritten, d. h. als in der Sache falsch. Damit wird die Bedeutung des Begriffs „Jude“ für Johannes evident. Historisch sind es natürlich „Juden“, von denen hier die Rede ist, freilich nicht anders als der so Redende selbst einer war (und ist!). Für ihn aber bezeichnet der Begriff „Jude“ keine biologische, gar rassische Gegebenheit, sondern eine des durch den Glauben bestimmten Seins, die Zugehörigkeit zu den „144 000 Versiegelten aus allen Stämmen der Söhne Israels“ (7, 4; s. a. 21, 12), die (historisch) als „unzählbare Schar aus allen Völkern, Stämmen, Nationen und Sprachen“ (7, 9) biologisch-genealogisch der gesamten Menschheit entstammen. Die, die in der Gegenwart zur „Synagoge des Satans“ gehören (vielleicht nicht nur ethnische Juden, sondern auch ethnisch griechisch-anatolische „Proselyten“, doch wissen wir das nicht), sind nun aber daran nicht für immer gebunden, vielmehr wird der Gemeinde verheißen, daß sie gerade auch von dort Zuwendung erfahren wird. Wann das sein wird, bleibt schwebend; denn die Gegenwart ist die Zeit des anbrechenden Endes (vgl. Röm 11, 26 ff.). Auch bleibt unbestimmt, ob es viele oder nur einige oder gar alle sein werden; die Rede changiert in dieser Hinsicht durch ihren doppelten Ansatz. Das besondere Profil erhält die Verheißung dadurch, daß sie prophetische Ansagen des Alten Testaments für ihre Adressaten gültig werden läßt, nämlich die akklamierende Zuwendung der Bedrücker und Verächter des Gottesvolkes zu ihm (Jes 60, 14[f.]; 49, 23; auch 1QM 12, 14 f.; 19, 6 f.), weil sie erkennen werden, daß die Verachteten die Erwählten Gottes sind (Jes 43, 4). An Mission in der jüdischen Synagoge und deren Erfolg ist in diesem Zusammenhang sicher nicht gedacht. Eine besondere Beziehung der christlichen Gemeinde in Philadelphia zum Judentum reflektiert auch der Brief des Ignatius an sie (IgnPhld 6, 1; übrigens mit betonter Zurückweisung ethnischer Aspekte), der freilich in eine etwas spätere Zeit gehört (um 110 n. Chr.). Ignatius warnt die Gemeinde davor, sich dem (inhaltlichen) Einfluß des Judentums zu öffnen. Eine weitere Zusage bezieht sich ganz auf die eschatologische Stunde 10–11 der Entscheidung, die vor der Tür steht. Sie hat ihr Fundament freilich bereits in der Gegenwart der Gemeinde: Weil sie das Wort Christi, das sie zum Durchhalten ruft und zugleich befähigt, mit ihrem Leben bewährt, deshalb bewahrt sie Christus in der Situation letzter Herausforderung (vgl. Mt 6, 13/ Lk 11, 4 c; auch 1. Kor 10, 13), in der sich die Frage nach Tod

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

oder Leben end-gültig stellt, der niemand in der Welt entrinnen kann (vgl. Did 16, 5). Und sie kommt bald, für die Gemeinde, für ihre Glieder; zwar ist diese „Stunde der Versuchung“ bereits bestanden, noch aber lauert die Gefahr, das schon Errungene wieder fahren zu lassen, der Siegeskrone beraubt zu werden. Die Verheißung Christi ist Wirklichkeit und bleibt doch Verheißung, die verspielt werden kann. 12–13 Entsprechend dem Evangeliums- Charakter des ganzen Sendschreibens ist die Zusage an den Überwinder von besonderer Fülle. Sie ist zentriert um das Bild des eschatologischen Tempels als Ort des Heils. Das greift eine Metapher auf, die das Sendschreiben von Beginn an durchzieht. Hier ist, in weiterführender Variation des Bildes von der Gemeinde/ Kirche als Tempel Gottes (s. 1. Kor 3, 16 f.; 2. Kor 6, 16; Eph 2, 19–22; 1. Tim 3, 15; s. schon 1QS 8, 5; 9, 6), die endzeitliche Heilswirklichkeit als Tempel vorgestellt, in dem die Überwinder unverrückbare Säulen (s. Gal 2, 9; auch JosAs 17, 6) sein werden. Sie sind als zugehörig zur endzeitlichen Welt des Heils dreifach signiert mit dem Namen Gottes, dem Namen der Gottesstadt und dem neuen Namen Christi. Die Erfüllung dieses Teils der Verheißung wird 22, 4 geschaut, die leichte Variation dabei ist charakteristisch für ein gewisses Spiel mit den apokalyptischen Bildern. Über den Wortlaut des Namens wird nichts gesagt; es ist – wohl auch im Sinne des Johannes – müßig, darüber zu spekulieren. Dem Sieger ist die unauflösliche Gemeinschaft mit Gott in der Welt des heilen Lebens gewiß, er wird nicht für ein Nichts den Kampf des Lebens geführt und bestanden haben. Und schließlich (V. 13): Auch das gute Wort, das Philadelphia gilt, gilt allen Gemeinden! II 2. 7 Das Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea (3, 14–22) 14 Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt der Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Ursprung der Schöpfung Gottes. 15 Ich weiß um deine Werke, daß du weder kalt bist noch heiß. Es wäre schön, du wärest kalt oder heiß! 16 Da du so lau bist, nicht heiß und nicht kalt, will ich dich ausspeien aus meinem Mund. 17 Du sagst: Ich bin reich und habe Vermögen und ich brauche nichts. Dabei weißt du nicht, daß du armselig bist und erbarmungswürdig und arm und blind und nackt. 18 Ich rate dir, von mir in Feuer geläutertes Gold zu erwerben, damit du reich wirst, und weiße Gewänder, damit du dich bekleiden kannst und die Schmach deines Nacktseins nicht offenkundig wird, und Augensalbe, um deine Augen zu behandeln, damit du sehend wirst. 19 Ich überführe und erziehe die, die ich liebe. Zeige nun also Eifer und kehre um! 20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn einer

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea (3, 14–22)

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meine Stimme hört und öffnet die Tür, werde ich bei ihm einkehren und mit ihm Mahl halten und er mit mir. 21 Dem Überwinder werde ich gewähren, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mit meinem Vater auf seinem Thron throne. 22 Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt. Für die im 3. Jh. v. Chr. (von dem seleukidischen Diadochenkönig Antiochus II. [261–246 v. Chr.]) ausgebaute Stadt ist bereits im 1. Jh. v. Chr. eine jüdische Gemeinde bezeugt (Josephus, Ant XIV 241–243), die in Gemeinschaft mit den Glaubensgenossen der Umgebung beträchtliches Gewicht hatte (nach Cicero, Pro Flacco 28, dort im Jahr 62/61 v. Chr. mehr als 20 Pfund Gold jüdischen Tempelgelds konfisziert; man hat daraus auf über 10 000 jüdische Einwohner geschlossen). Erstaunlicherweise spielt sie in dem Sendschreiben keine Rolle. Dagegen schimmert der Wohlstand der Stadt, der auf Fabrikation und Handel gründet, deutlich durch. Er muß, ebenso wie die Leistungsbereitschaft, beträchtlich gewesen sein. Im Jahr 60/61 n. Chr., also rund eine Generation vor dem Sendschreiben, wird die Stadt schwer getroffen durch ein Erdbeben, überwindet den Schaden aber aus eigener Kraft (Tacitus, Ann 14, 27: im Jahr 60/61 n. Chr. „half sich eine von Asiens bedeutenden Städten, Laodizea, das durch eine Erderschütterung zusammengestürzt war, ohne Hilfe von unserer [römischen] Seite, durch eigene Mittel wieder auf“). Eine christliche Gemeinde ist im Kolosserbrief (2, 1; 4, 13–16) bezeugt; sie ist von Paulus selbst gegründet, gehört also zum paulinischen Missionsbereich. Kol 4, 16 setzt einen Brief des Paulus an sie voraus, der indessen nicht erhalten ist. Über ihre Entwicklung in der Zeit zwischen Kol und Offb wissen wir nichts; sie wird aber vermutlich in irgendeiner Verbindung mit den übrigen Gemeinden der Asia geblieben sein. Die wie auch sonst (s. V. 7) dreigliedrige Christusprädikation im Ein- 14 gang schließt nur im Mittelteil direkt an Kap. 1 an (1, 5). Er ist derjenige, der mit seinem geschichtlichen Weg Gott als Gott für die Welt bezeugt und damit die Möglichkeit zur heilsstiftenden Gemeinschaft mit Gott bereitet hat. Flankiert wird das durch ein Gottesprädikat „der Amen“, das Jes 65, 16 aufnimmt und dadurch das prophetisch verheißene neue segensvolle und unverbrüchliche Gottesverhältnis für die Christusbeziehung der Gemeinde in Anspruch nimmt; und abschließend durch eine Wendung, die an Aussagen über die Weisheit (frühjüdisch = Tora) Spr 8, aber auch an den Christus-Hymnus Kol 1, 15–20 anklingt: Der Ausgang(spunkt) der Schöpfung Gottes. Zwar verdankt sich die Welt Gott (allein), aber ihr Prinzip (principium), ihr sie in ihrem Wesen prägender Ausgangspunkt ist der, der jetzt urteilend, weisend und verheißend zu ihr spricht.

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Das Wort an die sieben Gemeinden der Asia (1, 17–3, 22)

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Das Urteil über die Gemeinde ist deshalb nicht ganz einfach zu werten, weil seine scheinbare Bildhaftigkeit offenbar stärker rhetorisch als metaphorisch verstanden werden will. Jedenfalls kann das Gegensatzpaar „kalt – heiß“ nicht metaphorisch für etwa „Glaube – Unglaube, Nachfolge – Ablehnung“ stehen, da beide Zustände gleichsam positiv gewertet werden („wärest du doch entweder kalt oder heiß“); zum Ausspeien ist nur das Laue, nicht das Kalte, nicht das Heiße. So lautet das Urteil über die Gemeinde zu Laodizea übersetzt in die Vulgärsprache der Gegenwart: Du bist zum Kotzen, weder Fisch noch Fleisch. Das ist kein Urteil radikaler Verwerfung. Dem entspricht der Charakter des folgenden Brieftextes. V. 19 versichert der Gemeinde, daß die scharf zurechtweisende Haltung des Christus ihr gegenüber in der Liebe zu ihr gründet. Sie muß freilich zum Bewußtsein über ihre wahre Lage gebracht werden, die sie selbst völlig verkennt. 17–19 Die Anrede an die Gemeinde spielt in metaphorischer Rede mit der materiellen Situation der Stadt, die durch das Finanzwesen und spezielles Gewerbe geprägt ist. Die Gemeinde wähnt sich in einer geistlichen Situation, die der materiellen ihres Wohnortes vergleichbar ist; das setzt voraus, daß sie sich tatsächlich wie eine intakte Gemeinde darstellt, jedenfalls keine Absage an ihren Herrn sichtbar werden läßt. Der aber erkennt, daß solche Haltung hohl ist, daß ihrem Glauben und Leben die Substanz fehlt. Sie vermögen aber, die geistliche Leere zu beheben, Christus hält sich für sie bereit. Die Zurechtweisung als Ausfluß der Liebe ist eine geläufige Sicht in der (jüdischen) Weisheit (Spr 13, 24 u. ö.) und auch im Alten Testament und Judentum auf das Verhältnis von Gott und Volk bezogen (s. Dtn 8, 5; Sir 30, 1). V. 19 greift das Hebr 12,(5.)6 (sowie 1. Klem 56, 4) zitierte Wort Spr 3, 12 auf. Die Ich-Rede hier bezieht es auf Christus anstelle auf Gott. Auch diese laue, ohne es selbst zu bemerken glaubensarme Gemeinde ist von ihm geliebte Gemeinde – und deshalb geht er mit ihr ins Gericht. So ist es denn verständlich, daß der erste, direkt ergehende Befehl keine inhaltliche Ausrichtung hat: Sei eifrig, reiß dich zusammen! Ihm folgt der Ruf zur Umkehr, der gleichsam traditionelle prophetische Aufruf zur Buße (vgl. bes. 2, 5). 20 In überaus auffälliger, singulärer Weise folgt kein Drohwort, sondern eine überwältigende Verheißung. Sie greift vermutlich ein in der Tradition stark zerredetes Jesus-Wort auf, das in der synoptischen Überlieferung am deutlichsten Lk 12, 36–38 aufbewahrt ist. Man kann vermuten, daß eine traditionsgeschichtliche Verbindung mit dem Wort vom unberechenbaren Kommen des Diebes 3, 3/16, 15 besteht (Lk 12, 39), das dem Inhalt des Briefes an Sardes entsprechend drohenden Charakter hat, nicht wie der hier angespielte Teiltext verheißenden. Das aber entspricht genau der Ausrichtung des Briefes. Auch dieses Wort richtet sich an die Gemeinde. Vor ihrer Tür steht Christus und begehrt Einlaß und Gehör, mit ihr hält er

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Das Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea (3, 14–22)

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Mahlgemeinschaft, die zugleich ein Vorgriff auf das Heilsmahl der Zukunft ist. So verbindet sich Gegenwart und Endzeit in der Eucharistie, zu der ihr Herr auch diese Gemeinde einlädt. Der Überwinderspruch ist von besonderem Gewicht, er faßt gleichsam 21 alle bisherigen Siegerverheißungen zusammen. „Der auf dem Thron Thronende“ ist für Johannes das Gottesprädikat schlechthin, wie eindrücklich seine grammatische Behandlung unterstreicht (s. zu 4, 2); der Sieger wird zum Throngenossen Christi und durch dessen Sieg, der das Fundament allen Siegens legt (5, 5; 12, 10 f.), zum Throngenossen Gottes. Mit solcher Verheißung wird der Leser/ Hörer in die ihr folgende Schilderung entlassen, die das Geheimnis der Welt, die sich als ihre Geschichte darstellt, enthüllt. Es folgt das majestätische Bild des Thronenden Gottes, der der Schöpfer der Welt und ihrer Geschichte ist (Kap. 4) sowie die Schilderung der Inthronisation des Lammes als die Voraussetzung des Geschichtslaufes der Welt hin zur Inthronisation der Sieger. Ein Einfluß des Jesus-Wortes Mt 19, 28/ Lk 22, 30 bei der Formulierung von V. 21 kann höchstens formaler Art gewesen sein; inhaltlich sind die Worte fundamental verschieden (ohne sich etwa gegenseitig auszuschließen).

III Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5) Mit 4, 1 beginnt ein ganz neuer Teil der Anrede an die Leser/ Rezipienten der Schrift. Er unterscheidet sich so fundamental von dem Vorangehenden, daß es verständlich ist, wenn man versucht ist, sie auch hinsichtlich ihrer Entstehung voneinander zu trennen. Dabei muß man nicht notwendig an verschiedene Autoren denken; näher läge es dann schon zu vermuten, daß die Sendschreiben und der mit Offb 4 beginnende Teil des Briefes zu verschiedenen Zeiten und angesichts unterschiedlicher Situationen, aber doch vom gleichen Verfasser verfaßt worden sind. Denn sichtlich ist Sprache und Stil der beiden Teile gleich. Doch ist darüber hinaus das ganze Buch in allen seinen Teilen inhaltlich so miteinander verklammert, auch literarisch und kompositorisch, daß es in Wahrheit nur als in seiner Gesamtheit einheitliche Komposition begriffen werden kann. Darüber hinaus aber beruht die Annahme einer unvereinbaren inhaltlichen Divergenz auf einem Fehlurteil hinsichtlich des Charakters der apokalyptischen Literatur. Die Sendschreiben handelten von der geschichtlich-konkreten Situation individueller Gemeinden, die erkennbar dem (Erst-)Rezipienten entgegentreten; ab Kap. 4 aber ist von einer

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Welt die Rede, die sich nur durch Offenbarung erkennbar macht, „im Geist“, auch wenn sie die die vorfindliche Welt – freilich in ihrer Gesamtheit – eigentlich bestimmende Wirklichkeit ist. Dies dem Teil der Welt, den die Sendschreiben im Auge haben, zu erschließen, dient gerade der „apokalyptische“ Teil, der nun beginnt. Da Welt sich als Geschichte konstituiert, schildert dieser Teil, der bis 22, 5 reicht, ein Geschehen. Und so wie dieses Geschehen im Thron Gottes und des Lammes und ihrer beider Anbetung das Ziel findet, 22, 3 ff., so nimmt es von dem Blick auf den in seinem Thronsaal Thronenden und seiner Anbetung den Ausgang.

III 1. Gott, das Fundament der Welt (4, 1–11) 4, 1 Danach schaute ich, und siehe: Eine Tür war geöffnet im Himmel, und die erste Stimme, die ich wie eine Trompete vernommen hatte, sprach mit mir und sagte: Komm hier herauf, und ich zeige dir, was geschehen muß hernach. 2 Alsbald war ich im Geist, und siehe: Ein Thron stand im Himmel und auf dem Thron ein Thronender 3 und der Thronende gleich dem Aussehen von Jaspis(stein) und Karneol und ein Regenbogen umgab den Thron gleich dem Aussehen von Smaragd. 4 Und rings um den Thron 24 (weitere) Throne und auf den Thronen 24 Älteste thronend, bekleidet mit weißen Gewändern, und auf ihren Häuptern goldene Kronen. 5 Und aus dem Thron brechen Blitze hervor und Getöse und Donner und sieben Leuchter lodernden Feuers vor dem Thron; das sind die sieben Geister Gottes. 6 Und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer gleich einem Bergkristall. Und inmitten des Throns und rings um den Thron waren vier Wesen voller Augen vorn und hinten. 7 Und das erste Wesen glich einem Löwen, und das zweite Wesen glich einem Stier, und das dritte Wesen hatte ein Angesicht wie ein Mensch, und das vierte Wesen glich einem fliegenden Adler. 8 Und die vier Wesen, eines wie das andere, hatten je sechs Flügel ringsum, und innen waren sie voller Augen. Und pausenlos Tag und Nacht sprechen sie: Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allmächtige, der War und der Ist und der Kommende. 9 Und immer, wenn die Wesen Verherrlichung, Ehrerweisung und Danksagung dem auf dem Thron Thronenden, dem in alle Ewigkeit Lebenden, darbringen, 10 fallen die 24 Ältesten vor dem Thronenden auf dem Thron nieder und beten den in alle Ewigkeit Lebenden an und legen ihre Kronen nieder vor dem Thron, indem sie sprechen: 11 Würdig bist du, unser Herr und Gott, Verherrlichung und Ehrerweisung und Macht zu empfangen, denn du hast das All erschaffen, und durch deinen Willen wurden sie und sind erschaffen.

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Gott, das Fundament der Welt (4, 1–11)

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Das darzustellen ist die Funktion des 4. Kapitels, das damit eine Sonderstellung gleichsam dem Folgenden gegenüber innehat. Es handelt von dem Grund, auf dem die Wirklichkeit der Welt ruht, von Gott. Der abschließende Hymnus V. 11 preist den Thronenden denn auch als den, der ist, der er ist, weil er der Schöpfer des Alls, der Welt ist, die allein in seinem Willen gründet. V. 1 markiert einen ganz neuen Einsatz. Der Himmel öffnet sich dem 1 Seher, zunächst nur durch eine Tür, aber er wird durch eine Stimme, deren Herkunft in der gleichen Schwebe gehalten wird wie die der Stimme in 1, 10, heraufgerufen zu schauen, was „geschehen muß hernach“. Damit ist gewiß auf 1, 19 angespielt; doch will die Zeitkategorie „hernach“ mehr den die Geschichte erschließenden Charakter des Geschauten verdeutlichen. Obwohl der Gegenstand der Schauung von Anfang an eindeutig ist, wird er nur in den beiden Akklamationen V. 8 und 11 als „Gott“ benannt (die Wendung „die sieben Geister Gottes“ V. 5 leistet das gerade nicht). Er wird vielmehr in seinem Wesen dargestellt. Das elementare Prädikat ist „der Thronende“. Seine besondere Bedeu- 2–3 tung wird durch eine eigentümliche grammatische Behandlung seiner griechischen Gestalt signalisiert (der Kasus für „Thron“ folgt jeweils dem Kasus für „der Sitzende“; anders nur 7, 15 und 21, 5). Dadurch erscheint der Thron gleichsam als Bestandteil der Gestalt selbst: „der auf dem Thron Thronende“. Die Wendung begegnet insgesamt zwölfmal (4, 2. 9. 10; 5, 1. 7. 13; 6, 16; 7, 10. 15; 19, 4; 20, 11; 21, 5); die Zahl ist kaum zufällig (4, 10 fin; 7, 9; 8, 3 steht „der Thron“ als Umschreibung für den Thronenden). Die Bezeichnung ist gebildet in Anlehnung an das Alte Testament. Für die Gestaltung des Kapitels insgesamt grundlegend sind Ez 1 und Jes 6; freilich sind die einzelnen Elemente variiert, auch weitergebildet. Im antiken Judentum finden sich häufiger vergleichbare Schilderungen des himmlischen Thronsaals Gottes, besonders ausgestaltet in einer spezifischen Art von mystisch-visionärer Schau, der Merkaba-Mystik (hebr. merkaba = Thronwagen Gottes), die in der – allerdings späteren – Hekhalot-Literatur ihren Niederschlag gefunden hat. Wieweit derartige Visionen im 1. Jh. bereits entwickelt waren, wissen wir nicht und können daher auch nicht über inhaltliche Beziehungen unseres Textes zu parallelen jüdischen Vorstellungen urteilen. Er unterscheidet sich gravierend von den späteren Himmelsberichten (z. B. 3Hen), die freilich ältere Bestandteile enthalten, die zur jüdisch apokalyptischen Henoch-Literatur der (vor)neutestamentlichen Zeit führen. Wie auch immer solche Verbindungen gewesen sein mögen, sicher liegt in Offb 4 eine Schilderung der unmittelbaren Gegenwart Gottes vor, die, wenn auch nicht in allen Teilen von Johannes selbst gebildet, so doch von ihm hochreflektiert in seinem eigenen Text eingeführt und in ihm in bedeutsamer Weise verarbeitet ist. Zentrum der Schau ist der Thron und der auf ihm Thronende, Gott, des-

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

sen Erscheinung nicht direkt beschrieben werden kann, weil dafür keine Kategorien bereitstehen, die aber gleichnishaft vergegenwärtigt ist. Sie ist himmlischen Wesens, „wie“ der Glanz von Jaspis und Karneol, der Thron umgeben von einem regenbogenartigen Strahlenkranz „wie“ von Smaragd. Auch wenn den hier (und auch in der Erscheinung des Neuen Himmels Offb 21 f., bes. 21, 18 ff.; s. schon Jes 54, 11 f.; Tob 13, 17) genannten Edelsteinen in der Überlieferungsgeschichte, die weit hinabreicht und verzweigt ist, jeweils bestimmte Bedeutungen beigelegt wurden, so ist das höchstens von zweitrangiger Bedeutung für die Offb. Entscheidend ist der überirdische Eindruck, der solcherart angezeigt wird. 4 Der Thron des Thronenden ist umgeben von 24 Thronen, auf denen 24 Älteste thronen, weißgekleidet und gekrönt mit goldenen Kränzen. Das entspricht zunächst dem Thronrat eines orientalischen Herrschers, den seine Vasallen umgeben. Die weißen Gewänder und damit verbunden die goldenen Kränze weisen die Throngenossen freilich nicht als Mitregenten aus, sondern als solche, die die 3, 5; 2, 10; 3, 11 den standhaft Glaubenden verheißenen Gaben besitzen. Genannt werden sie „Älteste“, Presbyter, ihre Zahl beträgt 24. Beides gibt Rätsel auf und damit Anlaß zu mancherlei Vermutungen über ihr Wesen. Ihre Anzahl, ursprünglich wohl astrologisch begründet, läßt für Johannes an eine Beziehung zur Zwölfzahl der Apostel denken (s. 21, 14); vielleicht soll die doppelte Zwölf die Zeugen des Alten Gottesvolkes – ebenso wie die Apostel des Lammes – als zugehörig der Ratsversammlung des Weltherrschers erweisen. 5–6 Der Thron selbst demonstriert sein Wesen durch kosmische Ausbrüche, wie sie Theophanien traditionell begleiten. Vor ihm stehen als lodernde Fackeln die sieben Geister Gottes, seine Diener an Gemeinde und Welt (s. 1, 4). Das durchsichtige Meer gleich Kristall angesichts des Throns verdankt sich vermutlich der Ausstattung des salomonischen Tempels (1. Kön 7, 23; Josephus, Ant VIII 79 f.), freilich wie alle Elemente der vorliegenden Schilderung in traditionsgeschichtlich bereitgestellter Variation, die die kosmologische Bedeutung des Gegenstands begründet: auch das die Erde begrenzende Meer gehört zu dem Gott als Raum seiner Herrschaft unterstellten All (s. 5, 13). 6 b–7 Am innigsten sind mit dem Thron und damit dem Thronenden die vier (Lebe-)Wesen verbunden. Das zeigt schon ihre Ortsbestimmung: inmitten des Throns (s. Ez 1, 5!) und rings um ihn. Sie werden Offb 4 allein siebenmal mit dem Wort „Lebewesen“ genannt, in Offb insgesamt 20 mal, fast immer (außer in 6, 1–7 und 15, 7) zusammen mit den (24) Ältesten. Ihre Benennung stammt ebenso wie ihre enge Zuwendung zum Thron Gottes sowie die Grundlage ihrer Erscheinung aus Ez 1, 5 ff. Ez 10, 15. 20 werden die „Lebewesen“ des Gottesthrons mit den Keruben des Tempels, dessen Untergang Ezechiel schaut, identifiziert (vgl. auch Ez 10, 17). Bei Ez hat jedes „Wesen“ vier Gesichter (Mensch Löwe, Stier, Adler); in Offb

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Gott, das Fundament der Welt (4, 1–11)

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erscheinen die vier Wesen je einzeln in der Gestalt „wie“ ein Löwe, „wie“ ein Stier, „wie“ ein Mensch, „wie“ ein Adler. Sie sind mithin gegenüber Ez 1 und 10 individualisiert; so können sie denn auch einzeln in Funktion treten, Offb 6, 1–8; 15, 7. Sie stehen dem Thron Gottes am nächsten, sie sind es, die das Trishagion Gott darbringen, die höchste Form der Anbetung Gottes, die nach Jes 6, 3 die Seraphen unablässig einander zurufen. Offb verbindet die Thronbegleiter von Ez 1 und Jes 6. Nebengötter sind sie – natürlich – nicht; freilich zeugen sie davon, daß die Wirklichkeit der Welt nicht das einsam-eisige Gegenüber von Gott und Welt ist, sondern daß es von Gott ausgehende und auf ihn hinwendende Kräfte gibt, auf die hin der Mensch seine Einsamkeit in der Welt durchbrechen kann. Insoweit kann (und will wohl auch) die Vision auf den Gottesdienst der Gemeinde hinweisen, in dem solcher Weg erfahrbar, wenigstens ahnbar gemacht werden kann. Die seit Irenäus (Adv. Haer. III 11, 8; etwa 185 n. Chr.) nachweisbare Identifikation der vier Evangelien mit den hier genannten Geschöpfen (Löwe = Markus; Stier = Lukas; Mensch/Engel = Matthäus; Adler = Johannes), die ikonographisch bis heute wirksam ist, hat Offb sicher nicht im Sinn, doch gehört sie zu ihrer Wirkungsgeschichte (übrigens nicht sinnlos). Ursprünglich werden astrologische Vorstellungen maßgeblich gewesen sein, für Johannes sind sie es nicht mehr; er entfaltet eine auf Ez 1 (und 10) sich beziehende Überlieferung. Die „Wesen“ bringen dem Thronenden, der in alle Ewigkeit lebt, unab- 8–11 lässig Preis seiner göttlichen Herrlichkeit, Ehre und Dank dar, sie sind die Hermeneuten des Wesens dessen, was der Seher schaut: Gott. Ihr nie verstummender Hymnus entspricht in statisch-graphischer Darstellung der Bildunterschrift; Überlegungen darüber, wie der Seher von der Unablässigkeit des Preisens wissen kann, sind nur naiv. Das Trishagion gehört in eine große Tradition, die in der Liturgie unserer Eucharistie-Feiern noch immer einen wichtigen Ort hat, aber auch in der jüdischen liturgischen Praxis weiterlebt (Keduscha). Ausgangspunkt ist Jes 6, 3 (vgl. 1Hen 39, 12[f.] einerseits, 1. Klem 34, 6 andererseits). Johannes hat das Stück genau gestaltet, drei je dreifach gegliederte Elemente. Die ersten beiden entsprechen präzise Jes 6, 3, das dritte der ihm eigenen Gottesprädikation. Als ganzes ist es ohne Zweifel sein eigenes Werk, das von seiner schöpferischen Kraft zeugt. „Heilig“ ist das Attribut des Göttlichen, das zugleich ein Moment der Abgrenzung – von allem Nicht- Göttlichen – enthält. Die dreimalige Wiederholung potenziert das Prädikat, die vier Wesen proklamieren die Gottheit Gottes, der als der einziggestellte Allherr und die Zeit Übergreifende für alle Ewigkeiten Leben verkörpert. Dem stimmen mit der bedingungslosen Anerkennung die 24 Ältesten als die Repräsentanten der himmlischen Welt (die ebenso wirklich ist wie die empirisch erfahrbare!), zu und begründen in deutlich herrscherkritischer Weise die Würde Gottes in seinen Schöpfer-Sein, dessen kontingentem Willen allein sich

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

die Welt verdankt. Vielleicht schwingt beabsichtigte Polemik gegen den Kaiserkult in der Wendung „unser Herr und Gott“ mit; Domitian ließ sich (nach Sueton, Domitian 13, 2; vgl. Dio Cassius 67, 5, 7 [griech. despotes kai theos]) mit dominus et deus noster anreden. Die Szene insgesamt ist in Analogie zum Hofzeremoniell orientalischer Großkönige gebildet. Gott ist der Herr des Alls, seine Herrschaft ist schöpfungstheologisch begründet. Deshalb ist wirklicher Dualismus ausgeschlossen, neben der Welt, die sich Gott verdankt, steht keine gleichberechtigte Gegenwelt. Für Johannes schließt das freilich nicht aus, daß es Mächte gibt, die sich gegen Gott und seine Welt stellen. Über deren Ursprung sagt er nichts, ihre geschichtliche Realität aber beweist ihr Dasein.

III 2. Das Lamm, der Herr der Geschichte (5, 1–14) 5, 1 Und ich sah auf der Rechten des auf dem Thron Thronenden ein Buch, beschrieben innen und hinten, versiegelt durch sieben Siegel. 2 Und ich sah einen mächtigen Engel, der mit gewaltiger Stimme proklamierte: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen? 3 Aber niemand vermochte im Himmel, auch nicht auf der Erde und nicht unter der Erde, das Buch zu öffnen und einzusehen. 4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen oder es einzusehen. 5 Aber einer der Ältesten sagte zu mir: weine nicht, siehe der Löwe aus dem Stamm Juda hat den Sieg errungen, der Wurzelsproß Davids, das Buch und seine sieben Siegel zu öffnen. 6 Und ich sah inmitten des Throns und der vier Wesen sowie inmitten der Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet, das sieben Hörner hat und sieben Augen, das sind die [sieben] Geister Gottes, die ausgesandt sind in das ganze Land. 7 Und es trat herzu und nahm aus der Rechten des auf dem Thron Thronenden entgegen. 8 Und als es das Buch empfing, da fielen die vier Wesen und die 24 Ältesten vor dem Lamm nieder; sie hatten ein jeder eine Harfe und goldene Schüsseln voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen. 9 Und sie singen ein Neues Lied so: Würdig bist du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu brechen! Denn du bist geschlachtet und hast für Gott erkauft mit deinem Blut (Menschen) aus allen Stämmen und Sprachen, Rassen und Völkern. 10 Und du hast sie für unseren Gott zu einem Königreich und Priestern gemacht und sie werden Herrscher sein über die Welt. 11 Und ich schaute und hörte eine Stimme vieler Engel rings um den Thron und die Wesen und die Ältesten; und ihre Zahl war Myriaden von Myriaden, Tausende von Tausend. 12 Und sie tönten mit gewaltiger Stimme:

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Das Lamm, der Herr der Geschichte (5, 1–14)

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Würdig ist das geschlachtete Lamm zu empfangen die Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehrerweisung und Verherrlichung und Preis. 13 Und jedes Geschöpf im Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer samt allem, was in ihm ist, hörte ich sprechen: Dem auf dem Thron Thronenden und dem Lamm sei der Preis und die Ehre und die Herrlichkeit und die Stärke in alle Ewigkeit. 14 Und die vier Wesen sprechen: Amen. Und die Ältesten fielen nieder und beteten an. Die geschichtliche Wirklichkeit der gegengöttlichen Macht bzw. Mächte 1–4 erfährt die Gemeinde an ihrem und ihrer Welt Geschick. Was es damit auf sich hat, davon handelt die Vision Offb 5. Der unwandelbar Thronende hält ein Buch auf seiner Hand, innen und rücklings beschrieben, siebenfach versiegelt, das, wie der Ruf des starken Engels (V. 2) erkennen läßt, der Öffnung harrt. Die genaue Beschaffenheit des Buches ist schwer zu bestimmen, kaum aber auch von entscheidender Bedeutung. Auch nach Ez 2, 9–10 hält der, der dem Propheten mit dem Thronwagen erscheint, ein vorn und hinten beschriebenes Buch in der Hand; doch hat es eine Funktion, die dem in Offb 10 geschauten Büchlein entspricht. So wird hier nur eine Assoziation angedeutet, die gleichwohl das Bild in der prophetischen Tradition verankert. Mit dem Ruf des starken Engels gerät die majestätisch in sich ruhende Vision in Bewegung. Auch mit der folgenden Szene greift Johannes Vorgaben der prophetischen Tradition auf. Zugrunde liegt ein offenbar altorientalisch bereits bezeugtes Szenarium einer „himmlischen Ratsversammlung“, in der ein Agent für das geplante Gotteshandeln gesucht und bestimmt wird. Im Alten Testament begegnet solche Darstellung (in abgründiger Weise) 1. Kön 22 und Jes 6. Davon dürfte Johannes angeregt sein, gestaltet aber das Geschehen durchaus selbständig. So ist es nicht Gott, der nach einem Agenten, der für ihn handelt, fragt, sondern der Engel. Gottes Majestät übergreift alle Geschichte. Der retardierende Eingriff des Sehers betrifft nicht das eigentliche Geschehen, wohl aber wird dadurch seine eminente Bedeutung gerade auch für alle, die auf Gott ihr Vertrauen setzen, scharf akzentuiert (vgl. Lk 6, 21, auch Ps 126, 6 – Offb 21, 4!). Über das Zwischenspiel mit dem Engel wird der in das Spiel gebracht, der würdig ist, das Buch in der Rechten des Thronenden nicht nur anzuschauen, sondern auch seine Siegel zu lösen und es zu öffnen (V. 5 fin). Zugleich bringt die Szene die einzigartige Bedeutung des Buches zur Geltung. Sie genau zu bestimmen, ist allerdings schwierig. Offenbar nicht erst nach der Öffnung der sieben Siegel wird der Inhalt zugänglich, sondern mit der (6, 1) beginnenden Öffnung der Siegel beginnt sich die Geschichte zu ereignen, die der Inhalt des Buches ist. Und

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

dieser Inhalt liegt auch nicht mit dem Bruch des letzten, siebten Siegels vollständig vor; aus dem Schweigen, das dieses Geschehen aus sich heraussetzt, gehen die sieben Trompeten-Visionen hervor, mit denen wiederum die drei Wehe verkettet sind. Die Öffnung der Siegel ist ein Kompositionselement, der entscheidende Akt ist die Übergabe des Buches, das Gott hält, an seinen Agenten. Denn das Buch ist das Zeichen, die Metapher der Macht, die sich in der Welt als Geschichte manifestiert. Daß der Empfang des Buches den Empfang der Mächtigkeit, die Gott hat, bedeutet, zeigt die Variation der Akklamation des (engeren und erweiterten) Hofstaats Gottes von V. 9 zu V. 12: Der Empfänger ist würdig des Buches und seiner Öffnung, d. h. der Macht und der Herrlichkeit, wie sie zusammen mit ihm Gott zukommt, V. 13. In zahlreichen bildlichen Darstellungen römischer Kaiser halten diese, offenbar als Symbol ihrer Macht und Autorität, eine Buchrolle in der Hand; Henoch bezieht sein Wissen über die Geschichte der Menschen bis zum Kommen des Heils aus „himmlischen Tafeln“, die er lesen durfte (1Hen 81, 1 f.; 106, 19–107, 1). Die Schau des Johannes ist aus solchen Elementen gestaltet. 5 Einer der Ältesten löst die Verzweiflung angesichts der Ausweglosigkeit der Welt und ihrer Geschichte vor Gott, indem er die Botschaft von der Herrschaft über sie durch den, der gesiegt hat, verkündigt, durch den Löwen aus dem Stamm Juda, den Wurzelsproß Davids. Die Metaphern rufen alttestamentlich-jüdische Aussagen auf, die als messianische Verheißungen den Rezipienten von Offb bekannt waren (vgl. 4Esr 12, 31–34; Röm 15, 12), vielleicht nicht zufällig aus Tora (Gen 49, 9) und Propheten (Jes 11, 1). Sie binden den „Sieger“ in die Geschichte des Gottesvolkes ein; er kommt aus dem Stamm Juda, aus dem Geschlecht Davids. Man darf damit rechnen, daß dem Verfasser der Offb und wohl auch den „sieben Gemeinden“ bekannt und bewußt war, wer von solcher Herkunft (zumindest nach der Tradition, in der sie standen) ist (s. Hebr 7, 14; Röm 1, 3). Wie in den Überwinderverheißungen der Sendschreiben ist „siegen“ absolut gebraucht: Er hat end-gültig den Sieg errungen. Freilich nicht nur einen solchen im individuellen Kampf des Lebens, sondern einen solchen, der ihn zum Herrn der Geschichte macht; durch ihn fiel es ihm zu, das Buch und seine Siegel zu öffnen. Ihn schaut Johannes „inmitten“ des Throns, der vier Wesen und der 6 Ältesten, d. h. am Ort des Thronenden (s. 7, 17). Er sieht ein Lamm, das steht wie geschlachtet. Das ist der in der Geschichte Gottes mit seinem Volk angesagte Sieger, der in der seiner Wahrheit entsprechenden Gestalt in Erscheinung tritt. „Lamm“ ist der zentrale Name Christi in Offb (28 mal, darunter einmal [13, 11] antithetisch für den Antichrist). Er entstammt freilich gerade nicht der alttestamentlich-jüdischen Tradition. Weder Jes 53, 7 noch eine Fehlübersetzung von „Knecht Gottes“ aus dem Aramäischen liegen ihm zugrunde. Das gilt auch für andere in der Reli-

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Das Lamm, der Herr der Geschichte (5, 1–14)

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gionsgeschichte nachweisbare Götter- oder Heilsbringerprädikate, insbesondere für einen freilich ohnehin nur am Rande nachweisbaren frühjüdischen Titel „Widder“ für den (kriegerischen) Messias; denn konstitutiv für Offb ist die Kennzeichnung des Lammes als geschlachtet. Das metaphorisierende „wie“ steht nur hier, 5, 9 führt in die Eigentlichkeit zurück; 5, 12; 13, 8 fehlt es („das geschlachtete Lamm“), 7, 14 redet von dem „Blut des Lammes“. Nur als geschlachtetes ist das Lamm Metapher für den „Sieger“, den Christus. Das aber nötigt zu der Annahme, daß der Christus als Opferlamm begriffen werden soll, und zwar näherhin als das Passalamm. „Unser Passalamm ist geschlachtet, Christus“ sagt Paulus 1. Kor 5, 7, und kaum ist dieser Satz nur ad hoc aus dem Kontext des Briefes erwachsen. Er faßt vielmehr eine Deutung des Todes Jesu geschärft zusammen, die vermutlich in dem Geschehen beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern (Mk 14, 12. 22–25 / 1. Kor 11, 23–26) gründet. Für die Zeit von Offb belegt das Verständnis Jesu als das (endzeitliche) Passalamm 1. Petr 1, 19 sowie die johanneische Passionsgeschichte (Joh 18, 28; 19, 33. 36) ebenso wie das Bekenntnis des Täufers: „Siehe, das Lamm Gottes“, Joh 1, 29. 36. Insofern ist der Christus-Titel „(wie ein/das geschlachtete) Lamm“ keine gänzliche Neubildung der Offb; sie greift eine schon bekannte christologische Metapher auf, gestaltet sie aber aus und weist ihr eine zentrale Stellung in ihrer Deutung der Geschichte Gottes mit der Welt zu. Das Heil der von der Macht des Gegengottes bedrohten Welt ist in dem heilsamen Sterben Christi gegründet. Da es sich bei „Lamm“ um eine gleichsam feste Metapher handelt, kann die so bezeichnete Gestalt mit weiteren metaphorischen Attributen ausgestattet werden, die nicht zu dem Ausgangsbild zu passen scheinen. Die sieben Hörner des Lammes (vgl. dagegen 13, 11) machen aus ihm keinen „Widder“ (der übrigens ebenso wenig sieben Hörner hat wie ein Lamm), sondern sollen seine Macht anzeigen (vgl. Lk 1, 69; 1Hen 90, 37 f. – ebenso Offb 12, 3; 13, 1; 17, 3 u. ö. für die gegengöttliche Macht). Ebenso sprengen die sieben Augen des „Lammes“ das ursprüngliche Bildfeld; auch sie sind Metaphern zweiter Ordnung gleichsam, ihre Deutung wird ausdrücklich mitgeteilt. Sie sind die sieben Geister Gottes (s. 1, 4; 4, 5), die schon 3, 1 als dem Christus zugehörig erscheinen. Das wie geschlachtete Lamm, der Sieger aus Juda und Sproß Davids, ist wie Gott wirkend präsent in der ganzen Welt, die Welt ist in ihm mit Gott konfrontiert, zum Heil ebenso wie zum Gericht. Er empfängt solche Ausstattung, die V. 7 nicht mehr benannt wird – die 7–8 Unaussprechlichkeit ist an die Stelle der Metapher getreten! –, aus der Rechten des Thronenden; erst V. 8 nennt das Buch wieder und lenkt den Blick zugleich auf den Hofstaat des Thronenden, der nun auch der des Lammes ist. Diesem bringt er – zunächst die vier Wesen zusammen mit den 24 Ältesten, ab V. 11 mit der unzähligen Schar der Engel – Anbetung dar, die mit V. 13 in eine solche von Gott und Christus gemeinsam seitens

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

der gesamten Schöpfung übergeht. Durch die Deutung des Räucherwerks in den silbernen Schalen auf die Gebete der Heiligen wird das Gottesvolk indirekt in das Geschehen einbezogen. 9–10 Daß damit gegenüber der bisherigen Stellung der Welt vor Gott etwas grundsätzlich Neues sich ereignet, ist durch die Klassifizierung des ersten Hymnus/Gesangs hervorgehoben; sie singen ein „neues Lied“ (vgl. bes. Ps 98, 1). Denn „neu“ ist hier wie auch sonst in Offb keine relative Kategorie, sondern eine, die uneinholbare, d. h. eschatologische Wirklichkeit bezeichnet. Galt bislang – seit dem Tag der Schöpfung – der Lobgesang ewig dem Schöpfer, so gilt seit dem Tage des Sieges des Lammes dieser neue Lobpreis, ohne daß dadurch der alte ausgelöscht würde. Die Schöpfung hat in der Erlösung nicht ihr Ende, wohl aber ihr Ziel gefunden! Wie 4, 11 der Lobpreis Gottes beginnt das „neue Lied“ auf das Lamm mit dem Würdig-Ruf; er begegnet nur noch einmal in Offb 5, 12. Dort wird die substantielle Identität der Würdigkeit des Lammes mit der Gottes direkt sichtbar, was Gott gebührt (Herrlichkeit, Ehre, Macht, 4, 11), gebührt auch dem geschlachteten Lamm (erweitert zur Siebenzahl der Prädikate). Von daher zeigt sich, daß der Empfang des Buches und die Verfügungsgewalt über es tatsächlich die Inthronisation zur Herrschaft ist, die Gott vor der Geschichte vertritt. Offenbar bedient sich Johannes bei diesen drei Würdig-Rufen (noch) keiner überkommenen festen Form der Akklamation Gottes (oder gar des Kaisers/ Imperators), sondern fügt sie aus einzelnen liturgischen Elementen zusammen. Eine bewußte Antithese zu (liturgisch) geprägten Formen des Kaiserkults liegt nicht vor. Die Würde des Lammes, die Begründung der ihm übereigneten Gottesherrschaft, ist seine Schlachtung (vgl. Joh 3, 14 f., auch Joh 12, 28). Denn durch sie hat er sich einen Herrschaftsbereich erworben, dessen Zugehörige Herrscher und Priester sind (Ex 19, 6 – Offb 1, 6), die (eschatologisch) als Könige herrschen werden, s. 20, 6; 22, 5, eine traditionelle „apokalyptische“ Erwartung (Dan 7, 18; 1. Kor 4, 8; Röm 5, 17). Die Gottheit Gottes wurzelt in der Schöpfung (4, 11), die gottgleiche Würde des Lammes in der Neuschöpfung des Gottesvolkes, das so universal ist wie die Herkunft seiner Glieder, „aus jedem Stamm und jeder Sprache, jedem Volk und jeder Nation“ (vgl. Dan 3, 7; 6, 26 u. ö.; Offb 7, 9; 11, 9 u. ö.). Auch darin bekundet sich der Charakter der Christustat als Schöpfungstat, dass sich das dadurch konstituierte Neue Gottesvolk keiner ethnischen, religiösen, sozio-kulturellen Bestimmtheit mehr verdankt, sondern seine Voraussetzung allein der Sieg Christi ist. Das wird hier ebenso wenig wie sonst ausdrücklich antithetisch mit Blick auf das „alte“ Gottesvolk expliziert, ist aber in der Herkunftsangabe der „Erkauften“ unübersehbar impliziert. An die Akklamation des engeren Hofstaats des Thronenden, die die 11–13 Einsetzung des Lammes feiert, schließt sich die der gesamten Himmelswelt an. Sie ist durch die Zahlenangabe als unermeßlich charakterisiert

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Die ersten vier Siegel (6, 1–8)

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(vgl. 9, 16; das griechische Wort für Zehntausend bedeutet zugleich „unzählig“). Die Schöpfung umfaßt mehr als das durch unmittelbare Erfahrung Klassifizierbare, aber auch das ist von dem Gotteshandeln betroffen. Der Glaube an die Einheit der Welt ist durch den Schöpfungsglauben bedingt, wie ebenso durch den Glauben an die Universalität des Erlösungsgeschehens. Genau das führt zum dritten, abschließenden Lobpreis des fundamentalen Geschehens, das Offb 5 schildert. Die ganze Schöpfung vereint sich im Preis des Thronenden und des Lammes, dem sie Leben und Heil verdankt. Das abschließende Amen der vier Wesen und die Proskynese der Ältesten kehrt in den innersten Kreis um Gott zurück. Von Gottes Thron selbst geht die Bestätigung des Bekenntnisses der Schöpfung zu ihrem Schöpfer und Erlöser aus, d. h. zur Einheit der Geschichte.

