Historische Dialektik: Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx 9783110860467, 9783110072860


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German Pages 544 [548] Year 1977

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung. Abgrenzung des Geltungsbereichs neuzeitlicher Dialektik
Teil I. Die Entfaltung der Dialektik des Selbstbewußtseins Antinomie – Wissenschaftslehre – Ästhetischer Humanismus (Kant. Fichte. Schiller)
1. Abschnitt: Transzendentale Dialektik Die Antinomie von Freiheit und Welt in der Logik des Scheins
2. Abschnitt: Limitative Dialektik Die Systembildung endlichen Selbstbewußtseins in der Wissenschaftslehre
3. Abschnitt: Antagonistische Dialektik Der Schein der Versöhnung im ästhetischen Humanismus
Teil II. Die Selbstaufhebung der Dialektik Herrschaft und Knechtschaft – Verzweiflung – Entfremdung (Hegel. Kierkegaard. Marx)
1. Abschnitt: Soziodialektik Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes
2. Abschnitt: Existenziale Dialektik Die satirische Dialektik der existierenden Subjektivität in den »Werken der Vollendung'
3. Abschnitt: Dialektik der Entfremdung Entfremdung und Reintegrierung von Arbeit und Mensch im vollendeten Humanismus
I. Quellenverzeichnis
II. Literaturverzeichnis
III. Namenverzeichnis
IV. Sachverzeichnis
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Historische Dialektik: Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx
 9783110860467, 9783110072860

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Wolfgang Janke · Historische Dialektik

Wolfgang Janke

Historische Dialektik Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx

W

DE

G 1977

Walter de Gruyter · Berlin · New York

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Janke, Wolfgang Historische Dialektik : Destruktion dialekt. Grundformen von Kant bis Marx. — Berlin, New York : de Gruyter, 1977. ISBN 3-11-007286-6

© 1977 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J . Trübner - Veit & Comp. Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: Walter de Gruyter 6c Co., Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Heinz Heimsoeth zum Gedenken

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Abgrenzung des Geltungsbereichs neuzeitlicher Dialektik 1. 2. 3. 4. 5.

Kapitel : Kapitel: Kapitel: Kapitel: Kapitel:

Epigonale Methodologie Suspension einer Dialektik der Natur Geschichte und Dialektik Logik und Phänomenologie Dialektik des Selbstbewußtseins

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Teil I Die Entfaltung der Dialektik des Selbstbewußtseins Antinomie — Wissenschaftslehre — Ästhetischer Humanismus (Kant. Fichte. Schiller) 1. Abschnitt: Transzendentale Dialektik. Die Antinomie von Freiheit und Welt in der Logik des Scheins 1. Kapitel: Ars disputatoria, ars sophistica, Logica probabilium. Kants Neufassung einer Logik des Scheins 2. Kapitel: Dialektik des natürlichen Scheins 3. Kapitel: Uber die methodologische Reichweite der transzendentalen Antithetik 4. Kapitel: Dogmatische Dialektik — Thesis und Antithesis der dritten Antinomie 5. Kapitel: Konsequenzen und Interessen im dialektischen Spiel von Notwendigkeit und Freiheit 6. Kapitel : Der ideal-realistische Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Antithetik 7. Kapitel : Drei Phasen in der Entschlüsselung der Antinomie

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Inhaltsverzeichnis

8. Kapitel: Die limitative Synthesis der antinomischen Hauptantithesis 9. Kapitel: Die Anwendung der kosmologischen Dialektik auf die Wirklichkeit des Menschen 10. Kapitel: Die zweite Umwendung der Logik des Scheins. Über das kosmologische Erbe der Dialektik des Selbstbewußtseins (Welt, Zeit, Sein) 2. Abschnitt: Limitative Dialektik. Die Systembildung endlichen Selbstbewußtseins in der Wissenschaftslehre 1. Kapitel: Triplizität des Selbstbewußtseins. Die Grundlage limitativer Dialektik 2. Kapitel: Die dialektische Einheit in der Dreiheit. Uber die Rückgründung der Methode ins Leben 3. Kapitel: Dialektische Analytik der reinen theoretischen Vernunft. Die regelrechte Deduktion der Kategorien 4. Kapitel: Die Schlußsynthesis der theoretischen Vernunft 5. Kapitel: Dialektik der praktischen Vernunft. Die Schranke und das Sollen 6. Kapitel: Die Dialogik der Aufforderung und die Neubegründung der Fremderfahrung 7. Kapitel: Anerkennung. Zur Grundlegung einer Dialektik der gesellschaftlichen Vernunft 8. Kapitel: Herrschaft und Knechtschaft. Uber die Aufhebung der ,halben Menschheit' in die vollkommene Gesellschaft . . . 9. Kapitel: Die Krise der Limitation. Das Nihilismus-Problem und die Schranke absoluten Wissens 10. Kapitel: Das Gesetz der Selbstvernichtung in der Genesis des Bewußtseins 11. Kapitel: Separierende und aletheuische Abstraktion 12. Kapitel: Vom Zwiespalt einer Dialektik menschlicher Endlichkeit. (Uber Leben und Tod im idealistischen Verstände)

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3. Abschnitt: Antagonistische Dialektik. Der Schein der Versöhnung im ästhetischen Humanismus 210 1. Kapitel: Französische Revolution und ästhetischer Humanismus. Zum politischen Ansatz einer ästhetischen Versöhnung .. 210 2. Kapitel: Die Deduktion der Kunst aus dem Zirkelproblem der Veredlung 223

Inhaltsverzeichnis

3. Kapitel: Der transzendentale Weg'. Vorzeichnung einer Methode der reinen ästhetischen Vernunft 4. Kapitel: Person — Zustand. Die Humanismusanforderung der Wesensverwirklichung 5. Kapitel: Stofftrieb — Formtrieb : tragischer Antagonismus 6. Kapitel: Die Synthesis der Wechselwirkung und das Symbol des ästhetischen Spiels 7. Kapitel: Schönheit — ,unsre zweyte Schöpferin*. Die Vermittlung des ästhetischen Zustandes 8. Kapitel: Die symbolische Wendung. Zur fragwürdigen Dialektik von ästhetischer Erziehung, ästhetischem Schein und ästhetischem Staat 9. Kapitel: Idyll oder Tragödie. Die zwiespältige Aufhebung der antagonistischen Dialektik

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Teil II Die Selbstaufhebung der Dialektik Herrschaft und Knechtschaft - Verzweiflung - Entfremdung (Hegel. Kierkegaard. Marx) 1. Abschnitt: Soziodialektik. Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes 1. Kapitel : Hegels Satz des Selbstbewußtseins 2. Kapitel: Der Sprung in Herkunft und Zukunft des Selbstbewußtseins. (Zu den Ubergängen des Lebens und der Begierde, des ungleichen und des allgemeinen Selbstbewußtseins) 3. Kapitel: Die Herkunft von Herrschaft und Knechtschaft - der Kampf um Anerkennung auf Leben und Tod 4. Kapitel: Die Thesis des Herrn und die Verkehrtheit von Macht und Genuß 5. Kapitel: Die Antithesis des Knechtes und ihre Verkehrung in Todesfurcht, Zucht und Arbeit 6. Kapitel: Der Wendepunkt der Arbeit und die dialektische Fortschrittlichkeit des Knechtes. (Zur Rolle des Proletariats im Befreiungskampf des Selbstbewußtseins) 7. Kapitel: Die stoisch-skeptische Verdrängung des gesellschaftlichen Widerspruchs

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Inhaltsverzeichnis

8. Kapitel: Die theologischen Transposition von Herr und Knecht in der Gottesknechtschaft des unglücklichen Bewußtseins 351 9. Kapitel: Das Schisma der Aufhebung von Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Lehre vom subjektiven Geist 361

2. Abschnitt: Existenziale Dialektik. Die satirische Dialektik der existierenden Subjektivität in den .Werken der Vollendung* 1. Kapitel: Vom Interesse des existierenden Selbst. Zur epigrammatischen Wesensbestimmung des Menschen 2. Kapitel: Der Einzelne und das Prinzip der Assoziation (Suspension der Soziodialektik) 3. Kapitel: Der Einzelne unmittelbar vor Gott 4. Kapitel: Fundamentalontologische Analyse der Existenz. Das Kranksein zum Tode 5. Kapitel: Buchstabenrechnung des Dialektischen. (Der Phantast, die Weldichkeit, Wünschen und Schwermut, der Fatalist, der Spießbürger) 6. Kapitel: Phänomenologie des existierenden subjektiven Geistes . . . 7. Kapitel: Grundzüge der An tidialektik von Sünde und Glaube . . . . 8. Kapitel: Die negative Dialektik des existierenden Subjekts 9. Kapitel: Quantitative und qualitative Dialektik

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3. Abschnitt: Dialektik der Entfremdung. Entfremdung und Reintegrierung von Arbeit und Mensch im vollendeten Humanismus 444 1. Kapitel : Religiöse Entfremdung 444 2. Kapitel: Religiöse, politische und menschliche Emanzipation 451 3. Kapitel : Das factum praesens historicum der verkehrten Welt . . . . 457 4. Kapitel: .Fremder Mittler', .sichtbare Gottheit' — zur Entfremdung des Geldes in der Warenwelt 465 5. Kapitel: Homo est animal laborans — gegenständliches Gattungsleben = Arbeit. Die Grundlegung der .humanistischen und naturalistischen Kritik' in der Wesensbestimmung des Menschen 471 6. Kapitel: Entfremdete Arbeit. Bedeutung und Struktur 484

Inhaltsverzeichnis

XI

7. Kapitel: Rückkehr zum neuen Menschen — .Emanzipation vom Privateigentum etc., und Knechtschaft' 492 8. Kapitel: Das Ende des spiritualistischen Götzendienstes und der Sprung in die Geschichte 503 I. II. III. IV.

Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Namenverzeichnis Sachverzeichnis

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Einleitung Abgrenzung des Geltungsbereichs neuzeitlicher Dialektik

Historisch zu forschen, gilt als ein Abdanken des Erkennens aus reiner Vernunft. Historische Erkenntnis besagt bei Kant: cognitio ex datis. Etwas historisch, also aus auswärts gegebenen Uberlieferungen kennenzulernen, ergibt nur subjektive Erkenntnis, so objektiv das Erkannte auch sei. Nach Hegel mangelt der historischen Betrachtungsweise überdies das eigene Interesse. Historische Gelehrsamkeit ist eine Vorspiegelung, mit der man sich über sein Interesse täuscht. Sie stellt Sachverhalte mit einem Interesse dar, das andere einmal daran gehabt haben. Der historische Sinn bringt schließlich sogar nach Nietzsche das Lebendige zu Schaden. Hinter der unmäßigen historischen Bildung verbirgt sich mehr als nur eine Art ironisches Selbstbewußtsein. Sie entwurzelt das Zukünftige und tötet das Vergangene. Wird ein historisches Phänomen vollständig und rein in einen Gegenstand der Erkenntnis aufgelöst, dann ist es für den, der es erkannt hat, tot. Der alte Philosophenbrauch, wesentlich unhistorisch zu denken, scheint sich mithin auf ein immer wieder renoviertes Urteil stützen zu können: Ein historisches Erwägen philosophischer Grundfragen verzichte auf ursprüngliche und systematische Vernunfterkenntnis, auf ein eigenständiges Interesse und auf lebendig-gegenwärtige Grunderfahrungen. Historische Vergegenwärtigung philosophischer Tradition bringe es bestenfalls zur musealen Präsenz von Vergangenem. Historisch zu sein, bedeutet für alle Dialektik den härtesten Einwand gegen die Wahrheit einer Sache. Der Zeitmodus des Historischen stempelt alles Gewesene zum Vergangenen. Historische Vergangenheit ist abgetane Wirklichkeit. Im Lichte des Historismus gar verliert das Gewesene seine Wesentlichkeit und relativiert sich an einem (unterschlagenen) Ideal von geltender Wahrheit. Wird schließlich das Dasein ganz in die Seinsart des Historischen zurückgenommen, dann entfremdet es sich seiner eigentlichen Geschichtlichkeit. Dialektisch gesprochen aber, vergeht nichts, was wesentlich gewesen ist. Selbst als Untergegangenes bleibt es erhalten, höher gehoben, verklärt. Eine Historische Dialektik wäre somit nicht nur ein

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Abgrenzung des Geltungsbereichs

philosophisch unfruchtbares, sondern auch ein in sich widerspruchsvolles Unternehmen. Der Titel Historische Dialektik weist auf eine große Uberlieferung zurück. Er zeigt die epochale Dialektik der Neuzeit als eine ungeheure, aber vergangene Sache an. In ihrer alles erschließenden Kraft und Herrlichkeit ist die Dialektik un wiederholbar verloren. Sie präsentiert sich nur noch in wesenlosen Surrogaten — als reine Methodologie, Dialektik der Natur, historischer Materialismus oder als vieldeutiges asylum ignorantiae. Der Philosophie im Sinne spekulativer Wissenschaft enthoben, breitet sie sich mit der Gewaltsamkeit von Weltanschauungen aus. Geht ein Gespenst um in Europa, dann ist es die als globale Wahrheit auftretende, geistverwirkte Dialektik. In dieser Rücksicht ist Historische Dialektik zuerst Kritik des dialektischen Ungeistes. Die gegen sich selbst unkritische Präsenz geistverlorener Dialektik kommt nicht zuletzt daher, daß ihre Vergangenheit historia abscondita ist. In entscheidenden Phasen und Formen ist die Geschichte der neuzeitlichen Dialektik trotz des hypertrophen historischen Organs nachromantischen Gelehrtentums immer noch ungeschrieben. Noch heute liegt sie weithin im Schlagschatten der philosophiegeschichtlichen Selbstinterpretation spekulativen Vollendungsbewußtseins und dessen materialistischer Umstülpung. Historische Dialektik ist demgegenüber Wiederentdeckung der vergangenen Dialektik von Kant bis Marx in ihren durch den einsträhnigen Hegelschen Teleologismus verstellten vielfältigen Grundformen. Indessen verzichtet sie keineswegs auf systematische Absichten. Ihre Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte unterläuft vielmehr die übliche Trennung zwischen historisch und systematisch als eine methodologisch inadäquate Unterscheidung. Sie folgt darin der von Heidegger eröffneten Einsicht in das Fundierungsverhältnis von existenzialer Geschichtlichkeit und verstehbarer Geschichte und nicht der posthegelschen Uberzeugung von der unabtrennbaren Einheit des Logischen und Historischen als eines Charakters dialektischer Gesetzmäßigkeit; denn auch eine Dialektik logischer und historischer Methode unterliegt der Kritik des Dialektischen. Historische Dialektik ist Destruktion geschichtlich gewachsener Grundformen. Destruktion des Uberlieferten löst weder die wesenhafte Vergangenheit in Nichtigkeiten auf, noch hebt sie Momente des Fortschreitens auf, und schon gar nicht hält sie jede Vergangenheit für wert, durch das Leben verurteilt zu werden. Sie kritisiert in positiver Absicht. Solche Kritik des überlieferten Wesensbestandes steckt die Grenzen der neuzeitlichen Dialektiktradition ab und deckt unbefragte Grunderfahrun-

Epigonale Methodologie

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gen auf, um eigene .systematische' Fragemöglichkeiten zu eröffnen. Freilich arbeitet die hier vorgelegte Historische Dialektik diese positive Funktion einer Destruktion nur unausdrücklich aus. Das Schwergewicht ihrer Analyse liegt auf der Funktion ,historischer' Grenzziehung. Sie untersucht thematisch, wie sich haltbare Dialektik als Dialektik des endlich-menschlichen Selbstbewußtseins in den vielfältigen Grundformen von Kant bis Marx entfaltet und wie sie sich selber entsetzt und verzehrt. Mitthematisch aber kommen Bestimmungen des Seins ins Offene, welche verborgenerweise die geschichtlichen Reduktionen der Dialektik auf Anthropologie und deren Neuentwurf von Wirklichkeit und Existenz leiten. So geht auch die Historische Dialektik darauf aus, das gegenwärtige Zeitalter in Gedanken zu fassen; denn nur im Durchstoßen der verkrusteten Tradition und durch Abtragen ihrer weltanschaulichen Verdeckungen kann gegenwärtiges Philosophieren hoffen, das aus eigener Vernunft zu erkennen, was an der Zeit ist.

1. Kapitel: Epigonale Methodologie Dialektik im neuzeitlichen Verstände ist eine Methode im Sinne der Neuzeit. Nichts scheint unbestreitbarer, und nichts ist strittiger. Wird Dialektik als ein Weg verstanden, auf dem die Wissenschaft nach einem im voraus festgesetzten Verfahren mit Sicherheit in jeden beliebigen Sachbereich aufklärend einzudringen vermag, dann wäre sie eine Methode zur Gewinnung gesicherter Erkenntnis neben anderen, neben Deduktion und Induktion, Deskription und Wesensschau, Kombinatorik und mos geometricus. Dann wäre ihre Erörterung Sache der Methodologie, sie gehörte zur Logik der Forschung im weitesten Sinne und würde zu Recht in die Zuständigkeit der Wissenschaftstheorie eingewiesen. Sonach hätte sie sich vorbehaltlos dem dreifachen Anspruch eines Methodenbewußtseins zu unterwerfen, das seit Descartes' ,Regulae ad directionem ingenii' auf seine fragwürdige Autonomie drängt: der Forderung nach Priorität, Universalität und Selbstregulierung. In der Tat folgt die Diskussion, welche Dialektik als Methode annimmt und durchspricht, unbefragt dieser dreifachen Selbsteinschätzung neuzeitlicher Methodenlehre. Sie läßt sich von dem Satz der Priorität leiten, daß in allem Wissen zuerst Rechenschaft über die Methode zu geben ist. Sie prüft unter dem Aspekt der Universalität, ob die Methode für alles Wissen gilt und wenn schon nicht als ars inveniendi oder als Technik des Fortschritts (ars progrediendi), so doch wenigstens

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Abgrenzung des Geltungsbereichs

als Organon nachträglicher Durchklärung den Erkenntnisgewinn im Ganzen fördert. Und sie verlangt in einer Art Methode der Methode die Selbstregulierung des Regelwerks durch stetige, kritische Uberprüfung der inneren Stimmigkeit, Rationalität und Nachvollziehbarkeit der Verfahrensregeln. Was in solcher Methodisierung der Dialektik herauskommt, scheint ebenso trefflich wie faßlich, es ergreift jedoch, bei Lichte besehen, die Fülle des Dialektischen nurmehr in seiner Schwundstufe. Wird Dialektik als Methode der Forschung analysiert, dann heben sich allenfalls Oberflächenstrukturen heraus, vor allem natürlich die Triadik, die dreisinnige Aufhebung, die Macht des Negativen, das Auftreten des Widerspruchs. Dabei fällt der Dreischritt von Thesis, Antithesis und Synthesis derart vordringlich auf, daß Dialektik weithin mit einer Theorie der dialektischen Triade gleichgesetzt wird. Dann definiert sich Dialektik als das methodische Verfahren, von einer vorgegebenen These zu einer Antithese überzugehen und beide durch eine ihr übergeordnete Synthese zur Einheit zu bringen. Ihre Geltung beruht auf der Behauptung, daß sich eben bestimmte Entwicklungen nach diesem Schema vollziehen und durch es verstehbar werden. Zu den spärlichen Reflexionen, die Hegel über die Methode der Dialektik als solche gemacht hat, gehört die Besinnung auf den dreifachen Sinn der Aufhebung. Seitdem fehlt in keiner Charakteristik des Dialektischen eine Angabe über das Aufheben im Sinne des Beendens, Aufbewahrens und Höher-Hebens; und es folgt stets die Angabe, daß das Aufheben, sofern es mit etwas ein Ende macht, dieses nicht etwa vernichtet, sondern ihm allein seine Unmittelbarkeit nimmt. Da sich nun die Aufhebung zweifellos als zentrales Moment im formalen Bau der Dialektik ansehen läßt, sagt auch die Bestimmung der Dialektik als Methode des Aufhebens nichts Falsches. Tiefer auf die Sache geht indessen die Angabe von der Macht des Negativen ein. Dabei sucht sie die Methode gerade vor dem Vorwurf zu schützen, das Resultat der dialektischen Gänge sei bloß negativ; denn das Negative bekommt einen positiven Sinn, wenn das Negierte zum Vermittelten wird, das nicht etwa sein Sein und Wesen überhaupt, sondern allein eine abstrakte und einseitige Bestimmtheit verliert. Vollends aber scheint das Wesen der Dialektik getroffen, wenn die methodische Funktion des Widerspruchs zur Sprache gebracht wird. Dann stellt sich Dialektik als Methode dar, die den fruchtbaren Widerspruch und damit den Anstoß zum Fortgange wissenschaftlich zu entdecken und zu überdenken sucht. Das alles ist ebenso richtig und offenkundig wie oberflächlich und verschwommen. Hebt man die erwähnten Bestimmungen — Triadik, Auf-

Epigonale Methodologie

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hebung, Negativität, Widerspruch — als Charaktere einer wissenschaftlichen Methode ab und stellt sie zur Einheit eines gleichförmigen Verfahrens zusammen, dann kann die Dialektik bestenfalls von ihrer .Entartung' durch den Deutschen Idealismus gesäubert werden, aber sie kommt dann als Rüstzeug methodischer Forschung kaum noch ernsthaft in Betracht. Diese Tendenz spitzt sich zur Alternative zu: Entweder wird auch das formale Gerüst der Dialektik noch als Verzerrung der wissenschaftlichen Methode und als Ausgeburt der Unheil stiftenden Hegeischen Metaphysik verworfen, oder es werden tragfähige Bestandteile in eine vernünftige, rational ausweisbare Methodenlehre übernommen. Dann aber verändern sich die Grundzüge der Dialektik vollends bis zur Unkenntlichkeit. Klaubt man das Gute am dialektischen Verfahren heraus, dann kommt die Dialektik zwangsläufig zu einer Variante der Trial-and-error-Methode herunter. So findet die Hegeische Dialektik in Poppers Falsifikationsüberlegungen ihre Erfüllung und Ernüchterung. Danach würde Dialektik die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens triadisch vorschreiben, nämlich das vérsuchsweise Aufstellen und Ausprobieren von Theorien, das Ausscheiden der weniger probaten und das Uberleben der tauglichsten. So vermöchte die Dialektik Grundschritte in der Entwicklung von Ideen und Theorien im Gefolge von trial und error zu verdeutlichen, wonach nach mehreren Versuchen und wiederholtem Scheitern im Widerspruch — entweder innerhalb der versuchten Theorien oder zwischen dieser und einer anderen Theorie oder zwischen einer Theorie und bestimmten Tatsachenaussagen — ein neues Problem auftaucht, das die ausgeschiedene Theorie überholt. Als Variante der Trial-and-error-Methode bleibt der Dialektik allein der Charakter der Triade erhalten. Weil die untauglichen Theorien ausscheiden, kann sie weder den Anspruch des Aufbewahrens noch den der synthetischen Vereinigung durchhalten. Und sie muß jeglicher metaphysischer Redeweise, ζ. B. von der Macht der Negativität und dem daseienden Widerspruch, abschwören. Das aber sind nun gerade nicht, wie Popper es darstellt, geringfügige Abweichungen der Dialektik vom Trial-and-error-Muster. Wenn die Dialektik sich der Popperschen Theorie anpaßt, verliert sie im selben Maße, in dem sie an Plausibilität gewinnt, an Tiefgang. Sie wird flach und bedeutungslos. Folgerichtig kann Popper selbst die Dialektik als fundamentale Logik durchstreichen und nurmehr als deskriptive Theorie zulassen. Gleichsam auf dem Wege des Gnadenerlasses darf sie dann als bedingt brauchbare Methode noch zur Beschreibung der Historie, zur Entwicklung wissenschaftlicher Theorien

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Abgrenzung des Geltungsbereichs

und insbesondere (ausgerechnet!) zur Betrachtung der PhilosophieGeschichte dienen1. Angesichts solch rigoroser Aburteilung und des darin sich ausdrückenden horror contradictionis verwundert es nicht, daß Versuche aufkommen, der Dialektik und ihrem perhorreszierten Widerspruchsdenken eine angemessene Funktion innerhalb positivistischer Methodologie einzuräumen. Danach erklärt sich Dialektik als ein Suchen nach Widersprüchen, das an der methodologischen Version des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch orientiert bleibt. Dadurch aber verkümmert sie zu einer negativen Methode, der es, aller Hegeischen Beteuerung zum Trotz, nicht auf positive Begründung, sondern auf die Widerlegung von Positionen ankommt. Sie führt — im Gegensatz zu allem axiomatischen Denken — nicht Vorhandenes rechtfertigend auf frühere Gründe zurück, in ihr lebt das Streben, das Vorliegende durch Aufspüren von Widersprüchen zu widerlegen, vorläufige Positionen zu revidieren, um dadurch einen Fortschritt im Denken zu erzwingen. Solche Korrektur folgt der Bahn eines prinzipiellen Fallibilismus, welcher unter Vermeidung spekulativer Eskapaden die Dialektik verlebendigen möchte und doch nur an Schwindsucht eingehen läßt2. Natürlich fehlt es auch nicht an Vermittlungsversuchen, welche dialektische Elemente in der Forschungslogik aufdecken und der Dialektik so ihre universale, durch keinen besonderen Gegenstandsbereich eingeengte Reichweite wiedergeben wollen3. Das geschieht vorzüglich dadurch, daß eben das positive Vermögen des Widerspruchs rehabilitiert wird. Die Rettung des fruchtbaren Widerspruchs für die Methodenlehre stellt nicht nur die Vorurteile gegen die dialektische, angeblich den Satz des Widerspruchs ausschaltende Logik richtig, sie sucht die motivierende Rolle des Widerspruchs im Modell der reinen wissenschaftlichen Methodologie aufzuwerten. Ihre Ursprünglichkeit aber gewinnt die Dialektik dadurch nicht zurück. Uberall da nämlich stirbt sie in ihrer Wurzel ab, wo die Formalien ihrer methodischen Bewegung vom zugehörigen sachlichen Inhalt abgezogen worden sind.

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Vgl. Karl R. Popper, Was ist Dialektik? Iii: Logik der Sozialwissenschaften. Hrsg. von E. Topitsch. 8. Aufl. Köln 1972. Beispielhaft für diese Richtung ist H . Alberts .Traktat über kritische Vernunft' Kap. II, 7. Dialektisches Denken: Die Suche nach Widersprüchen. 2. Aufl. Tübingen 1969. Vgl. den Beitrag von R. Bubner, Dialektische Elemente einer Forschungslogik. In: Dialektik und Wissenschaft. Frankf. a. M. 1973.

Epigonale Methodologie

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Darin wirkt sich der Fluch neuzeitlicher Methoden-Gläubigkeit aus, das Wissen um die Methode für das Primäre, für einen Zauberschlüssel zu halten, mit dem sich alle Sachgebiete ,im Ganzen' erschließen lassen sollen. So starrt das Sehen auf das Sehen unangesehen des im Sehen Gesichteten. Die Reflexion der Methode als ein Sichten des Sehens läuft Gefahr, ,die Sachen selbst* aus dem Auge zu verlieren. Sie stellt eben das Prioritätsverhältnis auf den Kopf. Tatsächlich bahnen sich doch die Wege des Vorgehens (μέθοδοι) im eröffnenden Eindringen in einen Gegenstandsbereich von der Sonderheit der Sache her. Das Entwerfen der Methode als solcher ist, so paradox das scheinen mag, das Spätere. Das Frühere ist stets die lebendige Arbeit, durch die sich die Methode in ,selbstloser' Hingabe an die Sache profiliert. Diese Richtigstellung gilt uneingeschränkt für die Dialektik. Dabei mag schon hier kritisch angemerkt werden, daß die Hegeische Logik die Seinsbildung der Methode überzieht, wenn sie diese nicht bloß die Bewegung unseres Denkens, sofern es dem sich entwickelnden ,Begriff folgt, sondern den lebendigen Logos selbst sein läßt. Die Methode der Dialektik als Selbstbewegung der Gedanken Gottes läßt sich phänomenologisch nicht rechtfertigen. Ebenso vorläufig wie Richtung gebend aber soll festgestellt werden: Die in abstrakter Methodenreflexion gewonnene und diskutierte Charakteristik der Dialektik gerinnt zu einem gleichförmigen Schema, welches dem gewachsenen Formenreichtum des Dialektischen darum nicht gerecht wird, weil sie einen einheitlichen, universalen Methodenentwurf für das Erste hält. Es ist das Letzte. Was Dialektik überhaupt sein kann und wie es mit der Fülle ihrer Gestalten bestellt ist, das ergibt sich von der Sache her, der diese Methode adäquat ist und durch deren Entfaltung sie sich ausweist und rechtfertigt. Deshalb braucht man freilich nicht so weit zu gehen, wie es Nicolai Hartmann tut, jedem einzelnen dialektischen Gang — ζ. B. allein im reichen Stufengang der Phänomenologie des Geistes — eine eigene, einzigartige, unersetzliche und unübertragbare Dialektik zuzuweisen, so daß überhaupt kein allgemeingültiges, erlernbares Rezept für das geniale, konspektive Schauen des Dialektikers anzugeben, also ein Wissen darüber, wie die Dialektik zu ihrem Wissen kommt, unmöglich ist4. Wenn aber lediglich noch die Allgemeinheit dialektischer Schemata diskutiert und das 4

N . Hartmann, Die Philosophie des Deutschen Idealismus II. Teil, Abschnitt III, 2: Sinn und Problem der Dialektik, Abschnitt III, 3: Das formale Geschehen der Dialektik. 2. Aufl. Berlin 1960.

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Abgrenzung des Geltungsbereichs

Bewußtsein von ihrer Methode als eine Art Forschungslogik rege ist, dann ist es mit der Dialektik nach der Seite ihrer höchsten und lebendigen Bestimmung zu Ende. Die Heraushebung einer allgemeinen Formentypik aus der Detailarbeit der Methode ist etwas Nachträgliches. Es ist die Arbeit der Epigonen.

2. Kapitel: Suspension einer Dialektik der Natur Wenigstens ein angemessenes Gebiet und eine sachliche Beglaubigung scheint die dialektische Methode gefunden zu haben: die Natur. Seit langem wird versichert: In diesem Felde betätigt sich die Dialektik erfolgreich als umfassende Darstellungsweise, empfiehlt sie sich als Forschungsanweisung und bewährt sich als Ontologie. Hier findet die Dialektik nicht nur zahlreiche beweisende Exempel ihrer Wahrheit, sie geht eine innige Verbindung mit den positiven Naturwissenschaften ein, und sie errichtet ein universalontologisches Fundament. So bietet sich die Dialektik als jene Darstellungsart an, welche am geeignetsten scheint, die unübersehbare Masse naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse zu systematisieren. Sie leuchtet als Methode ein, die Natur in ihren allgemeinen Bewegungsund Entwicklungsgesetzen zu fassen, so daß sich ein Verstehen der Naturprozesse in ihrem systematischen und genetischen Zusammenhange eröffnet. Ja, sie scheint sogar zur Auffindung neuer Forschungsresultate — etwa im Felde der Biopoëse, der Selektionsprozesse, des Stoffwechselproblems — tauglich. In solcher Allianz mit dem unaufhaltsamen Fortschritt der Naturwissenschaften gewinnt die Dialektik selbst das Ansehen methodischer Fortschrittlichkeit und unangreifbarer Wissenschaftlichkeit. Am folgenreichsten ist die Doxa, es gehe dialektisch in der Natur her, von Engels zum Dogma verfestigt worden. Seine im Jahrzehnt von 1873 — 83 entwickelte, aus der ,2. Hegelaneignung' vom Ende der Fünfziger Jahre erwachsene neue Ontologie der Natur enthält vorzüglich in der Dühring-Kritik und in der ,Dialektik der Natur', übrigens wider eigene Absicht, den Entwurf eines Systems. Sie fixiert Grundgesetze einer die Philosophie aufzehrenden wissenschaftlichen Weltanschauung. Das Engelssche Unternehmen löst die Dialektik aus der Marxschen Rückbindung an die geschichtsträchtige Arbeit des Menschen heraus, um sie auf die vorund außermenschliche Natur anzuwenden. Das wälzt die Fundierungsverhältnisse der Dialektik insgesamt um. Marx hatte die Dialektik in der menschengeschichtlichen Welt und im Rahmen ,der einzigen Wissen-

Suspension einer Dialektik der Natur

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schaft', der Geschichte, verfaßt; unter Entlehnung von Hegeischen Kategorien der Seinslogik scheint sie in der Natur eine analoge Erweiterung zu erfahren. In Wahrheit hat sich dadurch der Anfang der Dialektik grundlegend gewandelt; denn die Konzeption der Natur, welche den Resultaten der Dialektik entsprang, nahm ein universalontologisches Prinzip in sich auf, die Materie und deren Daseinsweise, die Bewegung. Der dialektische Materialismus findet nunmehr in der Natur das Gründungsgebiet für seine Kategorien und Gesetze, die dann analog für Geschichte und Gesellschaft gelten sollen. Zwar hat Engels die Dialektik bekanntlich gleichsam drittelparitätisch als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens definiert, aber ihr ursprüngliches und exemplarisches Gebiet ist die Natur. Geschichte und Denken werden zu Anwendungsfällen. So formuliert Engels in ,Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Deutschen Philosophie' da, wo er den Untergang einer metaphysischen Naturphilosophie durch eine dialektisch dimensionierte positive Naturwissenschaft feiert: „Was aber von der Natur gilt, die hiermit auch als ein geschichtlicher Entwicklungsprozeß erkannt ist, das gilt auch von der Geschichte der Gesellschaft in allen ihren Zweigen und von der Gesamtheit aller der Wissenschaften, die sich mit menschlichen (und göttlichen) Dingen beschäftigen" (MEW XXI, 2 9 5 - 9 6 ) . Eben eine Analogie, die auf der Dialektik der Natur fußt, vermag die Unterschiede zwischen den Zuständen und Prozessen bewußtloser Natur und bewußter menschlicher Geschichtspraxis zu überbrücken. „So führen die Zusammenstöße der zahllosen Einzelwillen und Einzelhandlungen auf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbei, der ganz dem in der bewußtlosen Natur herrschenden analog ist" (MEW XXI, 297). In der Wurzel spalten sich also — entgegen dem von Marx in der ,Deutschen Ideologie' ausgesprochenen Monitum — Geschichte der Natur und Geschichte des Menschen. Diese Spaltung hat Schule gemacht. Sie führt innerhalb des rechtgläubigen Sowjetmarxismus zu einer Distinktion zwischen dialektischem und historischem Materialismus. Der dialektische Materialismus habe es mit der Natur, der historische mit dem Menschen und der Gesellschaft zu tun, und der historische sei ein Anwendungsfall des dialektischen Materialismus. In diesem epochalen Vorgang, wie er vor allem in J . W. Stalins ,Ober dialektischen und historischen Materialismus' von 1938 kodifiziert wurde, löst sich die materialistische Dialektisierung der Natur nicht nur von ihrer genuinen gesellschaftlichen Vermittlung, sie formt vielmehr geschichtliches und gesellschaftliches Sein nach ihren

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Gesetzen und verabsolutiert sich zu einer .katholischen', d. h. das Ganze von oben herab bestimmenden Weltanschauung. Seinen gedanklichen Rückhalt hat dieser Vorgang im Engelsschen Projekt der Naturdialektik. Ein metaphysischer Grundsatz des späteren Engels dehnt die Naturdialektik zu einer umfassenden Weltanschauung aus: Die Einheit der Welt bestehe in ihrer Materialität; die Materie sei das Subjekt aller Erfahrung. Engels hat den ontologischen Sinn des behaupteten Anfangsgrundes nicht zum Thema einer philosophischen Untersuchung gemacht. Immerhin erklärt er das Sein der Materie als solcher zum leeren Gedankending und verbindet Materie mit Bewegtheit. Was existiert, sind danach immer bestimmte Daseinsweisen der Materie, die Bewegung aber ist ihre durchgängige Daseinsart; nie und nirgends gibt es Materie ohne Bewegung. Was da und vorhanden ist, der Mensch als Evolutionsprodukt und denkende Materie eingeschlossen, ist Materie in irgendeinem Modus des In-BewegungSeins. Aber auch Unterschied und Untrennbarkeit von Bewegung und Materie bleiben seinsmäßig ungeklärt. Freilich genügt dieser Ansatz, um die Dialektik als Wissenschaft von dem Zusammenhang im ganzen und großen einzurichten. Deren Einheit formiert das Gefüge dreier Grundgesetze: „das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation" pialektik; MEW XX, 348). Nun zielen die Engelsschen Studien hauptsächlich darauf ab, diese dialektische Begrifflichkeit, die Hegel vorgeblich der Natur aufoktroyiert, als deren wirkliche Entwicklungsgesetze nachzuweisen. Fundierung oder Konfundierung dieser Dreigesetzlichkeit rücken dieser Tendenz aus dem Blick. „Wir können daher auf den innern Zusammenhang jener Gesetze unter sich nicht eingehen" (Dialektik; MEW XX, 349). Wird aber im Ernst die quaestio iuris für die dialektischen Kategorien und Grundsätze der Natur gestellt, dann ist es unumgänglich, dem inneren Zusammenhang auf den Grund zu gehen. Dabei können die vielseitig diskutierten Einzelgesetze und deren geschichtliche Implikationen — vor allem die aus ihrem spekulativen Systemrahmen herausgerissene Hegeische Lehre von der Knotenlinie der Maßverhältnisse, aber auch der objektive Idealismus der Schellingschen Naturphilosophie oder die dialektisch überanstrengte Lamarck-Darwinsche Evolutionstheorie — außer Betracht bleiben. Es kommt lediglich darauf an, die ontologische Rechtmäßigkeit dieser Gesetzlichkeit zu prüfen. Hierbei darf nicht etwa schon, wie es oft genug geschieht, die Ontologisierung der dialektischen Methode als der Engelssche Sündenfall beklagt und ver-

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dämmt werden. Nur als entstellte Feindbegriffe erscheinen Ontologie und Metaphysik überhaupt rückschrittlich und verwerflich. Ironischerweise hat Engels selber ausdrücklich vor dem Rückfall in eine Metaphysik der Natur gewarnt. Er fällt selbst bis hinter die , Physik' des Aristoteles zurück. Geht man auf den Zusammenhang der dialektisch-materialistischen Hauptgesetze ein, dann zeigt sich eine erste Rückgründung in den Satz der absoluten Negation; denn das Gesetz vom qualitativen Sprung wird offenbar vom Gesetz der doppelten Negation durchherrscht. Der ,plötzliche' Umschlag einer Qualität am kritischen Punkte des Unmaßes nach kontinuierlicher Veränderung der Quantität bedeutet ihre Negation. Aber auch die dadurch ponierte neue Qualität wird bei stetiger Veränderung der Quantität abermals negiert. Und nun soll sich nicht etwa die alte Qualität in immerwährendem Kreisgange wieder herstellen, sondern durch Negieren des Negativen zu besserer Qualität höherschrauben. (Es ist klar, daß spätestens hier das Hegeische Beispiel von der Verwandlung des Wassers aus seinem flüssigen Kohäsionszustand bei 100° in Dampf und bei 0° in Eis versagt.) Erst in Kombination mit dem ,Naturgesetz' der doppelten Negation wird das Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt zu einem Auf- und Höherheben. Die Kraft des Negativen aber beruht ihrerseits auf der Durchdringung der Gegensätze. Die gesetzhafte Durchdringung und Einheit der äußersten Gegensätze (von Sein und Nichtsein, Identität und Nichtidentität) treibt jede Position in ihren Gegensatz, um deren Kampf und Widerspruch in die Einheit der Vermittlung aufzuheben. Das sogenannte Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze spricht den Widerspruch als das Bindeglied des inneren Zusammenhanges aus. Es wird daher in den lehrbuchhaften Berichten unter dem Titel , Gesetz des vorhandenen Widerspruchs' an die dritte und tragende Stelle der Gesetzesreihe gestellt. Die Dreiheit der Gesetze basiert auf der Seinsthese: Ursprünglich und in Wahrheit ist das Durchdrungensein von den Gegensätzen der Identität und des Andersseins. Jegliches materiell Seiende entsteht, besteht und wird verstehbar in und durch den Widerspruch. Er ist gleichermaßen principium fiendi, essendi, cognoscendi. Solche Grundlegung stützt sich auf das Hegeische Diktum, der Widerspruch sei die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit, und nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch habe, bewegt es sich, hat es Trieb und Tätigkeit. Nun erspart sich der Engelssche Materialismus die Entwicklung des ,logischen' Gedankens vom Widerspruch. Für ihn ist der Widerspruch in allen Formen der Bewegung

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handgreiflich da und der Einspruch des formellen Denkens, der Widerspruch sei nicht denkbar, im Anblick von Bewegtheit und Leben der Natur lächerlich. „Die fortwährende Setzung und gleichzeitige Lösung dieses Widerspruchs ist eben die Bewegung" (Α-D; MEW X X , 112). Eben das Prinzip, „in jedem Augenblick dasselbe und doch ein anderes" zu sein (vgl. Α-D; MEW X X , 76 u. 112), manifestiert sich in der Bewegtheit des lebendig Seienden. Das Leben selbst bietet sich als Kronzeuge für den daseienden Widerspruch an. „Das Leben ist also ebenfalls ein in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandner, sich stets setzender und lösender Widerspruch; und sobald der Widerspruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod tritt ein" (Α-D; MEW X X , 112-113). Solche Sicherung der Systemanlage ist wie jede Systemversicherung riskant. Hält nämlich der Stützpunkt, die Behauptung von Bewegung und Leben als dem daseienden Widerspruch, nicht gegenüber dem philosophischen Zweifel stand, dann stürzt das ganze Gebäude der Naturdialektik ein. Und es hilft nicht viel, dagegen einzuwenden, die drei Gesetze bildeten ein .dialektisches', wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Auch dann löst sich der innere Zusammenhang auf, wenn eine Bedingung wegfällt. Der Dialog über Widerspruch und Bewegung ist alt. Er orientiert sich zuerst am Bedenken der Bewegung als Ortswechsel; denn hier scheint es unzweifelhaft einen Widerspruch zu geben, der „in den Dingen und Vorgängen selbst objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen ist" (Α-D; MEW X X , 112). „Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch; sogar schon die einfache, mechanische Ortsbewegung kann sich nur dadurch vollziehn, daß ein Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem Ort und zugleich an einem andern Ort, an einem und demselben Ort und nicht an ihm ist" (Α-D; X X , 112). Der Befund, daß das Bewegte für das Denken den Anblick eines sich selbst Widersprechenden bietet, bildet den Ausgang der Kontroverse zwischen Engels und Dühring. Für Dühring ergibt sich daraus, daß das Sein der Bewegung sich selbst widerspricht, dessen Undenkbarkeit. „Für ihn ist die Bewegung, weil ein Widerspruch, rein unbegreiflich" (Α-D; X X , 112). Für Engels folgt daraus: Die fortgesetzte Aufstellung und Auflösung dieses Widerspruchs ist eben die Bewegung. In solcher Diskussion wiederholt sich auf dem abgeflachten Niveau eines Weltanschauungsstreites die Auseinandersetzung, welche Hegel mit Zenon über Sein oder Nichtsein der Bewegung geführt hat. Das Dogma von der Widersprüchlichkeit der Ortsbewegung leitet sich bis auf die Paradoxien des Zenon zurück. „Der fliegende Pfeil steht" —

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ή οίστός φερομένη Ιστηκεν (Aristoteles, Phys. Ζ 9; 239b 30 — Frg. A 27). Was in diesem Jetzt hier und in einem anderen Jetzt dort ist, ist nicht in Bewegung. Etwas bewegt sich nur, indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier ist. Der Pfeil bewegt sich nicht dort, wo er ist — dort ruht er ja. Und er bewegt sich erst recht nicht dort, wo er nicht ist — dort ist er überhaupt nicht da, also auch nicht in Bewegung (vgl. Frg. Β 4). Der Pfeil müßte mithin, um zu fliegen, in demselben Hier zugleich sein und nicht sein. Die Annahme der Bewegung bleibt im Widerspruch stecken. Der Wahrheit nach ist Bewegung, weil sie in sich widersprüchlich ist, gar nicht da. Zenon widerlegt das Sein der Bewegung, um dadurch dialektisch, d. h. apagogisch den eleatischen Ursatz zu erhärten: Das Sein ist unbewegt, unentstanden, unveränderlich. Hegel gibt den , alten Dialektikern' den Widerspruch im Sein des Bewegten als eines solchen zu, aber er zieht daraus eine andere Konsequenz. „Daraus folgt nicht, daß darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr, daß die Bewegung der daseiende Widerspruch selbst ist" (Logik II, 59). Die Bewegung ist ihrer Wahrheit nach, eben weil sie nachgewiesenermaßen vom Widerspruch durchherrscht ist, der daseiende Widerspruch. Hegel verneint die widerspruchslose Bewegung und erhärtet so das dialektische Vorurteil: Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend. Der Streit zwischen Hegel und Zenon und — in schwächlichem Abglanz — die Polemik Engels' gegen Dühring haben den Charakter einer dialektischen Opposition im Kantischen Verstände. Er beruht auf einer ,unstatthaften Bedingung*. Die gemeinsame Unterstellung beider Parteien, Bewegung könne nicht ohne Widerspruch bestimmt werden, irrt. Die Widerlegung der Zenonischen Paradoxien und die widerspruchsfreie Fassung der Bewegung ist so alt wie die erste geglückte Philosophie der Natur selber. Die Aristotelische ,Physik' hat die Dialektik der Ortsbewegung aufgeklärt und das Sein der Bewegung überhaupt aus der Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit bestimmt. Nun hatte Engels in der ,Alten Vorrede' zum Anti-Dühring erklärt: „Die Dialektik gar ist bis jetzt erst von zwei Denkern genauer untersucht worden, von Aristoteles und Hegel" (MEW XX, 330). Und er hat die beherzigenswerte Maxime beigefügt, auf das dialektische Denken der Griechen in seiner urwüchsigen Einfachheit zurückzugehen, um nicht Gefahr zu laufen, das als funkelneue Weisheit auszugeben, was längst philosophisch abgetan ist. Das Urteil über die Widersprüchlichkeit der Bewegung liegt seit den Untersuchungen des Aristoteles abgetan bei den Akten der Philosophiegeschichte.

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Seit Aristoteles ist das Kontinuum der Erstreckungen von Zeit und Raum und deren Seinsweise, das Unendlichsein im Modus der Möglichkeit, in Anschlag zu bringen. Geschieht das, dann ist im Hinblick auf die Ortsbewegung nicht mehr von Jetzt-Hier-Punkten auszugehen, sondern von potentiell unendlich klein zu setzenden Zeitintervallen. Nur solange das Hier und Jetzt des Bewegtseins punktuell gedacht werden, ist der Widerspruch unvermeidlich, daß das Bewegte in einem einzigen ZeitPunkt hier ist und nicht hier ist, bzw. in einem einzigen Ortspunkt jetzt ist und jetzt nicht ist. Bildet dagegen beim Ortswechsel die Zeit nicht einen (abstrakten) Punkt, sondern eine beliebig klein einzuteilende Zeitspanne (dt), dann kann das Bewegte widerspruchsfrei sowohl hier wie nicht hier sein. Die Ortsbewegung braucht nicht dialektisch vom Widerspruch her, sie kann analogisch durch die Analogie von Wirklichkeit und Möglichkeit zureichend begriffen werden. Was sich als Ortsbewegung zeigt und da ist, ist die Wirklichkeit eines Bewegbaren, von hier nach dort wechseln zu können. Und das gilt generell für alle Art Umschlag (μεταβολή). Bewegung ist vordringlich ein Ubergang von Nichtsein ins Sein, griechisch gesprochen: ein Hervortreten aus der Abwesenheit ins anwesende Erscheinen. Ineins mit dem Erscheinen des Bewegten kommt auch das Ubergehen selbst mit heraus. Was aber ist als solches Ubergehen eigentlich da und faßbar? Das läßt sich am ehesten im Hinblick auf die von uns verfertigten Dinge in ihrem Werden ersehen. Was also ist ζ. B. im Aufwachsen eines Hauses anwesend, solange der Bau im Gange ist? Weder das fertige Haus noch die bereitgestellten Baustoffe und schon gar nicht der Widerspruch eines seienden und zugleich nichtseienden Hauses. Was während des Bauens mehr und mehr zum Vorschein kommt, ist der Eignungscharakter der Baustoffe als des möglichen Hauses selbst. Der erschließende Hinblick für die Bewegtheit ist eben der Seinssinn von Möglichkeit und Wirklichkeit. In ihm ergibt sich das Wesen der Bewegung als das Zum-Vorschein-Kommen des Möglichseins und Fähigseins eines Möglichen. Bewegung ist Anwesenheit des Geeigneten in seinem Geeignetsein. Diese Umgrenzung hat Aristoteles vorgelegt. „Da sich nun im Hinblick auf jegliches (kategoriale) Geschlecht die Seinsbedeutung von Wirklichkeit und Möglichkeit auseinanderlegt, (läßt sich Bewegung so umgrenzen): Bewegung ist die wirkliche Anwesenheit eines der Möglichkeit nach Seienden als eines solchen — διηρημένου δέ καθ' Ικαστον γένος τού μεν εντελεχεία τοΰ δέ δυνάμει, ή του δυνάμει όντος έντελέχεια, fi τοιούτον, κίνησίς έστιν (Phys. III, 1; 201a 9-11). Dabei muß auch dies

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behalten werden, daß Möglichkeit und Wirklichkeit nicht an ihnen selbst zu definieren, sondern nur analog, aus ihrem Verhältnis zueinander, darzulegen sind. Möglichkeit bedeutet Noch-nicht-Wirklichsein, und Wirklichkeit besagt verwirklichtes Möglichsein. Mithin weicht die dialektische Fassung der Bewegung aus dem Widerspruch einer zureichenden Darlegung aus der Analogie. Hegels Rückgriff auf die Zenonische Dialektik war ein Mißgriff. Und die von Hegel und von Engels gezogene Konsequenz aus der falschen Annahme der widerspruchsvollen Bewegtheit ist abermals falsch. Es folgt daraus keineswegs, daß der Widerspruch existiert, sondern daß der Begriff der Bewegung anders, nämlich analogisch und nicht dialektisch, bestimmt werden muß 5 . Was dagegen nach Engelsschem Dogma für den mechanischen Ortswechsel gilt, behält für alle Arten Bewegung, Wachsen und Schwinden, Veränderung, Entstehen und Vergehen, Regreß und Progreß, und in allen Bereichen des Seienden — als mechanische, chemische, biologische, bewußtseinsmäßige Bewegung — grundsätzliche Gültigkeit. Die Einheit und Gleichförmigkeit aller Bewegung ist für Engels naturwissenschaftliche Tatsache. Vorzüglich „die höhern Bewegungsformen der Materie und ganz besonders das organische Leben und seine Entwicklung" (Α-D; MEW XX, 112) offenbaren dialektische Züge. Folgt denn nicht das Naturleben offensichtlich dem Schema der Triplizität, dem Gesetz der doppelten Negation und dem Widerspruch als Selbstbewegung? Die Dreiheit von Same — Blüte — Frucht, das Verschwinden der Knospe im Aufbrechen der Blüte und das Vergehen der Blüte in der Frucht als ihrer höheren Wahrheit scheinen es zu demonstrieren. Und bezeugt die körperhafte Materie (der Eiweißkörper) nicht geradezu mit ihrem Leben den daseienden Widerspruch? Engels bestimmt das Wesen des Lebendigen als die wirkliche Einheit im Umschlagen der äußersten Gegensätze von Selbigkeit und Andersheit. „Das Leben, die Daseinsweise des Eiweißkörpers besteht also vor allem darin, daß er in jedem Augenblick er selbst und zugleich ein andrer ist; und dies nicht infolge eines Prozesses, dem er von außen her unterworfen wird, wie dies auch bei toten Körpern der Fall sein kann. Im Gegenteil, das Leben, der durch Ernährung und Ausscheidung erfolgende Stoffwechsel ist ein sich selbst vollziehender Prozeß, der seinem Träger, dem 5

Die Zenonisch-Hegelschen Irrtümer und Inkonsequenzen hat mit aller wünschenswerten Deutlichkeit W. Bröcker herausgestellt. Vgl. Dialektik, Positivismus, Mythologie. Frankf. a. M. 1958. S. 19ff. Formale, transzendentale und spekulative Logik. Frankf. a. M. 1962. S. 24 ff.

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Eiweiß, inhärent, eingeboren ist, ohne den es nicht sein kann" (A-D; MEW XX, 76). Ontologisch betrachtet, hängen Sein und Dasein des Lebewesens an der Fähigkeit des materiellen Substrats, den Widerspruch der Bewegung in sich aufzunehmen und so in jedem Jetzt zugleich und in derselben Hinsicht dasselbe und anderes zu sein. Aber auch vor dieser Verkündigung hätte Engels seinem eigenen Rate folgen und Resultate des Aristotelischen Überdenkens der Dialektik beachten sollen. Dann hätte sich wiederum gefunden, daß das körperhafte Lebewesen in seinem Wassein nicht dialektisch, sondern anàlogisch und teleologisch verstanden werden kann. Dafür muß hier ein Hinweis genügen. Die sicherlich frühe Kategorienschrift, in welcher das Aristotelische Analogie-Denken im Abstoß gegen die Platonische bzw. Piatonistische Dialektik zu sich selbst findet, hat eben dies als die Auszeichnung des lebendigen Wesens gegenüber allem bloß mitgängigen Sein herausgestellt: „Am meisten aber scheint es dem (lebendigen) Wesen eigentümlich zu sein, als das Selbe und der Zahl nach Eine Entgegengesetzten geöffnet zu sein — μάλιστα ôè ίδιον της ουσίας δοκεΐ είναι το ταυτόν και êv άριθμω σν εναντίων είναι δεκτικόν (Cat. cap. 5; 4a 10-11). In dieser Bestimmung kommen die im Kontext zuvor besprochenen „Eigenheiten" des Wesens (nämlich ein sich selbst zeigendes Dieses-da zu sein, kein Gegenteil außer sich zu haben, kein Mehr oder Minder zu dulden) ins Ziel. Sie alle sind Charaktere der Einheit als Identität. Die vierte Eigentümlichkeit weist das Wesen als die Identität im Anderssein aus. Wesenhaft Seiendes ist so sehr es selbst, daß es Gegensätze in sich aufnehmen kann, ohne seine Selbigkeit zu verlieren. Alles bloß mitgängige Sein dagegen wird dadurch, daß es Gegenteiliges annimmt, selbst ein anderes. Weiß wird schwarz und tapfer feige. Beim Wesen steht es anders. Es ist derselbe Alkibiades, der jung und alt ist, der ehrenvoll und verräterisch handelt. Dabei bedeutet die wesenhafte Selbigkeit nicht etwa ein beharrendes Substrat, woran sich der Wandel äußerlich abspielt. Lebendiges Wesen ist nicht der Bewegung (dem Umschlag ins Gegenteil) entzogen, wie ζ. B. das ,Wesen* der Zahl. Wesenseinheit bedeutet nicht tote, unbewegliche Selbigkeit oder gar leere Einerleiheit. Sie ist die einigende Einheit des Wandels, eine Identität, die den Widerspruch und die Unruhe von Gegensätzen in sich aufnimmt. (In Engelsscher Verflachung: Das Leben ist seinem ,Träger' eingeboren.) So aber scheint doch die Aristotelische Darlegung das Gesetz des vorhandenen Widerspruchs zu bestätigen. In Wahrheit hält sie solche Rede durch ihre Eröffnung der vielfachen Bedeutung des Seins nieder. Das Wesen ist in jedem Augenblick dasselbe und zugleich ein anderes, aber in ver-

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schiedener kategorialer Hinsicht. Das Anderssein (etwa klein und groß, jung und alt, tapfer und feige zu sein) betrifft Mitgängiges, das Identischbleiben dagegen das Wassein. Und das Lebewesen ist in Bewegung und so seiend und nicht-seiend zugleich, aber in verschiedener modaler Hinsicht. Die Bewegung des Wesens ist Werden eines Selbigen, das aus seiner wesenhaften Möglichkeit in seine Wirklichkeit und in sein Telos aufgeht. Wird die Analogie von Dynamis und Energeia, von Arche und Telos beachtet, dann sieht man: Wesen ist Werden und Lebendigsein. Aber es wird nie ein anderes als es selbst. Es wird in Wirklichkeit gerade das, was es seiner Möglichkeit nach immer schon war. Verweisende Erinnerungen an ein Denken, das erstmals verbindlich das Sein der Bewegung und den Satz des Widerspruchs begriffen hat, zeitigen ein verheerendes Ergebnis. Das die Dialektik der Natur fundierende Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze oder vom vorhandenen Widerspruch besitzt gar nicht den Ausweis, auf den Engels baut, nämlich die Bewegung und das Leben des materiell Seienden. Kommt das heraus, dann bricht der ganze Dreisatz dieser Naturdialektik zusammen. Dennoch brauchen weder der Widerspruch noch die Natur überhaupt aus der Kompetenz einer recht verstandenen Dialektik entlassen zu werden. Sie dürfen nur nicht überspannt und beziehungslos angesetzt sein. Hegels Idee, alle Dinge seien an sich widersprechend, und die Erfahrung, daß die Welt voller Widersprüche ist, entkräften nicht den Satz vom Widerspruch — weder in seiner ontologischen noch in seiner logischen Bedeutung. Sich selbst widersprechende Sätze sind nichtssagend, etwas sich selbst Widersprechendes bleibt nicht-seiend. Der Gegenstand eines Begriffs, der sich selbst widerspricht, bedeutet das nihil negativum. Die Hegeische Maxime wendet sich auch gar nicht gegen das Gebot der Widerspruchslosigkeit, es richtet sich gegen den abstrakten Satz der Identität und gegen den Hang, einseitig zu denken, d. h. eine Seite für das Ganze auszugeben, etwas Relatives zum Absoluten zu steigern und die Gegensätzlichkeit, für die jegliches Wesen in seinem Lebendigsein und Werden geöffnet ist, zu unterschätzen 6 .

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Solch nüchterne Betrachtung kontrastiert mit den oftmals feierlichen Beteuerungen der illegitimen Hegeischen Erben, die Dialektik setze das Widerspruchsprinzip und damit die Metaphysik außer Kraft. Vgl. P. M. Grujió, Zur Ontologie des Marxismus. München 1972: „Die dialektische Auffassung des Widerspruchsprinzips vertreibt aus den Dingen den metaphysisch-inneren Frieden und setzt in sie, in ihre existenzielle Wesenstiefe, den Widerspruch als Begründung und Selbstverwirklichung alles Seins" (S. 35).