III 3. Der Lauf der Geschichte (6, 1–20, 10) III 3. 1 Die sieben Siegel (6, 1–8, 15) Mit Offb 6 beginnt die Schilderung dessen, was der Empfang des Buches durch das Lamm für die Welt, die sich als Geschichte darstellt, bedeutet. Dargestellt wird es als visionäre Erfahrung, die an die Öffnung der Siegel des Buches durch das Lamm gebunden ist. Die ganze folgende Darstellung entwickelt sich (formal) aus der Öffnung der Siegel. Das ist ein Mittel der literarischen Darstellung, von dem her ebenso wenig auf gleichsam tatsächliche, auch außerhalb der metaphorischen Welt existierende Gegebenheiten gefolgert werden kann wie hinsichtlich des (geschlachteten) Lammes, das Siegel an einem Buch lösen würde. Nicht der Inhalt des Buches wird stückweise enthüllt, sondern der Seher erfährt, was der Besitz und die Verfügung über das Buch (= die Macht über die Geschichte) bedeutet bzw. bewirkt. Die Öffnung des letzten, siebten Siegels wird 8, 1 berichtet; sie setzt weiteres Geschehen aus sich heraus. III 3. 1. 1 Die ersten vier Siegel (6, 1–8) 6, 1 Und ich schaute, als das Lamm eines von den sieben Siegeln brach, und ich hörte eines der vier Wesen reden wie ein Donnerklang: Komm! 2 Und ich sah und siehe ein weißes Pferd und der auf ihm ritt, hatte einen Bogen, und ihm wurde ein Kranz verliehen, und er zog aus als Sieger und damit er siege. 3 Und als es das zweite Siegel brach, hörte ich das zweite Wesen sagen: Komm! 4 Und hervor trat ein anderes Pferd, feuerfarben; und der auf ihm ritt, wurde ermächtigt, der Welt den Frieden zu nehmen und daß

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

man sich gegenseitig schlachtet, und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben. 5 Und als es das dritte Siegel brach, hörte ich das dritte Wesen sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd, und der auf ihm ritt, hatte eine Waage in seiner Hand. 6 Und ich hörte etwas wie eine Stimme inmitten der vier Wesen sagen: Eine (Tages-)Ration Weizen für einen Denar, drei Rationen Gerste für einen Denar; aber das Öl und den Wein taste nicht an. 7 Und als es das vierte Siegel brach, hörte ich eine Stimme des vierten Wesens sagen: Komm! 8 Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd, und der Name seines Reiters: „Tod“, und der Hades begleitete ihn. Und es wurde ihnen Befugnis über ein Viertes der Erde gegeben zu töten mit Schwert und Hunger und Pest und durch die Tiere der Erde. 1–2 Die ersten vier Siegelvisionen sind gegenüber den folgenden eng miteinander verbunden; eine ähnliche Gliederung einer Siebenergruppe in Vierer- und Dreier-Untergruppen findet sich auch sonst (s. 8, 13 [9, 12; 11, 14]; vgl. den Wechsel der Stellung des Weckrufs in den Sendschreiben, 2, 7 und 2, 29). Daß die erste Vierergruppe eng zusammengehört, ergibt sich aus der fundamentalen Gleichartigkeit des Geschauten und dessen traditionsgeschichtlicher Herkunft. Deshalb verbietet sich eine grundsätzliche Einzelstellung des ersten Reiters, trotz durchaus vorhandener Unterschiede zu den folgenden, durch die freilich er nur von den anderen abgehoben, nicht fundamental geschieden wird; auch diese werden bis zu einem gewissen Grade singularisiert. „Biblische“ Grundlage der vier Reiter auf verschiedenfarbigen Pferden ist Sach 1, 7–11; 6, 1–8, metaphorisch ausgestaltet unter dem Einfluß „apokalyptischer“ Plagenreihen wie z. B. Jer 14, 12; 15, 2 (s. Offb 13, 10); Ez 5, 12; 14, 21; PsSal 13, 2 f. Wegen solcher Einbindung in die Tradition, der die Stellung des Textstückes als Eröffnung des Endzeitgeschehens entspricht, kann der erste Reiter trotz der fehlenden Zuordnung zu einer bestimmten Form des endzeitlichen Schreckens, der weißen Farbe des Pferdes sowie seiner Bezeichnung als „Sieger“ nicht – unter Bezug auf 19, 11 – als Christus gedeutet werden, wie gegenwärtig freilich nachdrücklich vertreten wird. Eher könnte man (wie gelegentlich vermutet) mit Blick auf Mk 13, 5–13 an das Erscheinen des Antichrist denken. Doch würde auch das aus dem einheitlichen Rahmen der Vision herausfallen wie ebenso aus der Visionswelt der Offb insgesamt (s. Offb 12 f.; 17; 19, 19 ff.). Vielmehr dürfte sich zunächst in der Gestalt des ersten Reiters die (scheinbar) siegreiche Macht der lebensfeindlichen Kräfte der Welt zusammenfassen, die – nach ihrer Bestimmung im Buch, das das Lamm im Auftrag Gottes öffnet – auf den Befehl der den Thron Gottes flankierenden Wesen die endzeitliche Geschichte der Welt bestimmen.

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Das fünfte Siegel – das Geschick der Märtyrer (6, 9–11)

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In den folgenden drei Reitern werden die Schrecken der Endzeit entfal- 3–8 tet: Krieg der Menschen gegeneinander, Hungersnöte, Tod durch Mord, mörderische Seuchen, Verwilderung. Die Einzelheiten der Darstellung sind traditionsbestimmt, durch zeitgeschichtliche Bezüge eingepaßt in die Erfahrungswelt der Hörer/ Leser. Das ist offensichtliche besonders der Fall bei dem dritten Reiter, ohne daß wir noch in der Lage wären, sie sicher zu entschlüsseln. Das gilt vor allem für die Weisung, Öl und Wein nicht zu schädigen, V. 6 c. Nicht unmöglich (wenn auch ganz ungewiß) ist, daß eine kultische Bedeutung von Öl und Wein für ihren Schutz eine Rolle spielt. Die Begrenzung der Macht des vierten Reiters, in dem sich die verheerende Wirkung der vorangehenden Plagen gleichsam bündelt, läßt Raum für den weiteren Lauf der Geschichte. Mit dramatischer Wucht enthüllt diese erste Sequenz der mit Christus angebrochenen Endgeschichte, daß Gott nun Ernst macht mit seiner Welt, die sich irreversibel ihrer eigenen, emanzipierten Geschichte überläßt – wenn sie das will! III 3. 1. 2 Das fünfte Siegel – das Geschick der Märtyrer (6, 9–11) 9 Und als es das fünfte Siegel brach, da sah ich unter dem Altar die Seelen der Hingeschlachteten um des Wortes Gottes und des Zeugnisses willen, das sie hielten. 10 Und sie schrieen mit lauter Stimme: Wann endlich, Herr, Heiliger und Wahrhaftiger, richtest und rächst du unser Blut an den Bewohnern der Erde? 11 Und es wurde jedem von ihnen ein weißes Gewand gereicht und ihnen zugesagt, sie sollten noch eine kleine Weile ruhen, bis auch die Zahl ihrer Mitknechte und ihrer Brüder voll sei, die wie sie getötet würden. Mit der Öffnung des fünften Siegels wechselt die Szene durch einen scharfen Schnitt. Wie es uns vom Film her vertraut ist (oder doch sein sollte), erscheint eine ganz andere Welt, die doch in einem essentiellen Zusammenhang mit der zuvor geschauten steht. In den Blick treten die Märtyrer, die für die Sache Gottes ihr Leben gaben, und ihr Geschick. Von einer ganz eigenen Perspektive gegenüber der vorherigen wird die Verfolgung der Parteigänger Gottes vergegenwärtigt. Das entspricht in der Sache genau der Darstellung des endzeitlichen Geschehens in der sog. kleinen synoptischen Apokalypse Mk 13, 9–13 par. Daß das Schicksal der verfolgten Märtyrer in die Reihe der Schrecken der Endzeit eingearbeitet ist, zeigt, wie ernst Offb das Leiden nimmt, das in grausamer Härte die Bekenner trifft. Zugleich aber tritt der Zusammenhang zwischen den Plagen der Endzeit und dem endlichen Heil trostvoll hervor.

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

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Die auffällige Formulierung V. 9 „die Hingeschlachteten wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses, das sie (durch)hielten“ (vgl. 1, 2. 9; 12, 17 bes. 20, 4) läßt die Identifizierung der Märtyrer auf alle (Blut-)Zeugen für Gott offen (s. 1. Thess 2, 15; Mt 23, 34/ Lk 11, 49–51; Hebr 11, 35–40). Sie sind am Fuß des himmlischen Altars (der hier zum ersten Mal begegnet, s. weiter 8, 3; 9, 13; 14, 17 f.; 16, 7, aber auch schon 5, 8 fin), dort, wo das Opferblut seinen Ort hat (Lev 4, 7. 18. 25. 30. 34), versammelt und schreien zu Gott (der mit einer Wendung angerufen wird, die an die Benennung des römischen Herrschers anzuklingen scheint), wie die bedrängten Beter der alttestamentlichen Psalmen (Ps 6, 4; 12[13], 2; 61[62], 4; 88[89], 47; 89[90], 13 u. ö.) um Rettung und Vergeltung zu Gott rufen. Ebenso wenig wie das Alte Testament verweigert sich unser Text der Notwendigkeit, daß Unrecht verurteilt und das Recht ihm entgegen wiederhergestellt werden muß, vgl. Lk 18, 7 f.!). Darin eine Kollision mit dem Gebot der Liebe zu sehen, ist ein – heute freilich verbreitetes – (theologisches) Fehlurteil von strukturell gleicher Art wie das, das Röm 3, 5 f. und 6, 1 f. von Paulus scharf zurückgewiesen wird. Die Liebe hebt nicht das Recht auf, es wird nicht dispensiert, dem Rechtsbrecher wird in der Liebe das Angebot gemacht, in ihr aufgehoben zu sein, Vergebung zu empfangen. 11 Die nach Rechtfertigung schreienden Märtyrer werden ihres Sieges versichert, sie werden mit dem Zeichen der Erlösung bekleidet, zugleich aber darauf hingewiesen, daß die Geschichte der Gott- und d. h. der Rechtlosigkeit und damit des Leidens noch andauert. Doch ist ein Maß gesetzt. So wie die Zeit der Hoffnung nicht ein in sich geschlossener Ring ist, so ist auch das Maß des Leidens nicht bodenlos; die Zeit und mit ihr ihr Inhalt hat eine unaufhebbare Richtung auf ein Ziel hin, das Gott gesetzt hat, nicht aber von ihr selbst bestimmt wird. Auch der Prophet weiß nur, daß es so ist, nicht wo das Ziel liegt (vgl. Röm 11, 25–32). Diese Dialektik tritt mit Blick auf die Heilsteilhaber im folgenden Kapitel (7, 4 [14, 1] und 7, 9) in den Blick. Die Vorstellung davon, daß das Maß der Zeit und das der Auserwählten vorbestimmt ist, ist in der jüdischen Welt des Glaubens, bes. mit Blick auf die Endzeit (s. z. B. 4Esr 4, 35–37; 2Bar 23, 5), vorgebildet und lebt in der Kirche in vielfältiger Weise, gerade auch hinsichtlich des (endzeitlichen) Leidens fort (vgl. – bes. gewichtig – Kol 1, 24, freilich nicht speziell auf das Todesmartyrium bezogen; dafür s. MartPol 14, 2). Der Trost aus der Gewißheit in die Zukunft erhält vorlaufende Bestätigung in der Gegenwart durch die Übergabe des weißen Gewands an die Märtyrer. Damit erhalten sie schon jetzt, was ihnen dereinst sein wird, 20, 4: die Verherrlichung in der Auferstehungswirklichkeit. Der Charakter „apokalyptisch“ geschauten Geschehens wird verfehlt, wenn solche Wirklichkeit, die der Seher gegenwärtig schaut, materiell abzugrenzen versucht wird von der, die ihm als Wirklichkeit des Eschaton sichtbar werden wird. Beides ist, gemessen am Maßstab gegenwärtiger Erfahrung, unwirkliche Wirklichkeit, deren erst werdendes Sein doch schon ist.

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Das sechste Siegel – der Untergang der Welt (6, 12–17)

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III 3. 1. 3 Das sechste Siegel – der Untergang der Welt (6, 12–17) 12 Und ich sah, als es das sechste Siegel brach: Ein schweres Beben ereignete sich und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack und der gesamte Mond wurde wie Blut. 13 Und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde – wie ein Feigenbaum, geschüttelt von schwerem Sturm, seine Spätfeigen abwirft. 14 Und der Himmel entwich wie ein Buch, das aufgerollt wird, und alle Berge und Inseln wurden von ihrem Platz geräumt. 15 Und die Könige der Erde und die Machthaber und die Befehlshaber und die Reichen und die Starken und jeder Knecht ebenso wie die Selbständigen, sie (alle) verbargen sich in den Klüften und Felsen der Berge; 16 und sie rufen die Berge an und die Felsen: Stürzt auf uns und verbergt uns vor dem Angesicht des auf dem Thron Thronenden und vor dem Zorn des Lammes. 17 Denn ihr großer Gerichtstag ist angebrochen, und wer vermag dem standzuhalten. Mit der Öffnung des sechsten Siegels wird der Untergang der Welt sicht- 12–16 bar. Erdbeben und der Kollaps des Kosmos gehören in der „apokalyptischen“ Tradition zum Endgeschehen, Mk 13, 8. 24. 27; damit werden prophetische Ansagen des „Tags des Herrn“ aufgenommen (Jes 2, 9–20; 13, 9–13; Joel 2, 10 f.; 3, 4); er ist der Tag des Gerichts (s. 2. Petr 3, 7. 10). Die Einzelelemente der Darstellung erklären sich von solcher Herkunft, wobei man durchaus damit rechnen kann (ohne das freilich noch jeweils nachweisen zu können), daß die gestalterische Imagination, wohl auch geschichtliche Erfahrungen katastrophaler Art zur Ausformung der Tradition beigetragen haben. Der Tag des Herrn zerbricht die Gestalt der Welt total; für sie und in ihr gibt es keinen Ort mehr, an dem rettende Geborgenheit zu finden wäre. Das katastrophale Geschehen mündet im hilflosen Entsetzen derer, über die das Endgeschehen vernichtend hereinbricht. Daß dabei (trotz der Erwähnung der „Sklaven/Verknechteten“ [V. 15]) diejenigen im Blick sind, die ihr Leben auf die Verläßlichkeit der Welt statt auf Gott und den, durch den er an der Welt handelt, das Lamm, gründen, zeigt die nahezu gleiche Aufzählung 19, 18 (charakteristisch erweitert 13, 16). Angesichts der Katastrophe erkennen sie den unentrinnbaren Ernst der Stunde; sie sehen sich konfrontiert mit der Macht, über die sie nicht zu verfügen vermögen und die ihr Ende bringt. Und sie erkennen, daß darin ein Urteil enthalten ist, das die Nichtigkeit ihrer Welt enthüllt, nämlich der Tod. Das Wort „Zorn“, das das Geschehen benennt, das mit der Öffnung des 17 sechsten Siegels proleptisch-metaphorisch in Erscheinung tritt, ist vom Alten Testament und Judentum her semantisch gefüllt. In unserer Sprache gibt es dafür kein genaues Äquivalent (wie ähnlich auch nicht zu anderen zentralen theologischen Begriffen des Neuen Testaments [etwa „Fleisch“]);

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

am ehesten entspricht ihm Strafe, besser noch Strafurteil (vgl. profan Röm 13, 4). „Der große Tag des Zornes (Gottes und des Lammes)“ ist der Tag des eschatologischen Gerichts, gesehen von seinem Ergebnis her, der gerechten Verurteilung; an eine emotionale Affektentladung ist nicht zu denken (auf solcher Ebene gilt viel eher: „Gott regiert die ganze Welt mit Huld: ohne jeglichen Zorn“, EpArist 254). Freilich, das so sich entladende Strafgericht hat alles vernichtende Gewalt und universale Geltung. Die abschließende Frage (V. 17 b): Wer vermag standzuhalten?, impliziert die Antwort: Niemand. Damit ist die Schau des Endzeitgeschehens, die mit der Öffnung der Siegel durch das Lamm verbunden ist, zu einem Schlußpunkt geführt, dem Ende der Weltgeschichte. Der Zyklus will die Wirklichkeit der Geschichte, auf die die Gemeinde Christi zugeht, in ihrem ganzen Verlauf aufdecken, nicht nur einen temporalen Teilabschnitt, dem andere (zeitlich) nachfolgen. Die sich anschließenden Visionsreihen werden die gleiche Geschichte zum Inhalt haben; sie werden andere Aspekte zur Geltung bringen. Die Rekapitulation der Geschichte schafft Raum dafür, die Fülle der durch Tradition und Glaubenserfahrung gegebenen Erwartungen auf das Ende hin als begründet in der geschichtlichen Wirklichkeit erkennbar zu machen. III 3. 1. 4 Die 144 000 Versiegelten – die Schar der Geretteten (7, 1–17) III 3. 1. 4. 1 Die Siegelung (7, 1–8) 7, 1 Danach sah ich vier Engel, die standen an den vier Ecken der Erde und hielten die vier Winde der Erde, damit der Wind nicht über das Land, über das Meer und über keinen Baum tobt. 2 Und ich sah einen anderen Engel vom Aufgang der Sonne herabkommen, der hatte ein Siegel des lebendigen Gottes, und er rief mit gewaltiger Stimme zu den vier Engeln, denen aufgetragen war, das Land und das Meer heimzusuchen, 3 folgendes: Sucht nicht heim das Land oder das Meer oder jedweden Baum, bis wir gesiegelt haben die Knechte unseres Gottes auf ihrer Stirn. 4 Und ich vernahm die Zahl der Gesiegelten, 144 000, gesiegelt aus allen Stämmen der Kinder Israels 5 aus dem Stamm Juda 12 000 Gesiegelte aus dem Stamm Ruben 12 000 aus dem Stamm Gad 12 000 6 aus dem Stamm Ascher 12 000 aus dem Stamm Naphtali 12 000 aus dem Stamm Manasse 12 000 7 aus dem Stamm Simeon 12 000 aus dem Stamm Levi 12 000 aus dem Stamm Issachar 12 000

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Die 144 000 Versiegelten – die Schar der Geretteten (7, 1–17)

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8 aus dem Stamm Sebulon 12 000 aus dem Stamm Josef 12 000 aus dem Stamm Benjamin 12 000 Gesiegelte. Daß freilich mit dem Zorn- Gericht über die Welt nicht die ganze Wahrheit 1 der Geschichte schon erfaßt ist, tut sich in dem ganz anderen Gesicht auf, das Johannes „danach“ schaut, 7, 1–17. Die zeitliche Einordnung V. 1 bezieht sich auf das „Sehen“, nicht auf das Geschehen, das Johannes sieht, als solle dieses dem Vorangehenden temporal nachgeordnet werden. Er erfährt jetzt eine ganz andere Welt als die, die er bislang sah, die gleichwohl ebenso wirklich wie die andere ist. Die Wirklichkeit hat verschiedene, gleichzeitige und gleichwirkliche Schichten. Daß sie durchaus etwas miteinander zu tun haben, wurde bereits bei der Öffnung des fünften Siegels (6, 9–11) sichtbar und wird 13, 16 ff. antithetisch gewendet; 9, 4 leuchtet ihre schützende Kraft auf. Kap. 7 enthält die für die Leser/ Hörer des Buches entscheidende Antwort auf die Frage, mit der Kap. 6 schloß: Wer kann dem Gericht standhalten? Es gibt eine Schar, die das vermag; denn ihre Glieder sind mit dem Siegel Gottes gezeichnet. Daß mit dem Gericht die „Erwählten (des Menschensohns)“ „aus“ den vier Winden von den Ecken (Grenzen) der Erde gesammelt werden, ist auch der sog. synoptischen Apokalypse gewiß (Mk 13,[24-]27). Schon von der Tradition her also ist der zunächst überraschende Wechsel des Gesichts vom Gericht hin zur Rettung vorgegeben als notwendiges Element komplementärer Erfassung der Wirklichkeit der Geschichte. In souveräner Gestaltungskraft macht unser Text das über den Einsatz ausdrucksstarker Metaphern anschaulich. Die einzelnen Elemente des Gesichts sind durch die atl.-jüd. Tradition vorgegeben (s. z. B. Ps 104, 4/ Hebr 1, 7; Jer 49, 36; Sach 6, 5; Dan 7, 2; 2Bar 6, 4 f.) und hier zu einem eigenen Bild gestaltet. Die vier Ecken der Erde markieren die Gesamtheit der irdischen Welt, die von den vier Engeln gehalten wird; sie beherrschen die Macht des Sturms, der sie, das Land, das Meer und auch den organischen Bereich der Welt verwüsten kann (vgl. Jer 49, 36; Hos 13, 15). Ein anderer Engel, nach dessen Identität zu fragen schwerlich angemes- 2–3 sen und auch nicht sinnvoll ist (ganz ähnlich 2Bar 6, 4 f.), dessen Herkunft aus dem Osten ihn aber doch wohl (trotz Offb 16, 12) als heilvoll ausweist (s. Ez 43, 2; Sib 3, 652 f.), ausgestattet mit (dem) einem Siegel des lebendigen Gottes, gebietet dem Sturmengel Einhalt solange, bis die Diener Gottes an ihrer Stirn gesiegelt sind. Wer die Siegelung ausführt, bleibt ungenannt, auch ihre Ausführung 4 wird nicht geschildert, wohl aber wird die Zahl der Versiegelten und ihre Abkunft kundgemacht. Das ist literarisch bewußt gestaltet; beides könnte visuell nicht erfaßt werden. Daß das gerade für die Zahl gilt (vgl. 9, 16!),

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

bringt das Griechische schon sprachlich zum Ausdruck (vgl. 1. Kor 14, 19); eine so hohe Zahl kann nur noch von ihrem Inhalt her erfaßt werden, sie ist eine Metapher. Als Johannes die damit Gemeinten sieht, nimmt er sie als „eine große Schar, die niemand zählen kann“ wahr, V. 9. 14, 1–4 wird diese Schar der 144 000 schauen, mit dem Namen des Lammes und Gottes auf der Stirn. Daß damit das Siegel Gottes 7, 2 f. gemeint ist, wird zwar nicht gesagt, ist aber wahrscheinlich (vgl. 3, 12). Die Siegelung ist religions- und kulturgeschichtlich universal verbreitet und verständlich (wie auch für unsere Kultur noch die häufigen Tätowierungen zeigen). Ihr Sinn ist mehrschichtig; fundamental der als Eigentumssignatur. Dazu tritt die Schutzwirkung (Offb 9, 4), die freilich auch negativ gewendet sein kann (instruktiv Gen 4, 15; – Brandmarkung von Sklaven, Verbrechern). Besonders nahe steht der Szene Ez 9, 1–7 (vgl. PsSal 15, 5 f.; CD 19, 9–12); der Text dort hat sicher den vorliegenden beeinflußt. Ez 9 werden vor dem Strafgericht über Jerusalem auf Befehl Gottes durch einen seiner (insgesamt sieben) Gesandten die, die über die Greuel in der Welt geklagt hatten, mit einem (Schutz-)Zeichen (ein hebr. taw; der Buchstabe konnte kreuzförmig geschrieben werden) an der Stirn signiert (V. 4) und damit vor dem Verderben bewahrt (V. 6). So dürfte auch hier das Siegel vorzüglich die Funktion der Bewahrung haben, die freilich gründet in der gleichsam durch das Zeichen beurkundeten Zugehörigkeit des Gesiegelten zur Gemeinschaft Gottes und des Lammes (14, 1). Umstritten ist, ob konkret bei der Siegelung an die Taufe gedacht ist. Sicher bezeugt ist „Siegel“ als Metapher für die Taufe erst im 2. Jh. n. Chr. (HermSim IX 16, 3 f.; 2. Klem 7, 6; 8, 6), nahegelegt aber bereits 2. Kor 1, 22. Jedenfalls kann der Sinn der „Siegelung“ nicht auf den Vollzug der Taufhandlung eingeschränkt werden. Es ist der gleiche Vorgang der „Erwählung“ im Blick, der in der Verzeichnung des Namens im „Buch des Lebens des geschlachteten Lammes seit Gründung der Welt“ (13, 8) sich bekundet. 5–8 Die „Gesiegelten“ entstammen in je gleicher Zahl allen (zwölf) Stämmen Israels, insgesamt 12 × 12 × 1000. Die namentliche Aufzählung der Stämme gleicht genau keiner in der uns überkommenen alttestamentlichjüdischen Tradition. Besonders ragt einerseits die Erstnennung Judas (vgl. aber Num 2, 3; 7, 12; 10, 14; LAB 25, 4. 9 [anders 26, 10!]) hervor, andererseits das Fehlen des Stammes Dan; dafür tritt Manasse ein, der mit Ephraim den (eigens genannte) Stamm Joseph bildet. Aus Juda stammt das (wie) geschlachtete Lamm, das gesiegt hat (5, 5). Ob Dan wegen des Rufs, Apostat zu sein (TestDan 5, 4: „ich weiß, daß du in den letzten Tagen vom Herrn abfallen wirst“; vgl. Jer 8, 16; Ri 18, 30 f.), fehlt, ist nicht sicher zu entscheiden; daß der Antichrist aus Dan kommt, ist jedenfalls erst bei Irenäus (Adv. Haer V 30, 2; Ende 2. Jh. n.Chr) zu lesen. In jedem Fall freilich will unser Text metaphorisch verstanden werden, wie allein schon die Zahlenangabe zeigt, ebenso aber auch die namentliche Auflistung der

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Die 144 000 Versiegelten – die Schar der Geretteten (7, 1–17)

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zwölf Stämme. Nach dem Geschichtsbild der Zeit sind seit dem Ende der babylonischen Gefangenschaft und dem Neubau der (jüdischen) Gemeinde unter Esra und Nehemia in der Geschichte nur noch zwei und ein halber Stamm präsent (Juda, Benjamin, Levi), der Rest aber mit dem Untergang des Nordreiches aus der erfahrbaren Geschichte verschwunden. Freilich gab es den Glauben, daß sie noch vorhanden sind (z. B. Josephus, Ant XI 133) und die Erwartung ihrer Rückkehr in den letzten Tagen (s. insbesondere 4Esr 13, 39–50). Die christliche Gemeinde hat sich früh als das Israel Gottes verstanden (Gal 6, 16, vgl. Phil 3, 3; Gal 3, 29), das in der mit Jesu Auferstehung anbrechenden Endzeit restituiert wird in seiner ursprünglichen Fülle. Der Keim solchen Glaubens dürfte auf Jesus selbst zurückgehen, er ist in der Berufung der „Zwölf“ gegeben (Mt 19, 28/ Lk 22, 30), er begegnet direkt Jak 1, 1. So sind in unserem Text alle „Knechte Gottes“ gemeint (s. V. 3), nicht nur die Christen, die zuvor „Juden“ waren. III 3. 1. 4. 2 Die ungezählte Schar der Erlösten (7, 9–17) 9 Danach schaute ich, und siehe, eine große Schar, deren Zahl niemand zu zählen vermag, aus allen Völker und Stämmen und Rassen und Sprachen stand vor dem Thron und dem Lamm, gekleidet in weiße Gewänder und Palmen in ihren Händen 10 und riefen mit gewaltiger Stimme so: Das Heil unseres Gottes dem auf dem Thron Thronenden und dem Lamm. 11 Und alle Engel standen um den Thron und die Ältesten und die vier Wesen und sie fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an 12 und sprachen: Amen, der Lobpreis und die Verherrlichung und die Weisheit und der Dank und die Ehre und die Kraft und die Macht unserem Gott in alle Ewigkeit. Amen! 13 Und einer der Ältesten ergriff das Wort und sagte zu mir: Diese mit weißen Gewändern Bekleideten, wer sind sie und woher kommen sie? 14 Ich aber sagte zu ihm. Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu mir: Das sind die, die aus der großen Bedrängnis kommen, die indessen ihre Gewänder gewaschen haben und sie weiß gemacht haben im Blut des Lammes. 15 Deshalb befinden sie sich vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel, und der auf dem Thron Thronende wird bei ihnen Wohnung nehmen. 16 Sie werden nicht mehr Hunger leiden und nicht mehr dürsten, und die Sonne wird sie nicht mehr anfallen noch irgendeine Glut; 17 denn das Lamm inmitten des Throns wird sie weiden und sie zur Lebensquelle des Wassers führen, und Gott wird jede Träne aus ihren Augen wischen. Mit V. 9 ist von der gleichen Gruppe, der Gemeinde des Christus, die 9 Rede, nun aber als geschaute (und deshalb unzählbare). Ausdrücklich

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wird ihre universale Herkunft hervorgehoben. Indem Johannes sie als solche sieht, die vor dem Thron (= Gott) und dem Lamm stehen, schaut er sie als die bereits durch die Erlösung des Lammes (s. V. 13) Erhöhten, angetan mit dem weißen Gewand der Geheiligten, gerüstet zur Teilnahme am himmlischen Gottesdienst, der durch die Engel vor dem Forum Gottes vollzogen wird. Dieser Gottesdienst ist gewiß nicht das Urbild, dem der Gottesdienst der Gemeinden, an die der „Offenbarungsbrief“ gerichtet ist, nachgebildet ist, doch wird er Elemente des irdischen Gottesdiensts sichtbar werden lassen. 10–12 Der Schrei der Erlösten V. 10, bedient sich einer Wendung, die schon aus den Psalmen vertraut ist (vgl. Ps 3, 9 u. ö.; auch Jona 2, 10). Die Eulogie V. 12 nennt sieben Elemente und will damit die vollkommene Fülle der Preiswürdigkeit Gottes in aller Zeit zur Geltung bringen. 13–17 Unter Verwendung eines in der Offenbarungsliteratur auch sonst bekannten Stilmittels der Zwischenfrage an den Offenbarungsmittler (vgl. Ez 37, 3 f.; Offb 17, 7; 5, 2–5; Dan 7, 15 f.) wird das allein von Gottes Wahrheit her erkennbare Wesen der Erwählten eröffnet. Die Wahrheit über die unzählbare Schar enthüllt ihr Schicksal; sie kommen aus der Situation der schärfsten, über ihr Leben und dessen Zukunft definitiv entscheidenden Krise (der „großen Trübsal“), in der sie sich ganz Christus ausgeliefert und dadurch die Zukunft des heilen Lebens gewonnen haben; sie haben ihre Gewänder, ihren Habitus, im Opfer-Blut des Lammes gewaschen und strahlend rein gemacht, wie unser Text in kühner Paradoxie und doch überzeugender Metaphorik sagt. So sind sie, die noch durch die Qual ihrer angefochtenen Existenz gehen, doch schon des paradiesischen Lebens der Endzeit teilhaftig, das mit der Herabkunft des Neuen Himmels und der Neuen Erde die einzige Wirklichkeit der Welt sein wird, wie Offb 21 f. sichtbar werden läßt. Gegenwart und Zukunft der Erwählten verschlingt sich so am Ende der ersten Visionsreihe, die mit der Öffnung der sieben Siegel am Buch Gottes und des Lammes verbunden ist – ebenso paradox wie die Reinigung ihrer Kleider im Blutbad des Lammes. III 3. 1. 5 Das siebente Siegel (8, 1–5) 8, 1 Und als es das siebente Siegel brach, trat eine Stille im Himmel ein, etwa eine halbe Stunde. 2 Und ich sah die sieben Engel, die vor Gott stehen und ihnen wurden sieben Posaunen gegeben. 3 Und ein anderer Engel trat auf und stellte sich an den Opferaltar; er hatte eine goldene Räucherpfanne. Und er empfing viel Räucherwerk, damit er es darbringe für die Gebete aller Heiligen auf dem goldenen Altar vor dem Thron. 4 Und der Rauch des Räucherwerks stieg mit den

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Das siebente Siegel (8, 1–5)

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Gebeten der Heiligen aus der Hand des Engels hinauf vor Gott. 5 Und der Engel ergriff die Räucherpfanne und füllte sie aus dem Brand des Altars und warf sie auf die Erde; und es erging Donner und Getöse und Blitze und Erdbeben. Daß ein Endpunkt erreicht ist, macht das Geschehen deutlich, das mit der 1 Öffnung des letzten Siegels verbunden ist. Mit keiner Andeutung ist freilich erkennbar gemacht, daß damit das Buch erst jetzt geöffnet wird und sein Inhalt (etwa gar erst) jetzt zugänglich ist; das ist gewiß auch nicht intendiert. Vielmehr ist das Buch, das die Geschichte der Welt ist, jetzt vollständig entfaltet. Was nun aber tatsächlich geschieht, ist in Wahrheit ein Nichtgeschehen, eine Stille im Himmel, eine halbe Stunde lang. Die Bedeutung dessen ist rätselhaft, soll es aber wohl auch sein. Besonders auffällig ist die zeitliche Begrenzung. Zwar ist „Stunde“ im (biblischen) Griechisch nicht ein chronometrisch fixierter Begriff, jedenfalls aber als Zeitnorm Bezeichnung der kleinsten benennbaren Einheit (Minuten oder gar Sekunden gibt es nicht). So erhalten die zehn Könige zusammen mit dem Tier Macht „für eine Stunde“ (17, 12; s. a. 18, 10. 17. 19), d. h. für nur eine kurze Zeit. Die Halbierung betont die Kürze. Die Stille währt nur einen Moment, sie wirkt wie ein Punkt. Zugleich wird ein Blick in das Numinose der Situation geöffnet (vergleichbar ist 1. Kön 19, 11 f.). Die V. 2–5 bilden die Brücke zu der folgenden Visionsreihe (zumindest 2–5 formal ähnlich 15, 2–4). Die sieben Engel, die vor Gottes Thron stehen und die jetzt die Handelnden sein werden, empfangen die Instrumente dazu. Und zugleich eröffnet sich der Blick auf den Gottesdienst im Himmel, durch den der Gottesbezug des Geschehens auf der Erde erkennbar gemacht wird. So konzentriert sich das gottesdienstliche Handeln stärker auf das Rauchopfer (am Rauchopferaltar; der Tempelkult wird in der gesamten Offb nicht in seiner Gänze, vor allem nicht als Ort des Opferns, integriert). Mit dem Weihrauch verbinden sich die Gebete der Heiligen (5, 8 anders als hier direkt identifiziert; Ausgangpunkt ist Ps 141, 2), die zu Gott aufsteigen. Wie komplementär dazu wirft – in Anlehnung an Ez 10, 2 – der Engel vom Altar Feuer aus der Pfanne des Rauchopfers auf die Erde, über die endzeitliches Verhängnis hereinbricht (vgl. 4, 5; 11, 19; 16, 18). Die Gebete der Christen dringen vor zu Gott, gleichsam als Antwort wütet in der Welt das Verderben. Daß ein kausaler Zusammenhang zwischen beidem besteht (s. 6, 10), ist jedenfalls nicht gesagt. Der Text redet von der Wirklichkeit, wie sie sich ihm enthüllt!

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

III 3. 2 Die sieben Posaunen (8, 6–11, 19) III 3. 2. 1 Die ersten vier Posaunen (8, 6–13) 6 Und die sieben Engel, die die sieben Posaunen hatten, machten sich bereit zu blasen. 7 Und der erste blies, und es bildete sich Hagel und Feuer, vermengt mir Blut, und wurde auf die Erde geschleudert, und ein Drittel der Erde verbrannte, und ein Drittel der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte. 8 Und der zweite Engel blies, und etwas wie ein mächtiger, im Feuer glühender Berg wurde in das Meer geschleudert, und ein Drittel des Meeres wurde zu Blut. 9 Und es verendete ein Drittel der im Meer lebenden Geschöpfe, und ein Drittel der Schiffe ging zugrunde. 10 Und der dritte Engel blies, und aus dem Himmel stürzte ein riesiger Stern wie eine brennende Fackel, und er fiel auf ein Drittel der Flüsse und der Quellen des Wassers. 11 Und der Name des Sterns lautet: Absinth; und es wurde ein Drittel der Wasser wie Wermut, und viele Menschen starben durch das Wasser, denn es war bitter geworden. 12 Und der vierte Engel blies, und es wurde von einem Schlag betroffen ein Drittel der Sonne und ein Drittel des Monds und ein Drittel der Sterne, so daß ein Drittel von ihnen sich verfinsterten und der Tag zu einem Drittel nicht mehr schien und ebenso die Nacht. 13 Und ich sah und ich hörte einen Adler, der im Zentrum des Himmels flog und mit starker Stimme rief: Wehe, Wehe, Wehe über die Erdbewohner vor den restlichen Posaunenstößen der drei Engel, die (noch) blasen werden. 6–13 Mit V. 6 treten die sieben Posaunenengel (V. 2) in Aktion, die sich formal (literarisch) bis 11, 15–19 spannt, wobei sich ab der fünften Posaune mit ihr die durch einen fliegenden Adler (V. 13) angekündigten drei Wehe verbinden (9, 12; 11, 14). In der literarischen Struktur vergleichbar mit Kap. 7 unterbricht nach der sechsten Posaune (wie 7, 1 zwischen dem sechsten und siebenten Siegel) eine ganz andersgeartete Vision die Reihe in Kap. 10 f., die der Versicherung der Offenbarung als Wahrheit Gottes für ihre Empfänger dient – wie ein Atemholen vor dem Ende. Posaunen gehören als Signalinstrumente zum Inventar eschatologisch (-theophaner) Ereignisse (1. Thess 4, 17; 1. Kor 15, 52; Jes 27, 13; Sach 9, 14, 4Esr 6, 23; im Tempelkult Num 10, 10; Lev 25, 9). Johannes bedient sich ihrer als Gliederungselemente seiner die jüdisch-christliche Endzeiterwartung möglicht umfassend integrierenden Deutung der Geschichte als Endgeschichte, ohne ihnen eine sie alleinstellende Bedeutung zuzuweisen. Wie die sieben Siegelvisionen sind die Posaunenvisionen gegliedert in eine Vierer- und eine ihr folgende Dreiergruppe. Das ist noch unterstri-

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Die ersten vier Posaunen (8, 6–13)

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chen dadurch, daß die drei letzten Posaunen durch einen im Zenit des Himmels fliegenden Adler als „Wehe“ über die Erdbewohner proklamiert werden. Das dient vermutlich der Dramatisierung des Geschehens, ist kein literarisches Relikt ursprünglich selbständiger Tradition. Eher könnte man die – freilich ganz unsichere – Vermutung wagen, durch die Vierzahl und die gleichsam verdoppelte Dreizahl (Posaunen und Wehe) die Zehnzahl anzutönen. Jedenfalls stehen die Plagen, die mit den Posaunenstößen verbunden sind, ebenso wie die folgenden Schalenvisionen in einer Tradition, deren Nähe zur Schilderung der (zehn!) ägyptischen Plagen Ex 7–12 unübersehbar ist. Freilich ist das traditionsgeschichtliche Verhältnis dazu schwierig zu bestimmen. Denn es gibt in der alttestamentlich-jüdischen Literatur eine ganze Anzahl vergleichbarer Unheilsreihen (s. bes. Ps 78, 43–51; 105, 28–36, aber auch Am 4, 6–11 sowie ApkAbr [29, 13] 30, 2–5 [31, 1]), die im einzelnen durchaus variieren, insgesamt aber gleichwohl eine gemeinsame Grundlage erkennen lassen. Sie appellieren an die Grunderfahrung, daß das Leben der Vernichtung verfällt, wenn seine Ordnung gestört ist. Dabei fließen in die Darstellung Erfahrungen oder Erwartungen der je eigenen Zeit ein, doch geht es jeweils nicht um zeitgeschichtliche Identifikation, sondern um identifikatorische Veranschaulichung der Gefährdung der Welt und des Lebens. So sind solche Ansagen nicht als historisch verifizierbare Voraussagen zukünftiger Ereignisse zu lesen, laden aber dazu ein, die erfahrbare Bedrohung der eigenen Welt als Antwort auf das Versagen des Lebens vor dem Anspruch Gottes zu begreifen. Auch die geradezu schematisch anmutende Angabe der Wirkung, die von den ersten vier Plagen (sowie der sechsten) ausgeht, nämlich jeweils den dritten Teil betreffend (8, 7. 9. 10. 11. 12 sowie 9, 15. 18), zeigt, daß nicht historisch-empirische Erwartung zu Worte kommt, sondern zeichenhaft (metaphorisch) geredet wird. Gegenüber 6, 8 ist das Verderben radikalisiert, es bleibt aber noch Raum für weitere eschatologische Schrekken. Der gleichsam literarische, nicht der Anschauung entnommene Charakter tritt besonders deutlich hervor V. 12; denn an eine Verkürzung der Zeit ist schwerlich gedacht, vielmehr daran, daß auch der Raum der Zeit in die Deformation der Welt einbezogen ist. Nicht zu erkennen ist, ob der Name des Sterns V. 11, „der Absinth“, eine besondere Bedeutung hat. Er ist jedenfalls in der hier vorliegenden Bedeutung sonst nicht belegt. Vielleicht liegt eine Anspielung an Jer 9, 15; 23, 15 vor, möglicherweise schon durch die Tradition vermittelt, in der Johannes steht. Daß eine solche gerade in dieser Partie seines Textes (8, 7; 9, 21) eine bestimmende Rolle, bis in die komplexe, nicht ganz glatte literarische Struktur hinein, gespielt hat, ist offenkundig. Von daher erklärt sich auch die Einführung des Adlers im Zenit des Himmels V. 13, der in der Komposition der Offb ein Gegenbild in 14, 6, gleichsam ein konzep-

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

tionelles Gegenstück, findet, wodurch die literarische Gestaltungskraft des Johannes bei der Bewältigung des von ihm zu bearbeitenden Überlieferungsstoffes sichtbar wird. Er fügt die ihm wichtige, uns in ihrer genauen Herkunft unbekannte Tradition (s. Hos 8, 1) von dem/einen Adler, der drei Wehe über die Erdbewohner ausruft, in sein Siebener-Szenario ein. III 3. 2. 2 Die fünfte und sechste Posaune (9, 1–21) 9, 1 Und der fünfte Engel blies, und ich sah einen Stern vom Himmel herabgestürzt auf die Erde, und ihm wurde der Schlüssel für den Schacht der Unterwelt gegeben. 2 Und er öffnete den Schacht der Unterwelt, und Rauch stieg aus dem Schacht auf wie Rauch aus einer mächtigen Esse, und die Sonne und die Luft verfinsterten sich. 3 Und aus dem Rauch brachen Heuschrecken hervor über das Land, und es wurde ihnen eine solche Macht gegeben, wie die Skorpione des Landes sie haben. 4 Aber es wurde ihnen aufgetragen, nicht das Gras zu schädigen oder irgendwelches Grün oder irgendeinen Baum, allein die Menschen, die das Siegel Gottes nicht an der Stirn tragen. 5 Indessen wurden sie beauftragt, sie nicht zu töten, sondern fünf Monate lang sie zu quälen, und ihre Qual sollte sein wie die Qual durch einen Skorpion, wenn er einen Menschen sticht. 6 Und in diesen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, aber sie werden ihn nicht finden, sie werden zu sterben begehren, der Tod aber flieht sie. 7 Und die Erscheinungsformen der Heuschrecken sind wie zum Kampf gerüstete Pferde, und auf ihren Köpfen ist etwas wie goldene Kränze und ihr Gesicht ist wie ein menschliches Antlitz. 8 Und sie hatten Haare wie Frauenhaar und ihre Zähne waren wie die von Löwen. 9 Und sie hatten Harnische wie Eisenpanzer und das Geräusch ihrer Flügel war wie der Klang vieler Pferdewagen, die in die Schlacht stürmen. 10 Und sie haben Schwänze gleich Skorpionen und Stacheln, und in ihren Schwänzen steckt ihre Macht, den Menschen fünf Monate lang zu schaden. 11 Sie haben über sich als König den Engel der Unterwelt, sein Name auf Hebräisch: „Abaddon“, und auf Griechisch hat er als Name „Appolyon“ (= Verderber). 12 Das erste Wehe ist vorüber; siehe es kommen noch zwei Wehe danach! 13 Und der sechste Engel blies. Und ich hörte eine Stimme von den [vier] Hörnern des goldenen Altars, der vor Gott steht, 14 zu dem sechsten Engel, der die Posaune hatte, sagen: Mach die vier Engel los, die an dem großen Strom Euphrat gefesselt sind. 15 Und die vier Engel wurden freigelassen, die bereitstehen für die Stunde, den Tag, den Monat und das

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Die fünfte und sechste Posaune (9, 1–21)

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Jahr, damit sie ein Drittel der Menschen töteten. 16 Und die Zahl der Reiterheere betrug eine Doppelmyriade von Myriaden – ich hörte ihre Zahl. 17 Und so erblickte ich die Pferde in der Vision und die auf ihnen ritten: Sie hatten feuer- und hyazinth- und schwefelfarbene Harnische an, und die Köpfe der Pferde waren wie Löwenköpfe, und aus ihrem Maul brach Feuer, Rauch und Schwefel hervor. 18 Von diesen drei Plagen wurde ein Drittel der Menschheit getötet, von dem Feuer und von dem Rauch und von dem Schwefel, der aus ihrem Maul hervorging; 19 denn die Macht der Pferde befindet sich in ihrem Maul und in ihren Schwänzen; ihre Schwänze nämlich gleichen Schlangen, sie haben Köpfe, und mit denen richten sie Unheil an. 20 Indessen, die übrigen Menschen, die nicht in diesen Plagen umkamen, kehrten sich nicht ab von den Werken ihrer Hände, so daß sie nicht anbeten die Dämonen und die Götzen aus Gold und Silber und Erz und Stein und Holz, die weder sehen können noch hören noch sich bewegen. 21 Und sie kehrten sich nicht ab von ihrem Morden und von ihrer Giftmischerei und von ihrer Unzucht und von ihren Raubzügen. Die beiden ersten mit den Weckrufen verbundenen und durch den fünften 1–12 und sechsten Posaunenstoß aufgerufenen Plagen sind die in den grellsten Farben gemalten. Sie treffen, in nahezu paradoxer Spannung zu den vier vorangehenden (vgl. bes. 8, 7 fin mit 9, 4), nicht den Lebensraum der Welt, sondern nur die sich Gott verweigernden Menschen, 9, 4. Besonders gefüllt ist die fünfte Plage, die mit der Öffnung des dämonischen Abgrunds der Welt beginnt, aus dem die apokalyptisch übersteigerten Schreckenstiere der stets vom Hunger bedrohten südlichen Welt hervorbrechen (aufgenommen aus Ex 10, 12–15), die sich als die dämonischen Heere aus Joel 2, 4 ff. darstellen. Ihre abgründig-dämonische Identität ist bereits in Joel 2 angedeutet und wird hier durch ihre Herkunft und den Ort ihres Herrschers, V. 1 f. und 11, hervorgehoben. Der „hebräische“ Name Abaddon („Ort des Untergangs, Totenreich“) ist personifiziert (s. Ijob 28, 22) und ausdrücklich mit Apollyon, der „Verderber“ (s. 2. Thess 2, 3; Joh 17, 12) übersetzt, V. 11. Vielleicht soll der Göttername „Apollon“ anklingen, kaum aber darüber an Nero zu denken sein. Den dämonischen Wesen gegenüber erweist sich die schützende Macht des Siegels, das sie als Glieder des Gottesvolkes ausweist (s. 7, 2 ff.), wodurch Johannes die gewiß in der Tradition bereits vorgeformte Szenerie in seinen Kontext einfügt und zugleich die Glieder seiner Gemeinde in ihrem Glauben bestärkt. Die Terminierung der Plage auf fünf Monate (V. 5. 10) mag von Hause aus der Lebensspanne der Heuschrecken entsprechen, umgrenzt in dem metaphorisch angelegten Text aber die Zeit der Qual (vgl. 1. Kor 14, 19) und schafft so Raum für das folgende zweite „Wehe“.

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Dem dient auch, daß der Angriff der dämonischen Plagegeister gerade nicht den Tod bringt. Das ist freilich keine Minderung der furchtbaren Wirkung, die Betroffenen sähen lieber den Tod, finden aber nicht die Erlösung durch ihn. Das ist nicht nur weltfremd erdacht, sondern grauenhaft erfahrbare Wirklichkeit – zu allen Zeiten. In der Gestalt der Pferde (V. 7–9) spiegeln sich Züge der (griechisch-heidnischen) Zentauren; das dürfte auf die Vorlage des Johannes zurückgehen (mag ihm aber der Anschaulichkeit wegen gelegen gewesen sein). 13–21 Die Schrecken, die der sechste Posaunenstoß herbeiruft, sind, auch wenn das so V. 12 nicht direkt gesagt ist (s. aber 11, 14), Inhalt des zweiten Wehe. Wieder verbindet Johannes verschiedene Traditionen. Wohl in Anspielung an 8, 5 geht die Aktion von dem Altar im Himmel aus. Die vier am Eufrat, der östlichen Grenze der zivilisierten Welt, gefesselten Engel werden gelöst. Sie sind nicht mit den vier Engeln 7, 1 zu identifizieren, eher mit ihrer Manifestation in dem unendlichen Reiterheer, V. 16 ff. Sicher aber ist ihre Funktion der Bestimmung Gottes über die genaue Festlegung ihres Termins unterworfen; jedes echt dualistische Denken ist Offb fremd. Das Reiterheer, in dessen Gestalt die entfesselten Mächte des Randes der Humanität agieren, ist unüberschaubar; auch Johannes kann ihre Zahl nur hören (nicht zählen, vgl. 7, 4), die gleichwohl schillernd bleibt; der Plural der Zahlenangabe charakterisiert sie als „unzählbar“ (vgl. 1Hen 40, 1 [ausdrücklich: „an Zahl und Menge unberechenbar“]; s. auch Dan 7, 10). Roß und Reiter verschmelzen ineinander in der folgenden Schilderung als schreckenerregende Mischwesen (aus Löwe, Drachen und Schlange), denen ein Drittel der Menschheit zum Opfer fällt (V. 18, s. bereits V. 15). Und doch (der Einsatz V. 20 ist scharf adversativ): Trotz solcher schrecklicher Erfahrung lassen sich die Davongekommenen in ihrem bisherigen Verhalten nicht irre machen, sie kehren sich nicht ab von der Gründung ihrer Existenz in dem, was sie als die Mächte der Welt begreifen. Das sind die Dämonen, die überindividuellen Fesseln ihres Daseins, die materiellen Bedingtheiten ihres Lebens, die sie als ihre Götter überhöhen. Die polemische Charakterisierung der Fremdgötter von der materialen Beschaffenheit der Kultbilder her (elementar bereits durch ihre exklusiv judengriechische Bezeichnung „Bilder“) hat einen tiefwurzelnden alttestamentlich-jüdischen Hintergrund (bes. Deutero-Jesaja, vgl. Jes 40, 19 f. u. ö.; s. a. Hab 2, 18 f.; Ps 115, 4–8); sie können gar keinen aktiven Bezug zum Leben haben. V. 21 expliziert den Unwillen zur Umkehr durch einen Lasterkatalog, der das Tun der Gottlosen spiegelt. Der paradigmatische Charakter des Katalogs wird deutlich daran, daß er die ersten drei Gebote der zweiten Tafel des Dekalogs aufnimmt (Ex 20, 13–15: du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen; s. auch Röm 13, 9). An zweiter Stelle eingefügt ist als Sünde der Gottesfeinde die Zauberei; sie taucht mehrfach in Lasterkatalogen auf (s. 21, 8; 22, 15, vgl. auch Ex 7, 11!),

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Der starke Engel und das Büchlein (10, 1–11)

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spielt wohl auch, als praktizierte Abgötterei (s. Apg 19, 18 f), in der sozialen Welt der Offb eine wichtige Rolle (vgl. 18, 23). Neben den Terror, das Hintergehen des Nächsten, die skrupellose Bereicherung tritt die Manipulation der Menschen. Das ist paradigmatisch gemeint, will aber die Kernbereiche menschlichen Versagens aufgrund moralischer Bindungslosigkeit aufdecken – mit bleibender Gültigkeit! III 3. 2. 3 [Der starke Engel und das Büchlein] (10, 1–11) 10, 1 Und ich sah einen anderen starken gewaltigen Engel vom Himmel herabkommen, umhüllt von einer Wolke und der Regenbogen (spannte sich) über seinem Haupt, und sein Antlitz war wie die Sonne und seine Füße wie Feuersäulen. 2 Und er hatte in seiner Hand ein geöffnetes Büchlein und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken aber auf das Land. 3 Und er rief mit gewaltiger Stimme, wie ein Löwe brüllt, und als er rief, da ertönten die sieben Donner. 4 Und als die sieben Donner sich hatten vernehmen lassen, schickte ich mich an zu schreiben. Aber ich hörte eine Stimme vom Himmel, die sprach: Versiegele, was die sieben Donner von sich gaben, und schreibe es nicht auf! 5 Und der Engel, den ich stehen sah auf dem Meer und auf dem Land, erhob seine rechte Hand zum Himmel 6 und beschwor bei dem in alle Ewigkeit Lebenden, der den Himmel schuf und das, was in ihm ist, und die Erde und das, was auf ihr ist, und das Meer und das, was in ihm ist: Es gibt keine Frist mehr! 7 Vielmehr, in den Tagen des siebten Engels, wenn er blasen wird, dann wird auch das Geheimnis Gottes ans Ziel gelangt sein, wie er es als Evangelium seinen Knechten, den Propheten angesagt hat. 8 Und die Stimme, die ich vom Himmel her vernahm, redete wiederum mit mir und sprach: Geh, nimm das geöffnete Buch in der Hand des Engels, der steht auf dem Meer und auf dem Land. 9 Und ich ging zu dem Engel und forderte ihn auf, mir das Büchlein zu geben. Und er sagte zu mir: Nimm und iß es auf; und es wird deinem Magen bitter sein, in deinem Mund aber wird es süß sein wie Honig. 10 Und ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und aß es auf, und es war in meinem Mund wie Honig süß. Und als ich es gegessen hatte, wurde mein Bauch bitter. 11 Und mir wird gesagt: Du mußt erneut weissagen über Völker und Stämme und Sprachen und viele Könige. Der mit 8,(2.)6 aufgenommene Faden der Geschichte als Gericht wird nach 9, 21 erst 11, 14/15 wieder direkt aufgegriffen. Formal gleich wie 8, 1 schiebt sich zwischen der sechsten und siebenten Szene der Visionsreihen

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

(Siegel; Posaunen) ab 10, 1 ein Gesicht ganz anderen Inhalts in das Geschehen ein. Gleich ist auch, daß an die Stelle der unter dem Gericht stehenden Welt wie dort ein der Gemeinde zugewendetes Geschehen in den Blick gefaßt wird. Ging es dort um die Bewahrung der Glieder der Gemeinde in den Schrecken der Geschichte, so hier um das Zeugnis von der Wahrheit der Geschichte, die Gott durch von ihm ermächtigte Propheten offenbart und durch die den Glaubenden ein Raum der Bewahrung geöffnet wird. Ein ganz neues Gesicht erscheint, das mit einem Wechsel der Perspektive verbunden ist. Freilich darf das letzte nicht überbewertet werden; das Zusammenspiel von Himmel und Erde, das auch zuvor den Inhalt der Vision bestimmte, verlagert sich durch die Einbeziehung des Sehers selbst als Mitspieler des Geschehens nur stärker in den „irdischen“ Bereich. Der Wechsel der Perspektive vollzieht sich in der Herabkunft des „anderen starken Engels“. Daß er mit dem Engel, der dem Seher die „Offenbarung Jesu Christi“ insgesamt vermittelt, als identisch gedacht ist, trifft so kaum ganz zu; das gleiche wird hinsichtlich des „starken Engels“ 5, 2 gelten. Es ist fraglich, ob Johannes eine exakte Identifikation überhaupt intendiert hat. Zwar verbindet er durch die Funktion (vgl. auch V. 8) den Engel hier mit 1, 1, durch das Attribut „der starke“ mit 5, 2, sondert ihn aber durch das (wie z. B. 14, 6) eigentlich beziehungslose „ein anderer“ von ihm ab und hält so seine Identität gleichsam in der Schwebe, in der Sache vergleichbar dem häufigen (apokalyptischen) „wie“ etwa vor der Wendung „geschlachtet“ 5, 6. Er ist wie sie, aber doch er selbst, nämlich der, der angesichts des Endes der Welt den Künder desselben noch einmal sichtbar prophetisch legitimiert. 1–2 Die Darstellung des gewaltigen Gottesboten bedient sich sowohl jüdisch als auch pagan geläufiger Elemente der Theophaniedarstellung. Die Szene als ganze spielt an die Angelophanie Dan 12, 5–7 an, deren Erstschilderung Dan 10, 5 f. in Offb 1, 13–15 dazu diente, die Erscheinung des Menschensohngleichen darzustellen. Auch thematisch steht Offb 10 zu Dan 12, 5 ff. in Beziehung. Die Frage „Wie lange ist es noch bis zum Ende?“, Dan 12, 6, findet Offb 10, 6 die Antwort: „es wird keine Zeit(spanne) mehr geben“, und statt dessen, daß die Botschaft verborgen bleibt, Dan 12, 10, muß Johannes erneut das Wort Gottes erschallen lassen (Offb 10, 11). Wie auch 1, 12 ff. ist die Erscheinung des Engels überhöht durch theophane Elemente (vgl. 4, 3; Ex 13, 21; 16, 10; 1. Kön. 8, 10 f.; Hos 11, 10; Jer 25, 30), ursprünglich vielleicht Attribute des Gottes, der sich im (Un-)Wetter offenbart (s. Ps 29). Er hält ein geöffnetes (d. h. unversiegeltes) „Büchlein“ in der Hand, das nicht mit dem versiegelten Buch in der Rechten des Thronenden 5, 1 zu identifizieren ist. Zwar ist auch dort das griechische Wort für „Buch“ eigentlich (morphologisch) ein Diminutiv, doch – wie bei dem Wort für das „Lamm“ – nicht als solches verstanden; hier aber ist das, (bis auf V. 8) eigens angezeigt durch die Wortform, der Fall. Es ist

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Der starke Engel und das Büchlein (10, 1–11)

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nicht Symbol für die Macht über die (Welt als) Geschichte, sondern für die Inspiration des prophetischen Wortes, so wie es Ez 2, 8–3, 4 dem Propheten Ezechiel widerfuhr. Johannes weitet die Szene freilich Ez gegenüber auch inhaltlich aus. Rätselhaft ist das Zwischenspiel um die Stimme der sieben Donner, die 3–4 deutlich von der des Engels unterschieden wird und über deren Verschweigen eine Stimme aus dem Himmel verfügt, die hernach (V. 8) den Seher anweist, das „Büchlein“ des Engels zu nehmen und zu essen. Mit Blick auf die „Rede“ der sieben Donner (V. 4) fügt Johannes vermutlich eine uns unbekannte Tradition (vgl. aber Ps 29, 3 ff.: siebenmal Stimme Jahwes im Gewitter) ein, die aber – natürlich – für Johannes immer inhaltliche Bedeutung hat. Übergreifend wird mit der Himmelsstimme die alleinige Verfügungsmacht Gottes über das Offenbarungsgeschehen, das allerdings ohnehin von Vertretern Gottes ausgeht, sichtbar gemacht. Das Gebot, die Stimme der Donner zu „versiegeln“, d. h. nicht öffentlich zu machen, weil sie unvermittelbar ist, ergibt sich aus ihm selbst. Offenbar soll verdeutlicht werden, daß Gott sich eine letzte Offenbarung seiner Macht und Majestät (noch) vorbehält. Er begegnet seinen Erwählten im Wort der Prophetie, er, der unbegrenzt Lebendige, dem allein sich die Welt verdankt. Bei ihm beschwört der Engel, dessen Ort Meer und Land, d. h. die ganze Erde als Ort der Geschichte ist, daß sie ihr Ende erreicht hat. Die Anlehnung an Dan 12, 5–9 hebt die Bedeutung dieser Botschaft gerade durch ihren antithetischen Inhalt scharf hervor. Bei Daniel ist es die noch ausstehende Frist bis zum Ende, hier dessen unmittelbare Ankunft. Freilich nicht: „der Tag des Herrn ist da“ (wie nach 2. Thess 2, 2 Paulus in Thessalonich mißverstanden wird), ist gemeint; das wird erst nach dem Ton der siebenten Posaune der Fall sein, 11, 15–19. Die Siebenerreihen fassen – wie bereits sichtbar wurde – jeweils die 5–7 ganze End- Geschichte, unter je eigener, traditionsbestimmter Perspektive, in den Blick. Noch lebt der Prophet – und mit ihm seine Gemeinde – in der Zeit, aber es ist die letzte Zeit, in der ihr Ende bereits anwesend ist. So vollendet sich die Verborgenheit Gottes, dessen Offenbarung vor und für die Welt sich andrängt, die aber schon immer von seinen Propheten als Heilsbotschaft angesagt worden ist. Daß die Botschaft der Propheten auf das letzte Geschlecht ausgerichtet ist, auch wenn ihnen die Vollendung der Zeit noch nicht kundgetan ist, sondern erst den endzeitlichen Zeugen die Geheimnisse der Worte der Propheten erschlossen werden, das wußte auch der Ausleger des Propheten Habakuk in der (sich endzeitlich verstehenden) jüdischen Gemeinde in Qumran, 1QpHab 7, 1–5 (vgl. 1. Kor 10, 11). Die Überzeugung, daß die Schrift auf die Endzeit hin spricht, ist (wie in dem Frühjudentum, das den Horizont des Neuen Testaments bildet) die Grundlage der frühchristlichen Hermeneutik; sie erhält ihre Gewißheit und Aktualität aus dem Glauben heraus, in der Christusgeschichte diese

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Endzeit zu erfahren. Die Berufung des Johannes zum Künder der Endzeit wird hier, zur Einleitung der zentralen Offenbarung der beiden die endzeitliche Gegenwart bestimmenden Mächte (Offb 12 und Offb 13) in erfüllender Aufnahme von Vorgaben der Schrift eindrücklich und anschaulich dargestellt. 8–11 Er wird an das Büchlein des starken Engels gewiesen, nimmt es, ißt und erfährt seine Süße und Bitterkeit (zum letzten, nicht in Ez 2 f. bezeugten Zug s. Jer 20, 8LXX). V. 11 erschließt (man sagt „mir“ den Vorgang: erneut muß Johannes im Auftrag Gottes das prophetische Wort ergehen lassen über und d. h. gegen (zu „über“ = „gegen“ s. LXX Ez 4, 7; Jer 25, 14; 32, 30 u. ö.) die Völker der Welt und ihre Mächtigen. Für die Gemeinde indessen ist die Botschaft der Endzeit, die Gott schon (allen) seinen Knechten, den Propheten, anvertraute, – wie schon für sie – Evangelium, V. 7. Das Wort „Evangelium verkündigen“ ist bewußt gewählt und greift nicht einen nur vermuteten alten Wortgebrauch der frühesten christlichen Gemeinde auf (ebensowenig wie 14, 6 „Evangelium“). Die „Gute Nachricht“ Gottes enthält Gericht und Heil, der Sieg des Heils setzt den Sieg über das Unheile voraus. III 3. 2. 4 Der Tempel und die zwei Zeugen (11, 1–13) 11, 1 Und mir wurde ein Maßrohr wie ein Stab gegeben mit den Worten: Erhebe dich und miß den Tempel Gottes auf und den Altar und die in ihm anbeten. 2 Den äußeren Hof des Tempels aber, den laß außen vor und vermiß ihn nicht, denn er ist den Heiden überantwortet, und die werden die Heilige Stadt zertreten 42 Monate lang. 3 Und ich werde meine zwei Zeugen beauftragen, und sie sollen 1260 Tage als Propheten in härenem Gewand auftreten. 4 Das sind die zwei Ölbäume und die zwei Leuchten, die vor dem Herrn der Welt stehen. 5 Und wenn irgend jemand ihnen Unrecht zuzufügen gedenkt, dann bricht Feuer aus ihrem Mund hervor und verschlingt ihre Feinde – und wenn einer vorhaben sollte, sie gewaltsam zu schädigen, muß er solcherart zu Tode gebracht werden. 6 Sie sind mit der Macht ausgestattet, den Himmel zu verschließen, so daß kein Wasser als Regen fällt in den Tagen ihres prophetischen Wirkens, und sie haben die Macht über das Wasser, es in Blut zu verkehren und die Erde zu schlagen mit allen Plagen, wann immer sie wollen. 7 Und wenn sie ihr Zeugnis beendet haben, wird das Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt, Krieg mit ihnen führen und es wird siegen über sie und sie töten. 8 Und ihre Leiche wird auf den Straßen der Großen Stadt sein, die geistlich Sodom und Ägypten heißt, dort wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde. 9 Und Menschen aus den Völkern und Stämmen

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Der Tempel und die zwei Zeugen (11, 1–13)

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und Sprachen und Rassen werden ihre Leiche beschauen drei und einen halben Tag lang, und sie werden die Leichen nicht in einem Grab bestatten lassen. 10 Und die Erdbewohner werden sich freuen über sie und froh sein und einander Geschenke senden; denn diese zwei Propheten haben die Erdbewohner gequält. 11 Aber nach den drei und einem halben Tag kam Lebensgeist von Gott in sie, und sie stellten sich auf ihre Füße und große Furcht überfiel die, die sie sahen. 12 Und man hörte eine mächtige Stimme aus dem Himmel, die zu ihnen sagte: Steigt herauf hierher. Und sie fuhren hinauf in den Himmel in einer Wolke, und ihre Feinde sahen sie. 13 Und in jener Stunde ereignete sich ein schweres Beben, und ein Zehntel der Stadt stürzte ein, und es fanden in dem Beben 7 000 Personen den Tod, und die übrigen überfiel Entsetzen und sie gaben dem Gott des Himmels Ehre. Der Sieg des Heils, der empirisch (noch) nicht erfahrbar ist, wird denn auch alsbald gewiß gemacht. Formal abrupt, inhaltlich durchaus organisch wird die Gemeinde ihrer Bewahrung durch die Endzeit hindurch versichert. Nicht mehr in Form einer Vision, sondern durch Einbeziehung des Sehers (V. 1) in eine symbolische Handlung sowie durch Gott selbst (V. 3), der sein Handeln ankündigt, wird jetzt die Geschichte erschlossen. Dieser formale Wechsel wird auch in der überkommenen Gestalt der von Johannes verarbeiteten Tradition begründet sein, doch markiert er dadurch zugleich den Wandel der Richtung, in die der Text schaut, eben die Bewahrung der Erwählten. In dem – innerlich durchaus zusammengehörigen – Komplex 11, 1–13 sind zwei unterschiedliche, wie literarisch selbständig erscheinende Texte (V. 1 f. und V. 3–13) zusammengefügt. Verbunden sind sie durch den Bezug auf Jerusalem, auch wenn der Name des Ortes nicht genannt ist. Die Stadt ist – wie jedermann weiß – der (einzige) Ort des Tempel Gottes und ebenso der Ort, an dem der Herr (Jesus) gekreuzigt wurde (und auferstand!). Zumindest ebenso gewichtig ist die Identität der Zeitansagen; der (Innenraum des) Tempel(s) wird 42 Monate bewahrt werden vor den „Heiden“ (V. 2), genau so lange wie die 1260-tägige prophetische Verkündigung der zwei Zeugen (V. 3). Sprachlich variiert wird der, von Daniel (7, 25; 8, 14 und bes. 12, 7) vorgegebene, von Gott gesetzte Zeitraum der Bedrängnis und Bewahrung der Gemeinde (s. 12, 6. 14; 13, 5) benannt, der noch bis zum Ende ansteht. Zweifellos sind in beiden Textteilen verschiedene (jüdische) Traditionen verarbeitet; nicht sicher ist, daß sie bereits vor Johannes als ausgeformte Texte existierten, die er zu seinem eigenen Text verarbeitet hat. Das gilt besonders für den ersten Teiltext, der verbreitet für ein (fragmentarisches) zelotisches Flugblatt aus der Zeit des Endkampfs um den Tempel im Jüdischen Krieg gegen die Römer im Jahre 70 n. Chr. beurteilt wurde und wird

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(s. Josephus, Bell VI 285 f.). Das ist indessen kaum wahrscheinlich, denn der Tempel wurde gerade nicht bewahrt, sondern vollständig zerstört (s. Mk 13, 2 par.); wie hätte ein solches „Flugblatt“ so überdauern können? Sicher erkennbar freilich ist ein Bezug auf Ez 40, 3(–43, 9), ein Text, der mit seinem gesamten Kontext (Ez 37–48) hernach für die Darstellung der Endzeit Offb 20–22 eine dominante Rolle spielen wird. 1–2 Damit, daß das Neue Jerusalem gerade keinen Tempel haben wird (21, 22), kollidiert unserer Text nicht; das bestätigt nur das metaphorische Verständnis der Wendung „Tempel Gottes“ für die Gemeinde. Ebenso ist die Handlung des Vermessens metaphorisch gemeint; mit einer prophetischen Zeichenhandlung wird die Bewahrung des zu Vermessenden angezeigt. Denn das muß die Bedeutung des „Vermessens“ sein, wie sich aus der Antithese V. 2 ergibt. Von der Vermessung ausgenommen wird der Vorhof des Tempels, der den „Heiden“ überantwortet werden soll, die die Heilige Stadt 42 Monate lang zertreten werden (s. Jes 63, 18; Dan 8, 13; Sach 12, 3; Lk 21, 24; 1QpNah 1, 3). Bemerkenswerterweise gibt es für den geschilderten Vorgang in der jüdischen und frühchristlichen Überlieferung keine wirkliche Parallele (Ez 40 f. zielt ja gerade nicht auf Bewahrung, sondern hat die Erneuerung des Tempels im Blick), auch wenn das „Messen“ in verschiedenartiger Weise mit dem Tempel und der Verfügungsmacht Gottes über ihn in Zusammenhang gebracht werden kann (vgl. Sach 1, 16; Jer 31, 39; 1Hen 61, 1–5). Daher ist es unwahrscheinlich, daß unser Text ein bereits fixiertes Traditionsstück voraussetzt, das Johannes (überarbeitet) aufgegriffen hat. Vielmehr fügt er selbst traditionelle Elemente der Tempelmetaphorik zu einem Text zusammen, der die Bewahrung des Kerns der Stätte der Anbetung Gottes inmitten der eschatologischen Verwüstung selbst der heiligen Orte des Heils, der Heiligen Stadt und ihres Tempels, in prophetischer Darstellung andringend verheißt. Das tragende Element ist die metaphorische Deutung der wahren Gottesgemeinde, die im (wie) geschlachteten Lamm Gott erfährt (vgl. 21, 22), als Tempel Gottes. Sie ist auch sonst im Neuen Testament geläufig (1. Kor 3, 16 f.; 2. Kor 6, 16; vgl. auch Mt 16, 18; Offb 3, 12), war für die Qumrangemeinde wichtig (s. bes. 1QS 8, 5–10; bes. interessant 1QH 6[neu: 14], 24–29) und spielte offenbar in der Verkündigung Jesu eine freilich nicht mehr ganz durchsichtige Rolle (Mk 14, 58 f., auch Joh 2, 19). Die eigene Erwähnung der im Tempel Anbetenden bezieht die einzelnen Glieder der Gemeinde wahrscheinlich in den Raum der Bewahrung ein, auch wenn dieser Zug nicht gepreßt werden sollte. Ebensowenig wie V. 1 ist bei dem Wechsel der Szene V. 3 ein Akteur ge3–4 nannt. Vom Inhalt her ist Gott der Handelnde („mein Zeuge“), doch wird die Offenheit („ihr Herr“, V. 8) gewollt sein. Die den Text insgesamt tragende Erwartung von zwei durch Gott beauftragten eschatologischen (1260 Tage = 42 Monate = dreieinhalb Zeiten, 12, 14) Zeugen nimmt zwei-

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Der Tempel und die zwei Zeugen (11, 1–13)

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fellos Bezug auf atl.-frühjüd. Erwartungen, ohne daß sich – mit Ausnahme von ApkElia – eine adäquate Parallele finden ließe. Daß die Wahrheit zweier Zeugen bedarf, ist im jüdischen Zeugenrecht verankert (vgl. Joh 5, 31 f.; 8, 17; Dtn 19, 15), die endzeitliche Wiederkehr alttestamentlicher Heilspropheten gehört durchaus in den jüdischen Erwartungshorizont, besonders hinsichtlich Elija (s. Mal 3, 1. 23; Sir 48, 10; Mk 6, 15; 9, 11 f.; Joh 1, 21). In Verbindung mit einer anderen alttestamentlichen Gestalt wird er – in vergleichbarer Literatur – in solcher Funktion nur noch in ApkElia 34, 7, 4–35, 17 (= 4, 7–19) genannt, nämlich Henoch. Freilich ist die Herkunft der Schrift schwer zu bestimmen, ihre überlieferte Form ist christlich bearbeitet und gehört erst in das (spätere) 3. Jh. n. Chr. Doch schließt das nicht aus, daß die fragliche Textpartie jüdischen Ursprungs ist und sogar eine ursprüngliche Form der sowohl dort als auch möglicherweise Offb 11, 3 ff. verarbeiteten Überlieferung bietet. Doch ist das ganz ungewiß, und – wie mir scheint – angesichts der singulären Stellung innerhalb der (erhaltenen) frühjüdischen Literatur weniger wahrscheinlich. Eher knüpft ApkElia an Offb 11 (lose) an und identifiziert die beiden dort unbenannten Zeugen, indem neben dem bekannten endzeitlich wiederkommenden Boten Elija der gleichfalls nicht gestorbene, sondern entrückte Henoch (Gen 5, 24) genannt wird (s. auch die Reihenfolge: Elija – Henoch in ApkElia). Offb 11 nimmt zunächst (vgl. bereits 4, 5; 5, 6 [= Sach 4, 10]; 6, 1 ff. [= Sach 1, 8 ff.]) Sach 4, bes. V. 3. 11. 14, auf (wo die beiden Ölbäume [neben nur einem Leuchter] Josua und Serubbabel sind) und setzt die beiden Zeugen durch ihre Fähigkeiten, mit denen sie den Menschen begegnen, zu Elija (V. 5. 6 a; vgl. Sir 48, 1–3) und Mose (V. 6 b; vgl. Ex 7–11, bes. 7, 17. 19) in Parallele, ohne sie namentlich zu nennen. Die Verklärungsgeschichte Mk 9, 2–8 zeigt, daß die Verbindung des Elija mit Mose als solche, die für den Christus Jesus zeugen, der christlichen Gemeinde durchaus nahe lag, stellt aber keine Parallele zu unserem Text dar (wie Mk 9, 11–13 zeigt, denn dort begegnet Mose nicht mehr). Wahrscheinlich hat Johannes die gesamte Szene des Auftritts der zwei Zeugen ohne die direkte Vorgabe eines in sich geschlossenen Traditionsstückes gebildet, freilich – wie üblich – unter durchgehender Verwendung vorgegebener Traditionselemente, die, wenn auch für uns nicht immer sicher erkennbar, durchweg metaphorische Bedeutung haben. Dazu gehört auch etwa der Hinweis auf die Bekleidung mit „Säcken“, d. h. in härenem Tuch, die sie (wahrscheinlich) als prophetische Bußprediger erscheinen lassen soll (Jes 20, 2; Sach 13, 4; AscJes 2, 10; 2. Kön 1, 8, auch Mk 1, 6). Mögliche Assoziationen an Elija und Johannes den Täufer (dazu s. a. 5–8 Joh 5, 35) lassen nur das Fehlen einer ausdrücklichen Identifikation der beiden Zeugen deutlicher hervortreten; V. 5 a spielt möglicherweise an Jeremia (Jer 5, 14 b) an. Eine tatsächliche, wenn auch indirekte Identifikation spricht V. 8 aus: Der Gekreuzigte ist „ihr Herr“, dessen Schicksal in

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Tod und Auferstehung sie teilen. Ihr Gegner, der mit ihnen Krieg führt und sie besiegt, ist das „Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt“ (V. 7), die widergöttliche Macht, deren geschichtliche Manifestation die christliche Gemeinde vernichtend bedroht, 17, 8; 13, 1. So stellen denn die (zwei) Zeugen der Endzeit, die den prophetisch angesagten letzten Ruf Gottes zur Umkehr vor dem Gericht zu verkündigen haben, die Gemeinde des Lammes dar, ihren Dienst, ihr Martyrium und ihr endliches Überwinden ihrer Verfolger durch den Lebensgeist, der von Gott kommt (V. 11). Stand in 11, 1 f. die Zusage der Bewahrung der Gemeinde im Zentrum, so hier ihr prophetischer Dienst, der ihr das Martyrium bringen wird, sie aber auch des Lebens mit ihrem Herrn gewiß werden läßt. Der Ort ihres Geschicks ist der gleiche wie der des Martyriums ihres Herrn (nur hier in Offb wird das Kreuz erwähnt!), die „große Stadt“. Das ist historisch – natürlich – Jerusalem, aber dieser Name ist absichtlich nicht gebraucht, vielmehr der ihr Wesen offenlegende „geistliche“ Doppel-Name „Sodom und Ägypten“. Er zeigt an, daß die Rede ist von der aus ihren Fugen geratenen, dem Volk Gottes todfeindlichen Welt. Solche metaphorische Aufweitung Jerusalems als der Ort, der die gottlose/gottfeindliche Welt insgesamt „geistlich“ repräsentiert, lag bereits dem Teilstück 11, 1 f. zugrunde. Das Spiel der Offb mit dem Begriff „Große Stadt“ ist bemerkenswert durch die Verbindung von gleichnishafter/symbolischer Verwendung und konkreter Verortung. Über 14, 8; 16, 19 wird in Kap. 17 (V. 5 und 18) die „große Stadt“ mit Babylon, dem anderen gottfeindlichen Ort (s. Jes 13, 19; Jer 50, 29; 51), identifiziert, expliziert dann Offb 18, in der Ausgestaltung dort aber unübersehbar als das geschichtlich-konkrete Rom lokalisiert (wieder ohne Nennung dieses Namens). 11, 13 wird das „geistliche Sodom und Ägypten“ noch einmal (zumindest implizit) als das historische Jerusalem erkennbar, indem die Zahl eines Zehntels seiner Einwohner auf 7000 beziffert wird; das entspricht in überraschender Weise der – freilich nur noch zu vermutenden – Einwohnerzahl Jerusalems im 1. Jh. n. Chr. Trotz des unscharfen Verhältnisses der Antike zu höheren und hohen Zahlen mutet die Angabe als geradezu gewollt realistisch an, Babylon oder Rom kann hier nicht den Hintergrund der Vorstellung von der in Rede stehenden „großen Stadt“ bilden. Der Text zeigt, wie die Welt, die sich Johannes offenbart, mit der Wirk9–11 lichkeit der historischen Welt, in der er und seine Adressaten leben, verschmilzt. Daher kann die ganze Welt (V. 9) die gemordeten Zeugen Gottes sehen, die ihr dreieinhalb Tage unbestattet präsentiert werden, ein historisch-konkret nicht vorstellbarer Vorgang in einer Welt, in der aus zwingenden Gründen die Bestattung sehr rasch dem Tod folgt (vgl. Joh 11, 39), wohl aber ein eindrückliches Bild für die Schmach, der die Zeugen Christi bis in ihren Tod ausgesetzt sind (s. Ps 79, 2–4; 2. Kön 9, 10; Josephus, Bell IV 317; gegenläufig TestHiob 53, 6 f.). Die Menschen geben ihrer Freude

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Der Tempel und die zwei Zeugen (11, 1–13)

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darüber Ausdruck, von der Belästigung durch die (aufdringliche) Predigt der Propheten bewahrt zu sein (s. MartJes 5, 2; Est 9, 22). Aber – das weiterführende „und“ V. 11 ist, wie häufiger und rhetorisch wirkungsvoll, scharf adversativ – nach dreieinhalb Tagen wendet sich das Blatt radikal, Gottes Lebensgeist geht in die gemordeten Zeugen ein (s. Ez 37, 10 sowie auch Gen 2, 7;7, 15; 4Esr 3, 5), sie stellen sich auf ihre Füße (vgl. Mk 5, 41 f.). Nach Ablauf der im eschatologischen Maß (dreieinhalb; ein Bezug auf die „drei Tage“ hinsichtlich der Auferstehung Jesu liegt nicht vor) bemessenen Zeit werden sie neu erschaffen, numinoser Schrecken (vgl. 1, 17 „fürchte dich nicht“) überfällt die Augenzeugen. Auf ein Befehlswort, das wie ein Schöpfungswort ist, fahren sie in 12 „der“ Wolke in den Himmel. Sie werden in die Geschichte ihres Herrn (s. Apg 1, 9) einbezogen (s. 1. Thess 4, 17), ebenso wie sie damit auch in der Nachfolge des Zeugen Gottes Elija stehen (2. Kön 2, 11; Sir 48, 9; zu Mose s. Josephus, Ant IV 326). Der lapidare Schlußsatz, daß ihre Feinde sie (als Auferstandene und zu Gott Entrückte) sehen, der in vergleichbaren Texte keine Parallele hat, hebt den endlichen Triumph der Zeugen vor denen, die ihre Katastrophe bejubelten (V. 10), unüberbietbar hervor (s. z. B. Ps 23, 5; 86, 17). Das Erdbeben, das (nur) ein Zehntel der Stadtbewohner tötet, ist V. 13 – 13 anders als 6, 12; 16, 18 – nicht so sehr als Strafgeschehen gedacht, sondern – ähnlich wie 8, 5 – als apokalyptisches Zeichen, das den endzeitlichen Charakter der Totenerweckung anschaulich macht, so wie Mt 27, 52 f. in der Todesstunde Jesu. Daher die Begrenzung der Zerstörung der Stadt auf nur ein Zehntel, der die Angabe der Zahl der Todesopfer entspricht. Wesentlich sind ihm die „Übrigen“, immerhin neun Zehntel der Bewohner der Großen Stadt (vgl. das gerade umgekehrte Verhältnis Am 5, 3; Jub 10, 9), die durch das Geschehen zu Gottesfürchtigen werden. Der Dienst der Zeugen, der ihr Martyrium einschließt, führt schließlich zur Umkehr der „Übrigen“ des zum geistlichen Sodom und Ägypten pervertierten Jerusalem zu Gott! Der ganze Abschnitt 11, 1–13 hat ein einheitliches Thema, das Geschick der Gemeinde Gottes in der Zeit, in der die Welt auf ihr Ende zugeht, d. h. in der Geschichte. Sie steht unter der Gewißheit der Bewahrung vor dem endgültigen Untergang, aber als eine solche, die zum Zeugnis für ihren Herrn bestimmt ist, zum „Martyrium“ in eben dem Sinn, der diesem Begriff in Offb zuzuwachsen beginnt.