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Ebenso muß die Verträglichkeit von Dialektik und (materialistischer) Natur besonnen überprüft werden. Die Diskussion ist im Gang. So kreist die sogenannte Pariser Kontroverse um die Grundfrage, ob der Natur, wenn sie auf das Prinzip einer Materie an sich zurückgegründet wird, dialektische Bestimmungen wie Totalität, Widerspruch usf. zugesprochen werden können und ob nicht die Dialektik überhaupt Bezüge der Subjektivität einschließt. Aber auch von der Position der Popperschen Dialektikkritik aus wird nur eine Verbindung noch übler vermerkt als die des dialektischen Idealismus: die Kombination zwischen Dialektik und Materialismus. Und es fehlt auch nicht an der Erklärung, die Materie, dialektisch interpretiert, höre auf, Materie im Sinne der exakten Naturwissenschaft zu sein. Endlich ist im Lager des philosophisch gebildeten Materialismus selber die Einsicht gewachsen, daß von einer eigenständigen Dialektik der Natur extra nos nicht die Rede sein könne, weil ihr alle Dialektik prägenden Momente fehlen: der Wechselbezug von Subjekt und Objekt, die Einheit der Gegensätze von Theorie und Praxis usf. Dieser kritische Ansatz hat sich zur These zugespitzt, der Begriff der Natur lasse sich weder philosophisch noch naturwissenschaftlich von dem ablösen, was gesellschaftliche Praxis jeweils über sie vermag. Dialektisch werde die Natur erst dadurch, daß sie den Menschen als handelndes Subjekt hervorbringt, der ihr selbst als ,Naturmacht' gegenübertritt7. Dies alles verdient bedacht zu werden. Ausgang solcher Revision aber muß ein unlösbarer Zusammenhang zwischen Dialektik, Bewegung und Widerspruch bleiben, der auch die Natur miteinbezieht. Dabei sollte festgehalten werden: Eine Auslegung, welche die Natur von der materiellen Substanz und ihrem Attribut, der Bewegung, her dialektisch interpretiert, mißinterpretiert das Wesen des Wesens, der Bewegtheit und des Lebendigseins. Und es muß die Frage eröffnet werden: Entwährt sich, wenn die Dialektik von Bewegung, Materie und Natur haltlos wird, auch eine Dialektik, welche auf die Bewegung, Lebendigkeit und Widersprüchlichkeit des Selbstbewußtseins achtet und darauf sieht, wie das ,Wesen' des Ich als einigende Einheit von sich aus wirkliche Gegensätze in sich aufnimmt? Zuvor aber muß die aufdringliche Frage erledigt werden: Wie stellen sich Bewegung, 7

Bekanntlich hat als erster Georg Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein" (1923) gewagt, gegen die Engelssche Fassung der Dialektik zu polemisieren. Die Kritik an der von Engels vollzogenen Ontologisierung einer ursprünglich kritischen und radikal historischen Theorie haben die Arbeiten von A. Schmidt fortgeführt, welche Natur als gesellschaftliche Kategorie im genuinen marxistischen Sinne wiederzugewinnen suchen. Vgl. Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx. Frankf. a. M . 1962; Geschichte und Natur. In: Existentialismus und Marxismus. Frankf. a. M. 1965.

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Entwicklung, Fortschritt, Widerspruch und Aufhebung im Bereich der Geschichte dar, wenn die Vernunft es unternimmt, Geschichte dialektisch zu begreifen? 3. Kapitel: Geschichte und Dialektik Die denkende Betrachtung der Geschichte begreift die Dialektik der weltgeschichtlichen Bewegungen. Begriffene Geschichte rechtfertigt und rühmt die erschließende und Sinn gebende Kraft dialektischer Methode. Solch dialektische Einstellung der philosophischen Frage nach Endzweck, Mittel und Gang der Weltgeschichte ist durch Hegel ins Werk gesetzt worden, und noch der Zerfall dieser Fragestellung durch den historischen Perspektivismus lebt von der Begriffswelt der absoluten geschichtlichen Totalwahrheit, die er relativiert. Selbst die große Wende des historischen Materialismus bleibt, obwohl sie der Geschichte den Boden der ,Logik* entzieht und sie auf Grundtatsachen der politischen Ökonomie zurückgründet, dem Hegeischen Glauben an die Dialektik geschichtlicher Prozesse verhaftet. Weil das so ist, hält sich die einleitende kritische Abgrenzung an den durch Hegel geknüpften Zusammenhang von Dialektik und Geschichte. Der Gedanke, durch den die Philosophie das dunkle Problem der Geschichte aufhellt, spricht sich im Grundsatze aus, die Vernunft beherrsche die Welt; die bewiesene Identität von Denken und Sein garantiere, daß es auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei. Geschichte ist ein vemunftbeherrschter Prozeß, das besagt in Hegelscher Systemsprache: Sie ist Entwicklung des objektiven Geistes, der als Reales sein Dasein in der Zeit hat. Daher verfehlt die am Kreisgange der Natur orientierte Vorstellung eines bloßen Wechsels von naturhaftem Untergang und Neubeginn der Völker und Staaten den Geist der Geschichte. Das morgenländische Naturbild des mythischen Phönix bleibt für geschichtliche Abläufe inadäquat. Geschichte kommt für das Begreifen nur in Betracht, sofern sie einen geistigen Inhalt hat. Die Welt der Geschichte bildet eine zweite Natur, nämlich die aus dem Geiste der Freiheit wiedergeborene Welt staatlich lebender Völker. In ihr erlangen Bewegung, Zeit und Raum eine geistvolle Gliederung. Die Zeitfolge der Geschichte enthüllt sich als Abfolge des Weltgeistes, d. h. des wahren Subjekts der Universalgeschichte, der aus niederen Bestimmungen zu höheren Darstellungen und bis zur Erfüllung seiner Idee fortschreitet. Weil so der Geist als die Macht der Zeit erscheint und die geschichtlichen Um-

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schwünge profiliert, gliedert sich die Zeitfolge des Geschichtsablaufs durch die dialektische Folge der Begriffe. Es ist die dialektische Logik, die sich in geschichtlicher Zeit konkretisiert. Aber höhlt eben diese Fundierung das Fundierte nicht aus? Der überzeitliche Logos nivelliert im Grunde die Zeitlichkeit geschichtlichen Seins zur Episode; denn der Geist hat die Zeitfolge immer schon in seine Ewigkeit hineingesogen. Er wird durch die Formen geschichtlichen Daseins hindurch das für sich, was er an sich gewesen ist, nämlich übergeschichtlich. Zeit und Geschichte bilden nur eines der Gefäße für die Ehre Gottes. So übergeht der dialektische Logos die Zeitlichkeit des menschlichen geschichtlichen Daseins. Natürlich gilt auch das Umgekehrte: Die zeithafte Geschichtlichkeit des Daseins boykottiert die letztlich Zeit aufhebende dialektische Methode. Alle Dialektik der Menschengeschichte bleibt der menschlichen Geschichtlichkeit fremd. Darum tritt die Dialektik auch nirgendwo dogmatischer auf als im Gebiete der Weltgeschichte. Und nirgends ist die Pseudodialektik offensichtlicher. Sie liegt in den von ihr usurpierten Kategorien Fortschritt, Entwicklung, Zweck und Mittel — einschließlich der .dialektischen' List der Vernunft — eigentlich offen zu Tage. Den Gedanken des Fortschritts hat die Philosophie stets als allgemeinste Kategorie der Geschichtserfassung vorgegeben. Hegels Fortschrittsdenken ist so auch durch die Uberlieferung bestimmt. Sicherlich hat die Vorstellung von der unumkehrbaren Ausrichtung der Welt in ihrer Geschichte auf ein künftiges, ewiges Ziel biblische Wurzeln. Aber näher liegen Hegel doch Fortschrittsglaube und kritischer Geist der Französischen Aufklärung. Hier wurde das Modell des Fortschritts zum Organon einer zweideutigen dialektischen Negation. Fortschritt impliziert Kritik an der veralteten Gesellschaftsordnung. Seine Idee schließt ein, daß die gegebenen Verhältnisse nicht beizubehalten, sondern zu überwinden sind. Sie liefert das scharfe Instrument, um die Vergangenheit als Vorgeschichte eigener Vollendung zu interpretieren und entgegenlaufende Tendenzen als rückschrittlich zu verurteilen und zu liquidieren8. So gerät die Aufnahme dieses Grundschemas modernen historischen Denkens auch im Hegeischen Denken zu einer Abrechnung mit der Vergangenheit. Bekanntlich ist Weltgeschichte nach Hegel Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Dieser 8

H . Marcuse hat den Begriff des Fortschritts als Mittel des aufsteigenden Bürgertums herausgestellt, die Geschichte als Vorgeschichte seiner eigenen Herrschaft und diese als Reifezustand der Welt auszulegen. Vgl. Vernunft und Revolution. Darmstadt und Neuwied 1972. S. 201 ff.

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Prozeß impliziert die aufhebende Vernichtung der Vergangenheit als einer Zeit, in welcher der Mensch noch nicht er selbst war. Fatalerweise bleiben solche Vergöttlichung und die ihr folgende Vergötzung des Fortschritts in der Neuzeit sowohl für eine revolutionäre wie eine dialektische Theorie offen. Selbst wenn das Fortschreiten dialektisch als Aufheben des Alten, über das es hinwegschreitet, genommen wird, haftet ihm die grundsätzliche Zweideutigkeit an, seine Aufhebungen als conservatio und revolutio zu vollziehen. Sofern aber nun doch conservatio und revolutio einander ausschließen, scheiden sich die Wege und Methoden, entweder den Fortschritt in der Geschichte der Dialektik des (wie auch immer interpretierten) Weltgeistes anheimzustellen oder als revolutionäre Tat in die Hand zu nehmen. Einwandfrei dialektisch aber scheint die Fortschrittlichkeit der Geschichte zu werden, wenn sie sich mit der Kategorie der Entwicklung verbindet. In Kombination mit der Entwicklung stellt sich die charakteristische Form der Methode, die Triplizität, im Prozeß der Menschheit durch die Zeit her. Der Fortschritt kann sich nunmehr in einem Muster entwickeln, wonach sich das Hervorgehende aus dem Untergehenden in einem Stufengange aufhebend erhebt. Zwar sterben die besonderen Subjekte der Entwicklung, die Volksgeister, sei es, indem sie durch den natürlichen Tod aussterben, sei es, daß sie bis zur politischen Nullität hinschwinden, sie bleiben als Momente der Gesamtentwicklung in höheren, allgemeineren Gestalten unvergänglich aufgehoben. So aber folgt die Geschichte dialektischem Geistesgeschehen. Es ist der Geist, der sich erhöht und verklärt, indem er sich verzehrt. Und es ist sein Wesen, die Freiheit, die sich geschichtlich im Rhythmus des Dreischritts entfaltet. Von daher gliedert sich die Weltgeschichte in die drei historischen Hauptformen der orientalischen, griechisch-römischen und germanisch-christlichen Welt und dementsprechend in die drei Typen der Staatsformen, Despotismus, Demokratie-Aristokratie und Monarchie (in der nur einer Herr und keiner Knecht ist). Aber die Dialektizität der Entwicklung vermag nicht zu überzeugen. Es ist nicht recht zu sehen, woher Dreistufigkeit und dreitaktiger Rhythmus der Geschichte ihre Notwendigkeit beziehen. Woher kommt den Epochen die Gesetzlichkeit von Freiheitsverlust und Freiheitszugewinn zu? Daß sich die absolute Idee unausweichlich ins Anderssein der Natur entäußern und auf dem Wege der Geschichte überhaupt wiedergewinnen muß, mag man konzedieren. Wie aber in der geschichtlichen Realität der Geist der Freiheit sich je und je entfremdet und durch die

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Negation seiner Entwirklichungen stufenweise verwirklicht, das ist nicht a priori konstruierbar, sondern allenfalls empirisch zu konstatieren. Es ist der Verzicht auf das Prinzip des die Freiheit in der Geschichte vollziehenden Menschen, welcher die dialektische Geschichtsbetrachtung zu einem Mythos der Resurrektion, zur Theodizee und zur willkürlichen Konstruktion der Geschichte werden läßt. Daher kommt das Beliebige oder gar Gewaltsame der triadischen Zäsuren. Dies sei hier nur anmerkungsweise am Hegeischen Vergleich der Weltgeschichte mit den Stufen der menschlichen Lebensalter belegt. Dieser Vergleich macht die Triadik der Geschichte nicht glaublicher, sondern eher noch verdächtiger. Die triadische Ausformung der Lebensalter-Lehre — wie überhaupt die Anthropologie in Hegels Lehre vom subjektiven Geist — enthält doch Wunderlichkeiten genug. Man denke nur an die dialektischen Erklärungen der Nationalcharaktere oder der Kontinente, z.B. des Lebensraumes Europa als Synthese der ,gediegenen Einheit Afrikas' mit dem durch Gegensätze zerklüfteten Asien! Uberhaupt aber lenkt die Analogie des natürlichen Heranreifens die Geschichte auf den Natur- und Kreislauf einer Anakyklosis zurück. Sie desavouiert die Idee der Entwicklung zum Besseren und den Gedanken einer Vollendung im Vollkommenen. Was endlich über die dialektische Konstruktion der Geschichte entscheidet, ist die Verknüpfung von Fortschritt und Entwicklung mit den Vernunftkategorien von Einheit und Ganzheit, von Sinn und Endzweck. Die Dialektik der Geschichte macht dabei eine spätestens seit der Romantik fragwürdig gewordene Unterstellung, nämlich daß Geschichte im wesentlichen am Ende und ihr Sinn offenbar geworden sei. Das ist eine gemeinsame Voraussetzung aller begriffenen Geschichte. Geschichte (,Vorgeschichte') sei abgeschlossen und daher als ein Ganzes überschaubar. Bei solcher Entwurzelung der Zukünftigkeit bleibt nur eines zu tun übrig, nämlich den festgestellten Sinn, das Reich der Freiheit, zu allgemeiner Herrschaft zu bringen. So bedeutet für Hegel, universalgeschichtlich nachgerechnet, Europa schlechthin das Ende für den von Osten nach Westen laufenden Gang der Geschichte. Im Westen geht die Sonne unter und das Licht des Selbstbewußtseins und der Selbstbestimmung auf. U n d die politisch-ökonomische Interpretation durch Marx modifiziert lediglich den Gedanken der Endzeit; denn auch seine Ansicht, das endgültige Stadium der Geschichte sei das Zeitalter der modernen Industrie und des Industrie-Arbeiters, nährt sich von der merkwürdigen Uberzeugung, daß Geschichte ihr Ende erreicht habe. Mit dem Ende einer Klasse (der Bourgeoisie oder des dritten Standes) und durch die Welt erlösende

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Funktion des neuen auserwählten Volkes, des Proletariats, sei die (Klassenkampf-)Geschichte befriedet 9 . Solch rückwärts gerichtete Prophetie — sowohl Hegels Vorsehungsglaube an die Offenbarung Gottes in der Gestalt des Weltgeistes wie der politisch-ökonomische Messianismus von Marx — sucht die Unerforschlichkeit des ewigen Heilsplanes in der wissenschaftlichen Dialektik von Nationalökonomie bzw. spekulativer Logik zu entschlüsseln. Gleichwohl versanden die dialektischen Aufschlüsse in einer planen Theologie und restaurierten Theodizee. So operiert Hegels ruchlos optimistischer Versuch, Gott angesichts der schreckensvollen geschichtlichen Übel durch die Entwicklung der Geschichte selbst zu rechtfertigen, mit dem Trick aller Theodizee. Das zerstörerische Prinzip des malum historicum wird als eine Art Nichts (qua ens privativum) ausgelegt, zum an sich kraftlosen Negativen degradiert und zum verschwindenden Moment einer Fortschrittsund Heilsgeschichte minimisiert. Ganz abgesehen davon, daß damit alle Wirklichkeit, die nicht durch den Begriff selbst gesetzt ist — das jeweilige Dasein, das ich selber in meiner Zeitlichkeit, Zukünftigkeit, Geschichdichkeit bin, eingeschlossen —, auf die Seite der vorübergehenden, äußerlichen Zufälligkeit fällt, dessen Leiden gegenüber den Plänen des Weltgeistes nichts zählen, entkräftet sich die Logik der Dialektik selbst. Die Macht des Negativen, die in der Logik den Prozeß der absoluten Gedanken belebt und bestimmt, kommt in der Dimension der Geschichte zu einem privativen Übel und einer quantité négligeable herab, die nicht erhebt und verbindet, sondern einfach verschwindet. Der Hegeische Geist jedenfalls verbindet das fortschreitende Verschwinden des Negativen mit der naiven Überzeugung, das staatlich-politische Hochziel der Freiheit sei in seiner Zeit erreicht — so wie der marxistische Ausblick auf die klassenlose Gesellschaft das Verschwinden des malum historicum, nämlich von Klassenkampf, Herrschaft und Ausbeutung, vorspiegelt. Nun lagert die theodizeeische Geschichtsdialektik Hegels in einer umfassenden Teleologie. Nirgends zeigt sich der teleologische Hintergrund der Dialektik so deutlich wie im Gebiete der Geschichte, und nichts wäre dringlicher als eine von den Illusionen begriffener Geschichte befreiende Kritik der dialektischen historischen Vernunft, die am Gemisch von Teleologie und Dialektik ihren Anstoß nähme; denn die in einem Endzweck festgemachte Relation von Mittel und Zweck entspricht doch 9

Die Komponente des Messianismus bei Marx und die Auslegung des historischen Materialismus als Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie ist am kräftigsten von K. Löwith (Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1953) herausgestrichen worden.

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nicht der dialektischen Antithesis und deren absoluter Versöhnung. Das läßt sich am angeblich dialektischen Charakter der List der Vernunft studieren. List der Vernunft meint einen Widerspruch zwischen Absicht und Endzweck. Die geschichtsbewegenden Interessen und Leidenschaften gerade auch der heroischen Individuen, der Agenten der Geschichte, realisieren etwas, was gar nicht in ihrer Absicht lag. Indem sie energisch die Befriedigung ihres besonderen Selbst verfolgen, schaffen sie die menschliche Gesellschaft. Ihre besonderen Absichten heben sich in allgemeinen Zwecken auf, die ihnen entgegengesetzt sind. Die Analogie bei Marx liegt auf der Hand. Der entwickelte industrielle Kapitalismus beschleunigt den Untergang seines Gesellschaftssystems und den Aufgang einer freien Sozietät gerade dadurch, daß er seine Herrschaft zu erhalten und zu vollenden trachtet. Hegel dechiffriert solche Vorgänge als List der Vernunft. Der Plan des Weltgeistes verkehrt, indem er die Leidenschaften der Menschen für seine Zwecke arbeiten läßt, partikuläre und egoistische Absichten zum allgemeinen Besten. Aber das wiederholt doch nur die alte Theodizee-Geschichte, wie auch das größte geschichdiche Übel (etwa die Kreuzigung Christi) zum Heil und zur Erlösung ausschlägt. Und selbst wenn man nun wiederum davon absieht, daß solche Dialektik Individuen und Generationen ausschließlich als Mittel künftigen Glücks aufopfert und nicht auch jederzeit, wie das in Religion und Moral selbstverständlich sein muß, als Selbstzweck achtet, so ist doch die Frage unvermeidlich geworden, ob überhaupt und bis zu welchem Grade wir Verstehbarkeit in die Geschichte legen können. Der sechste Sinn, das historische Organ neuzeitlichen Bewußtseins, hat begonnen, die von ihm großgezogenen Vernunftkategorien Einheit, Totalität, Zweck, Sinn usf. in der Krise des Nihilismus aus der Geschichte wieder herauszuziehen. Und der fundamentalontologische Rückgang auf die geschichtliche Existenz des Menschen hört vollends damit auf, von Fortschritt, Entwicklung und Endzweck zu reden. Er setzt nicht mehr auf den Glauben, das Ganze der Geschichte von einem erreichten Ziele her überschauen zu können, sondern auf die Erschlossenheit und Entschlossenheit des je eigenen Daseins, im Aushalten des drohenden Nichts und angesichts des unaufhebbaren Dunkels, der unverstellten Sinnlosigkeit der Geschichte sich als Mensch zu behaupten 10 . Wie es auch immer mit 10

G . Krugers kritische These, die Geschichte selbst habe Hegels Auffassung von ihr letztlich darum widerlegt, weil Hegels Synthese von Christentum und souveränem autonomen

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dem nihilistischen und existenzialontologischen Angriff auf die .begriffene Geschichte' stehen mag, ihre Undialektik ist handgreiflich. Ihre tragenden Begriffe wie Fortschritt, Entwicklung, Ganzheit, Weltplan, Zweck-MittelRelation, List der Vernunft usf. sind keineswegs dialektisch. Sie bilden Strukturen einer sich der Weltgeschichte bemächtigenden theodizeehaften Teleologie. Ebensowenig wie bei Natur und Methode gibt es eine Möglichkeit, Geschichte aus ihr selbst dialektisch zu begreifen.

4. Kapitel: Logik und, Phänomenologie Ihre Erfüllung habe die Dialektik in der spekulativen Philosophie gefunden. In ihrem besten Teil sei Dialektik »Wissenschaft der Logik' und dadurch Grundlage des Systems der philosophischen Wissenschaften. In Hegels , Logik' komme der klassische Anfang der Platonischen Dialektik in sein Ziel. Solche durch die tiefgreifende Renaissance Hegeischen Denkens weithin herrschende Ansicht hat Ontologie und Methode der ,Logik' zum Maßstabe für alles gesetzt, was dialektisch heißt. Danach bedeutet Dialektik eigentlich spekulative Begriffsgeschichte oder Wissenschaft von der notwendigen Bewegung des sich selber denkenden Denkens. Sie verspricht, den Grundriß des Seienden im Ganzen in seinen reinen Wesenheiten vorzuzeichnen, indem sie den Begriff, in welchem Denken und Sein identisch sind, von seiner unbestimmten Unmittelbarkeit und kargen Begriffsarmut (dem Sein) bis zur erfüllten, den Reichtum aller Wahrheit in sich begreifenden Totalität (der absoluten Idee) mit methodisch strenger Notwendigkeit entwickelt und so lehrt, im ,Reiche der Schatten', d. i. der einfachen, von aller sinnlichen Konkretion befreiten Wesenheiten, heimisch zu werden. Nun mag das dialektische Kategoriengeflecht der ,großen Logik' zwar im Detail korrigiert, erweitert oder modifiziert werden, in seinem Ansatz ist es nicht anzuzweifeln. Die Ideen bergen nur in ihrer Koinonie und niemals abgetrennt für sich die Wahrheit über das Seiende. Das war ja der Denken der Aufklärung eine Illusion war, verbindet sich mit der Einsicht: Der Verzicht des existenzialen Denkens (M. Heidegger, K. Jaspers) auf den Weg Hegels und die Orientierung der Geschichte am Elemente der souveränen Freiheit und der absoluten Gewagtheit geschichtlichen Daseins bedeutet den Verzicht auf eine Lösung des Problems der Weltgeschichte. Vgl. G . Krüger, Die Geschichte im Denken der Gegenwart. Frankf. a. M. 1947. Neu erschienen in: Freiheit und Weltverwaltung. Aufsätze zur Philosophie der Geschichte. Freiburg und München 1958.

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durch das positive Resultat der aporetischen Dialoge vorbereitete Ertrag der Platonischen Dialektik. Das Eine ist Vieles, das Wahre ist die in der Bewegung des Durcheinandergehens begreifbare Vielheit von Einheiten. Piatos dreifache Einsicht von der Verflochtenheit der Ideen, ihrer ineinander umschlagenden Bewegung und von der positiven Bestimmtheit des Verschiedenseins vom Anderen oder von der Positivität des Nichtseins findet sich in der Dialektik der spekulativen Logik unverstellt wieder. Der Zweifel richtet sich allein auf den Sinn der obersten Seinsbestimmungen. Und für eine kritische Sinnklärung ist wiederum der Rückblick auf die Platonische Dialektik lehrreich. Diese hütet sich nämlich davor, absolut zu werden. Sie bezieht den Kosmos der Ideen auf die menschliche Vernunft, die nicht die göttliche ist und die ihre Endlichkeit bekennt, nämlich als das ständige Erfahren des Einen durch das Nichtsein des Anderen. Aus solcher menschlichen Begrenztheit quellen Unruhe und Streben einer dialektischen Begriffssucht nach der Wahrheit. Der göttliche Nous, der alles ineins und zumal im ,stehenden Jetzt' (nunc stans) der Ewigkeit schaut, ist undialektisch. Die Hegeische Dialektik aber hat emphatisch den Namen Liebe zur Weisheit abgelegt, um Wissenschaft zu werden. Sie entbreitet den griechischen Logos auf der Höhe der Nous-Metaphysik dialektisch, indem sie den göttlichen Begriff auf dem Niveau des modernen Geistes und im Lichte des Selbstbewußtseins neu begründet. So glaubt sie mit der Idee des absoluten Wissens beginnen zu können, die von allem Gegensatz zwischen Wissen und Gewußtem befreit ist und alles Wissen in sich befaßt. In der Erklärung einer Idee des absoluten Wissens als dem absoluten Anfange der Seinslogik steckt der fragwürdige Sinn der spekulativen Dialektik. Hegel selbst hat zum Programm erhoben, die Notwendigkeit aufzuzeigen, wie es zum absoluten Wissen im Ausmaße der neuzeidichen Urgleichung Ich = Ich komme. Eine Wissenschaft der Logik dürfe nicht wie Fichtes Wissenschaftslehre mit einem subjektiven Postulat, sie müsse mit der erwiesenen Identität von Denken und Sein anfangen. Der Weg zum Anfange einer wissenschafdichen Dialektik der Begriffe als Rechtfertigung dieses Anfangs ist die Phänomenologie des Geistes. Sie verfolgt nicht das Fortgehen des Begriffs, sondern das Fortgehen zum Begriff. Sie stellt die Bewegung des Geistes dar, die ihn den Begriff gewinnen und Wissenschaft werden läßt. Das geschieht durch die Erhebung des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt, weil es bereits das Absolute ist — nämlich seinem absoluten Ansprüche auf Wahrheit nach. Der Aufstieg ins reine Denken spielt sich somit in der besonderen Disziplin einer Bewußtseinswissenschaft ab. Diese führt diejenigen Erfahrungen vor, welche das

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Bewußtsein je und je mit seinen absoluten Aufstellungen macht und die es zwingen, die gravierende Ungleichheit des Ich zum Gegenstande von Fall zu Fall einzugestehen, bis es endlich in ein Wissen übergeht, welches den ständig aufbrechenden dreifachen Widerspruch zwischen Meinen und Wissen, Meinen und Sagen, Meinen und Tun überwunden hat. Auf das Resultat dieser Erfahrungen stützt sich der Beginn der Logik. Daher stellt die Phänomenologie des Geistes nicht etwa das System der spekulativen Dialektik selber vor, sie bildet in merkwürdiger Zweideutigkeit sowohl die Einleitung in das System als auch das eindringlichste Beispiel seiner Methode. Kann aber das sich kritisch reinigende Bewußtsein wirklich alle Gestalten, die noch den Gegensatz an sich haben, übersteigen, ohne sich an seiner Endlichkeit zu versehen und den Zwängen theologischer Substruktionen zu erliegen? 11 Diese Frage wendet sich an den Ubergang vom Selbstbewußtsein zur Vernunft. Läßt das Ich die Stufe des Selbstbewußtseins (das Wir, die Subjektivität als Intersubjektivität) ohne Verlust seiner Menschlichkeit zurück, wenn es in der Gewißheit der Vernunft, alle Realität zu sein, aufgeht? Hegels Phänomenologie des Geistes beweist zu viel. Sie verwandelt nicht nur das empirische zum transzendentalen Ich und das gegenständliche Bewußtsein zum Selbstbewußtsein, sie will beweisen, daß das reine Ich Geist ist. So aber wäre der Mensch zwar wesenhaft Selbstbewußtsein, das Selbstbewußtsein aber nicht menschlich, sondern göttlich. Dagegen dürfte es ratsam sein, gegenüber einer Dialektik des göttlichen Begriffs, welche selbstbewußt verkündet, die Gedanken Gottes vor der Schöpfung nachdenkend zu entfalten, so lange Enthaltsamkeit zu üben, bis der Ubergang der Phänomenologie aus der Endlichkeit des Selbstbewußtseins in die Absolutheit der Vernunftgewißheit geprüft ist. Das ist erstaunlicherweise noch immer nicht mit der nötigen kritischen Sorgfalt geschehen. Sollte dieser Aufstieg des erscheinenden Geistes an der Endlichkeit scheitern, dann müßte wohl auch die Dialektik auf den Grund und Boden der Endlichkeit des Selbstbewußtseins zurückgestellt werden. Nun ist es seit langem in der Hegeldiskussion strittig, wie die Dialektik der Logik und der Phänomenologie zueinander stehen. Mit Sicherheit 11

H.-G. Gadamer hat die Sprachlichkeit allen Denkens, welche den Begriff in das verbindende Wort zurückverwandelt, als Gegenrichtung für das reine Denken betont und die hermeneutische Aufgabe vorgezeichnet, das Phänomen der Sprache und des Denkens, das die .Logik' einzuholen sucht, unter das Gesetz der menschlichen Endlichkeit zurückzustellen. (Die Idee der Hegeischen Logik. In: Hegels Dialektik. Fünf hermeneutische Studien. Tübingen 1971).

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kann aber konstatiert werden, daß die phänomenologische Dialektik nicht die Sache der dialektischen Methodos selbst, sondern nur „ein Beispiel von dieser Methode an einem konkretem Gegenstande, an dem Bewußtsein" darstellt (Logik I, 35 Einleitung). Indessen soll sich an diesem Beispiele die reine Methode nicht bloß nachträglich exemplifizieren, sie hat sich durch die Erhebungen der Phänomenologie allererst zu rechtfertigen. Der springende Punkt in diesem Zusammenhange ist die Dialektik des Selbstbewußtseins, wie sie durch die Jenaer Phänomenologie des Geistes von 1807 entfaltet worden ist. Durch sie kommt das beschränkte gegenständliche Bewußtsein über den Ursprung des Selbstbewußtseins zu unendlicher Vernunft. Die Erhebung des Selbstbewußtseins gilt als beweisende Bewährung des dialektischen Prozesses. Und sie bietet auch das glänzendste Beispiel für die dialektische Manier Hegels. Wie aber steht es mit Einleitung und Beispiel des Spekulativen, wenn der Aufstieg des Selbstbewußtseins zur Vernunft dem eigenen Methodenanspruch nicht genügt? Nun sind Anfang, Entwicklung und Ende der dialektischen Gänge auf der Stufe des Selbstbewußtseins suspekt. Der Ubergang aus dem Leben und der Begierde ist seit je zumindest für dunkel gehalten worden. Offensichtlich bleiben die drückenden Widersprüche von Herrschaft und Knechtschaft ungehoben. Und es muß sehr fraglich erscheinen, ob der Ubergang in die neue Gewißheit und Welterfahrung der Vernunft nicht erschlichen ist. Es liegt der Verdacht nahe, daß das endlich-menschliche Selbstbewußtsein nicht im inneren, überzeugenden Fortgang der Wahrheit von sich abläßt, sondern durch einen Machtspruch der gottesträchtigen Vernunft in die Dimension des Absoluten fortgerissen wird. Ließe sich solch methodisches Ungenügen erweisen, dann bliebe die Endlichkeit des Selbstbewußtseins als Stachel im Leben des Geistes zurück. Und steckt nicht auch noch im Resultat der Phänomenologie, im Anfange der Großen Logik, der Stachel der Endlichkeit? Die Logik beginnt mit dem Gedanken des Seins. Das Absolute sagt im Anfange: Ich bin das Sein. N u n entfaltet der Logos in seinen Gedanken das reine Wissen, und rein bedeutet: der Gegenstand selbst seiend. Jeder Gedanke des Absoluten ist immer zugleich die Sache selbst. Logik ist eben der Logos Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen, vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Bewußtseins ist. Aber konnte das endliche Bewußtsein im Aufstieg der phänomenologischen Dialektik wirklich ohne Rest auf das schwindelerregende Niveau solcher Ontotheologik gehoben werden? Recht besehen, erhebt die spekulative Logik selbst einen Vorbehalt. Sie will gar nicht das Leben des Absoluten selbst, sondern nur dessen Dar-

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sein. Aber die Hegeische Logik zieht aus solcher Vorsicht nicht die kritische Konsequenz. Sie hält die Grenze zwischen reinem Denken und endlichem Geist nicht ein. Sie macht mit ihrer Einsicht, das reine Wissen sei keine Möglichkeit, die vom endlichen Geist rein verwirklicht werden kann, nicht ernst. In der Tat setzt kein Kunstgriff dialektischer Elevation das endliche Bewußtsein instand, den Standpunkt der Ontotheologie ohne Abzug zu beziehen. Dieses Monitum wird sich immer gebieterischer gegen die Hybris des spekulativen Prozesses durchsetzen: Das endliche, existierende Subjekt, das die Gedanken Gottes entwickelt, kann und darf nicht von sich selbst abstrahieren. Sieht es von seiner Endlichkeit ab, erliegt es der Illusion einer Selbsttäuschung. Sieht es interessenlos an seiner Existenz vorbei, dann drohen ihm Verlust und Verzweiflung seines Selbstseins. Wie dem auch sei, die Hegeische Logik kann selber darüber belehren, daß sich der ewige Logos nicht nur dem Leben und der Existenz menschlichen Selbstbewußtseins versagt, sondern auch darüber, wie er sich sogar menschlicher Darstellungskraft entzieht. Das bezeugt die Darstellung des Anfangs, des reinen Seins. Der Anfang ist das Unmittelbare und darum das Bestimmungslose vor aller Bestimmtheit. Er ist ja von allen Vermittlungen und Relationen zu anderem absolviert, durch die er bestimmte Inhalte und endliche Abgrenzungen erhielte. Der Anfang ist nichts als leeres, unbestimmtes Sein. Solcher Anfang aber entzieht sich einer Darstellung im Denken und in der Sprache. Was hier zu denken wäre, ist solches, das von sich her erklärt, daß in ihm nichts zu denken ist. Und dieser Einspruch ist wahr, sofern menschliches Denken eine Relation ist, nämlich Wissen von etwas Bestimmtem. Überdies läßt sich vom Sein nichts aussagen, sofern Aussagen Bestimmen bedeutet, nämlich die Durchbestimmung eines un- und vorbestimmten Subjekts durch das bestimmende Prädikat. Daher erscheint der Anfang der Logik in einer eigentümlichen Entzogenheit und Transzendenz. Er läßt sich weder als Subjekt der dialektischen Bewegung handhaben noch als Subjekt sprachlicher Prädikation festlegen. Der Ursatz der Logik fügt sich nicht dem Satz der Sprache. Selbst in eine spekulative Sprachbewegung geht er nicht ein; denn auch der Spiegelsatz der Spekulation spricht im Gefüge des Satzes. Stellung

Die spekulative Logik hat diese anfänglichen Bedenken der Endlichkeit als äußerliche Reflexion abgeschüttelt und diskreditiert. Eine Dialektik jedoch, welche bei kritischer Besinnung bleiben will, muß ihnen folgen. Darum ist für die ,Wissenschaftslehre' das göttliche Sein und Leben allein

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Abgrenzung des Geltungsbereichs

als Unbegreifliches zu begreifen, für die Dialektik der Existenz als das absolute Paradox oder das Absurde im Glauben zu leben, für eine anthropologische Reduktion der Theologie endlich gar als religiöse Selbstentfremdung zu negieren. In jedem Falle bildet das absolute Sein die Grenze des endlichen Selbstbewußtseins und nicht, wie in der Ontotheologie, den Anfang des zu entwickelnden, in ihm schon vorausgesetzten göttlichen Begriffs. Wenn nun aber das Aufgehen ins Absolute und der absolute Anfang mit dem Absoluten an der Endlichkeit menschlichen Selbstbewußtseins scheitern, behält dann nicht die phänomenologische Dialektik des endlichen Ich ihr eigenes Recht zurück? Freilich wäre sie dann etwas anderes als ein hervorragendes Beispiel und mehr als ein methodisches Vorspiel für eine eigentliche, spekulative Dialektik des »reinen* Wissens. Sie wäre die einzig erweisbare Sache und der einzig ausweisbare Grund und Boden der Dialektik überhaupt.

5. Kapitel: Dialektik des

Selbstbewußtseins

Dialektik ist ihrer Sache gemäß Dialektik des Selbstbewußtseins. Aus den Gegensätzen von Bewußtsein und Gegenstand, Seele und Leib, Freiheit und Notwendigkeit, Individuum und Gattung, Geist und Natur, Arbeit und Spiel, Theorie und Praxis, Ideal und Wirklichkeit, Dasein und Geschichte, kurz: von Endlichkeit und Unendlichkeit in der selbstgewissen Einheit des Ich ist sie entsprungen. Und sie lebt und webt in der Bewegung notwendiger Entäußerung und Wiederaneignung. Das Selbstbewußtsein entäußert sich unausweichlich, um überhaupt außer sich zur Welt und zu gegenständlichem Bewußtsein zu kommen, und es reißt sich vom Gegenstande und aller Weltbestimmung los, um in Tat und Wirklichkeit zu eigener Freiheit und Ichheit zu kommen. Nur als Glieder dieses Gegensatzes und nur als Phasen solchen Lebensvollzugs lassen sich Natur und Geschichte in den Zusammenhang der Dialektik einbeziehen. Im Gebiete des Selbstbewußtseins findet eine dialektische Philosophie die nötige Rechtfertigung; denn das, worüber sie philosophiert, ist dialektisch. Die Grundformen einer Dialektik endlichen Selbstbewußtseins sind von der Riesengestalt der spekulativen Logik überdeckt. Sie gelten bestenfalls als Vorformen, ja Vorahnungen des Hegeischen Geistes, und doch wurzelt allein im Boden des endlich-menschlichen Selbstbewußtseins die Kraft dialektischer Wahrheit. Unter dem Maßstab des Spekulativen schrumpfen die transzendentalen und ,existenzialen' Dialektiken zu verächtlicher

Dialektik des Selbstbewußtseins

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Größe. Eine Historische Dialektik hat diese dunkle Geschichte aufzuhellen. Gewiß ist inzwischen in der Auseinandersetzung mit der Epoche des Deutschen Idealismus ein Wandel merklich. Die Vorstellung einer dreistufigen Entwicklung vom subjektiven über den objektiven zum absoluten Idealismus (Fichte — Schelling — Hegel) ist ebenso korrigiert worden wie die Relativierung der einzelnen Philosophien und deren Grundgedanken durch einen Endzweck, nämlich die Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft im Stile der Hegeischen Dialektik. Die Auffassung, der Gang der Geschichte der Philosophie als des Innersten der Weltgeschichte beweise, daß Hegels Philosophie nicht bloß an der Zeit, sondern die erfüllte Zeit sei, wird kaum mehr geteilt. Und durchstrichen wird auch die Entsprechung zwischen dem logischen und philosophiegeschichtlichen Rhythmus des Geistes, so daß die alte Frage, ob nach Hegelscher Systematik die Logik historisiert oder die Philosophiehistorie logisiert sei, nurmehr antiquarischen Reiz behält. Gleichwohl werden die philosophischen Entwürfe und Systeme des Selbstbewußtseins immer noch weithin als Vorspiel oder Nachspiel der aus dem Geiste Hegels geborenen und wiedergeborenen Dialektik angesehen. Die Vergangenheit der Dialektik berechnet sich immer noch nach der Chronologie ante/post Logicam speculativam12. Nur wenn der historische Sinn das spekulative Vorurteil von sich fernhält, zeigt sich das dialektische Sein in seiner wahren vielfältigen Bedeutung. Dialektik ist in mehrfachem Sinne dargelegt worden, je nach der Bedeutung, welche das Selbstbewußtsein gewonnen hat. In dieser Rücksicht lassen sich sechs Grundformen herausheben: 12

Ein bestechendes Beispiel für solche Datierung der Dialektik bietet der Versuch, das Leibnizsche System der prästabilierten Harmonie als Beginn der Dialektik-Geschichte auszulegen, die von Hegel weitergeführt wurde und in den dialektischen Materialismus einmündet. (Vgl. H. H . Holz, Leibniz, 3. Kapitel: Die Dialektik. Stuttgart 1958). Dabei werden vier Grundzüge der wissenschaftlichen Dialektik zum Maßstabe gesetzt: der Zusammenhang des Welt-Ganzen, dessen unaufhörlicher Bewegungs- und Veränderungsprozeß, der sprunghafte Ubergang dieser Prozesse nach dem Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und die Begründung der Selbstbewegung der Welt in einer Widersprüchlichkeit der Dinge. Freilich zeigt sich sofort, daß die ersten beiden Züge, Einheit und Allbeseelung, sich in den Leibnizschen Hypothesen finden lassen, diese aber kaum spezifisch dialektisch genannt werden können. Die beiden letzten Grundzüge dagegen gehören schon eher zum Problemstand des Dialektischen, aber sie lassen sich kaum mit Leibnizschen Prinzipien der lex continui, dem principium contradictionis und der Lehre von der entelechia prima vereinbaren. Demonstrieren läßt sich durch diese philosophiegeschichtliche Verknüpfung allenfalls, wie die materialistische Systematisierung der Dialektik, gleich fern vom Deutschen Idealismus wie von Marx, wieder Züge der vorkritischen Verstandesmetaphysik annimmt.

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Abgrenzung des Geltungsbereichs

1. 2. 3. 4. 5. 6.

die die die die die die

transzendentale Dialektik als Logik des natürlichen Scheins, limitative Dialektik als Wissenschaftslehre, antagonistische Dialektik des ästhetischen Humanismus, Soziodialektik in der Phänomenologie des Selbstbewußtseins, existenziale Dialektik des Selbst in seiner Einzelheit, Dialektik der Entfremdung im vollendeten Humanismus.

Diese Gestalten der Dialektik werden geschichtlich durch die von Kant bis Marx währende Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Neuzeit, der Ichheit, repräsentiert. Ihre Systematik ist nicht geschlossen deduzibel, sie bleibt für andere Gestalten und Zwischenformen offen 13 . Immerhin lassen sich zwei Phasen ihrer Vergangenheit ablesen, die (nicht-teleologische) Entfaltung und die vielfältige Selbstvernichtung des dialektischen Lebens. Sonach muß in jedem Falle die phänomengerechte Ausgestaltung der Dialektik unverkürzt vor Augen gestellt, zugleich aber auf deren Risse und Brüche geachtet werden. Diese Maxime gilt nicht nur für die beschränkte Auflösung der Antimonie von Freiheit und Notwendigkeit in Kants transzendentaler Dialektik, sie bewährt sich auch an Schillers hochfliegendem Versuch, alle Antagonismen menschlichen Selbstseins durch den ästhetischen Zustand zu versöhnen. Höhepunkt und Krise der sich entfaltenden Dialektik aber dürfte sich in der limitativen Dialektik Fichtes zeigen. Hier zeichnen sich beide Bewegungen in ihrem Tiefgange ab, die Entschlossenheit, die Allheit menschlichen Wissens aus dem Selbstbewußtsein dialektisch zu entfalten, und die Besonnenheit, durch welche sich das menschliche Selbstbewußtsein dadurch, daß es sein Prinzip vernichtet, in das unvordenkliche Leben Gottes versenkt. So gesehen, bedeutet Fichtes Wissenschaftslehre weder die Vorstufe zu Hegel noch den Abfall von Kant 13

Als Beispiel bietet sich Schleiermachers Dialektik an. Sie hat neuerdings durch F. Wagner (Schleiermachers Dialektik. Gütersloh 1974) eine umfängliche kritische Interpretation erfahren. In Schleiermacherschem Sinne bedeutet die ,Kunst' der Dialektik eine Lehre vom Wissen als solchem, die dazu dient, die religionsphilosophischen Einfälle auszuführen. Sie ist Dialektik des Selbstbewußtseins als der faktischen, lebendigen Einheit von Einheit und Mannigfaltigkeit, Denken und Sein, Sinnlichkeit und Verstand oder ,Organisation' und Vernunft. Um diese Dialektikgestalt in ihrer Sonderheit abzugrenzen, wäre systematisch der Punkt zu suchen, an dem sie sich von allen Identitätssystemen trennt und durch die erwiesene Inkommensurabilität von Denken und Sein das dem Wissen prinzipiell unzugängliche Gebiet des religiösen Gefühls offenhält. Historisch signifikant wäre der Abstand zu ihrer nächsten Form, der Spätdialektik Fichtes. Dieser würde sich mittels des Gedankens ermessen lassen, das absolute Wissen, das Gott als die wahre Negation der Gegensätze positiv erfaßt, sei die Vernichtung des Selbstbewußtseins — denn das Ich bleibt in seinem Wissen und Sein in die Gegensätzlichkeit gebannt.

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(der sich nach der vieldiskutierten These von E. Lask als Bruch zwischen transzendentalem Kritizismus und emanatistischer Metaphysik vollzieht), sondern eine eigenmächtige, sich aufspaltende Ausformung der neuzeitlichen Dialektik des Selbstbewußtseins. In der durchgeführten Wissenschaftslehre bricht ein Schisma, die Spaltung in eine theologische und gesellschaftliche Dialektik, auf. Beide Formen, Theo- und Soziodialektik, führen sich in der Folge selbst ad absurdum. Solche Krise bildet die andere Phase in der Vergangenheit der Dialektik. Sie tritt in den unterschiedlichen Auffassungen des Selbstbewußtseins bei Hegel, Kierkegaard und Marx unterschiedlich heraus. Die Soziodialektik erfährt in Hegels Phänomenologie auf der Stufe des Selbstbewußtseins eine durchdringende Gestaltung. Das Selbstbewußtsein konstituiert sich nämlich als das Wir im Gegensatze von Ich und Du und erleidet im gesellschaftlichen Sein eine wahrhaft fatale Konkretisierung. Es ist das dialektische Urphänomen von Herrschaft und Knechtschaft, das alle Phänomene des Selbstbewußtseins (vom Kampf auf Leben und Tod bis zum unglücklichen Bewußtsein) durchherrscht. Und es bleibt der Stachel im Geiste, weil die Entwicklung des vorausgesetzten Wir, d. h. eines freien und gleichen zwischenmenschlichen Anerkennungsverhältnisses, in der ungleichen Anerkennungsrelation von Herr und Knecht stecken bleibt. Darum läßt sich schon im Werke Hegels ein gewaltsames Ende des dialektischen Versöhnungsanspruches studieren. Ansatzweise enthalten die Vorträge der Enzyklopädie den Verzicht auf vernunftbestimmte Aussöhnung des gesellschaftlichen Kampfes und einen Aufruf zur revolutionären Tat. Das bedeutet den Abbruch der Dialektik bereits auf der Stufe endlichen Geistes. Solche Selbstaufhebung wird da unausweichlich, wo das Selbstbewußtsein als gegenständliches Gattungswesen, d. h. der Mensch als Arbeiter, ausgelegt ist; denn da müssen zwar die Entäußerung und Vergegenständlichung des Menschen durch Arbeit im Gegenstande, aber keineswegs seine Veräußerung und Entfremdung notwendig erscheinen. Und ohne den Fluß der Notwendigkeit ist die dialektische Bewegung wesenlos. Solcher Abbruch geschieht in der Entfremdungsdialektik von Marx innerhalb der Entwürfe eines .vollendeten Humanismus', welcher gleichwohl die Wiedergewinnung des Menschen durch Negation einer Negation in Aussicht stellt. Freilich läßt sich die dialektische Notwendigkeit für die Heraufkunft des menschlichen Menschentums nurmehr durch ein Surrogat echter Dialektik, nämlich die ökonomisierte Geschichtsteleologie eines historischen Materialismus, beibringen. In jedem Falle aber soll die

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Abgrenzung des Geltungsbereichs

Reintegration des entfremdeten Menschen im .gesellschaftlichen Zustand' alle Soziodialektik des Bewußtseins im Rahmen des ,spiritualistischen Götzendienstes' aufheben, indem sie deren Aufhebungen verwirklicht. Die theologische Dialektik des Selbst findet ihrerseits ein konsequentes Ende in einer Analyse, welche die Kategorien der Existenz, der Einzelheit und des Interesses rehabilitiert. Sie holt so die fundamentalen dialektischen Strukturen in das sich zu sich selbst verhaltende antithetisch-synthetische Verhältnis des menschlichen Selbst ein. Kierkegaards Existenzanalyse schlägt alle gedanklichen Vermitdungen der Vernunftdialektik nieder. Sie führt die Dialektik menschlicher Selbsterschlossenheit bis an die Schwelle des .Ärgernisses' oder des ,absoluten Paradoxes', über die allein der Sprung des Glaubens hinweghilft. Und sie stellt — vorzüglich in den ,Werken der Vollendung' — eine hellsichtige Diagnose des neuzeitlichen Menschentums: Der moderne, seiner selbst bewußte Wille, der nicht von sich abzulassen bereit ist, sondern souverän auf dem sich selber setzenden Ichsein besteht, existiert in den Daseinsweisen von Angst und Verzweiflung. So zeichnet sich umrißhaft das Vergehen der vergangenen Dialektik ab. Die wahre, phänomenologisch ausweisbare Dialektik des Selbstbewußtseins geht gar nicht auf der Linie des Kreises durch Natur und Geschichte in ihren ewigen Grund zurück, sie geht an der Heraufkunft ihrer Endlichkeit zugrunde. Die großmächtigen Entwürfe dialektischen Bewußtseins mit ihren unabsehbaren praktischen Folgen enden in den einander durchdringenden Bezügen von Herrschaft und Knechtschaft, Entfremdung und Verzweiflung. ,Historisch' wie .systematisch' ist das Ende ihrer dialektischen Gänge nicht die Aussöhnung, sondern der Bruch mit der Wirklichkeit im Ur-sprunge menschlicher Existenz.

Teil I Die Entfaltung der Dialektik des Selbstbewußtseins Antinomie — Wissenschaftslehre — Ästhetischer Humanismus (Kant. Fichte. Schiller)

1. Abschnitt : Transzendentale Dialektik Die Antinomie von Freiheit und Welt in der Logik des Scheins 1. Kapitel: Ars disputatoria, ars sophistica, Logica, probabilium. Kants Neufassung einer Logik des Scheins Reinigung vom Skandal der Sophistik ist der Anfang aller dialektischen Weisheit. Seit ihrem Sokratischen Anbeginn nimmt es die dialektische Kunst kritisch mit einem Wissen auf, das sich anmaßt, über alles, was den Menschen als Menschen betrifft, bedenken- und schrankenlos zu vernünfteln. Anfänglich ist Dialektik immer eine widerlegende Logik des den Menschen in seinem Menschsein beirrenden Scheins. Aus der kathartischen Kraft einer neuen ,Logik des Scheins' resultiert auch die ungeheure Bewegung der Wahrheit, welche aus dem dialektischen Geiste der Neuzeit lebt. Kant hat mit der Dialektik einen neuen Anfang gemacht. Um dessen Umschwung und Neubegründung zu ermessen, ist das auf Kant überkommene Vorverständnis von Dialektik zu durchmustern. Der versandete Traditionsstrom hat dem Zeitalter Kants einen dreifachen Sinn von Dialektik überliefert. Wortgetreu bedeutet ihm Dialektik ars disputatoria, der bestimmenden Herkunft nach ars sophistica, der logischen Disziplin zufolge Logica probabilium. Kants Lehrvortrag der Logik geht von der naheliegendsten Bestimmung aus: Dialektik sei „Logik des Scheins (ars sophistica, ars disputatoria)" (Logik Jäsche, Einl. II; Werke III, 438). Vom Worte her legt sich das Verständnis von Dialektik als Gesprächskunst (διαλεκτική τέχνη) nahe. Ihre lateinisch-römische Prägung als ars disputatrix sive disserendi ist seit Cicero (vgl. De fin. II, 18; III, 41. De orat. II, 38 u. ö.) und Quintilian (vgl. Inst. orat. V, 14, 28 u. ö.) herkömmlich. So bestimmt Petrus Ramus Dialektik als ars bene disserendi (Dialecticae 1573) und Melanchthon (Erotem. Dial. I — Unde nomen est Dialectices?) übersetzt den Namen als ,Unterredkunst'. Solche Kennzeichnung scheint nicht mehr als eine nichtssagende Nominaldefinition. Gleichwohl zeichnen sich in einer Darlegung des Dialogischen Strukturen einer jeden Form von Dialektik ab. Ein Dialog (Unterredung) entspinnt

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Transzendentale Dialektik

sich als Zwiegespräch zwischen zwei Parteien (oder auch als Selbstgespräch der Seele mit sich selbst, in welchem der andere, mit dem hier gesprochen wird, ich selber bin). Dies verlangt Offenheit für die andere Position. Im rechten Gespräch läßt sich der eine auf den anderen ein, indem jeder dem anderen seine Ansichten und Gründe zur Prüfung vorlegt. So beanspruchen die Unterredner einander in der Weise der Zustimmung oder der Verneinung. Das Moment der Wechselseitigkeit zeichnet den Dialog vor allen einseitigen Formen aus, in denen Menschen sonst sprachlich miteinander verkehren: Frage und Auskunft, Angebot und Nachfrage, Anordnung und Befehl, Bitte und Drohung, Lob und Tadel, Gebot und Katechese, Unterweisung oder Unterhaltung, Schmähung oder Verhöhnung usw. In Gang kommt das Gespräch durch den Widerspruch. Jedes lebendige Gespräch ist ein Streitgespräch. Es wird durch Auseinandersetzungen genährt und befeuert durch das Gegeneinander von Satz und Gegensatz. So öffnet sich der Dialog dem Widerspruch. Ohne ihn kommt ein Gespräch nicht von der Stelle. Fruchtbar aber werden Streit und Widerspruch nur unter dem Schutze der Sachlichkeit. Den Unterrednern darf es nicht um den Eigensinn ihrer Vorurteile, es muß ihnen um die Freilegung einer Sache gehen. Nur dann dringt ein Gespräch in den Aufweis der Sache aus ihren verborgenen Gründen ein, wenn die Unterredner das Strittige des Widerspruchs und die Differenz in den Antithesen so ernst nehmen, daß sie ihre eigene Position durch den Gegensatz in Frage stellen lassen. Dann wird der Widerspruch produktiv, wenn er vorläufige Urteile aufhebt, Vorurteile und Halbwahrheiten zugrunde richtet, indem er bis auf den Grund der strittigen Sache durchstößt. Nur eine vorurteilsfreie Bindung an die Sache kann ein Streitgespräch zu wahrer Ubereinstimmung bringen. Offenkundig nun sind diese drei Bedingungen des Dialogs Strukturmomente einer jeden Art von Dialektik: Offenheit des Einen für den Anderen, Lebendigkeit des Widerspruchs, Bindung der Methodos an ihre Sache. Die erste Ausformung des Dialogs war darauf aus, grundloses Wissen zu widerlegen und den Schein, der Nichtwissen als Wissen vormalt, zu entkräften. Die ironische Gesprächskunst des Sokrates erlistet dadurch ein Zwiegespräch, daß der scheinbar Unkundige einen scheinbar Wissenden um Auskunft über seine Weisheiten ersucht und ihn dazu bringt, Rechenschaft aus Gründen zu geben. Dabei bindet er sich und den anderen unerbittlich an die Sache, nämlich an das Wissen um das für den Menschen Gute. Darüber scheinen nun das durchschnittliche alltägliche Selbstverständnis, erst recht die sophistische Allwissenheit Bescheid zu wissen. Die

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sokratische Dialektik vernichtet diesen Schein. Sie treibt durch Hartnäckigkeit des Fragens die Widersprüchlichkeit des sich als Wissen gebärdenden Nichtwissens ins Offene. Für Kant sind dialogische und sokratische Methode dasselbe. Er bestimmt sie schulmäßig definitiv als dialogische Kunst des Fragens, ordnet sie der ,erotematischen Lehrmethode* unter und grenzt sie vom katechetischen Fragen ab. Die Katechese richtet sich an das Gedächtnis und fragt eingetrichterte empirische und historische Kenntnisse ab. Die sokratisch-dialogische Lehrart dagegen, „da beide Teile einander fragend und antwortend sind" (M. d. S.; ed. Vorländer S. 343), wendet sich an den Verstand. Sie gilt für rationale Erkenntnisse und fordert, feste Gründe beizubringen (vgl. Logik Jäsche, Methodenlehre § 119; Werke III, 582). Zwar erinnert Kants Einteilung offenkundig mehr an die mäeutische als an die ironisch-widerlegende Fragekunst des somatischen Dialogs, dennoch teilt die Kantische Neubelebung der Dialektik mit dem sokratischen Anfang das Ethos des Fragens und die Fraglichkeit des Ethos. (Nach Kant gibt Sokrates dem philosophischen Geiste eine ganze neue, praktische Richtung — Logik Jäsche, Einl. ; Werke III, 453.) Wie die sokratische sucht auch die transzendentale Dialektik dem Scheine eines unbeherrschten und überschwenglichen Wissens zu entraten, die Macht der sophistischen Artistik zu brechen und eine unheimliche Selbstverblendung und Sophistikation der menschlichen Seele zu bannen. Von Anfang an erscheinen ars disputatoria und ars sophistica eng verschwistert, Dialektik und Sophistik fast ununterscheidbar. So spiegelt sich im römischen Urteil bei Cicero das Mißtrauen gegen dialektische Sophistereien (dialecticae captationes), welche das eindeutige Sagen und das politische Handeln stören. Daher ist es contra officium, sich mit Dialektik zu beschäftigen (De off. I, 19); das disputare und disserere werden zu Gegenmächten des dicere (Brutus 118) 14 . Kants Bestimmung der Dialektik nennt beide Formen der Redekunst (ars disputatoria, ars sophistica) in einem Atem. Die sophistische ist die Verfallsform der dialogischen Unterredung. Sie ignoriert die Offenheit für den Mitunterredner; denn der Sophist will sich nicht mit anderen unterreden, sondern sie überreden. Sophistik läßt sich nicht darauf ein, auf Gründe zu hören und mit Gründen zu antworten. Der Sophist will seine eigene Ansicht nicht dem Widerspruch aussetzen, sondern einseitig durchsetzen und die Gegenmeinung nicht erproben, sondern widerlegen, um im Redestreit der Bessere zu sein. Und 14

Näheres bei A. Müller, Dialektik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J . Ritter II, 1 6 4 - 1 7 5 .

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Transzendentale Dialektik

eine sophistische Dialektik bindet sich nicht an die Wahrheit der Sache. Der Sophist schwatzt über jedes beliebige Thema und verbreitet darüber den Schein blendender Ansichten. Dieser pervertierten Bedeutung zufolge setzt Kants Logik-Vorlesung von 1772 die Dialektiker zu .Disputierhelden' herab, erklärt die Dialektik zum ,Organon der Schwatzhaftigkeit' und leitet sie nicht auf Piatos Antisophistik, sondern, wie seinerzeit üblich, auf die ,verderbliche' Widerlegungskunst des Euklides von Megara zurück (Logik Philippi, 336). In einem schwachen historischen Widerschein sind die Sophistik der Alten und ihre Hauptformen, Eristik und demagogische Rhetorik, Kants Dialektikverständnis noch gegenwärtig. In der Eristik verkommt die Dialektik zur Kunst, im Streitgespräch der Stärkere zu sein. Der Eristiker läßt den Gegner nicht zu Worte kommen, er will ihn zum Schweigen bringen. Durch ein geschmeidiges, unvermerktes Wechseln der Hinsichten erzeugt er einen bloßen Schein von Widersprüchen, der den Gegner verwirrt. Er widerlegt den Opponenten nicht um einer tiefergehenden Sacherhellung, sondern allein um der Widerlegung willen. Uberhaupt geht es der Eristik so wenig um eine bestimmte Sache, daß sie vielmehr lehrt, jede beliebige Sache siegreich zu behaupten oder zu bestreiten. Daher spitzt sich ihre dialektische Methode zur logischen Artistik zu, entgegengesetzte Sätze gleichermaßen beweisen zu können, und sie findet ihren Triumph darin, auch eine schwächere Sache als die stärkere erscheinen zu lassen. „Und so ward sie eine bloße Übung für die Sophisten, die über alles räsonnieren wollten und sich darauf legten, dem Scheine den Anstrich des Wahren zu geben und schwarz weiß zu machen" (Logik Jäsche, Einl. IV; III 452). In gleicher Weise hat Kant den zweiten Abkömmling der ars sophistica, die demagogische Rhetorik, lehrhaft vermerkt. „Bei den Griechen waren die Dialektiker die Sachwalter und Redner, welche das Volk leiten konnten, wohin sie wollten, weil sich das Volk durch den Schein hintergehen läßt" (Logik Jäsche, Einl. II; III, 438). Dialektik bedeutet hiernach die Kunst, durch den Zauber und die Gewalt der Rede einen die Menge verführenden Schein zu erzeugen. Gefährlich ist hierbei weniger eine ästhetische Rhetorik, welche durch die Gefälligkeit der Phrasen, die Eleganz des Stils, den Glanz der Metaphern oder den Rhythmus und die Kadenzen des Redeflusses Eindruck macht und zum bloßen Wie des Redens verführt, bedrohlich ist vielmehr die politisch-demagogische Sophistik. In ihr ist die Macht der Rede nicht Selbstzweck, sondern Mittel, um das Volk in seinen wahren Interessen zu täuschen. Hier

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verkehrt sich die ars disputatoria vollends in ihr Unwesen. Die ,Unterredkunst' des Demagogen wendet sich an die Menge, die als Menge nicht artikuliert antworten und in ein Zwiegespräch eintreten kann. Volksredner ergießen sich in einem Redeschwall, der an aufreizbare Gefühle appelliert, durch seine Länge, Ungeordnetheit und Variation des Gleichen rationale Einwände erschwert und einen Fortgang nach Regeln der Begründung unmöglich macht. Die falschen ,Sachwalter' benutzen solche Makrològie dazu, das Volk zu derjenigen Ansicht einer Sache zu bringen, die nicht für das Gemeinwohl, sondern für den Redner und seine Partei am vorteilhaftesten ist. Dafür erzeugen sie eine Stimmung, in welcher die verheerendsten und verderblichsten politischen Grundsätze den Schein von Rechtlichkeit und Gerechtigkeit annehmen. Von ihrer griechischen Abkunft her hat die Dialektik eine enge Verwandtschaft mit Sophistik, Eristik, Rhetorik 15 . Für Kant fallen die überlieferten Spielarten der Dialektik in einer Logik des Scheins zusammen. „So verschieden auch die Bedeutung ist, in der die Alten dieser Benennung einer Wissenschaft oder Kunst sich bedienten, so kann man doch aus dem wirklichen Gebrauche derselben sicher abnehmen, daß sie bei ihnen nichts anderes war, als die Logik des Scheins. Eine sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben" (A 61). Danach besteht die eristische und rhetorische Geschicklichkeit des Dialektikers hauptsächlich in einer „Kultur . . . jeden Schein zu erkünsteln" (Logik Jäsche, Einl. II; Werke III, 438). Aus ihr ist noch jeder Dogmatismus entstanden, d. h. die Behauptung grundloser Ansichten als Grundsätze einer Weltauslegung. Von alters her hat die Dialektik solchen Zug ins Dogmatische. „Diese Kunst trug falsche Grundsätze unter dem Scheine der Wahrheit vor" (ibid.). Im Erzeugenkönnen eines Scheins von Prinzipien liegt die unheimliche Macht der Sophistik. Die griechische Sophistik ist abgründig. In der kühnen Vermessenheit einer ersten Aufklärung hat sie die Wahrheit überhaupt in die Relation zum selbstdenkenden Menschen zurückgestellt. So bemißt sie alles, was ist, nach dem Maße des Menschen, dem es erscheint. Das selbstherrliche Denken wendet sich dabei nicht nur gegen den Augenschein, um diesen dem Widerspruch auszuliefern — das geschah schon in der eleatischen 15

Uber Gespräch und Logos, Dialektik und Verfallsformen des Sprechens vgl. die phänomenologischen Aufweise bei H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik. 2. Aufl. Hamburg 1968, insbesondere S. 13-40.

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Transzendentale Dialektik

Dialektik eines Zenon — ; die Sophistik wendet die Macht des Denkens gegen das Denken selber. Durch die entfesselte Macht des Widerspruchs, die absolut gewordene Relation zum Menschen, zersetzt sich das Denken, indem es sich aufklärt. Die griechische Sophistik ist die erste Ontologie der Endlichkeit, welche dem menschlichen Denken zugleich alles gibt und alles nimmt. In Kantischer Nachsicht ist Sophistik in erster Linie Logik: die formale Kunst des Verstandes, einen Schein von Wahrheiten zu erzeugen, entstanden aus dem Überschwang, mit dem sich die Logik vom Kanon der Richtigkeit zum Produzenten und Verwalter der Wahrheit aufwarf. So betrachtet, wiederholt Dialektik unter dem Titel einer Logik des Scheins die alte Anmaßung des Verstandes, über die Wahrheit zu herrschen. Ein anderes Verhältnis zu Wahrheit und Schein nimmt die dritte überlieferte Bedeutung von Dialektik ein, der Aristotelische Schulbegriff, die ,Logica probabilium' 16 . In Aristotelischer Tradition wird Dialektik als ein Teil der Lehre vom Schluß behandelt. Bekanntlich haben die Aristotelische ,Topik' und .Rhetorik' die Syllogistik in Apodeiktik und Dialektik unterteilt, und zwar durch die Scheidung von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Apodeiktik bedeutet sonach die Kunst des Schließens aus in Wahrheit begründeten Vorgaben, Dialektik dagegen ein Schließen auf dem Boden des Wahrscheinlichen (ένδοξον); ihre Prämissen sind lediglich durch Autorität oder allgemeine Zustimmung verbürgt. Darum verfährt die Dialektik gar nicht streng beweisend, sie geht prüfend (πειραστική) vor. So nimmt die Logik der Wahrscheinlichkeit die Gestalt eines Disputationsverfahrens an. In strenger Bindung an die Sache (κατά τό πράγμα) wägt das erprobende Forschen das Für und Wider in den Vorgaben ab. Ihr Verfahren lehrt, wie man sich für das Wahrscheinlichste entscheidet und der Wahrheit am nächsten kommt. Dieser Aristotelische Vorbegriff der Dialektik als , Lehre der Wahrscheinlichkeit' reicht über die Handbücher der Logik, etwa über die Logica theoretica-practica von I. G. Darjes (1732), bis ins Zeitalter Kants hinein. Kants frühe LogikTraktate verstehen Dialektik durchaus auch als Logica probabilium im Sinne des tradierten Aristotelismus. 16

Zur Dialektik-Diskussion in der Aristoteles-Forschung vgl. P. Wilpert, Aristoteles und die Dialektik. In: Kant-Studien 48, 2 (1956-57) 247-57. Über das komplexe Verhältnis von Wahrscheinlichkeitslehre und Dialektik vgl. G. Tonelli, Kant und die antiken Skeptiker. In: Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie. Hildesheim 1967. S. 102ff. Zur Herkunft des Titels Dialektik bei Kant und den Einfluß von I. G. Darjes vgl. G. Tonelli, Der historische Ursprung der Kantischen Termini Analytik und Dialektik. In: Archiv f. Begriffsgesch. 7 (1962).

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Dialektik des natürlichen Scheins

Kant trennt die Dialektik von der Aristotelischen Disziplin ab. Sie ist Logik des Scheins; „das bedeutet nicht, sie sei eine Lehre der Wahrscheinlichkeit" (A 293). Wahrscheinlichkeit ist nicht eine Weise des Scheins, sondern Wahrheit, deren Begründung freilich noch mangelhaft und unzureichend ist. Die Theorie der Wahrscheinlichkeit gehört rechtmäßig ins Gebiet der Analytik, d. h. zur Logik der Wahrheit. (Solche Abtrennung vom Wahrscheinlichen gilt noch schärfer für die mathematische Wahrscheinlichkeitslehre, die Kant unter Nennung Bernoullis durchaus in seine Erörterungen über Wahrscheinlichkeit und Schein, Dialektik und Logica probabilium miteinbezogen hat. Der mathematische calculus probabilium sucht doch ganz gewisse Ursachen über den Grad der Möglichkeit bestimmter Fälle auszurechnen, d. h. ein bloßes Fürwahrhalten auf objektive, nämlich mathematische Gründe zurückzuführen. Sie gehört folglich zur Analytik der Wahrheit und nicht zur Dialektik des Scheins.) Transzendentale Dialektik dagegen ist kritische Logik des Scheins. Sie enthüllt die ars sophistica als trügerischen Schein und eine tiefer gehende Sophistikation als Selbstverblendung der Vernunft. Die sophistische Dialektik „muß daher in dieser Bedeutung gänzlich wegfallen und statt derselben vielmehr eine Kritik dieses Scheins in die Logik eingeführt werden" (Logik Jäsche, Einl. II; Werke III, 438). Dieser Programmsatz wälzt das vorherrschende Verständnis von Dialektik um. Aus einem Organon der Täuschung und Beirrung soll ein ,Kathartikon des Verstandes' werden. Die Kunst, einen Schein zu erzeugen, soll einer Logik weichen, die den Schein aufzulösen und seinen Quellgrund zu entdecken sucht. Dabei wird die neue Dialektik auf eine Sophistik stoßen, die nicht nur Künstelei oder gar Spielwerk des Verstandes ist, sondern eine unabänderliche Sophistikation der Vernunft darstellt. Und sie wird es mit einem Schein aufzunehmen haben, der nicht mehr bloß eine Imitation, sondern eine Illusion von Vernunftschlüssen ist. Der dialektische Schein beginnt sich als eine Illusion des menschlich-vernünftigen Daseins zu enthüllen.

2. Kapitel: Dialektik des natürlichen

Scheins

Es scheint selbstverständlich, daß Kants Dialektikbegriff von ganz anderer Art ist als der, welcher durch Hegel geprägt und in der Hegelnachfolge schulmäßig ausgebildet, revolutionär umgestülpt oder bis zum asylum ignorantiae, zum magischen Lösungswort undurchschauter Probleme, ausgehöhlt wurde. Dialektik gewinnt bei Kant einen präzisen Eigen-

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Transzendentale Dialektik

sinn: kritische Wissenschaft der Auflösung des natürlichen Scheins. Sie tritt als jener ,skeptische Teil· der Kritik auf, „der die Quelle des Scheins anzeigt und die Wahrheit gegen ihn sichert" (Refi. Nr. 4952; Akad.-Ausg. XVIII, 39). In dieser Bedeutung nennt Dialektik zweifellos eine neue, nur der transzendentalen Vernunftkritik eigene Theorie und Aufgabe. Aber die Aufstellung und Durchführung der kritischen Logik des Scheins wird dialektische Grundbezüge herausarbeiten, welche alle späteren Gestalten der Dialektik des Selbstbewußtseins vorprägen. Das wird in der Aufstellung der Dialektik als Logik des natürlichen Scheins überhaupt und in deren Ausarbeitung als Logik des zweiseitigen Scheins, d. h. als transzendentale Antithetik und Antinomie-Lehre, manifest. Kants Neufassung der Dialektik bedeutet die Anstrengung einer neuen Antisophistik. Tragweite und Bedeutung dieser Begriffsarbeit lassen sich offenbar erst anhand der Frage ermessen: Was ist das für ein Schein, dessen Aufklärung zum Hauptgeschäft der Dialektik wird? Um dem nachzugehen, ist eine kurze Vorverständigung über Schein, Irrtum und Urteil nötig. Schein ist nicht schon selber Irrtum, sondern Verleitung zum Irrtum. Irrtum bedeutet die Falschheit als das Gegenteil von Wahrheit, sofern sie für Wahrheit gehalten oder ausgegeben wird. Nicht-Wahres wird zum Irrtum, wenn es als Wahres behauptet und in die Verstandesform eines unrichtigen Urteils gestellt wird. Der Ort von Wahrheit und Falschheit ist das Urteil. Wahr und falsch sind im ist-Sagen des Logos, im Urteilen des Verstandes. Diese Richtigstellung exkulpiert die Sinne. Die Sinne irren nicht, aber nicht darum, weil sie immer richtig, sondern weil sie gar nicht urteilen. Schein überhaupt meint danach Verleitung zum Irrtum, der sich in Urteilen ausspricht, die etwas Falsches als das Wahre behaupten. Nun dreht es sich beim Schein, den die Dialektik aufklären will, nicht etwa um einen empirischen Schein. Dieser verleitet durch einen subjektiven Eindruck den Verstand zu Fehlurteilen, die durch nähere Erfahrung richtiggestellt werden können. So verführt der empirische Schein durch die optische Täuschung, in welcher ein viereckiger Turm in der Ferne rund aussieht, den Verstand dazu, sich einzubilden: ,Dieser (viereckige) Turm ist rund'. Der Irrtum löst sich auf, und zwar einfach dadurch, daß der Betrachter der Sache näher kommt. Dialektik betrifft nicht solche ,Augenverblendnis', sondern eine ,Vernunftverblendnis'. Sie blendet die Vernunft, d. h. sie beirrt den Menschen als Menschen. Sie verleitet ihn, transzendente Grundsätze zu proklamieren und sich an sie als gewisse Wahrheiten zu halten. Transzendente Grund-

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sätze müssen streng von transzendentalen unterschieden werden. Sie haben eine gänzlich andere Intention und reichen in andere, verlockendere Gebiete. Ein transzendentaler Grundsatz, z. B. der ,Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität', übersteigt zwar alle Erfahrung, d. i. die objektive Erkenntnis, weil er diese allererst ermöglicht, aber er ist so — als notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit — auf das Gebiet der Empirie zurückbezogen und in die Schranken unserer menschlichen, durch Sinnlichkeit und Zeitlichkeit verendlichten Erkenntnis einbehalten. Transzendentale Grundsätze sind immanent und von bloß empirischem Gebrauch. „Ein Grundsatz aber, der diese Schranken wegnimmt, ja gar sie zu überschreiten gebietet, heißt transzendent" (A 296). Mit ihm kommt nicht ein Irrtum innerhalb der Schranken unserer Endlichkeit zur Sprache, sondern die Anmaßung und Hybris des Menschen, die Grenzen der Endlichkeit zu überfliegen und seine Erkenntnis ins Ubersinnliche hinaus zu erweitern. Das sind „wirkliche Grundsätze, die uns zumuten, alle jene Grenzpfähle niederzureißen und sich einen ganz neuen Boden, der überall keine Demarkation erkennt, anzumaßen" (A 296). Transzendente Grundsätze versichern das Scheinwissen der dogmatischen und kritischen Verstandesmetaphysik (metaphysica rationalis), das sich im Lande der unbegrenzten (logischen) Möglichkeit in den drei grenzenlosen Provinzen der metaphysica specialis (psychologia, cosmologia, theologia rationalis) ausbreitet. So stellt die Lehre von der Seele aus reiner Vernunfterkenntnis, durch mittelbares Schließen, Sätze der Art auf: ,Die Seele ist Substanz', ,Die Seele ist einfach, ist inkorruptibel', ,Der Seele kommen Identität und Personalität zu' usw. Letztlich sucht sie den Satz zu bewähren : ,Die Seele des Menschen ist unsterblich'. In der Vernunftlehre von der Welt herrschen transzendente Grundsätze der Art: ,Die Welt hat der Zeit nach einen Anfang' — ,Die Welt ist dem Räume nach unendlich'. ,Die innerweltliche, körperhafte Substanz besteht aus einfachen Teilen' usw. Letztlich sucht sie Aufschluß über den Satz: ,Das Ordnungsprinzip der Welt ist Freiheit'. Die rationale Theologie schließlich hat zu ihrem Anfang und Ende Grundsätze und Beweise über die Existenz Gottes, sei es im ontotheologischen Ausgang vom Begriff Gottes, im kosmologischen Rückgang auf das kontingente Dasein von Welt überhaupt oder in der physicotheologischen Rücksicht auf die Zweckmäßigkeit dieser Welt. In solch ungefährem Uberblick schon zeichnet sich deutlich der verlockende Ertrag einer die Grenzen endlicher Erkenntnis ins Ubersinnliche hinaus erweiternden Metaphysik ab. Sie verspricht sicheres Wissen über die Existenz

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Transzendentale Dialektik

Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, Anfang, Zusammensetzung, Ordnung und Grund der Welt. Damit ist formal und material umrissen, was transzendente Grundsätze sind, und es beginnt die alles zermalmende Gewalt der neuen Dialektik spürbar zu werden. Sie ist Kritik transzendenter Grundsätze einer reinen theoretischen Vernunft. Ihre Bestimmung liegt in der Aufgabe, „den Schein dieser angemaßten Grundsätze aufzudecken" (A 296). Eine kritische Logik des Scheins nimmt es mit der Hybris des Menschen auf, die Schranken seiner Endlichkeit zu überwinden und im Bewußtsein der Vernunft ein absolutes Wissen vom Unbedingten zu konstruieren. Und es kündigen sich im Stile der Metapher Bestimmungen an, welche die Dialektik des Selbstbewußtseins leiten werden: Schranke, Grenze, Demarkation, Grenzpfähle usw. Offenbar hängt der Versuch, die Insel der Wahrheit gegenüber Schein und Selbstverblendung sicher zu orten, daran, die transzendenten Grundsätze durch transzendentale zu ersetzen. Transzendente Grundsätze räumen die Schranke menschlicher Endlichkeit als Hindernis der Vernunfterkenntnis weg. Wahre Grundsätze setzen die Schranke als den Zusammenhalt ein, welcher die absoluten Setzungen von Gott, Ich und Welt dialektisch negiert, bewahrt und aufhebt. Sie werden in den Grundsätzen einer limitativen Dialektik, in Fichtes Wissenschaftslehre, gefunden und entwickelt werden. Kants Dialektik ist transzendental-kritische Logik eines „auf transzendente Grundsätze einfließenden" Scheins (A 296). Indessen löst sie nicht einfach den Traum schrankenlosen Wissens auf, indem sie die Erkenntnismöglichkeiten der Vernuft auf Bedingungen menschlicher Endlichkeit reduziert. Kritik scheidet. Sie unterscheidet, was im menschlichen Streben nach Unendlichkeit anmaßend und was seiner Natur angemessen ist. Einen ersten Vorblick auf die unablösbare Einheit des Gegensatzes von Endlichkeit und Unendlichkeit im menschlich-endlichen Ich gibt Kants Darlegung der Dialektik des natürlichen Scheins. Diese Frage steht ja noch offen: Wie ist der Schein geartet, der den Menschen zu grundsätzlichen Irrtümern über die Welt, über Gott und sich selbst verleitet? Dialektik hat es mit natürlichem Schein zu tun. Als Logik des natürlichen Scheins hellt sie die Illusion auf, der die menschliche Vernunft nachhängt. Dadurch unterscheidet sie sich entscheidend von einer Logik des künstlichen oder logischen Scheins. Das Kriterium der Unterscheidung ist bekannt, sein Sinn unbekannt: Der künstliche oder formal-logische Schein ist auflösbar und vermeidbar, der natürliche oder transzendentallogische Schein ist auflösbar, aber unvermeidbar. Der künstliche Schein

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verleitet zum Trugschluß (fallacia). Ein Trugschluß imitiert die Form eines wahren Schlusses, ohne richtig zu schließen. Er begeht Fehler hinsichtlich der regelrechten Form, sei es unvermerkt, so daß der Schließende sich selber täuscht (Paralogismus), sei es mit Absicht, um andere zu täuschen (Sophisma). So verleitet eine bloße Nachahmung der Vernunftform, d. i. einer consequentia mediata, zur Annahme, in ihr sei Wahres und Haltbares erschlossen. Eine Logik des künstlichen Scheins deckt solche Imitation als Imitation auf, indem sie Kunstfehler im Schlußverfahren nachweist. Mit der Entdeckung des Fehlers verschwinden der Schein und seine Beirrungen. Und der Schein kommt nicht mehr auf, wenn die formale Logik auf Einhaltung des syllogistischen Regelwerkes dringt und ihre sophistischen Widerlegungen bekanntmacht. Künstlicher Schein ist auflösbar und vermeidbar. Natürlicher Schein ist auflösbar, aber unvermeidbar. Er entspringt nämlich aus der Natur des Menschen, der Vernunft selber. Von Natur aus streben alle Menschen nach dem Wissen von Anfangsgründen (Seele, Welt, Gott), und natürlicherweise stellt sich der Schein ein, als wären solch unbedingte Prinzipien unseres Wissens Dinge an sich und Gegenstände der Erkenntnis. Dieser natürliche Schein, der auf transzendente Grundsätze einfließt, ist auflösbar. So läßt sich der vorgeblich schlüssig bewiesene monadologische Schlüsselsatz ,Die Seele oder das denkende Ich ist einfach' als Paralogismus enthüllen und der Schlußansatz einer Aequivocation (von Wissen im Doppelsinn von Denken und Erkennen, von Urteil im Doppelsinn von analytischem und synthetischem Bezug) überführen. Dieser ,Achilles aller dialektischen Schlüsse der reinen Seelenlehre' (A 351) enthält einerseits eine Dialektik sophistischer Argumentationskunst; darauf weist die Anspielung auf Zenons süffisante Paradoxie von Achill und der Schildkröte. Andererseits bildet diese »Hauptstütze der rationalen Psychologie' mehr als ein von Dogmatikern erkünsteltes, sophistisches Blendwerk. Der transzendente Grundsatz von der absoluten Einfachheit der Seele ist eine dem Menschen nahegehende Sophistikation der reinen Vernunft. Darum kann sein Schein zwar transzendental-logisch aufgelöst, aber niemals gänzlich aus der Welt geschafft werden. Er hat nicht den Charakter einer Imitation, sondern den der Illusion. Illusionen können durchschaut werden, aber sie verschwinden nicht. Kant gibt dafür lebensweltliche Beispiele. So scheidet seine Anthropologie natürlichen Schein (illus^o) und Betrug (fraus) am Beispiel von Taschenspiel und Perspektivik. Der Trick eines Gauklers ist Betrug und fauler Zauber. Der Trick täuscht nicht mehr, wenn man ihn kennt. Die vor-

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Transzendentale Dialektik

getäuschte Raumtiefe einer perspektivischen Zeichnung dagegen öffnet sich von einem bestimmten Gesichtspunkte aus immer wieder, auch wenn die Herstellung der Perspektivik und ihre Gesetze begriffen sind. Dasselbe gilt etwa für das Phänomen des mare altum (A 297) oder für den Augenschein, wonach die Sonne ihre Bahn um die Erde zieht, unangesehen der rationalen Einsicht, daß die Erde um die Sonne läuft. „Illusion ist dasjenige Blendwerk, welches bleibt, ob man gleich weiß, daß der vermeinte Gegenstand nicht wirklich ist" (Anthrop. § 11; Werke VI, 440). Die Unvermeidlichkeit resultiert aus der Standortgebundenheit menschlichen Sehens. Entsprechend illusionär ist die Sicht der Vernunft im Hinblick auf die absolute Idee. Ein natürlicher Schein verleitet sie immer wieder dazu, das unbedingte Prinzip und die absolute Einheit von Seele, Welt und Gott als Gegebenheiten und Gegenstände unserer Erkenntnis anzusehen. Dieser Schein bleibt, auch wenn er kritisch durchschaut und in seinen Irrtümern und Fehlschlüssen aufgedeckt ist. Er gehört eben nicht zum Kunst- und Machwerk menschlicher Sophistik. „Es sind Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst" (A 339)17. Auch die Illusion menschlicher Vernunft hängt an einer Standortgebundenheit, zwar nicht an der des räumlichen Gesichtspunktes, wohl aber an unserer zeithaften Endlichkeit. Illusionen der Vernunft quellen aus der Gedankenbewegung eines Daseins, das über der logischen Ausarbeitung des Vernunftbegriffes zwangsläufig seine Zeithaftigkeit vergißt. So erschüttert Kants Lehre vom natürlichen Schein die Selbstgewißheit des Ich und revidiert eine einseitige Ansicht der Aufklärung. Die Natur unserer Vernunft erweist sich zugleich als Fundament der Gewißheit wie als Quelle unvermeidlichen Scheins. Daher muß eine besonnene Dialektik die Grenze ihrer methodischen Macht bekennen. Indem sie den natürlichen Schein ergründet, ersieht sie dessen Illusionscharakter. Die Selbstüberlegenheit kritischer Methode beruht auf der Einsicht, die Illusion einer spekulativen Erkenntnis des Absoluten sei nicht auszulöschen; der dialektische Rückgang auf die Schranken menschlicher Endlichkeit habe jederzeit mit dem natürlichen Schein von Vernunftillusionen zu rechnen. 17

Im Gebiet der praktischen Vernunft ist die Erfahrung die Quelle des Scheins. Hier täuscht nicht ein Schein praktischer Ideen. Diese besitzen seit Plato ihren ausgewiesenen a priorischen Leitsinn für das, was getan werden soll. Wohl aber muß mit dem Schein einer Erfahrung gerechnet werden, die das für verbindlich erklärt, was getan wird. „In Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins" (A 319).

Transzendentale Antithetik

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Steht es so, dann sind Sinn und Eigenart der transzendentalen Dialektik verfehlt, wenn sie bloß historisch genommen und als überholte Kritik der vergangenen Verstandesmetaphysik des 18. Jahrhunderts verstanden werden. Der dialektische Schein weist unabweisbar in Widersprüche des menschlichen Selbstbewußtseins. Kants Logik des natürlichen Scheins ist beides, Instrument einer zeitlosen Aufklärung menschlicher Vernunftverblendung und Dokument für die unaufhebbare Illusion vernünftig-zeithaften Daseins.

3. Kapitel: Über die methodologische Reichweite der transzendentalen Antithetik Sachlich und entwicklungsgeschichtlich bildet das Antinomie-Problem den entscheidenden Anfang der kritischen Philosophie. Daß die Antithetik das heilsame Ärgernis und der erste Anstoß (σκάνδαλον) zur Erweckung der menschlichen Vernunft aus ihrem dogmatischen Schlummer war, bezeugen die beiden berühmtesten und umstrittensten Selbstzeugnisse Kants18. Die frühe Reflexion (aus den siebziger Jahren) belegt die Durchdringung des antithetischen Skeptizismus und die Wende zu einer Logik des natürlichen Scheins: „Ich versuchte es gantz ernstlich Sätze zu beweisen und ihr Gegentheil, nicht um eine Zweifelslehre zu errichten, sondern weil ich eine Illusion des Verstandes vermuthete, zu entdecken, worin sie stäke" (Reflexion 5037; XVIII, 69). Der letzte Brief an Garve vom 21. 9. 1798 markiert den Aufbruch einer Logik des Scheins als kritische Antithetik. „Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der reinen Vernunft. . . diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben" (Akad.-Ausg. XII, 257-258). Weiter gesehen, sind Entdeckung und Auflösung der Antinomie sogar 18

Zum Stande der seit B. Erdmann umgewälzten Diskussion über die Entwicklungsgeschichte der transzendentalen Kritik und über die Entwicklung des AntinomieGedankens vgl. vor allem H. Heimsoeth, Atom, Seele, Monade. Historische Ursprünge und Hintergründe von Kants Antinomie der Teilung. Kant-Studien 100 (1970) 134 ff. N . Hinske, Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung. KantStudien 56 (1960). G. Lehmann, Kritizismus und kritisches Motiv in der Entwicklung der Kantischen Philosophie. In: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants. Berlin 1969. S. 132ff.

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Transzendentale Dialektik

noch mehr als der Anfang der kritischen Philosophie. Ihre Antithetik bringt die neuere Dialektik im ganzen auf die Bahn. Neuzeidiche Dialektik gewinnt ihr Profil als Antinomie-Lehre. Antinomie ist eine besondere Gestalt der Antithetik. Unter einer Antithesis überhaupt versteht Kant „den Widerstreit der dem Scheine nach dogmatischen Erkenntnisse, (thesin cum antithesi)" (A 420). Antithetik meint demnach die prüfende Betrachtung eines Widerstreites von Dogmen. Sie bedeutet den ersten Aufbruch des Denkens gegen einen unkritischen Dogmatismus. Kants Fachsprache setzt den Terminus dogmatisch zwischen empirisch und skeptisch oder zetetisch an. Ein Dogma ist keine empirische Behauptung; denn es beansprucht Apodiktizität, die aus bloß empirischer Erkenntnis niemals zustande käme. Und ein Dogma bleibt unskeptisch, insofern es von der Vernunft ohne eindringlichen Zweifel an ihrem eigenen Vermögen aufgestellt wird. Dogma meint sonach die entschiedene und gegen ihre Voraussetzungen unkritische Befestigung einer Ansicht (δόξα) durch einen Satz und Dogmatismus die Aufstellung eines solchen Satzes als eines Grund- und Lehrsatzes. Eine Antithetik hat es nun überhaupt mit Antithesen von Grundsätzen zu tun, die dogmatisch aufgestellt und behauptet werden. Sie untersucht solchen grundsätzlichen Gegensatz von Thesis und Antithesis unter der leitenden Absicht, deren Widerspruch zu heben. „Die transzendentale Antithetik ist eine Untersuchung über die Antinomie der reinen Vernunft" (A 421). Antinomie ist ein Wort der Gerichtssprache. Eine Antinomie liegt vor, wenn zwei Parteien vor Gericht entgegengesetzte Ansprüche erheben und durch gleich gültige Gesetze bestehenden Rechts stützen, so daß Not und Verlegenheit der Richter den Gesetzgeber zwingen, die Gesetzesverfassung kritisch zu überprüfen. Somit bezeichnet Antinomie nicht ein in sich selbst widersprüchliches Gesetz, sondern den Widerspruch zwischen Gesetzen. In diesem Sinne ergibt sich der Tatbestand einer juridischen Antinomie aus Entgegensetzungen zwischen Naturrecht und bürgerlichem Recht. Eine tragische Antinomie, nämlich der Widerstreit zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz, durchherrscht den Fall der Antigone. Die Schulphilosophie hat Antinomie, den juristischen Sprachgebrauch adoptierend, definiert: antinomia accipitur pro pugnantia legum inter se (cf. Goclenius Lexicon philosophicum). Kant nennt Antinomie den »Widerstreit der Gesetze' (A 407) 19 . 19

Zum juristischen Sprachgebrauch von Antinomie und seinem Einfluß auf Kant vgl. N . Hinske, Antinomie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter, I, 3 9 3 - 3 9 6 .

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Kants Dialektik gibt dem überlieferten Titel einen neuen Sinn. Antinomie im transzendentalen Verstände nennt den Widerstreit, welcher aus unserer Natur entspringt und vor dem Gerichtshofe der Vernunft ausgetragen wird. Er stellt sich in einem Gegensatz von Aussagen (contrarietas sententiarum) auf, die Anspruch auf grundsätzliche Geltung im Modus der Notwendigkeit erheben. Beide Dogmen haben das Recht geltender Axiome auf ihrer Seite. Ihr Widerstreit nötigt dazu, die Gesetzesverfassung der reinen Vernunft einer durchdringenden Kritik zu unterziehen. Soweit ist die Fragestellung einer Antithetik im Sinne einer Untersuchung über die Antinomie der reinen Vernunft umrissen. Aus ihr ergeben sich drei Fragen, „welche bei einer solchen Dialektik der reinen Vernunft sich natürlich darbieten" (A 421). Sie betreffen Inhalt, Ursache und Resultat der dialektischen Antithetik. Die erste Frage geht dahin, „bei welchen Sätzen denn eigentlich die reine Vernunft einer Antinomie unausbleiblich unterworfen sei" (A 421). Die formale Kennzeichnung antinomischer Sätze wiederholt zunächst die generelle Charakteristik dialektischer Lehrsätze in Abhebung von sophistischen Behauptungen. Sie gehören der Logik des natürlichen Scheins, nicht etwa der Scheinkunst einer ars sophistica an. Ihre Entgegensetzung entsteht mithin nicht willkürlich, sondern unausbleiblich. Eine sophistische Antithetik ersinnt innerhalb einer disputado de quolibet Fangfragen der Art: „Wenn eine Kugel nicht durch ein Loch geht, was soll man sagen: Ist die Kugel zu groß, oder das Loch zu klein" (A 490). Der Schein dieser Antithesis verfängt nicht mehr, sobald die gehörige Hinsicht (hier die von Zweck und Mittel) beigebracht wird. Uberhaupt gehört die Aufstellung eines solchen Zweifelsfalles zu dem ,Spielwerk der alten dialektischen Schule'. Antinomisch dagegen heißen Fragen, auf die jede menschliche Vernunft in ihrem Drängen auf erste Gründe stoßen muß; denn sie kommen durch einen natürlichen und nicht durch einen künstlichen Schein zustande. Solch generelle Kennzeichnung gewinnt nun bei Antinomiesätzen eine eigentümliche Zuspitzung. In ihnen verfängt sich die menschliche Vernunft in einem Widerstreit von Gesetzen und unterliegt einem zweiseitigen Blendwerk, das die Vernunft unvermeidlich mit sich selbst entzweit. Solch zweiseitiger, natürlicher Schein setzt die Einheit der Vernunft dem Zweifel und der Selbstentzweiung aus. Der natürliche Schein eines Widerspruchs in der ursprünglich einigenden Einheit des menschlich-endlichen Selbstbewußtseins bildet die Unruhe, welche die Versuche kritischer Auflösungen und dialektischer Aufhebungen sollizitiert. Er setzt die Dialektik der Moderne überhaupt in Gang.

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Soweit reicht die formale Charakterisierung. Welche Dogmen der Vernunft sind denn nun aber, materiell und inhaltlich betrachtet, einer transzendentalen Antithesis ausgesetzt? In einer antinomischen Antithesis treten diejenigen transzendenten Grundsätze' auf, in denen die Welt konzipierende endliche Vernunft kosmologische Ideen oder Weltbegriffe formuliert. In diesem Kontext wird Welt fraglos der Cartesischen Uberlieferung zufolge als Körperwelt (Universum) vorverstanden, in ihrer theoretischen Zugänglichkeit ausgelegt und dem Gebiete der Kosmologie — scientia entium compositorum et connexorum ratione temporis et spatii — überwiesen. Welt meint sonach die unbedingte Allheit von in Raum und Zeit erscheinenden und verbundenen materiellen und teilbaren Körperdingen. So hatte ja schon die Dissertation von 1770 den Weltbegriff definitiv angesetzt: als absolute Einheit von in der Form der Beiordnung bestehenden materiellen Substanzen (vgl. Sectio I § 1 und 2). Welthaftes wird in Rücksicht auf das Körperding als dem primär innerweltlich Begegnenden und im hermeneutischen Zugang der mathematisch gewordenen Physik in den Blick gefaßt. Die scientia von der universitas compartium absoluta orientiert sich an der Weltlichkeit der res extensa. Die Hauptdogmen der cosmologia rationalis betreffen Welt als das Ganze mathematischer bzw. dynamischer Erscheinungen in vier kategorialen Leithinsichten 20 . In Hinsicht auf die materielle Welt-Beschaffenheit stellen sich am Leitfaden der Qualität Grundsätze über die Teilbarkeit der Bestandteile des körperhaft Innerweltlichen auf. In Hinsicht auf WeltGröße ergeben sich am Leidfaden der Quantität Grundsätze über den zeitlichen Weltanfang und die räumliche Weiterstreckung. Im Hinblick auf die Welt-Ordnung kommt es am Leitfaden der Relation zu Grundsätzen über die Kausalität. Und im Hinblick auf die Existenz der Welt finden sich am Leitfaden der Modalität Grundsätze über die Abhängigkeit des Kontingenten von einem notwendigen Wesen ein. Das Tor zur transzendentalen Antithetik öffnet sich nun durch eine Entdeckung: Die Vernunftaussagen über die Welt formieren sich antithetisch, also im Widerstreit von Gegensatzpaaren. So stellen sich z. B. unter dem Hinblick auf WeltGröße zwei Sätze gegeneinander: Die Welt hat einen Anfang in der Zeit; die Welt hat keinen Anfang in der Zeit, sondern ist der Zeit nach unendlich. Damit ist die erste Frage einer Antithetik im Umriß beantwortet. Es 20

Eine Erörterung über innere Systematik oder äußere Schematik der kosmologischen Ideentafel liegt außerhalb der Untersuchung. Dazu sei verwiesen auf den großen Kommentar von H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Berlin 1967. Bd. II, 199-219.

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sind kosmologische Grundsätze, die einer Antinomie unterworfen sind. Im Versuch, die Weltbezüge rational zu begreifen, entzweit sich die menschliche Vernunft in einem zweifelhaften Widerspruch weitreichender Thesen und Antithesen. Die tiefer gehende Frage aber will aufklären, „auf welchen Ursachen diese Antinomie beruhe" (A 421). Hier, im Vorentwurf der „dialektischen Lehre" (A 422) von der Antinomie, kann noch nicht die verborgene Ursache selbst dargelegt, es soll vielmehr der Weg dahin abgesteckt werden. Die Antithetik sucht den Schein eines Widerspruchs, der die Vernunft mit ihr selbst veruneinigt, bis an seine Quelle zu verfolgen. Dafür genügt es nicht mehr, auf die überschwengliche Natur der menschlichen Vernunft als Ursprung eines natürlichen Scheins hinzuweisen. Jetzt kommt es darauf an, einen zweiseitigen und nicht bloß einen ,einseitigen Schein' (A 407) zu ergründen, welcher das Welt-begreifende Bewußtsein in den Widerspruch treibt. Dieser dialektische Weg wird am Ende auf einen wahrhaft dialektischen Grund der Gewißheit führen, der alle Zweifel aufhebt. Die Antithetik nötigt nämlich zur Erwägung, „ob und auf welche Art dennoch der Vernunft unter diesem Widerspruch ein Weg zur Gewißheit offen bleibe" (A 421). Der Druck des Widerspruchs fordert drei mögliche Einstellungen der Vernunft heraus, die dogmatische, die skeptische und die kritische. Dogmatische Uberzeugung wirft sich ebenso entschieden wie kritiklos auf eine Seite des Gegensatzes und sucht diese, taub gegen alle Einreden der anderen Seite, durch Widerlegung des Gegners zu behaupten. Die skeptische Haltung stellt sich unvoreingenommen dem Widerspruch als solchem und erblickt in ihm Anfang und Ende allen Wissens. Der Skeptizismus läßt keine Hoffnung auf entschiedene Gewißheit übrig und verlangt angesichts der Zweifelhaftigkeit und Strittigkeit alles Wißbaren die ,Suspension des Urteilens'. Die dritte, kritische Einstellung verwirft die dogmatische Vereinseitigung ebenso wie die skeptische Verabsolutierung der Antithetik. Für einen kritischen Geist wird das Phänomen der Antithetik zum Anstoß radikaler Selbstprüfung; denn die offenbare Antinomie verwahrt „vor dem Schlummer einer eingebildeten Uberzeugung, den ein bloß einseitiger Schein hervorbringt" (A 407). Der Anlauf des Kritizismus, durch den Zweifel des antinomischen Widerstreits zu höherer, unzweifelhafter Gewißheit des Selbstbewußtseins zu kommen, heißt .skeptische Methode'. Sie grenzt sich scharf gegen den Skeptizismus ab. Kant hat eine Trennung zwischen skeptischer Methode und skeptischer Philosophie schon in den Enzyklopädie-Vorlesungen

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(1776 —1780) vorgetragen. Sie wird im Antithetik-Kapitel der .Kritik' präzise zugeschärft. Die skeptische Methode „ist vom Skeptizismus gänzlich unterschieden, einem Grundsatze einer kunstmäßigen und szientifischen Unwissenheit, welcher die Grundlagen aller Erkenntnis untergräbt, um, wo möglich, überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben übrigzulassen" (A 424). Skeptizismus bedeutet Zweifelslehre. Ihr Grundsatz lautet: Es ist überall nichts Gewisses; auch das Zuverlässigste und Sicherste unterliegt dem Zweifel. Ihre Kunst besteht in einer .subtilen Dialektik', jeden Grundsatz durch Aufstellung eines gleich schlüssigen Gegensatzes in Zweifel zu ziehen. Solch skeptizistische Dialektik hat von alters her die Durchsetzung einer alle Erkenntnisgrundlagen untergrabenden Ungewißheit mit dem kunstmäßig gehandhabten Mittel der Antithetik zum Ziel. Daran erinnern Kants .Vorlesungen über die philosophische Enzyklopädie' (Akad.Ausg. XXIV, 56): „Die Dialektik war für die Sachwalter und Anwälte in der alten Zeit für notwendig gehalten. Die Skeptiker bedienten sich ihrer gleichfalls häufig, denn sie legten es darauf an, die Menschen zur Ungewißheit zu bringen, bald dies, bald das Gegenteil zu behaupten." Der skeptische Zweifler arbeitet also — nach Kants Erinnerung — mit der antithetischen Methode, durch Aufwiegen von Gründen und Gegengründen einen Zwiespalt der Meinungen und eine έποχή-Haltung heraufzuführen, welche über die Suspension von Dogmen hinaus die Enthaltung von aller Gewißheit zum Prinzip erhebt. Von solch pyrrhonischer Dialektik unterscheidet sich die skeptische Methode gänzlich; „denn die skeptische Methode geht auf Gewißheit" (A 424). Sie bildet einen Zweifelsweg aus, der nicht den Zweifel selbst, sondern eine zweifelsfreie Gewißheit zum Ziele hat. Die skeptische Methode hebt den Skeptizismus samt seinem Korrelat, dem Dogmatismus, auf, indem sie in eine kritische Dialektik einmündet. Der Kritizismus resultiert somit aus einer Bewegung des Geistes, welche vom Dogmatismus über den Skeptizismus zum transzendental-idealistischen Kritizismus führt. Die skeptische Methode negiert und bewahrt den Dogmatismus. Sie verneint die prinzipielle Kritiklosigkeit und bewahrt dessen Anspruch auf notwendige, synthetische Erkenntnis. Und eine skeptische Methode verneint und konserviert den Skeptizismus. Sie verneint eine Verabsolutierung der Antithetik als Selbstzweck und bewahrt die Antithesis als bewegendes Moment wahrhaft kritischer Dialektik21. 21

Daher ist übrigens auch die Rezeption des .Erfinders der Dialektik', des eleatischen Zenon — den Kant in der Färbung des Bayleschen Skeptizismus durch den ZenonArtikel des Dictionnaire historique et critique kennt — ambivalent. (Wobei die Zenon-

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Dabei bildet die skeptische Vorstellung der Antinomie noch nicht die kritische Dialektik selbst. Sie macht die Haltlosigkeit v o n Thesis und Antithesis im dogmatischen Weltanschauungsstreit offenkundig. Sie überf ü h r t beide Parteien einer Unangemessenheit und läßt die Gegensätze als zweifelhaft erscheinen. A b e r die skeptische Methode endet nicht bei prinzipieller Skepsis angesichts eines Widerstreits um nichts, sie zielt darauf ab, die Zweiseitigkeiten der Vernunftverhältnisse so zu negieren, daß sie als antithetische Momente einer Gewißheit gebenden, den antinomischen Zweifel suspendierenden Synthesis aufgehoben sind. Das geschieht, weil das skeptische Resultat dazu zwingt, das Grundverhältnis der dogmatischen theoretischen V e r n u n f t zum Seienden überhaupt in Zweifel zu ziehen 2 2 . U n d so e r ö f f n e t sich eine weitreichende Aussicht darauf, wie sich die transzendentale Antithetik methodisch aufklärt und die neuzeitliche Dialektik ausgestaltet. Zuerst u n d vordringlich dürfte sich die skeptische Logik bei A u f l ö s u n g des zweiseitigen Scheins bewähren. Sie w i r d die Grundverfassung einer reinen theoretischen V e r n u n f t prüfen und die wahren Gefüge v o n Ich-denke und Ding, v o n Wesen und Erscheinung, v o n Ansich und Füruns, von intelligiblem und sensiblem Charakter, von Subjekt und O b j e k t freilegen. Im Lichte dieser ontologischen U n t e r rezeption der Neuzeit, wie gerade auch das Beispiel Hegels zeigt, Spiegel des je eigenen Dialektik-Verständnisses ist.) Im Zuge der einfachen negatio erscheint Zenon als Lehrer, im Zuge der conservatio als Methodiker des Zweifels. Über die Beziehungen Kants zu den antiken Skeptikern unter besonderer Berücksichtigung terminologischer Fragen vgl. den profunden Forschungsbericht von G. Tonelli, Kant und die antiken Skeptiker. In: Studien zu Kants philosophischer Entwicklung. Hildesheim 1967. S. 93 — 123. 22 In gehöriger Entsprechung vollzieht sich der Übergang von der gemeinen sitdichen Vernunfterkenntnis zur Kritik der praktischen Vernunft. Auch hier entspinnt sich eine ,natürliche Dialektik'. Diese bringt die gemeine Menschenvemunft unvermerkt in die Verlegenheit, die Geltung der Pflichtgesetze in Zweifel zu ziehen. Solch natürliche Dialektik ist nichts anderes als der Hang, wider die Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Strenge zu bezweifeln, so daß einerseits deren Ausnahmslosigkeit anerkannt, andererseits — im je persönlichen Sonderfall - die ausnahmsweise Durchbrechung gebilligt wird. Dieser Hang bildet ein natürliches Gegengewicht gegen die Verbindlichkeit der Pflicht und nährt einen Gegensatz, in welchem der Verbindlichkeitsanspruch sittlicher Grundsätze und der Anspruch auf persönliche Glückseligkeit (auf gänzliche Befriedigung der Bedürfnisse und Neigungen) einander widersprechen. Es ist dieser zweiseitige Schein der natürlichen Dialektik, welcher die praktische Vernunft nötigt, ihre Gesetzgebung und die Quellen ihres Prinzips kritisch zu überprüfen, „damit sie aus der Verlegenheit wegen beiderseitiger Ansprüche herauskomme und nicht Gefahr laufe, durch die Zweideutigkeit, in die sie leicht gerät, um alle echten sittlichen Grundsätze gebracht zu werden. Also entspinnt sich eben sowohl in der praktischen gemeinen Vernunft, wenn sie sich cultiviert, unvermerkt eine Dialektik, welche sie nöthigt, in der Philosophie Hülfe zu suchen" (GMS 1. Abschn.; Akad.-Ausg. IV, 405).

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Scheidung werden die entgegengesetzten Ansprüche aller dogmatischen Parteien hinfällig. Der zwischen ihnen herrschende Widerspruch wird sich als Widerstreit aufklären. Ihre vorgebliche analytische Opposition wird als dialektische Opposition aufgedeckt werden. Unter diesem Zugriff der Logik des natürlichen Scheins fallen Thesis und Antithesis gänzlich weg. So jedenfalls steht es mit der Antithetik der mathematischen Antinomie. Eine ganz andere Aussicht wird sich ergeben, wenn die transzendentale Antithetik nicht in jeder Welthinsicht als Streit um nichts einfach negiert werden kann. Im Falle der Freiheitsantinomie wird ein erheblicher Widerspruch dazu nötigen, eine vermittelnde Aufhebung zu vollziehen. Damit wird der Weg frei werden, auf dem die Dialektik aus einer transzendentalen Logik des Scheins in die , Große Logik' der Wahrheit und der Ideen hinübertritt. Hegel hat den Impuls der kritischen Antithetik so eingeschätzt. Die Durchführung der Antinomie habe die Dialektik wieder in Erinnerung gebracht (vgl. Enzyklopädie § 81 und § 48), und dies durch einen zweifachen Gedankenschritt. Kant habe die Dialektik auf ein philosophisches Niveau erhoben, „indem er ihr den Schein von Willkür nahm, den sie nach der gewöhnlichen Vorstellung hat und sie als ein nothwendiges Thun der Vernunft darstellt" (Wissenschaft der Logik I, Einl.). Der Dialektik wird in der Tat der Schein der Willkür genommen, sofern sie als Logik des natürlichen Scheins eingerichtet wird. Entscheidender aber ist der zweite Schritt, nämlich die Darstellung des dialektischen als eines notwendig antithetischen und widerspruchsvollen Handelns der Vernunft. Das ist für Hegel das eigentlich Interessante, was Kant zum Bewußtsein gebracht hat: die Notwendigkeit, daß beim Versuche der Vernunft, die Welt vollständig zu begreifen, ein Widerspruch nicht nur stattfindet, sondern der Vernunft dabei wesentlich ist (vgl. Geschichte der Philosophie III, Neueste deutsche Philosophie B). Und Kant selber hat das Erstaunliche des AntinomiePhänomens als Offenbarung einer bisher unentdeckten und sich selbst verbergenden Gegensatzspannung der Vernunft ausgelegt. Die Antinomie biete den einzigartigen Fall dar, „da die Vernunft ihre geheime Dialektik, die sie fälschlich vor Dogmatik ausgibt, wider ihren Willen offenbarete" (Proleg. § 52 b; Werke III, 212).

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4. Kapitel: Dogmatische Dialektik = Thesis und Antithesis der dritten Antinomie Jeglicher philosophische Dogmatismus stellt aus reiner Vernunft und ohne Skepsis gegenüber den Schranken menschlicher Erkenntnis überzeitliche Grundsätze auf. Und er sucht seine überschwenglichen Dogmen als absolute und einzige Wahrheit um jeden Preis siegreich zu behaupten. „Diese vernünftelnden Behauptungen eröffnen also einen dialektischen Kampfplatz, wo jeder Teil die Oberhand behält, der die Erlaubnis hat, den Angriff zu tun, und derjenige gewiß unterliegt, der bloß verteidigungsweise zu verfahren genötigt ist" (A 422 —423). Auf .dialektischem Kampfplatz' wird der Dogmatismus zur eristischen Sophistik. Er trachtet einzig danach, seine These aggressiv gegen die jeweilige Antithese durchzusetzen. Der dogmatische Dialektiker denkt gar nicht daran, angesichts des unbeirrbaren Widerspruchs der Gegenpartei seine eigene Position einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Seine Methode läuft darauf hinaus, den Gegner in die Defensive zu drängen, in der Auseinandersetzung das letzte Wort zu haben und den letzten Schlag zu tun; denn seine Argumente und Schlagworte dienen immer nur zur Widerlegung, niemals zur Selbstprüfung. Die dogmatische Dialektik der reinen Vernunft breitet sich im Felde der rationalen Kosmologie aus. Ihr folgenreichster Widerstreit spielt sich innerhalb der Antithetik von Freiheit und Notwendigkeit ab. Diese bildet die drückendste Antinomie, die hartnäckigste Veruneinigung der Vernunft mit sich selbst und die wohl erbittertste Streitsache dogmatisch-dialektischer Weltanschauungen. Darum gilt es zunächst, den allgemeinen Antinomie-Charakter in diesem Widerstreit herauszuheben und Verfahren wie Resultat der dogmatischen Dialektik kenntlich zu machen. Die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit ist kosmologisch. Ihr Thema bildet die Welt unter dem leitenden Hinblick von Relation (Kausalität und Dependenz). Ihre Antithetik entsteht durch die Entgegenstellung von zwei Arten der Kausalität. Ihre Thesis behauptet: Erste und anfängliche Bedingung für das vollständige Begreifen der Weltordnung insgesamt, d. h. in der Ganzheit der Ursachenreihe von Erscheinungen, ist eine Kausalität aus Freiheit; ohne sie und allein durch eine Kausalität aus Natur bleibt ursächliche, d. h. objektive Naturerfahrung unbegreiflich. Diese These tastet also die Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes der Natur nicht an, sie bestreitet allein dessen Allgenügsamkeit. Dies eben verteidigt die Gegenposition, die ,Physiokratie' : eine „Allvermögenheit der Natur"

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(A 449). Dadurch profiliert sich der „Naturalism — der die Natur vor sich selbst gnugsam ausgeben will" (vgl. Proleg. § 60, Werke III, 240). Er behauptet, Kausalität aus Natur sei ausschließlich und allein vermögend, die Weltreihe der Ursachenbedingungen zu begründen. So zeichnet sich der Rechtshandel einer Antinomie ab. Zwei Parteien erheben Anspruch auf dasselbe, nämlich erster Anfangsgrund (principium) der Weltordnung zu sein. Und beide suchen die Rechtmäßigkeit ihres Anspruches unter Berufung auf gültige Gesetze durch Vernunft als dem Vermögen mittelbaren Schließens zu beweisen. Das geschieht nicht von ungefähr mit Hilfe des indirekten Beweises. Während nämlich ein direkter (ostensiver) Beweis das zu Erweisende aus seinen eigenen Gründen bewahrheitet und anzeigt, wie es aus dem Grunde der Wahrheit hervorgeht, weist ein indirektes (apagogisches) Verfahren allein die Unhaltbarkeit der Gegenpartei nach. Sie demonstriert, indem sie den zu widerlegenden Grundsatz des Gegners als wahr voraussetzt und ad absurdum führt, daß der Gegner irrt, aber nicht, daß die eigene Meinung nicht irrt. So nützlich auch ein apagogisches Beweisverfahren für das skeptische Geschäft ist, im Medium des natürlichen Scheins wird es zum Instrument der dogmatischen Dialektik, in welcher sich mit seiner Hilfe diejenige Partei durchsetzt, die das letzte Wort hat. Aus der indirekten Beweisführung der Freiheitspartei läßt sich ein förmlicher Schluß herausziehen. Obersatz: Ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache geschieht nichts. Untersatz: Allein aus Kausalität der Natur ist keine Ursache hinreichend bestimmt. Also geschieht allein aus Natur nichts. Die Maior nimmt das große, von Leibniz als Grundsatz herausgestellte principium rationis reddendae sufficientis in Anspruch: Nichts begibt sich ohne irgendeine hinreichende Ursache — nihil existit nisi cuius reddi potest ratio sufficiens. Nicht die Formulierung des Satzes, sondern seine Aufstellung als uneingeschränkt gültiger Grundsatz für das Begreifen der Welt konstituiert die Position einer dogmatischen Verstandesmetaphysik. „Ce grand principe a lieu dans tous les evenemens, et on ne donnera jamais un exemple contraire" (Théod. § 44; G. phil. VI, 127). Nun ist eine Ursache hinreichend a priori, das meint hier: a parte ante, von Seiten der vorangehenden Ursachen, bestimmt, wenn die Gesamtheit der bedingenden Ursachen gegeben ist. Ist die Wirksamkeit einer Ursache nicht vollständig determiniert, dann geschieht nichts. Nihil fit sine causa sufficienti.