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

III 3. 2. 5 Die siebente Posaune (11, 14–19) 14 Das zweite Beben ist vorüber. Siehe, das dritte Wehe kommt alsbald. 15 Und der siebente Engel blies. Und es erschallen gewaltige Stimmen im Himmel: Die Königsherrschaft über die Welt gehört unserem Herren und seinem Gesalbten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit. 16 Und die 24 Ältesten, die vor Gott auf ihren Thronen sitzen, fielen nieder auf ihr Angesicht und brachten Gott ihre Verehrung dar, 17 indem sie sagten: Wir danken dir, Herr und Gott, der Allherrscher, der Ist und der War, daß du deine große Macht ergriffen und die Herrschaft angetreten hast. 18 Und die Völker wüteten, aber dein Gericht kam, und der Zeitpunkt für die Toten, gerichtet zu werden und den Lohn zu erstatten deinen Knechten, den Propheten und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten, den Kleinen und den Großen, und zu vernichten die Vernichter der Erde. 19 Und der Tempel Gottes im Himmel wurde geöffnet und seine Bundeslade erschien in seinem Tempel. Und es ereigneten sich Blitze und Getöse und Donner und Beben und gewaltiger Hagel. 14 Der von Johannes in den Fluß der Offenbarung eingefügte Satz V. 14 ist wie eine Leseanweisung. Die große Himmelsstimme V. 15 nimmt nicht mehr unmittelbaren Bezug auf das, was in 10, 1–11, 13 Gegenstand der Darstellung war, sondern setzt neu an, verklammert zugleich aber auch das Folgende mit dem Gesamtgeschehen, das die „Offenbarung“ enthüllt. Denn über den Abschluß der 8, 2 begonnenen Reihe der sieben Posaunen-Visionen mit der Proklamation des eschatologischen Heilsanbruchs (11, 15–19) und seiner Begründung in der Christusgeschichte (12, 1–16) und ihrer Durchsetzung in der gottfeindlichen Welt (Kap. 13 und 14) setzt sich in 15, 1 die Schilderung der Plagen fort, die über die Welt vor ihrem Ende hereinbrechen, der dritte und letzte Anlauf, den unfaßbaren Gang der Geschichte zu erfassen. Daß Johannes Mühe hat, die Fülle des sich ihm – aus der Tradition ebenso wie aus der Erfahrung der Begegnung seines Glaubens mit dem Erleben der Welt – andrängenden Stoffes literarisch zu gestalten, ist besonders im Mittelteil der Offb deutlich zu spüren. Das berechtigt indessen nicht zur Emendation des Textes; ein Blick auf andere apokalyptisch-visionäre Texte kann den Blick für die Schwierigkeit oder auch Souveränität ihrer literarischen Gestaltung schärfen. Wie 10, 7 ankündigte, kommt bei dem Klang der siebenten Posaune das 15–18 Mysterium Gottes zur Vollendung, die Geschichte Gottes mit der Welt zu ihrem Ziel. Das wird auch hier (vgl. 8, 1) noch nicht entfaltet (wie ab 20, 11), sondern vom Himmel her proklamiert und gefeiert. Die Proklamation der Vollendung geschieht durch mächtige Stimmen im Himmel (V. 15 a), die, wohl bewußt, nicht identifiziert werden. Wie eine Bestätigung solcher Proklamation der kosmischen Herrschaft „unseres Herrn

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Die Geburt des Kindes und der Sturz des Drachen (12, 1–17)

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und seines Gesalbten“ in der Einheit ihres Handelns ertönt der anbetende Dank der 24 Ältesten, deren Thronsessel den Gottes umgeben (4, 4). Solche Herrschaft bricht nun endlich an und greift Platz für immer. Auch inhaltlich korrespondiert die Szene 4, 10 f.; preisen dort die Ältesten Gott als den, dessen Würde darin gründet, daß er der Schöpfer der Welt ist, so feiern sie ihn hier als den, der ihr Richter und Erlöser ist, ihr Anfang und ihr Ende. Die Gottesprädikation, die ihn dreigliedrig als den Allzeitigen nennt (s. 1, 4), ist um das dritte Glied gekürzt; er ist nicht mehr der Kommende, er ist der, der ungeteilt da ist! So überlegt geht der Text mit den traditionsgeprägten Prädikaten um! In die Eucharistie ist, wie der Singular des Verbs V. 15 fin zeigt, der Gesalbte des Herrn eingeschlossen. Gott handelt an der Welt in Christus, die dadurch zu einer (funktionalen) Einheit werden. Dem Vernichtungswillen der gottlosen Welt ist das vernichtende Gericht Gottes gefolgt, das sich auf die Gesamtgeschichte der Welt erstreckt. Weil die Welt sich in ihrer Geschichte darstellt, bedarf auch (und gerade) diese des Gerichts. Dem Gericht aber entspricht die Erlösung. Gott setzt die ins Recht, die einer gottlosen Welt den Stachel des Wissens um Gott erhielten, seine Propheten und alle, die sich von Gott und seinem Willen nicht lösten, Ohnmächtige und Mächtige. Diejenigen, die den Untergang betreiben, werden eben das erlangen, was sie praktizieren, den Untergang. Damit ist die lex talionis auf ihre wahre Substanz zurückgeführt, der Mensch wird das sein, was er sein will. Wer sein Leben zu dem Leben macht, kann gar kein anderes Ziel finden als das Ende seines Lebens, den Tod. Zum Abschluß der siebenten Posaune öffnet sich der Tempel Gottes im 19 Himmel, dessen Altar bereits 6, 9 und 8, 3 in das Blickfeld getreten war, und sein Heiligstes (vgl. Hebr 9, 4 f.) erscheint, die Bundeslade, der Ort Gottes. III 3. 3 [Beginn und Ziel der Geschichte des Christus Jesus und der seiner Gemeinde] (12, 1–14, 20) III 3. 3. 1 [Die Geburt des Kindes und der Sturz des Drachen] (12, 1–17) 12, 1 Und ein großes Zeichen erschien am Himmel: eine Frau, umkleidet mit der Sonne und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen. 2 Und sie ist schwanger und schreit in Wehen und gepeinigt durch das Gebären. 3 Und es zeigte sich ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe: ein großer feuerfarbener Drache mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und auf seinen Köpfen sieben Diademe. 4 Und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und schleuderte sie auf die Erde.

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Und der Drache stellte sich vor der Frau auf, die zu gebären in Begriff stand, um – wenn sie ihr Kind geboren hätte – dieses zu verschlingen. 5 Und sie gebar einen Sohn, einen Männlichen, der alle Völker mit eisernem Stab weiden soll. Und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron hinweggerissen! 6 Die Frau indessen floh in die Wüste, wo ihr ein Ort von Gott bereitet war, um sie dort zu ernähren 1260 Tage lang. 7 Und in dem Himmel brach Krieg aus; Michael und seine Engel hatten zu kämpfen mit dem Drachen. Und zwar führte der Drache und seine Engel den Krieg, 8 aber er war (der Sache) nicht mächtig und es fand sich für sie kein Platz mehr im Himmel. 9 Und der große Drache, die alte Schlange, der sogenannte Diabolos und Satan, der die ganze bewohnte Erde in die Irre führt, ist auf die Erde gestürzt worden, und seine Engel sind mit ihm hinabgestürzt worden. 10 Und ich vernahm eine mächtige Stimme im Himmel, die verlautete: Jetzt hat sich die Rettung Bahn gebrochen und die Kraft und die Herrschaft unseres Gottes und die Macht seines Gesalbten. Denn der Ankläger unserer Brüder ist gestürzt, der sie Tag und Nacht vor unserem Gott anklagte. 11 Aber sie haben ihn überwunden durch das Blut des Lammes und das Wort ihres Zeugnisses, und sie haben sich nicht an ihr Leben bis in den Tod hinein geklammert. 12 Deshalb jubelt, Himmel und die in ihm Heimat haben. Wehe der Erde und dem Meer, denn der Teufel ist zu euch herabgekommen mit großer Wut; er weiß, daß er nur eine kurze Frist (noch) hat. 13 Und als der Drache wahrnahm, daß er auf die Erde gestürzt worden war, verfolgte er die Frau, die das Männliche gebar. 14 Aber der Frau wurden die zwei Flügel des großen Adlers gegeben, damit sie in die Wüste fliegen könnte an ihren Ort, an dem sie ernährt wird eine Zeit und (zwei) Zeiten und eine halbe Zeit, fern von der Gegenwart der Schlange. 15 Und die Schlange schleuderte aus ihrem Maul hinter der Frau her Wasser als einen Strom, damit sie weggespült wird 16 Aber die Erde kam der Frau zur Hilfe, und die Erde öffnete ihren Schlund und verschlang den Strom, den der Drache aus seinem Maul schleuderte. 17 Und der Drache geriet in Wut über die Frau und ging hin, Krieg zu führen mit den Übrigen ihrer Nachkommen, mit denen, die die Gebote Gottes befolgen und das Zeugnis Jesu bewahren. Nach diesem Abschluß der Reihe der Posaunenvisionen im Aufscheinen des Endes der Geschichte, die in der Herrschaft Gottes aufgehoben wird, holt Johannes gleichsam neu Atem, erscheint ihm die ihn bestimmende Zeit der Welt noch einmal in neuer Beleuchtung. So schaut er ihre arché, ihren sie fundierenden Beginn in der Geschichte des Christus Jesus und der seiner Gemeinde.

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Die Geburt des Kindes und der Sturz des Drachen (12, 1–17)

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Ein erster Zug umfaßt das ganze Kap. 12. Es bildet eine Einheit, die in sonst nicht begegnender Form ein bizarres, gleichwohl in sich geschlossenes oder doch miteinander verbundenes Geschehen berichtet. Eine Frau in der Gestalt der Himmelskönigin überfallen qualvoll die Wehen, ein furchtbarer Drache stellt sich ihr gegenüber auf in der Absicht, das neugeborene Kind zu verschlingen. Die Mutter gebiert einen Sohn und entflieht zu einem für sie bereiteten Platz in der Wüste, um dort das Kind zu ernähren. Im Himmel entbrennt ein Kampf Michaels (nach Jud 9 „Erzengel“) und seiner Engel gegen den Drachen, der auf die Erde gestürzt wird mit samt seinen Engeln. Ein himmlisches Preislied rühmt dieses Geschehen, nennt seine Gründung im Sieg durch das Blut des Lammes und der Botschaft seiner Zeugen. Ein Wehe aber gilt der Welt, auf die der Drache gestürzt ist – für eine kleine Frist. Der aus dem Himmel gestürzte Drache verfolgt die Frau, der Flügel zur rettenden Flucht in die Wüste verliehen werden; die Erde öffnet sich für die Flut, mit der der Drache die Mutter mit ihrem Kind verschlingen will. Der wendet sich zum Kampf gegen die übrigen Nachkommen der Frau, die die Gebote Gottes bewahren und das Zeugnis Jesu durchhalten. Die Einheit dieses Textes in der vorliegenden Gestalt und Einbettung ist nicht in Frage zu stellen. Dieses Urteil wird bestätigt durch seine inhaltliche Besonderheit im Rahmen der Offb, seine offenkundige Nähe zu einer in der Antike verbreiteten mythischen Erzählung. Sie begegnet in mannigfacher Variation im gesamten Kulturraum des östlichen Mittelmeers und basiert auf der mythisch gedeuteten Erfahrung des täglichen Laufs der Sonne. Ein anderer, gleichfalls „ökumenischer“ Mythos, der kosmologische Funktion hat, erzählt von dem Kampf im Himmel, der in den Sturz des Friedensstörers auf die Erde mündet, auf der er seine Macht weiterhin ausübt. Da nicht anzunehmen ist, daß Johannes von einer der uns überkommenen Formen dieser Mythen direkt abhängig ist, die übrigens vielfach und auch durch einzelne ihrer Elemente weitergewirkt haben, brauchen sie hier nicht einzeln vorgeführt zu werden. Es genügt auch tatsächlich, sich bewußt zu halten, daß die Struktur des Textes Offb 12 durch die metaphorische Aufnahme solcher Vorstellungen geprägt ist und manche seiner Einzelheiten darauf beruhen. Offenbar waren die beiden genannten Mythen schon, bevor sie die Gestaltung von Offb 12 beeinflußten, zu einer Einheit zusammengefügt. Das anzunehmen legen die deutlich jüdischen Elemente vor allem im Mittelteil nahe, der von dem Drachensturz handelt. In der vorliegenden Fassung ist der Drache besiegt durch das Lamm und seine Bekenner; zunächst aber sind Michael und die Seinen als die siegreichen Gegner aufgeführt, ein Signal des Durchgangs durch das Frühjudentum. Der Hymnus V. 10–12 ist dagegen christlich und wird vom Verfasser der (anderen Hymnen der) Offb stammen. Der Text Offb 12, der sich insgesamt trotz der deutlich erkennbaren Elemente unterschiedlicher Herkunft und Geschichte als Einheit präsen-

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

tiert, ist – natürlich – Träger einer eigenen Botschaft, die ihm unter Benutzung seiner verschiedenartigen Bausteine durch den Autor der Offb aufgetragen worden ist. 1–2 Sicher erkennbar an der messianischen Prädikation (Jes 66, 7; 7, 14; vgl. Ps 2, 9 [s. o. zu 2, 27]) ist, daß der „männliche Sohn“, den die kreißende Himmelskönigin gebiert und den der Drache belauert, der Messias, der Christus ist. Daß seine Mutter nicht Maria, die Frau des Josef, ist, wie in der älteren Auslegung oft vorausgesetzt, heute aber durchweg aufgegeben ist, leidet keinen Zweifel; das würde der Weise der Darstellung nicht nur im Einzelnen, sondern geradezu kategorial widersprechen. Die Frau erscheint dem Seher zwar in der religionsgeschichtlich traditionellen Gestalt der Himmelsgöttin, sie ist ihm aber die Gottesgemeinde, deren Erscheinung als Kreißende ihm und den Empfängern seiner Botschaft aus dem Alten Testament her bekannt war (s. bes. Jes 66, 7–9; dazu Mi 4, 9; Jes 26, 17, zur Geburt eines Sohnes Jes 9, 5). Da sie und ihr Schicksal über den Sohn, den sie gebiert, definiert wird (V. 4. 6. 13, auch 17) und die „Übrigen ihres Samens“ V. 17 diejenigen sind, die (sowohl) die Gebote Gottes bewahren und (ebenso) das Zeugnis Jesu festhalten, muß die „Frau“ das Gottesvolk des in der Schrift (= unserem Alten Testament) bezeugten (alten) Bundes sein, den die „Sieger“ der Sendschreiben Kap. 2 f. beerbt haben, nicht aber diejenigen, die sich in Smyrna (2, 9) oder Philadelphia (3, 9) etwa „Juden“ nennen, in Wahrheit aber „Synagoge des Satans“ sind. Es ist das wahre Gottesvolk, zu dem Israel berufen war und das in der Gegenwart der Offb in allen Bekennern des geschlachteten Lammes lebt, ohne daß auf ihre religiöse (oder gar ethnische) Herkunft reflektiert wäre. Und zwar nicht in seiner empirischen Erscheinungsweise (das sind die „Übrigen ihres Samens“), sondern – ähnlich wie die „Engel der Gemeinde“ Kap. 2 f. – in seiner Wirklichkeit vor Gott (vgl. die 144 000 Versiegelten 7, 4–8 und 14, 1–5). In der Gestalt der Frau ist die Gemeinde des Alten Bundes mit der Gemeinde Christi, der „christlichen“, zusammengeschlossen. Die Attribute V. 1 gehören zunächst gewiß der „Himmelskönigin“ des zu Grunde liegenden Mythos zu; der Seher wird sie als Attribute ihrer überweltlichen Würde, ihrer Mächtigkeit über die kosmischen Gewalten verstanden haben (vielleicht mit einem antithetischen Bezug zum Herrschaftsanspruch Roms). Dazu zählt auch die Sternenkrone, doch hat die Tradition in ihr vielleicht auch einen Bezug auf das Gottesvolk der zwölf Stämme Israels (Gen 37, 9) und der zwölf Apostel gesehen (Offb 22, 13 und 14). Nicht die leichte Geburt, wie Jes 66, 7 f., ist hier (V. 2) das Zeichen, sondern die qualvollen Geburtswehen, die Signatur der Endzeit (s. z. B. 1. Thess 5, 3; Mk 13, 8; auch 1QH 3[neu: 11], 7–12). In das Geschehen bricht ein anderes Zeichen ein, ein furchterregender 3–4 Drache, der Satan (V. 9!). Seine Gestalt – bzw. die seiner Funktionäre – beherrscht die ganze folgende Darstellung bis 13, 18 und darüber hinaus

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Die Geburt des Kindes und der Sturz des Drachen (12, 1–17)

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(s. 16, 13); 20, 2 und 20, 10 wird schließlich sein endgültiges Ende angezeigt. Die Vorstellung vom Drachen als Widersacher des (göttlichen) Lebens ist religionsgeschichtlich weit verbreitet und auch Offb 12 bereits mit der Tradition vorgegeben (vgl. auch Jes 27, 1). Die Erscheinungsweise des Drachen, die auch die seiner Gliedmaßen bestimmt (13, 1; 17, 3), ist durch – freilich nur schwer zu differenzierende – Tradition bestimmt (s. Dan 7, 7. 20. 24). Erst Offb 17, 9–14 bietet eine allegorische Erklärung der sieben Köpfe und zehn Hörner des Tieres, die erkennen läßt, daß den sieben gekrönten Köpfen die wichtigste Bedeutung jedenfalls für Offb zukommt (wohl vom Gewicht der Siebenzahl her, die bemerkenswerterweise in Daniel gar keine Rolle spielt). Das Herabfegen der Sterne deutet auf zerstörerisches Endgeschehen (s. Dan 8, 10; Offb 6, 13), der eigentliche Angriff des Drachen aber richtet sich auf das Kind, das die Himmelskönigin gebären wird. Das entspricht zwar genau der Intention des ursprünglichen Mythos, ist aber durch die Charakterisierung des Sohnes als des Messias von Offb eigens hervorgehoben. Nicht auf der Verfolgung der Frau, sondern auf der des Kindes liegt 5 aller Ton, wie ebenso auf seiner Bewahrung durch die Entrückung zum Thron Gottes. Sowohl die Frau als auch ihr Widerpart haben allein durch ihren Bezug zu dem Kind Bedeutung für den Text! Es ist die Geburt des Messias, des Christus Jesus, die die Geschichte bestimmt, die für Johannes kosmische Bedeutung hat. Sie aber liegt als solche nicht in den einzelnen Elementen des Lebens Jesu, sondern in seiner Geburt, seiner Epiphanie und in seiner Erhöhung zu Gott (vgl. zu solcher Verdichtung Joh 16, 28, auch Röm 1, 3 f.; 1. Tim 3, 16). Die Weise der Darstellung Jesu spricht nicht gegen solche Deutung; sie ist in der Vorgabe durch die Form des Mythos bedingt, entspricht aber auch einer Darstellungsweise, die mit der Nennung der Eckpunkte einer Geschichte diese als ganze erfaßt. Ob das Wort, mit dem die Entrückung des Kindes beschrieben wird („gewaltsam räuberisch entreißen“) V. 5, einen versteckten Hinweis auf das Kreuzesgeschehen enthält, ist unsicher (vgl. zum Verb 1. Thess 4, 17, auch 2. Kor 12, 2. 4). Die Frau entweicht, obwohl von einem Angriff des Drachen auf sie 6 (noch) keine Rede war, in die Wüste, in der ihr ein Ort bereitet ist von Gott, der die Seinen schon immer in der Wüste bewahrte (s. Dtn 8, 2; 32, 10; Jes 40, 3; Hos 9, 10; vgl. Mk 1, 12 f.). Die Angabe der Frist variiert in eben der Weise wie 11, 3 die Dauer von dreieinhalb Zeiten der eschatologischen Bedrückung der Gottesgemeinde (Dan 7, 25; 12, 7; vgl. 8, 14). Abrupt richtet sich mit V. 7–12 der Blick auf die Geschichte des Dra- 7–9 chen, der noch im Himmel seinen Ort hat. Michael und sein Heer stellen sich dem Drachen zum Kampf. Michael (nur Jud 9 im Neuen Testament „Erzengel“ genannt) begegnet erst im Frühjudentum mit Namen (wie auch die übrigen Engel), dann aber in hervorgehobener Stellung, besonders mit Bezug auf das Gottesvolk und sein kämpfendes Eintreten für es,

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Dan 12, 1 (10, 13. 21); 1QM 9, 15 f.; 17, 5–8. Der Kampf im Himmel zwischen Gott und Widergott ist verbreitetes mythisches Motiv, im Alten Testament Jes 14, 12–15, ein Text, den man insgesamt im Hintergrund der Offb sehen kann; vgl. auch Ez 28, 16 ff. (Offb 18). Der Kampf des Drachen ist vergeblich, er wird vertrieben, und er und seine Trabanten (die V. 7 und 9 „Engel“ genannt werden, ohne daß etwas über ihr Verhältnis zu den „Engeln Michaels verlautete), werden gestürzt auf die Erde (s. Lk 10, 18). V. 9 häuft – wie ähnlich 20, 2 – auf den Drachen eine Fülle von Namen für Gottes Widersacher (vgl. Jes 27, 1), die in der (jüdischen und) christlichen Überlieferung lebendig waren. Daß der in Qumran häufigere Name Beliar fehlt (wohl aber 2. Kor 6, 15), dafür aber, wie im Neuen Testament geläufig, (das synonyme) Diabolos und Satan (fehlt in Qumran) aufgeführt sind, mag Zeichen christlichen Einflusses sein, wie auch der ausdrückliche Hinweis auf die ökumeneweit verführende Wirksamkeit (s. Did 16, 4 „Weltverführer“, auch 2. Joh 7). In der Substanz aber ist die Vorstellung vom Drachenkampf Michaels und dem Satanssturz dem Mythos von der Geburt des Kindes bei seinem Durchgang durch die jüdische Überlieferung zugewachsen, ein Zeichen, daß Johannes ihn, wie auch sonst das von ihm gestaltete Material, von daher empfing. 10–11 Der das „Zwischenspiel“ V. 7–12 abschließende Hymnus interpretiert denn auch dahin, daß der Satanssturz direkt und ausschließlich mit Gott, seinem Christus und dessen Ermöglichung des Sieges durch seinen Tod in Beziehung gesetzt wird. Der Hymnus entspricht in seinem ganzen Charakter den übrigen Hymnen des Buches; er ist, gerade auch in seiner Stellung im Text, auf Johannes selbst zurückzuführen. Der Satanssturz, der – wie freilich schon V. 9 (zweimal) – durch das Passiv als Gotteshandeln ausgewiesen wurde, begründet die soteriologische Macht und Herrschaft Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten dafür, daß der „Verkläger“ „unserer Brüder“, d. h. der Christus-Bekenner V. 11, gestürzt ist. Die Funktion des Gestürzten ist zunächst streng auf die Anklage, die Denunziation der Welt vor Gott konzentriert. Das nimmt eine durch Hiob 1 und 2; Sach 3, 1 (vgl. auch 1Hen 40, 7) bezeugte, wenn auch nicht eben breit jüdisch-christlich belegte Anschauung auf. Dadurch wird der Widersacher zwar mit der überirdischen, himmlischen Welt verbunden, ihm aber gerade keine eigene gottgleiche Macht über die Welt zugeschrieben. Auch wird die Anklage nicht als Lüge gekennzeichnet; sie ist einfach außer Geltung gesetzt im Sieg durch das Blut des Lammes, das sie durch seinen Tod freigekauft hat, 5, 4–9 f.; 1, 5 b; 7, 14, ein Sieg, den sie sich durch ihr unter Einsatz des eigenen Lebens durchhaltendes Zeugnis zu eigen gemacht haben. Nur an tatsächliche Blutzeugen ist dabei gewiß nicht gedacht, vgl. 2, 10. So kann der Himmel ein Ort der Freude sein, die irdische Welt aber 12 wird mit dem Wüten des „Teufels“, des Verleumders, in den Terrorgriff

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Der Drache (12, 18–13, 18)

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desjenigen genommen, der seinen Untergang auf sich zukommen spürt. Das folgende Kap. 13 (wie auch Kap. 17 f.) wird versuchen, dieses Wüten in der geschichtlichen Erfahrung der Leser spürbar werden zu lassen. Zunächst aber kehrt Johannes mit V. 13 in die mythische Welt der 13–16 Geschichte von dem Drachen, der Frau und ihren Nachkommen zurück. Der auf die Erde gestürzte Drachen verfolgt die Frau an den ihr nach V. 6 von Gott bereiteten Ort in der Wüste. Damit hat zumindest implizit ein Wechsel hinsichtlich der historischen Identität der Frau statt, der gleichsam kategorialer Natur ist. Sie ist – als die Himmelskönigin von 12, 1 – zum Urbild der Kirche geworden, verfolgt und bewahrt, sie empfängt die Flügel des Adlers (vgl. Jes 14, 31 – Ex 19, 4; AssMos [= TestMos] 10, 8), wird in der Wüste geborgen (s. Dtn 32, 10 f.; auch 1QS 8, 12–14) und genährt (s. 1. Kön 17, 2–6; 19, 4–8) über dreieinhalb Zeiten (s. V. 6). Der Angriff des Drachen, der Schlange, und die rettende Hilfe der Erde (V. 15 f.) dürfte ursprünglich zum Mythos gehört haben, wird von Johannes (und seinen Adressaten) aber von den Metaphern ihres Kontextes her verstanden worden sein (vgl. Ps 32, 6; 18, 5. 16; Ex 14, 16–18; 1QH 3[neu: 11], 29–32). Der Frau, als die sich die Gemeinde Gottes darstellt, droht vernichtende 17 Verfolgung, Gott aber bewahrt sie, wie er schon immer sein Volk bewahrt hat. Der Drache aber wendet sich zum Kampf gegen die Glieder des Volkes Gottes, die ihr Dasein der Frau verdanken, wie Johannes es in dem kühnen Bild von den „Übrigen ihres Samens“ aussagt, die diese ihre Abkunft aber auch durch ihr Tun und Bekennen bewähren. Mit unmißverständlicher Klarheit nennt der Text die Norm der Zugehörigkeit zum Gottesvolk: das Halten der Gebote Gottes, kurz: der Tora, und das unbedingte (V. 11!) Bekenntnis zu Jesus (vgl. 14, 12), ein Handeln, das sich nicht etwa in seinen beiden Elementen ausschließt, vielmehr sich geradezu gegenseitig bedingt. III 3. 3. 2 Der Drache – das Tier aus den Meer und das Tier aus dem Land (12, 18–13, 18) 12, 18 Und er trat an den Strand des Meeres. 13, 1 Und ich sah aus dem Meer ein Tier heraufsteigen, das zehn Hörner hatte und sieben Köpfe und auf seinen Hörnern zehn Diademe und auf seinen Köpfen lästerliche Namen. 2 Und das Tier, das ich sah, war einem Leoparden gleich und seine Pranken wie die eines Bären und sein Maul wie der Rachen eines Löwen, und der Drachen verlieh ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht. 3 Und einer seiner Köpfe war wie zum Tode geschlachtet, aber seine Todeswunde wurde geheilt. Und alle Welt geriet in Verzückung hinter dem Tier. 4 Und sie erwiesen dem

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Drachen göttliche Verehrung; denn er verlieh dem Tier die Macht. Und man betete das Tier an mit den Worten: Wer ist dem Tier gleich und wer kann gegen es Krieg führen? 5 Und es wurde ihm ein Maul gegeben, große Worte zu reden und Gotteslästereien, und es wurde ihm Macht übertragen zu wirken 42 Monate lang. 6 Und er riß sein Maul auf zu Lästerreden gegen Gott, seinen Namen und seine Stätte, die Himmelsbewohner, zu lästern. 7 Und er erhielt freie Bahn, Krieg zu führen mit den Heiligen und sie zu besiegen, und ihm wurde Macht gegeben über jeglichen Stamm, jedes Volk, jede Sprache und Rasse. 8 Und es beteten ihn an alle Erdbewohner, deren Namen nicht geschrieben steht im Lebensbuch des geschlachteten Lammes seit Grundlegung der Welt. 9 Wer Ohren hat, der höre! 10 Wenn jemand zur Gefangenschaft bestimmt ist, der geht in die Gefangenschaft. Wenn jemandem bestimmt ist, durch das Schwert zu sterben, so stirbt er durch das Schwert. Hier hat ihren Ort die Geduld und der Glaube der Heiligen! 11 Und ich sah ein anderes Tier herauskommen aus der Erde, und es hatte zwei Hörner wie ein Lamm, aber es sprach wie ein Drache. 12 Und es vollführte alle Macht des ersten Tieres vor ihm und brachte das Land und seine Bewohner dazu, das erste Tier anzubeten, dessen Todeswunde geheilt worden war. 13 Und es bewirkte mächtige Zeichen, so daß selbst Feuer aus dem Himmel fällt auf die Erde im Angesicht der Menschen. 14 Und es verführt die Erdbewohner durch die Zeichen, die von dem Tier ihm zu bewirken aufgetragen war, indem es die Erdbewohner anweist, einen Götzen zu verfertigen für das Tier, das die Schwertwunde hat, aber (wieder) lebendig wurde. 15 Und es wurde befähigt, dem Götzen(bild) des Tieres Geist zu verleihen, damit das Bild des Tieres auch reden konnte, und zu bewirken, daß alle, die das Bild des Tieres nicht anbeten, getötet würden. 16 Und es veranlaßte, daß alle, die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Sklaven ein Kennzeichen auf ihre rechte Hand oder ihre Stirn empfangen 17 und daß niemand kaufen oder verkaufen kann, der das Kennzeichen nicht trägt, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens. 18 Hier ist die Weisheit am Platz! Wer Einsicht hat, entschlüssele die Zahl des Tieres, eines Menschen Zahl ist es! Und seine Zahl ist: 666. 12, 18 12, 18 ist eine überleitende Bemerkung, mit der das Auftreten des Tieres aus dem Meer 13, 1 und des Tieres aus der Erde 13, 11 mit dem Auftreten des Drachen und seiner Mächte verbunden wird. Denn durch diese beiden, die aus einer eigenen (alttestamentlich-jüdischen, apokalyptisch profilierten) Tradition stammen, wird nun das Wüten des Drachen exekutiert.

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Der Drache (12, 18–13, 18)

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Die Dreiheit dämonischer Gestalten läßt eine perverse Trinität entstehen, die von Johannes sichtlich bewußt gestaltet ist als schreckenserregendes Spiegelbild des Handelns Gottes durch das geschlachtete Lamm und die prophetische Verkündigung seiner Macht und seines Handelns. Hinter den beiden Tieren werden die Chaosmächte Leviatan, dessen Ort das Meer ist (Jes 27, 1; 1Hen 60, 7; 4Esr 6, 52), und Behemot, dessen Ort das Land ist (1Hen 60, 8; 4Esr 6, 51), sichtbar, die beide nach 2Bar 29, 4 zur Zeit des Messias wieder hervorkommen werden. Johannes wird keinen in sich geschlossenen Mythos bearbeitet haben, vielmehr deckt er unter Aufnahme von Metaphern, die ihm durch die Verwendung solcher Mythen in der Tradition bereitgestellt wurden, das Wesen seiner eigenen geschichtlichen Erfahrung auf. So vermischt die Einzelbeschreibung der Tiere denn auch erkennbar, wenn auch im Einzelnen nicht durchweg sicher verifizierbar, mythische, biblische und zeitgeschichtliche Züge zu eigenen unheimlichen Geschöpfen, die sich einer genauen Vorstell- und Darstellbarkeit entziehen, dadurch aber um so numinos-bedrohlicher wirken. Das erste Tier erscheint in einer Gestalt, die es fundamental dem Dra- 13, 1–3 a chen gleichen läßt, 12, 3: zehn Hörner, sieben Köpfe. Vertauscht ist der Sitz der Kronen; hier sind es die Hörner, die 17, 12 auf zehn Könige im Gefolge des Tieres gedeutet werden (vgl. Dan 7, 24). In seiner Erscheinung vereinen sich die charakteristischen Züge der drei ersten Tiere von Dan 7, 4–6: Löwe, Bär, Panther. Die Lästernamen auf den sieben Köpfen sind vermutlich Gottesprädikate, durch die das Tier für sich göttliche Würde in Anspruch nimmt; dem Leser/ Hörer begegnen sie in den Epitheta, die die Herrscher ihrer Zeit für sich beanspruchten oder die ihnen doch beigelegt wurden. Freilich, die Macht und Herrschaft des Tieres, das sich so darstellt, eignet ihnen nicht von sich aus, sie ist ihnen vermittelt von dem Drachen, dem Widersacher des mit messianischer Macht begabten Kindes und seiner Mutter, der Gemeinde Gottes (vgl. Lk 4, 6). Wer ihm begegnet, in welcher geschichtlichen Erscheinungsweise auch immer, begegnet dem Agenten des Drachen! V. 3 rückt das Tier in eine unheimliche Nähe zu dem, dem der Angriff des Drachen eigentlich gilt 12, 4, dem geschlachteten Lamm; denn eines seiner Köpfe (s. auch V. 12 und 14) ist „wie geschlachtet“ zum Tode, aber die Todeswunde ist geheilt. Da, wie sich noch deutlicher zeigen wird (bes. in Kap. 17), Johannes als die (gegenwärtige) Erscheinungsform des Drachen die Macht Roms im Blick hat, kann hier die Legendenbildung um Nero einen Niederschlag gefunden haben. Nero endete nach Sturz und Verurteilung in Rom im Jahre 68 (9. Juni) durch Selbstmord, blieb aber in Kreisen des Ostens in hohem Ansehen. Sein Ende wurde alsbald dort in Frage gestellt und seine Rückkehr erwartet. Der erste „falsche Nero“ trat bereits im folgenden Jahr (69 n. Chr., s. Tacitus, Hist. 1, 2; 2, 8–9) auf, andere folgten (z. B. Terentius Maximus im Jahr 80 n. Chr. nach Dio Cassius 66, 19, 3). In der (jüdischen

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

und) christlichen Tradition verband sich die Erwartung eines wiederkehrenden Nero mit der von dem endzeitlichen Hervortreten des Widergottes oder Antichristen. Eindeutig belegt ist das indessen erst wesentlich später in (dem christlichen Werk) AscJes 4, 2–14, offensichtlich beeinflußt durch unseren Text (die oft herangezogenen Aussagen im fünften Buch der Sibyllinen sind durchweg problematisch). Ob Johannes solche Erwartungen voraussetzt, ist, auch für 17, 11, ganz unsicher; hier jedenfalls dient die Rede von der tödlichen Schlachtwunde und ihrer Heilung der Parallelisierung mit dem geschlachteten Lamm. 3 b–7 Die ganze Welt erliegt der Faszination des Tieres; ihre irrationale Macht treibt die durch sie verzauberte Menschheit in die Gefolgschaft des Tieres, die in seiner Anbetung mündet. Die magisch anziehende Kraft des Bösen, die in dem Tier seine Inkarnation erfährt, läßt anderen Mächten keinen Raum mehr; es wird zum allmächtigen Gott (s. Ex 15, 11; Ps 18, 32; 1QM 10, 8 f.). Wie ein Echo auf die Verehrung der Welt tönt das Tier großmäulig und lästerlich, tatsächlich aber nicht aus eigener Machtvollkommenheit. Die ist ihm vielmehr zugekommen – für den Seher zweifellos nicht vom Drachen, sondern von Gott. Er sagt das – mit Bedacht – nicht direkt, sondern läßt es durch das Passiv und vor allem die Begrenzung auf die von Daniel angesagte, eschatologisch bestimmte Befristung (s. 11, 2) erkennen. Der Anspruch des Tieres, das den Zeitgenossen in der Gestalt des „Kaisers“ entgegentritt, Gott zu sein, ist in Wahrheit hohl; der Widergott ist nicht wirklich (ein) Gott, auch wenn er sich gegen Gott erheben zu können meint. Das Tier freilich hält sich für Gott und lästert damit Gott als (den einzigen) Gott und sein himmlisches Reich, das nach 21, 2 in der Gestalt der Heiligen Stadt, des Neuen Jerusalem, vom Himmel herabkommen und die alte Welt ersetzen wird (s. 12, 12). In die Tat (und zugleich an solchem Tun in seinem Wesen erkennbar) setzt es die Rebellion gegen Gott um in den Kampf und den Sieg der „Heiligen“, das sind die Glieder des Gottesvolkes, des Lammes. Die Macht des Tieres ist ebenso universal wie das Gottesvolk, s. 5, 9. 8–10 Alle Welt verfällt ihr, außer denen, die seit Grundlegung der Welt im Lebensbuch des geschlachteten Lammes aufgezeichnet sind (vgl. 3, 5; auch 20, 12). Deren Schicksal ist durch diese prädestinatianische Charakterisierung dem des Tieres gleichgestellt. Wie diesem die Macht erst von Gott gegeben ist, so sind die „Sieger“ schon immer bei Gott festgeschrieben, ohne daß diese oder jener indessen aus der Verantwortung für ihr Verhalten entlassen wären. Und der „Sieg“ der „Sieger“ ist nicht ihr Sieg, sondern der des geschlachteten Lammes. Indem sie aber das Vertrauen auf das Lamm durchhalten, sich als zu Gott Gehörige erweisen (V. 10 c), werden sie selbst zu „Siegern“. Der Weg dazu führt freilich, wie es für die Zeit der Entscheidung prophetisch angesagt ist (Jer 15, 2; 43, 11), unentrinnbar durch Gefangenschaft und Tod.

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Der Drache (12, 18–13, 18)

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V. 10 a.b ist der Text sehr unsicher überliefert; die überwiegende Mehrheit der Textzeugen bietet ihn in einer Form, die ihn inhaltlich der Warnung Mt 26, 52 („alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen“) gleichen läßt; erst die letzte Revision der Lutherübersetzung bietet in Übereinstimmung mit den modernen Ausgaben des griechischen Textes die hier (mit einem Rest von Unsicherheit) vorausgesetzte Form. Ein zweites Tier erscheint, es steigt aus dem Land (wie Behemot) her- 11–14 vor. Für Offb ergänzt es die Zweiheit des Drachen und des ersten Tieres zu einer Dreiheit. Auch wenn man, jedenfalls nicht uneingeschränkt, wie öfters seit J.H. Jung-Stilling von einer „satanischen Trinität“ reden kann, so steht doch eine Vorstellung vom Wirken Gottes und seiner Instrumente dahinter, wie es sich (bereits) in 2. Kor 13, 13 (1. Kor 12, 4–6) und in Offb 1, 4 f. artikuliert (s. auch Jud 20 f.; 1. Petr 1, 2), deren diabolische Spiegelung im gottwidrigen Handeln sichtbar wird. Das zweite Tier wird nicht hier, wohl aber 16, 13; 19, 20; 20, 10 ausdrücklich „Pseudoprophet“ genannt und 16, 13; 20, 10 mit dem Drachen/ Diabolos zu einer Dreiheit zusammengefaßt. In ihm erscheint die Kraft, die das Gebaren des ersten Tieres in der Welt zur Wirkung bringt. Seine Gestalt hat in der uns bekannten frühjüdischen Tradition kein Vorbild, eher ist sie an christlicher Überlieferung orientiert. Es hat zwei Hörner „gleich einen Lamm“, eine Stimme aber wie ein Drache. Das erinnert an die Warnung vor „Pseudopropheten“ Mt 7, 15, die wohl auf Matthäus zurückgeht und dann frühchristlich verbreitet ist. Johannes hätte mithin die Bildelemente seiner Metapher für die Akteure Gottes und des Widergottes angeglichen und die Aussagen insgesamt geschärft. Der Falschprophet exekutiert in dessen Auftrag die Macht des Tieres, er ist sein Repräsentant in der Welt (wie die Jünger Jesu ihren Herrn repräsentieren, vgl. [Mk] 16, 17 f.; Mk 10, 17–19). Ihm obliegt es, das erste Tier, das sich als ein Wesen präsentiert, das von Todesschlägen genas, zum Gott der Welt zu machen, dem sie sich ausliefert. Dazu vollführt er „große Zeichen“, Signale seiner göttlichen Macht (s. 19, 20; Dtn 13, 2–4), die die Welt in den Religionsersatz der Unterwerfung unter den Verführer hineinreißt. Die Erfahrung solcher Macht ist der Geschichte – gerade auch unserer eigenen Geschichte – nicht fremd. Johannes hat den Kaiserkult und seine Funktionäre im Blick. Sie vermögen zu ihrer Legitimation selbst das Zeichen Elijas zu wiederholen, durch das er sich als „Mann Gottes“ auswies, nämlich Feuer vom Himmel herabfallen zu lassen (2. Kön 1, 10–12). So erliegt ihm und durch ihn als ihrem Heiland, dem ersten Tier, die ganze Welt. Das fundamentale Instrument, mit dem das zweite Tier seine Aufgabe, 15–17 Agitator der widergöttlichen Macht zu sein, ausübt, ist der Kult. Er beseelt das Bild des Tieres, es weist sich durch die Sprache als lebendig aus. Betrügerische Manipulationen, durch die Kultbilder als aktive Repräsentanten der dargestellten Gottheit ausgewiesen werden sollen, sind aus der

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Antike (und übrigens nicht nur aus ihr) bekannt; sie haben die Entwicklung der Mechanik und der Automaten stark befruchtet. Die Beteiligung am Kult der Macht ist das Maß, mit dem die Lebenswürdigkeit der dem Widergott, verkörpert im römischen Herrscher, Ausgelieferten gemessen wird. Plinius d.J., römischer Statthalter in Kleinasien, bezeugt diese Praxis rund zwei Jahrzehnte später und läßt es zu, daß wir sie bereits zur Zeit der Offb vermuten dürfen. Immer neue Geßler-Hüte bezeugen sie durch die Geschichte bis in unsere Tage. V. 16 f. benennt das immer wirksame Mittel, Loyalität zu erzwingen: ökonomischen Druck. Niemand, so unterstreicht die Aufzählung aller Gruppen der Gesellschaft, kann an dem über die Wirtschaft organisierten sozialen Leben teilhaben, der sich nicht der Macht, die in der Gestalt des Tieres die Welt beherrscht, unterwirft, sich als ihr allein zugehörig ausweist. Welches oder ob überhaupt ein konkretes Geschehen hinter der Metapher, die Markierung (das [Brand-]Mal) an der rechten Hand und der Stirn, steht, ist nicht sicher zu erkennen (s. etwa 3. Makk 2, 29). Vielleicht handelt es sich um eine fiktive Analogie zur Versiegelung der 144 000 in 7, 3–8 (14, 1–4). 18 Das Malzeichen ist der Name des Tieres oder – ihn repräsentierend – die Zahl seines Namens. Die Zahl, die in V. 18 als eine geheimnisvolle Einsicht eröffnende Weisheit eingeführt wird, ist 666. Sie gehört zu den am intensivsten umworbenen Rätseln der Bibel. Das Spiel mit Namen als Zahlen ist in der Antike bekannt, freilich in durchaus unterschiedlicher Weise. Die verbreitetste Deutung geht von der Gematrie aus; durch sie werden Namen (oder Begriffe) als Zahl gelesen. Unsere Schreibweise der Zahlen mittels (dekadisch organisierter) Ziffern ist der Antike unbekannt, sie benutzt an deren Stelle Buchstaben. So kann man einen Namen als eine Zahl lesen. Das ergibt ein eindeutiges Ergebnis, ist aber kaum rückführbar (von der Zahl zum Namen). Der Wortlaut von V. 18 mag ein solches Verfahren zwar nahelegen, zwingt aber nicht dazu (zur menschlichen Qualifizierung der Zahl vgl. 21, 17). Die Methode ist der Zeit vertraut, einschließlich der jüdisch-frühchristlichen Schriftauslegung (s. Barn 9, 7–9; die 29. der Middot [= Auslegungsregeln] in der rabbinischen Hermeneutik). Die gematrische Lösung sieht gegenwärtig mehrheitlich in der Zahl den Namen „Nero Caesar“ verschlüsselt. Freilich setzt das die Schreibung des Namens in hebräischer Schrift und darüber hinaus in einer Form voraus, die (bisher jedenfalls) nicht sicher belegt ist. In Offb begegnet Gematrie sonst nicht, wohl aber ein vielfacher symbolischer Gebrauch von Zahlen. Es liegt daher näher, auch hier die Zahl 666 symbolisch zu verstehen, ihre feierlich-geheimnisvolle Einführung spricht nicht dagegen! Eine hervorragende Rolle als Symbol der Vollkommenheit spielt in Offb die Zahl Sieben (wie im Judentum insgesamt). Die Sechs in ihrer dreifachen Wiederholung symbolisiert für Johannes offenbar gerade die Unvollkommenheit, das Ausgeschlossensein von der Vollkommenheit der Welt Gottes. Nach Philo

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Das Ziel der Geschichte (14, 1–20)

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(LegAll I 2–4. 16) ist die Sechs die Maßzahl der vergänglichen Arten der Schöpfung, im Gegensatz zu den göttlichen Arten, die der Siebenzahl zugehören. Aus dem Bereich solchen Denkens dürfte die mysteriöse Zahl erwachsen sein. Der Autor und seine implizierten Rezipienten haben sicherlich an die Weltmacht ihrer Tage und ihren religiösen Anspruch gedacht als die für sie gegenwärtige Konkretion der gottlosen Welt. Die Zahlenspielerei 17, 9–11 um die sieben Köpfe des Tieres, die Könige = „Kaiser“ sind, bestätigt die symbolische Deutung der Zahlen ebenso wie die zentrale Bedeutung der Sieben. Eine besondere Geltung Neros, besonders die Erwartung seiner Wiederkehr, dürfte dagegen nicht vorauszusetzen sein. Der Text aber ist offen für die Erfahrung anderer geschichtlicher Erfahrungen, in denen die Gegenmacht Gottes dem Menschen in anderer Gestalt begegnet. Er kann den Blick dafür schärfen, um den – jeden – Leser vor der Verführung durch geschichtliche Mächte zu bewahren, die mit der Verheißung endgültigen Heils für die Welt auftreten. Eine grundsätzliche Absage an jede weltliche Ordnungsmacht ergibt sich aus ihm nicht, wohl aber eine Warnung vor der stets latenten Verführung der Macht. III 3. 3. 3 Das Ziel der Geschichte im Horizont der Posaunen-Vision (14, 1–20) 14, 1 Und ich schaute und siehe, das Lamm stand auf dem Berg Zion und mit ihm 144 000, die seinen Namen und den Namen seines Vaters auf ihrer Stirn geschrieben haben. 2 Und ich vernahm eine Stimme vom Himmel wie ein Ton vieler Wasser und wie ein Klang eines gewaltigen Donners. Und die Stimme, die ich hörte, war wie von Harfensängern, die auf ihrer Harfe musizieren. 3 Und sie singen ein gleichsam neues Lied vor dem Thron und vor den vier Wesen und den Ältesten; aber niemand kann das Lied lernen außer die 144 000, die von der Erde losgekauft sind. 4 Das sind die, die sich nicht mit Frauen besudelt haben, sie sind jungfräulich; sie folgen dem Lamm nach, wo es hingeht; sie sind freigekauft aus der Menschheit als Erstlingsgabe für Gott und das Lamm; 5 und in ihrem Mund fand sich keine Lüge, makellos sind sie. 6 Und ich sah einen anderen Engel am Zenit fliegen, um ein ewiges Evangelium als Heilsbotschaft zu verkünden an die Erdbewohner, an jedes Volk, jeden Stamm, jede Sprache und Rasse, 7 der mit gewaltiger Stimme rief: Fürchtet Gott und gebt ihm Ehre; denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen, und betet an den Schöpfer des Himmels und der Erde und des Meeres und der Wasserquellen! 8 Und ein anderer, zweiter Engel folgte ihm und ruft: Gefallen ist Babylon, die Große, die alle Völker mit dem Taumelwein ihrer Hurerei getränkt hat.