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Die Minor trägt die Beweislast. Sie zeigt schlüssig: Wenn alles nach Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es „überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen" (A 446). Obersatz : Alles, was geschieht, setzt einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt (das Gesetz der Naturkausalität). Untersatz: Der vorige Zustand ist selbst ein Geschehnis, d. h. geworden und nicht immer-seiend. Also setzt jeder vorige Zustand jeweils einen noch ,früheren' voraus. Diese bündige Überlegung hält sich fraglos an die Zeitlichkeit der Jetztfolge, welche auch den Zustand einer Ursache in ihrem Wirkendsein durchherrscht; denn wäre der ursächliche Zustand immer, dann wäre auch das Erfolgte immer schon gewesen. Das aber ist widersinnig. Innerhalb der Natur und ihrer Bewegtheit meint doch eine Folge immer etwas, das durch anderes entstanden ist und auf etwas anderes folgt. Eine immerwährende Folge ist eine contradictio in adiecto. Mithin ergibt sich auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen ein infiniter Regreß, ζ. B. in der Reihe der menschlichen Geschlechter, deren Abstammungsreihe endlos in die Vorzeit zurückführt. Folglich verfängt sich die unbeschränkte Position des Naturalismus selber in einem Widersinn. Sein Grundsatz behauptet, das Weltgeschehen insgesamt vollständig begreifbar zu machen — er läßt in Wahrheit unbegreiflich, daß überhaupt etwas geschieht. Aus der erwiesenen Falschheit des einen folgt in einem jeden kontradiktorischen Gegensatzverhältnis die Wahrheit des anderen. Also ist noch eine Kausalität aus Freiheit notwendig anzunehmen. Gemäß den Spielregeln dogmatischer Dialektik nimmt nun die Partei der Physiokraten die scheinbar siegreiche Gegenthese vor, um sie in einen Widerspruch zu verwickeln, und zwar wiederum in der Darstellung eines Vernunftschlusses. Obersatz: Eine Verbindung bloß sukzessiver Zustände, d. h. eine pure Nacheinanderfolge ohne Auseinanderfolge (post hoc ohne propter hoc) ist in keiner Erfahrung anzutreffen. Untersatz: Die Bestimmung der kosmologischen Freiheit geschieht in einem Nacheinander ohne Auseinander. Also ist Freiheit in keiner Erfahrung anzutreffen, mithin ein leeres Gedankending. Der Obersatz beruft sich auf das Gesetz der Naturkausalität als einen Grundsatz aller möglichen objektiven Erkenntnis; denn die Wirklichkeit

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von Vorstellungen unterscheidet sich vom Traum allein durch ihren Zusammenhang, nämlich die kausale Verknüpfung der Erscheinungen. Nur dadurch, daß das Vorgestellte in einem kausalen Auseinander erfolgt, hebt es sich als objektiver Gegenstand allgemeiner Erfahrung vom puren zeitlichen Nacheinander im ungeregelten Spiel einzelsubjektiver Vorstellungen ab. Folglich kommt nur solches als Erkenntnisobjekt im Umkreis menschlich-endlicher Erfahrung vor, dessen zeitliches Abfolgen ein Auseinanderfolgen bedeutet. Diesem Gesetz genügt nach dem Verdikt des Untersatzes die Vorstellung der Freiheit nicht. Freiheit im Hinblick auf Welt hat den Charakter des Selbstanfanges, der Spontaneität einer Handlung (Tätigsein überhaupt) und bedeutet das Vermögen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen. Die Analyse dieses Begriffs legt dessen Nichtigkeit wiederum von Seiten der Zeitlichkeit dar. Der Begriff des Selbstanfangs impliziert als Anfang einen Zeitpunkt, nämlich jetzt, wo die Wirksamkeit anfängt, der auf einen anderen Zeitpunkt folgt, an dem diese Handlung noch nicht angefangen hat. Es setzt „jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus" (A 445). Die Vorstellung eines Seihst-Anfangs schließt zwei sukzessive Zustände ein. Da nun aber offenkundig der Begriff eines Selbst-Anfangs ein Erfolgen aus dem vorigen Zustand, auf den er folgt, ausschließt, liegt im Begriff der kosmologischen Freiheit der Fall eines erfolglosen Folgens vor. Mithin ist der Gedanke der Freiheit zwar nicht ein sich selbst widersprechender Ungedanke, ein Unding im strengen Sinne des nihil negativum, aber er ist nicht mehr als ein Gedankending, ein leerer Begriff, für den sich kein Gegenstand in der Erfahrung finden läßt (ens rationis, vgl. die Tafel des Nichts A 292). Er ist ,bloß Erdichtung' der platonischen Träumer. Dieses Resultat verheert den prinzipiellen Ansatz kosmologischer Freiheit. Die Freiheitspartei behauptet doch, die Erfahrung der gesetzlich geordneten Natur insgesamt vollständig zu gewährleisten. Sie stellt sich selbst außerhalb der Wahrheit und verläßt den sicheren Boden objektiver Erkenntnis. Folglich kommt das Prinzip der Naturgesetzlichkeit wieder zu Ansehen. Ist die Freiheitsthese als Prinzip einer Gesetzlosigkeit falsch, dann muß nach dem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten ihr Gegenteil, die Gesetzlichkeit und Notwendigkeit der Naturkausalität, wahr sein. So überführen beide Positionen einander wechselseitig des Irrtums und treiben die ,Welt-Anschauung' der Vernunft in eine endlose Irrnis. Das Eigentümliche in dieser Antinomie von Natur- und Freiheitsgesetz ist, daß sich beide Parteien für ihre entgegengesetzten Ansprüche auf dieselbe

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Gesetzlichkeit der Vernunftverfassung berufen. Bekanntlich hatte Leibniz als das zweifache Grundgesetz einer reinen Vernunft zwei Erkenntnisprinzipien zusammengestellt, die Prinzipien des Widerspruchs und des zureichenden Grundes. „Nous raisonnements sont fondés sur deux grandes principes, celuy de la contradiction . . . et celtty de la Raison suffisante" (Monad. § 31—32; G. phil. VI, 612). Dabei verband sich das Prinzip der Kontradiktion mit dem des ausgeschlossenen Dritten. „Nous jugeons faux, ce qui en enveloppe, et ν ray ce qui est opposé ou contradictoire au faux" (Monad. § 31). Daher konnte Kants Handbuch-Logik drei grundsätzliche (logische) Kriterien der Wahrheit festlegen (vgl. Logik Jäsche, Einl. VII): Das principium contradictionis sichert die innere (logische) Möglichkeit einer Erkenntnis, das principium rationis sufficientis kennzeichnet das Wirklichsein als Wohlgegründetsein, und das principium exclusi medii inter duo contraria erweist die (logische) Notwendigkeit eines Sachverhaltes. Jede der beiden Thesen nun nimmt solche Versicherungen für sich gegen den anderen in Anspruch. Es ist der so fixierte Stand einer Veruneinigung der Vernunft mit sich selbst auf dem Boden oberster Grundsätze, welcher die Antithetik zur kritischen Uberprüfung dieses Gesetzesbodens zwingt. Die dogmatische Dialektik der dritten Antinomie zieht unabweislich die dogmatische Kosmologie und die hinreichende Gültigkeit der drei obersten Grundsätze der metaphysica generalis in Zweifel. Sie betreibt so kein beliebiges Kampfspiel und einen bloß gedanklichen Grundsatzstreit um nichts. Im Kampf um die kosmologische Freiheit ist nicht zu erwarten, daß die Streitenden den Schein ihrer dogmatischen Dialektik, „die Nichtigkeit ihres Streithandels von selbst einsehen und als gute Freunde auseinander gehen" (A423). Die Konsequenzen dieser Dialektik betreffen den Menschen in seiner praktischen Existenz und in seinen wesentlichsten Interessen.

5. Kapitel: Konsequenzen und Interessen im dialektischen Spiel von Notwendigkeit und Freiheit Die Antithetik zwischen der Kausalität aus Natur und einer Kausalität aus Freiheit hat ihren sachlichen Ursprung im Gebiete der Kosmologie. Ihr Widerstreit bildet die Gegenposition der Welt- und Naturanschauung aus, den „Gegensatz des Epikureismus gegen den Piatonismus" (A 471). Aber die Freiheitsantinomie bleibt nicht auf Sachfragen der cosmologia rationalis beschränkt, und ihre Diskussion wiederholt nicht bloß Thesen

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vergangener Schulen. Die Titel der Gegenpositionen (Piatonismus — Epikureismus, Dogmatismus — Empirismus bzw. Physiokratie oder Naturalismus) meinen nicht spezielle Schulrichtungen einer philosophiehistorischen Uberlieferung, sie kennzeichnen überzeitliche Grundformen einer unvermeidlichen Weltanschauungsdialektik23. Der kosmologische Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit besitzt nicht nur einen beziehungsreichen kosmo-theologischen Hintergrund, er schließt vor allem die Frage nach der Möglichkeit moralisch-praktischer Willensfreiheit und damit den endlosen Weltanschauungsstreit zwischen Determinismus und Indeterminismus ein. Aufgrund solcher Folgen wird das scheinbar dialektische Spiel von Ideen zum Kampfplatz ernsthafter Interessen der menschlichen Vernunft. Mit der Frage nach dem Kausalprinzip der Weltordnung verschlingen sich offenkundig zwei Problemkreise von großem Interesse. Eine kosmotheologische Verknüpfung verbindet die Frage der kosmologischen Freiheit mit Gott als dem ersten Beweger, dem Selbstanfang einer prima causa mundi. Und ein kosmo-psychologischer Zusammenhang verbindet das Weltproblem von Freiheit und Notwendigkeit mit der menschlichen Seele und der Frage nach der Möglichkeit moralisch-praktischer Freiheit. Die beziehungsreichen Anknüpfungen an die Schultradition eines ,primus motor' (für die bei Kant weniger das πρώτον κινούν des Aristoteles als vielmehr die νους-Lehre des Anaxagoras und die Demiurgie Piatos beispielhaft sind) und die kosmo-theologischen Folgerungen bleiben, so bedeutend sie sind, beiseite. Wird die dritte Antinomie für sich und nicht in kooperierendem Vorgriff auf die vierte Antinomie gesehen, dann liegt ihr Schwergewicht auf der Konfundierung von kosmologischer und moralischer Freiheit 24 . 23

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Das kann etwa die Zwischenstellung der epikureischen Schule belegen. Einerseits wird sie von Kant als Beispiel für die Antithesis benannt (die ohne Annahme eines ersten Bewegers auskommt, vgl. A 451). Andererseits gilt Epikurs Lehrstück vom Clinamen, der grundlosen Bahnabweichung der Atome, für Kant als ein Beispiel der Thesis, sofern deren Behauptung Grund- und Gesetzlosigkeit impliziert, vgl. Allgemeine Naturgeschichte, Vorrede; I, 226—27 u. ö. Eine vorschnelle Verlagerung der Freiheitsantinomie in den Bereich menschlichen Willens abgewiesen und ihren vielschichtigen, kosmo-theologischen Sinnzusammenhang erforscht hat die Studie von H . Heimsoeth, Zum kosmo-theologischen Ursprung der Kantischen Freiheitsantinomie. Kantstudien. Ergänzungshefte 100 (1970), 248 - 270. F. Delekat (Immanuel Kant. 2. Aufl., Heidelberg 1966. S. 196 - 202) stellt entsprechend das teleologische Glaubensinteresse, das hinter der Thesis der dritten Antinomie steht, heraus, nämlich eine Verknüpfung des ersten Bewegers mit der freien, schöpferischen Intelligenz Gottes und mit dem Menschen als Zweck der Weltschöpfung.

Interessen im dialektischen Spiel

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Diesen Begründungszusammenhang kündigt die ,Anmerkung zur dritten Antinomie' eindeutig durch die Doppelthese an: Die kosmologische Freiheit macht ein Moment der psychologischen Freiheit aus, und sie bildet den eigentlichen Stein des Anstoßes in der ,Frage über die Freiheit des Willens' (A 448). Das wird zwar lediglich zur Stärkung der Freiheitspartei ins Feld geführt, aber die Behauptung trifft ein berechtigtes, zentrales Vernunftinteresse und treibt die transzendental-idealistische Auflösung der Welt-Antimonie zu tief eindringenden Erhebungen. Vorläufig schon, obzwar noch in dogmatischem Kontext, läßt sich konstatieren: Beinhaltet der psychologische Begriff der Freiheit Eigenwahl und Selbstbestimmung, dann enthält er das Moment des Selbstanfangs einer „absoluten Spontaneität der Handlung, als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben" (A 448). Offenkundig nämlich setzt Imputabilität, d. h. die Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit eines Wesens, dessen Wirken Verdienst und Schuld zugerechnet wird, Freiheit im Sinne eines Vermögens voraus, eine Reihe von Handlungen von selbst anzufangen. Ob aber ein solches Vermögen angenommen werden kann, das ist die eigentliche Crux der Freiheitsfrage. Es dreht sich dabei also gar nicht sofort und primär um den freien Willen des Menschen (schon gar nicht um empirische Begründungen ζ. B. des menschlichen Selbstgefühls, „sich durch nichts in der Welt zu irgend Etwas zwingen zu lassen" (vgl. Metaphysik-Vorlesungen Pölitz, S. 182)). Die Frage nach dem Grunde der Möglichkeit menschlicher Freiheit leitet zu dem Verhältnis von Welt- und Selbstanfang zurück; denn nur dann, wenn innerhalb des Weltganzen so etwas wie Selbstanfang seinsmäßig möglich ist, kann es eine Selbstbestimmung des Willens geben. Die Thesis hält die Annahme, „mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen" (A 450), durch den Nachweis der kosmologischen Freiheit für erlaubt. Ein unbedingter Selbstanfang steht eben nicht einmalig am Anfang der Zeitreihe und zeitlichen Weiterstreckung, er kann als ein Erstes der Kausalität nach auch mitten in der abfließenden Zeitfolge eine ganz neue Reihe von Begebenheiten in Gang setzen. Nur die Zeitreihe läßt ein absolutes Erstes inmitten der sukzessiven Jetzt-Folgen nicht sein; denn in der Zeit geht jedem Zeitpunkt stetig ein früherer voraus. Innerhalb einer Kausalreihe aber steht es anders. Hier kann widerspruchslos eine Handlung gedacht werden, die zwar zeitlich auf einen früheren Zustand folgt, aber nicht aus diesem erfolgt. „Wenn ich jetzt (ζ. B.) völlig frei, und ohne den notwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen, von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit, samt deren natür-

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lichen Folgen ins Unendliche, eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist" (A 451). Somit erscheint es logisch möglich, daß Freiheit nicht nur als absolut erster, bewegender Anfang des Weltlaufes überhaupt, sondern auch als zwischenzeitlicher Erstanfang während des Weltlaufes wirkend ist. Mit diesem Ausblick auf den Zusammenhang von kosmologischer Freiheit und menschlicher Imputabilität profiliert sich die Thesis als eine Weltanschauungsposition, die ihre Stoßrichtung offenkundig gegen Determinismus und Fatalismus hat. Nun kann es im Widerspiel dogmatischer Dialektik nicht verwundern, wenn die Gegenpartei ihrerseits der Freiheitsposition wahrhaft fatale Konsequenzen aufbürdet. Das läßt sich leicht aus der Anmerkung der Antithesis entnehmen, die beteuert, daß allein die Notwendigkeit der Naturgesetzlichkeit dem Stand des Menschen in der Welt Wirklichkeit sichert. Eine Unabhängigkeit von der Gesetzlichkeit der Naturkausalität ließe nachgewiesenermaßen den Menschen zwischen Traum und Wirklichkeit schwanken und lieferte ihn lebensmäßig dem Schicksal, d. h. einem blinden, von uns nicht zu fassenden Ohngefähr, aus. Im Grunde ist es gerade ein die Idee der Freiheit negierender Naturalismus, der vor dem Fatalismus schützt. Die Idee des Fatums besteht doch in der Kraft „sowohl einer blinden Naturnotwendigkeit in dem Zusammenhange der Natur selbst, ohne erstes Prinzip, als auch in der Kausalität dieses Prinzips selbst" (Proleg. § 60; Werke III, 240). Unter der Alleinherrschaft des Naturgesetzes aber ist keine Notwendigkeit in der Natur „blinde, sondern bedingte, mithin verständliche Notwendigkeit: non datur fatum" (A 228). Blinde Notwendigkeit (fatum) und blindes Ohngefähr (casus) gibt es nur da, wo das leere Gedankending der Freiheit zum Weltprinzip erhoben wird. Und so tritt dialektischermaßen die Physiokratie als eine Partei ,contra Fatalistas' auf. Im Resultat sollte betont werden: Der Sachursprung der dritten Antinomie liegt nicht im menschlichen Bereich, sondern im klassischen Problemfeld der cosmologia rationalis und seinen kosmo-theologischen Hintergründen. Und natürlich ist ihre Gegengesetzlichkeit nicht vorschnell auf Willensbezüge der innerweltlichen Substanz Mensch zu reduzieren. Andererseits aber darf die Spitze des Weltanschauungsstreites zwischen kosmologischer Freiheit und Naturnotwendigkeit nicht abgebrochen werden. Und diese zielt auf die Bedeutung der kosmologischen Antithetik für die Auseinandersetzung über Determinismus und Indeterminismus menschlichen Willens. Darum wird der dogmatische Widerstreit

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auch von einem natürlichen Interesse unserer Vernunft belebt und von der Sorge um die menschliche Existenz geleitet. Das kann ein Seitenblick auf Kants Erörterung „Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite" (A 4 6 2 - 4 7 6 ) erhellen. Das Interesse an der theoretischen Frage über die Anfangsgründe kausaler Weltordnung entzündet sich an der Frage, „ob ich in meinen Handlungen frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei" (A 463). Darum bietet das dialektische Spiel der kosmologischen Ideen kein bloßes Spiegelgefecht. An ihm ist das höchste Interesse menschlicher Vernunft beteiligt. Bekanntlich vereinigen sich nach Kant die Interessen, die das Wesen der menschlichen Vernunft jederzeit bewegen, in den drei Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? (A 805). Und die berühmte Stelle der Logik-Vorlesung zieht diese drei Interessen der theoretischen und praktischen Vernunft auf ein viertes Interesse zusammen: Was ist der Mensch? (Logik Jäsche, Einl.; Werke III, 448). Darum gewinnt das Vernunftinteresse einen existentiellen' Grundzug. Interesse heißt wörtlich Dazwischensein. Es eignet dem ZwischenWesen Mensch, nämlich als ein Sein zwischen Begehren und Wirklichkeit. Daher ist Interesse ein genuin anthropologischer Grundbegriff und gewinnt fundamentale Bedeutung, wo die Weltauslegung sich auf das Prinzip des Menschen und sein ausgezeichnetes Existieren zusammenzieht. Es wird zum tragenden Moment einer Dialektik, wo Wirklichkeit und Existenz zum Grundwort einer Theorie des Selbst wird, in der ExistenzialDialektik Kierkegaards. Kant hält sich an den lateinischen Wortlaut: ,mihi interest' besagt: Mir in meinem Begehrungsvermögen ist an der Wirklichkeit von etwas gelegen. (Darüber belehrt Kants Analyse des Interesses in der epochalen Bestimmung des interesselosen Wohlgefallens.) An etwas Interesse nehmen heißt somit, auf dessen Existenz aussein, ζ. B. daß ein Geschäft wirklich zustande kommt. Und das Interesse ist als Antrieb und Bestimmungsgrund mit,Vorteil' und .Gewinn' verbunden; denn das Interesse geht ja auf Erfüllung aus. Nun ist im Hinblick auf Freiheit und Notwendigkeit ein Vernunftinteresse im Spiel. Hier regt sich mithin nicht die begierdehafte Selbstliebe, in welcher dem Menschen im Wechsel beliebiger Interessen letztlich an sich selbst in seinem Wohlergehen als Naturwesen gelegen ist. Das Vernunftinteresse leitet ein Weltverhalten, in welchem es im Grunde um die sittlich-praktische Existenz des Menschen unter Menschen geht. Nun soll angezeigt werden: Die Antithetik dogmatischer Weltanschauung wird von einem Interessenkonflikt durchherrscht, in dem unvermittelt

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Transzendentale Dialektik

theoretisches und praktisches Vernunftinteresse im Streite liegen. In einer fanatischen, begeistert-unversöhnlichen Entgegensetzung der Prinzipien von Freiheit und Notwendigkeit waltet ein sich selbst nicht durchschauendes Interesse. Aller Streit liegt einfach unter dem Niveau der kritischen Einsicht, daß alles Interesse zuletzt praktisch und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist (vgl. Kr. d. pr. V. I, 2. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen). Die Parteinahme im Weltanschauungslager der Ideenfreunde (des dogmatischen ,Piatonismus') für die kosmologische Freiheit wird vorzüglich durch ein praktisches Interesse geleitet. Denn diese Position verschafft mir ja die Versicherung, „daß mein denkendes Selbst . . . in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei" (A 466). Und darin kulminiert das Interesse der Vernunft, eben an der Wirklichkeit und Existenz unseres menschlichen Selbst als eines sittlich handelnden sozialen Wesens. Nebenbei nährt sich die Entscheidung für das Freiheitsprinzip noch aus zweifachem spekulativem Interesse. Für das ,architektonische Interesse' der Vernunft an einem Systemgebäude verheißt der in sich gründende Grund der Freiheit Festigkeit und Abgeschlossenheit, und die überschwengliche Idee der Freiheit entspricht bei unkritischem Gebrauch dem „Interesse der Popularität", nämlich mühelos ein vielgültiges und unangreifbares Lösungswort für Weltanschauungsfragen aller Art zu liefern. Die Weltanschauung des ,Epikureismus' dagegen läßt das architektonische Interesse unerfüllt. Sie ist in ihrem Grundsatz der Naturkausalität, welcher ,,die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen gänzlich unmöglich" macht (A 474), systemfeindlich. Und sie ist „aller Popularität gänzlich zuwider" (A 472). Der Empirismus bietet kein gemächliches Erfassen großmächtiger Wahrheiten und Totaleinsichten, sondern das schrittweise Erforschen unabschließbarer Ursachbedingungen an. Dennoch muß ein theoretisches Vemunftinteresse leitend sein; denn das praktische Interesse der Vernunft — nicht etwa die Leitung der Erkenntnis durch technische und pragmatische Praxis — bleibt unbefriedigt. Mit der Idee der kosmologischen Freiheit fällt zugleich die der moralisch-rechtlichen Freiheit aus der Kompetenz der naturalistischen Welterklärung heraus. Befriedigt dagegen wird das Bedürfnis der Vernunft nach Sicherung und Erweiterung der menschlichen Erkenntnis. Der Erkenntnisstand ist sicher, weil das Erfassen der Dinge nach dem Gesetz der Naturkausalität die

Der Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Antithetik

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Grenzen der Erfahrung innehält. Er wird erweitert, weil das Forschen nach dieser Regel schrittweise in das Erkennbare der Welt eindringt. So betrachtet, zeichnet sich in die Antithetik der Freiheitsantinomie eine Interessendialektik ein. Der Naturalismus verfolgt einseitig und borniert das theoretische Interesse, die Welt in stetigem Fortschritt wissenschaftlich in die Hand zu bekommen — unter Ausschluß der Freiheit als dem gefährlichen Figment der Gesetzlosigkeit und jeder Art Glaubenshaltung. Umgekehrt setzt der dogmatische Piatonismus einseitig auf die Idee der Freiheit aus praktischem Interesse und lähmt das tiefer gehende theoretische Interesse, indem er es durch populäre Weltsysteme oberflächlich befriedigt. So öffnet sich ein Riß zwischen Theorie und Praxis, wissenschaftlicher Weltbeherrschung der Körperwelt und moralisch-rechtlicher Weltverbesserung der Mitwelt, wann immer das undurchschaute Interesse der Vernunft einseitig zur Parteinahme bewegt.

6. Kapitel:

Der ideal-realistische der kosmologischen

Schlüssel zur Auflösung Antithetik

Jegliche Antinomie bringt den Richter in ausweglose Verlegenheit und nötigt den Gesetzgeber, die herrschende Gesetzesverfassung kritisch zu überprüfen. Solch .wohltätiger' Zwang der Antinomie, bei offenbar werdendem Widerspruch gültiger Gesetze die geltende Gesetzgebung zu revidieren, treibt auch die Vernunft dazu, ihre Grundsätze neu zu überdenken. Diese betreffen die Verhältnisse des Menschen zum Seienden im Ganzen. Bislang regelten sie die Bezüge des Denkens zum Seienden, sofern es logisch möglich, also widerspruchsfrei ,denklich' ist. Für das ens possibile gelten die Gesetze des Widerspruchs, des zureichenden Grundes, des ausgeschlossenen Dritten. So notwendig diese Prinzipien auch für das Ding in seiner widerspruchslosen Denkbarkeit sein mögen, für das Vernehmen der Welt und ihre Grundbestimmungen sind sie unzureichend und zweifelhaft. Die aufgedeckte Antinomie hat sie diskreditiert. Unter Berufung auf ihre Gültigkeit entflammt der Streit der Weltanschauungen und entzweit sich die Vernunft. Was angesichts der kosmologischen Antinomie not tut, ist eine ontologische Uberprüfung des Seienden (des Dinges) in der Grundbedeutung seines Seins. Und diese neue, tiefere Festlegung des menschlichen Verhältnisses zum Seienden überhaupt dürfte es nicht bei Gesetzen über das Denkmögliche belassen, sie müßte das Ding seiner Wirklichkeit und Existenz nach regeln.

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Transzendentale Dialektik

Die neue kritische Gesetzgebung verfährt idealistisch. Ihr Grundgesetz lautet: Alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung sind nichts als Erscheinungen und nicht Dinge an sich selbst. Diese Generalthesis legt dem menschlichen Weltverhalten eine Unterscheidung des Seienden in seinem Sein zugrunde. Sie entdeckt die Differenz von Ansichsein und Fürunssein. Nichtunterscheidung und Verdecktheit fixieren die Herrschaft des natürlichen Scheins und der dogmatischen Illusionen, deren Unterscheidung und Aufklärung heben die Vernunft grundsätzlich über die einseitig dogmatischen Positionen hinaus. Von vornherein grenzt sich der kritische Idealismus ebenso entschieden von Gestalten des einseitigen Idealismus wie des einseitigen Realismus ab. Er stellt sich mithin gar nicht auf die Seite des Idealismus und in Gegensatz zu allem Realismus, er formuliert die Position einer Vermittlung, welche die Einseitigkeiten von Idealismus und Realismus in einem kritisch besonnenen IdealRealismus aufhebt. Dieser anfänglich synthetisierende Zugriff entfaltet sich in allen Konzeptionen des nachfolgenden Idealismus, in den dialektischen Aufstiegen der Wissenschaftslehre auf der , Leiter' der Gegensätze von Idealismus und Realismus, in Schellings Vereinigungen von transzendentalem Idealismus und Naturphilosophie — sei es in der Kunst, sei es im System der Identität, sei es in der Grund-ExistenzOntologie der Freiheitsschrift —, schließlich in Hegels überschwenglicher Dialektik von Ansichsein und Fürunssein in Phänomenologie und Logik. Kants Aufhebung des einseitigen Idealismus scheidet den materialen oder empirischen vom formalen oder transzendentalen Idealismus. Das trichtert die Kritik ein: Erscheinung (phaenomenon) und Wirklichkeit schließen einander nicht aus, sondern gerade ein. Die Welt der Erscheinungen, der Dinge für uns, ist nicht eine Schein- und Traumwelt, sondern die Wirklichkeit. Der wahre Idealismus ist kein wirklichkeitsloser Standpunkt, der es nur mit Bewußtseinserscheinungen zu tun hat und die ,harte Realität' außer acht läßt. Wirklichkeit und objektive Realität können überhaupt nur dem ens qua phaenomenon zugesprochen werden. Das wird klarer, wenn der Standpunkt des materialen, empirischen Idealismus kritisch durchleuchtet wird. Dieser behauptet: Was primär wirklich und unzweifelhaft gewiß ist, das bin ich, das seines Daseins sichere vorstellende Subjekt; die Realität der körperhaften Außenwelt dagegen ist entweder zweifelhaft und von der Traumvorstellung ununterscheidbar (problematischer Idealismus Descartes') oder schlechtweg zu leugnen (kategorischer Idealismus Berkeleys); denn das Seiende ist sowohl der

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Form als auch der Materie, d. h. seinem sinnlichen Sachgehalte nach, bloße Vorstellung (esse = percipi). Dagegen richtet Kants formaler, transzendentaler Idealismus seinen kritischen Bescheid. Seiendes als Gegenstand unserer menschlich-endlichen Erkenntnis ist der Form nach keine ,an sich gegründete Existenz'. Es ist durch die Art und Weise bestimmt, wie es durch uns vorgestellt wird. Wie die Dinge zur Anschauung kommen, nämlich im Nacheinander der Zeit und im Auseinander des Raumes, und wie sie gegenständlich gedacht werden, nämlich im kausalen Auseinander, im Verhältnis von Ding und Eigenschaft usw., das schulden sie nicht den Dingen selbst. Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Kausalität, Substantialität usw. sind nicht Bestimmungen der Dinge an ihnen selbst, sondern Formen, in denen die Dinge von uns zur Erscheinung gebracht werden. Was sich uns bekundet und präsentiert, zeigt sich immer schon in Formen der Objektivität, welche vom entgegenstellenden Subjekt aufgebracht sind: in den Anschauungsformen von Raum und Zeit und in den kategorialen Beständen reiner Denkformen. Darin spricht sich die Kopernikanische Wendung aus. Die Dinge zeigen sich dem Menschen nicht an ihnen selbst, sie werden von ihm zur Erscheinung gebracht. So betrachtet, bedeutet Erscheinung das Seiende in seiner gegenständlichen Wirklichkeit, so wie es in den Formen endlicher Erkenntnis offenbar wird. Und von hier leuchtet ein, daß das Ich des empirischen Idealismus gar nicht das allen Gegenständen zuvor und zugrunde liegende Subjekt, sondern selbst ein Gegenstand der Erfahrung, nämlich Erscheinung des inneren Sinnes ist; denn dessen Selbsterfahrung und Selbstvergewisserung geschieht „durch die Sukzession verschiedener Zustände in der Zeit" (A 492). Dem empirischen Ich kommt — wie allen anderen Gegenständen unserer Erkenntnis auch — eben als Erscheinung die gesuchte Wirklichkeit zu. Allein dem ens qua phaenomenon steht verbindliche Wahrheit zu, sei es im Gebiet der körperlichen Außenwelt, sei es im Gebiet der seelischen Innenwelt. An den bekannten Beispielen von den Einwohnern im Monde, von Sternen in Raumweiten jenseits der Milchstraße, von Begebenheiten vorvergangener, historisch dunkler Zeiten hat Kant noch einmal klargestellt: Der einzige Charakter der Wirklichkeit ist Wahrnehmung. Wirklich kann nur das heißen, was in der Wahrnehmung präsent ist bzw. im Kontext der Wahrnehmung steht, so daß unsere Erfahrung - „am Leitfaden der Geschichte" oder „an den Fußtapfen der Ursachen und Wirkungen" (A495) — darauf treffen kann. Für das, worauf unsere Wahr-

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Transzendentale Dialektik

nehmung prinzipiell nicht kommt, hat der kategoriale Titel Wirklichkeit keinen Sinn. Weil aber das Wahrgenommene durch Raum und Zeit geformt ist, kommt nur den Erscheinungen die Bestimmtheit der Wirklichkeit zu. Und eben die Wirklichkeit des phaenomenon ist gegen die Vermischung mit den Erscheinungen des Traumes gefeit. Der einzige Charakter der objektiven, allgemeinen Gültigkeit von Vorstellungen ist die Kausalität. Diese reine Denkform unterscheidet die regellose Folge subjektiver Vorstellungen — etwa des Traumes — von objektiven Gegenständen. Weil aber nun gerade die Erscheinungen durch die Form der Kausalität konstituiert werden, trennt sich die Erscheinung vom Traum. Offenkundig bildet die kritische Position keinen schrankenlosen Idealismus aus. Er läßt das Sein des Seienden nicht im Fürunssein, in Selbstbewußtsein oder Vernunft, aufgehen. Davor schützt der Angelpunkt der Endlichkeit. Der transzendentale Sinn von Endlichkeit hängt an der Sinnlichkeit menschlicher Anschauung, an einer „Rezeptivität, auf gewisse Weise mit Vorstellungen affiziert zu werden" (A 494). Unser Vorstellen bleibt auf die Hinnahme eines mich affizierenden Gegebenen, auf Sachgehalte oder Empfindungsdaten, angewiesen. Daher eignet dem menschlich-endlichen Erkenntnissubjekt unaufhebbar der Grundzug des Leidens, ein Leidendsein im Hinblick auf die Materie der Vorstellung. So gesehen, bewahrt der formale Idealismus einen realistischen Rückhalt. Wie das Ding erscheint, das wird von uns getätigt. Daß ein Ding erscheint, liegt nicht bei uns, sondern beim Ding an ihm selbst. Der Respectus auf das Ding in seinem Ansichsein macht die zweite Seite des transzendentalen Lehrbegriffs aus. Ihre Präzisierung geschieht durch abgrenzende Kritik gegenüber dem Realismus. Dieser verabsolutiert die Seite des Ansich, weil er die zweifache Bedeutung des Seins übersieht und daher das Ding, insofern es für uns ist, als an sich selbst bestehend unterstellt. Es fehlt die Einsicht in die Apriorität der Formen, die das Material der Sinnlichkeit in unserer Vorstellung modifizieren. „Der Realist in transzendentaler Bedeutung macht aus diesen Modifikationen unserer Sinnlichkeit an sich subsistierende Dinge, und daher bloße Vorstellungen zu Sachen an sich selbst" (A 491). Für den Realismus ist nicht das Ich das Fundament der Gewißheit, sondern die an sich seiende Sache der Maßstab der Wahrheit (Richtigkeit), nach dem sich das Gewußtsein zu richten hat. Gegen die einseitige Ubersteigerung des Realismus schützt die transzendental-kritische Fassung des Dinges an sich. Durch sie gewinnt das Seiende die Bedeutung eines noumenon oder intelligibile. Das Ding an sich

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ist kein Jenseits unseres Denkens, aber es liegt auch nicht innerhalb unserer Erkenntnis. Als bloß Denkbares gewinnt das noumenon einen zweifachen Sinn. In negativem Verstände bedeutet das Ansich das Sein des Dinges, sofern es nicht Gegenstand unserer Erkenntnis ist. Es ist nicht seiend unter den Formen unserer Anschauung und unseres Denkens, also nicht zeitlich, nicht räumlich, nicht kausal geordnet usw. Im positiven Verstände dagegen kann das Ding an sich Gegenstand einer intellektuellen Anschauung als eines Denkens sein, das nicht auf die Hinnahme von Gegebenem durch die Sinne angewiesen ist, sondern das selber anschaut. Zwar lassen sich die realen Möglichkeitsbedingungen einer intellektuellen Anschauung von uns nicht einsehen, deren logische Möglichkeit aber kann nicht widerlegt werden ; denn es ist unmöglich, zu beweisen, daß Sinnlichkeit die einzige mögliche Form der Anschauung und ein nichtrezeptives Anschauen ein Widerspruch sei. Wäre aber dann das ens qua noumenon nicht ein von uns willkürlich erzeugter Gedanke, etwas zur Welt der Erscheinungen Hinzugedachtes? Es ist ein notwendiger Gedanke. Auf Grund unserer Endlichkeit ist die Unterstellung eines Ansichseins unausweichlich. Endlichkeit bedeutet, neuzeidich verstanden, Beschränktheit des Bewußtseins. Das Beschränktsein des Ich besagt Angewiesensein auf die Materie und auf das Daßsein der Vorstellungen. Dafür also, für das a posteriori materiell Gegebene, ist eine nichtsinnliche »Ursache' im Sinne eines intelligiblen Substrats zu denken. Diese ,intelligible Ursache' gibt nichts als den Gedanken eines notwendig Zuvor- und Zugrundeliegenden her. „Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt, und diese können wir daher nicht als Objekt anschauen" (A 494). Was uns bekannt ist, das ist allein das in den apriorischen Formen unseres Anschauens und Denkens zur Erscheinung Gebrachte. Was von Grund auf a posteriori ist, eben das unserer Rezeptivität korrespondierende .tätige' Ding an sich, bleibt nach Schopenhauers indologischem Vergleich — .hinter dem Schleier der Maja', dem Apriori, verborgen. Es entzieht sich unserem, durch die apriorischen Formen der Anschauung aufgehellten Erkennen. „Indessen können wie die bloß intelligible Ursache der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert" (A 494). So bildet das Ansichsein den Begriff der Grenze und das Verhältnis einer notwendigen Schranke im Bezug des endlich-menschlichen Vernunftwesens zum Seienden. Somit ist die zweite Seite des idealistischen Lehrbegriffs, der Gedanke

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Transzendentale Dialektik

des Dinges an sich, gegenüber der Position des einseitigen Realismus zurechtgerückt. Wie aber ist das Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung zu bestimmen? Der kritische Ideal-Realismus unterbindet alle ontischen Vorstellungen von zwei unterschiedenen Dingen; er lehrt „das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen . . ., nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst" (Β XXVII). Die Lehre von der zweifachen Bedeutung betrifft das Sein, nicht etwa das Seiende. Die vielumrätselte Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung eröffnet keine Dichotomie, eine Zweiteilung des Seienden im Ganzen in eine Sinnes- und eine Verstandeswelt, eine Vorder- und Hinterwelt, welche gar in der Relation von Ursache und Wirkung zueinander bestehen. Sie betrifft eine grundlegende Differenz des Seienden in seinem Gegenständlichsein, das in Bezug auf uns in seiner wirklichen Ständigkeit erkennbar, in Bezug auf sich selbst in seinem Entgegenstehen und Zugrundeliegen denkbar ist. „Das Ding an sich ist nicht ein anderes Objekt, sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vorstellung auf dasselbe Objekt" (Opus postumum ed. E. Adickes, 1920, S. 653). Das läßt sich so denken: In Beziehung auf uns erleidet das Ding seine Formbestimmung durch uns. In diesem Respectus ist das Subjekt derart tätig, daß es das Objekt von sich her zur Erscheinung und als .empirisches Objekt', d. i. als wirklichen Gegenstand der Erfahrung zustande bringt. Das macht das idealistische Moment des Kritizismus aus. In Beziehung auf das Ding in seinem Ansichsein dagegen ist das Subjekt leidend. Es bleibt ohnmächtig gegenüber dem Faktum, daß sich Seiendes bekundet. Das Entgegen- und Dawidersein des Gegenstandes ist nicht unserem Tun, sondern dem ,transzendentalen Objekt' bzw. ,transzendentalen Subjekt' als dem Gegen-stande zuzudenken, der unsere Sinnlichkeit ,leiden' macht und unserer Erkenntnis die Grenze zieht. Das macht das realistische Moment aus. Im lebendigen Wechsel beider Seinsbezüge besteht das Prinzip des Ideal-Realismus, nämlich die Einheit des Subjekt-Objekt 25 . Die Unterscheidung der Seinsbezüge des Seienden in seinem Ansichund Fürunssein und die zugrunde gelegte Einheit des Ich-denke und 25

Diese Interpretation streitet nicht mit der von M. Heidegger vorgelegten Auslegung derselben Stelle, welche sich — unter dem Leitgedanken der Herausarbeitung menschlicher Endlichkeit als Problembasis für die Grundlegung der Ontologie — an dem Unterschied der endlichen und unendlichen Erkenntnis orientiert und den zweifachen Respectus von Ansichsein und Erscheinung desselben .Objekts' (!) primär auf die Differenz von endlicher und unendlicher Erkenntnis bezieht (vgl. Kant und das Problem der Metaphysik. 2. Aufl. Frankf. a. M. 1951. S. 37ff.).

Phasen der Entschlüsselung

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Subjekt-Objekt führen unausdrücklich die Spannungen einer wahren Dialektik des Selbstbewußtseins herauf. Ausdrücklich bringen sie den Streit der kosmologischen Antinomie zu Ende. Indem sie deren Antithetik auflösen und die Quelle ihres dialektischen Scheins freilegen, beweisen sie indirekt die Tauglichkeit des kritischen Idealismus. Bekanntlich beruft sich die Transzendentalphilosophie auf zwei Beweise. Einen direkten Beweis ihrer Schlüssigkeit liefert die transzendentale Ästhetik, einen indirekten die transzendentale Dialektik. Zumal die Auflösung des natürlichen Scheins, aus dem der Jahrtausende alte Streit zwischen Freiheit und Notwendigkeit quillt, zeugt indirekt von der aufhellenden Wahrheit des transzendentalen Ansatzes. Wer immer dem ideal-realistischen Lehrbegriff widerstrebt, sieht sich aufgefordert, den uralten Widerspruch der dritten Antinomie gründlicher aufzulösen oder sich der durchschlagenden Kritik der transzendentalen Dialektik zu beugen.

7. Kapitel: Drei Phasen in der Entschlüsselung der Antinomie Die komplexe Antithetik der vom Traum einer absoluten Wahrheit verwirrten Vernunft löst sich nicht mit einem Schlag. Die transzendentalkritische Auflösung geht vielmehr so vor, daß sie sich schrittweise dem vielschichtigen antinomischen Sachverhalt anmißt und differenzierte, stetig tiefer dringende Aufklärung betreibt. Dabei lassen sich, sieht man vom Vorspiel der skeptischen Vorstellung' ab, drei Phasen voneinander abheben, die einer korrigierenden, einer negierenden und einer limitierenden Auflösung. Die korrigierende Kritik betrifft den Syllogismus, der alle Welt-Wissenschaft aus reiner Vernunft tragfähig zu machen scheint, und entdeckt die Quelle seines natürlichen Scheins. Die negierende Kritik läßt die antithetische Entgegensetzung der Vernunftdogmen einfach wegfallen und enthüllt den darin waltenden Widerspruch als bloßen Widerstreit. Der limitierende Vergleich dagegen bewahrt und vereinigt die Thesis der Freiheit und die Antithesis der Notwendigkeit. So falsch und verblendet auch in der dritten Antinomie die Schlußfiguren der indirekten Beweise gebaut und wie nachdrücklich auch der absolute Wahrheitsanspruch der widerstreitenden Parteien zu negieren sind, in der Freiheitsfrage zeichnet sich eine dialektische Versöhnung ab, welche das Negierte nicht einfach fallenläßt, sondern aufbewahrt und in die Wahrheit des aus dem Widerspruche lebenden reinen Ich erhebt.

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Transzendentale Dialektik

Die korrigierend-syllogistische Phase der Dialektik betrifft die Antinomie im ganzen. In ihr deckt eine Logik des Scheins generell den Kunstfehler im .dialektischen Argument' und den natürlichen Schein der Vernunft überhaupt âuf. Es wird zu untersuchen sein, was diese Lösung leistet und wie weit sie reicht. Der die Verstandesmetaphysik tragende Vernunftschluß ist hypothetisch 26 . Obersatz: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen gegeben. Untersatz: Es sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben. Also ist uns die vollständige Reihe der Bedingungen, d. h. das Unbedingte gegeben. Generell liegt dieser Schluß allen Erhebungen der metaphysica specialis zugrunde; denn in all ihren Gebieten schließt dogmatische Metaphysik ein gegebenes Bedingtes mit der Einheit eines Unbedingten zusammen. So stellt die psychologia rationalis die Mannigfaltigkeit gegebener Vorstellungen unter die Einheit des denkenden Subjekts (Seele), die cosmologia rationalis die Reihe bedingter Erscheinungen unter die absolute Einheit (universitas) der Welt und die theologia rationalis alle denkbaren Gegenstände überhaupt unter die absolute Einheit einer omnitudo realitatis (Gott). Speziell trägt dieser Schluß alle Antithesen dogmatischer Kosmologie. Wird die Reihe der Bedingungen prononciert, dann bekommt der Syllogismus einen kosmologischen Charakter. Die dogmatische Tradition versteht den Weltzusammenhang als Reihung (,series actualium finitorum'). Der zugrunde gelegte Hauptschluß impliziert offenkundig die verschiedenen ,gegebenen' kosmologischen Ideen, je nach der Verschiedenheit des Bedingtseins im Räume und der Zeit, der Teilung, der Wirkung und der Kontingenz nach. Vom raum-zeidich Bedingten her erschließen sich die Vorstellungen einer gegebenen Welt-Größe, aus der Teilbarkeit die der Welt-Beschaffenheit von stetig Teilbarem oder atomaren Elementen. Aus der Vorgabe des der Wirkung nach Bedingungen folgen gleich schlüssig die Dogmen von der Welt-Ordnung unter dem Prinzip der Freiheit oder der

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Darin, daß ein hypothetischer Schluß gar kein echter Schluß ist und streng genommen keinen terminus médius besitzt, liegt bereits eine formale Trüglichkeit. Er bietet nichts als eine consequent« immediata demonstrabilis, in welcher die Maior die unmittelbare Folge des consequens aus dem antecedens, die Minor eine Verwandlung der problematischen Bedingung in einen kategorischen Satz vollzieht (vgl. Logik Jäsche § 75).

Phasen der Entschlüsselung

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Naturnotwendigkeit, und das Bedingtsein dem Dasein nach führt auf Gegebenheiten eines unbedingten Welt-Grundes. Die dominierende Rolle dieses Schlusses wird durch transzendentalkritische Einsicht als Schein und Betrug eines Trugschlusses entlarvt. Der die dogmatische Metaphysik firmierende Syllogismus begeht einen .dialektischen Betrug' von der Art des sogenannten sophisma figurae dictionis. Ein solches sophisma liegt vor, wo „der medius terminus in verschiedener Bedeutung genommen wird" (Logik Jäsche § 90). Nun ist der Begriff, der die Rolle des Mittelbegriffs spielt, ,das gegebene Bedingte', offenbar äquivok. Der Obersatz gebraucht ihn in der ontologischen Bedeutung eines Dinges an sich und scheint in diesem Betracht stimmig. Wird das Bedingte an ihm selbst und unter Absehung von Zeitverhältnissen der Erfahrung rein gedacht, dann wird unter dem Denkgesetz des principium rationis sufficientis eben das Bedingte vollständig mitgedacht; denn Bedingtsein an sich ist begriffen als Sein unter der gegebenen Voraussetzung eines hinreichend Bedingenden. Und ein gegebenes Bedingtes an sich (im positiven Verstände) impliziert für eine unendliche, intellektuelle Anschauung das Bedingungsganze. So faltet ja innerhalb der Leibnizschen Hypothese der gegebenen Welt als eines Systems prästabilierter Harmonie jedes weltlich Begreifbare als notio completa den Inbegriff des Ganzen in sich ein. Der Untersatz dagegen spricht von einem Bedingten im Sinne der Erscheinung, vordringlich vom Ding, das im Nacheinander der Zeit durch eine sukzessive Synthesis der Erfahrung zur Erscheinung gebracht wird; denn hier handelt es sich um den Gegenstand unseres menschlichen Erkennens, dessen Signum eben ein sinnliches, nicht intelligibles Anschauen unter der universalen Form der Zeit ist. Mithin ist der Grundriß aller rationalen Kosmologie — eigentlich der gesamten unkritischen Metaphysik — fehlerhaft. Der generelle Vernunftschluß erweist sich als „dialektisches Argument" (A 497). Er begeht einen „dialektischen Betrug" (A 499), nämlich den logischen Kunstfehler eines Sophisma, welches mit der ontologischen Zweideutigkeit des terminus medius (,das bedingt Gegebene') operiert. Im Obersatz meint der Terminus ein Gegebensein an sich, im Untersatz das Gegebensein für uns. Diesen künstlichen Schein löst die transzendentale Dialektik auf. Sie stellt das Argument richtig, indem sie die Gegebenheit der Welt als Aufgabe begreiflich macht. Sie verbessert den analytischen Obersatz in die a priori einsichtige Hypothese: Wenn das Bedingte gegeben ist, ist ineins ein Regreß in der Reihe aller Bedingungen aufgegeben. Und sie erschließt so

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die Totalität der Erscheinungen, die Welt, als Aufgabe, welche der bedingten Erscheinung vorgegeben ist. Diese logische Korrektur arbeitet die weitreichende Einsicht ein, daß der Vernunftbegriff der Welt nichts als eine Richtschnur, ein regulatives Prinzip, ist, welche das theoretisch erforschende Verhältnis unseres Verstandes zu einer endlosen Aufgabe macht. „Dieser Betrug ist aber nicht erkünstelt, sondern eine ganz natürliche Täuschung der gemeinen Vernunft" (A 500). Eine transzendentale Logik des natürlichen Scheins kann sich nicht damit begnügen, formale Kunstfehler im Schließen nachzurechnen, sie muß den natürlichen Schein aufdecken, der zu solchen Fehlschlüssen verleitet. Die Frage nach der Illusion der allgemein-menschlichen Vernunft kann jetzt präzise in zweifacher Hinsicht verfolgt werden. Warum nimmt die Vernunft (im Obersatz) wie von selbst und gleichsam unbesehen zum gegebenen Bedingten zugleich ein gegebenes Unbedingtes an? Und weshalb ist es (im Untersatz) der Vernunft naturgemäß, Erscheinungen den Charakter von Dingen an sich unterzuschieben ? Die Annahme des Obersatzes erscheint der Vernunft natürlich, „weil dieses nichts anderes, als die logische Forderung ist, vollständige Prämissen zu einem gegebenen Schlußsatze anzunehmen" (A 500). Um gesicherter Notwendigkeit willen wird verlangt, von den Prämissen (dem Bedingenden im Schluß) zu höheren Prämissen, welche das Bedingende ihrerseits bedingen, bis zu in sich gründenden Grundgesetzen und unbedingten Prinzipien aufzusteigen. Wer aber fordert das logische Verfahren der ratiocinatio prosyllogistica, und an wen wird dieses Postulat gerichtet? Die Vernunft stellt diese ,Maxime' oder solches .Postulat' (A 498) an sich selbst. Als Vermögen des mittelbaren Schließens ist sie von sich aus darauf aus, sich in Anfangsgründen sicherzustellen. Im Dringen auf Vollständigkeit der Bedingungen folgt die Vernunft dem natürlichen ,Bedürfnis' (A 309) nach Selbstverwirklichung und Selbstsicherung. Es ist ein Lebensinteresse, welches die Vernunft dazu antreibt, sich in einer gegebenen, unbedingten Einheit zu verwirklichen und seiner Wirklichkeit zu vergewissern. Und es ist klar, warum die Vernunft dabei die Reihe der Bedingungen und das Unbedingte zugleich mit dem Bedingten anknüpft. Sie reflektiert nämlich ausschließlich auf das logische Bedingungsverhältnis. Indem sie gänzlich von ihrem prosyllogistischen Bedürfnis gebannt bleibt, schließt sie jegliche Zeitordnung zugunsten einer bloß gedanklichen Folge ab. Und ebenso natürlich muß der Schein vorkommen, der (im Untersatz) dazu verleitet, Erscheinungen als Dinge an sich anzusehen. Diese Er-

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schleichung oder Subreption entspringt unserer Vernunftnatur, „da ich von allen Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Gegenstände gegeben werden können, abstrahierte" (A 500). Wird von den Anschauungs- und Denkbedingungen des Seienden abgesehen, dann bleibt in der Tat das Ding an sich im negativen Verstände, vor allem als NichtZeitliches, zu denken übrig. Und es leuchtet ein, warum die Vernunftbetrachtung die Anschauungsbedingungen abzieht. In logischem Betrachten stellt die Verknüpfung des Bedingten mit dem Bedingenden eben ein analytisches Verhältnis dar. Das bedeutet: In ihm ist das Bedingende dem Begriff des Bedingten a priori, ohne Rücksicht auf die Gegebenheiten von Erfahrung und Anschauung zu entnehmen. Somit stellt eine erste Besinnung auf den Ursprung der menschlichen Illusion fest: Es ist die prosyllogistische Forderung als ein natürliches Bedürfnis der Vernunft, sich in seinem Vermögen der Einheit von Prinzipien zu verwirklichen und sicherzustellen, welche die Schranke der Zeit und die Bedingungen der Endlichkeit überfliegt. Jede Philosophie, die sich in der Gestalt einer Logik zu vollenden trachtet, entspricht damit dem innersten Bedürfnis und einem logischen Postulat der Vernunft, dem θείον έν ήμίν. („Das ist das Göttliche unserer Seele, daß sie der Ideen fähig ist" — Refi. 5247). Aber eine absolute Logik abstrahiert in ihrem Uberschwang unvermeidlich von der Zeitlichkeit und Endlichkeit menschlicher Existenz. Indessen stößt diese prosyllogistische Korrektur der Antinomie auf ein Bedenken und ein Rätsel. Zu bedenken bleibt, daß allein die pseudosyllogistische Beweisführung der Gegenparteien als Sophistikation entdeckt ist, daß aber gleichwohl eine Sache rechtens sein kann, obwohl ihre Beweise mangelhaft erscheinen. Eine Behauptung kann doch stimmen, auch wenn die dafür vorgebrachten Beweisgründe untüchtig sind. So bleiben die gegensätzlichen Sachverhalte der Antinomie in den Schlußsätzen unwiderlegt, auch wenn sie als Schlußsätze nichts taugen. Darum irritiert nach wie vor die Frage, wie zwei Sätze falsch und kontradiktorisch sein können. Sind zwei Positionen kontradiktorisch, schließen sie also einander nach dem principium exclusi medii aus, dann ist notwendigerweise der eine Satz wahr, wenn der entgegengesetzte falsch ist. Sind beide Behauptungen falsch und nicht wechselseitig wahr oder falsch, dann stehen sie nicht in exklusiver Opposition. Sind zwei Sätze streng antithetisch, dann können nicht beide falsch sein, sind beide falsch, können sie einander nicht opponieren. Wie also kommt es, daß Thesis und Antithesis gleich unhaltbar sind?

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Dieser Diskussionsstand macht eine tiefere dialektische Untersuchung notwendig. In ihr kommt die einfach negierende Auflösung zum Zuge. Diese durchstreicht die vorgebliche Kontradiktion. Sie enthüllt den eingesetzten Widerspruch als einen Widerstreit, in welchem nicht um die Wahrheit, sondern eigentlich um nichts gestritten wird. Die einfach negative Lösung sucht aufzudecken, daß beide Positionen des Vernunftwiderspruchs falsch sein können, weil gar kein eigendicher Widerspruch, sondern ein bloßer Widerstreit vorliegt. Und sie sucht die Vernunftillusion als einen Schein aufzuklären, der die Wirklichkeit einer Antithese vormalt, wo kein antithetisches Verhältnis anzutreffen ist (vgl. A 502). Diese Lösung läßt Thesis wie Antithesis einfach wegfallen. Auch diese Phase der kritischen Antithetik muß in ihrer Stringenz und in ihren Konsequenzen für die Freiheitsantinomie überdacht werden. Die logische Negation des kosmologischen Gegensatzes wird durch die Unterscheidung zwischen analytischer und dialektischer Opposition ins Werk gesetzt. Danach liegt in der Antinomie kein eigentlicher, sondern nur ein uneigentlicher Widerspruch, ein Widerstreit, vor. In analytischer Opposition stehen sich zwei Sätze gleicher Materie (mit demselben S und P) in Bejahung und Verneinung gegenüber und schließen einander, da sie ein Mittleres nicht zulassen, aus. Aus ihr läßt sich daher der wahren Setzung des einen Satzes die Falschheit des andern ,analytisch* entnehmen. Dialektisch, d. h. nur dem Scheine nach kontradiktorisch dagegen heißt eine Opposition, in welcher der ganze Gegensatz von Thesis und Antithesis eine ,unstatthafte Bedingung voraussetzt'. Daher schließen die Gegensätze ein Drittes nicht aus, sondern ein (tertium datur), und es fallen beide weg, „weil die Bedingung wegfällt, unter der allein jeder dieser Sätze gelten sollte" (A 503). Kant hat das Vorkommnis einer dialektischen Opposition an einem alltäglichen, vorwissenschaftlichen Beurteilungsfall erläutert. „Ein jeder Körper riecht entweder gut, oder er riecht nicht gut" (A 503). Diese Disjunktion sieht auf den ersten Blick wie eine analytische Opposition aus, und doch ist sie dialektisch. Sie beruht auf der unstatthaften Voraussetzung, Geruch sei eine notwendige Beschaffenheit des Körpers, welche dem Körper an ihm selbst eigne, während sie ihm in Wahrheit als eine zufällige, ,sekundäre' Qualität nur in Bezug auf uns (unseren Geruchssinn) zukommt. Darum schließt die vorgebliche Kontradiktion, recht besehen, auch ein Drittes ein. Der Gegensatz zum Urteil ,Der Körper ist wohlriechend' ,Der Körper ist nicht wohlriechend' kann bedeuten: ,Er ist übelriechend' und ,Er riecht gar nicht'. Und in diesem dritten Falle (der

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übersehenen Bedingung) verkehrt sich die Disjunktion des Entweder-Oder in ein Weder-Noch. Ein geruchloser Körper, ζ. B. ein Stein, riecht weder gut noch schlecht, er ist geruchlos. Diese beispielhafte Lösung läßt sich Zug um Zug auf die kosmologische Opposition übertragen. Eine Antithesis von der Art ,Die Welt ist dem Räume nach entweder unendlich (d. h. sie hat keinen Anfang)', oder ,sie ist endlich (d. h. sie hat einen Anfang)' scheint eine klassische analytische Disjunktion mit der vollen Oppositionsschärfe des EntwederOder darzustellen. Entweder gibt es eine räumliche Grenze, gleichsam einen Grenzzaun der Welt — oder das All erstreckt sich ins Unendliche. Entweder gibt es einen zeitlichen Anfang, etwa eine Weltschöpfung — oder die Welt ist immer und ewig. In kritischer Sicht zeigt sich indessen sofort das scheinhaft dialektische. Beide Thesen bauen auf der naiven Voraussetzung, die Welt sei uns als ein Ding an sich gegeben, also als ein unabhängig von uns existierendes Ganzes fertig vorhanden. In Wahrheit ist die Welt unsere Aufgabe, d. h. eine Richtschnur und Regel, die dem Verstände gebietet, nicht bei irgendeiner Bedingung als einem schlechthin Unbedingten stehenzubleiben, und die ihm erlaubt, über jedwede Erklärung des Endlichen innerhalb der Sinnenwelt hinaus auf mögliche Vollständigkeit hin weiterzuforschen. Daher ist unser Welt-Begreifen nicht endlich, weil es an keiner Bedingung der Erscheinungen haltmacht, und es ist nicht unendlich, weil es die Totalität nicht erreicht. Es ist in seiner verborgenen Quelle unendlich-endliches Streben. Also ist Welt, als regulatives Prinzip begriffen, weder endlich noch unendlich gegeben, sondern als endlose Aufgabe aufgegeben. Die Antinomie enthüllt sich als eine dialektische Opposition. Innerhalb ihres Gegensatzes gibt es ein Drittes. Der Gegensatz zur These ,Die Welt ist dem Räume nach unendlich gegeben' hat eben zwei Fälle. Der Satz ,Die Welt ist nicht unendlich gegeben' kann bedeuten: ,Die Welt ist endlich gegeben', aber auch ,Sie ist überhaupt nicht gegeben, sondern aufgegeben'. Und in diesem dritten Falle, der die unstatthafte Voraussetzung zur Sprache bringt, verwandelt sich das dogmatische Entweder-Oder in ein kritisches Weder-Noch. Die Welt ist dem Räume nach weder endlich noch unendlich gegeben, sofern Räumlichkeit eben keine Seinsbestimmung des Seienden an sich ist. Also fallen die Grundsäte der metaphysischen Kosmologie als Gegensätze einer dialektischen Opposition weg. Die gesamte Antithetik löst sich als ein Streit um nichts auf. Für eine transzendentale Logik des natürlichen Scheins scheint nun noch die Frage übrigzubleiben: Woher stammt die Unvermeidlichkeit

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solch zweiseitigen Scheins? Warum wird die Vernunft, indem sie Welt vollständig begreifen will, natürlicherweise mit sich selbst veruneinigt? In dieser Frage hat die skeptische Lösung vorgearbeitet (vgl. A 485— 490). Durch sie wird der Tatbestand eines zweiseitigen, Zweifel erregenden Scheins herauspräpariert. Die Antithetik entspricht dem inadäquaten Verhältnis von Vernunft und Verstand und spiegelt die Scheinwahrheit der Adäquation von dogmatisch gefaßter Vernunftvorstellung und Ding (an sich). Verstand ist, recht besehen, das Vermögen der Synthesis von Erscheinungen unter der Bedingung von Zeitlichkeit und Sukzession. Er läßt keine Bedingung zu, die selbst empirisch unbedingt wäre. Vernunft heißt das Vermögen der Ideen, die Vorstellung eines Unbedingten. Nun bestehen Ziel und Bewährung der Vernunft darin, die Gegebenheit des Verstandes mit der Idee in Ubereinstimmung zu bringen. Skeptisch betrachtet, verfällt in diesem Wahrheitswesen der Verstand einer zweiseitigen Beirrung. Die beanspruchte Angleichung oder Adäquation ist nur vorgespiegelt. Tatsächlich bleibt die Vernunftvorstellung für das Begreifen des Verstandes entweder zu groß oder zu klein. Es genügt, diese alternative Verirrung im Falle der ersten Antinomie zu demonstrieren. Deren Antithesis setzt den Vernunftgedanken einer gegebenen Unendlichkeit: ,Die Welt hat der Zeit nach keinen Anfang'. Diese Idee ist für den Verstand zu groß. Unser Verstehen kann nur sukzessive in die unendliche Bedingung der Erscheinungsreihe zurückgehen. Solcher regressus erreicht die ganze verflossene Ewigkeit nie. Daß sich die verstandene Realität der Vernunftvorstellung anpaßt, ist eine Illusion. Das gilt entsprechend für den Wahrheitsgehalt der Thesis. Diese behauptet die Unbedingtheit einer gegebenen Endlichkeit: ,Die Welt hat der Zeit nach einen Anfang'. Und diese Idee ist für den Verstand zu klein. Immer greift unser Verstehen, weil es unter Erscheinungen keine Bedingung als uranfänglich anerkennt, über den Anfang hinaus. Jeder zeitliche Anfangspunkt setzt verstandesmäßig eine vorhergehende Zeit voraus. Daher kommen auch im Falle der Thesis Vernunft und Verstand nicht zur Deckung. Die Idee zieht menschliches Weltverständnis in einen zweiseitigen Irrtum. So legt die skeptische Methode den zweiseitigen Schein offen. Sie will aber nicht den Zweifel unbesieglich machen, sondern „auf die rechte Spur führen, das Blendwerk zu entdecken, was uns so lange irregeführt hat" (A 490). Woher also kommt der Schein, der unser Weltverstehen wie von selbst nach zwei verkehrten Seiten zieht? Die Quelle des zweiseitigen Scheins ist

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wiederum ein natürliches, unbedingtes Streben nach Wahrheit. Die Vernunft will Wahrheit im Sinne der Adäquation: der Übereinstimmung ihrer in sich stimmigen Idee mit den gegebenen Wirklichkeiten des Verstandes. Diese doppelte Richtigkeit auf dem Grunde absoluter Selbstgewißheit bezieht sich auf die „Vernunfteinheit in bloßen Ideen, deren Bedingungen, da sie erstlich, als Synthesis nach Regeln, dem Verstände, und doch zugleich, als absolute Einheit derselben, der Vernunft kongruieren soll, wenn sie der Vernunfteinheit adäquat ist, für den Verstand zu groß, wenn sie dem Verstände angemessen, für die Vernunft zu klein sein wird; woraus denn ein Widerstreit entspringen muß, der nicht vermieden werden kann, man mag es anfangen, wie man will" (A 422). Der Verstand erreicht nie das Unbedingte der Vernunfteinheit, die Vernunft sprengt stets die Bedingtheiten der Verstandessynthesis. Die Angemessenheit der Idee (als Vorstellung gegebener Totalität) an an sich seiende Dinge ist eine Illusion. Die Wahrheit als adaequatio intellectus ad rem, das ist der Schein, der die Vernunft unvermeidlich dem Widerstreit ausliefert. Die in sich scheinhafte Kongruenz hat eben zwei Seiten. Die Vernunfteinheit der Welt soll dem Verstände adäquat sein — so aber bleibt sie ewig zu groß und für dessen sukzessive Synthesis unerreichbar. Zugleich aber soll Welt doch dem Verstände angemessen sein, d. h. als Reihe der Bedingungen konzipiert werden — dann wird sie für die Vernunft zu klein gedacht und bleibt hinter dem Ansprüche unbedingter Einheit zurück. Weil aber nun Wahrheit beide Adäquationen zugleich fordert, läßt sich die Antithetik und zweiseitige Inadäquatheit nicht vermeiden. Immerhin kann der Widerspruch ihrer Gegensätze als Gegensatz einer bloß dialektischen Opposition wegfallen. Diese glänzende, den Widerspruch nichtende Lösung hat indessen eine begrenzte Reichweite. Sie offenbart ihre Borniertheit angesichts der dritten Antinomie. Denn die Ansprüche einer Kausalität aus Natur können doch gar nicht bestritten werden, und die darin vorherrschende Notwendigkeit ist auch kein trüglicher Schein. Wir nehmen in Wahrheit alles, was wirklich geschieht, immer schon als ein Nachfolgendes, das durch ein Vorangehendes erfolgt, also als Wirkung einer determinierenden Ursache — und diese Art Wirksamkeit bleibt unverbrüchlich. Sie verfliegt so wenig im Schein, daß vielmehr vor ihr aller Schein und Traum verfliegt. Ebensowenig kann einer Kausalität aus Freiheit jegliche Berechtigung abgesprochen werden. Jedenfalls wäre ihr Wegfall zutiefst problematisch. Das ist schon angezeigt worden. Wird die kosmologische Freiheit negiert, „so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle

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Transzendentale Dialektik

praktische Freiheit vertilgen" (A 534). Der Druck dieser Problemlast erzwingt eine tiefer eindringende Lösung. Diese müßte die beiderseitigen Ansprüche von Thesis und Antithesis auf dem Wege eines Vergleiches bewahren und vereinigen. Solche dialektische Aufhebung geschieht nun vermittels der Limitation. Die limitierende Auflösung der Freiheitsantinomie in Kants Kritik der reinen Vernunft ist die Geburtsstätte der neuzeitlichen Dialektik.

8. Kapitel:

Die limitative

Synthesis

der antinomischen

Hauptantithesis

Die dritte Antinomie stellt die Antithetik vor eine neue Aufgabe. Die strittigen Dogmen über Notwendigkeit und Freiheit können nicht gänzlich negiert und in Schein aufgelöst werden. Die Dialektik muß diesen Widerspruch, der aus Grundbezügen des Menschen zur Welt lebt, ernst nehmen. Hier verflüchtigt sich der dogmatische Kampf nicht restlos in einen Streit um Kaisers Bart. Daher legt Kant methodisch fest: Die Lösung der dritten Antinomie muß „ihr Verfahren bei dieser Aufgabe . . . näher zu bestimmen suchen" (A 535). Die nähere Bestimmung des dialektischen Verfahrens führt zu einem aufhebenden Vergleich auf der Basis der Einschränkung oder Limitation. Als synthetische Vermittlung einer wirklich beunruhigenden Antithesis beginnt die Dialektik, aus dem Felde des Scheins ins Gebiet der Wahrheit einzurücken. Um das dialektische Verfahren als limitierende Synthesis zu charakterisieren, wendet Kant das Scheidemittel der mathematischen und dynamischen Antinomie an. Was kennzeichnet demnach eine mathematische Antinomie, und worin besteht ihr Lösungsverfahren? Die mathematische Antinomie betrifft Welt als das mathematische Ganze aller Erscheinungen unter dem Hinblick der Größe. Sie hat es mit der Reihe der Bedingungen in Komposition und Dekomposition der Welt-Größe zu tun. Daraus erklärt sich ihr Charakter: Die Glieder der Reihe sind gleichartig. Das liegt ontisch nahe. Mathematische Größen bilden ein Wieviel von Einheiten. Die Zahl fünf (Tiere) etwa ist ein Soviel von Einsen, wie Ungleichartiges (Pferde, Hühner, Schweine usw.) darin auch zahlenmäßig zusammengenommen sein mag. Ontologisch bedeutet das: In die mathematische Reihe, z. B. der Zeit- oder Raumerstreckung von Welt, treten nur solche Bedingungen ein, die selbst ein Teil der Reihe sind. Bedingendes und Bedingtes sind seinsmäßig stets Seiendes derselben Seinsbedeutung, näm-

Limitative Synthesis der Hauptantithesis

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lieh sinnliche, der Zeitform unterstehende Erscheinungen — unkritisch als Dinge an sich genommen. Die Auflösung der mathematischen Antinomie läßt Thesis wie Antithesis als inadäquat wegfallen. In Erwägung der Reihen-Größe erweisen beide Vernunftthesen ihre Unstimmigkeit dadurch, daß sie unvermeidlich für den Verstand entweder zu groß oder zu klein ausfallen. Solch vernichtendes Urteil gilt auch für die angemaßten Wahrheiten über die kosmologische Reihe von Ursache und Wirkung, solange in ihr Gleichartigkeit der Glieder unterstellt wird. Das Urteil wird revidiert, sobald die Differenz zur dynamischen Antinomie zur Sprache kommt. Was kennzeichnet sonach eine dynamische Antinomie, und worin besteht ihr Lösungsverfahren? Die dynamische Antinomie betrifft Welt im engeren Sinne von Natur, also als dynamisches Ganzes aller Erscheinungen, unter dem Hinblick auf Wirklichkeit (Dasein) und Wirksamkeit. Sie hat es mit der erwirkten Wirklichkeit des Gegenstandes zu tun. Daraus folgt ihr Charakter: Die Glieder dieser Reihe können ungleichartig sein. Das liegt, ontisch besehen, nahe. Der Mensch baut ein Haus, die Hand schleudert den Stein, Gott erschafft die Welt. In die Reihe von Ursache und Wirkung kann seinsmäßig Ungleichartiges (heterogenea) eintreten. Das eröffnet ontologisch eine neue Aussicht. Die dynamische Welt-Reihe läßt die Kausalität einer Ursache zu, die selbst nicht innerhalb der Reihe vorkommt. Das bedeutet im Wissen um den doppelten Seinsrespectus: Es wird eine Konstellation denkbar, in welcher das Bedingende der Erscheinung nicht selbst wieder sinnlich-zeitlich bedingte Erscheinung, sondern intelligible Ursache und von der Seinsart des Dinges an sich ist. Dieser Bau einer dynamischen Antinomie „eröffnet uns eine ganz neue Aussicht in Ansehung des Streithandels, darin die Vernunft verflochten ist" (A 529). Was sich abzeichnet, ist ein Vergleich, der beiden Teilen Genugtuung verschafft. Solch günstigeres Urteil kommt zustande, wenn der Richter „den Mangel der Rechtsgründe, die man beiderseitig verkannt hatte", ergänzt (A 530). Zu ergänzen ist die halb-wahre Unterstellung des gemeinen Menschenverstandes, in der dynamischen Verknüpfung herrsche ausschließlich die Zeitlichkeit der Jetztfolge vor; in ihr ist überdies eine Ursache zuzulassen, deren Wirksamkeit nicht sinnlich und zeithaft, sondern intelligibel und nicht in der Zeit ist. Die Zulässigkeit von zwei ontologisch ungleichartigen Wirksamkeiten macht es möglich, Kausalität aus Natur und Kausalität aus Freiheit widerspruchsfrei zusammenzudenken. Der in Aussicht gestellte Vergleich könnte demnach thesis cum antithesi bestehen lassen. Bislang wurde das Entweder-Oder der Anti-

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Transzendentale Dialektik

these zu einem Weder-Noch verurteilt. Bisher zwang die Antinomie dazu, beide Gegenthesen für scheinhaft und inadäquat zu erklären. Bei Berücksichtigung der dynamischen Synthesis' dagegen besteht Aussicht, das Entweder-Oder durch ein Sowohl-als-Auch zu schlichten. Die Antithetik der dritten Antinomie sucht die Antithesis in einer Synthesis aufzuheben, die den Widerspruch nicht abblendet, sondern aufnimmt und vermittelt. Der neue Vermittlungsstand markiert einen Wendepunkt der Dialektik. Diese agiert nicht mehr als Logik des Scheins und als kritisches Verfahren, die natürliche Täuschung in aller naiven Weltanschauung durch einfache Negation und Wegsetzung ihrer dogmatischen Grundsätze auszutreiben und den darin auftretenden Widerspruch als einen Streit um nichts entfallen zu lassen. Jetzt, angesichts der wohlbegründeten Ansprüche des Kausalitätsgesetzes der Natur und der kosmologischen Freiheit entwickelt sich ein neues Verfahren. Die neue Methodos besteht in einer vollen dreisinnigen Aufhebung. Sie negiert beide dogmatischen Thesen, der Freiheitspartei sowohl wie der Physiokraten, in ihrem Anspruch, absolute Prinzipien für die Ursachenordnung des Seienden im ganzen und in jeder Beziehung zu sein. Sie konserviert deren Rechtsanspruch, indem sie ihn nicht als gänzlich falsch verwirft, sondern seine Gültigkeit bewahrt. Und sie eleviert den dogmatischen Bewußtseinsstand, indem sie ihn zum Selbstbewußtsein einer reicheren Synthesis erhebt, in welcher das Seiende nicht bloß einseitig als Ding an sich, sondern in seiner antithetischen Zweiseitigkeit in die selbstbewußte Einheit von Ich und Welt einbezogen wird. Das Organon, das solche Einigung bewerkstelligt, ist das Vermögen der Einschränkung oder Limitation. Nur wenn beide Parteien ihre allseitigen Ansprüche einschränken, können sie vor dem Gerichtshofe der Vernunft einen tragfähigen Vergleich schließen. Und nur ein sich kritisch einschränkendes Bewußtsein, das einerseits die Erkenntnisbefugnis im Objektbezug restringiert, andererseits die Denkmöglichkeit für das Seiende an sich offenhält, kann die Absolutheitsansprüche in den dialektischen Argumenten vernichten und dennoch deren eingeschränkte Wahrheit bewahren. Solch beschränkend-bewahrende Verknüpfung von Widersprüchlichem bietet „dem Verstände einerseits und der Vernunft andererseits Genüge", „und, indem die dialektischen Argumente, welche unbedingte Totalität in bloßen Erscheinungen auf eine oder andere Art suchten, wegfallen, dagegen die Vernunftsätze, in der auf solche Weise berichtigten Bedeutung, alle beide wahr sein können; welches bei den kosmologischen Ideen die bloß mathematischunbedingte Einheit betreffen, niemals stattfinden kann" (A 531—32).

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Die Neubesinnung auf das dialektische Verfahren der Limitation bewährt sich im Falle der Freiheitsantinomie. Wie wird demnach der Anspruch der Physiokratie beschieden? Deren These von der ausnahmslosen Gültigkeit der Naturnotwendigkeit ist wahr, aber nicht die ganze Wahrheit. Sie gilt durchgängig im Felde der Erfahrung und „leidet keinen Abbruch" (A 536). An keiner Stelle bricht im Kausalnexus der Natur die Naturgesetzlichkeit ab. Indessen wird der angemessene Grundsatz anmaßend, sofern er sich schrankenlos auf das Seiende in jeglicher Hinsicht erstreckt und daher eine Kausalität aus Freiheit in jedwedem Verstände für nichtig, eben für ein Nichts im Sinne des ens rationis erklärt. Jeder dogmatische Empirismus begeht eigentlich diese Anmaßung, alles, was kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, als Hirngespinst zu verwerfen. So ist die Freiheit, weil ihr Anfang in Wahrheit den Boden sicherer Erfahrung verläßt, zum leeren Gedankending degradiert worden. Im Lichte der transzendentalen Differenz von An-sich- und Für-uns-Sein zeichnet sich ein Limes, eine bestimmende Grenze und Schranke, ab. Die Herrschaft der Naturnotwendigkeit gilt nur für das Seiende als Erscheinung, in Rücksicht auf das Seiende an ihm selbst muß sie ihre Befugnisse einschränken. In diesem Betracht muß die Physiokratie die Denkmöglichkeit einer Wirksamkeit aus Freiheit einräumen. Ihr vorgelegter indirekter Gegenbeweis demonstrierte die Unmöglichkeit im Begriff eines Selbstanfanges — wie gezeigt — doch nur aus dessen Zeitbedingtheit. Der Begriff eines Selbstanfangs war ja als Nacheinander in der Jetztfolge ohne Auseinander in der Begründungsfolge abgeschätzt worden. Das Seiende an sich (im negativen Verstände) aber wird von den Formen der Zeitlichkeit überhaupt nicht modifiziert. Also muß der Naturalismus die totalitäre Behauptung seines Grundsatzes zurücknehmen. Entsprechend ist die Behauptung der kosmologischen Freiheit wahr, aber nicht die ganze Wahrheit. Ihr Anspruch ist rechtmäßig und nicht zu widerlegen. Freiheit bildet denjenigen Charakter der Wirksamkeit, welcher das Seiende an ihm selbst und als intelligible Ursache auszeichnet. Der Grundsatz der Freiheit wird aber zur Anmaßung, sofern er unbeschränkte objektive Geltung auch für Glieder in der Reihe der Erscheinungen beansprucht, sei es am Anfang (als erster Beweger), sei es inmitten der Reihe von Gegenständen (als freie Willkür). Die kritische Aufklärung schränkt die prinzipiellen Befugnisse einer Kausalität aus Freiheit ein. Ihr wird verwehrt, die Naturkausalität in ihrem eigenen Felde als zureichend zu bestreiten. Wirksamkeit aus Freiheit findet ihren ontologischen Sinn außerhalb der Reihe gegenständlicher Erscheinungen.

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In dieser Einschränkung bleiben beide Gegensätze erhalten. Sie verlieren ihren absoluten Scheinanspruch, sie gewinnen einen relativen Wahrheitssinn. Im so entwickelten Zusammenhang von Kritik, Grenze und Schranke bereitet sich eine Dialektik der Limitation vor 27 . Innerhalb der kritischen Grenzziehung hat die Schranke vorzüglich negative Bedeutung, indem sie fesdegt: Bis hierhin und nicht weiter — reicht die Befugnis menschlicher Erkenntnis und gegenständlichen Seins. Die Schranke ist das Warnzeichen, das der Erkenntnis Halt gebietet und das nicht ohne Gefahr übersehen werden darf. Grenze dagegen ist eine positive Festlegung (vgl. Proleg. § 59; Werke III, 236—38). Die Grenze bestimmt abgrenzendumgrenzend ein Gebiet (nämlich das unserer Erfahrung), indem sie es, seine Erstreckung markierend, einschließt und ineins auf das Begrenzende außerhalb bezieht. Sonach bedeutet Einschränkung das Negativum einer kritischen Grenzziehung. Heißt Einschränken vor allem, Befugnisse, ζ. B. der Herrschaftsgewalt, teilen und den eingeschränkten Teil der Befugnisse an andere übertragen, dann bietet die kritische Schranke eben absoluten Herrschaftsansprüchen dogmatischer Vernunftprinzipien Einhalt. Die limitierende Synthesis der 3. Antinomie läßt Freiheit und Notwendigkeit gleichermaßen bestehen, indem sie deren Befugnisse abteilt und überträgt. Die Herrschaftssphäre der Naturkausalität wird auf das Gebiet der Erfahrung eingeschränkt und die Herrschaft über das Ding an sich auf den intelligiblen Charakter einer Freiheitsursache übertragen. Und umgekehrt wird dem Prinzip der Freiheit im Felde der Erfahrung Einhalt geboten und das objektive Erkenntnisgebiet dem Grundsatze der Naturkausalität anvertraut. Und so kann zugleich dem Verstände und der Vernunft Genüge getan und eine adäquate Ubereinstimmung gewährleistet werden. Rücksichtlich des ens phaenomenon und seiner Erscheinungsreihe ist das Prinzip der Naturkausalität dem Verstände völlig angemessen. Der Gedanke einer Kausalität aus Freiheit dagegen befriedigt die Vernunft. Hinsichtlich der intellektuellen Bedingung, die in die Reihe der Weltbegebenheiten eingehen kann, findet sie sich berechtigt, einen unbedingten Selbstanfang anzunehmen. Mithin ist keiner der beiden Gegensätze eines urwüchsigen Irrtums zu überführen. Zwar besitzen beide keine absolute, wohl aber eine seinsmäßig limitierte Wahrheit. Wie aber sind die je auf ihr Gebiet eingeschränkten Antithesen zu synthetisieren? Wie hebt sich ihr Widerspruch auf? 27

Einen Wink, daß in dieser Grenzziehung die Dialektik wie aus langer Vergangenheit wieder auftaucht, gibt R . Heiß, Wesen und Formen der Dialektik. Köln/Berlin 1959. S. 4 5 - 4 9 .

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Ein Widerspruch liegt vor, wenn Entgegengesetzes demselben zugleich und in derselben Hinsicht zugesprochen ist. Nun soll aber doch ein und derselben Wirkung Entgegengesetztes, Kausalität aus Freiheit und aus Natur, zugleich zuerkannt werden. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn der zweifache Seinsbezug unterstellt und die Eigenart der dynamischen Antinomie berücksichtigt wird. Eine jede Wirkung kann durch seinsmäßig Ungleichartiges bedingt sein. In verschiedener Hinsicht aber kann demselben Entgegengesetztes zugleich zugesprochen werden. Im Respekt des Dinges als Erscheinung erfolgt jede Wirkung mit Notwendigkeit, im Respekt des Dinges an sich selbst kann dieselbe Begebenheit als Wirkung einer intelligiblen Ursache betrachtet werden; denn das Vermögen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, liegt außerhalb der Erscheinungsreihe, „obzwar ihre Wirkungen erscheinen" (A 537). „Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden" (A 537). Zwar ist in Wirklichkeit jede Wirkung entweder determiniert und notwendige Folge einer Ursache innerhalb der Reihe der Erscheinungen oder Ausdruck einer freien Tat, Auswirkung einer sich selbst bestimmenden Ursache. Nichts hindert aber, einer Wirkung ihrer Möglichkeit nach zugleich Kausalität der sinnlichen und der intelligiblen Ursache zuzuschreiben. So vereinigen sich Freiheit und Notwendigkeit im Durchgang durch den limitativ aufgehobenen Widerspruch. Die Synthesis dieser Antithesis leitet sich aus der Differenz zwischen mathematischen und dynamischen Weltverhältnissen ab. Aber das ist nicht mehr als ein künstlicher, dem Schema der Kategorientafel entnommener Leitfaden. Die Anleitung zur besonderen Beachtung der Bedingungen von Wirklichkeit und Wirksamkeit leitet im Grunde auf den dialektischen Bestand der menschlichen Wirklichkeit (Existenz) zurück. Sie führt das dialektische Denken vor die Einheit des wahrhaft heterogenen menschlichen Wesens und vor ein Dasein, das wirklich zugleich durch den Gegensatz von Naturbestimmtheit und freier Selbstbestimmung bestimmt ist. Dieses Resultat ist ,subtil und dunkel'. Es klärt sich in seiner .Anwendung' (A 537) auf.

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9. Kapitel: Die Anwendung der kosmologischen Dialektik auf die Wirklichkeit des Menschen Die dunkle limitative Lösung der kosmologischen Antinomie klärt sich in ihrer Anwendung auf. Sie läßt sich auf die Selbsterfahrungen menschlichen Daseins bei der Wirksamkeit des Willens in den Begebenheiten der Welt anwenden. Letztlich zielt der Vergleich von Naturnotwendigkeit und kosmologischer Freiheit eben auf diese ihre Anwendung ab. Darum legt solche Aufklärung ein Beispiel aus dem menschlichen Bereich sittlichen Tuns und Lassens vor: „eine willkürliche Handlung, z. E. eine boshafte Lüge, durch die ein Mensch eine gewisse Verwirrung in die Gesellschaft gebracht hat, und die man zuerst ihren Bewegursachen nach, woraus sie entstanden, untersucht, und darauf beurteilt, wie sie samt ihren Folgen ihm zugerechnet werden könne" (A 554). Hier wird der Mensch als Subjekt einer gewollten Tätigkeit zum Thema dialektischer Untersuchung. Zur Frage steht der folgenschwere Fall einer willkürlichen Handlung, die unter dem Gesichtspunkt der Zurechenbarkeit (Imputabilität) auf ihre Ursachen hin untersucht und beurteilt werden soll. Wiederum folgt die Kritik einer durchragenden Unterscheidung, nämlich der Differenz zwischen empirischem und intelligiblem Charakter. Die eine Beurteilungshinsicht faßt den ,empirischen Charakter' in den Blick. »Charakter' besagt in seiner überlieferten logischen Grundbedeutung soviel wie Kennzeichen und Unterscheidungsmerkmal. Anthropologisch-ethisch angewendet, bezeichnet das Wort die Unterscheidungsmerkmale im Hinblick auf Personen, Geschlechter, Völker etc. Den .physischen' Charakter eines Menschen z. B. machen sein eigenartiges, ,charakteristisches' Naturell, seinen moralischen Charakter bestimmte Grundsätze des Willens aus. Im Zusammenhang mit der Wirklichkeit der Welt dagegen spricht der universal-ontologische Titel das Seiende überhaupt hinsichtlich der Unterscheidungsmerkmale der Kausalität an. Empirischer Charakter bedeutet hiernach den Gesetzescharakter einer Ursache als Sinnenwesen (causa phaenomenon). Seinem empirischen Charakter nach ist ein tätiges Subjekt Ursache anderer Erscheinungen und hat selbst wieder empirische Ursachen. Diese Charakteristik ist auf den Menschen und den vorgelegten Fall anzuwenden. Sofern der Mensch unstreitig eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt ist, hat seine Wirksamkeit den gleichen empirischen Charakter wie alle anderen Naturdinge. Daraus folgt für die Beurteilung seines Handelns, daß sich in der Erfahrung — völlig entsprechend den Naturbegeben-

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heiten — alle Beweggründe finden lassen müssen, die .unausbleiblich' zu dieser Handlung geführt haben. Wird der empirische Charakter der Wirksamkeit zum Maßstab für die Beurteilung einer Tat angesetzt, dann leidet die Erklärung nach den Gesetzen der Naturkausalität keinen Abbruch. Die Begebenheit der boshaften Lüge wäre demgemäß dem empirischen Charakter menschlicher Wirksamkeit zuzuweisen und vollständig als gegebene Naturwirkung nachzuweisen. Schuld an der Tat sind nicht die Täter selbst, sondern soziologisch-anthropologisch (oder politischökonomisch) erfahrbare Ursachen, aus denen sie sich zwangsläufig ergeben haben: die schlechte Erziehung, die üble Gesellschaft, das Temperament (etwa Leichtsinn und Unbesonnenheit), das Naturell (die sozial unglückliche Veranlagung einer Bösartigkeit im vormoralischen Sinne) — Umstände, die durch Erziehung und Gesellschaft nicht nur nicht verändert, sondern allererst aktualisiert worden sind usf. Wird mithin der bloß empirische Charakter der Ursache zum obersten Erklärungsgrund erhoben, dann können menschlichen Handlungen weder Schuld noch Verdienst beigemessen werden. Sie sind Ausfluß abgeflossener Lebensläufe und eingeflossener Weltumstände. Aber es gibt eine andere Beurteilungshinsicht. Diese rechnet mit menschlicher Zurechnungsfähigkeit und Selbstverantwortung. Dafür spricht offenkundig das alltägliche Phänomen von Tadel (und Lob). Jemanden tadeln heißt doch, ihm die Schuld für etwas zusprechen, das er nicht hätte tun sollen. In dieser Beurteilungsrichtung wird der Ursache ein intelligibler Charakter beigemessen. Ein intelligibler Charakter eignet dem Seienden an ihm selbst als causa noumenon, welche allen Erscheinungen und deren empirischem Charakter prägend zugrunde liegt. Von seinem Gepräge (χαρακτήρ) haben wir zwar keine Erkenntnis, wohl aber einen negativen und positiven Begriff. Der intelligible Charakter scheidet eine Ursache von der empirischen Zeitfolge-Kausalität, weil er unabhängig von aller Zeitfolge und als positiver Selbstanfang zu denken ist. Der intelligible Charakter kennzeichnet demnach die Ursache, welche ihre Wirkungen in der Sinnenwelt von sich her anfängt. Auch diese universal-ontologische Charakteristik kann auf den Menschen und den fraglichen Beurteilungsfall angewendet werden. Nunmehr wird der Mensch als ein allen Naturdingen ungleichartiges Wesen in Betracht gezogen. Und es findet sich auch im Blick auf den Menschen (in seinem Selbstbewußtsein) ein Vermögen, das nicht sinnlich bedingt ist und somit nicht unter Bestimmungen des Naturnexus steht, die Vernunft (vgl. A 546). Die Vernunft rechnet zum intelligiblen Sein, weil ihre Handlung nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit zu

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zählen ist. Primär die praktische Vernunft kann als Vermögen des Menschen gelten, den Gegenstand nach Ideen selbst zu bestimmen. Wie also steht es mit der Kausalität der praktischen Vernunft und ihrem Charakter? Praktische Vernunft oder Wille ist ein Wirken nach Begriffen. Der Wille bewirkt etwas dadurch, daß er das zu Erwirkende vor seiner Erwirkung im Begriff vorstellt. Er unterscheidet sich dadurch von der Wirksamkeit aus Natur. Entzündet ζ. B. ein Blitz das Feuer, dann ist der Brand mit Notwendigkeit durch vorhergehende Ursachen erwirkt, die selbst ihre Wirksamkeit früheren Ursachen schulden. Zündet dagegen der Mensch ein Feuer an, dann nimmt er die Wirkung (etwa das Sich-Wärmen) vorweg und läßt sich in seinen Hantierungen von dieser Vorwegnahme leiten. Das Vermögen, welches solch vor-sichtiges Vorstellen vollbringt, ist die (praktische) Vernunft. Nun kann der Wille des Menschen durch die Antriebe der Sinnlichkeit bestimmt und — wie im Falle des Feuermachens — von leiblichen Bedürfnissen bewegt („pathologisch nezessitiert") werden. Dann hat die Willenswahl den Charakter eines arbitrium sensitivum brutum. Spezifisch menschlich dagegen ist der Wille, dessen Wirksamkeit frei ist und dessen Willenswahl den Charakter eines arbitrium liberum hat. Frei heißt die Wirksamkeit des Willens, wenn der Beweggrund sich selbst genügt und auch dann bewegend ist, wenn alle sinnlichen Triebfedern dagegen sind. Und ein Wille heißt frei, nicht wenn er sich selbstherrlich zwischen Gut und Böse entscheidet, sondern dann, wenn er sich von sich her dem an sich Guten unterwirft. Der Charakter oder die Gesetzesart einer freien, menschlichen Willenstätigkeit ist das in der Formel des kategorischen Imperativs sprechende Sollensgesetz. „Daß diese Vernunft nun Kausalität habe . . . ist aus den Imperativen klar" (A 547). Der Anspruch des ,Du sollst' verbürgt die Wirksamkeit eines freien Willens und prägt ihren Gesetzescharakter. Die Forderung ζ. B., ehrlich zu handeln einzig um der Ehrlichkeit willen, ergeht mit der Strenge eines Gesetzes. Das Sollensgebot gilt unbedingt, ausnahmslos, zu aller Zeit. Aber die Gesetzlichkeit des Sittengesetzes unterscheidet sich vom Gesetzescharakter der Natur in einem entscheidenden Punkt. Dem Naturgesetz hat der Mensch als Leib- und Lebewesen in seinen sinnlichen Antrieben immer schon und unausweichlich entsprochen, wie der Stein dem Gesetz der Schwere immer schon folgt. Dem nötigenden Sollensgesetz dagegen ist der menschliche Wille von sich her keineswegs gemäß. Er entspricht ihm, indem er sich selbst das Gesollte als Gesetz seines Handelns auferlegt. Nur durch solche sich der Verbindlichkeit des Sollens unterwerfende Selbstgesetzgebung handelt der Mensch aus

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Freiheit. Sonst handelt die Natur in ihm. Autonomie ist der wirkliche Charakter menschlicher Freiheit. Soweit kann grundsätzlich angezeigt werden: Der gedachte intelligible Charakter einer causa noumenon hat in der Wirksamkeit der autonomen praktischen Vernunft den Ausweis seiner Wirklichkeit. Und damit hat das Urteil ,Die boshafte Lüge hätte unter keinen Umständen geschehen sollen' einen guten Grund. Zwar kommt in ihr nicht eine Tat, wohl aber eine Unterlassung der moralischen Freiheit zum Ausdruck. Die Vernunft des Täters hat den Einspruch gegen die lügenhafte Absicht unterlassen und ist darum zu tadeln; denn der Kausalität der Vernunft kann in Wirklichkeit ein intelligibler Charakter zugemutet werden. In jedem Augenblick besitzt das tätige Subjekt Mensch als Ursache unübersehbarer Folgen das Gepräge vollständiger Selbstbestimmung. „Er hat" daher „jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld" (A 555). Beide Beurteilungen menschlicher Handlung scheinen antinomisch, und sie stützen sich auch in dogmatischer Weltanschauung auf die gegensätzlichen Positionen von Determinismus und Indeterminismus. Aber ihrem Widerspruch ist der Boden entzogen. Er ist auf dem Wege der Limitation versöhnt und aufgehoben. Ein Widerspruch liegt ja vor, wenn demselben dasselbe zugleich und in derselben Hinsicht zu- und abgesprochen wird. Der einen und selben Wirkung menschlichen Handelns wird Freiheit bzw. Notwendigkeit zugleich zuerteilt und aberkannt, aber eben nicht in derselben seinsmäßigen Hinsicht. Jede Wirkung kann dem empirischen Charakter ihrer Ursache nach unter das Gesetz der Naturkausalität gestellt werden. Sofern diese Hinsicht eingenommen und verfolgt wird, darf keine Kausalität aus Freiheit eingemischt, es muß eine bruch- und lückenlose Erklärung aus determinierenden Ursachen beigebracht werden. Das ist bei Menschen jederzeit möglich. Seiner sinnlichleiblichen Konstitution nach ist er empirischer Erscheinung. Aber dieselbe Wirkung kann auch auf ihre intelligible Ursache hin bedacht und beurteilt werden. Dann kommt die Ursächlichkeit der Freiheit widerspruchslos ins Spiel. Und auch solche Untersuchungshinsicht ist bei Menschen jederzeit möglich. Seiner Vernunft nach ist er intelligibles Wesen. Sonach kann dieselbe boshafte Lüge im Hinblick auf den empirischen Charakter der Ursache als notwendige Folge, im Hinblick auf deren intelligiblen Charakter zugleich als freie Tat bzw. Unterlassung angesehen werden. Bei Einschränkung der einseitigen Urteile, welche entweder den empirischen oder den intelligiblen Charakter einer Ursache zum alleinigen Erklärungs-

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prinzip erheben, bewahren beide Urteile ihre Wahrheit. Als Erscheinung hat dieser Mensch so handeln müssen, als Noumenon hat er nicht so handeln sollen. Indem wir seine Handlungsweise entschuldigen, sehen wir ihn als .Naturding an, indem wir ihm Schuld (αιτία) zusprechen, ehren wir ihn als freies Vernunftwesen. Beides ist widerspruchsfrei möglich. In dieser geglückten Anwendung wächst die kosmologische Dialektik über sich selbst hinaus. Ihr erklärtes Ziel ist es, die logische Möglichkeit kosmologischer Freiheit in Vereinbarung mit der Naturnotwendigkeit sicherzustellen. Zugleich legt sie damit aller praktischen Freiheit den Grund. Aber die Anwendung dieses dialektisch-limitierenden Vergleichs leistet mehr. Im Felde der praktischen Vernunft weist sich die Idee der transzendentalen, kosmologischen Freiheit als wirklich aus. Ihrer Wirklichkeit gewiß werden wir eben allein dadurch, daß wir uns handelnd in das Gesetz des Sollens verfügen. Daher begründet die kosmologische Freiheit die Möglichkeit der praktisch-moralischen, diese dagegen verbürgt jener die Gewißheit ihrer Wirklichkeit28. Im Bereiche des Menschen und seiner Praxis, vordringlich im Gebiete moralischen und rechtlichen Tuns also gewinnen Möglichkeit und Wirklichkeit der Freiheit einen zureichenden Aufschluß. In ihrer Anwendung auf das innerweltlich zwischenmenschliche Handeln findet die Lösung der dritten Antinomie nicht nur eine angemessene Erläuterung, sondern ihr eigentliches Gebiet. Das hat weitreichende Folgen: In Rücksicht auf das existierende Selbst des Menschen werden Widerspruch und Einheit von Fremd- und Selbstbestimmung, von Ich und Welt ihren dialektischen Rückhalt erhalten. Und in den Verhältnissen des Mitseins mit Anderen wird eine Dialektik der Freiheit die Probe auf Verwirklichung oder Entfremdung des Selbstbewußtseins machen.

10. Kapitel: Die zweite Umwendung der Logik des Scheins. Über das kosmologische Erbe der Dialektik des Selbstbewußtseins (Welt, Zeit, Sein) Kants Ausarbeitung der transzendentalen Dialektik vollbringt eine zweifache Revolution. Zu Anfang kehrt sie die Bedeutung der Dialektik als Logik des Scheins um. Sie reinigt die Kunst, einen beirrenden Schein zu 28

Die Konfundierung von kosmologischer und moralischer Freiheit ist durchdacht worden von K.-H. Volkmann-Schluck, Vom Wesen der Freiheit. In: Tijdschrift voor Philosophie 18 (1956) 223 - 64.

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erzeugen, zur kritischen Methode, den natürlichen, unsere Vernunft zu Irrtümern über Gott, Seele und Welt verleitenden Schein aufzuklären. Die abgesunkene sophistische Ars, beliebiges Scheinwissen zu erkünsteln, erhebt sich auf das Niveau einer Dialektik, welche die Macht des Scheins bricht und die große Illusion über den Wahrheitsbesitz der menschlichen Vernunft aufdeckt. Das geschieht in einer zweifachen kritischen Besinnung. Der erste Zugriff weist im Generalargument der dogmatischen Metaphysik den Kunstfehler des sophisma figurae dictionis und die Unvermeidlichkeit einer Subreption nach, die sich vom Wahrheitsscheine der absoluten Gewißheit verleiten läßt. Er verführt den Logos zu einer Logik der Selbstsicherung und Selbstexplikation aus unbedingten Anfangsgründen unter Absorbierung von den Bedingungen menschlicher Zeitlichkeit. Das zweite kritische Konzept begreift die kosmologische Antithetik. Es weist deren Künstlichkeit nach, indem es den Unterschied zwischen analytischer und dialektischer Opposition beibringt. Und es ergründet den zweiseitigen Schein, der zu einer zweifachen Unangemessenheit der Vernunftidee gegenüber der Verstandeswirklichkeit führt: den zwielichtigen Schein der Wahrheit im Sinne der Ubereinstimmung des Intellekts mit den Dingen (an sich selbst). Die Revision der Wahrheit des reinen Logos als Quelle der Vernunftverblendnis ist das tiefe und verborgene Resultat einer Logik des natürlichen Scheins. An ihrem Ende kehrt sich solche Logik des Scheins in eine Dialektik der Wahrheit um. Die kritische Dialektik der Welt wird zu einer analytischen Dialektik des Ich-denke. Der Impuls für diese zweite Revolution kommt aus dem Lösungsverfahren der dritten Antinomie. Die limitierende Auflösung des Widerspruchs, der in der Wirklichkeit des reinen Ich wurzelt, fordert das dialektische Durchdenken der Wahrheiten des Selbstbewußtseins heraus. Der Richtspruch der kritischen Vernunft weist ja den Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit nicht als gänzlich falsch ab, so daß er ihn als bloßen Widerstreit wegfallen lassen könnte. Er erkennt seine Berechtigung an und vermag ihn allein dadurch aufzuheben, daß er ihn auf den zweiseitigen Selbstbezug des Ich zurückführt. So aber wird der Schein der Antithetik auf eine Antithesis zurückgegründet, die der ursprünglichen Einheit der Apperzeption in Wahrheit und nicht bloß dem Scheine nach zukommt. Die Synthesis menschlich-endlichen Selbstbewußtseins wird als Einigung von Gegensätzen erfahrbar; denn es hat sich erwiesen, daß die Wirklichkeit des Menschen zugleich von einer entgegengesetzten Wirksamkeit geprägt ist, eben von Kausalität aus Natur und

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Freiheit. So aber legt sich die Einheit des Ich als ein lebendig gespanntes Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Zeitgebundenheit und Ewigkeit nahe. Und dadurch eröffnet sich ein Ausblick auf die positive Dialektik des Selbstbewußtseins bis hin zu Kierkegaards Feststellung: „Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit" (K. z. T., 1. Abschn.). Kierkegaard wird dieses Verhältnis als die von verzweifelten Widersprüchen durchstimmte Synthesis des Selbst interpretieren, das sich aus dem fundamentalen Interesse an seinem eigenen Existieren zu sich selbst verhält. So gesehen, hat die Anwendung der kosmologischen Antinomie auf die zerteilte Wirklichkeit menschlichen Wesens und Tuns durchaus eine existenzial-dialektische Perspektive. Jedenfalls zeichnet die limitierende Synthesis der dritten Antinomie den Grundriß aller späteren Dialektik vor, die Auswicklung der Einheit des Selbstbewußtseins im alles bewegenden Widerspruch von Ansich und Füruns, Freiheit und Notwendigkeit, empirischer und moralischer Welt. Nur aus Hegels Sicht dringt der transzendentale Idealismus trotz seiner epochalen Antinomie-Entdeckung nicht zur Methode wahrer Dialektik vor. Die Einsprüche Hegels sind bekannt. Kants Dialektik lasse den Widerspruch aus allzu großer Zärtlichkeit für die Dinge nicht schrankenlos walten und schiebe ihn in ein abstrakt konzipiertes Ich ab. Das ist mindestens mißverständlich. Kritische Dialektik nimmt den Widerspruch ernst. Sie geht dem kosmologischen Widerspruch bis auf seinen Quellgrund in der Natur unserer menschlichen Vernunft nach. Sie klärt nicht nur den Schein des unvermeidlichen Widerstreites auf, sie leitet den wirklichen Widerspruch zwischen Freiheit und Notwendigkeit auf die antithetische Synthesis im Charakter menschlicher Wirksamkeit zurück. So aber wird der Widerspruch gar nicht von der Seite des Objekts auf die Seite des Subjekts verschoben. Hegels Vorwurf, der Widerspruch rücke lediglich von den objektiven Weltverhältnissen auf die Selbstverhältnisse des Subjekts, übersieht die differenzierte Lösung der Antinomie. Der Widerspruch im Objekt und der im Subjekt ist nicht derselbe. Der Widerstreit dogmatischer Weltansichten entstammt dem natürlichen Schein, der limitierte Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit gehört zur Wahrheit des Selbstbewußtseins. Er stellt das neuzeitliche Denken vor die Aufgabe einer dialektischen Systematik des Ich-denke. Und diese bleibt nur so lange von den Illusionen des gottgleichen Logos verschont, als die Weltgebundenheit und Zeithaftigkeit des Menschen ernst genommen wird.

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Nun liegt die dialektische Entwicklung der Subjekt-Objekt-Bezüge offenbar außerhalb der Absicht und Konzeption des kritischen Geschäfts. Kritische Philosophie will anfänglich der Verblendung und Veruneinigung der menschlichen Vernunft ein Ende machen. Daher verfolgt sie die dialektische Argumentation der dogmatischen Metaphysik bis auf den Grund. Um die beirrende Dialektik der Verstandesmetaphysik zu zerstören, setzt sie eine Zergliederung des menschlichen Subjekts ins Werk. Sonach bleibt das tiefsinnige Unternehmen der transzendentalen Analytik Propädeutik. Der in der Einheit des Subjekt-Objekt herausgegliederte Gegensatz von Füruns und Ansich, von Noumenon und Phaenomenon, von intelligiblem und empirischem Charakter wird aufgewendet, um den Widerspruch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit der Weltbezüge und zwischen Freiheit und Fatalität menschlicher Wirklichkeit aus der Welt zu schaffen. Die kritische Dialektik nutzt die transzendental-analytischen Unterscheidungen, um die Widersprüche bornierter Weltanschauungen zu entkräften. Sie benutzt die Leitbegriffe von Grenze und Schranke und entwickelt ein Verfahren der Limitation, um den künstlichen Schein zu zerstreuen und die Illusion der Vernunft zu ernüchtern. Durch die Konzentration auf das Ziel, dogmatische Weltbezüge aufzuheben, entgeht der kritischen Energie die Dringlichkeit einer .analytischen Dialektik'. Die Frage, wie denn die Thesis des Ich, die Antithesis von Ansich und Füruns und die Synthesis endlicher Einschränkung angemessen zu fassen sind, findet kein Gehör mehr. So betrachtet, bleibt die transzendentale Dialektik ein unvollendetes Unternehmen. Sie hat das Skandalon einer Veruneinigung der Vernunft mit ihr selbst mit den Mitteln einer Logik des natürlichen Scheins beseitigt. Sie endet aber auf halbem Wege vor der Aufgabe, die kritisch eingesetzten Gegensätze von Subjekt und Objekt, von mundus sensibilis und mundus intelligibilis, von Begrenztheit und Unbegrenztheit, theoretischer und praktischer Vernunft, Wissen und Glauben, in summa: den lebendigen Widerspruch menschlichen Daseins, dialektisch zu durchdringen. Gleichwohl bedeutet Kants Dialektik mehr als bloß das Ende der alten Metaphysik. Die Logik des Scheins enthüllt die Grundsätze der überkommenen Metaphysik als Illusionen der reinen Vernunft. Aber sie wendet sich in sich zu einer Dialektik der Wahrheit um und fordert die Aufgabe heraus, Grundsätze der Ersten Philosophie als Setzungen des Selbstbewußtseins in einer Bewegung über Thesis, Antithesis und Synthesis systematisch zu entwickeln. Das Ende der alten enthält den Anfang einer neuen Metaphysik.

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Freilich übernimmt die aus der kosmologischen Antinomie erwachsene neuzeitliche Dialektik eine belastende Hypothek. Alle Dialektik des Selbstbewußtseins seit Kant leidet an der in ihr unthematisch vorherrschenden, ungeklärten Weltlichkeit und Zeitlichkeit des Menschen. Von ihrer Abkunft, der Kosmologie her, geht der Weltbezug konstitutiv in die moderne Dialektik ein. Dabei bewegt sich die antinomische Weltdiskussion beharrlich in Cartesischer Tradition. Welt ist definitiv zugeschnitten als das der Theorie zugängliche Ganze mathematischer bzw. dynamischer Erscheinungen. Welt kommt zuerst und fraglos als Körperwelt und Körper als corpus mathematicum in Betracht. Dabei gewinnt die (mathematisierte) θεωρία weiteres Ansehen. Sie hält sich an das vorhandene, raum-zeitlich in Bewegung seiende Körperding als das primär innerweltlich Begegnende. In der dialektischen Weltkritik bleiben die hermeneutische Vorrangstellung der Theorie und der Primat des innerweltlich Vorhandenen unangetastet. Der idealistische Neuansatz restringiert Welt lediglich auf die Einheit ontologisch geklärter Phänomene und begreift diese Idee als regulatives Prinzip für das verstandesmäßige Eindringen und Beherrschen des mathematischen Universum und der Natur. Indessen nährt dieser reformierte Weltbegriff eine Scheindialektik eigener Provenienz. Diese spielt zwischen Weltsein und innerweltlich Seiendem. Sie ließe sich die positivistische Illusion' nennen. Die positivistische Illusion verführt den Verstand zum Irrtum, Welt begreifen zu können, indem Innerweltliches wirklich und gründlich durchgenommen wird. In Wahrheit rückt die immer festere Ingriffnahme von Weltlichem durch theoretisches Erfassen und Beherrschen physikalischer Gegebenheiten das, was die Welt ist, immer weiter aus dem Blick; denn die Präsentation innerweltlicher Vorkommnisse durch die theoretische Hinsicht blendet notgedrungen Welt und ihre Verweisungszusammenhänge ab, weil diese sich allererst einer umsichtig-praktischen Einstellung aus einer abschließenden Sinngebung menschlichen Existierens erschließen. (Darüber sollte Heideggers Weltanalyse in ,Sein und Zeit' belehrt haben.) Die technisch gewordene Weltnahme ist daher ein Prozeß, in dem das Einzelweltliche immer gründlicher erforscht und reproduzibel gemacht, der Weltgrund aber immer rückhaltloser verstellt wird. Eine erste Lichtung dieses Scheins liegt sicherlich in Kants Einsicht, daß sich die menschliche Vernunft in ihrem Weltbegreifen in Illusionen bewegt. Aber auch die Kantische Vernunftkritik konnte diesen natürlichen Schein nicht vermeiden. Sie wird ihm erliegen, solange die Natur des Menschen primär als das Erkenntnisstreben der theoretischen Vernunft verstanden wird,

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Welt als eine Regel zu benutzen, die zu immer tieferer Erforschung, Bemeisterung und Inbesitznahme des Weltlichen anleitet. In diesem überspannten Vorgriff kommt Welt nurmehr als das entgegenstehende Ding vor, dessen Nicht-Ich- und Anderssein der selbstbewußte Geist aufzuheben trachtet. Zielstrebig verknüpft die dritte Antinomie die dialektischen Probleme von Natur und Körperwelt mit Bezügen der moralischen Welt. Beide Welten sind ontologisch reinlich geschieden. Moralische Welt meint das gemeinsame Ganze frei handelnder Vernunftwesen. Sie vereinheitlicht ein intelligibles Geisterreich, das nicht erkannt, wohl aber als möglich gedacht sein kann und das verwirklicht werden soll. Diese nicht gegebene, wohl aber aufgegebene Welt kann ihre Wirklichkeit nur praktisch bezeugen. Nun weist zwar das transzendentale System auf den Menschen als den Bürger zweier Welten hin, der diese zweifache Weltlichkeit zu verbinden hat, aber es hat einen radikalen anthropologischen Sinn von Welt allenfalls rudimentär entwickelt. Kants Andeutungen über ,Menschenwelt' im anthropologischen VerStande erheben keinen grundsätzlichen und systematischen Anspruch. In diesem Sinne meint Welt den Spielraum pragmatischer Gesinnung. Solche Bedeutung spricht sich ζ. B. in der Rede ,ein Mann von Welt' aus. Aber diese Art Kennzeichnung ist nicht einmal ein vorläufiger, vager Versuch, den Zusammenhang der Welten in der Existenz des Menschen und seinem alltäglichen Miteinander festzumachen, in welchem jedermann seine Welt hat, seine Welt kennt, ihr verfällt oder in ursprünglichem Mitsein entwirft. Die Widersprüche der Welt bilden den Anstoß zur neuzeitlichen Dialektik. Diese aber ist nicht bis zur einheitlichen Wurzel der strittigen Weltbezüge zurückgegangen. Sie blieb in die Aufgabe gebannt, den Cartesischen substanzialen Gegensatz von Vorstellendem und körperhaftem Ding aufzuheben: Der Vorgang der Entsubstanzialisierung von objektiver Welt und Ich-Subjekt wurde zum dialektischen Prozeß und Leben des Subjekt-Objekt selber. Die Weltvergessenheit der kosmologisch inspirierten Dialektik paart sich mit ihrer Zeitvergessenheit. Ohne Frage durchherrscht das Sein der Zeit die dialektischen Verhältnisse der Welt. Das stach in der dogmatischen Dialektik der dritten Antinomie hervor. Die Zeit gab den nervus probandi in der Beweisführung beider Parteien ab. Die Zeitlichkeit aller Weltbegebenheiten lag dem Argumente des regressus in infinitum für die Unabgeschlossenheit der Naturkausalität ebenso zugrunde wie dem Argument gegen die Freiheit als Selbstanfang. In beiden Fällen aber trat

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Zeit nur in ihrem abkünftigen, physikalischen Wesen auf, als Jetzt-Zeit. Zeit im Zusammenhange mit Welt meint die kontinuierliche Reihe von Jetzten im gleichförmigen Abfließen ihrer zukünftigen, gegenwärtigen, vergangenen ,Teile'. In transzendentalem Denken bleibt der Vorrang dieser physikalischen Weltzeit fraglos in Kraft. Dialektische Kritik schränkt lediglich ihre Wirklichkeit auf die universale Form der Erscheinungswelt ein und nimmt die intelligible Welt von aller Zeitlichkeit aus, aber eben so, daß ihre Negation von Zeit an das Negierte gebunden bleibt. Die Auflösung der dritten Antinomie scheidet beide Arten der Kausalität auch im Hinblick auf die kritisch geschiedene Zeithaftigkeit. Im Gebiete der Erscheinungswelt unterliegt die causa phaenomenon dem Zeitkontinuum der Jetzt-Zeit. Die moralische Welt dagegen ist frei von Zeitbedingungen. Einer causa noumenon steht die von Vergehen und Entstehen, von Dauer und Zeit unabhängige Anwesenheit zu. Auch im Bedenken der Zeit stößt die transzendentale Unterscheidung auf den Menschen als den Durchdringungspunkt von vergänglicher und immerwährender Präsenz. In seiner Wirksamkeit als Vernunftwesen wirkt der Mensch zeitlos, als Sinnenwesen unter dem Druck der Zeit. Obwohl Kants transzendentale Analytik die Zeitlichkeit als die eigentlich menschliche Fessel der Endlichkeit herausgehoben hat, konnte die transzendentale Dialektik einen ursprünglichen einigenden Sinn von Zeit nicht entwickeln. Gerade dadurch aber prägt Kants Kritik alle folgende Dialektik von Welt, Zeit und Sein im Horizonte des Selbstbewußtseins. Was darin aufbricht, ist eine zweifache Bedeutung von Sein. Sein als Fürunssein meint Gegenständlichkeit, objektive Realität durch Relation zum Subjekt. In diesem Seinsverständnis stellt sich Welt als das außer mir seiende Objektive dar und gerät als Nicht-Ich, als entäußerter Geist in den dialektischen Kreislauf der Subjektivität. Und für eine objektivierte Welt bedeutet, in der Zeit zu sein, soviel wie: durch die Zeit gemessen werden. Dagegen hebt sich schroff der andere Sinn von Sein ab. Sein als Ansichsein des Seienden meint nicht Fürunssein, positiv gedacht: Wesenheit als intelligibles Substrat und Wirksamsein eines freien Willens. Welt (das Seiende im ganzen) ist an sich Wille, Wollen ist Ursein. Diesem Seinsverständnis drängt sich Welt als die dem Willen aufgegebene moralische Welt auf. Ihm sublimiert sich die Zeit zum Reflex immerwährender, unvergänglicher Anwesenheit. So aber werden Sein und Zeit nicht vom Dasein des Menschen aus verstehbar und menschliche Zeitlichkeit wie daseinsmäßiges In-der-Welt-sein ausgeklammert. Der Sinn von Sein, Zeit und Welt orientiert sich am Vorhandensein des Innerweltlichen als eines

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erfahrbaren Gegenstandes. Das Vergessen der ursprünglichen Zeit und der Welt des Daseins wurzelt in einer Existenzvergessenheit. Die Prozesse des Selbstbewußtseins haben von Anfang an das Existieren vergessen. Dialektik des Selbstbewußtseins weitet sich zum Prozeß aus, der aus dem Telos und von dem Ziele lebt, die zweifache Bedeutung von Sein, Welt und Zeit zu vereinigen, die Erscheinung mit dem Wesen, das NichtIch mit dem Ich, die Zeit mit der Ewigkeit, das Sinnliche mit dem Ubersinnlichen zu versöhnen. Neuzeitliche Dialektik ist die Arbeit des Begriffs, das äußere, zeithafte Sein ins Immersein, das Phänomen der Welt in überweltliche Wahrheit zu bergen. Diese großmächtige Gedankenbewegung glaubt vollendet zu sein, wenn sie die Entäußerungen des selbstbewußten Geistes wieder angeeignet, die Knechtschaftsverhältnisse der Mitwelt im Reiche der Freiheit und Gerechtigkeit aufgehoben und allen Zweifel des Widerspruchs in die unzweifelhafte Gewißheit der Vernunftwahrheit überführt hat. Weil aber ihre fundamentalen Bedeutungen von Sein, Welt und Zeit dem Menschen und seiner Wirklichkeit (Existenz) äußerlich und fremd bleiben, laufen alle Wiederaneignungen der Entäußerungen an der Existenz vorbei. Folgerichtig vergeht die dialektische Bewegung der Neuzeit in eine dreifache, abgründige Entzweiung: in die mit den Mitteln des Selbstbewußtseins unaufhebbaren Widersprüche faktischer sozialer Knechtschaft, existenzialer Verzweiflung und menschlicher Entfremdung.

2. Abschnitt: Limitative Dialektik Die Systembildung endlichen Selbstbewußtseins in der Wissenschaftslehre 1. Kapitel: Triplizität des Selbstbewußtseins. Die Grundlage limitativer Dialektik Triplizität ist der hervorstechende Charakter in den Grundsätzen der gesamten (theoretischen und praktischen) Wissenschaftslehre. Ein auf Sätze bauendes System ist dreifältig. Jeder Satz läßt sich nach Materie, d. i. den in Subjekt und Prädikat aufgestellten Wissensinhalten, und nach der Form, dem in der Kopula ,ist' hinterlegten Wissensbezug, aufgliedern. Weil nun ein Grundsatz wenigstens in einer Hinsicht unbedingt sein muß, schließt sich der Systemgrund in drei Sätzen auf und zusammen: einem schlechthin unbedingten, einem dem Gehalte nach und einem der Form nach unbedingten Satz. Ein solcher Grundriß zeichnet sich ab, sofern und solange die Philosophie grundsätzlich denkt. Sei Descartes stützt sich das Denken auf Grundsätze, nicht aus Belieben, sondern dem Zwange seiner Sachen folgend. Die Subjektbezüge des Satzes entsprechen der Subjektbezogenheit des Ich. So wird sich Fichtes Urteilslehre in den Zusammenhang dreier Grundformen entfalten: des synthetischen, des antithetischen und des thetischen Urteils. Das thetische oder unendliche Urteil setzt das Subjekt des Satzes allein mit sich selbst gleich. Das antithetische oder negative Urteil setzt dem Subjekt ein ungleiches Objekt unter Abstraktion ihrer Gleichheit entgegen. Das synthetische oder affirmative Urteil setzt das Subjekt mit einem gleichen Objekt unter Abstraktion der Ungleichheit zusammen. In den Gestalten des Urteils findet die Dreigliedrigkeit des Selbstbewußtseins einen formalen Ausdruck und sachlichen Ausweis. Die dialektikfördernde Dreiheit der drei Grundsätze in Fichtes früher , Grundlage' kommt mit den drei obersten Urteilsformen überein. Sie sucht damit form- und sachgerecht den Systemanspruch neuzeitlichen Grund-Satz-Denkens zu erfüllen29. 29

Inwiefern dieser Grund-Satz-Charakter der neuzeitlichen Philosophie durch Hegels Lehre vom spekulativen Urteil vollendet und in Nietzsches Angriff auf die Grundvoraus-

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Trichotomie bietet sich als Einteilungsart an, wenn auf die Prinzipien gesehen wird, die in transzendentalen Grundsätzen zur Sprache kommen. Das Prinzip der Synthesis a priori verlangt die Methode der Dreiteilung. Das hat Kant gesehen (vgl. Logik Jäsche § 113). Polytomie, die Einteilung in eine Vielzahl von Gliedern, bedarf der reinen oder empirischen Anschauung und herrscht daher über Mathematik, ζ. B. in der Einteilung der Kegelschnitte, oder in der Naturbeschreibung. Dichotomie dagegen, die Unterteilung in Zweiheiten, verfährt analytisch a priori und hält sich an den Satz des Widerspruchs: quodlibet ens est aut A aut non Α. Dieser bloß analytische Weg einer apriorischen Einteilung bleibt dem Gegenstande philosophischer Untersuchung unangemessen. Die Philosophie hat es mit synthetisch-apriorischen Grundverhältnissen zu tun. Sie muß trichotomisch verfahren; denn hier treten drei Glieder auf, 1. eine Bedingung, 2. ein Bedingtes und 3. der Begriff, der aus der*Vereinigung beider entspringt. So hat Kant bekanntlich die Dreigliedrigkeit seiner Einteilungen gerechtfertigt. Soll eine Einteilung aus reinen Begriffen a priori und synthetisch sein, dann muß sie jederzeit trichotomisch ausfallen. „Das liegt aber in der Natur der Sache" (KdU, Einl. DC, Anm.). Die Wissenschaftslehre nimmt diese Verschränkung von Sache und Methode grundsätzlich auf. Die Natur ihrer Sache ist die reine SynthesisStruktur des Selbstbewußtseins. Sie schreibt die Methode der Durchgliederung vor. Danach treten Bedingendes und Bedingtes unter den Begriffen von Ich und Nicht-Ich, Unendlichkeit und Endlichkeit, Genesis und Faktizität etc. einander gegenüber. Es ist die Zweiheit solcher Gegensätze, die auf eine Vereinigung in einem Dritten drängt. So kommt die Triplizität nicht bloß mitgängigerweise in der Einteilung des philosophischen Wissens vor, in der Wissenschaftslehre leitet sie die methodische Entfaltung der reinen Bedingungsverhältnisse in allem Wissen und Sein. Und es bedeutet keinen methodischen Bruch, wenn die Dreiteiligkeit sich als Fünffachheit herausstellt. Auch das liegt in der Natur der Sache. Betrifft nämlich die Vereinigung die Einheit der Gegensätze von Denken und Sein bzw. von Subjekt und Objekt im Ich, dann ergibt sich die Fünffachheit, sobald das Entgegengesetzte im Hinblick auf den gleichursprünglichen Gegensatz von sinnlichem und übersinnlichem Sein durchsetzungen der Sprach-Metaphysik — die Aufkündigung des Glaubens an die Satzgrammatik und die Aufdeckung des .natürlichen Scheins' unserer Sprache — erschüttert wurde, kann hier nicht diskutiert werden. (Zum dialektischen Schein der Sprache' aus der Illusion platonischer Vernunftphilosophie vgl. die Zentralstelle der ,Götzendämmerung': die .Vernunft der Philosophie', Ziffer 5).