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

9 Und ein anderer, dritter Engel folgte ihnen und ruft mit mächtiger Stimme: Wenn jemand das Tier anbetet und sein Bild und ein Kennzeichen trägt auf seiner Stirn oder auf seiner Hand, 10 der wird auch vom Zornwein Gottes trinken, der ungemischt kredenzt wird in dem Kelch seines Gerichts, und er wird gemartert in Feuer und Schwefel angesichts heiliger Engel und des Lamms. 11 Und der Rauch ihrer Qual steigt in alle Ewigkeit auf, und weder Tag noch Nacht finden die Anbeter des Tieres und seines Bildes Ruhe, ebenso wie der, der das Kennzeichen seines Namens trägt. 12 Hier gilt das Durchhaltevermögen der Heiligen, die die Gebote Gottes und den Glauben Jesu bewahren! 13 Und ich hörte eine Stimme vom Himmel, die sprach: Schreibe! Selig die Toten, die im Herrn sterben von nun an! Ja, spricht der Geist; denn sie werden Ruhe finden aus ihren Mühen; denn ihre Werke begleiten sie. 14 Und ich sah, und siehe: eine weiße Wolke und auf der Wolke thronte einer gleich einem Menschensohn, der auf seinem Haupt einen goldenen Kranz hat und in seiner Hand eine scharfe Sichel. 15 Und ein anderer Engel trat aus dem Tempel und rief mit lauter Stimme dem, der auf der Wolke thronte, zu: Sende deine Sichel und ernte; denn die Zeit zu ernten ist da, weil die Ernte der Welt reif geworden ist! 16 Und es warf der, der auf der Wolke thronte, seine Sichel auf die Erde, und die Ernte der Erde wurde eingebracht. 17 Und ein anderer Engel trat aus dem Tempel im Himmel und auch er hatte eine scharfe Sichel. 18 Und ein anderer Engel trat hervor vom Altar, der die Gewalt über das Feuer hatte, und rief mit starker Stimme dem, der die scharfe Sichel hatte, zu: Sende deine scharfe Sichel aus und ernte die Trauben des Weinstocks der Erde, denn seine Beeren sind reif. 19 Und der Engel warf seine Sichel auf die Erde und erntete die Weintrauben der Erde und warf sie in die große Zorneskelter Gottes. 20 Und die Kelter wurde vor [den Toren] der Stadt getreten, und Blut floß aus der Kelter bis an die Zügel der Pferde 1600 Stadien weit. 1 Jäh wechselt die Szene, der Seher schaut das Lamm, das auf dem Berg Zion steht in Begleitung von 144 000, denen der Name des Lammes und der Name Gottes, seines Vaters, an der Stirn geschrieben steht. V. 3 fin werden sie die genannt, die von der Erde = Welt erkauft sind als Erstlingsgabe Gottes und des Lammes, V. 4. Zweifellos sind sie die 144 000 Versiegelten aus allen Stämmen Israels (7, 3–8), die unzählbare Menge, deren Gewänder im Blut des Lammes weiß gewaschen sind (7, 9. 14), die durch das Blut des geschlachteten Lammes aus der ganzen Menschheit erkauft (5, 9) sind. Sie sind auch die, die das Mal des Tieres nicht an sich tragen und

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Das Ziel der Geschichte (14, 1–20)

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dadurch aus der sozialen Gemeinschaft der Welt ausgeschlossen sind (13, 17); dafür aber haben sie eine neue Gemeinschaft erlangt auf dem Berg des Heils, dem Zion (s. Joel 3, 5; 4Esr 13, 32–36), geschart um das Lamm. Die Katastrophe der erlebten Geschichte noch im Blick (Kap. 12 f.) versichert Johannes die treuen Nachfolger des Lammes ihrer verborgenen Wirklichkeit, bereits der eschatologischen Gemeinschaft des Heils mit dem Lamm am Ort der Rettung (vgl. 1QM 12, 13), der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem teilhaftig zu sein, Hebr 12, 22, proleptisch gewiß, doch wirklich. Die Rede vom himmlischen Gesang des neuen Liedes, das sich die 2–3 144 000 anzueignen vermögen, deutet möglicherweise an, daß Johannes Gottesdiensterfahrungen von Heilswirklichkeit aufrufen will. Gesänge der Qumran- Gemeinde belegen eindrücklich Erfahrungen himmlischer Herrlichkeit im Gottesdienst der Gemeinde. Geschaut wird hier freilich ein himmlischer Gottesdienst, in dem zugleich übermenschlich mächtig und lieblich wie Saitenspiel vor Gott und seinen Paladinen ein neues Lied erklingt, das nur die 144 000 (vom Lamm für Gott) Erkauften zu erfassen vermögen (vgl. 2. Kor 12, 4). Es ist das gleiche neue Lied, das 5, 9 f. gesungen wird, 19, 1–8 sich entfaltet und wohl auch 15, 3 f. bei dem Lied des Mose und des Lammes im Blick ist. Es ist das Siegeslied (s. 15, 2) Gottes über die sich ihm entgegenstellenden Mächte der Welt. V. 4 f. gibt nicht den Inhalt des Liedes wieder, sondern entfaltet das Wesen 4 der Nachfolger des Lammes. Sie sind die, die sich sexuell enthalten haben, und zwar gänzlich; sie sind jungfräulich. Das ist, entgegen einem gegenwärtig verbreiteten Verständnis, kaum so zu interpretieren, daß Johannes eine radikal asketische Ethik vertritt, die seiner Herkunft aus Kreisen syrisch-palästinischer Wandercharismatiker geschuldet ist. Abgesehen davon, daß die Existenz solcher Kreise durchaus fragwürdig ist, deutet die übrige Verwendung sexueller Metaphern in Offb auch hier in den Bereich religiösen Verhaltens. Sie sind nicht von Gott und dem Lamm abgefallen, haben sich nicht besudelt (vgl. 3, 4) durch das Opfer vor dem Nichtigen, wie (nach Jer 18, 1–15) die „Jungfrau Israel“ (vgl. 2. Kön 19, 21; Jes 37, 22), haben sich nicht, wie alle Welt, dem Taumel der Hurerei mit der großen Dirne hingegeben (17, 1 f.; 18, 3; 19, 2). Daß die Nachfolger Jesu sexuell enthaltsam leben sollen, fordert Johannes jedenfalls sonst nirgends, wie der sexuelle Bereich in der Paränese überhaupt eine auffallend geringe Rolle bei ihm spielt. Die Rede von der „Hochzeit des Lammes“ 19, 7; 21, 2 läßt eine prinzipielle Ablehnung der Ehe nicht annehmen. Gemeint sind alle die, die bedingungslos und exklusiv in die Nachfolge des Lammes getreten sind (vgl. Lk 9, 57–62 par.); es mag, entsprechend der Tradition der Nachfolgeworte Jesu der Gedanke an das Martyrium mitklingen (vgl. Mk 8, 34; Joh 21, 19. 22), nicht jedoch der an das Gefolge im messianischen Krieg (wie gelegentlich vermutet [s. 19, 14]). Sie sind kraft des Freikaufs von der

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Macht der Menschen (durch das Blut des Lammes) der Gemeinschaft des Heils mit Christus teilhaftig (vgl. Joh 8, 12), eine geheiligte (Opfer-)Gabe für Gott und das Lamm und daher – obwohl noch Teil der geschichtlichen Welt – doch schon tauglich der Gottesgemeinschaft des Zion. 5 V. 5 bleibt sprachlich im metaphorischen Bereich, die Aussage betrifft nicht die Moral, sondern ist religiös-kultisch zu verstehen. Sie sind der „Rest“, das wahre Israel (Zef 3, 13MT; s. antithetisch Offb 3, 9), sie leben nicht aus der Negation der Wahrheit (wie die Kinder des Teufels, des Vaters der Lüge, Joh 8, 44; vgl. Offb 21, 27), sondern halten die Wahrheit des Bekenntnisses zum Lamm durch (s. 1. Joh 2, 21 f.27). Und dadurch sind sie „makellos“, Gottes würdig, nicht wegen besonders moralischen Verhaltens. Freilich schließt das, obwohl hier gerade nicht im Blick (im Unterschied zu Zef 3, 13: „kein Unrecht tun“), ein bestimmtes moralisches Verhalten nicht aus. Die Sendschreiben am Beginn der Offb zeigen vielmehr, welche entscheidende Rolle die „Werke“ der Gemeinde(glieder) im Urteil ihres Herrn spielen; am Ende der Offb sagt Gott selbst denen, die moralisch Verwerfliches tun, ihr endgültiges Ende an (22, 15). Diese Hinweise auf die Bedeutung der Ethik umklammern gleichsam den gesamten Text der Offenbarung. 6 Auch wenn V. 6 erneut einen scharfen Schnitt in der Bildfolge darstellt, bleibt doch – anders als bei V. 1 – der thematische Zusammenhang erhalten. Erschaut Offb 12 f. die Bedrohung der Gottesgemeinde durch die Mächte der Geschichte, so bleibt jetzt der Blick auf die (gleichzeitige!) himmlische Welt gerichtet, nach der Offenbarung des Wesens der Gemeinde nun die der Beziehung Gottes zur Welt. Der Abschnitt V. 6–20 ist als Einheit komponiert, gegliedert durch das immer erneute Erscheinen himmlischer Gestalten, sechsmal je ein „anderer Engel“, in der Mitte von ihnen, an vierter Stelle, auf einer weißen Wolke thronend einer „gleich einem Menschensohn“ V. 14–16. Die Bezeichnung des ersten Engels V. 6 als „ein anderer“ nimmt kaum Bezug auf einen zuvor genannten, sondern schließt ihn mit den folgenden zusammen und kann jeweils mit „ein besonderer Engel“ wiedergegeben werden. Der erste Engel wird durch die Angabe, er fliege im Zenit des Himmels, hervorgehoben; er wird dadurch an den Adler 8, 13 angeglichen (fliegende Engel kennt die Bibel sonst nicht; s. aber 1Hen 61, 1), und so wird seine besondere Bedeutung hervorgehoben. Sie zeigt auch seine geradezu einzigartige Charakterisierung als eines, der ein „ewiges Evangelium“, eine universale Heilsbotschaft hat, die aller Welt zu übermitteln ist. Die pointierte Wendung „ein ewiges Evangelium als Evangelium zu verkünden“ (eine freilich auch sonst im Griechischen nicht unbelegte Sprachform) dürfte bewußt an den verbreiteten christlichen Gebrauch von „Evangelium“ (der Stamm in Offb sonst nur noch 10, 7) anspielen und dabei seine Bedeutung universal begründen und ausweiten (vgl. auch Ps 96, 2).

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Das Ziel der Geschichte (14, 1–20)

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Die gute Botschaft hat kosmische Bedeutung, denn sie handelt von dem 7 Schöpfer der ganzen Welt. Seinem Zugriff entgeht endlich nichts und niemand. Deshalb ergeht selbst und gerade auf dem Höhepunkt der satanischen Machtentfaltung in der Welt, wie sie Kap. 13 darstellt, vom Zenit des Himmels her die einzig wirkliche Heilsbotschaft an die Welt (V. 7): Fürchtet Gott, gebt ihm die Ehre, erkennt ihn als euren Herrn an; denn end-gültig fällt er die Entscheidung über Sein oder Nichtsein – von allem Anfang an! Die Macht zum Gericht wurzelt in der Schöpfungsmacht. Der zweite Engel proklamiert das Ende der Welt-Macht, ausgeführter 8 erneut 18, 2 f. Zugrunde liegt Jer 51, 7 f., doch übernimmt Johannes das Urteil offenbar aus einem frühjüd.-apokalyptischen Florilegium alttestamentlicher Prophetenworte (gegen Babylon und Tyros), die auf Rom bezogen wurden und dessen Textgewebe insbesondere Offb 17 und 18 durchzieht, sich hier aber schon ankündigt (wie 16, 19). „Babylon“ ist seit dem Ende des 1. Jh. n. Chr. in jüdisch-apokalyptischer Literatur Codename für Rom (s. 1. Petr 5, 13), vermutlich angestoßen durch die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer 70 n. Chr. Daß Babylon die Völker verführt durch Weinrausch, entspricht einer prophetischen Metapher (s. Jer 51, 7), daß es der Rausch der Hurerei ist, das ist die Interpretation des Joh. Ebenso die Identifikation Babels als die „große Hure“ 17, 1, die „Mutter der Huren (d. h. der Greuel der Erde)“ 17, 5 (vgl. aber auch Jes 23, 16 f.; Nah 3, 4–6). Jedenfalls tritt in solcher Verflechtung der Bilder deren metaphorischer Charakter hervor; Hurerei ist die Hingabe an andere Mächte statt an den einen Gott, die Faszination der Macht ist der Taumelwein Babylons, in welcher totalitären Maske das auch immer auftritt. Diese Macht aber ist gebrochen, das ist die gute Botschaft, das Evangelium, die (durch den ersten Engel) vom Zenit des Himmels der Welt zugesagt wird. Freilich, das ist nun die Botschaft des dritten Engels. Damit ist die Ge- 9–11 schichte noch nicht ausgelöscht, ihre Geltung nicht aufgehoben. Er vergegenwärtigt das Schicksal derer, die der Verführung der empirischen Macht erliegen. Natürlich redet er zu den Empfängern des Briefes, zu den christlichen Gemeinden. Er hat sie ihre Möglichkeiten schauen lassen, V. 1–5. Die Sendschreiben Kap. 2 f. zeigten indessen, daß sie durchaus der Gefahr ausgesetzt sind, nicht bei sich zu bleiben. Was dann geschieht, verkündet der dritte Engel mit bestürzender Eindringlichkeit. Der Kondizionalsatz, mit dem er auffällig beginnt, hebt markant die Möglichkeit der Hinwendung zur Anbetung und Auslieferung an die gottfeindliche Macht der Welt hervor; wer ihr erliegt, teilt unentrinnbar ihre Geschichte, ihm wird – statt dem Taumelwein des Spaßes und der Lust (V. 8) – der ungemilderte Gerichtstrank Gottes (vgl. Jes 51, 17; Jer 25, 15 f.; Ez 23, 32–34; 1QpHab 11, 14 f.) eingeschenkt, das Geschick Sodoms und Gomorras (Gen 19, 24; Lk 17, 29) wird ihn ereilen. Im Angesicht der heiligen Engel

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

und des Lammes werden sie ihres verfehlten Lebens ansichtig, unwiederbringlich verloren, weil das Leben einmalig ist. Diese Wahrheit wird hart ausgesprochen, freilich ganz und gar metaphorisch, wie die Auslegung anzudeuten versuchte. Das mindert ihre sachliche Härte nicht; denn nach dem Urteil der Offb geht es in der Tat um den Gewinn des Lebens, dem die Möglichkeit seines Verlustes entspricht. Das ist unserer Zeit schwer (oder gar nicht) vermittelbar, aber erst so gewinnt die Botschaft des Evangeliums Gewicht. Das unterstreicht die wiederholte Charakterisierung der Verlorenen V. 11 fin, die die Passage V. 9–11 umklammert. 12 Die paränetische Richtung des Textes tritt in dem geradezu abrupt eingefügten Satz V. 12 prägnant hervor. Der Anklang an 13, 10 ruft die dort erschlossene Situation der Hörer/ Leser in das Bewußtsein und nennt, ganz ähnlich wie 12, 17, das, was die „Heiligen“ zu dem macht, was sie jetzt schon sind: Sie halten die Gebote Gottes, d. h. sie erfüllen die Tora, indem sie in ihrem Leben die Ordnung bewähren, nach der zu leben Gott seinem Volk durch Mose aufgetragen hat, und sie tun das in der Treue zu Jesus, der den einen Willen Gottes eschatologisch in Geltung gesetzt hat. 13 Der paränetische Akzent wird verstärkt durch die Seligpreisung, die vom Himmel ertönt und die, wie die Sendschreiben (2, 1. 8. 12 usw.), mit dem Befehl „Schreibe!“ eingeführt wird. Auf solche Weise wird die direkte Zuwendung zu den Rezipienten der Offb, die bereits mit V. 12 den Zusammenhang der engelischen Heils- (und Buß-) Botschaften durchbrach, in den gleichen Rang wie diese gehoben, ohne die Szenerie der zeitlosen (nicht geschichtslosen!) Botschaften (drei Engel – Menschensohngleicher – drei Engel) zu zerstören. Die Seligpreisung gilt denen, die ihren Glauben in ihrem Verhalten durchhalten bis zu ihrem Tod (s. 2, 10; 12, 10; vgl. 1. Klem 44, 5); an Märtyrer im besonderen ist dabei offenbar nicht gedacht (wie das unspezifische Wort für „sterben“ ausweist), alle Bekenner Jesu aber leben in Bedrängnis durch die Welt. Auffällig ist „von jetzt an“; es ist in solchem Bezug und solcher Bedeutung in der Texttradition auch nicht ganz unbestritten, soll aber wohl die unmittelbare Geltung, die Aktualität der Seligpreisung unterstreichen. Die Rede des Geistes bekräftigt (wie in den Sendschreiben 2, 7 usw.) die eschatologisch gültige Zusage („Ja“ = „Amen“, s. 1, 7; 22, 20). Die Bekenner werden die Ruhe des Heils (vgl. Hebr 4, 3. 9) nach ihren Mühen (V. 12!) finden; denn ihr der Geduld abgerungenes Befolgen der Gebote Gottes im Lichte der Nachfolge Jesu ist ein unvergängliches Wesen ihres Lebens geworden, das ihre Zukunft bleibend bestimmt. Das Erscheinen des „Menschensohngleichen“ ist gegenüber dem der 14 ihn symmetrisch umgebenden Engel hervorgehoben. Erst erblickt der Seher eine „weiße Wolke“, Signal einer Epiphanie, erst danach den, der auf der Wolke thront; schon durch solche Einführung (vgl. 1, 12 f.; 4, 2) ist der Menschensohngleiche in enge Nähe zu Gott gestellt. Es ist wie auch die

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Das Ziel der Geschichte (14, 1–20)

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gleiche sprachliche Gewaltsamkeit bei seiner Benennung zeigt, dieselbe Gestalt, die 1, 12 ff. erschien, jetzt als siegreich gekrönter Herr der Ernte, die das Gericht metaphorisch darstellt. Angeknüpft ist offenbar an Joel 4, 13; ebenso wie der Gebrauch der Sichel ist auch die im Folgenden vorausgesetzte Trennung zwischen Getreide- und Traubenernte dort begründet. Zugleich ergab sich dadurch für Johannes die Möglichkeit, die Erntenden zu verdoppeln zur Siebenzahl der Handelnden insgesamt. Die besondere Stellung des Menschensohngleichen wird dadurch nicht berührt. Durch einen Engel ertönt der Befehl Gottes, die Ernte zu beginnen, ihre 15–16 Stunde ist da, die Welt ist reif dafür. Es drängt sich der Eindruck auf, daß zur Ausgestaltung dieser Szene Elemente der Jesusüberlieferung beigetragen haben, s. Mk 4, 29; Joh 4, 35(f.), auch Mt 13, 30. 39(f.). Dann aber ist nicht nur an das bevorstehende Vernichtungsgericht zu denken, auch wenn – kontextgemäß – die Weinernte V. 19 f. ganz darauf gerichtet ist. Mit der Ernte wird die Schöpfung der end-gültigen Scheidung unterworfen, für die „Welt“ bedeutet das, daß der „Zorn“ Gottes über sie ergeht (vgl. 19, 15). Die gesteigerte Bedeutung, die der prophetischen Schau des kommenden Gerichts (V. 14–20) gegenüber seiner ankündenden Proklamation (V. 7–11) zukommt, drückt sich in der Herkunft der drei Gerichtsengel (Tempel; [Brandopfer-]Altar) aus (vgl. 6, 9 und 8, 3). Das Bild von der Traubenlese und deren Keltern ist über Joel 4, 13 hinaus durch Jes 63, 3(–6) beeinflußt; dadurch ist die Gerichtsschilderung mit 19, 11–16 verbunden. Dort ist der Reiter auf einem weißen Pferd derjenige, der die Kelter des Gottesgerichts tritt (19, 15), der Christus. Hier (14, 20) wird das unter dem Passiv (noch) verhüllt. Die grausige Schilderung der Wirkung des Gerichts V. 12 bedient sich der metaphorischen Sprache des Heiligen Krieges; vielleicht hängt damit die Betonung zusammen, daß die Gerichtskelter außerhalb der Stadt sich befindet; jedenfalls aber die unermeßliche Menge des sich ergießenden Blutes, deren Hervorhebung in einem durch apokalyptische Tradition bestimmten Kontext (vgl. 1Hen 100, 1–3) sich nicht zu moralisch-ästhetischer Entrüstung eignet. Damit ist die Vision, die 14, 1 mit der Schau der 144 000 Nachfolger des Lammes auf dem Berg Zion begann und sich fortsetzte in der warnenden Proklamation des hereinbrechenden Gerichts über die durch Babylon/ Rom repräsentierte Welt der dem widerchristlichen Tier Erlegenen, an das Ende der Geschichte gelangt, ebenso wie 6, 12 ff. die Reihe der Siegel und 11, 18 f. die Reihe der Posaunen. Mit Kap. 15 hebt Johannes noch einmal an und schaut die „letzte“ der drei Plagenreihen. Und auch ihre Schilderung wird eingeleitet durch das Bild der Erlösung der Sieger über die Welt in ihrer himmlischen Geborgenheit, 15, 2–4.

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

III 3. 4 [Letzte Visionen betreffs der Weltgeschichte] (15, 1–19, 21) III 3. 4. 1 Das Lied des Mose und des Lammes – Vorspiel der letzten sieben Plagen (15, 1–4) 15, 1 Und ich sah ein anderes Zeichen am Himmel, mächtig und erstaunlich: Sieben Engel, die die letzten Plagen hielten; denn mit ihnen gelangte der Zorn Gottes an sein Ziel. 2 Und ich sah etwas wie ein gläsernes, mit Feuer durchsetztes Meer und die Überwinder im Kampf mit dem Tier und seinem Bild und der Zahl seines Namens, die an dem gläsernen Meer stehen; sie haben die Harfen Gottes 3 und singen das Lied des Gottesknechts Mose und das Lied des Lammes in dieser Weise: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger. Gerecht und wahr sind deine Wege, König der Völker. 4 Wer wird dich nicht fürchten, Herr, und deinen Namen nicht verherrlichen? Denn allein du bist heilig; denn alle Völker werden kommen und dich anbeten. Denn deine Gerechtigkeiten sind offenbar geworden. 1–2 V. 1 markiert den Neueinsatz der apokalyptischen Geschichtsschau im Horizont der Sieben-Plagen-Reihen. Geschaut werden die letzten, wie eigens hervorgehoben, sieben „Schläge“, durch die der Zorn Gottes, sein richterliches Handeln an der Welt, an das Ziel kommt. Sie werden mit einer sprachlichen Erinnerung an 12, 1. 3 („ein anderes Zeichen am Himmel“) eingebettet in die Gesamtgeschichte Gottes mit der Welt, die mit dem Erscheinen des Christus in ihre entscheidende Phase getreten ist. Dem entspricht, daß zunächst der Blick sich auf eine Szene richtet, die gerade nicht das Gericht zeigt, sondern den Ort der Rettung und die, die an ihm sich bergen. An dem gläsernen Meer vor dem Thron Gottes (4, 6), im numinos erstrahlenden Bereich des Heils, stehen die „Überwinder“, die Sieger im Kampf zwischen Gott und Gegengott. Die singuläre Redeweise „siegen aus“ mag die Separation der Überwinder von der gottfeindlichen, sie zum Staatskult drängenden Welt betonen wollen, hebt jedenfalls ihre radikale Freiheit zu Gott hervor. Sie gehören, wie die vier „Wesen“, die 24 Ältesten (5, 8), zur himmlischen Kapelle (14, 2), zu denen, die Gott ewig feiern, wie sie ihm schon in dem Kampf des Lebens dienten. Sie singen das Lied des Mose und des Lammes, sie sind die Zeugen Got3–4 tes, der im Alten wie im Neuen Testament sich bezeugt, V. 3, am Schilfmeer bei der Herausführung des Gottesvolkes aus Ägypten (Ex 15, 1–18, vgl. auch V. 21) ebenso wie durch das Heilshandeln des geschlachteten Lammes (Offb 5, 9 f.; s. 11, 8). Zugleich bezeugen sie ihr eigenes Geschick; auch an ihm bezeugt sich: Wirklich „groß“, wirklich „wunderbar“ sind nur die Taten Gottes (vgl. Tob 12, 22; Dan 9, 4[Theodotion]; s. a. JosAs 18, 11),

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Die sieben Zornesschalen (15, 5–16, 21)

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„rechtsetzend“ und „dem Leben verpflichtet“ sind nur die Vorgaben Gottes; denn er ist der, der alles in der Hand hält – für alle. Dem doppelgestaltigen Lobpreis Gottes folgt die Applikation seiner Wahrheit an die Welt – wieder doppelgestaltig –, durch rhetorische Fragen, die den Angesprochenen zum eigenen hymnischen Zeugnis drängen. Begründet ist es in Gott selbst, dem einzig Heiligen, dem schließlich alle Welt konfrontiert sein wird – und das end-lich (doch) in Anbetung (s. Ps 86, 8–10 zu V. 4 b insgesamt). III 3. 4. 2 Die sieben Zornesschalen (15, 5–16, 21) 5 Und danach sah ich, und der Tempel des Zeltes des Zeugnisses wurde im Himmel geöffnet. 6 Und die sieben Engel traten hervor aus dem Tempel, die die sieben Plagen hatten, gekleidet in blendend reinem Linnen und über die Brust gegürtet mit goldenen Gürteln. 7 Und eines der vier Wesen gab den sieben Engeln sieben goldene Schalen, gefüllt mit dem Zorn des in alle Ewigkeit lebenden Gottes. 8 Und der Tempel wurde erfüllt von dem Rauch aus der Majestät Gottes und aus seiner Macht, und niemand vermochte den Tempel zu betreten, bis die sieben Plagen der sieben Engel an ihr Ende gelangt sind. 16, 1 Und ich hörte eine gewaltige Stimme aus dem Tempel zu den sieben Engeln sagen: Geht und ergießt die sieben Zornesschalen Gottes auf die Erde. 2 Und der Erste ging und ergoß seine Schale auf die Erde, und es entstand ein übles und schlimmes Geschwür an den Menschen, die das Malzeichen des Tieres trugen und die sein Bild anbeten. 3 Und der Zweite ergoß sine Schale auf das Meer, und es wurde zu Blut wie eines Toten, und jedes belebte Wesen, das im Meer ist, starb. 4 Und der Dritte ergoß seine Schale in die Ströme und die Wasserquellen, und sie wurden zu Blut. 5 Und ich hörte den Engel des Wassers sagen: Gerecht bist du, der Ist und der War, der Heilige, daß du solches Urteil gefällt hast; 6 denn Blut der Heiligen und Propheten haben sie vergossen, und Blut hast du ihnen gegeben zu trinken. Sie sind dessen würdig! 7 Und ich hörte den Altar sprechen: Ja, Gott, Allmächtiger, treffend und gerecht sind deine Urteile! 8 Und der Vierte ergoß seine Schale über die Sonne, und sie wurde in den Stand gesetzt, die Menschen im Feuer zu verbrennen; 9 und die Menschen verbrannten durch große Glut, aber sie lästerten den Namen Gottes, der die Macht hat über solche Plagen, und kehrten nicht dazu um, ihm die Ehre zu geben. 10 Und der Fünfte ergoß seine Schale über den Thron des Tieres, und sein Reich versank in Finsternis, und man zerbiß sich seine Zunge vor

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Qual. 11 Und man lästerte den Gott des Himmels aus seinen Nöten und seinen Schwären und man kehrte sich nicht ab von seinen Taten. 12 Und der Sechste ergoß seine Schale über den großen Strom, den Eufrat. Und seine Wasser trockneten aus, damit der Weg der Könige vom Aufgang der Sonne bereit stünde. 13 Und ich sah aus dem Maul des Drachen und aus dem Maul des Tieres und aus dem Maul des Pseudopropheten drei unreine Geister, wie Frösche (kommen). 14 Es sind nämlich dämonische Geister, die Zeichen wirken; sie brechen auf hin zu den Königen des ganzen Erdballs, um sie zusammenzuführen zum Krieg des großen Gottestages, des Allmächtigen. 15 Siehe ich komme wie ein Dieb! Selig, wer wach ist und seine Kleider bereithält, damit er nicht nackt umhergeht und man seine Blöße erblickt. 16 Und er sammelte sie an dem Ort, der auf Hebräisch Harmagedon genannt wird. 17 Und der Siebente ergoß seine Schale über die Luft! Und es erscholl eine gewaltige Stimme aus dem Tempel vom Thron: Es ist geschehen! 18 Und es ereigneten sich Blitze und Getöse und Donner und ein schweres Beben geschah wie es ein solches nicht gab, seit Menschen auf der Erde lebten, ein derartig schweres Beben. 19 Und die gewaltige Stadt wurde dreigeteilt, und die Städte der Völker fielen dahin. Und Babylon, der Großen, wurde vor Gott gedacht, um ihr darzureichen den Kelch des Zornweins seines Gerichts. 20 Und jede Insel floh, und kein Berg war (mehr) zu finden. 21 Und Hagel, riesig wie ein Zentnergewicht, fiel vom Himmel auf die Menschen; aber die Menschen lästerten Gott aufgrund der Hagelschläge. Denn überaus groß ist diese Plage! Nach solcher Schau des Sieges erscheinen in ungewöhnlich ausführlicher Weise eingeführt die sieben letzten Engel, die das Ende des Gerichts Gottes bringen, priesterliche Boten aus dem himmlischen Tempel, dem Ort des Bundes Gottes mit seiner Welt, beauftragt durch höchste Vollmacht (16, 1). 15, 5–16, 1 Die Intensität der Einführung (15, 5–16, 1–8) steht in bemerkenswerter Spannung zu der – freilich konzentrierten – Kürze der folgenden Darstellung ihres Werkes (jedenfalls vergleichsweise). Wie die Posaunenvision (Kap. 8 f.) ist diese inhaltlich an den ägyptischen Plagen Ex 7–11 orientiert, ihr gegenüber aber radikalisiert und zugleich geschichtsbezogener, s. 16, 2. 9. 10 f., vor allem V. 17 ff., die zu Kap. 17 überleiten, der Schilderung des Untergangs Babylon/ Roms. Korrespondierend dazu unterbricht sich der Text zweimal, mit dem Blick auf den heilsgeschichtlichen Charakter der Plagen (16, 5–7) und auf die Forderung der Stunde an die Angeredeten (16, 15). So gewinnt er in seinem episch-repetierenden Charakter

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Die sieben Zornesschalen (15, 5–16, 21)

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eine enorme Wucht: Das Ende der Geschichte ist da (16, 17)! – ein Zeichen literarischen Könnens. Wie bei der sechsten ägyptischen Plage (Ex 9, 9 f.) werden durch die erste Schale gräßliche Geschwüre die Menschen, die sich dem Widergott anheimgegeben haben, zerfressen (fast ist man versucht, nicht mehr nur von Metaphern zu sprechen angesichts moderner Krankheiten). Die zweite und dritte Schale vernichten radikal das Wasser (Meer und Fluß), das Element des Lebens (s. die erste ägyptische Plage Ex 7, 17–21). Die Verwandlung allen Wassers, des Meerwassers wie des Süßwassers, in Blut ist abgründig, Blut ist Leben, gerade daher ungenießbar (Gen 9, 4; Lev 17, 14; Dtn 12, 23). Und hier ist es das Blut wie das einer Leiche (V. 3). Das Fundament des Lebens ist grauenvoll in seinen Abgrund verwandelt. Die Paradoxie setzt sich auf anderer Ebene fort; gerade „der Engel des Wassers“, der Hüter dieses Elements, preist solches Geschehen als gerechtes Gericht Gottes. Denn die Verderber des Lebens erlangen ihr Ziel, das Verderben – und schaffen damit Raum dem Leben (vgl. die korrespondierende Wendung 3, 4 und 16, 6). Der Text sagt das aus in geprägter, hymnischer Sprache, die in der alttestamentlich-jüdischen Tradition vorgebildet ist, ohne freilich einer festgelegten Form zu folgen. Doch gestaltet er selbst das eigene Gottesprädikat „der ist und der war und der kommt“ (1, 4) um: Gott ist nicht der erst Kommende, er ist in seinem Handeln da (V. 5). Das ist der Trost des Gerichtspreises: Gott der Gerechte und Heilige handelt an seiner Welt. Aber noch ist das Ziel nicht erreicht, die Plagen setzen sich fort, verzehrender Feuerbrand (vierte Schale, V. 8 f.), höllische Finsternis (fünfte Schale, V. 10). Welche Gliederung der Plagen oder ob überhaupt eine intendiert ist, läßt sich nur schwer erkennen. Vielleicht ist auch der etwas amorphe Eindruck beabsichtigt, das Unheil läßt keine Orientierung mehr zu, die Einzelzüge gehören dem durch die Geschichte des Exodus Israels (Ex 7 ff.) vorgebildeten Repertoire (eschatologischer) Plagen an (s. 8, 7; 8, 12). Indessen, wie schon an Pharao so prallen auch jetzt die Schrecken an der Welt ab, statt zu Gott umzukehren verachtet sie ihn (V. 9. 11). Die sechste Schale führt das jetzt sich vollziehende end-gültige Gerichtsgeschehen näher mit der Gegenwartserfahrung der Leser/ Hörer zusammen, ohne es freilich direkt und identifizierbar mit der realen Geschichte der Ost–West-Spannungen der Zeit zu verbinden. Die durch den Euphrat bezeichnete Zivilisations- bzw. Kulturgrenze wird aufgehoben, der Weg frei für die barbarischen Mächte, um das Chaos zu entfesseln. So wechselt denn die Rede mit V. 13 f. sogleich wieder in die gleichsam abstrakte Welt der apokalyptischen Metaphern, die gottwidrige „Dreifaltigkeit“ (vgl. Kap. 13) öffnet ihren Schlund, aus dem (drei) Dämonen hervorbrechen. Sie haben die Gestalt von (unreinen; s. Lev 11, 10–12) Fröschen, wie sie aus der zweiten ägyptischen Plage bekannt sind (Ex 7, 26–8, 10; s. Ps 78, 45;

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105, 30), und stellen doch Verführer dar, die die Welt zum Kampf gegen Gott zusammenführen. 15 V. 15 unterbricht Johannes noch einmal den Blick auf die grausige Geschichte des Endes, Christus selbst spricht zum Empfänger der Botschaft des Buches. Der Sprecher ist freilich nicht explizit genannt und doch dem Hörer/ Leser bekannt, weil ihm das Wort Jesu vertraut ist (3, 3, s. dort). Die Ankündigung seines Kommens ist Ermutigung und Warnung zugleich: Mag die Geschichte ins Chaos des Nichts laufen, ich komme! Das Wann dieses Kommens ist nicht an den Lauf der Geschichte gebunden, daher an ihm auch nicht ablesbar; niemand kann ahnen, wann das sein wird (ganz ähnlich 1. Thess 5, 2 f.). Trotz aller Einblicke in den Lauf und das Wesen der (End-)Geschichte, die das Buch der Offb entfaltet, schließlich mündet es in dem Gebet: Komm, Herr Jesus (22, 20)! Bis das aber geschieht, will die Gabe des Heils, die der Bekenner empfängt, bewahrt bleiben, damit er nicht doch sich end-lich heillos wiederfindet. 16 V. 16 nennt lapidar den Ort, an dem die Herrscher des Erdkreises zur Schlacht des Großen Tages Gottes, des Allherrschers, versammelt werden (s. dazu 19, 19) durch die drei „Geister“ V. 13 f.: der Drache, das Tier und der Pseudoprophet): Harmagedon. Es will freilich nicht gelingen, den Namen, der eigens als „Hebräisch“ qualifiziert wird, überzeugend zu erklären. Denn auch wenn er „Berg von Meggido“ bedeuten sollte, so ist damit kaum etwas gewonnen, da die Leser der Offb den Namen weder übersetzen noch lokalisieren konnten. Und das gilt auch von durchaus geistvollen, bis in die Gegenwart sich fortsetzenden ernsthaften Vermutungen. Die Faszination des Namens geht gerade von seiner Rätselhaftigkeit aus; sie reicht bekanntlich bis in die säkularisierte Welt unserer Tage. Es dürfte schwerlich im Sinne des Johannes sein, den Ort auf einer – gar modernen – Landkarte markieren zu wollen. 17–21 Ohnehin geht, so zeigt es die letzte Plage, die sich aus der siebenten Schale ergießt, die vorfindliche Welt in der end-lichen Katastrophe zugrunde. Die „große Stimme“, durch die jedenfalls Gott spricht, proklamiert definitiv den Vollzug des Gerichts (s. 15, 1), das Ende ist da. Das erweist sich unter den traditionellen Signalen der Theophanie, kulminierend in der Verheerung der Welt durch das nie gewesene Erdbeben (vgl. schon 6, 12; 8, 1; 11, 19) sowie den überdimensionalen Hagelschlag (V. 21; vgl. Ex 9, 18–25). Zu solchem Geschehen gehört, daß die Städte der Welt untergehen, das „Große Babylon“ das Gericht Gottes erfährt, Inseln und Gebirge, d. h. die gestaltende Struktur der Erde verschwindet (V. 20). An Jerusalem ist bei der „großen Stadt“ schwerlich gedacht, eher unter dem Decknamen „Babylon“ an Rom (vgl. 17, 18; 18, 10 u. ö.), ohne daß aber eine einlinig-historisierende Identifikation vorauszusetzen ist. Und doch, selbst im Untergang ihrer Welt beharren die Menschen in der Absage an Gott: Wir werden es packen!

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Die Kulmination der Geschichte (Kap. 17–19)

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III 3. 4. 3 Die Kulmination der Geschichte (Kap. 17–19) Mit dem Geschehen, das durch das Ausschütten der siebenten (Gerichts-) Schale ausgelöst wird, ist der Kulminationspunkt der Geschichte erreicht, in dessen Bannkreis die Gemeinde ihr Leben zu führen hat. Er wird in seinem wahren Charakter im Folgenden näher entfaltet und damit in seiner historisch für die implizierten Rezipienten erfahrbaren Gestalt deutlicher gemacht. Freilich überschreitet Johannes die Schwelle direkter zeitgeschichtlicher Identifikation auch jetzt nicht, sondern bleibt in der symbolischen Welt apokalyptischer Sprachtradition, ohne die Grenze zur unverstellten Realität zu durchbrechen. So bleibt sein Text der übergeschichtlichen Deutung gegenüber offen, auch wenn unübersehbar Rom in das Gesichtsfeld der Leser/ Hörer gerückt wird. Die größere literarische Einheit reicht bis 19, 21, ist in sich aber formal und inhaltlich deutlich gegliedert. III 3. 4. 3. 1 [Die gottlose Macht] (17, 1–18) 17, 1 Und es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen hatten, und sprach so zu mir: Komm, ich zeige dir das Gericht über die große Dirne, die an vielen Wassern thront, 2 mit der die Könige der Welt Unzucht trieben – und die Erdbewohner wurden trunken vom Wein ihrer Unzucht. 3 Und er führte mich in eine Wüste, im Geist. Und ich sah eine Frau thronen auf einem scharlachroten Tier, voll von Lästernamen, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern. 4 Und die Frau war bekleidet mit Purpur und Scharlach und üppig geschmückt mit Gold, Edelgestein und Perlen, in ihrer Hand ein goldener Kelch, gefüllt mit Greuel und Unrat ihrer Unzucht. 5 Und auf ihrer Stirn ein Name geschrieben, ein Mysterion: Babylon die Große, die Mutter der Dirnen und der Greueltaten der Welt. 6 Und ich sah die Frau trunken vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu. Und staunend sah ich sie mit großer Verwunderung. 7 Aber der Engel sprach zu mir: Wieso erstaunt dich etwas daran? Ich nenne dir das Geheimnis der Frau und des Tieres, das sie trägt, das die sieben Köpfe hat und die zehn Hörner. 8 Das Tier, das du siehst, war und ist nicht und wird aufsteigen aus dem Abgrund und geht in das Verderben. Und die Bewohner der Erde werden in Ekstase geraten, die, deren Namen nicht aufgeschrieben sind im Buch des Lebens seit Grundlegung der Welt, wenn sie das Tier sehen, daß es war und nicht ist und dasein wird. 9 Hier ist der Verstand, der Weisheit hat, am Platz. Die sieben Köpfe sind sieben Hügel, dort, wo die Frau auf ihnen thront – und es sind sieben Könige. 10 Die (ersten) Fünf sind gefallen; der Eine ist (gerade) da, der Andere ist noch nicht gekommen, und wenn er kommt, darf er (nur) kurz bleiben. 11 Das Tier aber, das war und nicht

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

ist, ist selbst das Achte, aber es stammt aus den Sieben, aber es geht in das Verderben. 12 Und die zehn Hörner, die du siehst, das sind zehn Könige, die ihre Königsmacht noch nicht erlangt haben, aber sie werden Macht wie Könige für eine Stunde erhalten zusammen mit dem Tier. 13 Sie sind eines Sinnes und treten ihre Macht und Befugnisse ab an das Tier. 14 Sie führen Krieg mit dem Lamm, aber das Lamm wird den Sieg über sie erringen; denn es ist Herr der Herren und König der Könige, und die mit ihm sind Berufene und Erwählte und Getreue. 15 Und er spricht zu mir: Die Wasser, die du schautest da, wo die Dirne thront, das sind Stämme und Gruppen und Völker und Sprachen. 16 Und die zehn Hörner, die du schautest, und das Tier, sie werden die Dirne hassen und sie wüst machen und nackt und sie werden ihr Fleisch fressen und sie im Feuer einäschern. 17 Gott nämlich hat sie angestiftet, seine Absicht auszuführen, eines Sinnes zu handeln und ihre Königsherrschaft dem Tier zu übertragen, bis die Worte Gottes an ihr Ziel gekommen sein werden. 18 Die Frau aber, die du schaust, ist die Große Stadt, die Herrschaft hat über die Könige der Erde. 1–2 Kap. 17 stellt die Macht vor, die die Welt beherrscht, ohne und damit gegen Gott. Einer der Schalenengel, durch dessen Unbestimmtheit der Bezug zur gesamten vorangehenden Visionenreihe markiert wird, deutet das folgende Geschehen als das Gericht über die abgöttische Weltmacht, der anstelle Gottes die Menschheit dient. Die Metapher der Unzucht (s. 2, 14. 21 f.) beherrscht das Bild; es geht um nichts anderes als um die Ehre Gottes. Die Identifikation der gottlosen Macht mit einer Dirne ist in der alttestamentlich-jüdischen Literatur vorgebildet, zumal im Bereich der Gerichtsansage (Jes 23, 16 f.; Nah 3, 4–6; vgl. Jes 1, 21; Ez 16, 15 ff.; 23, 1 ff.). „Thronend über vielen Wassern“ bereitet die Benennung „das große Babylon“ (Jer 51, 13) in V. 5 vor, doch ist auch das nur Deckname für die gottfeindliche Macht der Welt (s. Offb 14, 8), die sich in der Gegenwartserfahrung der Offb in Rom historisiert (s. V. 9–14). Eine in Kleinasien gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. (in verschiedenen Varianten) geprägte Münze zeigt (und propagiert) die Dea Roma in imperialer Pose auf sieben Hügeln thronend. Ihr liefern sich alle aus, die an der Lust der Macht teilzuhaben begehren. Der Seher aber wird in die Wüste entrückt, wie an einen neutralen Ort, 3–6 an dem die weltumspannende Macht der großen Dirne sich nicht entfalten kann (s. 12, 6). Zugleich wird damit ein Neuansatz signalisiert; die Vision wandelt sich in ihrem Bild, ohne doch die Identität des Geschauten gänzlich aufzugeben. Im Traum oder durch moderne optische Manipulationen verwirklichen sich vergleichbare Variationen.