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konstruiert wird. Dann teilt sich die Dreiheit in den Grundbezügen von Bewußtsein und Welt in fünf Seinsbereiche auf: 1. das sinnliche Objekt (die Natur) 2. das sinnliche Subjekt (das Rechtsverhältnis mannigfacher Individuen) 3. das übersinnliche Subjekt (die Sittlichkeit) 4. das übersinnliche Objekt (die Religion) 5. die Einheit aller Seinsbereiche (die Philosophie) Die berühmte, in den späteren Fassungen der Wissenschaftslehre immer neu konstruierte Fünffachheit — die vollständige synthetische Periode der Wissenschaftslehre ,nova methodo' — ist nichts anderes als eine Explikation der grundsätzlichen Dreiheit. Im Aufschluß solch durchdringender Dreiheit gewinnt und behält natürlich der erste, schlechthin unbedingte Grundsatz einen Vorrang. Seine Findung und Rechtfertigung bildet die eigentliche Sorge des Anfangs. Und gleich anfangs gerät die Transzendentalphilosophie in einen Rangstreit mit der allgemeinen Logik. Diese behauptet doch, Fundamentalwissenschaft zu sein und voraussetzungslose Säue (die Axiome der Identität, des Widerspruchs, des Grundes) bereitzustellen, denen alles menschliche Wissen immer schon entsprochen haben muß, um haltbar zu werden. Das gilt offenbar auch für das philosophische Wissen. Es muß, soll es nicht nichtssagend sein, die Geltung allgemein-logischer Gesetze anerkennen. Wie also kommt die Philosophie trotz solcher Voraussetzung zu einem eigenen, unvermittelten und voraussetzungslosen Anfangssatz? Weg und Hinleitung zum Anfangsgrunde ist immer die Umwendung einer Selbstbesinnung. Sie nimmt eine empirische Bestimmung unseres Bewußtseins zum Ausgang, um auf dem Wege ,abstrahierender Reflexion' auf das Selbst des Ich als Grundlage allen Bewußtseins einzugehen. Solches Verfahren bildet die Hinleitung zum ersten Grundsatz der ,Grundlage'. Es braucht hier nur in seinen Grundzügen verfolgt zu werden. Zum passenden Ausgang dient eine zuhöchst gewisse empirische Tatsache des Bewußtseins. Empirisch bedeutet dabei nicht — wie bei Kant — ausschließlich solches, was vermittels von Empfindungen vorgestellt wird, sondern alles, worauf man im Bewußtsein stößt. In diesem Sinne können auch logische Tatsachen empirisch heißen, selbst diejenige, die im Ansehen eines Axioms steht, der Satz der Identität (A = A). Das Verfahren der abstrahierenden Reflexion sondert nun alle empirischen Bestimmungen davon aus, indem sie auf dessen notwendige Bedingungen hinsieht.

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Folglich lautet die methodisch zu Recht gestellte Frage: Ist der Satz A = A schlechthin unbedingt und eine unableitbare Tatsache, oder setzt er eine Bedingung voraus? Die allgemeine Logik behauptet durchweg und jederzeit, A= A sei ein Axiom und gelte schlechthin unbedingt. Die transzendentale Abstraktion aber entdeckt seine vielfache Bedingtheit. A = A hat eine Voraussetzung. A ist A, wenn A ist. Freilich ist die Entdeckung eines solchen Bedingungsverhältnisses erst möglich, wenn das ,Ist' bedacht und eine zweifache Bedeutung von Sein in Anschlag gebracht wird. „Seyn, ohne Prädikat gesezt, drückt etwas ganz anders aus, als seyn mit einem Prädikate" (GL § 1,2; 256). Sätze der Logik können in ihrer Grundsätzlichkeit nur in ontologischer Hinsicht diskutiert werden, ob sie nun die ,copula ist' bezeichnen oder vermeiden. Sein mit einem Prädikat (A ist bzw. = A) bedeutet Gleichheit von etwas mit sich selbst und logische Möglichkeit. Sein ohne Prädikat (A ist) bedeutet, neuzeitlich gedacht, Gesetzt- oder Gegenständlichsein und reale Möglichkeit. Kant hat dafür, daß logische Möglichkeit (widerspruchsfreie Denkbarkeit) und reale Möglichkeit keineswegs zusammenfallen, in seiner Postulatenlehre Beispiel und Begründung geliefert. Die Wissenschaftslehre nimmt diese beispielhafte Unterscheidung in ihre Grundsatzdiskussion auf. ,A ist A' bedeutet sonach: ist logisch denkbar gemäß der formalen Bedingung des Gleichseins mit sich selbst. Ob aber A real seiend ist, d. h. unter welchen Bedingungen es ein Objekt für ein Subjekt ist, davon ist im formallogischen Gesetz keine Rede. Weil also die Axiome der Logik von den Bedingungen abstrahieren, unter denen etwas real möglich ist, darum können sie ihre Gewißheit nicht durch sich selbst aufbringen. Ihre Sicherheit liegt allein in einem Wenn-So-Zusammenhang. Wenn A ist, dann ist A = A. Der Grund der Gewißheit logischer Axiome ruht, ontologisch formuliert, im Zusammenhang von Wirklichsein und Mit-sich-identischSein. Die abstrahierende Reflexion hat diesen bisher unbekannten Zusammenhang (= x) zu untersuchen. A = A, wenn A ist — aber unter welcher Bedingung ist A? Die Antwort wird .vermittelst x' erschlossen. Sie ist tranzendental selbstverständlich. „Wenn A im Ich gesezt ist, so ist es gesezt; oder — so ist es" (GL § 1,3; 257). Der Schluß läuft über die Vorstellung von x; denn ist χ im Ich gegeben, dann auch A als Glied von x. Aber bei diesem Resultat läßt es die abstrahierende Reflexion nicht bewenden. A ist unter der Bedingung, daß es im Ich als seiend vorgestellt wird. Aber unter welcher Bedingung kann A im Ich gesetzt werden? Alles Bewußtsein hat das Selbstbewußtsein zur Voraussetzung. „Es ist demnach

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Erklärungsgrund aller Thatsachen des empirischen Bewußtseyns, daß vor allem Setzen im Ich vorher das Ich selbst gesezt sey" (GL § 1,5; 258). Diese transzendentale Reduktion führt nicht bloß das Bedingte (das logische Gesetz der Identität als empirische Tatsache des Bewußtseins) auf seine Bedingung zurück, es läßt zugleich ein Drittes, den Begriff ihrer Vereinigung, heraustreten. Das zugrunde liegende Ich begründet den Bedingungszusammenhang von Sein (A ist) und Selbigkeit (A ist A), weil sein Begriff eben den Zusammenfall von Sein und Gleichsein mit sich selbst enthält. Der Satz ,Ich bin Ich' drückt dasselbe aus wie der Satz ,Ich bin'. „In ihm ist das Ich, nicht unter Bedingung, sondern schlechthin, mit dem Prädikate der Gleichheit mit sich selbst gesezt" (GL § 1,5; 258). Was ist nun , durch diese Operation' für die Findung des ersten Grundsatzes gewonnen und was nicht? Es ist das Niveau logischer Axiomatik verlassen und das der transzendentalen Selbstbesinnung erreicht. Der Rangstreit zwischen logischen und philosophischen Grundsätzen ist exemplarisch gelöst. Ihr Verhältnis bildet einen Zirkel. Die Aufstellung des Satzes ,Ich bin Ich' setzt natürlich die Geltung des logischen Identitätssatzes A = A voraus. Zugleich leitet sie den Satz A = A aus sich ab; denn jener ist ja nichts als das Resultat einer logischen Abstraktion, das entsteht, wenn die ontologischen Bedingungen vom transzendentalen Satze der Identität abgezogen werden. Dieser Zirkel kann freimütig als unvermeidlich zugestanden werden, ohne dadurch den Primat des philosophischen Grundsatzes zu unterlaufen. Ihm gebührt eine Priorität im Zirkel. Logische und philosophische Grundsätze setzen einander zwar wechselseitig voraus, aber sie lassen sich nicht wechselseitig auseinander ableiten. „In unsrer Erörterung hat sich ergeben, daß nicht der Satz : A = A den Satz Ich bin, sondern daß vielmehr der leztere den erstem begründe" (GL § 1, 10; 261). Und es ist auch nie ernsthaft versucht worden, transzendentale aus logischen Prinzipien abzuleiten. Die Logik hat, soweit sie die .metaphysische' Frage nach der Bedeutung des Seins als Störung des Verstandes empfindet, auch die transzendentale Grundfrage beiseite gelassen. Wohl aber hat die Einleitung der Fichteschen ,Grundlage' eine Herleitung logischer aus transzendentalen Prinzipien unternommen. Diese einzigartige Rückgründung der allgemeinen Logik in die Ontologie des Ich hat keine Schule gemacht, sehr zum Schaden für die Einheit von Logik und Erster Philosophie. Jedenfalls konnte der erste Gang der Wissenschaftslehre zeigen: Logische Sätze sind Folgesätze der philosophischen, und daher folgt der philosophische Grundsatz, indem er die obersten Regeln der allgemeinen Logik befolgt, nur sich selbst.

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Was die abstrahierende Reflexion dagegen nicht leisten kann, das ist die Sichtbarmachung des ,Ich bin* als Tathandlung. Die notwendige Bedingung für die Möglichkeit einer Tatsache ist selber eine, wenngleich ursprünglich bedingende, Tatsache. Weiter als zur Grundtatsache allen Bewußtseins, zum Faktum des Selbstbewußtseins, kann es keine transzendentale Deduktion bzw. abstrahierende Reflexion bringen. Um dieses Faktum in seiner freien Ursprünglichkeit genetisch zu ersehen, dazu bedarf es der ursprünglichen Freiheit einer intelligiblen Anschauung. Darum war die bisherige Methode Anlauf zu einem Sprung. Das Prinzip der Ichheit entsteht überhaupt erst dadurch, daß man sich anfänglich durch Freiheit in die Sehweise intellektuellen Anschauens versetzt. Der unmittelbare Anfang kann nicht aus Vordersätzen bewiesen und niemals andemonstriert werden. Zu ihm führt kein Schluß, sondern ein Entschluß, nämlich sich von allem Tatsächlichen, das ich nicht bin, loszureißen und seinem ursprünglichen Wesen und Tätigsein zuzuwenden. Solche Reflexion geschieht vermittels der intellektuellen Anschauung. Zwar fehlt in der ,Grundlage' das Wort, keineswegs aber die Sache. Die intellektuelle Anschauung kommt sachgerecht dort zum Zuge, wo die Ableitung des Ich als Tatsache endet und seine Veranschaulichung als Tathandlung beginnt. Fichtes .Meditation über Elementar-Philosophie' und die AenesidemusRezension hatten die Eigenart dieses Sehens abgeklärt. Entgegen der sinnlichen Anschauung, die gegebene Tatsachen unmittelbar in der Erfahrung hinnimmt, bedeutet intellektuelle Anschauung die apriorische Anschauung der ursprünglichen Tätigkeit des Ich. Weil nun das Subjekt des ersten Grundsatzes überhaupt nicht in der Erfahrung anzutreffen ist, läßt es sich allenfalls intellektuell zur Anschauung bringen. Nur im Medium der intellektuellen Anschauung kommt der Gehalt des ersten Grundsatzes, Ursprünglichkeit und Wesen des Ich, positiv zum Bewußtsein. Das hat die Aenesidemus-Rezension angekündigt: „Wenn das Ich in der intellectuellen Anschauung ist, weil es ist, und ist, was es ist; so ist es in sofern sich selbst sezend, schlechthin selbständig und unabhängig" (REZ.; I, 22). So gesehen, ist Philosophie Selbstbesinnung. Ihr erster Satz formuliert das Ich in der intellektuellen Anschauung. So bringt er das Ich als Tathandlung zum Ausdruck und entfaltet es unter den drei Hinsichten von Ursprung, Wesen und Offenbarkeit. Das Faktum des ,Ich bin' wird in seiner Genesis anschaulich als Tathandlung. Dieser Terminus benennt trefflich das ,Wesen' des Ich als reine oder in sich zurückkehrende Tätigkeit. Meint Tat das Produkt einer Handlung und Handlung den Akt des Produzierens, dann sind beim Selbstbewußtsein — anders denn beim

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gegenständlichen Bewußtsein — „Handlung und That Eins und eben dasselbe" (GL § 1,6; 259). Die erste Handlung des Ich ist das Sich-selberSetzen, in welchem das Ich sich als seiend vorstellt — nicht etwa in seiner Wirklichkeit erschafft. Diese Tätigkeit ist die Tat, nämlich das Sein des Ich, selbst; denn das Ich ist nichts anderes als der Vollzug des einigenden Sich-auf-sich-Beziehens. „Sich selbst setzen, und Seyn, sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich" (GL § 1, 9; 260). Ichheit bedeutet somit nicht ein zugrunde liegendes Substrat, ein vorhandenes Tätigseiendes, dem vorzüglich die Tätigkeit des Vorstellens und Setzens zukommt. Das Ich ist reine Tätigkeit, sein Sein besteht in der Lebendigkeit der ursprünglichen Synthesis von Subjekt-Objekt. Das Ich ist nicht erst etwas Seiendes (res qua substantia) und fängt dann an, sich auf sich selbst zu besinnen (cogito me cogitare), es fängt vielmehr an zu sein, indem es sich auf sich bezieht. Und das Ich-überhaupt fängt nicht mit irgendeiner bestimmten Handlung an, es fängt mit seinem Sein an; denn das Handeln des Ich und sein Sein (die Tat) fallen im reinen Ich zusammen. Der Titel ,Tathandlung' proklamiert die Uberwindung der Substanz-Theorie im Cartesischen Ansatz des ego qua substantia cogitans und eröffnet den weitreichenden Prozeß der Entsubstanzialisierung des Subjekts im Deutschen Idealismus. Die Urgleichung ,Ich bin Ich', noch einmal und jetzt unter der Betrachtungshinsicht von Ursprung und Genesis angeschaut, führt zum Resultat: Ich bin, weil ich bin. So, als .absolutes Subjekt' entwickelt, zeigt sich das Ich losgelöst vom Satz des Grundes und absolviert von der Kategorie der Kausalität. Das Weil gehört nicht etwa zur Klasse der kausalen Konjunktionen. Es antwortet nicht auf die Frage: Warum? oder Wodurch?, sondern drückt ein So-Wie oder Insofern aus. Das Ich ist seiend, dieweil es sich auf sich selbst bezieht, und umgekehrt. Dieweil es sich setzt, ist es anwesend. „Es sezt sich durch sein bloßes Seyn, und ist durch sein bloßes Geseztseyn" (GL § 1 , 7 ; 259). Das ursprüngliche Weil muß vom Weilen im Sinne des Währens und Anwesens her gedacht werden, als Durcheinander-Weilen von Sein und Sich-Setzen. Das Ich ist präsent, dieweil die Art seiner Anwesenheit Tathandlung ist30. 30

Nur ein vorphilosophisches Forschen stellt Fragen der Art: „Was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewußtseyn kam?" (GL § 1,7; 260). Solches Fragen nach der Genesis des Ich bleibt dem Gefragten unangemessen; denn es trennt das Ich vom Selbstbewußtsein und unterstellt ein Ich ohne Selbstbewußtsein als leibhaftes Substrat, das irgendwie zu Bewußtsein gekommen ist. Von meinem Ich vor dem Aufenthalt im Selbstbewußtsein aber kann gar nicht gesprochen werden; „ich war gar nicht; denn ich war nicht Ich" (ibid.). Die kritische Vorsicht und denkerische Bescheidenheit der WL wehrt alle Ver-

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Die Tathandlung, unter dem Hinblick des Fürseins betrachtet, ergibt die Einsicht: Das Ich ist für das Ich, und zwar notwendig und nicht bloß mitgängig und im Modus der Zufälligkeit (GL §1,8). Während das gegenständlich Vorgestellte, das Objekt, immer nur für anderes ist, d. h. sich zeigt und ins Offene kommt als Gegenstand unserer Erkenntnis, währt das Ich in der Helle seiner eigenen Erschlossenheit. Das folgt zwingend aus dem Weil-Verhältnis. Das Ich ist ja niemals einfach seiend. Insofern es ist, setzt es sich selbst, und das heißt eben, es ist seines Seins gewärtig und für sein aktuales Wesen offen. Es ist Tätigkeit, die sich sieht. Und während das gegenständliche Bewußtsein nur mitgängig und unthematisch Ich-Bewußtsein werden kann, weilt das absolute Subjekt bedingungslos und ständig in der Helle des Fürsichseins. Der Anfangsgrund allen Bewußtseins ist für sich seiende, d. h. sich wissende und sich wollende Tätigkeit. Wird diese Tathandlung endlich unter der Hinsicht des Wasseins entwickelt, dann springt der Satz heraus: „Ich bin schlechthin, was ich bin" (GL § 1,9; 260). Dieses Resultat erklärt die Selbstbestimmung zur Wesensbestimmung des Ich. Es läßt sich wiederum durch Abhebung vom gegenständlichen Bewußtsein verdeutlichen. Weil jegliches Bewußtsein durch das bestimmt wird, was es vorstellt, bleibt das gegenständliche Bewußtsein durch etwas ihm Fremdes, den Gegenstand oder das NichtIch, bestimmt. Im Bestimmtwerden durch etwas, das nicht ich selber bin, steckt das Leid der Unfreiheit. Das Selbstbewußtsein dagegen ist der Selbigkeit von seiendem und sich setzendem Ich (von Subjekt- und Objekt-Ich) zufolge wesenhaft Freiheit. Es ist eben dasjenige, als was es sich setzt, nämlich sich wissendes und sich wollendes Bewußtsein. Indem es durch das bestimmt wird, was es vorstellt, findet es sich durch sich selbst bestimmt und frei. Somit hat sich das unbedingte, schlechthinnige Selbst der Tathandlung in den Aspekten des Weil, des Was und des Für als Selbstanfang, Selbstbestimmung und Selbstbewußtsein artikuliert. „Der unmittelbare Ausdruck der jetzt entwikelten Thathandlung wäre folgende Formel: Ich bin schlechthin, d. i. Ich bin schlechthin, weil ich bin; und bin schlechthin, was ich bin; beides für das Ich" (GL § 1,10; 260). Wird nun im Sinn gehalten, daß die Ichheit die Bestimmung des Menschen und nicht etwa suche ab, das Ich noch jenseits seiner ursprünglichen Gegebenheit aufzusuchen. Sie hält sich, indem sie — wie W. Weischedel mit Recht betont — auf Hypothesen und Mythen über die Entstehung des Ich verzichtet, einzig an die Explikation des Selbstbewußtseins in seiner ausweisbaren Wirklichkeit (vgl. Der frühe Fichte, Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft. 2. Aufl. Stuttgart 1973. S. 25).

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ein Moment des absoluten Geistes ausmacht, dann bedeutet diese Formel eine titanische Unabhängigkeitserklärung des Menschen gegenüber den Setzungen Gottes und den Gesetzen der Welt. Und so, als Manifest unbeschränkter Freiheit, ist der erste Grundsatz der Wissenschaftslehre auch vom Zeitalter der Französischen Revolution verstanden worden. Der Fortgang der Grundlegung verläuft nun nicht in der Richtung, alle weiteren Grundsätze und Kategorien als Momente dieser absoluten Thesis begreifen zu wollen, wie sie sich im Reichtum ihrer eigenen Momente entfaltet. Vielmehr kommt umgekehrt alles darauf an, in einem zweiten Schritt etwas Unbedingtes zu finden, das nicht aus der Urhandlung des absoluten Subjekts stammt. Eine kritische Fassung des Ich sucht eben das Rätsel des Menschen vom widerspruchsvollen Wesen des Menschen und nicht von der Einheit des göttlichen Geistes her zu lösen. Das Verfahren, um ein zweites unbedingtes Grundmoment zu finden, bildet wieder die Einleitung einer abstrahierenden Reflexion auf dem Wege wahrhaft gründlicher Selbstbesinnung. Diejenige Tatsache des Bewußtseins, die auf notwendige Bedingungen des Selbstbewußtseins zurückgewendet wird, ist nunmehr der Satz des Widerspruchs in der logischen Formel — A nicht = A. Bei seiner Reduktion wird zuerst die Unableitbarkeit aus dem Identitätsprinzip A = A abgeleitet und sodann das logisch Unbedingte transzendental begründet und phänomenal ausgewiesen. Dabei springt heraus: Das aus der Gleichung A = A unableitbare Moment des Satzes —A nicht = A ist die Form des Gegensetzens, des Ist-nicht-Sagens. Die Urteilshandlung des Entgegensetzens kann im Setzen als IdentischSetzen nicht enthalten sein, weil sie dessen ausschließendes Gegenteil ist. Dieses eigenstämmige Urteil der Negation hat zur transzendentalen Bedingung ein apriorisches Entgegensetzen des Ich. Damit kommt eine zweite Urhandlung des Ich in den Blick. Sie macht die Weltzuwendung des Menschen begreiflich. Eine ursprüngliche Handlung des Ich eröffnet den Horizont von Welt und begründet die Möglichkeit, daß dem Selbstbewußtsein Seiendes außer ihm begegnen kann. Die Handlung der Entgegensetzung entwirft durch die Bildung des Begriffs eines ursprünglichen Entgegen den Umkreis, in welchem ein Objekt, das ich nicht selber bin, begegnen kann. Das eben vermag das Sich-Setzen der ersten Position nicht zu leisten, da in ihm immer nur ein Objekt vorkommt, das nicht von mir unterschieden ist. Die eindeutige Differenz des Subjekts zur objektiven Welt gewinnt erst dort ihre Schärfe, wo die Negation des Entgegensetzens und die Position der Selbstsetzung grund-

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sätzlich geschieden werden. Und erst in dieser prinzipiellen Scheidung kann sich das menschliche Selbstbewußtsein als es selbst profilieren. Freilich muß die neue Unbedingtheit der Vormacht absoluter Identität darum förmlich abgerungen werden, weil die Handlung des Entgegensetzens offenkundig dreierlei voraussetzt: 1. die Identität des Selbstbewußtseins; denn das Ich setzt ja sich etwas entgegen, 2. die Selbigkeit des Ich in beiden Handlungen; denn allein die Einheit des Bewußtseins stiftet die Beziehung auf das Setzen, durch welche sich die zweite Handlung als ein Entgegensetzen spezifiziert, 3. die Existenz des Ich; daß das Ich ein Entgegensetzen vollzieht, hängt davon ab, ob das Ich sich selbst gesetzt hat. Solche Besinnung auf die mehrfache Abhängigkeit der Entgegensetzung dient dazu, ihre Unabhängigkeit zu präzisieren. Diese liegt allein in der Form des Handelns. Daß sie Handlung des Ich ist, hat seine Voraussetzungen ; daß so, in der Art und Weise einer Negation, gehandelt wird, bleibt aus der Position der Subjekt-Objekt-Identität unableitbar. Anders steht es, wenn nicht mehr auf die Handlungsart, sondern auf das Produkt dieser Handlung (—A) gesehen wird. Um hierbei Bedingtes vom Unbedingten zu scheiden, werden Form und Materie des Produkts unterschieden. Die Form des Produkts bildet das Nicht- und Entgegensein von — A; sie leitet sich von der Form des Entgegensetzens her. Insofern sie ursprünglich durch die Art der Entgegensetzung hervorgebracht wird, ist das Produkt —A ebenso unbedingt wie das Produzieren. Die Materie des Produkts —A besteht darin, Nicht-Dieses oder Gegenteil von etwas Bestimmtem zu sein. Dem Gehalte nach wird es durch ein vorausgesetztes A bedingt, weil ein — A, inhaltlich gesehen, eben dasjenige nicht ist, was A ist. Was ein Entgegengesetztes ist, weiß ich nur, wenn ich dasjenige kenne, von dem es ein Gegenteil ist. Die transzendentale Rückwendung errechnet als Produkt eines ursprünglichen Entgegensetzens den Gegenstand mit dem Charakter des Nicht-Ich. Das dem Ich Entgegenstehende schuldet seine Form der unbedingten Entgegensetzung, seinen Inhalt dem vorausgesetzten Ich; denn es ist ja ursprünglich nichts anderes gesetzt, dem ein Gegenstand entgegengesetzt werden könnte, als das Ich. In dieser Rücksicht wird der Welt der Seinscharakter des Nicht-Ich aufgeprägt. Welt wird aus dem Ursprung einer Entgegensetzung als Widerpart des Ich verstehbar. „Von allem, was

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dem Ich zukommt, muß kraft der bloßen Gegensetzung dem Nicht-Ich das Gegentheil zukommen" (GL §2,11; 267). Kommt dem Ich von ihm selbst her zu, Produkt seiner Handlung zu sein, dann muß das Nicht-Ich als etwas ohne mein Zutun Vorhandenes erscheinen. Wird das Ich von der Gewißheit durchdrungen, durch sich selbst bestimmt und frei zu sein, dann kommt das Nicht-Ich als ein Objekt zum Bewußtsein, von dem ich mich abhängig fühle. Und kehrt das Ich in seiner Tätigkeit zu sich zurück, dann eignet dem Nicht-Ich die Tendenz, die Kräfte des Ich zu binden und zu entfremden. In der Wurzel der eigenen .Weitung' also stößt der verkündete Entschluß, alles, was ist, unter die Bedingungen des Ich zu stellen, auf einen unbedingten Widerstand und radikalen Gegensatz. Bei der Aufstellung der ersten beiden Grundsätze kann es nicht bleiben; denn durch sie bricht ein Widerspruch auf, der die „Identität des Bewußtseyns, das einige absolute Fundament unsers Wissens" (GL § 3B; 269) zu verrücken droht. Daher ergibt sich aus den beiden grundsätzlichen Vorgaben der weitere Weg der Selbstbesinnung ganz von selbst. Der Widerspruch muß im Recht seiner Herkunft durchsichtig gemacht und mit der Identität des Selbstbewußtseins versöhnt werden. Diese Aufgabenstellung zeichnet eine dritte notwendige Handlungsart vor, die es ermöglicht, das gesetzte Ich und das entgegengesetzte Nicht-Ich zu vergleichen: die Form eines aufhebenden Zusammensetzens. Dabei geht es vorab um eine präzise Herleitung des Widerspruchs. Dessen Genesis muß auf die Struktur des zweiten Grundsatzes zurückgehen. Vom ersten, gegensatzlosen Satz gleiten offenkundig Entgegensetzung und Widerspruch ab. Der zweite Grundsatz dagegen, auf sich allein gestellt, verfällt der ontologischen Opposition von Sein und Nichtsein. „Der zweite Grundsatz hebt sich auf; und er hebt sich auch nicht auf" (GL § 3A 4; 269). Zunächst kann erwiesen werden: Die Zergliederung des Satzes ,Das Ich setzt sich ein Nicht-Ich entgegen' ergibt zwei einander paralysierende Schlußfolgen. In ihm liegt schlüssig: Das Ich ist im Ich nicht gesetzt, insofern das Nicht-Ich gesetzt ist. Im Vorstellen von etwas, das nicht ich bin, ist das Ich ja außer sich bei der Welt. Aber gleich richtig läßt sich folgern: Insofern ein Nicht-Ich gesetzt ist, ist auch ein Ich gesetzt; denn das Vorstellen von Welt bleibt ja ein Ich-stelle-vor. Die Entgegensetzung zum Ich behält zur Voraussetzung die Identität des Ich. Und so negiert der Satz des Gegensetzens sich selbst. Aber mit gleichem Recht kann gefolgert werden: Er negiert sich nicht. Er hebt sich ja nur auf, wenn das Entgegensetzen Gültigkeit hat und durch das Ich selbst vollzogen wird. Das Selbstbewußtsein kann mithin ohne Entgegensetzen nicht sein und im

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bloßen Entgegensetzen nicht währen. Ohne die entschlossene Zuwendung der Welt bliebe es leer, in der radikalen Zukehr zur Welt wird es blind. Die Durchgliederung des zweiten Grundsatzes bringt somit den gravierenden Widerspruch zwischen Ich und Nicht-Ich, Geist und Natur, Subjekt und Objekt, Intelligenz und Ding im Entgegensetzen zutage. Der in ihm aufbrechende Widerspruch von Sein und Nichtsein schlägt auf das absolute Subjekt des ersten Grundsatzes zurück, sobald sich dieser mit dem zweiten verknüpft. „Wenn es sich mit dem zweiten Grundsatz so verhält, so verhält es sich auch mit dem ersten nicht anders. Er hebt sich selbst auf, und er hebt sich auch nicht auf" (GL § 3 A 5; 269). Damit gerät auch das unerschütterliche Fundament allen Wissens in die Zweideutigkeit von Realität und Negation. Der hypothetische Obersatz des Schlusses lautet: Wenn Ich = Ich gilt, so ist alles gesetzt, was im Ich gesetzt wird. Sein bedeutet eben, im Ich gesetzt und als Gegenstand des Bewußtseins zur Vorstellung gebracht zu werden. Der Untersatz besagt: Der zweite Grundsatz ist im Ich gesetzt und auch nicht gesetzt. Dem Ich wird bewußt, daß der Gegensatz und Widerspruch in der Entgegensetzung von Welt auf es zukommt. „Mithin ist Ich nicht = Ich, sondern Ich = Nicht-Ich, und Nicht-Ich = Ich" (GL § 3 A 5; 269). Diese erschlossene Antistrophik zur Urstrophe der Freiheit läßt sich am ehesten so aufschlüsseln: Das Ich sieht im Bewußtwerden des absoluten Gegensatzes ein, daß es nicht das all-reale Absolute ist (Ich nicht = Ich). Sofern nun der Grundsatz des Gegensetzens im Bewußtsein vorherrscht, herrscht auch die Vorstellung, durch das vorgestellte Nicht-Ich bestimmt zu sein (Ich = Nicht-Ich). Sofern dagegen der zweite Grundsatz nicht zum Bewußtsein kommt, wenn mithin das Entgegengesetzte nicht aus der apriorischen Funktion des Ich verstanden ist, wird das Entgegenstehen des Nicht-Ich so total, daß das Ich prinzipiell dem ihm vorausgesetzten Sein erliegt (Nicht-Ich = Ich). Diese Folgerungen verlieren sich nicht in verwirrenden Spielereien formaler Analytik, sie dringen konsequent in die ursprüngliche Verfassung menschlichen Daseins ein. Was dabei genetisch freigelegt wird, ist der Widerspruch, der unvermeidlich das Ich selbst überkommt, nämlich der Widerspruch zwischen dem absoluten und dem nichtigen Ich, zwischen Freiheitsbewußtsein und dem Gefühl schlechthinniger Determiniertheit, zwischen Ideal und Wirklichkeit. Weil diese Gegensätze erwiesenermaßen keine dialektische Opposition im Kantischen Verstände bilden, können sie nicht einfach als falsch weggestrichen werden. Sie stehen nicht unter .unstatthaften', sondern unter unzweifelhaft gewissen Voraussetzungen. Wie also

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vereinbaren sich Identität und Widerspruch unter dem Primat von Identität und Freiheit? Damit ist die Aufgabenstellung erarbeitet, aus der die neue Grundbestimmung resultiert. In fehlerloser Folgerung ist offenbar geworden, daß der Mensch widersprüchlichen Wesens ist. Sobald er zu sich kommt und Ich sagt, findet er sich im Geviert von Gegensätzen, im zwiefachen Widerspruch zwischen dem Ich und Nicht-Ich (dem Geiste und der Natur), zwischen dem absolut-idealen und dem endlich-wirklichen Ich (zwischen grenzenloser Freiheit und begrenzender Notwendigkeit). Andererseits existiert und besteht doch der Mensch trotz dieser Widersprüche. Aufgrund der unverrückbaren Identität des Selbstbewußtseins bleibt er mit sich einig. Aus diesem Gegeneinander unleugbarer und unvermittelter Seinsbedingungen also entspringt die Aufgabe, die Bestimmung des Menschen als die Einheit dieser Zweiheit (von Identität und Widerspruch) zu erfassen und als das Wesen, welches in sich widersprüchlich und doch mit sich selbst einig ist, verstehbar zu machen. Was bisher abgeleitet ist und „vollkommen bestimmt durch die obige A u f g a b e " ( G L § 3 Β 4; 269), das ist die Form eines neuen Grundgesetzes. D a s Ich lebt, um zu überleben, notwendig in einer synthetischen Handlung a priori, welche die Identität des Selbstbewußtseins wahrt, indem sie dessen eingeborene Gegensätze schlichtet. Daß ein zusammensetzendes Vergleichen von Widersprüchlichem dem Ich grundsätzlich eignet, ist deduzibel, unableitbar bleibt, wie solche Synthesis beschaffen ist. Den Gehalt des neuen Grundsatzes verkündet ein ,Machtspruch der Vernunft'. Dadurch wird die Grundlegung nicht etwa der Willkür eines selbstherrlichen Gesetzgebers, sondern dem freien Vermögen intellektuellen Anschauens überantwortet, das sich an seinen phänomenalen Sachgehalt bindet, indem es ihn hervorbringt. Der Einblick ins Unbedingte kann nicht andemonstriert, allenfalls kann das Organ des Sehens vorbereitet und geschärft werden. Das geschieht wiederum durch das hinführende ,Experiment' der abstrahierenden Reflexion. Dabei steht jetzt die widerspruchsvolle Gleichung A = —A im Blick, um auf die notwendigen Bedingungen ihrer Möglichkeit hin durchgenommen zu werden. „Wie lassen A und —A, Seyn und Nicht-Seyn, Realität und Negation sich zusammen denken, ohne daß sie sich vernichten, und aufheben?" ( G L § 3 B 5; 269). Der formale Bescheid kann nur lauten: A = —A, wenn sowohl A als auch —A eingeschränkt werden. Dieselbe Auskunft, auf ihren transzendentalen Grund zurückgeführt, sagt: Die Gegensätzlichkeit von Ich und Nicht-Ich kann in der

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Einheit des Ich nur bestehen, sofern das gesetzte Ich und das entgegengesetzte Nicht-Ich eingeschränkt gesetzt sind. Die Synthesis von Identität und Widerspruch ist von der Art des Einschränkens. Der gesuchte Gehalt, der die ursprüngliche Synthesis menschlichen Bewußtseins qualifiziert, ist die Schranke. Mit diesem Fund sieht sich das Selbstbewußtsein erstmals im Horizont seiner Endlichkeit. Es erfährt den Machtspruch der Vernunft als Gebot kritischer Besonnenheit, die Schranke seines Erkennens und Handelns einzuhalten, um nicht an seiner schrankenlosen Selbstmächtigkeit zugrunde zu gehen. Aus der Ableitung der Unableitbarkeit sollte bereits hervorgehen, daß der Begriff der Schranke kein analytischer Begriff ist. Er läßt sich nicht aus den vorliegenden Begriffen ,Vereinigung', ,Realität', .Negation' entwickeln, er erweitert vielmehr den Begriff unseres Geistes durch ein neues, besonderes Gesetz der Vereinigung. Die Schranke sagt: Bis hierhin — und nicht weiter! Ihr Machtspruch gebietet: Bis hierhin reicht die Realität des Ich — aber nicht weiter. Sie schränkt damit das Herrschaftsgebiet des Bewußtseins ein, insofern es alles Nicht-Ich nach den Formen des Vorstellens sein läßt. Und umgekehrt gebietet die Schranke dem Negieren des Nicht-Ich Halt und grenzt dadurch das Gebiet des Seins, sofern es das Bewußtsein determiniert, ein. So hält die Schranke das einander Widerstreitende durch Festlegung eines Limes auseinander und zusammen. Die rettende Schranke garantiert einerseits, daß das Ich und seine Freiheit im Entgegensein des Nicht-Ich niemals ganz erstarren und abgetötet werden können. Sie legt andererseits fest, daß die Negativität des Nicht-Ich und dessen Bindungen an die Setzungen des Ich nicht total negiert werden. Sie verwehrt dem Ich, aus dem Anderssein des Nicht-Ich restlos in sich zurückzukehren. Indessen trifft diese Kennzeichnung die Schranke noch nicht rein als Schranke. Um den Sinn der Schranke rein zu erhalten, muß man von dem abstrahieren, was die Schranke vereinigt, nämlich von Realität und Negation. Allein so kommt das Wie der Vereinigung in den Blick. Was also heißt einschränken? Was besagt ζ. B., jemandes Befugnisse einschränken? Es bedeutet nicht Aufhebung im Sinne gänzlicher Negation und Vernichtung. Befugnisse einschränken besagt doch, diese zum Teil aufheben und den eingeschränkten Teil an Befugnissen auf einen anderen übertragen. „Mithin liegt im Begriffe der Schranken außer dem der Realität, und der Negation noch der der Theilbarkeit" (GL § 3B 8; 270). Das Schrankesein der Schranke ist eine Teilbarkeit (Quantitabilität), nicht etwa eine bestimmte Quantität. Die Schranke bringt nicht eine bestimmte abgeteilte Einteilung auf. Ihre Teilung ist gleichsam beweglich, ihre

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Grenze läßt sich verschieben. Solche Quantitätsfähigkeit darf nicht oberflächlich als die Fähigkeit eines Ganzen genommen werden, verteilt werden zu können. Sie muß als das Vermögen des transzendentalen Ganzen, d.h. der Subjekt-Objekt-Einheit, verstanden sein, teilbares Ich zusammen mit einem teilbaren Nicht-Ich in sich aufzunehmen. Somit ist die Form des dritten Grundsatzes ermittelt. Sie besagt ein Zusammensetzen im Sinne der Synthesis als Vereinigung von Entgegengesetzten. Und auch der Gehalt des Grundsatzes ist .experimentell' gefunden, nämlich die Schranke im Sinne der Teilbarkeit von Ich und Nicht-Ich. Damit schließt das Geschäft einer Grundlegung ab. Die drei einzig möglichen Grundsätze sind entdeckt und systemgerecht in der Triplizität von Thesis, Antithesis und Synthesis zusammengestellt. Und so hat die Dreigliedrigkeit der obersten Sätze erreicht, worauf die Spitze der Aenesidemus-Rezension abzielte, nämlich den Satz des Bewußtseins als dialektisches Satzgefüge durchsichtig zu machen31. Der erste, schlechthin unbedingte Grundsatz ist das thetische Urteil: Das Ich setzt sich schlechthin selbst — Ich bin. Der zweite, der Form nach unbedingte Satz erhebt den Widerspruch: Das Ich setzt sich schlechthin ein Nicht-Ich entgegen. Der dritte, dem Gehalte nach unbedingte Satz spricht deren Synthesis aus: Das Ich setzt ein schlechthin teilbares Nicht-Ich und ein schlechthin teilbares Ich zusammen. „Die Masse deßen, was unbedingt, und schlechthin gewiß ist, ist nunmehr erschöpft" (GL § 3D; 271), nämlich die Freiheit der Selbstbestimmung, die Entgegensetzung der Weltzuwendung, die 31

Unzweifelhaft ist die frühe Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre aus der Aufgabe erwachsen, das Reinholdsche Programm eines Vernunftsystems gegen den Skeptiker Aenesidemus-Schulze zu verteidigen und die in solcher Skepsis sichtbar gewordenen Schwächen im dreigliedrigen Reinholdschen ,Satz des (theoretischen) Bewußtseins' durch eine Reduktion auf höhere und umfassendere Grundsätze aufzufangen. Die Überholung betrifft vor allem die bloß empirische Gültigkeit dieses Satzes als Ausdruck einer Tatsache, den analytischen Charakter des Reinholdschen Axioms und die Unbestimmtheit der implizierten Begriffe des Unterscheidens und Beziehens. Ohne auf die eindringliche neuere Forschung einzugehen (vgl. H. Spickhoff, Die Vorstellung in der Polemik zwischen Reinhold, Schulze und Fichte 1792 — 94. Diss. München 1961 und U. Claesges, Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Systems in Fichtes W. L. 1794/95. Den Haag 1974), sollte deutlich geworden sein: Die dreigestufte Basis der Wissenschaftslehre ist nicht durch das Gefüge der Reinholdschen Systembildung vorgebildet. Fichtes originaler Entwurf entsteht nicht zuletzt durch das Methodenkonzept einer dialektischen Verlebendigung des synthetischen Bewußtseinsaktes. Er läßt Reinholds Letztbegründung, die analytische, eingeengte und ableitbare Tatsache des Bewußtseinssatzes, weit unter sich. Indem Fichte darauf insistiert, daß der Akt des Bewußtseins qua Ich eine Synthesis bildet, „und zwar die höchste Synthesis, und den Grund aller möglichen übrigen" (REZ I, 2; 45), eröffnet sich der dialektische Weg; denn wie „ist Synthesis denkbar, ohne vorausgesetzte Thesis, und Antithesis?" (REZ I, 2; 45).

Riickgründung der Methode ins Leben

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Endlichkeit der Schranke. Was ausgeschöpft wurde, ist die dialektische Grundstruktur beschränkten Daseins auf dem Gewißheitsboden endlichen Selbstbewußtseins. Es war die Dialektik Kants, welche die Termini von Grenze und Schranke für die Wahrung der Ich-Einheit vor der dogmatischen Veruneinigung mit sich selbst, aber auch vor dem ihr innewohnenden, unvermeidlichen zweiseitigen Ding-Bezug aufgeboten hatte. Aber diese Grundworte bleiben innerhalb der Logik des natürlichen Scheins Sinnbilder zur Veranschaulichung unserer Erfahrungsgebundenheit. Die Metaphern für das unerschließbare Faktum unserer Endlichkeit werden erst zum Begriff, wenn das Einschränken als diejenige synthetische Handlung a priori eingerichtet ist, durch die sich menschliche Endlichkeit dialektisch konstituiert. Kants Genieblick hat einer solchen Grundlegung den Grund und Boden angewiesen, ohne ihn selbst zu betreten. (Er ist darin gleichsam der Moses für die ins gelobte Land der Systeme einwandernde dialektische Philosophie der Neuzeit.) Die Wissenschaftslehre begreift die Schranke als das unableitbare Faktum endlichen Bewußtseins, das die Synthetisierung seiner äußersten Gegensätze ermöglicht und den Zusammenhang von Ich und Nicht-Ich, von zugleich freiem und zugleich gänzlich determiniertem Ich wahrt. Der Inhalt des dritten Grundsatzes macht evident, daß allein die Aufteilungen der Schranke das Ich in der ontologischen Opposition von Realität und Negation, von Sein und Nichtsein bestehen lassen. Solcher Limes begründet und proklamiert ein System limitativer Dialektik.

2. Kapitel: Die dialektische Einheit in der Dreiheit. Über die Riickgründung der Methode ins Leben Im großen und ganzen ist die Frage nach der Einheit in der Vielheit oberster Seinsbestimmungen entweder analogisch oder panlogisch oder dialogisch beschieden worden. Das Ausdenken der Einheit hat gelernt, entweder in Entsprechungen des Vielen zum wahrhaft Einen gemäß einem der vielfachen Muster der Analogie zu denken, oder es hat sich ermessen, die Entäußerung der All-Einheit in die Vielheit auf dem Wege emanativer Logik (ζ. B. more geometrico) zu fixieren. Der dritte große Denkweg eröffnet sich in einem dialogischen Durchsprechen des Vielen auf die Einheit seiner grundsätzlichen Gegensätze hin. Solch dialektische Methodos gründet im Leben einer Einheit, die durch den Widerspruch zur Aus-

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faltung des Reichtums ihrer selbst bewegt wird. Es ist, vorläufig und grob gesprochen, die Erfahrung des daseienden Widerspruchs, die in das Leben einer sich zugleich einigenden und entgegensetzenden Einheit von Thesis und Antithesis und zum Aufschluß immer verwickelter und reicher werdender Synthesen führt. Ganz offenkundig kann die Analyse der ursprünglichen Einheit des Selbstbewußtseins in die Dreiheit seiner Grundsätze solche Erfahrung machen. Und es wird sich erweisen, daß das Problem von Zusammenhang und System in der Dreiheit von Grundsätzen, und das heißt zugleich die Frage nach der Bedeutung von Einheit und Sein, sich auf dem Boden des Selbstbewußtseins nur dialektisch bewältigen läßt. Solange die Philosophie sich im Horizonte des Ich bewegt, ist ihre Methode dialektisch, weil das, worüber sie philosophiert, dialektisch ist. Die Art und Weise der Dialektik aber wird sich nach dem Sinn richten, in welchem das Selbstbewußtsein, seine Einheit und sein Sein, zur Sprache kommen. Fichtes ,Grundlage' hat das Ich in seiner dreifachen Wurzel von Freiheit, Welthaftigkeit und Endlichkeit grundsätzlich aufgefunden, den Widerspruch im Geviert der Gegensätze von Subjekt und Objekt (Intelligenz und Ding), Endlichkeit und Unendlichkeit (absolutem und beschränktem Ich) genetisch geortet und die Aufhebung des Widerspruchs in einer Synthesis der Schranke ergründet. Nun prägt die Art der ersten Synthesis die Form der Dialektik. Fichtes synthetische ,Herabsetzung' von Ich und Nicht-Ich und das methodische ,Herabsteigen' von den absoluten Gegensätzen zum Begriff der gegenseitigen Einschränkbarkeit und zur Urhandlung der Limitation wird es rechtfertigen, die Dialektik des Selbstbewußtseins, sofern sie Grundlage einer kritisch-besonnenen Wissenschaftslehre ist, limitative Dialektik zu nennen. Ihr Charakter könnte bereits deutlicher werden, wenn sie von der transzendentalen Dialektik der Vernunftkritik abgehoben wird. Auch Kants Logik des natürlichen Scheins löst ja die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit durch Einschränkung auf. Aber in ihr soll lediglich der Schein eines Widerspruchs aufgelöst werden. Zwar gehört der aufkommende Widerspruch unvermeidlich zur Natur der menschlichen Vernunft, aber er macht nur die Illusion ihres Lebens aus. Sonach bedeutet der Widerspruch für die Venunft die Gefahr einer selbstzerstörerischen Beirrung. Darum sucht eine Kritik der reinen Vernunft den Widerspruch als Widerstreit durch besonnene Selbsteinschränkung zu entmachten. Die limitative Dialektik der Wissenschaftslehre dagegen denkt nicht daran, den Widerspruch im Selbstbewußtsein selber auf die Seite zu bringen, sie

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unternimmt es, ihn ins Leben des Ich zu integrieren. Nur so gewinnt das Ich-denke den gehörigen Charakter der Lebendigkeit. Und allein dadurch können mit Recht Leben und Bewußtsein terminologisch gleichsinnig gebraucht werden (was die Wissenschaftslehre auch tut). Das Selbstbewußtsein ist Leben, dieweil es im dreifachen Pulsschlag von Setzen, Entgegensetzen und einschränkendem Zusammensetzen währt und sofern die Unruhe des Widerspruchs und die Handlung der Antithesis von den Grundhandlungen der Thesis und der Synthesis nicht abgetrennt, sondern in die organische Einheit der Dreiheit gesetzt sind. Das Ich „soll demnach, so gewiß es ein Ich ist, das Princip des Lebens und des Bewußtseyns lediglich in sich selbst haben" (GL §5, II; 406). Und erst auf dieser Grundlage erhält eine vorherrschende Vorstellung von menschlichem Leben und Tod ihre zureichende Rechtfertigung. Wird das Selbstbewußtsein verbindlich von seiner Lebendigkeit und wird das menschliche Dasein vom Selbstbewußtsein her ausgelegt, dann heißt Leben, im Zustande des Bewußtseins und im Stande von Vorstellungen sein. Und der Tod bedeutet dann für den Menschen nichts anderes als die Auslöschung seines endlichen Bewußtseins, sei es ins Nichts, sei es — als Negation der Endlichkeit — ins höhere, absolute Leben und Bewußtsein. Für eine Besinnung auf Ursprung und Recht der Dialektik kommt demnach alles darauf an, das tote Schema der Triplizität ins Leben zurückzugründen. Daraus erwächst die Aufgabe, das lebendige Durcheinander des Selbstbewußtseins, welches die Zergliederung des philosophierenden Bewußtseins auseinandergeteilt und in ein Nacheinander versetzt hat, in seiner organischen Einheit durchsichtig zu machen. Diese Reflexion auf die Unabtrennlichkeit der drei Grundvollzüge des Ich-Lebens — in Abstraktion von unserer trennenden Nachkonstruktion — hält sich an den Leitsatz: „So wenig Antithesis ohne Synthesis, oder Synthesis ohne Antithesis möglich ist; eben so wenig sind beide möglich ohne Thesis" (GL § 3 D 7; 276). Ein nachkonstruierendes Durchlaufen dieses Satzes wird die behauptete organische Einheit in ihren einzelnen Bezügen zu verfolgen haben. Dabei können die Unzertrennlichkeit und Wechselbestimmung der Glieder in einer dreifachen Artikulation herausgehoben werden. 1. Die Thesis ist nicht möglich ohne Antithesis und Synthesis, und umgekehrt. Beide sind nicht möglich ohne Thesis. 2. Die Antithesis ist nicht möglich ohne Synthesis und Thesis. 3. Die Synthesis ist nicht möglich ohne Thesis und Antithesis.

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Und es sollte vorausgeschickt werden: Erst dieser Nachweis der unabtrennlichen, lebendigen Einheit des Ich schützt davor, einzelne Glieder und Grundsätze abzutrennen und zu verabsolutieren. Werden nämlich die Thesis und ihr Subjekt, das absolute Ich, abgeschnitten, dann erhält das reine Ich das Ansehen Gottes und die kritische Philosophie den Charakter einer halbherzigen Theologie. Löst sich die Antithesis, also die unbedingte Entgegensetzung des Nicht-Ich, aus ihren Zusammenhängen, dann fällt auf den Kritizismus der Vorwurf der Dogmatisierung zurück. Kapselt sich die Grundlage auf die Synthesis der Schranke ein, dann gerät der Ansatz des Ich gänzlich unter die Botmäßigkeit einer bornierten Endlichkeit und der Idealismus in den Ruf eines versteckten Empirismus und Eudämonismus. Die begriffliche Anstrengung der Wissenschaftslehre müht sich damit ab, die Unzertrennlichkeit in der Lebenseinheit menschlich-endlichen Selbstbewußtseins nachzuweisen, um vorsorglich eine Theologisierung, Dogmatisierung und Empirisierung des Ich-Wesens zu bannen. Die Mühe hat wenig gefruchtet. Nun scheint ja auch prima facie nichts einleuchtender als die Ansicht, das Ich der Thesis sei eben an die Stelle gerückt, an welcher in der überlieferten Philosophie Gott steht; denn trägt das absolute Ich nicht die drei großen Namen, die den Gott der Philosophen — nicht zuletzt in der Neuprägung Spinozas — benennen, nämlich ens realissimum, causa sui, έν και πάν? Kommen denn dem Ich im thetischen Urteil ,Ich bin* nicht die Attribute der All-Einheit, der All-Realität und des All-Grundes zu? In der Tat scheint das Ich = Ich eine adäquate Formel des ,Eins und Alles" zu bilden. Nach dieser Urgleichung ist alles, was seiend ist, eben nicht nur in und durch das Ich gesetzt, es ist selber Ich. „Alles in ihm ist Ein und ebendasselbe Ich" (GL §5, II; 399). Und hat nicht die Herleitung der Kategorie der Realität aus der Handlungsart des absoluten Ich zum Resultat: Alles Seiende kann nur dadurch objektiv real heißen, d. h. in Wirklichkeit mit sich selbst übereinstimmen, „daß aus dem Ich Realität darauf übertragen werde" (GL § 1; 262)? Das will doch sagen: Es gäbe in Wirklichkeit nichts Reales (mit sich Selbiges), sondern nur ständig von sich Unterschiedenes, wenn das Objekt nicht in den Bezug zur urrealen Identität, dem Setzen des absoluten Subjekts als Sich-mit-sich-identischSetzen, einbehalten bliebe. So wird alle aktuale Realität dem Ich geschuldet, und das absolute Subjekt rückt an die Stelle des ens realissimum. Wird dessen Identität als die Selbigkeit in allem begriffen, dann müßte doch die Vernunft zur Gewißheit kommen, alle Realität zu sein. Und hat schließlich nicht gerade die Ableitung des Satzes vom Grunde zum Ergebnis, das Urteil ,Ich bin Ich' sei grundlos?

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Wirklich konnte die Wissenschaftslehre in einer glänzenden Revision zeigen: Das logische Axiom vom zureichenden Grunde ist ein Abstraktionsprodukt des dritten transzendentalen Grundsatzes ,Ich zum Teil = Nicht-Ich und umgekehrt'. Diese Synthesis stellt sich, wird von ihrer Materie (teilbarem Ich und teilbarem Nicht-Ich) abgesehen, in der Form ,A zum Teil = —A und umgekehrt' auf und betrifft formal jegliches Seiende, sofern es sich überhaupt zu einem Anderen als von ihm Unterschiedenen verhält. Der Bezug von Etwas zu Etwas ist begründet, wenn er zugleich einem Unterscheidungs- und einem Beziehungsgrund entspricht; denn nur durch einen Beziehungsgrund wird Ungleiches richtig einander gleichgesetzt und erst durch einen Unterscheidungsgrund entgegengesetzt. Aus solcher Genealogie des logischen Satzes vom Grunde folgt, daß er nur für einen Teil unserer Erkenntnis gilt. Er gilt nicht für die Selbsterkenntnis des absoluten Subjekts. Diesem kann nichts anderes gleich- und entgegengesetzt werden, weil es nur mit sich selbst gleich ist. „Es hat keinen Grund, sondern es giebt selbst den Grund alles begründeten an" (GL § 3 D 2; 273). Ist also der Anfangsgrund im System der Wissenschaftslehre nicht das menschlich-endliche, sondern ein göttlich-absolutes Ich und der Mensch zwar Selbstbewußtsein, aber das Selbstbewußtsein nicht menschlich, sondern göttlich? Wie es mit der Bedeutung der anfänglichen absoluten Einheit, d. i. mit dem Sinn von Sein innerhalb eines Systementwurfes steht, tritt erst am Ende heraus. In der Geschlossenheit eines Systems bewahrheitet sich der Anfang allein im Abschluß zum Ganzen. Eine systemgerechte Auslegung muß folglich den Anfangsgrund vom Ende her verstehen, um ihn nicht von Anbeginn an zu verfehlen. Nur im Vor- und Durchblick auf das Ganze können Antizipationen bemerkt werden, welche die Eingangsthese richtungweisend begleiten. Solche Winke sind der Thesis durch eine zweifache Voraussage mitgegeben: Die absolute Einheit des Ich hat nicht den Seinscharakter der Wirklichkeit — Sein heißt Sollen. Die versprochene All-Einheit ist „an sich unmöglich" (GL § 3 D 7 ; 276), sie ist eine Idee, welche „selbst nicht denkbar ist, indem sie für uns einen Widerspruch enthält" (1. c.; 277). Die logische Unmöglichkeit zeigt sich, sobald die All-Einheit als Wirklichkeit des Ich gedacht werden soll. Im Hinblick auf das Ich widersprechen Wirklichkeit und unterschiedslose Einheit einander. Das Selbstbewußtsein ist immer erst in der Einheit des Unterschiedes von Bewußtsein und Gegenstand da. Die Wirklichkeit des Ich kommt erst in der Synthesis einer limitativen Zusammensetzung der Gegensätze von Denkendem und Gedachtem zustande. Die Idee eines

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daseienden Ich, in dem der Unterschied zum Nicht-Ich, zum Ungeist und zur Unfreiheit von Umwelt und Mitwelt gänzlich aufgezehrt und verschwunden ist, ist nicht nur utopisch, sondern logisch unmöglich. Solcher Widerspruch bedeutet umgekehrt zugleich für die All-Einheit Gottes eine Einschränkung. Ihr kann kein Selbstbewußtsein (und folglich kein personales Sein) zugesprochen werden. Die unterschiedslose Identität Gottes und das Dasein des Selbstbewußtseins widersprechen einander. Diese Antizipation des Atheismus-Streites leugnet nicht etwa das Sein göttlichen Lebens und Lichts, sie trennt lediglich in kritischer Entschiedenheit die göttliche Einheit von der Einheit des Selbstbewußtseins. Gottes Selbstbewußtsein bleibt uns ewig unerklärlich und unbegreiflich. „Da . . . in Gott das reflektirte Alles in Einem, und Eins in Allem, und das reflektirende gleichfalls Alles in Einem, und Eins in Allem seyn würde, so würde . . . das Bewußtseyn selbst, und der Gegenstand desselben sich nicht unterscheiden lassen, und das Selbstbewußtseyn Gottes wäre demnach nicht erklärt" (GL § 5, II; 407). Obwohl also die Thesis nicht die Wirklichkeit der absoluten IchEinheit ausspricht, spricht sie auch nicht von etwas Unwirklichem, „wie sich zu seiner Zeit zeigen wird" (GL § 3 D 7; 276). Was sich in den methodischen Gängen einer limitativen Dialektik erweisen wird, ist der Primat der praktischen Vernunft und der in ihm vorherrschende Sinn von Sein, Sein als Sollen. Die absolute Einheit (Ich = Ich) ist nicht wirklich, sondern gesollt. Sie definiert nicht die Bestimmung Gottes als ens perfectissimum sive realissimum, sondern die Bestimmung des Menschen zur Perfektibilität. Die restlose Ubereinstimmung von Subjekt und Objekt bedeutet nicht das gegebene Unbedingte, sondern eine unbedingte Aufgabe. Sie formuliert eine Forderung, die an den menschlichen Willen, mithin an die praktische Vernunft als innerste Wurzel des Ich, ergeht. „Jene Forderung, daß alles mit dem Ich übereinstimmen, alle Realität durch das Ich schlechthin gesezt seyn solle, ist die Forderung dessen, was man praktische Vernunft nennt" (GL § 5, II; 399). Solcher Forderung, das Anders- und Ungleichsein von Umwelt und Mitwelt der absoluten Freiheit anzugleichen, entspricht dem Streben der praktischen Vernunft, im Ungeist von Natur und Menschenwelt die Verfassung des Geistes einzurichten, die Freiheit ohne Zwang, die Menschlichkeit ohne Entfremdung zu verwirklichen, mit dem klaren Bewußtsein, daß diese Arbeit des Geistes wesensmäßig unvollendbar ist. So gedacht, ist die Idee vom Reiche der Freiheit nicht unwirklich und utopisch, sondern als wahrhaft weltbewegende Forderung wirksam.

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Zum Abschluß einer Dialektik der praktischen Vernunft kommt also der anfänglich verkündete Doppelsinn von Einheit und Sein ins klare. „Hier erst wird der Sinn des Satzes: das Ich setzt sich selbst schlechthin, völlig klar. Es ist in demselben gar nicht die Rede von dem im wirklichen Bewußtseyn gegebnen Ich; denn dieses ist nie schlechthin, sondern sein Zustand ist immer, entweder unmittelbar, oder mittelbar durch etwas ausser dem Ich gegründet; sondern von einer Idee des Ich, die seiner praktischen unendlichen Forderung nothwendig zu Grunde gelegt werden muß, die aber für unser Bewußtseyn unerreichbar ist" (GL § 5, II; 409). Diese aufgeklärte Bedeutung von Einheit und Sein hat die Aufstellung der Thesis angekündigt. Der erste Grundsatz spreche nicht vom Gott der Philosophen, folglich nicht von der substantia unica im Demonstrationsstil Spinozas. „Seine höchste Einheit werden wir in der Wissenschaftslehre wieder finden; aber nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann" (GL § 1; 264). Erst solchem Uberdenken der Thesis klärt sich der Zusammenhang mit den anderen Satzungen der Ichheit vollständig auf. So läßt sich zunächst zeigen: Beide, Antithesis wie Synthesis, sind nicht ohne Thesis möglich. Ohne die Voraussetzung der Ich-Einheit fehlte die Geschlossenheit eines Systems. „Daß überhaupt ein System seyn solle, gründet sich auf die absolute Thesis" (GL § 3 D 7; 276). Das leuchtet darum ein, weil Entgegensetzen und Zusammensetzen ohne die Subjekt-Objekt-Identität nicht Handlungen desselben Ich-Subjekts und das Entgegen- und Zusammengesetzte nicht Objekt unseres Bewußtseins wären. Und von der vorgemerkten Seinsbedeutung des Sollens her wird begreiflich, warum die Thesis nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit der Vereinigung aufbringt. „Die Nothwendigkeit, überhaupt zu verbinden, beruht auf dem ersten, höchsten, schlechthin unbedingten Grundsatz" (ibid.). Natürlich gründet das Wie der Vereinigung (die Aufhebung durch Einschränkung) in der Synthesis, daß aber überhaupt verbunden werden muß, liegt an der Thesis. Die Entzweiungen, Widersprüche, Antagonismen des Menschen und deren unentwegtes Schlichten, Ausgleichen, Versöhnen sollen zu einer absoluten Einheit gebracht werden. Auch diese Nötigung kann nur von der Bestimmung und Aufgabe des Menschen her richtig gedeutet werden. Die Thesis eröffnet dem menschlichen Willen das letzte Wohinein systematischer Vereinigung seiner Gegensätze, so daß der Mensch den Widerstreit, in dem er keinen Zusammenstand mit sich selbst, den anderen und der Welt gewinnt, aufheben und eine Einheit aus wirklicher Vernunft erstreben kann.

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Das Bedingungsverhältnis läßt sich umkehren. Die Thesis ist nicht möglich ohne die beiden Setzungen von Antithesis und Synthesis. Und erst in diesem untrennbaren Zusammenhang kommt das Wesen der kritischen Philosophie zutage. „Darin besteht nun das Wesen der kritischen Philosophie, daß ein absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts höheres bestimmbar aufgestellt werde und wenn diese Philosophie aus diesem Grundsatze konsequent folgert, so wird sie Wissenschaftslehre" (GL § 3 D 8; 279). Das ist ein mißdeutbares Diktum. Deutlich ist die kritische Abgrenzung. Philosophie ist Wissenschaft des Wissens. Sie hat nichts als das Wissen, die Einheit von Wissendem und Gewußtem, zu ihrem ,Objekt', und sie kann darum nichts von An-sich-Seiendem wissen, weder von Gott noch von einem Ding an sich. Eine methodisch besonnene Philosophie, d. h. die Wissenschaftslehre, steigt folglich nicht Vom Grundsatz des ,Ich bin' zu einem höheren Absoluten hinauf, sie steigt folgerichtig hinab, und zwar zur Wirklichkeit endlich-menschlichen Selbst- und Weltbewußtseins. In solches Herabsteigen hat Fichte ausdrücklich den eigentümlichen Charakter des kritischen Systems verlegt. „Das Ich wird selbst in einen niedern Begriff, den der Theilbarkeit, herabgesezt, damit es dem Nicht-Ich gleich gesezt werden könne; und in demselben Begriffe wird es ihm auch entgegengesezt. Hier ist also kein Heraufsteigen, wie sonst bei jeder Synthesis, sondern ein Herabsteigen. Ich und Nicht-Ich, so wie sie durch den Begriff der gegenseitigen Einschränkbarkeit gleich und entgegengesezt werden, sind selbst beide etwas (Accidenzen) im Ich, als theilbarer Substanz" (GL § 3 D 8; 279). Fichte erläutert dieses Verfahren vom Urteilscharakter der Thesis her. Der Satz ,Ich bin' bildet das Exemplar eines thetischen oder unendlichen Urteils. In ihm wird nicht etwas mit etwas dadurch gleichgesetzt, daß sie auf ein gemeinsames Höheres (das genus proximum) bezogen sind wie in synthetischen Urteilen. Der thetische Satz ,Ich bin' setzt das Ich bloß mit sich selbst gleich und läßt die Stelle des Prädikats für eine mögliche Bestimmung des Ich ins Unendliche leer. Darin liegt die handfeste Angewiesenheit des absoluten Ich auf eine Entgegen- und Zusammensetzung. Sonst bliebe das Ich leer. Es findet zu seiner Seinserfüllung allererst dann, wenn es in die endliche Wirklichkeit menschlichen Selbstbewußtseins einbezogen und vom leeren, absoluten Prinzip zum lebensvollen Moment herabgesetzt wird 32 . 32

Zur Kontroverse über die dialektische Position des 3. Grundsatzes in der neueren Fichte-Forschung vgl. W . Rod, Dialektische Philosophie der Neuzeit I, 84—98. Danach bestehe der dialektische Charakter der Methode in der Isolation von Momenten einer

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Die Thesis der , Grundlage' ist also gerade nicht als ein caput mortuum der Abstraktion vom lebendigen Dreischlag menschlichen Bewußtseins abgetrennt und einer hyperbolischen Vergöttlichung des Menschen verfallen. Im Seitenblick auf den ,konsequenten Stoizismus' und dessen Ideal des Weisen als eines ,allgenugsamen und unbeschränkten' Bewußtseins durchstreicht Fichte die Vergottung des absoluten Ich und bezieht es ausdrücklich auf das wirkliche Dasein des Menschen zurück. „Nach der stoischen Moral sollen wir nicht Gott gleich werden, sondern wir sind selbst Gott. Die Wissenschaftslehre unterscheidet sorgfältig absolutes Seyn und wirkliches Daseyn, und legt das erstere bloß zum Grunde, um das letztere erklären zu können" (GL § 5, II; 410)33. Zerstört dieser Nachweis eine unangemessene Theologisierung, so kann die Nachrechnung der Antithesis in ihrer untrennbaren Einheit mit Thesis und Synthesis den Vorwurf entkräften, die Wissenschaftslehre sei von Anbeginn an ein versteckter Dogmatismus. Solche Einrede vereinseitigt den zweiten Grundsatz, der schlechthin unvermittelt das Ding an sich unter dem Titel eines Nicht-Ich und Anstoßes als das Unbedingte aufstelle. Und es erstaunt nicht, daß die Gefahr des Dogmatismus von Seiten der Hegeischen Dialektik beschworen wird, die den theologischen Ansatz der Thesis nicht genügend ausgefaltet findet. Dagegen schützt die Einsicht, daß die Antithesis kein abtrennbares Prinzip und ohne Thesis und Synthesis unmöglich ist. Daher ist noch einmal der Teilsatz zu artikulieren, die Antithesis sei nicht ohne Thesis. Hierfür braucht nur daran erinnert zu werden, daß sogar die Form der Entgegensetzung unter einer dreifachen Voraussetzung der Ich-Identität bleibt und daß ihr Produkt, das Nicht-Ich, so wenig ein Ding an sich bedeutet, daß es von dem geprägt ist, dem es entgegensteht.

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Beziehung mit dem Ziel, ihre Isolation als bloß provisorisch erkennen zu lassen, weshalb eben erst der Grund der Synthesis von Ich und Nicht-Ich absolut sei. Dagegen H . Radermacher, Fichtes Begriff des Absoluten, S. 34: Der 3. Grundsatz habe genau den Stellenwert, das dialektische Verfahren als eine Methode zu charakterisieren, die vermeidbar ist. Diese Beurteilung kann die Unvermeidbarkeit von Thesis und Widerspruch in aller Synthesis sachlich nicht ernst nehmen. Dieses Resultat könnte zwei Auslegungen der Fichte-Forschung als Fehlinterpretationen deutlich machen, die Gleichsetzung des absoluten Ich mit Gott und die Abschnürung der Thesis vom Dreischlag des Bewußtseins zu einem toten und .entichten' Moment. Vgl. die einflußreiche Fichte-Kritik von R. Kroner, Von Kant bis Hegel, I.e. 397-445. Dagegen der Widerspruch von W. Weischedel (Der frühe Fichte, 1. c. 36—39), der die Absolutheit des absoluten Ich als Grundvoraussetzung des Menschseins versteht und das scheinbar abstrakte Spiel mit Begriffen überhaupt phänomengerecht auf dem Boden aufweist, auf dem allein sie Wirklichkeit haben, nämlich dem Sein des Menschen.

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Und im Hinblick auf das Nicht des Nicht-Ich ist eben vorwegzunehmen, daß dieses Fremde letztlich nichts als der Anstoß für ein unendliches Streben ist, die absolute Einheit des Ich = Ich herzustellen. Ebenso durchsichtig wird der Zusammenhang von Antithesis und Synthesis, wenn nur die Widersprüchlichkeit der Antithese verbindlich genommen wird. Hebt sich der zweite Grundsatz, auf sich selbst gestellt, auf und nicht auf, dann schwankt der Mensch zwischen Sein und Nichtsein. Er kann ohne Bewußtsein der Welt nicht außer sich und im bloßen Weltbewußtsein nicht zu sich kommen. Weil aber der Mensch nicht im daseienden, sondern im aufzuhebenden Widerspruch menschlich existiert, gehört zu seinem Bewußtsein und Leben die synthetische Einschränkung der Gegensätze. Indem also das kritische System die Entgegensetzung des Dinges gleich ursprünglich wie die Setzung und Zusammensetzung des Ich einbezieht, grenzt es sich von allem Dogmatismus ab. „Im Gegentheil ist diejenige Philosophie dogmatisch, die dem Ich an sich etwas gleich und entgegensezt und dieses geschieht in dem höher seyn sollenden Begriff des Dinges (Ens) der zugleich völlig willkührlich als der schlechthin höchste aufgestellt wird. Im kritischen System ist das Ding, das im Ich gesezte" (GL § 3 D 8; 279). Es bleibt übrig, die organische Verknüpfung der Synthesis mit der Antithesis herauszuheben, um dem Einwand, der kritische Idealismus sei ein Empirismus, zu begegnen. Nun ist klar geworden, daß die Synthesis ohne Entgegensetzung weder im strengen Sinne synthetisch noch wirklich lebendig wäre. Synthesis im dialektischen Vorverständnis besagt doch, Vereinigung von Entgegengesetztem durch Teilbarkeit zu sein. Zu dieser Art Verbindung bedarf es offenbar einer Entgegensetzung von solchem, das teilbar ist. „Die Theilbarkeit ist nichts, ohne ein theilbares" (GL § 3 Β 6; 270). Und ohne Antithese fände das Ich nicht zu seinem wirklichen Leben, d. h. dem Akt des Verbindens, in der Zeit. „Soll ein solches wirkliches Leben möglich seyn, so bedarf es dazu noch eines besondern Anstoßes auf das Ich durch ein Nicht-Ich" (GL § 5, II; 411). Es bedeutet aber die Angewiesenheit der endlichen Synthesis auf eine empirische Erfüllung ihres Lebens nicht, der kritische (formale) Idealismus falle zum Empirismus ab. Die Lebendigkeit des Ich beansprucht immer nur, die Form des Wissens und Seins zu bilden, nicht etwa, ein besonderes, materielles Wissen zu erzeugen. Die Wissenschaftslehre ergründet die Form des Wissens in allen Objekten oder die lebendige Klarheit des Auges und unterbindet gerade den Versuch, ein bestimmtes Gewußtes zu deduzieren und zum Besonderen durchzubrechen. Was die dialektische Grund-

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legung vermag, ist allein, das Erscheinende in seiner Erscheinungshaftigkeit methodisch herzuleiten. Und das geschieht eben durch Rückgründung in die dialektische Form des Selbstbewußtseins. Das Resultat ist noch einmal abzusichern. Keine Synthesis ohne Antithesis und umgekehrt. Beide sind ein und dasselbe, nämlich die Konstitution des endlich-menschlichen Ich, und beide gehen in einem Nu, eines unmittelbar mit dem anderen, vor. Das einschränkende Zusammensetzen kann dem Gegensetzen nicht nachgehen, weil ein uneingeschränktes Gegensetzen im Widerspruch verginge. Und die Verbindung kann der Entgegensetzung nicht vorhergehen, weil die Synthesis Entgegengesetztes und die Teilbarkeit Teilbares braucht. „Also geht sie unmittelbar in und mit ihr vor; beide sind Eins und eben Daßelbe, und werden nur in der Reflexion unterschieden" (GL § 3 Β 7; 270). Der Vorgang von Entgegenund Zusammensetzung geschieht mit einem Schlag. Die Wissenschaftslehre hat diese Bewegung durch die Termini ,schweben* und .Durcheinander' präzise begrifflich expliziert. Das kann hier nur vordeutend angezeigt werden. Etwas Schwebendes ist nicht auf ein Ziel, ζ. B. auf ein Dorthin, gerichtet. Es schwankt aber auch nicht zwischen zwei Polen. Vielmehr befindet es sich gleichsam in einem stehenden Hin und Her, das beide Pole in einem Durcheinander verschwebend auseinander- und zusammenhält. In einer schwebenden Urbewegung bildet das Bewußtsein das Entgegengesetzte auseinanderhaltend ineins und hält das In-eins-Gebildete auseinander. Wird zudem das organische Verschweben mit der Thesis reflektiert, dann kommt zur Evidenz, daß Thesis, Antithesis und Synthesis der eine und selbe untrennbare Lebensvollzug des Ich sind. ,So wenig Antithesis ohne Synthesis oder Synthesis ohne Antithesis möglich sind, ebensowenig sind beide möglich ohne Thesis'34. Dialektik ist Lebendigkeit des Ich. Weil die Einheit der grundsätzlichen Dreigliedrigkeit des Bewußtseins dialektisch ist, darum kann nun auch eine methodologische Explikation den Subjekt-Objekt-Zusammenhang dialektisch entwickeln. Der methodologische Sinn von Dialektik 34

Erst die Lebensbeziehung der drei Grundsätze macht die Selbständigkeit des Ich als Prinzip für die Vorstellung einer selbständigen Welt aus. Diesen Ansatz verkürzt eine Dialektik-Kritik, die unterstellt, daß eine beziehungslose Selbständigkeit wie die des auf sich reflektierenden Ich der Grund für die beziehungsvolle Selbständigkeit der Außenwelt sei. Daraus resultiert der Widerspruch, die beziehungslose Selbständigkeit des Ich sei Beziehung (nämlich Grund) auf eine beziehungsvolle Selbständigkeit (Sein an sich); vgl. H . Radermacher, Dialektik. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. von H . Krings. München 1973 I, 300ff. Diese Überlegung geht vorschnell von der vorläufigen Thesis und nicht von der Grund versprechenden Synthesis des Ich aus.

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folgt dem ontologischen. Die Methode einer Dialektik bezieht ihre Regeln aus der Gesetzlichkeit des Sachgebietes, in das sie eindringt. Daher lautet die regula generalis der Methodenlehre: „Keine Antithesis ist möglich ohne eine Synthesis . . . und so ist auch umgekehrt keine Synthesis möglich, ohne eine Antithesis" (GL § 3 D 4; 274). Diese Regel lenkt das Verfahren der philosophischen Systembildung. Ausgang dieses Weges ist die erste und höchste Synthesis; denn in dieser stellt sich ja das menschlich-endliche Selbstbewußtsein zum erstenmal in einer wirklichen Einheit dar. Die erste Arbeit der Methode besteht in einem antithetischen Verfahren, also in einer „Handlung, da man in Verglichenen das Merkmahl aufsucht, worin sie entgegengesezt sind" (GL § 3 D 3; 273). Methodisches Untersuchen fängt immer damit an, den Widerspruch nicht zu ignorieren, sondern sich auf ihn einzulassen; denn der Widerspruch ist ja in der Synthesis des wirklichen Lebens nicht beseitigt, sondern in ihr einbehalten. „Wir müssen demnach bei jedem Satze von Aufzeigung Entgegengesezter, welche vereinigt werden sollen, ausgehen" (GL § 3 D 6; 275). Also sind in der grundlegenden Synthesis weitere Entgegensetzungen aufzudecken; denn keine Synthesis ist ohne Antithesis. Angesichts der neu herausgegliederten Entgegensetzung aber hat die Methode wiederum synthetisch zu verfahren. Das will sagen, „daß man in Entgegengesezten dasjenige Merkmahl aufsuche, worin sie gleich sind" (GL § 3 D 3; 274). Somit wird der aufgebrochene Widerspruch durch Beibringung eines tieferen Beziehungsgrundes synthetisiert; denn in der Sache ist keine Antithesis möglich ohne Synthesis. Und damit fällt in der Wissenschaftslehre die traditionelle logische Trennung von Analytik und Dialektik, die sich bis in Kants Kritik durchhält, fort, weil antithetisches und synthetisches Verfahren einander bedingen und letztlich in der Sache eins sind 35 . Die Methode findet die Antithesen anfangs rigoros und arm an Bestimmtheit. Durch Limitation aber verlieren sie an Totalität und gewinnen an Bestimmtheit. Sie gehen in immer reicher werdende Wechselbestimmungen über. Im Fortgang der Methode nimmt die Komplexheit der Synthesen zu. Solcher Fortgang von tieferen Antithesen zu immer reicheren und komplizierteren Synthesen setzt sich fort, „bis wir auf 35

Vgl. K. Röttgers, Dialektik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter II, 187ff. Freilich ist die dort vorgelegte Definition der Fichteschen Dialektik als einer .heuristischen Methode unter dem Namen eines synthetischen Verfahrens' ebenso einseitig, wie ihre gebräuchliche Kennzeichnung als analytische Dialektik im Sinne einer antithetischen Logik mißverständlich ist, vgl. R. Kroner, 1. c.; 402 — 403.

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Entgegengesezte kommen, die sich nicht weiter vollkommen verbinden lassen, und dadurch in das Gebiet des praktischen Theils übergehen" (ibid.). Diese Regel zieht die Grenze für das methodische Vorgehen im Gebiete der theoretischen Vernunft. Dieses Sachgebiet verlangt ein vorzüglich synthetisches Verfahren, sofern sich eben in ihm Subjekt und Objekt vollkommen zur Einheit objektiver Erkenntnis zusammenschließen. Sofern sich am Ende dieser Verbindung ein Gegensatz eröffnen wird, der sich nicht mehr vollkommen vereinigen läßt — der Widerspruch zwischen dem theoretischen und dem absoluten Ich —, geht die Methode sach- und systemgerecht in das Gebiet der praktischen Vernunft über. In ihm bildet nunmehr eine ,Hauptantithesis' den beherrschenden Ausgang. Deren Gegensätze sind methodisch zu durchdringen; denn keine Antithesis ohne Synthesis. Und sie müssen wenigstens annäherungsweise in den absoluten Anfang zurückreichen; denn keine Antithesis und Synthesis ohne Thesis 36 . Also entspricht die Methode der Dialektik dem Primat der Ontodialektik. Die Vorgänge der Logik richten sich nach der Wahrheit des Lebens. Zwar ist das Verfahren der Dialektik niemals das Leben und die Entwicklung der Sache selbst, aber es gewinnt nur dadurch Sicherheit, daß es deren Vorschriften folgt. „Und so ist denn unser Gang fest und sicher und durch die Sache selbst vorgeschrieben" (GL §3 D 6; 275).

3. Kapitel: Dialektische Analytik der reinen theoretischen Vernunft. Die regelrechte Deduktion der Kategorien Kraft und Eigenart einer transzendentalen Dialektik des Selbstbewußtseins liegen im Dunkel. Es ist der mächtige Schatten der Hegeischen Vollendungsphilosophie, der sie nie vollständig ans Licht treten ließ. Die Errungenschaften der spekulativen Logik haben die Möglichkeiten einer 36

Die WL nova methodo wird drei Methoden unterscheiden, um eine Sache synthetisch abzuhandeln (vgl. „Uber synthetische Methode einige Bemerkungen"). Allgemein kann derjenige Prozeß synthetisch heißen, in welchem das Ich aus allen Bedingungen seines Bewußtseins dieses sein Bewußtsein selbst konstruiert. Die erste Art des Vorgehens besteht darin, von Widersprüchen auszugehen und diese durch Annahme einer bestimmten Bedingung aufzulösen. Die zweite Art setzt eine Hauptaufgabe voraus, um diese aus mittelbaren Sätzen zu lösen. Die dritte Art geht von einem dunklen und unbekannten Punkte aus, um diesen immer mehr aufzuklären. Die erste Art synthetischer Methode ist in der .Grundlage' befolgt. „Sie ist die schwerste" (WL nova methodo, 440). Nun ließe sich wohl zeigen, daß die zwei anderen Weisen des synthetischen Procedere die erste

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Dialektik des Ich auf dem Boden der Endlichkeit aufgesogen und herabgesetzt. Die Überlegenheit des spekulativen und die Abschätzung des ,idealistischen* Reflexionsweges sprechen sich vorzüglich in zwei Argumenten aus (vgl. den Abschnitt .Gewißheit und Wahrheit der Vernunft' in Hegels Jenaer Phänomenologie)37. 1. Der abstrakte Idealismus baut auf dem schlechthin unbedingten Grundsatz Ich = Ich und spricht darin durchaus die Gewißheit der Vernunft aus, alle Realität zu sein. (Daß das Prinzip des allrealen Ich und seine Identität der vernünftigen, d. h. spekulativen Erkenntnis des Absoluten angehören, das hatte schon die .Differenzschrift' dem transzendentalen Idealismus zugestanden.) Aber die Wissenschaftslehre findet sich nur unvermittelt in dieser Gewißheit, ohne ihren Fund zu begreifen. Ihre Grundlegung hat die Bewegung des Gewordenseins gleichsam im Rücken und das Gesetz der Entstehung — die Dialektik als die unaufhaltsame Aufhebung aller möglichen Gegensätze von Sein und Bewußtsein in die absolute Selbigkeit von Selbstbewußtsein und Sein — nicht vor Augen. „Der Idealismus, der jenen Weg nicht darstellt, sondern mit dieser Behauptung anfängt, ist daher auch reine Versicherung, welche sich selbst nicht begreift, noch sich andern begreiflich machen kann" (PhdG 177). Weil dieser Idealismus sein Prinzip lediglich in der Form einer unbegriffenen Versicherung behauptet, ist er einem grundsätzlichen Prinzip gegenüber hilflos, das mit demselben Anspruch auf unmittelbare Evidenz auftritt und versichert: Es ist Anderes für mich, ich bin mir Gegenstand und Wesen allein unter der Bedingung, daß ich mich auf Anderes beziehe, von ihm losreiße und auf mich zurückwende. In diesem Widerspruch bleibt ein dialektikloser Idealismus hängen.

37

voraussetzen. Die aufzulösende Hauptaufgabe dürfte sich als Hauptantithesis der praktischen Vernunft und der dunkle Punkt als das Anstößige des Anstoßes, die Unableitbarkeit von Leben, Existenz und Realität, herausstellen. Die Entwicklung dieser großen Auseinandersetzung, wie sie sich vor allem in dem von W. Schulz aufs neue erschlossenen Briefwechsel Fichte — Schelling, in der ,Differenzschrift' und in ,Glauben und Wissen' dokumentiert, die durch Fichtes .Bestimmung des Menschen' neue Akzente erhielt, muß hier außer Betracht bleiben. Vgl. dazu die gründliche Untersuchung von L. Siep, Hegels Fichte-Kritik und die W. L. 1804 (1. Teil: Hegels Kritik der frühen W. L.). Freiburg/München 1970; H. Girndt, Die Differenz des Fichteschen und Hegeischen Systems in der Hegeischen .Differenzschrift'. Bonn 1965; dazu K. Düsing, Uber das Verhältnis Hegels zu Fichte. In: Philosophische Rundschau 20 (1973) 50 — 63. Düsings These, daß Hegels grundsätzlicher, in der Differenzschrift auftauchender Einwand methodischer Art sei und sich gegen die unvollständige Synthesis des dritten Grundsatzes der .Grundlage' richte, verdient zustimmende Beachtung.

Dialektische Analytik

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2. Der Idealismus hat mit seiner Grundtatsache Ich = Ich zwar die ,einfache Kategorie', die absolute Realität, glücklich gefunden, aber er kann sie nicht gebrauchen. Er verkennt nämlich ihr absolut negatives Wesen, die sich bestimmende Einheit von bestimmtem Unterschied und NichtUnterschied. Darum bleibt er unfähig, die ursprüngliche Einheit der Apperzeption so in die Vielheit der Kategorien zu entwickeln, daß diese die bestimmten Unterschiede des Einen und Selben bilden. „Indem der Idealismus die einfache Einheit des Selbstbewußtseins als alle Realität ausspricht und sie unmittelbar, ohne sie als absolut negatives Wesen — nur dieses hat die Negation, die Bestimmtheit oder den Unterschied an ihm selbst, — begriffen zu haben, zum Wesen macht, so ist noch unbegreiflicher als das erste dies zweite, daß in der Kategorie Unterschiede oder Arten seien. Diese Versicherung überhaupt, so wie die Versicherung von irgendeiner bestimmen Anzahl der Arten derselben ist eine neue Versicherung" (PhdG 178-79). Die äußerliche, dialektiklose Deduktion der Kategorien, vor allem natürlich ihre Artbestimmung am Leitfaden der Urteilstafel, ist eine Schmach der Wissenschaft. Solcher Stoß gegen ,den Idealismus' war tödlich. Jedenfalls hat er faktisch den Transzendentalismus aus dem Problemkreis der Dialektik als Wissenschaft ausgeschlossen. Fichtes Methode einer Wissenschaftslehre hat seither bestenfalls als vorbereitende Vorstufe für die Entstehungsgeschichte der wahren Dialektik Interesse gefunden38. Es ist an der Zeit, ein Urteil zu revidieren und eine Perspektive zu durchkreuzen, deren Blickpunkt die alles andere herabsetzende Selbstdeutung Hegels ist. Am nachhaltigsten läßt sich Hegels Urteil über das Versagen der idealistischen Methode vielleicht an der vorgeblich bodenlosen Kategorialanalyse der Wissenschaftslehre überprüfen. 38

Das gilt für die halbherzige Einordnung in eine Geschichte der Dialektik von Seiten des philosophischen Materialismus sowohl wie von Seiten des spekulativen Idealismus. Sie wird ihren Formelementen (etwa der Triplizität der obersten Grundsätze oder der belebenden Synthesis der Wechselbestimmung) nach als ahnungsvolle Vorläuferin einer wahren dialektischen Logik geschätzt, ihr sachlicher Anfang und Grund dagegen als einseitiger Subjektivismus und als abstrakt-idealistische, geschichtslose Konstruktion verworfen. Vgl. für den dialektischen Materialismus T. Oisermarin, Die Dialektik in der Philosophie J. G. Fichtes. In: Wissen und Gewissen. Berlin 1962. S. 99ff. Für die Hegeische Position vgl. R. Kroner, Von Kant bis Hegel. 2. Aufl. Tübingen 1961. S. 402 ff. Danach strebe Fichtes analytische Dialektik über die analytische Logik Kants hinaus, ohne zur spekulativen hinzugelangen. Fichte bilde die Antithetik zur Dialektik um, indem er den durch sie entstehenden Widerspruch zum Prinzip des Fortschritts mache, ohne ihn je logisch-spekulativ aufzulösen; denn die absolute Einheit und Identität bleibe eben immer bloß gesollt.

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Limitative Dialektik

Die Lehre von den Kategorien hat vom Organon des Aristoteles bis zur Logik Kants keinen Schritt rückwärts tun dürfen, sie hat auch keinen Schritt vorwärts tun können. Erst die transzendentale Grundlegung des Selbstbewußtseins konnte für die Herleitung und Rechtfertigung der Kategorien einen neuen Horizont eröffnen. Durch sie sind zwei Probleme in Bewegung geraten, die Frage nach der systematischen Entdeckung und Ableitung der Kategorien am Leitfaden der Urteilsfunktionen und nach dem Stellenplan der Urteilstafel (.metaphysische Deduktion') und die Frage nach der Rechtfertigung der reinen Denkbestimmungen qua modi cogitandi in ihrem Anspruch, die Grundbestimmungen der Dinge selbst, also modi essendi, zu sein (.transzendentale Deduktion'). Die Wissenschaftslehre ist der konsequente Versuch, diese beiden Lebensfragen der neuzeitlichen Ontologie auf der Grundlage des Selbstbewußtseins und in der systembildenden Einheit einer durchschlagenden Methode zu befriedigen. Sie gibt dabei unter Berufung auf Kants Vermächtnis den fruchtbaren Anfangsgrund, die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption, in keiner Phase und in keiner Hinsicht der Deduktionen aus der Hand. „Kant hat diese Apperzeption erkannt als Einheit oder Deduktionsgrund aller Denkgesetze oder Kategorien" (Tr. Logik; N W I, 177). Aber der ,unvollständige Idealismus' konnte, weil er die thetisch-antithetische Spannung dieser Synthesis überging, deren Widersprüche und Aufhebungen nicht systematisch entwickeln. Darin aber vollzieht sich gerade die Aufstellung des neuen Kategoriensystems. Kant selbst habe „ein solches System keineswegs aufgestellt", er habe „die von ihm aufgestellten Kategorien keineswegs als Bedingungen des Selbstbewußtseyns erwiesen" (2. Einl., Art. 6; SW I, 478). Darum beginnt die Deduktion der Kategorien in der frühen Wissenschaftslehre mit einer Besinnung auf ihren methodischen Weg. Die Aufgabe besteht darin, die Grundsynthesis (von Ich und Nicht-Ich) systematisch in diejenigen synthetischen Handlungen des Ich zu entfalten, welche, auf den Begriff gebracht, mit Fug und Recht Kategorien heißen. Diesen Methodengang zeichnet die Sache vor. Alle synthetischen Begriffe entstehen durch Vereinigung Entgegengesetzter. Um sie in ihrer Reinheit zu finden, muß die methodische Analyse eben Antithesen innerhalb der ersten Synthesis aufsuchen — nicht etwa erkünsteln; denn es ist ja ein ursprünglich notwendiger antithetischer Grundzug des Ich vorausgesetzt. Weil aber nun keine antithetische Handlung ohne eine synthetische möglich ist, läßt sich von der besonderen Antithesis auf eine bestimmtere Synthesis schließen. Die neue Vereinigung herausgehobener Gegensätze

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wäre somit das Produkt einer synthetisch apriorischen Handlung des Ich selber und der Fund unserer methodischen Reflexion. Solche Herleitung der Kategorien ist lückenlos, wenn die methodische Analyse keinen Widerspruch übersieht. Sie ist gerechtfertigt, weil die Kategorien Handlungen des Ich-denke als Bedingungen der Subjekt-Objekt-Einheit ausdrücken. Sie sind so gewiß, wie die erste Synthesis, die Wirklichkeit menschlichen Selbstbewußtseins, gewiß ist, und sie bilden ein System, sofern alle antithetisch-synthetischen Bezüge nur unter der Voraussetzung der Thesis, also der Einheit der Tathandlung, stehen. „Durch unsre Deduktion aber wird bewiesen, daß es Handlungen, und Handlungen des Ich sind. Nemlich, sie sind es so gewiß, so gewiß die erste Synthesis, aus der sie entwickelt werden, und mit der sie Eins und dasselbe ausmachen, eine ist; und diese ist eine, so gewiß als die höchste Thathandlung des Ich, durch die es sich selbst sezt, eine ist" (GL § 4, 1. Lehrsatz; 284). Eine haltbare Herleitung und Rechtfertigung der Kategorien also resultiert allein aus dem dialektischen Fundus des Ich. „Die Wissenschaftslehre ist nichts Anderes, als die Nachlieferung dieser von Kant schuldig gebliebenen Deduktion" (WL 1812; NW II, 392). Der lange Weg dieser Nachlieferung transzendentaler Kategorialanalyse beginnt mit der Ausfaltung der obersten Vernunft- und Verstandesbegriffe in der frühen ,Grundlage*. Er wird hier nur so weit verfolgt, wie notwendig ist, um die Leistung der Methode sichtbar zu machen und die überspannte Hegeische Polemik zu ernüchtern. Das mag darum nicht überflüssig sein, weil die Erörterungen der Dialektik zumeist solch einzelne Verwicklungen scheuen und sich mit Pauschalurteilen über den Methodenansatz begnügen. Wieviel eine Methode taugt, dürfte indessen allein daran abzumessen sein, was sie in der Tat und nicht dem Programme nach zustande bringt. Für eine solche Verdeutlichung kann bereits eine schematische Markierung der methodischen Mittel und Resultate genügen. In ihr zeichnet sich die fruchtbare Arbeit der limitativen Dialektik hinreichend ab. Im Rückblick auf die neu erstellte Nomothetik des Ich-überhaupt fällt sofort eine Dreiheit von Kategorien heraus, die Trias von Realität, Negation und Limitation. So lauten die auf den Begriff gebrachten Urhandlungen des Ich. Realität begreift die Handlung des Sich-Setzens und erstreckt sich auf alles darin Gesetzte. Negation begreift die Handlung des Entgegensetzens und betrifft das Nicht- und Dawidersein des entgegengesetzten Nicht-Ich. Die Kategorie der Limitation konzipiert die oberste Synthesis a priori und spricht sich in demjenigen Grundgesetz aus,

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Limitative Dialektik

welches Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Natur und Geist, Freiheit und Notwendigkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit in die Einheit einer einschränkenden Wechselbestimmung zusammenfaßt.

Synthesis A

Ich

setzt sich selbst (Realität)

setzt ein Nicht-Ich entgegen (Negation)

setzt ein teilbares Ich und Nicht-Ich zusammen (Limitation)

Dabei muß eingesehen werden: In der Limitation stellt sich die reelle, nämlich endlich-beschränkte Wirklichkeit des menschlichen Selbstbewußtseins auf. Der Anspruch der All-Realität erleidet eine rechtmäßige Einschränkung, freilich so, daß die endliche Wirklichkeit unseres Bewußtseins ihre Herkunft aus der unendlichen Möglichkeit des Ich = Ich bewahrt. Daher behält die erste kategoriale Synthesis die antithetische Doppelspannung zwischen dem realen Subjekt und dem negierenden Objekt sowie zwischen dem endlich-wirklichen und dem unendlichen, überwirklichen Ich. Und so enthüllt der erste dialektische Gang das Bewußtsein in seiner ,Fünffachheit' als die limitierte Einheit des doppelten Gegensatzes zwischen endlicher Wirklichkeit und absoluter Realität wie zwischen der Position des Subjekts und der Negation des Objekts. Diese fünffach gespannte Triplizität von Realität, Negation und Limitation beschließt den Kreis der Vernunftkategorien. Sie liegt allen Sonderungen des SubjektObjekt-Verhältnisses zuvor und zugrunde. In ihr stecken diejenigen Antithesen, aus denen der Bruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft und die kategorialen Grundbezüge innerhalb der theoretischen Vernunft folgen. Dabei konzentriert sich die Aufgabe der limitativen Dialektik

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zunächst auf die Kategorialanalyse der theoretischen Vernunft, ihren Resultaten und ihrer dialektischen Genesis nach39. In einem zweiten regelrechten dialektischen Gang bricht der tiefer gelagerte Gegensatz von theoretischer und praktischer Vernunft auf. Die Synthese A endet nämlich im Resultat: Ich und Nicht-Ich begrenzen und bestimmen sich durcheinander. Darin liegt eine fundamentale Antithese. Einerseits setzt sich das Ich - als bestimmend das Nicht-Ich, und das ist die Handlung der praktischen Vernunft, nämlich die Welt oder das NichtIch nach dem Maßstabe des freien Geistes dem Ich anzumessen. Andererseits setzt sich das Ich — als bestimmt durch das Nicht-Ich, und das ist die Haltung der theoretischen Vernunft, nämlich sich im Streben nach Wahrheit und Richtigkeit nach den Gegebenheiten der Sache zu richten. Das Ich (einem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegensetzend)

setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich (Grundsatz der theoretischen Vernunft)

— als bestimmend das Nicht-Ich (Grundsatz der praktischen Vernunft)

Streben Beide im Ich angelegten Lebensweisen des Menschen erscheinen so in ihrem grundsätzlichen Widerspruch; denn die Theorie, die menschliche Haltung der vita contemplativa, ist auf Wahrheit und Erkenntnis aus und 39

E. von Hartmann (Uber die dialektische Methode. Historisch-kritische Untersuchungen. Darmstadt 1963) hat die Fichtesche Dialektik kritisch auf die alte Sokratische .Begriffsberichtigung' reduziert. Die Anlage des synthetisch-antithetischen Schematismus gehe ins Unendliche und schließe sich nicht zum Kreis, weil jede vorausgesetzte Synthese zwei entgegengesetzte Sätze enthalte, die sich wieder in zwei Gegensätze aufspalten usw. Daher breche nur ein Machtspruch der praktischen Vernunft die theoretische Entwicklung ab. Recht besehen, leiste Fichtes Dialektik nichts anderes als die Sokratische Methode, Widersprüche zum Verschwinden zu bringen, indem fehlerhafte Voraussetzungen korrigiert werden. Indessen handelt es sich in der Dialektik des Selbstbewußtseins gar nicht um scheinhafte Widersprüche (um dialektische Oppositionen), die verschwinden, sondern um deren aufhebende Entfaltung, die sich nicht in einer unendlichen Zerspaltung sukzessiver Antithesen verliert, sondern in jedem Schritt in der zuhöchst gewissen Einheit der transzendentalen Apperzeption einbehalten bleibt.

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läßt sich, indem sie ergründend auf die Sache eingeht, vom Nicht-Ich bestimmen. Die Praxis, die menschliche Lebenshaltung der vita activa, dagegen ist Wille, die Welt zu verändern, und bestimmt so das Nicht-Ich. Deren Antinomie zerreißt das Ganze der Vernunft so durchgreifend, daß ihr Riß nicht durch die einfache Operation einer neuen Limitation geheilt werden kann. Dafür müssen zuerst die volle Synthetisierung der theoretischen Vernunft hergestellt und die Verstandeskategorien in ihrer Dreiheit herausgegliedert werden. Im Grundsatz der theoretischen Vernunft stecken weitere Antithesen, deren Vereinigung synthetische Handlungen a priori, d. h. Gesetze des Denkens oder Kategorien, faßlich macht. In ihm liegt der Teilsatz: ,Das Nicht-Ich bestimmt das Ich', das Vorstellen des theoretischen Ich wird durch das Vorgestellte zum Vorstellen von etwas Bestimmtem. In der Formel der Theorie liegt aber auch der Teilsatz: ,Das Ich bestimmt sich selbst'. Das Vorstellen eines mich bestimmenden Vorgestellten bleibt ein /c^-stelle-vor. Ihr Gegensatz begründet den Widerspruch zwischen dem Ausgang von der Spontaneität des Ich und dem rezipierten Einfluß des Dinges. Und nun sollte einleuchten: Die ,erkenntnistheoretische Frage' bleibt antinomisch blockiert, wenn die gegensätzlichen Prinzipien nicht dialektisch limitiert werden können. Die Lösung besteht im Gesetz derjenigen Wechselwirkung, die als Kategorie der Relation begreiflich ist. Synthesis Β Das Ich (bestimmt sich — als bestimmt durch das Nicht-Ich)

Das Ich bestimmt sich selbst (Spontaneität des Subjekts)

Das Nicht-Ich bestimmt das Ich (,Einfluß' des Objekts)

Ich und Nicht-Ich bestimmen sich wechselseitig (Relation der Wechselwirkung) Das Verstandesgesetz der Relation legt einschränkend fest: Soviel Tätigkeit (Realität) das Ich in sich setzt, soviel Leiden (Negation) setzt es ins Nicht-Ich — und soviel Leiden ins Ich gesetzt wird, soviel Tätigkeit ist ins Nicht-Ich zu setzen. Soweit das erkennende Subjekt von sich aus

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Bedingungen der Erkenntnis mitbringt, soweit ist das Objekt nichts als das Produkt der subjektiven Tätigkeit; soweit aber umgekehrt das erkennende Subjekt durch die Gegebenheiten des Objekts bedingt ist, soweit müssen das (affizierende) Objekt als das Tätige und das Subjekt als das Leidende (Rezipierende) angesehen werden. Offenbar aber haftet dieser entscheidenden Gesetzesvorlage noch eine Unentschiedenheit an. Eine gleichgültige Wechselbestimmung läßt offen, bei welchem Glied der Relation das Wechsel-Tun-und-Leiden anhebt. Um die Relation an einer Seite festzumachen, müssen bisher ungeklärte Antithesen, und zwar in den Gegensätzen der Synthesis Β aufgesucht werden. Das geschieht zunächst im Satz: ,Das Nicht-Ich bestimmt das Ich'. In ihm lagert ein neuer, drückender Widerspruch. Einerseits nämlich ist das Nicht-Ich darin als tätig, bestimmend, real angesprochen, andererseits kommt ihm als Nicht-Ich doch keine Realität zu. (Das Sein bestimmt doch nicht das Bewußtsein!) Diese Antithesis erzwingt die Aufstellung einer neuen Synthesis, die es ermöglicht, daß das Ich zugleich Realität haben und keine Realität haben kann. Die limitative Auflösung führt zum Gesetz der Kausalität. Es besagt: Das Nicht-Ich hat an sich keine Realität und Tätigkeit, es hat Tätigkeit nur, sofern und soweit das Ich leidet. Anders gewendet: Die affizierende ,Verursachung' des Objekts hat ihr Maß allein an der Wirkung, d. h. im Leiden und Affiziertwerden des erkennenden Subjekts. Nur mit dieser Einschränkung verursacht das Objekt die Subjekt-Objekt-Relation unter dem Gesetz der Kausalität. Synthesis C Das Ich (bestimmt — durch das Nicht-Ich)

Das Nicht-Ich hat keine Realität

Das Nicht-Ich hat Realität

Das Nicht-Ich hat Realität, soweit das Ich leidet (Kausalität) Diese Regelung des Erkenntnisbezuges ist einseitig. Sie hellt zwar auf, nach welchem Gesetz das erkennende Ich vom Nicht-Ich reell bestimmt

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wird, aber sie läßt dunkel, wie das Bewußtsein des Bestimmtwerdens darin zustande kommt. Das Gesetz der Kausalität (als Regelung der einfachen reellen Reihe) vermag das Bewußtsein (die reelle und ideelle Reihe oder die unmittelbare Vereinigung von Sein und Sehen) in der Ding-Vorstellung nicht aufzuklären. Hier ist die Widerlegung des Dogmatismus systematisch angelegt, wie sie die Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1797 (Artikel 6) schlagkräftig vortragen wird. Die Welterklärung des Dogmatismus verabsolutiert das Gesetz der Kausalität und mißversteht Wirksamkeit als eine Tätigkeit des Dinges an sich, die den Ubergang vom Sein zum Vorstellen erwirkt. Aber solcher Ansatz macht einen ungeheuren Sprung und kann die Kluft zwischen der Welt des Seins und der ihm ganz fremden Welt von Intelligenz und Freiheit nicht überwinden. Die unter den Satz der Kausalität gestellte Materie erklärt immer nur Materie, aber nicht das Bewußtsein und Fürsichsein von Materie. Darum muß ein zweites Grundgesetz des Denkens beigebracht werden, und zwar geradeso aus einer Antithesis, die in der Synthesis der theoretischen Vernunft überhaupt steckt. Nun ist natürlich auch das theoretische Bewußtsein ichhaft und besitzt daher die Struktur eines Ich, das sich selbst bestimmt. So aber hat es den Widerspruch in sich, einerseits sich selbst zu bestimmen, mithin tätig zu sein, andererseits durch sich selbst Bestimmtes, mithin leidend zu sein. Als sich selbst Bestimmendes ist das Ich nichts anderes als die unbeschränkte Totalität des Ich-stelle-vor, als Bestimmtes wird es zum bestimmten modus cogitandi. Die Einheit dieser Gegensätze vermittelt das Gesetz der Substanzialität. Die Relationskategorie der Substanzialität wäre demnach eine aus Antithesen abgeleitete synthetische Handlung a priori der theoretischen Vernunft. Dabei ist das Bleibende und Substante der Substanz nichts anderes als das Ich in der Totalität seiner bestimmenden Denktätigkeit, das Wechselnde und Akzidentelle dagegen das Ich in der Bestimmtheit der Vorstellung von etwas. Diese Substanz-Akzidenz-Relation wahrt die Einheit des Ich, indem sie das beschränkt vorstellende Ich als wechselndes Akzidenz, die Totalität des Ich-denke als Substanz begreift. Sie läßt den Schein des Widerspruchs zwischen Tun und Leiden verschwinden ; denn sie befaßt — am Maßstab der Totalität gemessen — das Leiden des bestimmten Vorstellens als eine verminderte Tätigkeit. Und sie eröffnet das Selbstbewußtsein in demjenigen Vergleich, in dem sich das beschränkte auf das unbeschränkte Tun des Ich zurückbezieht und sich dadurch in allem bestimmten Vorstellen von etwas als das Ich-denke thematisieren kann.

Die Schlußsynthesis der theoretischen Vernunft

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Synthesis D Das Ich (bestimmt — sich)

ist bestimmend (tätig)

\

\

ist bestimmt (leidend)

hat Leiden, soweit seine Tätigkeit gemindert ist (Substanz-Akzidenz-Relation) Die so schematisierte Dreiheit von Relation, Kausalität und SubstanziaJität beständigt den erkennenden Welt- und Selbstbezug. Die drei Verstandeskategorien bilden die notwendigen Bedingungen für die Synthesis des Subjekts mit den Gegenständen der Erfahrung, und sie sind, eben weil sie die Einheit von Subjekt und Objekt mitvollziehen, gleichermaßen subjektive Erkenntnis- wie objektive Seinsbedingungen. Ihre dialektische Herleitung aus der antithetisch-synthetischen Einheit der Apperzeption meistert die bei Kant getrennten Probleme der metaphysischen und transzendentalen Deduktion mit einem Schlage, und zwar ebendadurch, daß sie ihren Leitfaden nicht aus der formalen Logik borgt, sondern aus der dialektischen Verfassung des Anfangsgrundes selber zieht. So verwandelt die Kategorialanalyse der Wissenschaftslehre die ,Schmach der Wissenschaft' in einen Triumph methodischer Besonnenheit.

4. Kapitel: Die Schlußsynthesis der theoretischen Vernunft Die Tiefe menschlichen Bewußtseins birgt und verbirgt ein wunderbares Vermögen, das fast immer verkannt worden ist. Und doch beruht auf seiner Kraft die Möglichkeit allen Lebens und Bewußtseins. Darum hängt an seiner methodischen Entdeckung und systematischen Entfaltung die zureichende Analyse der theoretischen Vernunft. Es ist allein die Zeit bildende, produktive Einbildungskraft, die den aufbrechenden Zirkel der Kategorien sprengt, den autochthonen Gegensatz von Anschauung und Denken vermittelt und die Kluft zwischen den Möglichkeiten des Ich und

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der Wirklichkeit des Anstoßes im Leben des Bewußtseins schließt. Und nur so wird sich dieses Urvermögen herleiten und rechtfertigen lassen, daß es als vermittelndes Element dieser in sich gestuften Widersprüche Schritt für Schritt nachkonstruiert wird. Die Auflösung des Kategorienzirkels, der Zusammenschluß der Denk- und Anschauungsbedingungen und die Versöhnung mit dem Widerstand des Anstoßes sollen hier nicht ausgebreitet, sondern nur so weit skizziert werden, als nötig ist, um die Einbildungskraft als die einheitlich einigende Quelle der theoretischen Vernunft nachzuweisen. Die Dialektik der theoretischen Vernunft treibt über eine reine Kategorialanalyse hinaus; denn die Ansätze von Kausalität und Substanzialität verlaufen in einen fehlerhaften Zirkel. Dabei muß ihre Funktionsgrenze beachtet werden. Das Grundgesetz der Kausalität erklärt die objektive Weltvorstellung, läßt aber das Selbstbewußtsein darin dunkel. Der Grundsatz der Substanzialität klärt das Bewußtsein des ,leidenden' Denkens auf, läßt aber im Grunde unbestimmt, weshalb sich denn das Ich selber als beschränkt durch ein Anderes, das Nicht-Ich, vorstellt. Nimmt man die Leistungen beider Kategorien zusammen, dann wird einsichtig: Sie setzen einander zirkelhaft voraus. Im Ausgang von der Kausalität wird die beschränkend-bestimmende Tätigkeit des Nicht-Ich aus dem leidenden Ich hergeleitet. Das Leiden des Ich seinerseits läßt sich nach dem Gesetz der Substanzialität erklären, nämlich als Verminderung der totalen Tätigkeit des Ich. Die Verminderung Und Einschränkung des unbeschränkten Ich aber duldet kategorial nur eine Begründung, da sich ja die unendliche Tätigkeit als das Wesen des Ich nicht selbst einschränken kann: die Unterstellung einer das Ich negierenden Tätigkeit des Nicht-Ich - nach dem Gesetz der Kausalität. Und so dreht sich die Erklärung im Kreise. Das Denken, rein auf seine Gesetze gestellt, verfällt der Gefahr, im Erkennen immer nur bei sich selbst, d. h. seinen Gedanken anzukommen und nicht auf das Zu-Erkennende, den wirklichen Gegenstand, zu treffen. Das Zirkelresultat der Kategorialanalyse zwingt zu dem Eingeständnis, die zentrale Antithesis und verbindliche Synthesis der theoretischen Vernunft seien noch nicht gefunden. Es fordert die Frage heraus, welche Tätigkeit denn zum Wechsel-Tun-und-Leiden des Ich zusätzlich in Anschlag gebracht werden könne, um die Einheit des Ich vor einer Auflösung im Zirkel zu bewahren. Diese müßte vom verstandeshaft deutlichen Wechsel zwischen Welt- und Selbstbewußtsein unabhängig sein. Das wäre sie, wenn sie so tätig würde, daß sie in ihrer Tat, also im hingeschauten

Die Schlußsynthesis der theoretischen Vernunft

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Produkt ihres Tuns, ihr Produzieren vergäße. Solche ,unabhängige und vorbewußte Tätigkeit' ist die Raum und Zeit bildende Einbildungskraft. Sie produziert die raum-zeitliche Ding-Anschauung, ohne sich im Produkt als das Produzierende reflektieren zu können. Die reine Anschauung geht im Angeschauten auf. Darum also, weil diese eine Tätigkeit vom kategorialen Subjekt-Objekt-Wechsel unabhängig ist, ist die Erkenntnis vor dem Widerspruch des bloßen Denkens zu retten. Der Einbezug der produktiven Einbildungskraft eröffnet die große Schlußantithese der theoretischen Vernunft; denn die kategoriale Wechselbestimmung und die vom Wechsel unabhängige Tätigkeit widersprechen einander. Die Synthesen des reinen Denkens sind selbstbewußt und vom Wechsel abhängig, die der reinen, Anschauung bildenden Einbildungskraft sind lOrbewußt und vom Wechsel unabhängig. Ihr Gegensatz droht, die theoretische Subjekt-Objekt-Einheit in die Kluft zwischen Gedachtem und Angeschautem zu spalten. Die Gewißheit dagegen, daß keine Antithesis ohne Synthesis und jeglicher Gegensatz des Bewußtseins in der Einheit des Selbstbewußtseins geborgen ist, weist die Methode an, auch hier die Aufhebung der Antithese zu ergründen. Und in der Tat bildet die Explikation der produktiven Einbildungskraft in ihren synthetischen Leistungen und die Aufdeckung der hochkomplizierten limitativen Synthesis zwischen den Synthesen kategorialen Denkens und den Synthesen der reinen Anschauung das letzte Geschäft einer Dialektik der theoretischen Vernunft. Das Ich (als theoretisches Ich)

vom Wechsel abhängige Tätigkeit (reines Denken)

vom Wechsel unabhängige Tätigkeit (reine Anschauung)

Wechsel von reinem Denken und reiner Anschauung Die Ausarbeitung der reinen theoretischen Vernunft als eine Synthesis von Synthesen kann hier nicht verfolgt werden 40 . Festgestellt werden aber 40

Zum Schematismus der Schlußsynthesis vgl. D. Schäfer, Die Rolle der Einbildungskraft in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95. Diss. Köln 1967. Dieses Schema als Kreis-

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muß die festgeschriebene Limitation und Einschränkung der , einfachen Kategorie' in ihrem Gebrauch. Die reine Vernunftkategorie in ihrer Trias Realität — Negation — Limitation schränkt sich auf dem Gebiete der theoretischen Vernunft unausweichlich zu den Verstandeskategorien der theoretischen Vernunft (in der Trias Relation — Kausalität — Substanzialität) ein, und diese beziehen sich notwendig auf die Synthesis der .schaffenden Einbildungskraft', und zwar in wechselseitiger Beschränkung. Die erkennende Vorstellung der gegenständlichen Welt wird durch apriorische Gesetze, d. h. die kategorialen Vollzüge unseres Denkens festgestellt; die Vorstellung der von unserem Tun unabhängig bestehenden Welt dagegen schulden wir einer unbewußt produzierenden Tätigkeit. Diese bringt zwar die raum-zeitliche Anschaubarkeit des Gegenstandes auf, aber sie ist, weil sie unbewußt produziert, außerstande herauszurechnen, inwieweit das angeschaute Ding Produkt ihres Hinschauens ist, und sie vergißt daher im Produkt den Anteil ihres Produzierens. Entscheidend ist nun, daß das apriorische Denken des Verstandes und das reine Hinschauen der Einbildungskraft sich vereinigen, indem sie einander beschränken. Das Gesetz ihrer Wechselbestimmung legt fest: Die kategorialen Gesetzesvorschriften des Verstandes sind legitimerweise nur auf Gegenstände der Anschauung anwendbar, und das Anschaubare in Raum und Zeit ist nur unter den Gesetzen des reinen Denkens, den Relationen von Kausalität und Substanzialität, gegenständlich. Diese dialektische Limitation schreibt die Restriktion unserer menschlich-endlichen Erkenntnis vor. Sie zieht die Schranke der Vernunft zur Grenzlinie der Theorie aus. Die dialektische Analytik der theoretischen Vernunft scheint vollendet. Ihr Ziel war es, das natürliche Bewußtsein, also unsere Vorstellung einer an sich bestehenden Welt, aus dem Ich zu erklären. Das ist vermittels einer Synthesis der Synthesen von kategorialem Wechselbezug und produktiver Einbildungskraft gelungen. Aber bei dieser Produktion der Ding-Vorstellung durch Handlungen des Ich ist die Ohnmacht der Endlichkeit einzukalkulieren. Die synthetisch-apriorischen Leistungen des Ich bleiben bloße Λ/0'g/ícMez'tsbedingungen, sie bringen von sich her niemals die Wirklichkeit unserer Welthabe im empirischen Leben auf. Von sich her stiftet das Ich nur den essentiellen apriorischen Bestand, der es dem Gegenstande ermöglicht, beständig zu sein. Damit es aber zum wirklichen Entgegensein des Gegenstandes und so zum Bewußtseinsleben in der empirischen Welt gang des Lebens interpretiert, vgl. W. Janke, Fichte, Teil I, Kap. 6 „Produktive Einbildungskraft — die Lebensform der theoretischen Vernunft" S. 145 — 161.