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Die Kulmination der Geschichte (Kap. 17–19)

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Statt auf den vielen Wassern thront (V. 3 b) die Frau jetzt auf einem abgöttischen Tier, die Figur ist in der Ikonographie des antiken Orients geläufig. Das Tier, auf dem die Frau sitzt, gleicht dem, das 13, 1 auftrat, wird nun aber näher geschichtlich erkennbar gemacht. Die Frau ist mit äußerster Pracht bekleidet, und doch kann der Reichtum ihre Profession nicht verbergen. Sie ist es, die den goldenen Kelch, den sie hält, füllt, verabscheuungswürdiger Gewinn, den Kap. 18 ausführlich und in historisch verifizierbarer Weise zur Sprache bringen wird. Auf ihrer Stirn ist der Name geschrieben, der ihr der Öffentlichkeit verborgenes Wesen enthüllt: Das Große Babylon, die Mutter der Unzucht und der Greuel der Erde. Ob sie dadurch als Hure sich ausweist, ist umstritten; in jedem Fall wird eine Assoziation an 19, 12 sowie 7, 3; 14, 1; 22, 4 geweckt. Mit V. 6 schlägt die Vision in die Deutung um, der Preis der Üppigkeit rückt in den Blick, das Schicksal der Zeugen des wahren Gottes, der in Jesus der Welt entgegentritt. Die Radikalität der Konfrontation, der die Gemeinde ausgesetzt ist, wird erkennbar. Die Deutung bricht sich mit V. 7 im apokalyptisch-visionären Stil Bahn; 7–8 sie löst den Bann, in den die Faszination des Bildes selbst den Seher schlug (s. V. 8; 13, 3). Der Schleier des „Geheimnisses“ wird gelüftet – freilich nicht mehr. Das Tier, das mit der Frau, die auf ihm thront, geradezu wie identisch angesehen wird, ist durch seine Geschichte als eine Parodie Gottes (s. 1, 4 u. ö.) ausgewiesen und zugleich als seine Negation: Er war, er ist nicht, er wird aus dem höllischen Abgrund (s. 9, 1–3; 11, 7; 20, 3) auferstehen und in das Verderben gehen. Nur: Gottes Sein konstituiert die Welt, in der das Tier dann handelt und verdirbt. Gleichwohl taumelt fasziniert alle Welt hinter ihm her, mit Ausnahme derer, die unverrückbar im Heilsbereich Gottes gegründet sind (vgl. 13, 8). Die Verführten aber nehmen nur das wahr, was sie sehen und hoffen. Die Macht der Welt, mag sie auch gegenwärtig versagen, wird sich wieder (siegend) etablieren; die Vermutung, daß hier (V. 8 fin) die Erwartung der Wiederkunft Neros die Folie bildet, liegt nahe. Jedenfalls will Johannes mit dem Hinweis auf Verstand und Weisheit 9–11 V. 9 a, die Aufmerksamkeit wecken, jederzeit die Zeichen der Zeit zu verstehen (s. a. 13, 18). Mit der Deutung der sieben Köpfe des Tieres auf sieben Berge wird dieses fast unverhüllt als Rom ausgewiesen. Das seit dem 1. Jh. v. Chr. verbreitete Symbol für die weltbeherrschende Stadt dient auch der oben (zu V. 1 f.) genannten Münze als Thron der Dea Roma (vgl. aber auch 1Hen 24, 1–25, 3!). Solche Assoziation wird sogleich weitergeführt durch eine Deutung der sieben Köpfe auch auf sieben Könige, ein Titel, der vor allem im Osten des Reiches den im Neuen Testament durchaus bekannten Titel „Kaiser“ (z. B. Mk 12, 14–17; Apg 17, 7; vgl. auch Mk 8, 27; Apg 10, 1!) vertreten konnte (s. z. B. Josephus, Bell V 563; IV 596). Das Spiel mit ihrer Zahl (V. 10 f.) verführt zu viel Raterei mit

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Blick auf die „Kaiser“ des 1. Jh. n. Chr., zumal es Aufschluß über die Abfassungszeit der Offb verspricht. Obwohl man davon ausgehen darf, daß das Zahlenspiel die reale Geschichte der Zeit zum Hintergrund hat und diese Geschichte nicht unbekannt ist, hat die Diskussion über die Lösung des Rätsels zu keinem allseitig anerkannten Ergebnis geführt. Möglicherweise kann (und soll!) sie das auch gar nicht. Denn wahrscheinlich hat nicht die Kenntnis des Geschichtsverlaufs zu den im Text genannten Zahlen geführt, sondern sind die Zahlen – oder genauer die eine Zahl Sieben – dem Verfasser vorgegeben und danach die Geschichte geordnet. Der Achte, das Tier selbst, ist ausdrücklich mit der Sieben in identifizierender Weise in Beziehung gesetzt, der gegenwärtige „König“ als der Sechste geht dem letzten, dem Siebenten, der nur kurz noch bleiben wird, voraus. Er ist Vorbote des Endes, das freilich noch nicht unmittelbar vor der Tür steht, das aber nach einer noch unbekannten Wegstrecke der Geschichte nahe ist. Damit ist in der Tat der eigene Ort bestimmt und entzieht sich doch einer Fixierung in der absoluten Chronologie. Denn wie die „Kaiser“ gezählt sind, ob die Reihe mit Caesar oder Augustus (oder noch später) beginnt, ob die drei Soldatenkaiser zwischen Nero und Vespasian (68/69 n. Chr.) und welche berücksichtigt sowie wer der (tatsächliche oder fiktive) gegenwärtige Herrscher ist, all das ist ungewiß. Deshalb aber ist jeder Versuch hoffnungslos, die vorausgesetzte Geschichte an ihrem uns historiographisch gesichert erscheinenden Verlauf zu verifizieren, ohne daß wir berechtigt sind, ihr jeden Bezug zu der von Johannes und seinen Rezipienten erfahrenen Wirklichkeit abzusprechen. Das Tier endlich, das eigentliche Zentrum des Geschehens, ist der Achte. Er tritt erst nach dem Siebenten, dem letzten geschichtlichen Herrscher auf, ist aber doch einer von ihnen, ihrer aller endgeschichtliche Manifestation. Er ist nicht einer der Köpfe des Tieres, sondern es selbst! Daher ist sehr fraglich, ob die Erwartung eines Nero redivivus, die für die Zeit des Textes bezeugt ist, für ihn konstitutiv ist. Sie mag im Hintergrund präsent sein. Die nachäffende dreifache Prädikation seines Seins endet jedenfalls in seinem Untergang. 12–14 Zunächst indessen wächst ihm noch einmal Macht zu, seine zehn Hörner sind zehn Herrscher (s. Dan 7, 24), die – freilich nur für „eine Stunde“ (s. ähnlich rätselhaft 8, 1) – zur Zeit des Tieres Macht zur Herrschaft mit ihm empfangen werden. Sie sind in ihrem Machtwillen geeint und liefern ihn dem Tier aus. Die politische Terminologie läßt an geschichtliche Vorgänge, die Johannes voraussetzt, denken; welche Gestalt sie haben werden, bleibt freilich im Dunkeln – wohl absichtlich. Zum Endkampf gegen den Gott, der der Welt in der Gestalt des Lammes entgegentritt, schließen sie sich zu einer Einheitsfront zusammen und greifen nach der absoluten Herrschaft. Mit lapidarer Kürze wird diese schreckenerregende Deutung der zehn Hörner beendet: Aber das Lamm wird über sie siegen, denn es vertritt die Herrschaft Gottes, es ist größter König, höchster Herrscher (s. 1. Tim 6, 15; –

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Die Kulmination der Geschichte (Kap. 17–19)

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Dtn 10, 17; 1Hen 9, 4). Und so wie alle Könige der Erde an der Macht des Tieres teilhaben, so die Berufenen und Erwählten an der des Lammes. Damit ist der Schlußpunkt der Geschichte benannt (wie vergleichbar V. 11 fin). In mehrfachen Anläufen wird im Folgenden unter verschiedenen Aspek- 15–17 ten die Geschichte des Endes der Welt und ihrer Macht weiter entfaltet. Zunächst, V. 15–17, wird das Gesicht 17, 1 erneut gedeutet. Die bislang unbedachten (vielen) Wasser, an denen die (große) Dirne thront (V. 1), das ist die Weltbevölkerung in ihrer multikulturellen Vielgestalt. Diese wird sich gemeinsam mit ihren in der Selbstvergötterung geeinten Machthabern schließlich gegen die Dirne, Babylon (V. 5. 18), die dem Autor und seinen Lesern/ Hörern in der Gestalt der Welthauptstadt Rom entgegentritt, auflehnen, sie verwüsten, verschlingen und auslöschen (Jer 51, 13; vgl. Ez 16, 35–43; 23, 22–29). Damit vollstrecken sie in Wahrheit Gottes Willen, der die Welt in ihrer Selbstüberhebung statt in die Herrlichkeit des selbstbestimmten wahren Lebens in den Untergang laufen läßt. Sie erfüllen mit ihrem Tun den Willen, den Gott in ihre Herzen gegeben hat. Damit ist nicht an eine unentrinnbare Determination des Einzelnen gedacht, wohl aber an eine Determination der Geschichte, die unentrinnbar der Ordnung Gottes unterworfen ist, daß der sich zerstört, der sich selbst zu Gott macht. Der Triumph Gottes ist gewiß! V. 18 schließt die Deutung der Schau vom Gericht über die Große Dirne 18 (V. 1) ab, die einer der Schalenengel V. 7 begann. Scheinbar präzise wird die Frau identifiziert mit der großen Stadt, die die Weltherrschaft innehat, nicht aber ihr Name genannt. 17, 5 und 18, 2 sowie bes. 18, 21 nennen „Babylon“, 11, 8 nennt den Ort der Kreuzigung des Herrn, Jerusalem, „die große Stadt“. Der Rezipient des Textes aber kann nur an Rom denken. Babylon ist geschichtlich bedeutungslos geworden, Jerusalem nicht mit Kap. 18 zu verbinden. Das Oszillieren des fraglos auf Rom zielenden Textes ist beabsichtigt, es wehrt einer eindimensionalen geschichtlichen Festlegung und hält ihn offen für gewandelte Erfahrungen. Der Vers leitet zugleich aber auch über zu der großen, faszinierenden Partie über den Untergang der Weltstadt in Offb 18. III 3. 4. 3. 2 Der Untergang der Stadt (18, 1–24) 18, 1 Danach sah ich einen anderen Engel vom Himmel herabkommen, der große Macht hatte, und die Erde wurde erhellt von seiner Herrlichkeit. 2 Und er schrie so mit mächtiger Stimme: Gefallen, gefallen ist Babylon, die Große! Aber sie ist zur Heimstatt von Dämonen geworden und zum Gehege jeden unreinen Geistes und Gehege jeden unreinen Vogels und Kerker jeden unreinen und verhaßten Tieres. 3 Denn von dem Taumelwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Welt haben mit ihr Unzucht getrieben, und die Händler der Welt sind reich geworden an der Macht ihres Luxus.

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

4 Und ich vernahm eine andere Stimme vom Himmel, die sprach: Zieh hinaus, mein Volk; damit ihr nicht gemein werdet mit den Sünden jener und damit ihr nicht teilhabt an den Plagen jener! 5 Denn ihre Sünden haben sich bis zum Himmel aufgetürmt, und Gott nimmt sich (nun) ihrer Untaten an. 6 Zahlt ihr zurück, wie sie euch ausgezahlt hat, und verdoppelt ihr Doppel nach ihren Werken, mischt ihr doppelt den Kelch, den sie gemischt hat! 7 Wie sie sich selbst verherrlichte und üppig darstellte, ebenso fügt ihr ihr zu Qual und Trauer; denn in ihrem Innern spricht sie: Ich throne als Königin, ich bin keine Witwe, und Trauer werde ich nicht erfahren. 8 Deshalb werden an einem Tag ihre Schläge hereinbrechen, Tod und Trauer und Hunger, und im Feuer wird sie verbrennen; denn mächtig ist Gott der Herr, der sie richtet. 9 Und die Könige der Erde werden heulen und wehklagen über sie, die, die mit ihr Unzucht getrieben und geschwelgt haben, wenn sie den Qualm ihres Scheiterhaufens sehen. 10 Von ferne werden sie stehen aus Angst vor ihrer Qual und sagen: Weh, weh die Große Stadt Babylon, die mächtige Stadt; denn in nur einer Stunde kam dein Gericht! 11 Und die Händler der Welt heulen und trauern ihretwegen; denn ihre Ladung kauft niemand mehr, 12 Ladung von Gold und Silber und Edelstein und Perlen und feiner Leinwand und Purpur und Seide und Scharlach und Zitrusholz und Elfenbeingerät und jegliches Gerät aus Edelholz und Kupfer und Eisen und Marmor 13 und Zimt und Kardamom und Thymian und Salböl und Weihrauch und Wein und Öl und Feinmehl und Getreide und Rinder und Schafe und Pferde und Kutschen und Leibeigene und Sklaven 14 und das Obst, das deine Seele begehrt, ist fern von dir, und alle Kostbarkeiten und Pretiosen sind für dich verloren, und niemals mehr wird man sie wiederfinden. 15 Und die Händler dieser Dinge, die reich geworden sind an ihr, werden fernab stehen aus Angst vor ihrer Qual und werden heulen und wehklagen 16 und sagen: Weh, weh die Große Stadt, die gewandet ist in feiner Leinwand und Purpur und Scharlach und geschmückt mit Gold und Edelstein und Perlen. 17 Denn in einer Stunde ist solch Reichtum verwüstet! Und jeder Steuermann und jeder Küstenschiffer und Matrosen und Seefahrer standen fernab 18 und schrieen so, als sie den Qualm ihres Brandes sahen: Wer gleicht der Großen Stadt? 19 Und sie warfen Staub auf ihre Häupter und schrieen unter Heulen und Klagen dieses: Wehe, wehe der Großen Stadt, in der alle, die Schiffe auf dem Wasser haben, reich geworden sind an ihren Kostbarkeiten; denn in einer Stunde ist sie verwüstet! 20 Freue dich über sie, Himmel und die Heiligen und die Apostel und die Propheten; denn Gott hat Euer Gericht über sie vollstreckt! 21 Und es erhob ein starker Engel einen riesigen Stein wie ein Mühlrad und schleuderte ihn in das Meer und sprach: So wird mit Ungestüm

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Babylon, die Große Stadt, hingeschleudert werden und nicht mehr vorgefunden werden. 22 Und Klang der Harfenspieler und Musikanten und Flötenspieler und Trompeter wird in dir nicht mehr zu hören sein, und kein Handwerker irgendeines Gewerbes wird mehr in dir zu finden sein, und ein Klang des Mühlsteins wird nicht mehr laut werden. 23 Und Licht einer Lampe wird nicht mehr erstrahlen in dir, und eines Brautpaares Stimme wird nicht mehr in dir zu hören sein. Denn deine Händler waren die Machthaber des Landes, und in deiner Giftküche wurden alle Völker irre gemacht! 24 Und in ihr fand sich Blut von Propheten und Heiligen und von allen Schlachtopfern der Welt. Der Text des Kapitels handelt insgesamt von dem Untergang Babylons = Rom. Er wird freilich nicht als Ereignis visionär geschaut, sondern in prophetischer Rede von offenbarenden Engeln als die Angeredeten befreiendes Gerichtshandeln dargestellt. Der gesamte Text ist sowohl stilistisch als auch in inhaltlicher Weise überlegt gestaltet, wobei sich der Verfasser für beides überkommener Formen bedient, und doch ein Eigenes schafft. Es ist davon auszugehen, daß er das Stück in der vorliegenden Gestalt selbst mit Blick auf seine Gesamtschrift verfaßt hat, nicht bereits vorgeformte Textteile aufnahm und zusammenfügte. Ein gottgleich erscheinender Engel (Ez 43, 2; dort V. 3 Verweis auf 1–3 Ez 9 f.!) proklamiert prophetisch den Sturz des „Großen Babylon“ hinein in die Entsetzen erregende Wüstenei des Untergangs. Und niemand verstehe das als eine gleichsam gesetzmäßige Periode im Auf und Ab der Geschichte! Es ist begründet im bewußten Nein der Welt zu der ihr durch die Schöpfung eingestifteten Norm, vorzüglich ihrer Eliten der Macht und des Besitzes. Nach der Proklamation des Gerichts, das in prophetischer Vorwegnahme der Zukunft als vollzogen angesagt ist, ertönt eine Stimme vom Himmel, die – wohl bewußt – nicht näher identifiziert ist, den Untergang Babels ungemein plastisch und eindrücklich vergegenwärtigt, ohne indessen ihn im direkten Vollzug darzustellen. „Eine andere Stimme“ ergeht in ungewöhnlicher Länge bis V. 20, ihre 4–20 Äußerung ist aber sichtlich gegliedert in drei Teile. Der erste (V. 4–8) richtet sich an „mein Volk“, d. h. die durch das Lamm Gott Zugehörigen (s. 21, 3), und spricht ihnen auch angesichts solchen Untergangs Zukunft zu. Der zweite, V. 9–19, gibt das Klagelied der Herrscher der Welt (9 f.), der Kaufleute (11–17) und der Seefahrer (17 b-19) über den Fall der großen, mächtigen Stadt wieder. Wie schon im Alten Testament (bes. eindrücklich Jes 14, 4–21; häufiger in Ez [wichtig hier Ez 27]) wird das Klagelied zum Siegeslied über den zerschmetterten Feind, zum „spöttischen Leichenlied“ (Eißfeldt), das den überheblichen Mächtigen prophetisch vorgreifend verhöhnt. Der dritte Teil (V. 20) ruft in krasser, knapper Schärfe im Ge-

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genzug gegen die vorangehenden Klagen auf zum Freudenjubel über die gefallene Stadt (s. Jes 51, 48) durch die Welt, die zu Gott gehört, nämlich der Himmel und das Gottesvolk samt seinen Repräsentanten, den Aposteln und Propheten. Denn ihnen ist im Gericht über ihre Feinde ihr Recht geworden. Beachtenswert ist bei den offenbar explikativ den „Heiligen“ (den Nachfolgern des Lammes) zugeordneten „Aposteln und Propheten“ die Vorordnung der Apostel, deren Namen die Fundamente der Mauern des Neuen Jerusalems tragen (21, 14); die „Propheten“ weisen der Gemeinde den Weg durch die Zeit, das Fundament aber sind die „Apostel“. Die beeindruckend kunstvoll gestaltete Himmelsrede V. 4–20 benutzt zwar offensichtlich eine schon frühjüdische Zusammenstellung von prophetischen Schriftworten gegen verschiedene Fremdvölker, die auf die gegenwärtigen Feinde des Gottesvolkes bezogen wurden. Johannes (und seinen Lesern/ Hörern) begegnet die feindliche Bedrohung in der Gestalt Roms, das für Babylon steht; jedoch überschreitet die Beschreibung der Stadt, ihr Handel und Reichtum, die empirische Wirklichkeit der Stadt Rom; die verführerische Macht der „Stadt“ (= Welt) ist insgesamt im Blick, freilich konkret auf die eigene Erfahrung der Zeit bezogen (wie etwa die Bedeutung der [Küsten-]Seefahrt im mediterranen Raum, V. 17). 21–24 Der dritte Hauptteil des Kapitels scheint den Untergang der „großen Stadt Babel“ über den Weg einer prophetischen Gleichnishandlung (s. Jer 51[28LXX], 60–64) (deutend) darzustellen. Ob die Charakterisierung des Steins „wie ein Mühlstein“ durch das Jesuswort Mt 18, 6 par. beeinflußt ist, kann man fragen. Mit abrupter Gewalt wird die „große Stadt“ in das Nichts des Verderbens geschleudert werden, ebenso wie sie die Propheten und Heiligen dem Verderben überlieferte (V. 24). So wie aller Reichtum, Glanz und alle wirtschaftliche Macht gemäß dem Klagelied deren Nutzer verschwunden sind (V. 9–19), so wird (wie schon Jer 25, 10 der Prophet für sein Land voraussah) jede Äußerung der Lebensfreude (V. 22 a), der tätigen Entfaltung des Lebens (V. 23 a), erloschen sein. Denn – so begründet V. 23 – mit ihrem globalen wirtschaftlichen Netzwerk und ihrer religiös verbrämten Verzauberung verführten sie alle Welt (s. Nah 3, 4). Auch wenn ein gruppen- oder individualspezifisches sozialkritisches Element in solcher Begründung eine gewisse Rolle spielen mag, so ist doch vor allem die makroökonomische Situation der antiken mediterranen Welt bei der Hervorhebung des Handels als das säkulare Machtund Organisationsinstrument der gottfernen, gottlosen Macht maßgeblich. Und diese Macht manifestiert sich in der gewaltsamen Vernichtung der Zeugen Gottes, der Propheten und Heiligen; alle sie – wie das Lamm – Hingeschlachtete (s. 17, 6). Mit dem Untergang der Stadt hat der Schrei der geschlachteten Zeugen unter dem (himmlischen) Altar nach Vergeltung 6, 10 seine Antwort gefunden.

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III 3. 4. 3. 3 Die Feier des Sieges Gottes und des Lammes im Himmel (19, 1–10) 19, 1 Danach hörte ich etwas wie einen gewaltigen Schall einer großen Menge, die sprachen: Halleluja! Das Heil und die Herrlichkeit und die Macht sind unseres Gottes; 2 denn wahrhaftig und gerecht sind seine Gerichte. Denn er richtete die Große Dirne, die die Welt zugrunde richtete in ihrer Unzucht, und er hat das Blut seiner Knechte an ihrer Hand gerächt. 3 Und abermals sprachen sie: Halleluja! Und ihre Qualen steigen auf für immer und ewig. 4 Und es fielen nieder die 24 Ältesten und die vier Wesen und beteten Gott an, den auf dem Thron Thronenden, und sprachen: Amen, Halleluja! 5 Und eine Stimme erging vom Thron, die sprach: Lobt unseren Gott, alle seine Knechte und die ihn fürchten, die Kleinen und die Großen! 6 Und ich vernahm etwas wie den Schall einer großen Menge und wie einen Schall großer Wassermassen und einen Schall mächtiger Donner, der verlautete: Halleluja! Dem der Herr unser Gott, der Allmächtige, hat die Herrschaft angetreten. 7 Freuen wir uns und jubeln und geben ihm die Ehre; denn gekommen ist die Hochzeit des Lammes, und seine Frau hat sich bereitet, 8 und sie ist ermächtigt, das leuchtend reine Byssosgewand anzulegen – die Rechttaten der Heiligen. 9 Und er spricht zu mir: Schreibe! Selig sind die zum Hochzeitsmahl des Lammes Geladenen! Und er spricht zu mir: Dies sind wahrhaftig Gottes Worte. 10 Und ich fiel zu seinen Füßen nieder, um ihn anzubeten. Er aber sagte mir: Niemals! Ich bin deiner und deiner Brüder Mitknecht, die das Zeugnis Jesu wahrnehmen. Bete Gott an. Denn das Zeugnis Jesu ist der Geist der Prophetie. Offb 19, 1–10 zeigt eine (erste) fundamentale Antwort auf die Proklamation des Falls der „großen, mächtigen Stadt Babylon“ durch den Gotteszeugen Johannes Kap. 18. Die Szenerie knüpft an die erste „apokalyptische“ Schau der Geschichte Gottes mit seiner Welt Kap. 4 an. Wie 4, 4 (s. a. 7, 11; 11, 16; 14, 3) treten (s. V. 4) die 24 Ältesten gemeinsam mit den vier Wesen im Gefolge des Thronenden auf und feiern im himmlischen Gottesdienst das eschatologische Heilshandel Gottes, das in zwei Hymnen und sie bestätigenden Akklamationen gepriesen wird. – Die abschließenden V. 9 f., die überraschend abrupt anschließen, ziehen den Empfänger der Vision in deren Inhalt hinein und legitimieren ihn zugleich. Damit ist ein stringenter Abschluß der Gesichte zumindest seit 17, 1 erreicht. Der Schau des Untergangs der Stadt folgt der das Geschehen prei- 1–6 sende himmlische Hymnus durch eine gewaltige Schar (vgl. 7, 9), dem die

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Throngenossen Gottes anbetend respondieren (V. 4) und der mit übermächtigem Schall aufgenommen wird (V. 6). Der umfangreichste Hymnus der Offb setzt ein mit einer liturgischen Wendung, die nur hier im Neuen Testament begegnet, Halleluja. Sie entstammt der Sprache der alttestamentlichen Psalmen, ist (freilich nicht eben häufig) im Judentum ebenso wie in der frühchristlichen Literatur belegt, hat dann aber in der christlichen liturgischen Sprache einen durchaus prominenten Platz gefunden. Dieser Aufruf zum Preis Gottes, der V. 3, V. 4 (durch vorgestelltes „Amen“ bestätigend verstärkt) und V. 6 wiederholt wird, hebt die solenne Bedeutung des Hymnus hervor, der das Gericht über die Gottfeindschaft der Welt (V. 2) und den Durchbruch der Gottesherrschaft und das Fest des heilen Lebens feiert (V. 6–8). Gottes heilsame, mächtige Herrlichkeit ist gegenwärtige Erfahrung (V. 1 b); mit den engsten Throngenossen Gottes (V. 4) vereinen sich alle Glieder des Gottesvolkes und die, die zu ihm halten, ohne alles Ansehen von Person und Status V. 5) in der Unterstellung der eigenen Person unter den Zugriff Gottes als die Erfüllung des eigenen Lebens. 7 Alle Welt feiert endgültig die Herrschaft Gottes, die unter der Metapher der Hochzeit des Lammes als die Zeit des heilen Lebens für die mit ihm als seine Braut verbundene Gemeinde bejubelt wird (V. 7). Die Hochzeit als Metapher der Heilszeit ist in verschiedenartiger Anwendung sowohl im Juden- als auch im frühen Christentum geläufig; Mk 2, 18 f. zeigt, daß und wie sie in der Verkündigung Jesu verankert ist. Sie hat sich aus der prophetischen Predigt des Alten Testaments von der Liebe Gottes zu seinem Volk und von dessen Untreue (vgl. Hos 1–3; Jer 2, 2; Ez 16, 8 ff., eschatologisch Jes 62, 4 ff.) entwickelt, im Neuen Testament ist sie 2. Kor 11, 2 für das Verhältnis der christlichen Gemeinde zu Christus seit Paulus belegt, Eph 5, 31 f. theologisch befestigt. Johannes nimmt die Metapher 21, 2. 9 (22, 17) wieder auf. Sie ist freilich bei ihm nicht gänzlich ausgeglichen verwendet; 19, 9 sind die Teilhaber der Heilszeit offenbar als Gäste des Freudenmahls zur Hochzeit des Lammes gedacht, 21, 9 aber wird das (bereits 21, 2 als eine durch Gott bereitete, für ihren Mann geschmückte Braut bezeichnete) Neue Jerusalem als Braut des Lammes identifiziert, d. h. als die verherrlichte Gemeinde der Heilszeit. Doch zeigt das in Wahrheit nur, daß die Metapher „Hochzeit des Lammes“ wirklich als solche, nämlich Darstellung der Freudenzeit des Heils, verstanden sein will, nicht eben eine irgendwie geartete Verwirklichung im Blick hat. Auch die Gabe des Festgewands an die Braut weitet die Metapher auf 8 die Heilsgemeinde aus (vgl. 3, 4. 18; 7, 14; 19, 14, antithetisch 18, 16; 17, 4), V. 8 b – freilich öfters als sekundäre Glosse beurteilt – wendet die Vorstellung in paränetische Richtung. Doch will bedacht sein, daß das Gewand der Heilsgenossen, die Gerechtigkeitserweise, nicht nur (aktiv) als Taten, sondern auch (passiv) als Gaben zu begreifen sind.

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Die Kulmination der Geschichte (Kap. 17–19)

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V. 9 nimmt mit der Seligpreisung derjenigen, die zum Hochzeitsmahl 9 des Lammes geladen sind, den zuletzt angetönten paränetischen Akzent durchaus auf und spricht die Leser/ Hörer direkt an, vgl. 16, 15; 22, 7. 14. Es geht um ihr Geschick! Als Sprecher ist, wie auch für das abschließende Responsorium in Gestalt eines ausführlichen Amens (V. 9 b), offenbar ein angelus interpres (Deuteengel) gedacht, wie sich V. 10 in Verbindung mit 22, 8 f. entnehmen läßt. Möglicherweise ist an den Offenbarungsengel 17, 1 zu denken; doch ist es problematisch, von daher die Reichweite „dieser Worte“ zu bestimmen; sie ist kaum genau zu begrenzen. Man kann sie in unmittelbarem Sinn auf die Seligpreisung beziehen; denn in der ist die Verheißung der Botschaft der Offb gänzlich enthalten. Auch 21, 5–22, 6 hat die Zusage des Heils im Blick. Von daher fällt auch Licht auf die abschließende Szene, die 22, 8 f. eine 10 auffällige Parallele hat. Sie markiert die Bedeutung und unbedingte Verläßlichkeit der Botschaft des Buches, auf dessen (gesamten) Inhalt 22, 9 eigens abhebt. Der Engel (22, 8) ist nicht Autor, auch nicht Garant seiner Botschaft, sondern ausschließlich ihr Vermittler (s. schon 1, 1!). Der Urheber ihres Inhalts ist Gott, dem (allein) Anbetung gebührt, ihr Offenbarer (allein) Jesus. Daß, wie mit Verweis auf derartige Erscheinungen im frühen Christentum (vgl. Kol 2, 18) vermutet wird, die beiden Stücke 19, 10 und 22, 8 f. Engelverehrung in der Gemeinde des Johannes abwehren wollen, ist kaum wahrscheinlich. Dafür sollte der Text deutlicher sein; vor allem in den Sendschreiben benennt Joh, zwar gern metaphorisch, doch unübersehbar, die Gefährdung seiner Gemeinden; Engelverehrung gehört nicht dazu. Das oft als sekundär angefügt beurteilte Schlußsätzchen hebt Offb selbst auf die Höhe der Offenbarungsvermittlung, der sie sich verdankt. Das entspricht der Kanonisierungsformel am Schluß des Buches 22, 18 f. und erinnert sachlich an die Funktion, die in den Weckrufen am Ende der Sendschreiben 2, 11 usw. dem Geist zugesprochen wird. Die Vorstellung entspricht der des Parakleten im Johannesevangelium (bes. Joh 16, 13–15), ohne mit ihr identisch zu sein. III 3. 4. 3. 4 Der Reiter auf dem weißen Pferd (19, 11–21) 11 Und ich sah den Himmel geöffnet, und siehe: ein weißes Pferd, und der, der auf ihm thront, ist treu und wahrhaftig genannt, und er richtet und kämpft in Gerechtigkeit, 12 und seine Augen wie Feuerflammen und auf seinem Haupt viele Diademe. Er hat einen Namen eingeschrieben, den niemand als er selbst kennt. 13 Und angetan ist er mit einem in Blut getauchten Mantel, und sein Name lautet: das Wort Gottes. 14 Und die Herren im Himmel folgten ihm auf weißen Pferden, bekleidet mit rein-weißen Byssosgewändern. 15 Und aus seinem Mund trat ein scharfes Schwert hervor, damit er mit ihm die Völker schlüge, und er wird sie weiden mit eisernem Stab

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

und er tritt die Weinkelter des grimmigen Gerichts Gottes, des Allmächtigen. 16 Und er trägt auf dem Mantel und auf seinen Schenkeln einen Namen eingeschrieben: König der Könige und Herr der Herren. 17 Und ich sah einen Engel, der in der Sonne stand, und er schrie mit mächtiger Stimme allen Vögeln zu, die im Scheitel des Himmels fliegen: Kommt! Sammelt euch zum großen Gelage Gottes, 18 damit ihr freßt Fleisch von Königen und Fleisch von Heerführern und Fleisch von Mächtigen und Fleisch von Pferden und ihren Reitern und Fleisch von allen Freien und Sklaven und Kleinen und Großen! 19 Und ich sah das Tier und die Könige der Erde und ihre Heerscharen, zusammengeführt, um Krieg zu führen mit dem, der auf dem Pferd thront, und mit seinem Heer. 20 Aber das Tier wurde gefangen und mit ihm der Pseudoprophet, der die Zeichen vor ihm bewirkte, durch die in die Irre geführt wurden, die das Malzeichen des Tieres annehmen und sein Bild anbeten. Lebendig sind die Beiden in den Feuerpfuhl gestürzt worden, der in Schwefel lodert. 21 Und die Übrigen kamen um durch das Schwert dessen, der auf dem Pferd thront, das aus seinem Mund hervortritt. Und alle Vögel sättigten sich an ihrem Fleisch! 11–14 Mit 19, 11 setzt Johannes wiederum neu an. Nach dem Gesicht des Thronenden durch die geöffnete Himmelstür 4, 1, seiner Anbetung durch sein Gefolge und der Beauftragung des Lammes, des geöffneten Himmels und des Erscheinens der Bundeslade im Tempel Gottes 11, 19 erscheint nun der Himmel (ganz) offen und in ihm der zum Kampf gerüstete Reiter auf weißem Pferd mit seinem in Weiß erstrahlenden Gefolge. Zweifellos handelt es sich bei der Gestalt um den Christus, der als der himmlische Sieger über das Tier, das Johannes nach der Geburt und der bewahrenden Entrückung des Messias dem Meer entsteigen sah und dem der Drache seine Macht über die Welt/Geschichte übergab, im geöffneten Himmel erscheint. Die Identifizierung des Reiters als des Christus (anders als 6, 2; s. dort) ergibt sich eindeutig aus den ihm zugesprochenen Prädikaten (vgl. 1, 14–16; 2, 16 [Jes 49, 2; 11, 4; PsSal 17, 35]; 2, 27; 12, 5 [Ps 2, 9]; 17, 14). Bedeutsam ist, daß von ihm keine Bewegung, schon gar nicht in Richtung auf die Erde hin, ausgesagt wird. Es ist daher kaum angemessen, von der (oder einer) Parusie des Christus zu reden, die erschaut wird. Freilich kann sie so verstanden werden, daß sie die Rolle der gleichsam klassischen Erwartung der Parusie Christi (vgl. z. B. Mk 13, 23–26; 14, 62; 1. Thess 4, 16 f.) einnimmt; auch Johannes dürfte das Geschehen in dieser Richtung verstanden haben. Doch verleiht das dann der Eigenart seiner Darstellung besonderes Gewicht. Dem entspricht offensichtlich, daß von dem himmlischen Reiter kein unmittelbares Handeln ausgesagt wird. Vielmehr wird die Vernichtung des

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Tieres und seines Agitators samt ihrem Anhang V. 17–21 nur anhand ihres Geschicks erkennbar. V. 15 nennt zwar das Gerichtspotential des Reiters, stellt es aber nicht in Aktion dar. Denn das endliche Gericht über die eigentlichen dämonischen Feinde Gottes findet nicht auf der Erde, im Raum ihrer Geschichte statt. Von daher erklärt sich die seltsame Zwischenszene V. 17 f., die Einladung des Engels, der in der Sonne steht, an die Vögel, die am Himmel fliegen, zum grausigen Mahl der durch das Schwert, das aus dem Mund des Reiters hervorging, getöteten Gottesfeinde (V. 21), die gegen ihn Krieg führen (V. 19). Es ist nicht mehr von einem irdischen Geschehen die Rede; geschaut wird in der Erscheinung des Siegers der Sieg des Repräsentanten Gottes. Als solchen weisen ihn die Attribute einschließlich das ihn begleitende Heers der weißgewandeten Reiter aus (V. 14), ebenso die Namen, die ihm beigelegt sind (V. 11. 13. 16). Sie legen das Wesen ihres Trägers offen. Er ist „treu und wahr“ wie das Wort Gottes (s. 21, 5; 22, 6; 3, 14). Das gilt, ob die Charakterisierung als Name (durch das Wort „genannt“) original ist oder textkritisch sekundär, denn er ist es selbst, „das Wort Gottes“, und trägt daher den göttlichen Herrschernamen „König der Könige, Herr der Herren“ (vgl. 17, 14; 1. Tim 6, 15), der implizit dem Anspruch weltlicher Instanzen auf absolute Macht widerspricht. Die Vision 19, 11–21 zeigt die End-gültigkeit solchen Widerspruchs. Die explizite Nennung der Namen hebt die Aussage V. 12 nicht auf, dem Reiter sei ein Name angeschrieben, den niemand als er selbst kennt. Die mannigfachen Namen für die gleiche Person benennen jeweils verschiedene Aspekte ihres Wesens; denn ein Name ist nicht nur eine Folge von Lauten, sondern Aufdeckung von (zumindest erwünschter) Wahrheit des Benannten (so daß „Name“ direkt für „Person“ stehen kann, s. z. B. 3, 4). Sowenig sich die unterschiedlichen Namen, die genannt werden, gegenseitig beeinträchtigen, wird durch sie der unbekannte Name V. 12 ausgeschlossen. Er rückt den im Himmel sichtbar gewordenen vollends in die Sphäre Gottes, dessen Name unaussprechlich, (in dieser Zeit) unerkennbar ist (4Bar 6, 9; Philo, VitMos I 74 f.; JosAs 15, 12); vielleicht ist der „neue Name“ 3, 12 im Blick. So bleibt auch hier trotz des Erscheinens des endzeitlichen Siegers und seines Sieges ein Moment des Noch-Nicht der Vollendung erhalten, die Erkennbarkeit Gottes bleibt in ihrer letzten Tiefe immer noch begrenzt. Anders indessen der Blick des sich offenbarenden Reiters, dessen Augen 15–16 wie die des Menschensohngleichen 1, 14 wie loderndes Feuer sind. In ihm begegnet der verheißene Messias, V. 15 (Ps 2, 9; s. schon Offb 2, 27; 12, 5), der das Gericht vollzieht. Dessen Vollzug wird in Anlehnung an Jes 63, 2 f. mit einer stilistisch geradezu anstößigen Phrase, die die zwei Metaphern „treten die Kelter“ (s. 14, 19 f.) und „Zorn-Wein“ (s. 14, 10) verbindet, als das eschatologische Gottesgericht angesagt. Wie vorweggenommen ist das Gerichtswerk des Christus im Zustand seines Gewands, der der Erschei-

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nung Gottes zum Gericht Jes 63, 1 f. gleicht: getaucht in Blut. Vor allem Kampf mit dem letzten Feind zeigt sich der Reiter bereits als Sieger in der Schlacht. Nicht auszuschließen ist, daß Johannes zumindest auch das Blut assoziieren will, das durch die Schlachtung des Lammes dieses zum Sieger machte, 5, 5 f.9 f., und die ihm Nachfolgenden erlöste (1, 5) und ihre Gewänder rein machte (7, 14), in dem ihr Sieg über den Großen Drachen, den Satan gründet (12, 11). Der auf Mantel und Schenkel/ Hüfte geschriebene Herrschertitel V. 16, der dem Gottesnamen „Allherrscher“ V. 15 korrespondiert, nähert das Bild des Reiters dem einer Statue an und unterstreicht damit die Art der Darstellung, die mehr ein Sein als ein Handeln zum Ausdruck bringen will. Die Frage nach der Vereinbarkeit der Orte der Inschriften an der Figur ist müßig. 17–21 Die Szene wechselt, ein nicht näher identifizierter Engel erscheint im Zenit (vgl. 14, 6) und ruft mit Offenbarungsstimme alle Vögel, die in der Höhe des Himmels fliegen, und lädt sie ein zum großen Mahl, das Gott bereitet. Ihnen zum Fraß vorgeworfen sind nicht nur die Machthaber in der Welt, die Herrscher und ihre aktiven Helfer, sondern alle, Freie wie Knechte, Kleine wie Große (V. 18), die sich Gott und seinen Bekennern, den „Siegern“, an die sich die Sendschreiben mit ihren Verheißungen wendeten, entgegenstellen. Die makabre Szene verdankt sich Ez 39, 17–20 (s. auch 1. Kön 21[20], 23 f. [2. Kön 9, 10]), ist aber demgegenüber gestrafft und geschärft. Der Einladung folgt der Auftritt der gegengöttlichen Macht unter Führung des Tieres mit dem Ziel des Krieges gegen den Ritter Gottes und seine Macht. Ohne jede Andeutung eines Kampfes und seines Ausgangs wird seine Folge geschildert: Das Tier und sein Agitator geraten in Gefangenschaft und werden – lebend! – in den Feuerpfuhl gestürzt, die anderen werden durch das Schwert getötet, das aus dem Mund des Reiters, der „das Wort Gottes“ heißt (V. 13), kommt (V. 15. 21), die geladenen Vögel gesättigt. Damit endet die große Vision von dem Sieg des Lammes aus Juda, des Wurzelsproß Davids, dem als einem „wie geschlachtet“ das Geschick der Welt in die Hand gelegt wurde (5, 5 f.). Sie als Bild der Parusie zu bezeichnen, ist zumindest mißverständlich. Johannes hat ein eigenes Gesicht geschaut, freilich für das gleiche Geschehen, die endliche Überwindung der gegen Gott gewendeten Geschichte.

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Die Bändigung Satans (20, 1–10)

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III 3. 5 Das tausendjährige Reich und sein Ziel (das letzte Gericht) (20, 1–15) III 3. 5. 1 Die Bändigung Satans über das tausendjährige Reich (20, 1–10) 20, 1 Und ich sah einen Engel herabkommen vom Himmel. Der den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in der Hand hatte. 2 Und er packte den Drachen, die alte Schlange, der der Teufel und der Satan ist, und fesselte ihn für 1000 Jahre. 3 Und er warf ihn in den Abgrund und verschloß ihn und brachte auf ihm ein Siegel an, damit er nicht weiter die Völker verführen könnte, bis die 1000 Jahre abgelaufen sind. Danach muß er für eine kurze Frist freigelassen werden. 4 Und ich sah Throne – und man setzte sich darauf, und ihnen wurde Gerichtsvollmacht verliehen – und die Seelen derer, die zu Tode gebracht waren um des Zeugnisses Jesu und des Wortes Gottes willen, und die, die nicht angebetet hatten das Tier, auch nicht sein Bild, und die das Malzeichen nicht entgegengenommen hatten auf ihrer Stirn und auf ihrer Hand: Und sie lebten auf und herrschten mit Christus 1000 Jahre. 5 Die Übrigen der Toten aber lebten nicht auf, bis die 1000 Jahre abgelaufen sind. – Dies ist die erste Auferstehung. 6 Selig und heilig, wer teil hat an der ersten Auferstehung; über sie hat der zweite Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes sein und Christi und sie werden mit ihm 1000 Jahre herrschen. 7 Aber wenn die 1000 Jahre abgelaufen sind, wird der Satan frei werden aus seinem Kerker, 8 und er wird hingehen, um die Völker an den vier Enden der Erde zu verführen, Gog und Magog, um sie zu sammeln zum Krieg; ihre Zahl ist wie der Sand am Meer. 9 Und sie zogen hinauf auf die Plattform der Erde und schlossen das Lager der Heiligen ein und die geliebte Stadt. Aber Feuer fiel vom Himmel und verzehrte sie. 10 Und der Teufel, der sie verführte, wurde in den Pfuhl des Feuers und Schwefels gestürzt, wo schon das Tier und der Pseudoprophet waren. Und sie erlitten Tag und Nacht Qual für immer und ewig. Vernichtung ist indessen nicht das Ende des Weges Gottes mit seiner Welt. Ein seltsamer, in seiner literarischen und sachlichen Bedeutung besonders umstrittener Text, 20, 1–10, schließt sich an die Vision vom Untergang der Weltmächte an. Er handelt von der tausendjährigen Fesselung des Drachens, des Satans, der tausendjährigen priesterlichen Herrschaft der auferweckten Bekenner Christi, dem letzten Ausbruch der satanischen Gewalt gegen das Volk Gottes und dem end-gültigen Gericht über den „Teufel“, den Verführer, und seinen Agitator. Nach der Dauer von 1000 Jahren wird dieser Teil der Endgeschichte, der so in der Bibel und ihrem Umfeld nur in Offb begegnet oder in von ihr ab-

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

gängigen Zeugnissen, „Millennium“ genannt. Um den historischen und sachlichen Charakter des Millenniums ist alsbald und durch die ganze Kirchengeschichte hindurch bis heute eine heftige Auseinandersetzung entbrannt mit z. T. tiefgreifenden Einflüssen auf die theologische Deutung und auch praktische Bewältigung der Geschichte. Eine Kernfrage dabei ist die nach dem Ort seiner Verwirklichung, ob noch im Rahmen der ihrer Vollendung erst entgegengehenden Geschichte oder – gleichsam in einer Zwischenzeit – erst nach deren Ende mit der Wiederkunft Christi zum Gericht, vor der Herabkunft des Neuen Jerusalem. Die kirchengeschichtlich besonders bedeutsame und folgenreiche Interpretation des Millenniums als Zeit der Geschichte dieser Welt, sei es als Zeit der Kirche insgesamt, sei es als ihre – möglicherweise erst kommende – letzte Epoche, begegnet alsbald, seit dem 2. Jh. n. Chr. Entscheidend (um)geprägt durch Augustins Bezug auf die Geschichte der Kirche, wonach die Taufe das Datum der „ersten Auferstehung“ (V. 6) ist, hat sie lange das theologische Verständnis bestimmt. Doch ist die Erkenntnis, daß der „Chiliasmus“ der Offb den Anbruch der eschatologisch radikal Neuen Welt im Blick hat, nie ganz verloren gegangen, auch wenn sie sich vorzüglich in sozialrevolutionären Erwartungen Ausdruck verschaffte. Die „großen“ Kirchen haben solchen Versuchungen der Vergeschichtlichung eschatologischer Erwartungen – zu recht – widerstanden. Die Vorstellung von einem zeitlich begrenzten messianischen Zwischenreich ist in der frühen jüdisch-christlichen Überlieferung zwar nicht gänzlich analogielos, hat aber doch eine völlige Randstellung. Im Neuen Testament ist sie sonst nicht bezeugt (entgegen gelegentlicher Verweise auf 1. Kor 15, 23 f.). Im Frühjudentum ist ausdrücklich erst in dem Offb etwa gleichzeitigen Text 4Esr 7, 28 f. (s. auch 13, 32 ff.) davon die Rede (kaum bereits 1Hen 93[3-]10; 91, 11–17). Doch ist der Unterschied zu unserem Text erheblich: Das „Zwischenreich“ gehört offensichtlich noch ganz der Zeit der Geschichte an, ist auf 400 (statt 1000) Jahre begrenzt und endet mit dem Tod des Messias und dem Versinken der ganzen Welt „in das einstige Schweigen sieben Tage lang“ (4Esr 7, 30), dem das Gericht folgt. Man darf vermuten, daß die Vorstellung vom „Zwischenreich“ dazu diente, zwei fundamental divergierende Endzeiterwartungen miteinander zu verbinden, eine „ältere“, nach der das Endheil sich als heilsame Fortsetzung der innerweltlichen Geschichte verwirklicht, und eine andere „moderne“, die es durch den Abbruch der Geschichte und die Ankunft der Welt Gottes als die einzige Wirklichkeit des Lebens erwartet. Die Offb integriert solche Erwartung freilich nur in durch die „biblische“ Vorgabe des EzechielBuches gleichsam prophetisch legitimierter Form. Ez 37. 40–48 ist offenbar die Vorgabe für den Rahmen der Endereignisse, freilich ohne sklavische Bindung und inhaltlich gestrafft, vor allem neu gedeutet unter Einbeziehung auch anderer prophetischer Texte und Traditionen. Das gilt

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Die Bändigung Satans (20, 1–10)

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besonders für die Einfügung der Szene 20, 11–15 in den Lauf der Ereignisse nach der Ansage durch Ezechiel. Dadurch schafft sich Johannes den endgültigen Übergang von der Geschichte dieser Welt, die mit dem Gericht über ihre Widergöttlichkeit, dem zweiten Tod (V. 14; 21, 8; s. a. 20, 6; 2, 11; eine zweite Auferstehung wird nicht erwähnt!), ihr definitives Ende findet, zum Hereinbruch des Neuen Jerusalem, der Welt Gottes. Wir begegnen damit einem eindrücklichen Beispiel des Umgangs der Offb mit dem prophetischen Erbe in Bindung und Freiheit – zugleich im Dienst der Gewißheit angesichts der eigenen Erfahrung der Geschichte, ihres Sinns und ihres Ziels. Der seit der Geburt des Kindes zwar aus dem Himmel gestürzte 1–3 (12, 9–11), aber erst durch den Reiter auf dem weißen Pferd aus der Welt vertriebene (19, 19–21) „Drache, die alte Schlange, die der Teufel ist, der Satan“, wird durch einen Engel, der die (Schlüssel-)Gewalt über den Abgrund innehat, in diesen gestürzt, gefesselt für 1000 Jahre. Danach muß er noch einmal frei werden, allerdings nur für eine kurze Zeit (20, 1–3). Die Herkunft und genaue Bedeutung der Zeitangabe „1000 Jahre“ ist ungewiß. Es gibt in Religionen unterschiedlicher Art mannigfache diesbezügliche Spekulationen, die mit der Einteilung der Geschichte in tausendjährige Weltepochen zusammenhängen; für das Umfeld der Offb liegt ein Hinweis auf eine siebenfache Gliederung von je 1000 Jahren nahe, wie sie Barn 15, 4 f. (mit Bezug auf Gen 2, 2 f.; Ps 90, 4) bezeugt. Aus Offb ergibt sich das freilich nicht. Für die Rezipienten der Offb mag es sich um einen langen Zeitraum handeln, für die Geschichte Gottes hingegen nicht (vgl. 2. Petr 3, 8). Der ausdrückliche Hinweis auf die Begrenzung der Zeit macht deutlich, daß auch mit dem „tausendjährigen Reich“ noch nicht das end-gültige Ende des Widergottes erlangt ist. Wohl aber ist ein Raum für die Herrschaft der treuen Bekenner Jesu gemeinsam mit ihm geöffnet. Davon handelt V. 4–6. Wo er seinen Ort hat, ist – vielleicht bewußt – 4–6 offen. Johannes sieht in einer sich erst entfaltenden Szene Throne, die sich darauf Setzenden und die Übertragung von „Gericht“ an sie. Die Bedeutung von „Gericht“ ist umstritten; wahrscheinlich ist, entsprechend alttestamentlich-jüdischer Sprache (s. die „Richter“ im „Richter“-Buch des AT), an Herrschaftsübertragung gedacht (s. Dan 7, 22. 26 f.; Weish 3, 8; auch Mt 19, 28 par.), freilich „nur“ als Prädikat der Erhöhung. Es sind die Märtyrer und standhaften Bekenner, die sich nicht an die Mächte dieser Welt als ihre Götter ausgeliefert haben; sie werden empfangen, was sie geglaubt und erhofft haben, Leben und Teilhabe am Reich Christi. Die Zeitangabe dafür (V. 4 und 6) will nicht begrenzen, vielmehr die Sonderstellung der Getreuen Gottes betonen. Sie wird alsbald noch einmal eigens hervorgehoben, zunächst mit Blick auf die übrige Menschheit, die über die tausendjährige Zwischenzeit hinweg bis zur Auferstehung zum Gericht, von dem V. 11–15 handelt, tot bleiben wird. Die Throngenossen Christi

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

haben teil an der ersten Auferstehung, die heiles Leben verleiht, das nicht mehr durch den zweiten Tod, der unaufhebbar sein wird (s. 21, 8), begrenzt ist. V. 6 unterbricht den Visions-Text mit einem Makarismus (dem fünften von insgesamt sieben), der singulär erweitert ist durch das Prädikat „heilig“, das auf die Besonderheit der Angesprochenen als die bereits Erhöhten Bezug nimmt; der Leser/ Hörer wird der Verheißung versichert, die bereits 1, 6; 5, 10 ihm zusprach (vgl. dazu auch Jes 61, 6). Die (scheinbare) Begrenzung auf (die) 1000 Jahre wird aufgefangen durch die ausdrückliche Zusage, daß der zweite Tod, der die Hoffnung auf Leben end-gültig begräbt, sie nicht bedroht. 22, 5 wird die Zusage auf Mitherrschaft der Gottesdiener in aller Ewigkeit die Vision vom Neuen Jerusalem beschließen! 7–8 Doch zunächst bricht nach Ablauf der tausend Jahre der Sturm noch einmal los. Johannes berichtet von ihm nicht als von einer Vision, sondern referiert das Ereignis. Vorgebildet ist es Ez 38 f., nach der „Auferstehung“ der Toten (Ez 37), vor dem Erscheinen des Neuen Tempels. Die Abhängigkeit von Ezechiel ist evident; dieser Eindruck wird noch unterstrichen durch die Verbindung der eschatologischen Ereignisse mit den Namen Gog und Magog, auch wenn sie in veränderter Funktion auftreten. Bei Ezechiel ist Gog der König von Magog, der „am Ende der Jahre“ gegen das in Israel gesammelte Volk (Ez 38, 8) mit seinen Heerscharen in den Kampf ziehen wird. Die derart prophetisch legitimierten Traditionen haben sich in eschatologisch-apokalyptischen Spekulationen auch sonst niedergeschlagen, ebenso wie hier in mythologisch verdichteter Gestalt (vgl. 3Hen 45, 5, auch Sib 3, 319 f.512). Auch in Offb handelt es sich nicht um eine letzte Schlacht der irdischen Geschichte (vgl. dazu Offb 19, 17–21), sondern um den Endkampf der Mächte, die der Welt zwischen Mensch und Gott angehören und die aus den vier Ecken der Welt (s. 7, 1) hervorbrechen. Versuche der historischen Verifikation sind daher nicht nur (wie auch meist sonst) vergeblich, sondern grundsätzlich verfehlt. 9–10 Das gilt entsprechend auch für die „geliebte Stadt“ als den Ort des „Lagers der Heiligen“; zwar ist damit auf Jerusalem angespielt (vgl. Sir 24, 11), der Ort aber gerade nicht topographisch identifiziert. Der letzte, dämonische Angriff der Gottesfeinde richtet sich gegen die Gottesbekenner, über die der zweite Tod keine Macht mehr hat (V. 4–6), wo auch immer sie sich befinden. Lapidar ist das Ende dieses letzten Gefechts: Wie auf Gog aus Magog (Ez 38, 22; 39, 6), wie auf die Häscher des Elija (2. Kön 1, 10–12), wie es die Zebedaiden erwägen für die Jesus abweisenden Samaritaner (Lk 9, 54), so fällt Feuer vom Himmel und verzehrt sie! Der endzeitlich entfesselte Teufel aber, der sie zum Endkampf verführt, wird nun end-gültig, für ewig, der Vernichtung anheimgegeben, die schon das Tier und seinen die Lüge verkörpernden Propheten verschlungen hatte, damit sie unendlich ihr Scheitern qualvoll erleiden (19, 20). Anders als mit Blick auf die

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Das Gericht über die Welt (20, 11–15)

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tausendjährige Fesselung des Drachens ein Engel (V. 1–3) wird für die Entfesselung und letztgültige Ausschaltung des Drachens (V. 7 ff.) ein Handelnder nur im Passiv (und damit eben gerade nicht) namhaft gemacht. Dahinter verbirgt sich jedenfalls Gott; ob er sich eines Agenten bedient, bleibt offen – möglicherweise absichtlich. III 3. 5. 2 [Das Gericht über die Welt] (20, 11–15) 11 Und ich sah einen großen, weißen Thron und den, der auf ihm thronte. Vor seinem Angesicht entwich die Erde und der Himmel und kein Ort fand sich für sie. 12 Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch wurde geöffnet, das ist das des Lebens; und die Toten wurden gerichtet nach dem, was geschrieben steht in den Büchern entsprechend ihren Werken. 13 Und das Meer gab die Toten, die sich in ihm befanden, heraus, und der Tod und der Hades gaben die Toten her, die in ihrer Macht waren, und sie wurden nach ihren Werken gerichtet. 14 Und der Tod und der Hades wurden in den Feuerpfuhl gestürzt. Das ist der zweite Tod, der Feuerpfuhl. 15 Und wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet gefunden wird, wird in den Feuerpfuhl gestürzt! Offen wird der auf dem richterlichen Herrschaftsthron sitzende Gott in 11 V. 11 benannt als der, der das Gericht über die Welt vollzieht, die sich in der Gestalt der Menschen konstituiert. Auf sie als ihren für den Bezug zu ihrem Schöpfer allein verantwortlichen Kern ist sie reduziert, ihre gleichsam materielle Gestalt, Erde und Himmel, sind in der Ortlosigkeit verflüchtigt. Alle Menschen, die je gelebt haben (V. 13) und nicht schon durch die 12 „erste Auferstehung“ an der tausendjährigen Herrschaft des Christus teilhatten (V. 4–6), stehen vor dem Thron und empfangen das ihnen bestimmte Gericht. Ihre Auferstehung ist nur implizit vorausgesetzt (V. 6. 13). Gemäß der atl.-jüd. Erwartung ergeht das Urteil aufgrund himmlischer Bücher (s. Dan 7, 10; Jes 65, 6; 4Esr 6, 20), nämlich dem Buch des Lebens (s. 3, 5 u. ö. – Dan 12, 1), das die verzeichnet, die nicht zu den „Toten“ gehören (s. V. 6) und die von dem Thronenden das Urteil, das sie richtet, empfangen, und der Bücher, in denen die Taten derer belegt sind, die dem zweiten Tod verfallen sind. V. 12 präsentiert ein erstes Bild des Gerichts insgesamt, die V. 13–15 ent- 13–15 falten einige seiner fundamentalen Aspekte. In welchem Bereich auch immer sich die Toten befinden, im unheimlich-unberechenbaren Meer oder in der Gewalt des Todesreiches der Unterwelt, sie werden dem gerechten Gericht ausgeliefert, das sie sich selbst zubereitet haben. So radikal ist das

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

Gericht, daß die Todesmächte selbst ihm verfallen und wie die Gerichteten alle dem ewigen Verderben anheim gegeben werden. Wie es scheint, denkt Johannes nicht an eine Annihilation derjenigen, die des (ewigen) Lebens nicht teilhaftig werden (s. schon V. 10 sowie 21, 8), sondern daran, daß sie für immer durch ihre Verurteilung bestimmt bleiben. Freilich ist kaum zu entscheiden, wieweit er sich alle Dimensionen seiner Darstellung bewußt gemacht hat, oder aber (nur) seiner Tradition gefolgt ist; die kurze, sehr komprimiert-kompromißlose Darstellung des Gerichts über die, die Gottes Welt sich nicht anvertrauten, schließt die Präsentation der Geschichte der Welt ab, die von ihrem Anfang an gewisse, grenzenlose Aufhebung in der Welt Gottes wird universale Wirklichkeit. Das endlich ist das Thema der folgenden Offenbarungen.

III 4. Die neue, heile Welt Gottes (21, 1–22, 5) III 4. 1 21, 1–8: Der Anbruch des Neuen unter dem Wort Gottes 21, 1 Und ich sah einen Neuen Himmel und eine Neue Erde. Denn der Erste Himmel und die Erste Erde sind vergangen, und das Meer gibt es nicht mehr. 2 Und die Heilige Stadt „Das Neue Jerusalem“ sah ich aus dem Himmel herabkommen von Gott, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut. 3 Und ich hörte eine mächtige Stimme vom Thron, die sprach: Siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen; und er wird wohnen bei ihnen, und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott. 4 Und er wird jede Träne aus ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, weder Klagen noch Geschrei noch Mühsal wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und es sprach der auf dem Thron Thronende: Siehe, ich mache alles neu! Und er sagte: Schreib! Denn diese Worte sind verläßlich und wahr. 6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen! Ich bin das Alpha und das O, der Ursprung und das Ziel. Ich werde dem Dürstenden austeilen aus der Quelle des Lebenswassers – umsonst! 7 Der Überwinder wird Erbe von diesen Dingen und ich werde ihm Gott sein und er soll mein Sohn sein. 8 Den Feigen aber und den Ungläubigen und den Gottesschändern und Mördern und Hurern und Zauberern und Götzendienern und allen Lügnern wird ihr Los zufallen in dem in Feuer und Schwefel brennenden Pfuhl. Das ist der zweite Tod! 1 Eine total neue Schau enthüllt sich 21, 1–8. Der radikale Neubeginn zeigt sich daran, daß kein vermittelnder Vorgang, sei er personaler oder lokaler Art, den Blick des Sehers lenkt. Wie aus dem Nichts erscheint ein neuer

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21, 1–8: Der Anbruch des Neuen unter dem Wort Gottes

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Himmel und eine neue Erde, die Erde wird nicht mehr der Bedrohung durch den Ort des Ungeheuers, des Meeres (s. 13, 1), ausgesetzt sein (vgl. auch TestLevi 4, 1; AssMos [= TestMos] 10, 6). Das Erscheinen der Heiligen Stadt, des Neuen Jerusalem entfaltet das 2 Bild, das (V. 1) zunächst das Sein des Neuen – die Neue Welt, die an die Stelle der Vergangenheit tritt (s. Jes 65, 17–20) – offenbarte: Die wie für ihren Mann geschmückte Braut ist die Neue Welt, die nicht nur ein Teil ihres Inventars ist, sonder sie selbst. Sie kommt herab von Gott, er ist der Himmel der Neuen Welt, die daher der Sonne und des Mondes nicht bedarf. Denn das ist für sie Gott selbst (und das Lamm, wie 21, 23 theologisch bedeutsam sagt). Wie auch sonst darf die Logik der Gesichte nicht überdehnt werden; das verbietet bereits ihre poetische Art (deren Charakter freilich auch nicht psychopathologisch erschlossen werden will). So darf weder die Vorstellung einer Neuschöpfung ex nihilo eingetragen werden, noch kann sinnvoll nach der speziellen gleichsam materiellen Art der Beziehung zwischen der vergangenen Welt und der neuen Welt gefragt werden. Man wird es bei dem Gedanken an eine von Gott gewirkte Neuschöpfung bewenden lassen müssen, in der die Identität der Schöpfung erhalten und zugleich total erneuert ist und damit die Aussage 4, 11 aufgenommen und endzeitlich erfüllt ist. Die Einladung zur Hochzeit 19, 7 f. wird nicht in der Vision solchen Geschehens verwirklicht (durchaus so ganz realistisch verstanden, wie die Geschichte der Alten Kirche wenigstens für [gnostische] Randgruppen alsbald zeigen wird), das Gesicht bleibt vielmehr auf der Bildebene: Das Neue Jerusalem ist wie eine für ihren Mann geschmückte Braut (s. a. 21, 9!). Vor einer Darstellung der Stadt, die sich vom Himmel herabsenkt und 3–4 den Raum der Neuen Erde füllt, wie sie mit auch gegenüber vergleichbaren Texten ungewöhnlicher Ausführlichkeit in starken Farben ab V. 11 (bis 22, 6) erfolgt, erschließt zunächst eine starke Stimme vom Thron (Gottes) her die Wirklichkeit dieses Ortes für die, die auf ihn hoffen. So wird von vornherein jedem realistisch-märchenhaften (Miß-)Verständnis der Vision gewehrt und statt dessen der hermeneutische Schlüssel zu ihrem metaphorischen Charakter dem Rezipienten in die Hand gelegt. Die Frage nach dem Sprecher der „starken Stimme“ ist unangemessen, es handelt sich gerade nicht um eine wie auch immer geartete individuelle Erklärung (die der Diskussion offen wäre), sondern um Offenbarung des Wesens der eschatologischen Existenz, s. 22, 6. Auch sie bedient sich der Metapher, die Stadt wird zum Zelt, dem „Zelt Gottes“ (s. 13, 6; Hebr 8, 2), dem Ort der Gegenwart Gottes in seinem Volk (s. Ez 37, 27; Lev 26, 11 f.; Sach 2, 10 f.[14 f.]). Die Wahl gerade dieser Metapher, die die Erinnerung an die Wüstenzeit Israels aufruft, weist auf den endzeitlichen Charakter der Verbindung Gottes mit den Menschen und löst sie von jeder geschicht-

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Die Offenbarung der Wahrheit der Geschichte (4, 1–22, 5)

lich-lokalen Bindung; die Welt ist nicht mehr der Freiheit ausgesetzt, Welt des Gegengottes zu sein, sie ist Welt Gottes, zu der Gott steht. Er wird, wie es die Schrift zusagt (Jes 25, 8; s. schon Offb 7, 17), alles Leid der Geschichte tilgen, was es auch sei. Leid und Tod gehören der Welt an, die vergangen ist – und zwar radikal. Gedacht ist dabei freilich nicht an die Welt, wie Gott sie schuf (4, 11), sondern an die geschichtlich erfahrene („postlapsarische“) Welt. 5 Mit V. 5 nimmt der „Thronende“ selbst das Wort, das erste und einzige Mal nach 1, 8. Der Bezug auf 1, 8 wird hervorgehoben durch die Selbstprädikation V. 6! Gott wird für das All wieder unangefochten das, was er ist, das Alpha und das O, der Ursprung und das Ziel der Welt. So verweist er zuvörderst auf sein end-gültiges Handeln: Ich mache alles neu (s. Jes 43, 19). Dabei hat jedes Wort Gewicht und radikale Geltung (s. 2. Kor 5,[14-]17, freilich nicht streng eschatologisch). Gott ist auch hinsichtlich des Endes der Geschichte der (alleinige) Schöpfer, schlechthin alles ist betroffen und alles wird neu. Es geht nicht um Restitution, eher um Rekonstruktion; der totale Abbruch der Vergangenheit (V. 4 fin) und die bedingungslose Neuheit wird über die Begriffe „alt“ und „neu“ miteinander verbunden; denn sie bewahren – gleichsam paradox – das Element der Identität. Die Frage, worin sie besteht, läuft in das Leere; stellt man sie gleichwohl, wird man auf Gott selbst als den Schöpfer verwiesen. Die Zukunft, die so vergegenwärtigt wird, ist von verläßlicher Wirklichkeit, Gott selbst hat sie schriftlich zu fixieren in Auftrag gegeben (ebenso wie die prophetischen Verheißungen der Schrift!): „Schreibe!“ (V. 5). 6 V. 6 befestigt diese Wirklichkeit, indem sie sie der Relativität der Zeiterfahrung entzieht: Die Neuschöpfung des Alls ist bereits geschehen, bei Gott. Dadurch erst bekommt das auffällige „umsonst“ (theologisch vergleichbar im Neuen Testament nur 22, 17 und Röm 3, 24) seine Begründung: Es ist Gottes Gottheit, die ihn den Grund des Heils sein läßt (nicht das eigene Tun seiner Schöpfung, der Welt). Gegenstand des „es ist geschehen“ ist das All, das der Thronende neu macht (V. 5); er vermag es, denn er ist der das Sein Übergreifende (vgl. zur Prädikation 1, 8, aber auch 22, 13!). Die in der Welt, in und aus der der Text spricht, besonders eindrückliche Metapher „(Lebens-)Wasser“ (s. Joh 4, 10–14, wohl beruhend auf paralleler Tradition) lehnt sich hier direkt an Jes 55, 1 an; christologisch bezogen schon 7, 17, endgeschichtlich verortet 22, 1 (s. Ez 47, 1–12 sowie Gen 2, 10). In offenbarer Aufnahme der Überwindersprüche der Sendschreiben 7 (2, 7 usw.) sagt der Thronende das Erbe der Zukunft dem zu, der sich im Kampf der Welt gegen Gott als Sieger erwiesen hat; die vorlaufende Geschichte des Menschen in der Welt ist – trotz V. 6 – nicht ein Nichts, sondern entfaltet auch in der Neuen Welt ihr Gewicht. Gottes Gottheit hat sich behauptet, der Bund mit seinem Volk hat Bestand, der Überwinder die Gotteskindschaft endgültig erlangt. Der zugrundeliegenden

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Das Gesicht des Neuen Jerusalem (21, 9–22, 5)

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(Natan-)Verheißung 2. Sam 7, 14 gegenüber ist statt von „Vater“ von „Gott“ geredet; „Vater“ ist für Offb Gott ausschließlich mit Bezug auf Christus (s. u. a. 1, 6; 3, 5; 14, 1); der Überwinder ist gleichwohl „Sohn/ Kind Gottes“! Gleichsam als Kontrast zur end-gültigen Wirklichkeit der Neuen Welt 8 Jerusalem tritt noch einmal ihre Negation in das Gesichtsfeld, der Höllenpfuhl des zweiten Todes (s. 19, 20; 20, 10). Das hat gewiß auch eine paränetische Dimension, vorzüglich aber dürfte es darum gehen, die ganze Wahrheit von Geschichte und Welt selbst im Angesicht des Neuen Himmels und der Neuen Erde bewußt zu halten. Es gibt verfehltes Leben, eine in der, in jeder Geschichte für alle Zeiten wirksame Bedrohung des Daseins. Man kann solche Gewißheit Rigorismus nennen, kann sie aber auch als wahr akzeptieren. Die Antipoden der „Sieger“ werden in der traditionellen Gattung des Lasterkatalogs (s. 9, 20 f.; 22, 15; vgl. Röm 1, 29. 31; 1. Kor 6, 9 f.; 2. Tim 4, 2–5; s. a. 1QS 4, 9–11 u. a.) benannt. Sie sind im Einzelnen wegen dieses traditionellen Charakters der Aufzählung nur schwer historisch-konkret zu bestimmen, zumal Einfluß des Dekalogs (s. Röm 13, 9; Mk 7, 21) vorauszusetzen ist. Bemerkenswert ist hier wie auch 22, 15 (und 21, 27), daß in der Lüge das verderbliche Tun zusammengefaßt erscheint (vgl. antithetisch 14, 5); es stellt sich gegen die Wahrheit, die Wirklichkeit Gottes – nicht (nur) in der Rede, sondern in der Verwirklichung des eigenen Lebens. III 4. 2 Das Gesicht des Neuen Jerusalem (21, 9–22, 5) 9 Und es trat herzu einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen halten, gefüllt mit den sieben letzten Plagen, und redete mit mir so: Komm, ich werde dir die Braut, die Frau des Lammes zeigen. 10 Und er entrückte mich im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die Heilige Stadt Jerusalem, die aus dem Himmel von Gott herabkommt, 11 die die Herrlichkeit Gottes hat. Ihr Glanz ist einem edelsten Stein gleich, wie ein kristallglänzender Jaspis-Stein. 12 Sie hat eine große und hohe Mauer, sie hat zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel, und Namen sind angeschrieben – das sind die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels; 13 im Osten drei Tore und im Norden drei Tore und im Süden drei Tore und im Westen drei Tore. 14 Und die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine und auf ihnen zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes. 15 Und der mit mir Redende hatte ein goldenes Meßrohr, damit er die Stadt und ihre Tore und ihre Mauer vermesse. 16 Und die Stadt ist viereckig angelegt, und ihre Länge ist so groß wie ihre Breite, und er vermaß die Stadt mit dem Rohr auf 12 000 Stadien, die Länge und die Breite und

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(auch) ihre Höhe ist gleich. 17 Und er maß ihre Mauer auf 144 Ellen – nach menschlichem Maß, das ist das der Engel. 18 Und der Unterbau ihrer Mauer ist Jaspis, und die Stadt ist reines Gold, gleich reinem Salz. 19 Die Grundsteine der Stadtmauer sind mit jeglichen Edelsteinen geziert: Der erste Grundstein ist ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, 20 der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Karneol, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. 21 Und die zwölf Tore sind zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer Perle und die Straßen der Stadt aus reinem Gold, wie durchscheinendes Glas. 22 Einen Tempel aber sah ich nicht in ihr; denn Gott der Herr, der Allmächtige, ist ihr Tempel und das Lamm. 23 Und die Stadt bedarf nicht der Sonne und auch nicht des Mondes, damit sie erhellt sein würde. Die Herrlichkeit Gottes erhellt sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. 24 Und die Völker werden in ihrem Licht wandeln, und die Könige der Erde tragen ihren Glanz zu ihr. 25 Und ihre Tore werden tags nicht verschlossen; Nacht indessen gibt es dort nicht. 26 Und man trägt den Glanz und die Schätze der Völker zu ihr. 27 Nichts Unreines aber wird in sie kommen, auch kein Täter von Greuel und Lüge; ausschließlich die, die aufgeschrieben sind im Lebensbuch des Lammes. 22, 1 Und er zeigte mir einen Strom von Lebenswasser klar wie Kristall, der ausging von dem Thron Gottes und des Lammes. 2 In der Mitte ihrer Straße und des Stroms, diesseits und jenseits, ist das Holz des Lebens, das zwölf Früchte hervorbringt, jeden Monat seine Frucht hergibt und die Blätter des Holzes dienen der Heilung der Völker. 3 Und kein Fluch wird ferner sein. Und der Thron Gottes und des Lammes wird in ihr sein und seine Knechte werden ihm dienen. 4 Und sie werden sein Angesicht schauen und sein Name ist auf ihrer Stirn. 5 Und es gibt fernerhin keine Nacht und sie bedürfen nicht des Lichtes der Leuchte und des Scheins der Sonne; denn Gott der Herr leuchtet über ihnen und sie werden herrschen in alle Ewigkeit. Dem Erscheinen der Neuen Welt und der vorlaufenden Benennung ihres Wesens folgt nun die Präsentation der Heiligen Stadt, Jerusalems, die aus dem Himmel von Gott herabkommt. Die Darstellung des Neuen Jerusalem ist entscheidend und bis in Details beeinflußt durch die Vision Ez 40–48, wie auch ihr literarischer Ort in der Offb davon beeinflußt ist. Entsprechend der Verwendung seiner alttestamentlichen Vorgaben durch Johannes ist diese auch hier charakteristisch neu gestaltet; besonders wichtig ist, daß er statt – wie Ezechiel – eines Tempels eine Stadt, „die hei-

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Das Gesicht des Neuen Jerusalem (21, 9–22, 5)

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lige Stadt Jerusalem“, schaut. Ein Tempel ist in ihr gerade nicht sichtbar, Gott selbst und das Lamm sind ihr Tempel (21, 22). Allerdings hat die Stadt selbst Züge eines Tempels durch ihre Gestalt als die eines (riesigen) Kubus von gleicher Länge, Breite und Höhe, 21, 16, wie andererseits der neue Tempel bei Ezechiel Züge einer Stadt aufweist (s. Ez 40, 2, sowie ab Ez 45). Dadurch, wie freilich noch weit intensiver durch die Einzelzüge, die die Möglichkeiten einer realistischen Vergegenwärtigung eines empirischen Ortes radikal ausschließen, wird der metaphorische Charakter der Schilderung unübersehbar deutlich. Man darf daher von Einzelzügen her (wie die Unterscheidung der Stadt von ihren Bewohnern [z. B. 21, 7. 24–27, auch 3, 12; 14, 1]) nicht die vom Seher intendierte Identität des Neuen Jerusalem mit der endzeitlichen Gemeinde Gottes und des Lammes in Frage stellen. Gerade erst, 20, 9, war von der „geliebten Stadt“ als dem von Satan endzeitlich belagerten Lager der Heiligen die Rede, das ist – metaphorisch kenntlich gemacht – die allerdings nicht namentlich Jerusalem genannte (s. auch 11, 8) Gottesgemeinde. In ähnlicher Ausprägung begegnet die Identifikation von himmlischem „oberen“ Jerusalem und christlicher Gemeinde übrigens bei Paulus Gal 4, 26 (vgl. zum [jüdischen] Hintergrund 1QH 6[neu: 14], 25–31; s. weiter Hebr 11, 10). Nun erscheint sie in eschatologischer Herrlichkeit als die heilige Stadt, das Neue Jerusalem, die als Braut (der Frau des Lammes, V. 9) mit Gott und Christus untrennbar verbunden ist (die „geliebte Stadt“, 20, 9; vgl. 1, 5; 3, 9). Das Ganz-Andere der zukünftigen Welt tritt grell ins Licht, zugleich wird aber die folgende Darstellung auch mit dem gesamten Text der Offb verklammert. Sie setzt insgesamt mit ihrem Bild vom Neuen Jerusalem die Erwartung Ez 40 ff. voraus, ist aber deutlich durch Elemente antiker utopischer Erwartungen erweitert (s. z. B. Lukian, Ver. Hist. 2, 11–13). Grundlegend ist freilich die (alttestamentlich-)jüdische Erwartung eines endzeitlichen Tempels in Jerusalem, wieder indessen der besonderen Konzeption der Offb eingepaßt durch die Verwandlung der Tempel-Metapher in die der Stadt (vgl. auch 4Esr 13, 36). Denn eines Tempels bedarf es in der Vollendung nicht, Gott selbst und das Lamm sind als das Allerheiligste in der Heilsgemeinde gegenwärtig, die nun der Ort seiner/ihrer Anwesenheit ist (anstelle eines architektonischen Gebildes von Menschenhand). So ist die Erscheinung der eschatologischen Heilsstätte denn auch nur „im Geist“, pneumatisch erfahrbar am Ort der Offenbarung, einem gewaltigen, hohen Berg (vgl. Mt 4, 8; 28, 16; Mk 9, 2). Die Stadt „hat“ die „Herrlichkeit Gottes“ (s. 15, 8 sowie 21, 23), denn in ihr stellt sich end-gültig Gott dar – wie zur Zeit der Geschichte im Allerheiligsten des Tempels. In signifikanter Nähe zu 17, 1–5 wird die Schilderung eingeführt. Wie 9–10 dort ist einer der sieben Schalenengel der Führer des Apokalyptikers, wie dort so auch hier eine Stadt in der Gestalt einer Frau, wie dort so auch hier ist sie definiert über ihre Verbindung mit dem, zu dem sie gehört. Freilich

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stehen sich beide radikal unterschieden gegenüber, dort die Dirne der widergöttlichen Menschheit, hier die bräutliche Frau des Lammes (s. 19, 7). 11 Das Wesen der eschatologischen Heilszeit ist die identifikatorische Kommunikation Gottes mit der Welt. So erstrahlt das himmlische Jerusalem Gott gleich (4, 3!) wie ein kristallklarer Jaspis. Die Entfaltung dieser von ihrem Wesen (auch im Sinne ihres Autors und seiner Rezipienten) her unbeschreiblichen Wirklichkeit der kommenden Welt will nicht anders als metaphorisch begriffen werden, jeder Versuch, sie als Beschreibung materieller Gegebenheiten verstehen zu wollen, muß fehlgehen. Das ergibt sich bereits fundamental aus dem traditionsgeschichtlichen Zusammenhang derartiger Schilderungen der himmlischen Stadt mit der Astrologie, selbst wenn solche Herkunft dem aktuellen Autor kaum oder gar nicht mehr bewußt ist, jedenfalls nicht sein Verständnis bestimmt. Bereits von der Quelle her handelt es sich um metaphorisches Reden; das wußten die durchaus, die sich seiner bedienten! Es ergibt sich freilich auch aus der Schilderung selbst, die als in sich konsistente materiale Wirklichkeit schlechthin unvorstellbar ist, nicht nur hinsichtlich der gigantisch-bizarren Maße ihrer (kubischen) Gestalt, V. 15–17. 12–14 Die Zwölfzahl dominiert die Darstellung. Zwölf Engel bewachen die zwölf Tore der Stadt, die die Namen der zwölf Stämme des Volkes Israel tragen (s. Ez 48, 30–34 [mit namentlicher Nennung der Stämme]). Das dürfte ein bewußter metaphorischer Hinweis darauf sein, daß der Zugang zur eschatologischen Heilsgemeinde durch das Gottesvolk des alten Bundes ermöglicht ist, durch das Lamm (V. 22 f.), das der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids ist (5, 5; 22, 16). Den tragenden Grund der die Stadt de-fin-ierenden Mauer aber bilden die zwölf Fundamente, auf denen die zwölf Namen der zwölf Apostel stehen (vgl. Eph 2, 20; „fundamentaler“ 1. Kor 3, 10–12). Johannes kennt mithin – neben den gleichsam „freien“ Aposteln 2, 2 (vgl. Did 11, 3–5) – die durch Jesus berufenen und beauftragten Zwölf Apostel (Mt 10, 2 [Mk 3, 14 sowie 6, 30]; Lk 6, 13; Did Inscriptio) und versteht ihre Christus-Botschaft als das Fundament der Heilsgemeinde. Nach seinem Selbstverständnis jedenfalls begreift er sich und die Rezipienten seiner Botschaft als der einen universalen Gemeinde Christi, des Lammes, zugehörig, nicht als Außenseiter! Die Maße der Himmelsstadt, die sich dem Schalenengel, der als angelus 15–17 interpres (Deuteengel) fungiert (V. 9), verdanken (s. Ez 40, 5; auch Sach 2, 5 f.), sprengen nach dem merkwürdigen Zwischenstück V. 15–17 alles Vorstellbare; die Kanten sind jeweils ca. 2400 Kilometer lang (nach den Qumranfragmenten über das Neue Jerusalem betragen die Maße der Stadt etwa 15 mal 21 km). Die Maße werden V. 17 b ausdrücklich „menschliche“ genannt, die indessen mit „engelischen“ gleichgesetzt werden. Damit mag die imaginäre Angabe doch an die Realität gebunden werden sollen. Die Stadt erscheint wie ein gigantischer Kubus, allerdings in der vollendeten Gestalt,

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die der Architektur von Tempelheiligtümern entspricht (s. 1. Kön 6, 20). Das Maß der (nach V. 12 a „großen und hohen“!) Mauern freilich ist denen der Stadt gegenüber überraschend gering, V. 17 (144 Ellen = ~70 m). Die Zahl 144 (= 12 × 12; s. 7, 4; 14, 1. 3) läßt an symbolische Bedeutung denken, die darüber dann sich auch für das Verständnis der 12 000 Stadien der Kanten des Kubus nahelegen würde. Gleichwohl bleibt der Kontrast zwischen der Größe der Stadt und der der Mauern, vielleicht ein Signal, daß die Stadt eines Schutzes gegen Außen nicht eigens bedarf, gewiß aber eines dafür, daß dem Seher nicht an einer akkuraten Vorstellbarkeit seiner Schilderung gelegen ist. Gleichwohl läßt die Einfassung des Ortes durch den Glanz der ihn umspannenden Mauer einen ersten, überwältigenden Eindruck ihrer Pracht aufleuchten (s. 4, 3; 21, 11). Die Frage nach der hier und im Folgenden genannten Pretiosen werden 18–21 wir nicht im Einzelnen zu beantworten versuchen; es ist bereits überaus fraglich, ob der Seher selbst und seine Leser/ Hörer (ebenso wie die heutigen Rezipienten) in allen Fällen eine genaue Vorstellung von ihrer jeweiligen Beschaffenheit hatten. Sie gehören als solche in der Tradition zur Ausstattung der eschatologischen Welt des Heils, des Neuen Jerusalem (vgl. Jes 54, 11 f.; Tob 13, 17). Ob ihr (ursprünglicher) astrologischer Bezug zu den Tierkreiszeichen eine bewußte, gar beabsichtigte Rolle spielt, ist ungewiß. Eher kann der mit zwölf Edelsteinen besetzte Brustschild des (Hohen) Priesters Aaron Ex 28, 17–21; 39, 10–14 mit deren ausdrücklicher Verbindung zu den Namen der zwölf Söhne Israels von Bedeutung gewesen sein. In solchem, freilich auch nur unsicheren Fall wäre die Korrespondenz zu V. 14 – den Namen der zwölf Apostel des Lammes auf den Fundamenten der Mauer – bemerkenswert. Die zwölf Tore schließlich, die nach V. 12 die Namen der Stämme des Gottesvolkes tragen, bestehen aus je einer Perle, V. 21; auch hier darf man nicht nach der Vorstellbarkeit fragen (s. 1Hen 18, 7: Berg als Perle), es geht allein um den unermeßlichen Wert (s. Mt 13, 45 f.). Und ähnlich verhält es sich mit dem Zentrum der Stadt (Platz oder Achse, s. 22, 2), in dem sie selbst sich zusammenfaßt (s. V. 18 b); es ist aus lauterem Gold, durchsichtig wie Glas. Das Bild noch geradezu aus dem Kontrast heraus steigernd enthüllt 22–26 V. 22 ff., was die Stadt nicht hat: keinen Tempel, kein Licht außer dem, das aus ihr selbst erstrahlt, keine verschlossenen Tore, keinen Zufluß zerstörerischer Kräfte. Das alles aber ist kein Mangel, vielmehr höchste Vollkommenheit. Die gleißende Pracht des Bildes der Stadt ist kein trügerischer Schein, sie ist die Höhe der Vollendung, die allein Gott und das Lamm regiert, der Raum der unbegrenzten Freiheit. Diese gleichsam zusammenfassende Schau des himmlischen Ortes der Vollendung entnimmt ihre Metaphern aus der Vision des neu erstandenen Jerusalem Jes 60, freilich eingepaßt in die eigene, durch die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes in der Geschichte des Lammes bestimmte eschatologische Gewißheit.

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Dadurch gewinnt sie an einem fundamentalen Punkt ein ganz singulär und aller bisherigen Erwartungen konträr entgegenstehendes Gesicht: Die Neue Stadt hat keinen Tempel! Schon das zeitgenössische Judentum setzte sich wegen der einzigartigen Konzentration der kultischen Kommunikation mit Gott auf einen einzigen, noch dazu am Rande der Kulturwelt gelegenen Ort, des Verdachts des Atheismus aus. Daran ist die Kühnheit der Vision zu ermessen, die die unüberbietbare Direktheit der Kommunikation Gottes mit den aus den Bindungen an die Geschichte der Welt gelösten Menschen zur Anschauung bringt. 27 V. 27 bleibt bei dem Thema; es ist nicht von einer noch immer vorhandenen Welt ohne oder gegen Gott die Rede, von der der endzeitliche Heilsort freigehalten würde, sondern – wie Jes 60, 12. 18. 21 – von der einzig noch existenten Wirklichkeit der Endzeit, ein analytisches Urteil. Im Wortlaut der Ansage mag freilich ein paränetisches Moment enthalten sein. 22, 1–2 Daß die Neue Welt keines das Gottesverhältnis vermittelnden Tempels (mit dem dazugehörigen Kult) bedarf, weil Gott und das Lamm selbst das Leben geben und tragen, wird ab 22, 1 eindrücklich vergegenwärtigt. Wie Ez 47 spendet das Wasser eines Flusses der endzeitlichen Welt Leben, aber er entspringt eben nicht der Schwelle des Tempels (so Ez 47, 1), sondern dem Thron Gottes und des Lamms. Wie auch sonst in der frühjüdischen Literatur (TestDan 5, 12; 2Bar 4, 3–7) sind bei Ezechiel und Offb die Metaphern Jerusalem und Paradies miteinander verbunden. Jerusalem ist der Ort des Heils, das Wasser ist – für den (antiken) Orientalen fast täglich existentiell erfahrbar – die Grundlage allen Lebens. Johannes konzentriert die Ansage auf die Bäume des Lebens (s. Gen 2, 9), die den Strom des Lebenswassers zu allen Seiten säumen, zwölfmal im Jahr Frucht tragen und deren Blätter die Völker heilt (s. Ez 47, 12). Mit der Vertreibung aus dem Paradies ist der Zugriff des Menschen auf die Frucht des Lebensbaumes unterbunden, am Ort des eschatologischen Heils steht er wieder offen (s. Offb 2, 7, die erste Verheißung der Sendschreiben an den Überwinder; 22, 14 sowie 22, 19). Der nicht ganz klare literarische Umgang mit den einzelnen Elementen der Beschreibung bezeichnet erneut signifikant ihren metaphorischen Charakter (vgl. 1QH 8[neu: 16], 4 ff.). Der Wechsel des Tempus zeigt einen Wechsel der Perspektive an. Die 3–5 Schau tritt aus dem Bereich der (visionär-apokalyptischen) Welt der Wirklichkeit des Heils hinüber in den der gleichsam individuellen (natürlich auch metaphorischen) Zukunftsansage hinsichtlich der Heilserfahrung der Teilhaber am Reich Gottes und des Lammes. Die Aussage ist an Sach 14, 11 orientiert, eine Ansage der endzeitlichen Herrschaft des Einen Gottes (Sach 14, 9) im vom „lebenden Wasser“ durchströmten (s. Offb 21, 1 f.) Jerusalem, in dem es nicht mehr Tag noch Nacht (Sach 4, 7; s. Offb 22, 5) geben wird. Keine vergötzende Macht wird mehr herrschen in der neuen,

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Die Wahrheit der Zukunft – der Herr Jesus kommt (22, 6–20)

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erlösten Welt. Gott und das Lamm – sprachlich durch den mehrfachen Singular mit Bezug auf sie als Einheit gekennzeichnet – ist die einzige die Welt bestimmende Wirklichkeit. Ihm, der den Seinen, seinen Dienern/ Sklaven (vgl. 1, 1. 4 b; 5, 9), in der Einheit Gottes und des Lammes begegnet, ist die Existenz der Erlösten ganz zugewendet (vgl. z. B. Phil 3, 3; Röm 12, 1; Apg 26, 7: „Gott dienen“). Sie werden das Angesicht dieses Gottes, der zuvor allein in der Geschichte des Sohnes den Menschen sichtbar ist, vgl. Joh 1, 18; 6, 46; auch Offb 4, 2 f., schauen. Ihm sind sie, gezeichnet mit seinem Namen (s. 3, 12), ganz zu eigen, sicher geborgen unter seiner Obhut. Sie stehen nicht mehr unter der Herrschaft des Wechsels von Licht und Finsternis, an dem sich die Zeit mißt, Gott der Herr leuchtet über ihnen (vgl. Jes 60, 19). Man darf davon ausgehen, daß in der die Schau der Vollendung in der Gestalt der Braut, der Frau des Lammes (21, 9), zusammenfassenden Explikation des Geschehens ab 22, 3 bewußt der Mosesegen Num 6, 24–26 (vgl. z. B. auch 4Q 542 I 1, 1) anklingt. Der immer schon, seit Moses Zeiten, verheißene und erflehte Segen Gottes ist zur Wirklichkeit allen Lebens geworden. Und so haben denn die Erlösten unwiderruflich den Status erlangt, den ihnen der Weg des Lammes eröffnet hat (1, 6; 5, 10), sie sind keiner Herrschaft mehr unterworfen, sie leben als Souveräne ihres Seins.

IV Epilog (22, 6–21) IV 1. Die Wahrheit der Zukunft – der Herr Jesus kommt (22, 6–20) 6 Und er sprach zu mir: Diese Worte sind verläßlich und wahr, und Gott der Herr der Geister der Propheten hat seine Engel gesandt, um seinen Knechten zu zeigen, was geschehen muß alsbald. 7 Und siehe, ich komme bald. Selig, wer die Worte der Prophetie dieses Buches bewahrt. 8 Und ich, Johannes, der dieses hört und schaut, ich fiel nieder anzubeten zu Füßen des Engels, der mir dies zeigte. 9 Er aber sagte zu mir: Keinesfalls! Ich bin dein und deiner Brüder, der Propheten Mitknecht und derer, die die Worte dieses Buches bewahren. Gott bete an! 10 Und er sagte zu mir: Versiegele die Worte der Prophetie dieses Buches nicht; denn die Zeit der Entscheidung ist nahe! 11 Wer unrecht handelt, handele unrecht weiterhin, und der Besudler besudele weiterhin und der Gerechte schaffe weiterhin Gerechtigkeit und der Heilige heilige sich weiterhin. 12 Siehe, ich komme bald und mit mir mein Lohn, jedem zu erstatten, wie es seinem Werk entspricht.

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Epilog (22, 6–21)

13 Ich bin das Alpha und das O, der Erste und der Letzte, der Ursprung und das Ziel! 14 Selig, die ihre Gewänder waschen, damit sie Anspruch haben auf das Holz des Lebens und durch die Tore eingehen in die Stadt. 15 Draußen sind die Hunde und die Giftmischer und die Hurer und die Mörder und die Götzendiener und jeder, der Lüge liebt und tut. 16 Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, um euch dieses zu bezeugen hinsichtlich der Gemeinden. Ich bin der Wurzelsproß und das Geschlecht Davids, der glänzende Morgenstern. 17 Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und der Hörer spreche: Komm! Und der Dürstende komme, und wer will, empfange umsonst Lebenswasser! 18 Ich bezeuge jedem, der die Worte der Prophetie dieses Buches hört: Wenn jemand dem etwas hinzufügen sollte, so fügt Gott ihm die Plagen zu, von denen in diesem Buch geschrieben ist. 19 Und wenn jemand hinwegnehmen sollte von den Worten des Buchs dieser Prophetie, wird Gott wegnehmen seinen Anteil am Lebensholz und an der Heiligen Stadt, von dem in diesem Buch geschrieben steht. 20 Es spricht, der dieses bezeugt: Ja, ich komme alsbald. Amen, komm Herr Jesus! 6–7 V. 6 f. ratifiziert die Offenbarung der Wahrheit über die Welt und die Geschichte, die Johannes zu verkünden hatte (vgl. 1, 1 f.). „Diese Worte“, die als verläßlich und der Wirklichkeit verpflichtet bestätigt werden, sind alle Worte des „Briefes“, den die Offb darstellt (1, 4–22, 21). Die Korrespondenz von 22, 6–7 zu 1, 1–3 ist angezeigt durch die einander entsprechenden, sie jeweils abschließenden Makarismen (1, 3–22, 7 b). Nicht genannt ist der hier Sprechende; doch zeigt V. 7 a, daß an Christus zu denken ist (s. V. 20), wie es die Parallelität hier zu 1, 1–3 annehmen läßt, die gerade auch den Inhalt der Botschaft („was geschehen muß in Kürze“) betrifft. Wie 1, 1 c wird auf einen „Engel“ als Vermittler der Worte verwiesen, 22, 6 b. Auf ihn richtet sich V. 8 der Blick. Seinen Ursprung aber hat das Wissen um die Wahrheit des Geschehens (wie dieses selbst!) in dem, der der Gott aller prophetischen Äußerungen ist (V. 9). Unübersehbar ist die gesamte Darstellung der Offb von dem Anspruch getragen, Prophetie zu sein (V. 7!), von gleicher Art zu sein wie alle gottgelehrte Prophetie zuvor; auf diese verweist der Text durchgehend und unüberhörbar durch seine literarische Gestalt, im Ganzen wie im Einzelnen. Angesichts dessen ist es besonders bemerkenswert, daß Johannes sich selbst nirgends direkt als Prophet bezeichnet. In seinem prophetischen Wort faßt sich indessen das Ziel aller Prophetie zusammen (V. 10): Die Zeit der Entscheidung steht vor der Tür! In V. 8 nennt sich, ebenso wie 1, 1, dazu 1, 4 und 1, 9, der Empfänger der 8–9 (prophetischen) Offenbarungen der (den Menschen verborgenen) Wahr-

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Die Wahrheit der Zukunft – der Herr Jesus kommt (22, 6–20)

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heit der Gottesgeschichte, die in Christus ihr Wesen hat, mit Namen: Johannes – vor aller (impliziten) Definition seiner Stellung im Offenbarungsgeschehen. Er ist der Zeuge für das, was ihm – immer wieder vermittelt durch Engel (zuletzt 21, 9. 15; 22, 1) – gezeigt und gesagt wurde. Sie sind indessen nicht die eigentlichen und notwendigen Vermittler zwischen Gott und Mensch, sondern Instrumente der Offenbarung wie Johannes selbst, gleichwertige Mitknechte des Autors, der (wahren; s. dagegen 2, 20 [vgl. auch 2, 1]) Propheten sowie aller, die zu der Botschaft dieser Offenbarung stehen. Ob hinter solcher Wertung der Offenbarungsengel die Abwehr einer kultisch ausgestalteten Einordnung der Engel in eine eigene Heilsklasse steht, ergibt sich aus dem Text nicht notwendig; die Gefahr dessen scheint aber im Blick zu sein (s. bereits 19, 10). In jedem Fall widerspricht der Text jeder Hierarchisierung in der Heilsvollendung. Gott allein gebührt die Ehre! Mit V. 10 wird die Rezeption des Buches zu einem Thema. Zunächst 10 ihre Möglichkeit: Sie ist uneingeschränkt eröffnet. Wer die Weisung erteilt, die prophetischen Worte des Buches nicht zu versiegeln, ist nicht eigens gesagt. Der Kontext verweist auf den Engel im Dienst der Offenbarung, V. 8. Bedeutet wird jedenfalls mit solcher Weisung, daß Johannes nicht beliebig über die von ihm erfahrene Wahrheit der Geschichte verfügen kann, sondern die Möglichkeit ihrer Kenntnisnahme der Welt schuldet. Eine gewisse Analogie zu 5, 1 ff. drängt sich auf, direkter, wenn auch antithetisch, zu Dan 12, 4. 9. Wie bei Daniel ist die Begründung für den Umgang mit der „Offenbarung“ in der (heils-)geschichtlichen Situation ihres Empfängers begründet; für Daniel ist das Ziel der Geschichte fern, für Johannes (drängend, s. V. 12. 20) nahe! Jetzt fällt die Entscheidung, die das Buch seinen Rezipienten in ganzer, ungeminderter Konsequenz bewußt macht. Daher rührt der fast dualistische Rigorismus, der dem kritischen, immer eine Alternative suchenden modernen Leser auffällt und ihm lebensfremd erscheinen will. Dabei können die Sendschreiben der Kap. 2–3 mit ihrem lockenden Ruf zur Umkehr zeigen, daß die Entscheidung des Lebens durchaus offen ist, freilich im Kern nur für das Ja oder Nein zu Gott. Das aber stellt in Wahrheit kein Text der Bibel zur Disposition! Jedenfalls entfällt mehr als ein Drittel der Belege für das griechische Wort für „umkehren“ im Neuen Testament (12 von 34 insgesamt) auf die Johannes-Offenbarung. Dieses Ja oder Nein zu Gott und seiner Ordnung für das Leben wird 11 im Angesicht des Endes gefordert, das sagt V. 11 in geradezu paradoxer Schärfe (vgl. Am 4, 4 f.; Ez 3, 27). Jetzt entscheidet sich euer Schicksal, jetzt legt ihr euch fest! Zu akzeptieren, daß es irreversible Entscheidungen gibt, ist für uns das eigentliche Problem des Textes (das entspricht der weitgehenden Verdrängung der Realität des Todes aus der modernen Lebenswelt). Indessen ist solcher „Rigorismus“ von der Botschaft der Offb eben-

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12–13

14

15

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Epilog (22, 6–21)

sowenig ablösbar wie von der der ganzen Bibel, s. z. B. 2. Kor 5, 10; Röm 2, 12; Mt 25, 46; Lk 16, 27 ff. und auch Hebr 6, 4–6. Der Ernst der Situation ist begründet in der drängenden Nähe dessen, in dessen Hand das Geschick der Angeredeten liegt. Freilich ist (trotz V. 15) offensichtlich nur an Anerkennung des Einzelnen in seiner jeweiligen Lebensgeschichte gedacht (nur hier steht in Offb „Werk“ im Singular; die etwas sperrige Formulierung mag geprägt sein, s. 1. Klem 34, 3 [Jes 40, 10; Spr 24, 12]). Der Kommende ist gewiß Christus; er wird durch die Prädikation V. 11 betont an die Seite Gottes gestellt, s. 1, 8, und dadurch als zum Richter legitimiert ausgewiesen. Die Ansage des Kommenden als Richter wird auf die Rezipienten gerichtet zunächst durch den letzten Makarismus des Buches, der dem Bewahren und Bewähren der Tat Christi die Gewißheit des Heils zuspricht. Sie werden an der ganzen Fülle des Paradieses teilhaben, an der Geborgenheit und Gemeinschaft des Endheils. Die Gewand-Metapher (s. 3, 4 f.18; 6, 11; 7, 13 f. [19, 8]) ist mehrschichtig; sie weist als ihre Grundlage auf die Heilstat des Lammes (7, 14; vgl. 3, 5. 18), aber auch auf das Verhalten der Träger des Gewands (3, 4 sowie 3, 18). Beides dürfte V. 14 mitschwingen. Ob vorzüglich an die Taufe gedacht ist mit Blick auf den Gewinn des gereinigten Gewands, ist kaum zu entscheiden; jedenfalls aber ist seine Bewahrung im Kampf des Lebens in gleicher Weise wie sein Empfang entscheidend, immer freilich gegründet in Christus. Ein Lasterkatalog (s. 21, 8. 27; 22, 11) stellt – wie schon innerhalb der Jerusalem-Metapher 21, 27 – die vor Augen, die von dem Heil ausgeschlossen sind – in warnender Absicht. Singulär ist die Nennung der „Hunde“, dazu noch an der Spitze der Frevler; so ist die Vermutung, daß an Irrlehrer, Pseudopropheten gedacht ist (s. Phil 3, 2; 2. Petr 2, 22, auch Mt 7, 6; Did 9, 5), nicht unberechtigt; „Magiker“ könnte ebenfalls solche im Auge haben, die die Gemeinde von innen gefährden. Sie sowie alle, die die Ordnung Gottes für die Welt mißachten, leben in der Macht der Lüge, mit der die Wahrheit der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt werden soll. V. 16 intensiviert noch einmal die Aktualität und Verbindlichkeit der Gottesbotschaft (V. 6) von dem Geheimnis der Geschichte der Welt für die Angeredeten: Es ist ihre Geschichte als die Gemeinde des Christus, die sich in den sieben Gemeinden der Offb (1, 4. 11) darstellt. In solche Richtung könnte jedenfalls der erste Teil der Selbstprädikation V. 16 b weisen wollen; er fügt Jesus als den Christus betont in die Geschichte des Gottesvolkes als Vollender der ihm geltenden Heilsverheißungen (Jes 11, 10) ein (s. Offb 5, 5). Daß der zweite Titel „der strahlende Morgenstern“ mit Num 24, 17 in einer sachlichen Beziehung steht, liegt anzunehmen nahe, auch wenn ihre Bedeutung nicht sicher zu erkennen ist. 2, 28 aber zeigt den besonderen Bezug auf den endzeitlichen Überwinder, der der Prädikation offenbar zukommt.

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Schlußgruß (22, 21)

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Mit V. 17 tritt die Hoffnung auf und die Erwartung der Erfahrung der 17 von ihm angesagten Wirklichkeit in den Text ein; sie konzentriert sich radikal auf die Person dessen, der alle Ansage der Zukunft – Heil ebenso wie Gericht – verbürgt: Komm (Herr Jesus). Es ist die Gemeinde, zunächst jenseits der historisch individuellen Befindlichkeit ihrer Einzelglieder, die sich auf die Vollendung ihres geschichtlichen Weges hin ausstreckt, angeleitet durch den in ihr wirkenden Geist, der in der Prophetie ihr begegnet (s. 19, 10), dargestellt in ihrer „himmlischen“ Gegenwart als „Braut“ des Christus (s. 21, 9), aber eben auch repräsentiert durch jeden, der die Botschaft Gottes (22, 6) verstehend vernimmt. Sie alle flehen darum, daß das endliche Heil sich ereignen möchte im Kommen ihres Herrn. Dieser Ruf findet schon jetzt Erhörung, indem der Rufende selbst gerufen wird (von Christus bzw. Gott, vermittelt durch den Mund des Boten Johannes, 1, 1–3). Die Weise der Aussage V. 17 c verlockt dazu, an eine Einladung zum Herrenmahl zu denken; ob das wirklich vom Text intendiert ist, muß offenbleiben, eine liturgisch geprägte Einführung zur Herrenmahlfeier ist jedenfalls nicht zu erkennen. V. 18 f. signalisiert, daß das Ende der Enthüllung Jesu über das Wesen 18–19 der Geschichte dieser vergehenden Welt erreicht ist. Wer der Sprecher des Zeugnisses über die unbedingte Geltung der Offenbarung nach Umfang und Inhalt ist, wird nicht gesagt, ist aber angesichts von 1, 1 f. bedeutungslos. Die Aussage ist zum Abschluß verbindlicher Texte verbreitet, vgl. bes. Dtn 4, 2; 1Hen 104, 11; EpArist 310 f. Sie ist hier gleichwohl bedachtsam formuliert sowohl durch seine Drohung (V. 18) als auch durch seine Verheißungen (V. 19), beansprucht mithin durch ihren Bezug zum Kontext heilsrelevante Beachtung. Der Schlußsatz, der kaum eine Anspielung enthält auf eine die gottes- 20 dienstliche Verlesung der Offb abschließende Feier des Herrenmahls (s. 1. Kor 16, 22; Did 10, 6), führt in geradezu überwältigender Weise den Inhalt des „Offenbarungsbriefes“ auf seine Kernaussage zurück: die Verheißung des Christus, seines unaufhaltsamen (heilbringenden) Kommens, das schlichte Gebet der Gemeinde um dieses Kommen. Damit ist die ganze „apokalyptisch“ grelle, entsetzende und befremdende Darstellung der metaphorisch verschlüsselten Geschichte der Welt auf ihr Ziel hin fokussiert, wirklich ein letztes Wort.

IV 2. Schlußgruß (22, 21) 21 Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen! Der das Werk abschließende Vers ist ein überraschendes, gleichwohl 21 höchst bedeutsames literarisches Signal. Er ist ein unübersehbarer Brief-

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Epilog (22, 6–21)

schluß, der in beabsichtigter Weise den gesamten Text der Offb ab 1, 4 in die Tradition der Paulus-Briefe einfügt (nur hier und 1, 4 in Offb „Gnade“ [charis]!); das hat für die Hermeneutik insbesondere des Gesamttextes des Buches tiefgreifende Konsequenzen. Ob der Gnadenwunsch an „alle“ oder „an (alle) Heiligen“ gerichtet ist, kann aufgrund der Textüberlieferung nicht mit Gewißheit entschieden werden, hat für das sachliche Verständnis auch kaum Bedeutung; in jedem Fall sind (durch die „sieben Gemeinden“ 1, 4[.11]) alle Glieder der Gemeinde, die Gott in Christus angehören, gemeint.

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Literaturhinweise

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Neuere wissenschaftliche Kommentare D.E. Aune, Revelation (WBC 52), 3 Bde., Dallas/ Nashville 1997/1998/1998; G.K. Beale, The Book of Revelation. A Commentary on the Greek Text (N IGTC), Carlisle 1999; H. Kraft, Die Offenbarung des Johannes (H NT 16 a), Tübingen 1974; U.B. Müller, Die Offenbarung des Johannes (ÖTBK 19), Gütersloh 1984 ( 21995); P. Prigent, Commentary on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2001.

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Literaturhinweise

Ders., Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften des Corpus Johanneum, in: M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (WUNT 67), Tübingen 1993, 326–429; C.J. Hemer, The Letters to the Seven Churches of Asia in Their Local Setting (J SNT.S 11), Sheffield 1986 (Neuausgabe Grand Rapids/Cambridge 2001); P. Hirschberg, Das eschatologische Israel. Untersuchungen zum Gottesvolkverständnis der Johannesoffenbarung (WMANT 84), Neukirchen-Vluyn 1999; M. Karrer, Die Johannesoffenbarung als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort (FRLANT 140), Göttingen 1986; G. Kretschmar, Die Offenbarung des Johannes. Die Geschichte ihrer Auslegung im 1. Jahrtausend (CThM 9), Stuttgart 1985; E. Lohse, Synagoge des Satans und Gemeinde Gottes. Zum Verhältnis von Juden und Christen nach der Offenbarung des Johannes (FDV 1989), Münster 1992; H. Reichelt, Angelus interpres-Texte in der Johannes-Apokalypse (EH S.T 507), Frankfurt/ M. u. a. 1994; M. Rissi, Die Hure Babylon und die Verführung der Heiligen. Eine Studie zur Anthropologie des Johannes (BWANT 136), Stuttgart 1995; H. Roose, „Das Zeugnis Jesu“. Seine Bedeutung für die Christologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenbarung des Johannes (TAN Z 32), Tübingen/ Basel 2000; J.-W. Taeger, Johannesapokalypse und johanneischer Kreis. Versuch einer traditionsgeschichtlichen Ortsbestimmung am Paradigma der Lebenswasser-Thematik (BZNW 51), Berlin 1989; F. Tóth, Der himmlische Kult. Wirklichkeitskonstruktion und Sinnbildung in der Johannesoffenbarung (ABG 22), Leipzig 2006; H. Ulland, Die Vision als Radikalisierung der Wirklichkeit in der Apokalypse des Johannes (TAN Z 21), Tübingen/ Basel 1997; T. Witulski, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian. Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse (FRLANT 221), Göttingen 2007.

Sammelbände zur Johannesoffenbarung D.E. Aune, Apocalypticism, Prophecy and Magic in Early Christianity. Collected Essays (WUNT 199), Tübingen 2006; K. Backhaus (Hg.), Theologie als Vision, Studien zur Johannes- Offenbarung (SBS 191), Stuttgart 2001; O. Böcher, Kirche in Zeit und Endzeit. Aufsätze zur Offenbarung des Johannes, Neukirchen-Vluyn 1983; H. Giesen, Studien zur Johannesapokalypse (SBAB 29), Stuttgart 2000; F. W. Horn/ M. Wolter (Hgg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS O. Böcher), Neukirchen-Vluyn 2005; D. Sänger (Hg.), Das Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung (BThSt 76), Neukirchen-Vluyn 2006.

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Abkürzungsverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen biblischer Bücher und die Schreibung biblischer Eigennamen folgen den „Loccumer Richtlinien“ (Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, Stuttgart 21981). Abkürzungen im Literaturverzeichnis und sonstige Abkürzungen richten sich nach S.M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG 2), Berlin/ New York 1992. Außerbiblische Quellen werden wie folgt abgekürzt:

Frühjüdische Schriften ApkAbr ApkElia AssMos 2Bar CD EpArist 4Esr EupolHist EzTrag 1Hen 3Hen JosAs Josephus, Bell Josephus, Ant Jub LAB 4Makk MartJes Philo, LegAll Philo, Somn Philo, VitMos PseudPhok PsSal Sib TestDan TestHiob TestLev TestMos TestXII

Apokalypse Abrahams Apokalypse Elias Assumptio Mosis Syrische Baruchapokalypse Damaskusschrift aus Qumran Aristeasbrief Jüdische Apokalypse Esras Eupolemos der Historiker Ezechiel der Tragiker Äthiopisches Henochbuch Hebräisches Henochbuch Josef und Asenet Flavius Josephus, De Bello Iudaico Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae Jubiläenbuch Liber Antiquitatum Biblicarum 4. Makkabäerbuch Martyrium Jesajas Philo von Alexandrien, Legum allegoriae Philo von Alexandrien, De somniis Philo von Alexandrien, De vita Mosis Pseudo-Phokylides Psalmen Salomos Sibyllinische Orakel Testament Daniels Testament Hiobs Testament Levis Testament Moses Testamente der Zwölf Patriarchen

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Abkürzungsverzeichnis

1QH 1QM 1QpHab 1QpNah 1QS

Hodayot (Loblieder) aus Höhle 1 von Qumran Milchama (Kriegsrolle) aus Höhle 1 von Qumran Habakuk-Pescher aus Höhle 1 von Qumran Nahum-Pescher aus Höhle 1 von Qumran Serekh ha-jachad (Gemeinderegel) aus Höhle 1 von Qumran

Frühchristliche Schriften und Kirchenväter AscJes Barn Clemens Alexandrinus, Quis div. salv. Did Eusebius, Hist. Eccl. EvPetr EvThom HermMand HermSim Ignatius, Magn Ignatius, Phld Irenäus, Adv. Haer. Justin, Dial 1. Klem 2. Klem MartPol

Ascensio Jesaiae Barnabasbrief Clemens von Alexandrien, Quis dives salvetur Didache Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte Petrus-Evangelium Thomas-Evangelium Hirt des Hermas, mandata Hirt des Hermas, similitudines Brief des Ignatius nach Magensia Brief des Ignatius nach Philadelphia Irenäus von Lyon, Adversus Haereses Justinus, Dialog mit dem Juden Trypho 1. Klemensbrief 2. Klemensbrief Martyrium des Polykarp

Antike Autoren Cicero, Pro Flacco Dio Cassius Lukian, Ver. Hist Plinius d.J. Sueton Tacitus, Ann. Tacitus, Hist.

Cicero, Pro L. Valerio Flacco Dio Cassius, Römische Geschichte Lukianos von Samosata, Verae Historiae Plinius der Jüngere, Epistulae Suetonius, Domitianus Tacitus, Annales Tacitus, Historia

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Stellenregister

Stellenregister 1. Altes Testament Genesis 2,2 f. 2,7 2,9 2,10 3,22–24 4,15 5,24 7,15 9,4 15,1 19,24 37,9 49,9

129 87 38.140 134 38 70 85 87 111 31 105 92 60

Exodus 3,14 7–12 7,11 7,17–21 7,26–8,10 9,9 f. 9,18–25 10,12–15 13,21 14,16–18 15,1–18 15,11 16,10 19,4 19,6 20,13–15 38,17–21 39,10–14

22.25 75.110 78.85 111 111 111 112 77 80 95 108 98 80 95 23.62 78 139 139

Levitikus 4,7 4,18

66 66

4,25 4,30 4,34 11,10–12 17,4 25,9 26,11 f.

66 66 66 111 111 74 133

Numeri 2,3 6,24–26 7,12 10,10 10,14 22–24 24,17 25,1 f. 31,16

70 141 70 74 70 41 144 41 41

Deuteronomium 4,2 145 5,26 31 8,2 93 8,5 52 10,17 117 12,23 111 13,2–4 99 19,15 85 32,8 33 32,10 93.95 32,11 95

Josua 13,22

41

Richter 5,31 6,23 18,30 f.

30 31 70

2. Samuel 7,8 7,14

25 135

1. Könige 6,20 7,23 7,49 8,10 f. 17,2–6 19,4–8 19,11 f. 21(20LXX), 23 f. 22

126 59

2. Könige 1,10–12 1,8 2,11 9,10 9,22 19,21

99.130 85 87 86.126 44 103

Hiob 1 f. 28,22

94 77

Psalmen 2 2,8 2,9 3,9

43 45 92.124 72

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139 56 29 80 95 95 73

152 6,4 12(13LXX),2 18,5 18,16 18,32 23,5 29 29,3 ff. 32,6 57,5 61(62LXX),4 64,4 78,43–51 78,45 79,2–4 86,8–10 86,17 89(88LXX), 28 89(88LXX), 38 89(88LXX), 47 90,4 90(89LXX), 13 96,2 98,1 104,4 105,28–36 105,30 115,4–8 126,6 141,2

Stellenregister

66 66 95 95 98 87 80 81 95 30 66 30 75 111 86 109 87 22 22 66 129 66 104 62 69 75 112 78 59 73

Sprüche 3,12 8 13,24 24,12 24,22LXX

52 51 52 144 30

Jesaja 1,1 1,4 1,21 2,9–20

15 48 114 67

6 6,3 7,14 9,5 11,1 11,4 11,10 12,6 13,9–13 13,19 14,4–21 14,12–15 14,31 20,2 22,22 23,16 f. 24–27 25,8 26,17 27,1 27,13 37,22 40,3 40,19 f. 41,10 43,4 43,19 44,6 48,12 49,2 49,23 51,17 51,48 53,7 54,11 f. 55,1 60,12 60,14 f. 60,18 60,19 60,21 61,6 62,2 62,4 ff. 63–65 63,1 f. 63,2 f.

55.57.59 57 92 92 60 30.124 144 48 67 86 119 94 95 85 31.48 105.114 1.3 134 92 94.97 28.74 103 93 78 31.144 49 134 31 31 30.124 49 105 120 60 56.139 134 140 49 140 141 140 130 42 122 3 126 125

63,3–6 63,18 65,6 65,15 65,16 65,17–20 66,7–9 Jeremia 2,2 5,14b 8,16 9,15 14,12 15,2 17,10 18,1–5 20,8 23,15 25,10 25,14 25,15 f. 25,30 31,39 32,30 43,11 49,36 50,29 51 51,7 f. 51,13 51(28LXX), 60–64 Ezechiel 1 1,5 1,24 1,28 2 f. 2,8–3,4 2,9–10 3,27 4,7 5,12 9 f. 9,1–7

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107 84 131 42 51 133 92 122 85 70 75 64 64.98 44 103 82 75 120 82 105 80 84 82 98 69 86 86 105 117 120 55.57 56 30 31 82 81 59 143 82 64 119 70

153

Stellenregister

10 10,2 10,15 10,17 10,20 14,21 16,8 ff. 16,15 ff. 16,35–43 23,1 ff. 23,22–29 23,32–34 27 28,26 ff. 37–48 37 37,3 f. 37,10 37,27 38 f. 38,8 38,22 39,6 40–48

45 47 47,1–12 47,1 47,12 48,30–34

57 73 56 56 56 64 122 114 117 114 117 105 119 94 84 128.130 72 87 133 130 130 130 130 128.136. 137 84 137 84 138 30.69. 119 137 140 134 140 140 138

Daniel 1,12 1,14 2,28 f. 2,45 3,7 6,26 7,2 7,4–6

40 40 17 17 62 62 69 97

40 f. 40,2 40,3–43,9 40,5 43,2

7,7 7,9 7,10 7,13 7,15 f. 7,18 7,20 7,22 7,24

10,9 f. 10,12 10,13 10,19 10,21 12,1 12,3 12,4–9 12,5–7 12,5–9 12,7 12,10

93 29 78.131 24 72 62 93 19.129 93.97. 116 93 129 93 84 93 31 108 29.80 29.30. 80 31 31 33.94 31 94 94.131 30 143 80 81 93 80

Hosea 1–3 1,1 8,1 9,10 11,10 13,15

122 15 76 93 80 69

Joel 2,4 ff. 2,10 f. 3,4 3,5 4,13

77 67 67 103 107

7,25 7,26 f. 8,10 8,13 8,14 8,17 f. 9,4 10,5 10,6

Amos 1,1 3,7 4,4 f. 4,6–11 4,13 5,3

15 16 143 75 25 87

Obadja 20

46

Jona 2,10

72

Micha 4,9

92

Nahum 3,4–6 3,4

105.114 120

Habakuk 2,18 f.

78

Zefanja 3,13

104

Sacharja 1,7–11 1,8 ff. 1,16 2,5 f. 2,10 f. 2,14 f. 3,1 3,3–5 4,1 4,3 4,7 4,10 4,11 4,14 6,1–8 6,5 9–14 9,9 9,14

64 85 84 138 133 133 94 46 29 85 140 85 85 85 64 69 1 31 74

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154 12,3 12,10–12 12,10 13,4 14,11 Maleachi 3,1 3,23

Stellenregister

84 24 24 85 140 85 85

Weisheit 3,8 18,15 f.

129 30

Tobit 12,20 12,22 13,17

32 108 56.139

Sirach 17,17 24,11 30,1 48,1–3 48,9 48,10

33 130 52 85 87 85

10,18 11,4 11,28 11,49–51 12,8 12,36–38 12,39 12,40 16,27 ff. 17,29 18,7 f. 18,11 21,8 21,24 22,30

94 49 18 66 47 52 46.52 46 144 105 66 44 19 84 53.71

2. Neues Testament Matthäusevangelium 4,8 137 6,13 49 7,6 144 7,15 99 10,2 138 10,32 47 13,30 107 13,39 f. 107 13,43 30 13,45 f. 139 16,16 31 16,18 84 18,6 120 19,28 53.71. 129 23,34 66 24,30 24 24,31 28 24,43 f. 46 25,46 144 26,52 99 27,52 f. 87 28,16 137 Markusevangelium 1,6 85 1,12 f. 93 1,15 19 2,18 f. 122 3,14 138 4,29 107 5,41 f. 87 6,15 85

6,30 6,50 7,21 8,27 8,34 8,38 9,2–8 9,2 9,11–13 10,17–19 12,14–17 13 13,2 13,5–13 13,8 13,9–13 13,23–26 13,24–27 13,24 13,27 14,12 14,22–25 14,58 f. 14,62 16,2 16,17 f.

138 31 135 115 103 47 85 137 85 99 115 2 84 64 67.92 65 124 69 67 67 61 61 84 29.124 27 99

Lukasevangelium 1,69 61 4,6 97 6,13 138 6,21 59 9,54 130 9,57–62 103

Johannesevangelium 1,18 141 1,21 85 1,29 61 1,36 61 2,19 84 3,14 f. 62 4,10–14 134 4,35 f. 107 5,31 f. 85 5,35 85 6,20 31 6,46 141 8,12 104 8,17 85 8,44 104 9,22 39 11,39 86

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155

Stellenregister

12,15 12,28 12,42 13,1 14,16 14,26 15,12 15,26 16,13–15 16,13 f. 17,12 19,37 21,19 21,22

31 62 39 23 34 34 23 34 123 34 77 24 103 103

Apostelgeschichte 1,9 87 6,5 37 7,57–59 39 8,10 28 10,1 115 14,27 48 15,23 5 15,28 44 16 43 17,7 115 18,24–19,7 35 19,8 35 19,10 35 19,18 f. 79 19,23–40 35 19,28 28 19,31 35 19,34 28 20,7 27 20,17–38 35 21,11 34 23,26 5 26,7 141 26,10 42 Römerbrief 1,3 f. 1,3 1,29 1,31 2,4

43.93 60 135 135 44

2,12 3,5 f. 3,24 5,17 6,1 f. 8,15 8,34 f. 11,7 11,25–32 12,1 13,4 13,9 13,11 f. 15,12

144 66 134 62 66 16 23 44 66 141 68 78.135 19 60

1. Korintherbrief 3,10–12 138 3,16 f. 50.84 4,8 62 5,7 61 6,9 f. 135 6,20 23 7,29 19 7,31 19 9,1–3 37 10,11 48.81 10,13 49 11,23–26 61 12,2 f. 27 12,4–6 99 12,10 37 14,19 70.77 15,23 128 15,32 35 15,52 74 16,8 35 16,22 145 2. Korintherbrief 1,22 70 5,10 144 5,14–17 134 5,14 f. 23 6,15 94 6,16 50.84 6,18 25 10,10 f. 32

11,2 11,4 ff. 11,13 11,24 f. 12,2 12,4 13,13

122 37 37 39 93 93.103 99

Galaterbrief 1,5 2,9 2,20 3,29 4,5 4,7 4,26 6,2 6,16

20.24 50 23 71 23 16 137 45 71

Epheserbrief 2,19–22 2,20 5,2 5,25 5,31 f. 6,17

50 138 23 23 122 30

Philipperbrief 3,2 3,3

144 71.141

Kolosserbrief 1,15–20 1,24 2,18 4,16

51 66 123 18.51

1. Thessalonicherbrief 1,3 36 1,9 31.48 1,10 43 2,15 66 4,15–17 2 4,16 28.124 4,17 74.87. 93.124

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156 5,2 5,3 5,20 5,27

Stellenregister

46.112 92.112 37 18

2. Thessalonicherbrief 2,2 81 2,3 77

1. Timotheusbrief 1,3 35 1,18 36 3,15 50 3,16 93 4,12 36 6,15 116

2. Timotheusbrief 4,2–5 135 4,18 24

Hebräerbrief 1,7 4,3 4,9 4,12 6,4–6 7,14 8,2 9,4 f. 11,10 11,35–40 12,5 12,6 12,22

69 106 106 30 144 60 133 89 137 66 52 52 103

Jakobusbrief 1,1

5.7

1. Petrusbrief 1,2 1,19 3,18

99 61 24

4,11 5,13

24 105

2. Petrusbrief 2,1 2,15 f. 2,22 3,7 3,8 3,10

23 41 144 67 129 46.67

1. Johannesbrief 2,21 f. 104 2,27 104 3,16 23 2. Johannesbrief 7 94 Judasbrief 9 11 20 f.

91.93 41 99

6,51 6,52 7,28 f. 7,30 7,97 8,52 12,31–34 13,32–36 13,36 13,39–50

97 97 128 128 30 38 60 103.128 137 71

Eupolemos Frg.2 (34,7)

29

3. Frühjüdische Schriften Apokalypse Abrahams 29,13 75 30,2–5 75 31,1 75

Apokalypse Elias 4,7–19 85 34,7–35,17 85

Aristeasbrief 254 310 f.

68 145

Assumptio Mosis (Testament Moses) 10,6 133 10,8 95

Syrische Baruchapokalypse 4,3–7 140 6,4 f. 69 23,5 66 29,4 97 29,8 42 78–86 20 4. Baruch (Paralipomena Jeremiae) 6,9 125 4. Esra 3,5 4,35–37 6,17 6,20 6,23

87 66 30 131 28.74

Ezechiel der Tragiker 89 32 Äthiopisches Henochbuch 9,4 117 18,7 139

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157

Stellenregister

24,1–25,3 39,12 f. 40,1 60,7 60,8 61,1–5 61,1 72–84 81,1 f. 89,59 f. 90,37 f. 91,11–17 93,3–10 100,1–3 104,11 106,19–107,1

115 57 78 97 97 84 104 2 60 33 61 128 128 107 145 60

Hebräisches Henochbuch 45,5 130 Josef und Asenet 11,10 31 15,12 125 16,14 42 17,6 50 18,11 108 Flavius Josephus, De Bello Iudaico IV 317 86 IV 596 115 V 563 115 VI 285 f. 84

Antiquitates IV 326 VII 79 f. XI 133 XIV 241–243 Jubiläenbuch 1,5 1,26 10,9

Judaicae 87 56 71 51 32 32 87

Liber Antiquitatum Biblicarum 25,4 70 25,9 70 3. Makkabäerbuch 2,29 100 4. Makkabäerbuch 18,24 24 Martyrium Jesajas 5,2 87 Philo von Alexandrien, Legum Allegoriae I 2–4 100 I 16 100 De somniis I 103

30

De vita Mosis I 74 f. 125 Pseudo-Phokylides 124 30 Psalmen Salomos 13,2 f. 64 15,5 f. 70 17,23 f. 45 17,35 30.124 Sibyllinische Orakel 3,319 f. 130 3,512 130 3,652 f. 69 7,148 f. 42 Testament Hiobs 47,9 32 53,6 f. 86 Testamente der Zwölf Patriarchen, Testament Levis 4,1 133 18,11 38 Testament Dans 5,4 70 5,12 140

4. Qumran-Schriften Damaskusschrift 19,9–12 70 Hodayot (Loblieder) 1QH 2,22 39 1QH 3(neu:11), 7–12 92 1QH 3(neu:11), 29–32 95 1QH 6(neu:14), 24–29 84

1QH 6(neu:14), 25–31 137 1QH 8(neu:16), 4 ff. 140

Milchama (Kriegsrolle) 1QM 9,15 f. 94 1QM 10,8 f. 98 1QM 12,4 f. 49 1QM 12,13 103

1QM 15,9 1QM 17,5–8 1QM 19,6 f.

39 94 49

Pescher Habakuk 1QpHab 7,1–14 48 1QpHab 7,1–5 81 1QpHab 7,4 f. 16

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158 1QpHab 11,14 f.

Stellenregister

105

Pescher Nahum 1QpNah 1,3 84

Serekh ha-jachad (Gemeinderegel) 1QS 4,9–11 135 1QS 5,1 f. 39 1QS 8,5–10 84 1QS 8,5 50

1QS 8,12–14 1QS 9,6

95 50

Testament Qahats 4Q542 I 1,1 141

5. Frühchristliche Schriften und Kirchenväter Ascensio Jesaiae 2,10 85 3,15 33 4,2–14 98 Barnabasbrief 1,7 5,3 9,7–9 12,9 15,4 f.

32 32 100 32 129

Clemens von Alexandrien Quis div. salv. 42 27 Didache inscriptio 9,5 10,6 11,3–5

138 144 145 138

11,4–6 14,1 16,4 16,5 16,8

36 27 94 50 24

Irenäus Adv. Haer. III 11,8 V 30,2 V 30,3

57 70 9

Eusebius von Cäsarea Hist. Eccl. III 39,4 8

Justinus Dial 14,8

24

Petrus-Evangelium 12(50) 27

1. Klemensbrief 34,3 34,6 44,5 56,4

144 57 105 52

Hirt des Hermas Sim V 5,3 33 Sim IX 16,3 f. 70 Ignatius von Antiochien Magn 9,1 27 Phld 6,1 48.49

2. Klemensbrief 3,2 47 7,6 70 8,6 80

6. Antike Autoren Cicero, Pro Flacco Flacc 28 51 Dio Cassius, Römische Geschichte 66,19,3 97 67,5,7 58

Lukianos von Samosata, Verae Historiae 2,11–13 137

Tacitus, Annales 14,27

51

Suetonius, Domitianus 13,2 58

Historiae 1,2 2,8–9

97 97

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