Die Schlußsynthesis der theoretischen Vernunft

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kommt, bedarf es einer anderen, nicht-ichhaften Bedingung. Fichte nennt sie den Anstoß. Anstoß bedeutet das pure Nicht „im Nicht-Ich, was übrig bleibt, wenn man von allen erweisbaren Formen der Vorstellung abstrahirt" (GL § 5 I; 389). Was von der Ding-Vorstellung abgezogen wird, sind alle dem Ich geschuldeten Vorstellungsformen, nämlich die synthetische Einheit seiner raum-zeitlichen Erscheinung als eines von uns unabhängig vorgestellten Dinges. Was in dieser Abstraktion übrigbleibt, ist das blanke Nein im Sinne eines unableitbaren Entgegenseins. In ihm dramatisiert sich die Negation des zweiten Grundsatzes. Der Anstoß hemmt die unendliche Selbstsetzung des Geistes und treibt dessen unendlich freie und unbestimmte Tätigkeit zur Vorstellung eines entgegenstehenden Wirklichen zurück. Begreiflicherweise bildet der Anstoß das Hauptärgernis für den Glauben an die Identität von Vernunft und Wirklichkeit; denn seine hemmende und entfremdende Kraft verhindert, daß das Wirkliche total vernünftig und das Vernünftige gänzlich wirklich sein kann. Der Widerstand des Anstoßes reißt wiederum das Ganze der theoretischen Vernunft auseinander. Der Anstoß stellt sich als principium existendi dem Ich als dem principium essendi aller Gegenstände der Erfahrung entgegen. An diesem Gegensatz entzündet sich noch einmal der unterschwellige Streit von erkenntnistheoretischem Idealismus und Realismus. Im Anstoß scheint ein vom Ich unabhängiges Ding an sich offen gegen das Ich an sich als Anfangsgrund aller Erfahrung aufzutreten. Es ist abermals die bindende Kraft der Einschränkung, die eine real-idealistische Synthesis von Anstoß und Selbstbewußtsein vermittelt. Der Begriff des Dinges an sich ist ein unvernünftiger Begriff, wenn er zum Prinzip erhoben und ihm die Selbständigkeit des Ich gänzlich aufgeopfert wird. Solche Verdrehung der Vernunft betreibt der Dogmatismus in all seinen Spielarten. Im gleichen Maße unkritisch aber wird der Idealismus, wenn er nicht bloß die prinzipielle Selbständigkeit des Dinges an sich aufhebt, sondern damit zugleich jeden Gegensatz des Ich zu Schranke und Anstoß verwirft. Das Bewußtsein schrankenloser Freiheit ist ein unmöglicher Begriff. Spätestens dieser Ansatz einer vermittelnden Negation des Dinges an sich in der .Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre' sollte die immer noch umlaufenden Ansichten vom einseitigen subjektiven, bürgerlichen Idealismus Fichtes, der die Wahrheiten des Realismus und Materialismus brüskiert, korrigieren. Der lösende Bescheid vermittelt die Extreme. Einerseits bleibt der Anstoß real an sich und vom Ich unabhängig, sonst käme es nicht zum

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wirklichen Bewußtsein. Andererseits ist der Anstoß ideal und für das Ich, sonst käme es nicht zum wirklichen Bewußtsein des Dinges in seiner von uns unabhängigen Kraft. Keine der beiden Ansichten darf unbeschränkt herrschen. Ein Idealismus, der die Notwendigkeit des Ansich für einen bloß notwendigen Gedanken erklärt, muß an der Aufklärung der Wirklichkeit und Existenz scheitern. Ein Realismus, der die Wesenhaftigkeit des Bewußtseins aus der Wirklichkeit des Ansich erklärt, versieht sich an der essentiellen Apriorität des gegenständlichen Seins. Die dialektische Schlichtung stellt die Philosophie auf eine ideal-realistische Position. Sie weist ein einigendes Band nach, das beide, die reale und die ideale Ansicht des Ansich, zusammenhält: das Schweben der schaffenden Einbildungskraft. Der ,Fokus' allen Bewußtseins und aller Erfahrung ist ein synthetisierendes Schweben. Im Schweben dieses Einheit stiftenden,,wunderbaren' Vermögens stößt das Subjekt an das Ansich des Anstoßes, ohne sich darin festzumachen und außer sich zu geraten. Schwebend bezieht das Subjekt das Ansich auf das Bewußtsein zurück, ohne es daraus herzuleiten. Dieser verschwebende Bezug hindert, daß die Subjekt-Objekt-Einheit in die unverbundene Zweiheit von Ich und Anstoß auseinanderfällt. Hier ist eine radikale Vermittlungsleistung der produktiven Einbildungskraft entdeckt. Allein durch das schwebende Zusammenhalten der idealen und der realen Seite des Anstoßes entkommt die theoretische Vernunft dem Widerspruch. Und es ist offensichtlich die Unterschlagung der produktiven, Zeit und Einheit bildenden Einbildungskraft, welche Hegels Vorwurf plausibel macht, in Fichtes ,Grundlage' stünden sich die Prinzipien von Ichheit und Anstoß unbezüglich und unversöhnt gegenüber. Solches Insistieren auf dem unausgeglichenen Widerspruch (letztlich zwischen dem ersten und dem zweiten Grundsatz) stellt die Vermittlungskraft der ursprünglich einigenden Einbildungskraft nicht in Rechnung. Erst die Aufdeckung dieses Zwischenvermögens vollendet die dialektische Analyse der theoretischen Vernunft und dringt bis zur Quelle aller menschlichen Erkenntnis durch. Hier ist die Einbildungskraft nicht bloß als ein Mittleres zwischen Anschauung und Denken beschrieben. Das liegt ja auf der Hand, sofern sie mit der Anschauung — im Unterschied zum Denken — das Bilden eines Einzelanblicks und mit dem Denken — im Unterschied zum Anschauen — das Von-sich-her-Bilden, die Spontaneität, teilt. Und die reine Einbildungskraft ist auch nicht bloß wie in der eindringlichen Schematismus-Analyse der analytischen Logik Kants als dasjenige Medium beansprucht, in dem die reinen Verstandesbegriffe sich versinnlichen und auf Erfahrung beziehen. Innerhalb der limitativen Dialektik ist

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ihre vermittelnde Kraft schrittweise und mit methodischer Strenge deduziert, und zwar so, daß sie am Ende als einheitlicher Quellgrund der theoretischen Vernunft heraustritt. Sie erweist sich als die Bewegtheit und Lebendigkeit, in der das Selbstbewußtsein sich als die Bewegtheit und Lebendigkeit, in der das Selbstbewußtsein anfänglich seine eingeborenen Gegensätze auseinander- und zusammenhält. „Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt" (GL § 4 E 3; 360). Das schwebende Einigen der schaffenden Einbildungskraft vollendet die ursprüngliche In-eins-Bildung der reinen theoretischen Vernunft. Erst in ihr löst sich die Aufgabe dialektischer Vermittlung. „Die Aufgabe war die, die entgegengesezten Ich und Nicht-Ich zu vereinigen. Durch die Einbildungskraft, welche widersprechendes vereinigt, können sie vollkommen vereinigt werden" (GL § 4 E 3; 361). Sie verknüpft Gegensätze, indem sie das Medium der Zeit allererst bildet. Schwebend-leitend dehnt die Einbildungskraft den Zusammenhalt von Subjekt und Objekt in einem Jetzt aus. Daher hat das Element der Zeit, der Jetzt-Punkt', den dialektischen Charakter eines ausschließenden Zusammennehmens. In einem Solange-bis dehnt sich das Moment des Zusammenstoßens zum Vorher und Nachher aus. Daher gewinnt die Zeitlichkeit das definitive Aussehen, ein Solange, d. i. Anzahl der Bewegung, zu sein. Und es ließe sich in einer freien Überlegung zeigen, wie sich im vermittelnden Schweben der Einbildungskraft die ,Teile' der Zeit vorbilden. Indem die Einbildungskraft das Vergehende als solches aufbewahrt, bildet sie Vergangenheit. Indem sie dasjenige, was das Vergehende verdrängt, als solches aus- und offenhält, bildet sie Zukunft. Indem sie beides, das Vergehende und das Zukommende, in einem ausgedehnten Jetzt zusammenstoßen läßt, zeitigt sie Gegenwart. Und so stößt die dialektische Analytik auf eine Quelle, in welcher zugleich mit der Vermittlung und Einheit die Endlichkeit und Zeitlichkeit menschlichen Lebens und Bewußtseins aufspringen: die reine produktive Einbildungskraft. „Dieses fast immer verkannte Vermögen ist es, was aus steten Gegensätzen eine Einheit zusammenknüpft, — was zwischen Momente, die sich gegenseitig aufheben müsten, eintritt und dadurch beide erhält, — es ist dasjenige, was allein Leben und Bewustseyn, und insbesondre Bewustseyn als eine fortlaufende Zeitreihe möglich macht" (GL § 4 E 3; 350).

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5. Kapitel: Dialektik der praktischen Vernunft. Die Schranke und, das Sollen Kein Gedanke des Deutschen Idealismus hat so durchgeschlagen wie die Rede vom Primat der praktischen Vernunft. Kein System und keine Methode haben die Fundierung der Theorie in der Praxis umfänglicher und verbindlicher besorgt als die Wissenschaftslehre Fichtes. Dialektisch betrachtet, kann der Vorrang der Praxis sich doch nur so bewähren, daß sie Widersprüche löst, welche die theoretische Vernunft oder Intelligenz nicht aufzudecken vermag. Dadurch wäre erwiesen, daß die praktische Vernunft die theoretische allererst ermöglicht und daß der Sache nach der Mensch sich zur Mit- und Umwelt praktisch verhalten müsse, bevor er sich theoretisch einstellen kann. Auf solche Grundlegung läuft die methodische Entwicklung des Selbstbewußtseins hinaus. Die analytische Dialektik der theoretischen Vernunft hat den vordringlichen Widerspruch von Intelligenz und Ding vom Prinzip der Intelligenz und deren Grundvermögen, der schaffenden Einbildungskraft, her eingeschränkt und aufgehoben. Aber der Gegenstoß des Anstoßes reicht über das Gebiet der Theorie hinaus. Er geht aufs Ganze. Durch ihn bricht ein Widerspruch auf, dem die Intelligenz darum nicht gewachsen ist, weil sie selbst zum Pol des Gegensatzes wird. Am Ende aller Synthesen der theoretischen Vernunft entspringt eine Hauptantithese, welche nur noch praktisch anzugehen ist. Es ist der grundsätzliche, aus dem Leben des Selbstbewußtseins stammende Widerspruch von Endlichkeit und Unendlichkeit, der sich in der Gestalt des Gegensatzes zwischen dem absoluten und dem theoretischen Ich neu erhebt. Das absolute Ich nämlich ist vom Anstoß unabhängig, das theoretische, Welt erkennende Ich dagegen vom Anstoß abhängig. Deren Gegensatz bildet nunmehr die „Haupt-Antithese, die den ganzen Widerstreit zwischen dem Ich, als Intelligenz, und insofern beschränktem, und zwischen eben demselben, als schlechthin geseztem, mithin unbeschränktem Wesen umfaßt; und uns nöthiget als Vereinigungsmittel ein praktisches Vermögen des Ich anzunehmen" (GL § 5; 386). Der bestimmende Ausgang der Dialektik im Gebiete der praktischen Vernunft ist somit nicht wie im Felde der Theorie eine Grundsynthesis, sondern die ,Haupt-Antithese'. Deren Durchdringung führt zur zusammenschließenden Aktion des Selbstbewußtseins, die auch noch die Handlungen und Synthesen des theoretischen Ich im Widerspruch wahrt. Was sich hierfür als Entgegengesetztes profilieren wird, sind die Schranke und das Sollen. Beides wird sich nie gänzlich vereinigen lassen. Ihre Vereinigung bleibt einem Streben der praktischen Vernunft überantwortet, welches das Sollen

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aufhebt, indem sie es in Schranken zu verwirklichen sucht, und die Schranke aufzuheben sucht, indem sie das Sollen verwirklicht. Gegen diesen Lösungsversuch richtet sich der härteste Angriff der spekulativen Dialektik. Auch er wird innerhalb der Phänomenologie des Geistes' gerade in dem Moment geführt, wo das Selbstbewußtsein in den »konkreten' Begriff der Vernunft hinübergeleitet und ein neues Weltverständnis geboren scheint. Der Einspruch rechnet eine Inkonsequenz nach. Im abstrakten Weltbegriff des .Idealismus' sei einerseits die All-Realität des Ich unvermittelt an den Anfang gesetzt, andererseits stehe ihm ebenso unvermittelt eine vorausgesetzte Realität, der fremde Anstoß, entgegen. Dieser nicht zu unterschlagende Widerspruch solle sich dadurch auflösen, daß das wahre Sein der Vernunft als Sollen verstanden werde. Dann sei die Vernunft als das All der Realität nicht wirklich, sie solle wirklich werden. In dieser Auskunft erblickt Hegels Phänomenologie auf der Höhe ihres Vernunftstandpunktes eine Verkehrung der reinen vernünftigen Wirklichkeit. Die wahre Vernunft sei konsequent. Sie finde zur konkreten Verwirklichung ihrer selbst und verirre sich nicht suchend auf dem Wege, der zwangsläufig ins Endlose führt. Die dialektische Entwicklung bleibe unvollständig, letztlich darum, weil ihre Synthesis im Methodenprinzip von Schranke und Teilbarkeit nur teilweise erfolge. „Diese bleibt ein unruhiges Suchen, welches in dem Suchen selbst die Befriedigung des Findens für schlechthin unmöglich erklärt" (PhdG V. Gewißheit und Wahrheit der Vernunft; 181-82). Der Streit um Reichweite und Erfüllung der Dialektik des Ich zwingt zur Auseinandersetzung um die Endlichkeit des Selbstbewußtseins und die Aufhebbarkeit seiner Schranke. Dabei wird eine Voraussetzung unterstellt, die der limitativen wie der spekulativen Position gemeinsam ist. Die Endlichkeit des Geistes wird durch die Schranke konstituiert. So erläutert Hegel das beschränkte Verhältnis des endlichen, subjektiven Geistes an der (noch) äußerlichen Beziehung zur Natur. Der subjektive Geist oder das Selbstbewußtsein in seiner Beschränktheit setzt die Natur als seine Welt. Ihm ist das Andere ein von ihm Gesetztes. Zugleich aber bleibt das Andere immer auch etwas von ihm Unabhängiges, das nicht vom Geist gesetzt, sondern als unmittelbar Vorhandenes vorausgesetzt ist. „Der Geist hat folglich hier noch eine Schranke an der Natur, und ist eben durch diese Schranke endlicher Geist" (Enz. § 384, Zus.; X, 37). Was aber bedeutet das Sein der Schranke im Lichte der spekulativen Offenbarung? Nichts als ein notwendiges Mittel, durch welches der Geist wirklich wird. Es ist durchaus notwendig; denn nur durch Aufhebung der

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Schranke kommt der Geist dazu, sich als dasjenige zu beweisen, was er seinem Begriffe nach sein soll, nämlich als die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrende Idee. So nur erkennt der Geist in allem, was im Himmel und auf Erden ist, sich selbst. Demnach bestünde die Wahrheit der Schranke darin, Mittel dafür zu sein, die strebende Vernunft in ihre vollendete Wirklichkeit zu überführen. Innerhalb der Theodialektik besitzt die Schranke kein prinzipielles Gewicht. „Die Schranke ist also nicht in Gott und im Geiste, sondern sie wird vom Geiste nur gesetzt, um aufgehoben zu werden" (Enz. § 386, Zus.; X , 45). Ihre Aufhebung ist endgültig. In der Befreiung von der Schranke kommt die wahre, affirmative Unendlichkeit des Geistes zustande. „Diese Befreiung ist nicht — wie der Verstand meint — eine niemals vollendete, eine ins Unendliche immer nur erstrebte, sondern der Geist entreißt sich diesem Prozeß in's Unendliche, befreit sich absolut von der Schranke, von seinem Anderen, und kommt somit zum absoluten Fürsichseyn, macht sich wahrhaft unendlich" (1. c.; ibid.). Für diese Zuordnung von Endlichkeit und Schranke beruft sich die enzyklopädische Lehre vom subjektiven Geist auf Resultate der , Logik' (vgl. § 386; X , 42). Hegels Logik hatte die Generalthese entwickelt, daß das bornierte Beharren auf dem Standpunkt der Schranke nicht zur affirmativen, sondern zur schlechten Unendlichkeit führe. Diese These wird von den Verhältnissen der logischen Kategorien von Etwas und Anderes, Grenze und Schranke, Endlichkeit und Unendlichkeit getragen. Sie sollen hier lediglich in Rücksicht auf die grundsätzliche Bedeutung von Schranke und Sollen für die Methode der limitativen Dialektik diskutiert werden. Ausgangspunkt hierfür ist die in Hegels , Logik' entwickelte Einsicht, nach der Sollen und Schranke ebenso notwendig wie widerspruchsvoll im Endlichen zusammengehören. Die Schranke des Endlichen ist das begrenzende Andere. Auf eine Schranke als Schranke aber stößt doch nur der, der seiner Bestimmung nach schon über sie hinaus ist. Das ,Etwas' findet sich in der Schranke als seiner negierenden Grenze und soll über sie hinausgehen. Dieses Zusammentreffen von Schranke und Sollen widerspricht sich selbst. Während das Sollen die Schranke negiert, verwehrt diese das Uber-sich-hinaus-Sollen. Das Endliche ist somit in Schranke und Sollen gebrochen. Und es zerbricht daran. Indem das Endliche sein Soll erfüllt, überschreitet es die Schranke, entgrenzt sich selbst und geht so zugrunde. Weil aber nun das Endliche im Prozeß des Werdens unmöglich in das längst aufgehobene, schlechthinnige Nichts zurückfallen kann, muß es in das Aufgehen eines anderen Endlichen vergehen, und so endlos fort. Diese Skizze des Gedankenganges sollte anzeigen: Die Metaphysik der Endlich-

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keit, welche auf die Prinzipien von Schranke und Sollen baut, verfällt einem Widerspruch, der in der Unwahrheit der schlechten Unendlichkeit endet. Hegels Logik spricht dieser Position der Endlichkeit den Bezug zur wahren Unendlichkeit ab. Wo die Endlichkeit unaufhebbar gedacht wird, da kommt es nur zur unbestimmten Leere eines trüben Jenseits. Selbst wenn im Begriff des jenseitig Unendlichen alle Beschränktheit getilgt wird, besteht die Schranke doch außer ihm. Das Unendliche macht eine Seite aus und behält als Nicht-Endliches das beschränkte Endliche außer sich. Und wiederum sucht die Logik des (göttlichen) Begriffs zu zeigen, daß diese Verstandesunterscheidung in die schlechte Unendlichkeit eines endlosen Progresses ausläuft. Das Unendliche hat eine Bestimmtheit und Grenze, die es vom Endlichen scheidet. Durch die Grenze aber wird es doch etwas Endliches. Folglich führt das Hinausgehen über das Endliche ins Unendliche wiederum ins Endliche, und so fort. Unaufhörlich weicht jenes Unendliche zurück. Wahre Unendlichkeit dagegen kommt zustande, wenn beides, das Endliche wie das Unendliche, das Negative an ihm selbst negiert: Das Endliche negiert die Beschränktheit, das Unendliche die bloße Flucht ins Jenseits. In dieser Bewegung tritt das Unendliche auf, indem es das Endliche, also die Schranke, aufhebt. Das Endliche tritt in diese Bewegung ein, indem es die falsche Unendlichkeit nichtet. Nur so entsteht die affirmative, lebendige Einheit des Unendlichen, welche sich selbst und das Endliche einbegreift. Allein durch die Befreiung von der Schranke bleibt der lebendige Geist oder Gott in seiner Verendlichung unendlich, allein so hebt er, spekulativ gedacht, die Endlichkeit in sich auf. Diese Uberwindung der Einseitigkeiten von Endlichkeit und Unendlichkeit ist von großartiger Logik. Sie ist bruchlos im Elemente reiner Gedanken, absoluter Kategorien gedacht. Aber eben deshalb kann sie die ,idealistische' Auflösung nicht ersetzen. Diese beruft sich auf die synthetisierende Kraft der praktischen Vernunft und die Einheit von Endlich- und Unendlichsein der Wirklichkeit und menschlichen Praxis. Das Streben der Vernunft erschöpft sich beileibe nicht im unruhigen Suchen der unerfindlichen Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit. Es bildet deren einzige, real ausweisbare Synthese. Nur im Streben der praktischen Vernunft gewinnt die präexistent gedachte affirmative Einheit Existenz und Wirksamkeit. Die gesuchte Einheit fällt in praxi gerade nicht in einem endlosen Prozeß auseinander, sondern bleibt durch den Willensvollzug des Strebens zusammengehalten. Hegels große Logik unterschätzt gleichermaßen die entschränkende Kraft des freien menschlichen Willens wie das bindende Maß seiner beschränkenden Endlichkeit.

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Die Hauptantithese des Selbstbewußtseins hat das Ich als unendliche, Anstoß-freie Tathandlung und das Ich als endliche, Anstoß-gehemmte Intelligenz auseinandergesetzt. Wie aber ist das möglich, wenn absolutes und theoretisches Ich nicht zweierlei Seiendes, sondern wesenhaft das Eine und Selbe sind? Ihre Vereinigung wäre denkbar, wenn es im Brennpunkt des Selbstbewußtseins eine Tätigkeit gäbe, die als die eine und selbe zugleich Endlichkeit und Unendlichkeit austrägt und zusammenhält. Solches Ursein ist der Wille oder die strebende, praktische Vernunft. Das Vernunftstreben oder der Wille ist seiner Endlichkeit nach unendlich und seiner Unendlichkeit nach endlich. Im Willen fallen Endlichkeit und Unendlichkeit zusammen, indem sie einander einschränken. Der sich absolut von der Schranke befreiende Geist ist eine der Hyperbolie-Formen des zum Absoluten gesteigerten Willens. In der Gestalt des absoluten Geistes werden sowohl die aufhebende Kraft des Willens wie die Aufhebbarkeit der Schranke zu leicht genommen. Alles Streben hat Endlichkeit an sich. Es ist auf etwas, ein Objekt, aus, dessen Nicht-Haben mich zum Strebenden bestimmt. Streben ist endliche, d. h. objektive Tätigkeit des Ich. Darin gleicht es dem Erkennen. Im Unterschied zum erkennenden Objektbezug aber ist das Vernunftstreben unendlich. Ihm begegnet das Objekt nicht als der unverrückbare Gegenstand der Erfahrung, sondern als zu überwindender Widerstand. Während das theoretische Welt-Vorstellen von den Erfahrungsgrenzen des Wirklichen abhängt, schiebt das praktische Vorstellen seine Grenze ins Unendliche hinaus, indem es den Widerstand des Unvernünftigen und Sinnlichen bricht. Das Streben hält also nicht an der Grenze an, die das Nicht des entgegenstehenden Nicht-Ich für die Erkenntnis darstellt, es geht gegen die Gegenständlichkeit als einen zu überwindenden Widerstand an. Vom Willen aus zeigt sich die objektive Realität in einem anderen Licht. Sie findet ihre Gewißheit und Wirklichkeit nicht mehr darin, unverrückbar gegebenes Entgegenstehen des Gegenstandes zu sein. Die gegenständliche Welt ist zuerst und vor allem Sphäre der praktischen Vernunft, Widerstand des Strebens, ,Material der Pflichterfüllung'. In diesem leitenden Bezug schiebt die Vernunft ihre Begrenzung ins Unendliche hinaus. Weil also das Streben einerseits objektbezogen ist, andererseits aber die Grenze des Entgegenstehenden von seinem Willen abhängig macht, ist es seiner Endlichkeit nach unendlich. Es ist ineins seiner Unendlichkeit nach endlich. Streben ist auf ein Unendliches aus. Es will letztlich die Gleichsetzung des vernunftfremden Nicht-Ich mit dem vernunfthaften Ich. Das Streben der praktischen

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Vernunft sucht, die Natur dem Geiste, die Sinnlichkeit der Vernunft, die Zwangsgesellschaft der sittlichen Gemeinde anzugleichen. Aber keine Anstrengung des Vernunftwillens kann die Ungleichheit wegarbeiten, weil das Anderssein der Negation Prinzip der Wirklichkeit bleibt. Es aufheben hieße, die Wirklichkeit zugunsten einer unwirklichen Gedankengleichung vernebeln. Somit bleibt das Streben seiner Unendlichkeit nach endlich und kommt nie in der unendlichen Gleichung Ich = Ich zur Ruhe. Allein in der Arbeit des Strebens liegt die Selbstvermittlung der endlich-unendlichen Vernunft. Dabei wird das Streben durch den Widerspruch von Wirklichkeit und Ideal angetrieben. Dieser Gegensatz bildet die große Unruhe im Leben des Selbstbewußtseins. Das Streben richtet sich auf die Welt. Es sieht aber von vornherein die Welt im Lichte des Ideals, d. h. eines dem Ich angeglichenen Nicht-Ich. Darum beschränkt es sich nicht auf das Auslegen der feststehenden Erfahrungwirklichkeit, es schafft diese unermüdlich nach dem Bilde der idealen Welt um. Und es lebt in der Spannung zwischen je und je erreichtem Weltzustand und unerreichbarem Ideal. Warum aber ermüdet und vergeht die praktische Vernunft nicht an diesem im Grunde doch unausgleichbaren Widerspruch? Der vom Ideal geleitete Wille verwirklicht sich dadurch, daß er der Idee Wirklichkeit verschafft, und zwar so, daß er sie in den Schranken des Nicht-Ich festmacht. Das so Erreichte aber hält nicht stand, wenn es mit dem Gewollten zusammengehalten und vom Ideal her geprüft wird. Offenkundig gibt es nun ein Vermögen, welches unablässig das je Erreichte mit dem Unerreichbaren auseinandersetzt und zusammenhält. Das Entwerfen des Ideals und das prüfende Zusammenhalten von Erreichtem und Erstrebtem ist Sache der Ideal-bildenden Einbildungskraft. Diese schwebt vermittelnd zwischen der jeweils erreichten Verwirklichung und der Unerreichbarkeit des Ideals und hält dem Trieb des Willens eine Endlosigkeit offen, die an keiner Grenze haltmacht, sondern die bornierten Weltzustände aus Ungenügen an der Wirklichkeit sprengt. Soweit ist die praktische Vernunft ihrem Grundzuge nach widerspruchsfrei als synthetische Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit aufgeklärt. Sie müßte jetzt als der angekündigte Vereinigungspunkt einleuchten, der die Hauptantithese der Vernunft in einer Schlußsynthese eint. Und diese müßte in den Anfang zurücklaufen, um die Dialektik als Methode wahrer Systembildung auszuweisen. In der Tat nimmt das Ende aller Vermittlungen den Anfang in sich auf. Hier erst wird der Sinn des ersten Grundsatzes völlig klar. Der Anfang war die Thesis des Absoluten in der Gleichung Ich = Ich. Dieser Ursatz spricht dem Selbstbewußtsein

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Absolutheit zu, ohne diese im Modus der Wirklichkeit behaupten und durchsetzen zu können. Das scheitert am unableitbaren Faktum der Schranke und endlichen Existenz. Wirklich findet sich das Ich nur so, daß es sich von einem Objekt unterscheidet, das es nicht ist. Das wirkliche Ich ist und bleibt endlich. Wie aber steht es dann mit dem im ersten Grundsatz proklamierten Anspruch auf Unendlichkeit? Diese meint nicht das Ich in seiner Wirklichkeit, sie „ist die Idee des Ich, die seiner praktischen Forderung nothwendig zu Grunde gelegt werden muß" (GL § 5; 409). Die Thesis des Systems spricht eben die Forderung aus: Bestimme dich selbst, und lasse dich nicht durch das Nicht-Ich bestimmen! Die Idee, welche dieser Forderung überhaupt Sinn gibt, ist die Grundgleichung Ich = Ich. In diesem Zusammenhang von praktischer Forderung und aufgegebener Idee klärt sich die Seinsweise des absoluten Ich und seine Einheit mit dem ihm stets ungleichen wirklichen Ich auf. Das absolute Ich ist das Unbedingte, das dem Vernunftwillen als das unbedingt Gesollte zugrunde liegt. Die unterstellte Ubereinstimmung von Vernunft und Wirklichkeit ist nicht seiend, sie ist gefordert. Wirkliches und absolutes Ich sind nicht wirklich gleich, sie sollen gleich werden. Das ist das letzte Wort der Dialektik der Einschränkung in ihrer frühesten Grundlegung. Die ursprüngliche Synthesis der Vernunft ruht in dem die Welt unentwegt verändernden Willen. Die ursprüngliche Negativität der Welt ist die zu überwindende Widerständigkeit des Gegenständlichen. Der herrschende Sinn von Sein ist das Sollen. Leben und Bewegung aller antithetisch-synthetischen Subjekt-ObjektVerhältnisse hängen an der Kraft des Strebens, das Streben aber an der Ursprünglichkeit und Freiheit des menschlichen Willens. Der freie Wille ist die innerste Wurzel des Ich. Sie liegt tiefer noch als die Reflexion theoretischer Selbsterkenntnis und Vergewisserung. Der Wille bildet die ursprüngliche Äußerung des Ich, sofern er in titanischer Anstrengung danach strebt, das Nicht des Nicht-Ich zu negieren und in die absolute Einheit des Ich = Ich aufzuheben. Er setzt sich so die Welt entgegen, um an ihrer Bemächtigung die Macht seines Geistes zu bewähren. Die Reflexion theoretischen Selbstbewußtseins setzt solche ursprüngliche Äußerung und Weltbemächtigung voraus; erst durch sie kann das Bewußtsein in sich zurückkehren, indem es sich von der Welt, die es nicht ist, losreißt. Ohne die Äußerung des ursprünglichen Willens, d. h. ohne praktische Vernunft, wäre die Einkehr der Theorie nicht möglich. Dasselbe Fundierungsverhältnis ergibt sich, wenn die Intelligenz von ihrer einfach negativen Seite bedacht wird. Ein bloß theoretisches Ich würde am Gegen-

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satz zwischen der Unendlichkeit des absolut freien Ich und der Endlichkeit seiner Anstoß-gebundenen Welteinstellung zerbrechen. Nur innerhalb der Zielgebungen praktischen Strebens gewinnt theoretisches Weltverhalten überhaupt Sinn und Bestand. „Die Vernunft könne selbst nicht theoretisch seyn, wenn sie nicht praktisch sey" (GL § 5; 399). So schließt sich der am Anfang eröffnete Widerspruch von Theorie und Praxis im Gedanken ihrer Wechselbeschränkung unter dem Primat der Praxis. Theoretische und praktische Lebensbezüge wurzeln im unableitbaren, in sich gründenden Grund des Willens. Ohne den Aufbruch der Freiheit wäre alles selbstbewußte Leben erstarrt. Es würde durch einseitige Fremdbestimmung in der Wurzel abgetötet. Hängt sich das Ich tatsächlich an das Nicht-Ich, dann wird der Mensch zum Anhang der Welt. Dann erstirbt alles dialektische, d. h. geistbestimmte Leben. Ubernimmt dagegen das Ich seine Bestimmung, nämlich die Aufgabe, das Ideal des Ich = Ich durch fortschreitende Nichtung des Nicht im Nicht-Ich zu verwirklichen, dann wird die praktische Vernunft zum ersten Prinzip aller Bewegung, aller Tat, aller Begebenheit und allen Lebens.

6. Kapitel: Die Dialogik der Aufforderung und die Neubegründung der Fremderfahrung Seit Descartes' ausschließlicher Gegenüberstellung von substantia cogitane und substantia extensa kreist die Grundfrage der Philosophie um das Problem der Entgegensetzung und Vereinigung von Geist und Natur bzw. von Intelligenz und Ding, Mensch und Körperwelt, Seele und Leib, Subjekt und Objekt oder von Ich und Nicht-Ich. Die Frage nach dem Mitsein, den Mitmenschen und der Mitwelt spielt in diesem Gegensatz keine fundamentale Rolle. Das alter ego der ,Fremderfahrung' stellt ein Objekt unter anderen dar, gegen das sich das Ich fremd fühlt. Die herkömmlichen Randthemen von Fremderfahrung und Intersubjektivität und die isolierten Nebenfragen nach Kategorien des gesellschaftlichen Seins gewinnen erstmals innerhalb der limitativen Dialektik Fichtes ein zentrales Interesse. In durchsichtiger Konsequenz geht die Dialektik des Selbstbewußtseins von der antithetischen Synthetik der theoretischen Vernunft zur synthetischen Antithetik der praktischen Vernunft und von da zur offenen Dialogik der gesellschaftlichen Vernunft über. Es ist das durchgängige Bedingungsverhältnis von Freiheit und Schranke, das auf die fundamentale Rolle des mitmenschlichen Anderen

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hinleitet. Alle Freiheit braucht eine Schranke. An ihrem hemmenden Widerstand versammelt sich die unbestimmte Möglichkeit der Freiheit zu konkreter Tat. Fände das unendliche Freiheitsstreben keinen Widerstand, dann bliebe es eine unreflektierte Tendenz, in der das Ich nie zu sich selbst käme. Schränkt sich das Ich nicht an einem unbedingten Widerpart ein, dann läuft sein absoluter Wille Gefahr, zur sich selbst auslassenden Willkür zu korrumpieren und zu einer Besitznahme auszuwachsen, welche alles andere als das Meinige deklariert. Innerhalb der Ausarbeitung der Wissenschaftslehre wächst die Einsicht: Die Prinzipien von Freiheit und Ichheit werden zum Traum- und Schreckensbild einer totalitären menschlichen Selbstmächtigkeit, wenn sie nicht bedingungslos an einer Schranke haltmachen und ein Entgegengesetztes frei anerkennen. Solche haltgebende und wirkliche Freiheit versprechende Schranke findet sich im Verhältnis des Ich zum bloßen Nicht-Ich nicht vor. Zwar garantiert der Anstoß der Dingwelt ein unaufhebbares Gegensatzverhältnis, aber die so beschränkende Welt weicht doch als das Nicht des Ich ständig zurück, weil das Ich dessen Nichtigkeit fortschreitend überwindet. Im Verhältnis zur Körperwelt und Natur findet das Ich keinen adäquaten Widerpart, an dem seine Eigenmacht Einhalt und seine Freiheit wirkliches Profil gewinnen. Und so kehrt sich die Gefahr des Freiheitsverlustes um. Die Setzungen der Tathandlung haben die naheliegende und plausible Ansicht des Dogmatismus gebannt, die Dinge seien mächtiger als das Ich. Aus ihnen erwächst aber umgekehrt die grundsätzliche Gefahr, daß die schrankenlose Freiheit ins Nichts versinkt. Eine totale Freiheit, der im Grunde nichts widersteht, verschwebt in nichtiger Möglichkeit und weicht einer totalitären Willensherrschaft. Die wachsende Sorge vor dem ,Nihilismus' absoluter Freiheit findet innerhalb der ersten .Grundlage' ihre Beruhigung in Feststellungen, welche die Bezüge der Mitwelt systematisch und methodisch fixieren. Die unendliche Freiheit des Ich stößt am anderen Ich auf eine unbedingte Schranke. Das andere Ich hemmt bedingungslos und grundsätzlich die Eigenmacht jedes ego. Im Anderen stellt sich dem Ich ein Nicht-Ich entgegen, das selber ichhaft ist. Dieses Gegenüber ist seinsmäßig der gänzlichen Objektivation und Einvernahme entzogen. Es handelt sich ja um ein Objekt, das für sich selbst Subjekt und für das ich Objekt bin. Dieses Nicht-Ich gebietet dem egozentrischen Selbstbewußtsein und dem Willen, sich das Nicht-Ich anzugleichen, Einhalt. Aus der Sorge um die Wirklichkeit der unendlichen Freiheit im unendlichen Dasein kommt der grundlegende Bezug des Menschen zum Menschen in den Blick.

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In den Bezügen von Ich und Du eröffnet sich einer Dialektik der Schranke ein fruchtbares Untersuchungsfeld, in dem sich ihre Grundlage zugleich betätigt und bestätigt. Der erste neuzeitliche systematische Entwurf einer Soziodialektik bezieht Stand und Ethos des Menschen nicht mehr primär auf die Umwelt und die Sinnlichkeit, er hebt den Grundbezug zur Mitwelt und dessen eigentümlichen Anstoß-Charakter heraus. Er revidiert damit ineins die vordringliche und ausschließliche Hauptantithese zwischen theoretischem Ich und Natur und den Ungedanken des Solipsismus, der die Ich-Einsamkeit zum Prinzip erhebt. Die Wirklichkeit des Menschen ist gesellschaftlich. Ein Zusatz der dänischen Ausgabe zu den frühen Vorlesungen über die ,Bestimmung des Gelehrten' von 1794 macht das formelhaft klar. „Überdies sind wirkliche Menschen nicht möglich, außer soweit sie in Verbindung stehen mit Menschen ihres Gleichen. Kein Mensch ist isoliert" (BdG; AW I, 274a). Die geläufige Definition des Menschen als eines ζφον πολιτικόν und animal sociale stellt keine willkürliche Annahme dar. Sie beruht auch nicht auf bloßer Wahrscheinlichkeit, die sich auf das Faktum bisheriger Erfahrung und die überwiegende Meinung der Uberlieferung stützt. Sie ist „eine aus dem Begriff des Menschen streng zu erweisende Wahrheit" (NR § 3; III, 39). Die ursprüngliche Sozialität des Menschen erweist sich als wahr, wenn sie als notwendige Bedingung zur Sprache kommt, die wirkliches menschliches Selbstbewußtsein allererst möglich macht. So ließe sich das Miteinander dem Wesen des Menschen entnehmen, sofern dessen Wesen als Ichheit und Selbstbewußtsein gewiß ist. Solche Deduktion hat Fichte im Rahmen des Naturrechts und der Sittenlehre vorgetragen (vgl. vor allem N R § 3 und SL § 18, III-V). Und offensichtlich haben hier Grundverhältnisse des Zwischenmenschlichen eine angemessene Stelle. Rechtsverhältnisse bilden Beziehungen zwischen Vernunftwesen, die Gesellschaft ermöglichen. Das Sittengesetz gebietet außer den Pflichten des Menschen gegen sich selbst gleich ursprünglich Pflichten gegen andere. Nun steht es aber nicht so, daß die Kategorien des Mitseins aus dem Rechtsbegriff und Pflichtgefühl entspringen. Rechts- und Pflichtverhältnis folgen umgekehrt aus dem Miteinandersein von Vernunftwesen. Das Mitsein aber resultiert aus dem Bedingungszusammenhang mit dem Wesen des Selbstbewußtseins. Das andere Ich kann mithin nicht sogleich als Glied eines Rechtsverhältnisses oder als Mitglied des , Geisterreiches ' in Anspruch genommen werden. Grundbestimmungen des Miteinander lassen sich nicht unmittelbar aus dem Rechts- oder Pflichtbewußtsein entnehmen, sie sind allein aus dem Selbstbewußtsein herzuleiten und zu

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rechtfertigen 41 . Sie sind also weder rechtlich noch moralisch begründet, sondern ontologisch. Darum bilden sie die systemgerechte Grundlage für Naturrecht und Sittenlehre. Die so in den Disziplinen von Naturrecht und Sittenlehre entfaltete Deduktion des Miteinander wird hier unter der leitenden Absicht nachgezeichnet, die Dialektik der Limitation als einen bahnbrechenden Weg in die Sozioontologie offenzulegen. Auch das Eindringen in das Gebiet der gesellschaftlichen Vernunft ist methodisch-dialektisch gebahnt. Wenn zwischenmenschliche Verhältnisse zum ursprünglichen Leben des Selbstbewußtseins gehören und wenn dessen Lebendigkeit dialektisch formiert ist, dann kann die philosophische Analyse auch in diesem Bereich nur nach den bewährten Regeln der »synthetischen Methode' verfahren. Daher muß abermals eine noch nicht zur Sprache gekommene Antithesis aufgedeckt werden. Auch der Ausgang für die Erforschung des gesellschaftlichen Seins besteht darin, einen Widerspruch im Selbstbewußtsein nachzuweisen. Es muß dargetan werden, daß der Mensch ohne Bezug auf den Menschen weder Mensch werden noch sein kann. „Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein ganzer vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt" (BdG 2. Vorl.; VI, 306). Der ungesellschaftliche Mensch ist eine contradictio in adiecto. Der Weg in die Dialektik der Gesellschaft beginnt damit, die in diesem Satz behauptete Widersprüchlichkeit evident zu machen. Das wird im Nachweis eines Zirkels geschehen. Es wird sich zeigen, daß ein Selbstbewußtsein, das sich ohne den Bezug zum Anderen konstituieren will, einem Zirkel in den Bedingungen von Wirklichkeit und Präsenz verfällt. Dieser aufzudeckende Widerspruch bildet die belebende Aporie, welche die Methode zu Einsichten in die wahren synthetischen Verhältnisse treibt, sofern im Horizont des Selbstbewußtseins jede Antithesis von sich her eine angemessene Synthesis mit aufbringt. Dem hat die dialektische Methode auch im Falle des gesellschaftlichen Ich nachzugehen. „Nach den bekannten Regeln der synthetischen Methode ist die eben aufgestellte Antithesis zu lösen durch Synthesis des Bedingten und der Bedingung, so daß beide als Eins und ebendasselbe gesetzt würden" (SL § 8, II; IV, 104). Im regelrechten dialektischen Verfahren

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Repräsentativ für eine kritische Auslegung, wonach Fichte aus dem ursprünglichen Pflichtbewußtsein die Existenz fremder Ich-Subjekte, gegen die ich Pflichten haben kann, in praktischer Evidenz deduziert habe, ist Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, 19232. S. 262. Das ist richtig gestellt bei W. Weischedel, 1. c. S. 123.

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wird sich eine synthetische Handlung nachweisen lassen, die das Bewußtsein des Mitseins stiftet und die Wirklichkeit des Selbstbewußtseins rettet: die Aufforderung. Und es wird sich eine einigende Wechselbestimmung entfalten, die das gesellschaftliche Sein von Grund auf trägt: die Anerkennung. Die begriffene Synthesis der Aufforderung bildet die erste Kategorie der Erziehung im weitesten Sinne, die begriffene Synthesis der Anerkennung die zentrale Kategorie der Gesellschaft. Deren Beschreibung scheint ebenso leicht, wie ihre verbindliche Herleitung schwer ist. In Wahrheit ist das methodische Eindringen in die Grundbezüge der Gesellschaft „der schwierigste Weg, da überhaupt die aufgestellte Synthesis eine der abstractesten ist, welche in der ganzen Philosophie vorkommen" (SL § 8, II; IV, 105). Die Anfangsfrage aller Soziodialektik lautet: „Wie kömmt der Mensch dazu, vernünftige Wesen seines Gleichen außer sich anzunehmen und anzuerkennen, da doch dergleichen Wesen in seinem reinen Selbstbewußtseyn unmittelbar gar nicht gegeben sind?" (BdG 2. Vorl.; VI, 302). Die Wissenschaftslehre hat diese „fast noch ganz unberührten Fragen" (ibid.) epochal gelöst. Sie läßt dabei alle Lösungen, die auf dem Wege theoretischen Analogisierens, sei es in der Form des Analogieschlusses, einer analogisierenden Appräsentation oder der ,Einfühlung', aus einem isolierten Ich-Prinzip hinaus und zur Gewißheit eines fremden Ich kommen wollen, unter sich. Der geläufige Irrweg der Analogie, den Fichtes frühe Bestimmung des Gelehrten in halber Drehung zur Praxis zu gehen suchte — und auf die die neue Monadologie von Husserls 5. Cartesischer Meditation zurückgelenkt hat 42 —, ist durch den Weg der Dialektik überholt. Die Dialektik der Fremderfahrung geht auf die ,Wurzel des Ich* und auf seinen wesentlichen Charakter' zurück. Aber sie stellt es nunmehr

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Husserls Phänomenologie schreibt eine künstliche Abstraktion auf ein einziges IchSubjekt und die Sphäre seiner Objekte vor, aus der alle fremden Subjekte und selbst alle möglichen Verweisungen auf sie ausgeschlossen sind. Dadurch soll zur Gegebenheit gebracht werden können, wie in diesen gereinigten Ich-Kreis der ,primordinalen Sphäre' ein fremdes Ich eintritt, nämlich als leib-körperliches Objekt, bei dem Verhaltungen mitpräsent sind, die meinen analog sind (Sprache, zweckmäßiges Wirken usw.). Was sich mir so appräsentativ präsentiert, sind Gegebenheiten, die mir die Befugnis geben, ein Objekt anzunehmen, das selbst Subjekt ist. Indessen haftet solchem Analogisieren doch ein Grad der Ungewißheit an, da es letztlich unentscheidbar bleibt, ob das alter ego nicht doch ein Körperobjekt ist, das ein ichliches Verhalten bloß vortäuscht. In der Zweifelsfrage der Fremderfahrung bleibt die Phänomenologie (auf ihrem Wege über die Intersubjektivität zur Objektivität der Welt) ein problematischer Idealismus. Fichte nennt solchen Ansatz .individuellen Subjektivismus'.

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unter die Bedingungen von Wirklichkeit und Präsenz. Jetzt wird der wirkliche Beginn des Selbstbewußtseins in Betracht gezogen, das faktische Selbstbewußtwerden des Menschen in einem Momente der Zeit. Ein Ich ist wirklich, sobald die freie Tätigkeit des Willens zum Bewußtsein kommt. Wollen bedeutet eine Art Wirksamkeit nach Begriffen, ein zweckgeleitetes Wirken, in dem etwas zur Vorstellung gebracht wird, um es zu verwirklichen. Sofern Wollen Erwirken von etwas Bestimmtem meint, setzt diese Vorstellungsweise das Setzen eines Objekts voraus. An diesem Punkt der Strukturerörterung kommt die Zeit ins Spiel. Die vorstellenderkennende Setzung eines Objekts muß der freien Tätigkeit des Willens vorhergehen, da jener sich ja auf dieses richtet. Das aber bedeutet doch, daß dem Innewerden der Willenstätigkeit das Setzen eines Gegenstandes der Zeit nach vorausgeht. „Das Setzen des Objects, als eines durch sich selbst bestimmten, und insofern die freie Thätigkeit des vernünftigen Wesens hemmenden, muß in einem vorhergehenden Zeitpunct gesetzt werden" (NR § 3 ; 111,30). Damit die Kausalität des Willens wirklich gegenwärtig und bewußt sein kann, muß in einem vorangehenden Moment ein Objekt gesetzt sein, auf das hin sich der freie, ungebundene Wille versammeln kann. Ein Objekt aber kann doch nur gesetzt werden, wenn ein entgegensetzendes Subjekt da ist. Das Setzen von Entgegengesetztem bedeutet aber im Lichte des Willensprimats einen Akt des Willens. Das Entgegengesetzte ist im Grunde nichts als der Widerstand des Willens, so daß sich der Mensch im Entgegensetzen als Streben versteht, das Widerständige zu überwinden. So aber setzt sich das erwachende Ich ständig voraus. Dem Bewußtsein der Wirksamkeit des Willens, dem ,Erwachen' des Ich, geht ein begreifendes Objekt-Bewußtsein voraus, diesem wiederum ein Setzen willenhafter Wirksamkeit, und so endlos im Kreise. Die Frage nach dem zeitlichen Anfang des Selbstbewußtseins verläuft in einem Zirkel. „Alles Begreifen ist durch ein Setzen der Wirksamkeit des Vernunftwesens; und alle Wirksamkeit ist durch ein vorhergegangenes Begreifen desselben bedingt. Also ist jeder mögliche Moment des Bewußtseyns, durch einen vorhergehenden Moment desselben bedingt, und das Bewußtseyn wird in der Erklärung seiner Möglichkeit schon als wirklich vorausgesetzt" (NR § 3; 111,30). Um seiner selbst bewußt und präsent zu werden, muß das Selbstbewußtsein schon in einem früheren Moment wirklich gewesen sein. Hier eröffnet sich der Zirkel der Reflexion, wonach das ursprüngliche Selbstbewußtsein sich selbst immer schon als vorhanden voraussetzt und sich dadurch aller Erklärung entzieht. „Der Grund der

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Unmöglichkeit, das Selbstbewußtseyn zu erklären, ohne es immer als schon vorhanden vorauszusetzen, lag darin, daß um seine Wirksamkeit setzen zu können, das Subject des Selbstbewußtseyns schon vorher ein Object, bloß als solches, gesetzt haben mußte: und wir sonach immer aus dem Momente, in welchem wir den Faden anknüpfen wollten, zu einem vorherigen getrieben wurden, wo er schon angeknüpft seyn mußte" (NR § 3; 111,31 — 32). Der Zirkel des Bewußtseins bewegt sich in einer Antinomie der Zeit. Das Bewußtsein meiner selbst soll an das endliche Moment der Gegenwart, in dem eine freie Kausalität präsent ist, angeknüpft werden. Aber es entgleitet, weil dieser Anfang stets auf ein vorhergehendes Moment zurückführt, in die endlose Vergangenheit des Schon-gewesen-Seins. So reduziert sich die Zirkelstruktur des Selbstbewußtseins auf den Zirkel von Vergangenheit und Präsenz in der endlichen Zeitlichkeit des Menschen. Vom Zeitpunkt der Bewußtseinsbildung her hat jede Gegenwart eine Vergangenheit zur notwendigen Voraussetzung. In dieser Perspektive erscheint der Mensch als das unbegreifliche Wesen seiner uneinholbaren Vergangenheit. Damit ist eine bisher unbeachtete Antithese aufgestellt. Natürlich modifiziert sich in ihr der eingefleischte Gegensatz zwischen freiem Ich und determinierendem Nicht-Ich bzw. zwischen absolutem Willen und objektgebundener Intelligenz. Die neue Ansicht der alten Antithese aber resultiert aus dem Einschlag der Zeit. Wie ist sie synthetisch zu lösen? Synthetisch vereinigt werden soll der Gegensatz zwischen dem gegenwärtigen Moment, in welchem das Ich zum Bewußtsein seiner freien Tätigkeit kommt, und dem je vorhergehenden Moment, in welchem die Tätigkeit durch ein vorgegebenes Objekt zweckbestimmt ist. Beides müßte in einem Zeitpunkt zugleich sein. Das kann nun offenbar nur so geschehen, daß dem Subjekt das Objekt und der Zweck seiner freien Tätigkeit von außen gegeben wird, denn unter der Bedingung, daß sich das Subjekt Gegenstand und Ziel seines Wirkens selber vorschreibt, hatte es sich selbst, d. h. die Wirklichkeit seiner freien Willensentscheidung, immer schon vorausgesetzt. Allein dann läßt sich die crux des ersten Momentes, in welchem das mögliche in wirkliches Freiheitsbewußtsein umschlägt, lösen, wenn eingesehen und zugestanden wird: In Wirklichkeit und ursprünglicher Zeitigung gibt sich der Einzelne den Begriff seiner Selbsttätigkeit nicht von selbst und von innen her, er muß ihm vielmehr von außen gegeben sein. Kein Mensch, isoliert und auf sich gestellt, kann zum Bewußtsein seiner Freiheit erwachen. „Ursprünglich kann ich mich nicht selbst durch freie ideale Thätigkeit bestimmen, sondern ich muß

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mich finden, als bestimmtes Object" (SL § 18; III, 219). Sich als bestimmtes Objekt finden, heißt, sich anfänglich als Etwas finden, dem Zweck und Sinn seiner Tätigkeit von außen gegeben ist. Zum zeitlichen Anfang des Selbstbewußtseins bedarf es eines äußeren Anstoßes. Gerade diese Vereinigung, welche den Zirkel von Zeit und Reflexion still stellt, gebiert einen neuen Widerspruch. Das synthetische Lösungsgebot lautete: Das Subjekt soll sich selbst finden als Objekt. In ihm steckt der erneuerte Gegensatz zwischen Selbsttätigkeit und Fremdbestimmung. Das Ich kann zu seinem Selbst nur finden, indem es Selbsttätigkeit vorfindet, es kann sich selbst nur finden, indem es sich zu sich als einem gegebenen, von außen bestimmten Objekt verhält. So aber wäre der Mensch uneins mit sich. Er erführe sich im selben Moment als innerlich frei und von außen bestimmt, und er käme nicht zum Bewußtsein seiner selbst als eines freien Vernunftwesens, sondern verfinge sich in einem widersprüchlichen Hin und Her. Auf die Konsequenz dieses Gegensatzes hat sich eine dialektische Überlegung einzulassen. Ohne äußeren Anstoß findet der Mensch in keinem Jetzt der Gegenwart wirklich zu sich, im Bestimmtwerden von außen erwacht er nie zum Bewußtsein seiner freien Wirksamkeit. Beide Gegensätze lassen sich limitativ vereinigen. „Beide sind vollkommen vereinigt, wenn wir uns denken ein Bestimmtseyn des Subjects zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschließen" (NR § 3; III, 32 — 33). Die den Widerspruch aufhebende Bedingung heißt Aufforderung. In ihr findet sich das Ich zur Selbstbestimmung bestimmt. Daher vereinigt die Aufforderung beides, Anstoß und Freiheit. Sie bestimmt das Ich und läßt ihm Freiheit, sie ist „ein äußerer Anstoß, der ihm jedoch seine völlige Freiheit zur Selbstbestimmung lassen muß" (ibid.). Aufforderung meint mithin ein solches Bestimmtwerden des Ich durch ein Anderes außer ihm, das die Wirksamkeit nicht nezessitiert oder gewaltsam abnötigt, sondern eine mögliche Selbstbestimmung zu tatsächlichen Entschlüssen herausfordert. In ihr findet sich das Ich in der Tat frei gegeben. Mit dieser Auskunft kann die dialektische Erörterung des wirklichzeithaften Ich-Anfangs jedoch nicht abschließen. Es wiederholt sich in ihr nicht etwa bloß die von Kant erledigte dogmatische Schwierigkeit eines Selbstanfangs innerhalb der Jetztreihe .physikalischer Zeit*. Was ineins mit dem Anfang des Selbstbewußtseins zur Sprache kommt, ist der Anfang des Zeitbewußtseins als Zeitigung der Zeit. In dieser Rücksicht muß ein Widerspruch der bisherigen Anstoß-Lösung konstatiert werden. Der

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Begriff der Wirksamkeit kann dem Ich nicht als etwas Gegenwärtiges gegeben sein. Was mir schon präsent ist, braucht nicht erst gegeben zu werden, und was schon wirklich ist, kann ich nicht als Zu-Verwirklichendes übernehmen. Die Auflösung dieses Widerspruchs liegt in der synthetischen Einheit von Zukünftigkeit und Willen. Das Ich „bekommt den Begriff seiner freien Wirksamkeit, nicht als etwas, das im gegenwärtigen Momente ist, denn das wäre ein wahrer Widerspruch; sondern als etwas, das im künftigen seyn soll" (ibid.). Dieser Aufschluß vereinigt das Wesen des Willens mit der Zukünftigkeit der Zeit, und zwar in der Form einer ursprünglichen Wechselbestimmung. Der Wille ermöglicht überhaupt erst den Begriff der Zukunft. Ineins läßt die Zukünftigkeit das Selbstbewußtsein erst wirklich zu sich kommen. „Durch den Willen, und letztlich durch ihn, wird in dem gegenwärtigen Momente die Zukunft umfaßt; durch ihn ist der Begriff einer Zukunft überhaupt, als einer solchen, erst möglich; durch ihn wird sie nicht nur umfaßt, sondern auch bestimmt; es soll eine solche Zukunft seyn" (NR § 1 1 ; 111,117—18). Ein willenloses, tierisches Bewußtsein hängt im Moment der Gegenwart fest und ist mit Lust und Unlust, ohne Hoffnung, aber auch ohne Furcht an den ,Pflock des Augenblicks' angebunden. Der Mensch, dessen Selbstbewußtsein im Willen wurzelt, lebt dagegen im Vor-sich-Stellen von Möglichkeiten, die noch nicht gegenwärtig, die aber von ihm zu gewärtigen sind. Die vom Willen entworfene Zukunft gewinnt den Charakter der praktischen Möglichkeit. Praktisch kann diejenige Möglichkeit heißen, die in der Macht des Subjekts steht, das sich planend und prädeterminierend vorweg ist. Für den neuzeitlichen Willen zählen prinzipiell nur Möglichkeiten, die mögliche Wirksamkeiten seiner selbst sind. So verbindet sich der Primat der praktischen Vernunft mit dem Primat der zukünftigen Zeit. Die Zeit-bildende Einbildungskraft als Quellgrund der theoretischen Vernunft lebt unter dem Primat der Gegenwärtigung. Sie formiert Zeit vorzüglich durch eine In-eins-Bildung der auseinanderstrebenden Gegensätze von Subjekt und anschaubarem Weltgehalt ins ausgedehnte Jetzt der Gegenwart. Der Wille dagegen entwirft die Zeit in vorausgesehener Wirklichkeit. Er bestimmt und ermöglicht die Zukunft als seine selbstverwirklichte, künftige Gegenwart. Zugleich aber reißt die Zeitigung der Zukunft die Konstitution des Selbstbewußtseins aus ihrem Zirkel heraus. Jetzt zeigt sich, daß dem Zeitpunkt der Wirklichkeit nicht ein gegebenes Objekt - und damit das Selbstbewußtsein sich selber — im Tempus der Vergangenheit vorausliegt; denn die dem Willen gegebene Welt ist nichts anderes als eine von ihm über-

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nommene Aufgabe und ursprünglich nicht seine Vergangenheit, sondern seine Zukunft 4 3 . So weit ist die Aufforderung als notwendige Bedingung für die Genesis des Selbstbewußtseins deduziert. „Das vernünftige Wesen kann sich nicht setzen, als ein solches, es geschehe denn auf dasselbe eine Aufforderung zum freien Handeln" (NR § 3 ; 111,39). Von diesem Resultat bis zur Annahme der Existenz eines Ich außer mir ist nur noch ein kurzer Schritt. „Geschieht aber eine solche Aufforderung zum Handeln auf dasselbe, so muß es nothwendig ein vernünftiges Wesen außer sich setzen" (ibid.). Diese ursprünglich-synthetische Handlung eines Außer-sich-Setzens ist zwingend. In der Aufforderung empfindet sich das Ich als begrenzt durch ein Begrenzendes, das nicht es selbst ist. Und weil doch das Begrenzende, soll sein Auffordern nicht unsinnig sein, damit muß rechnen können, daß die Aufforderung begriffen und ihr völlig entsprochen werden kann, muß es selbst einen Begriff von Vernunft und Freiheit haben. Das auffordernde Nicht-Ich, das beim Hörenden ein Begreifen seiner Ansprache und ein Vorverständnis von Freiheit erwartet, muß selbst ein des Begriffes fähiges Wesen sein. Und da nun Intelligenz oder theoretische Vernunft nur auf dem Grunde von Freiheit und praktischer Vernunft möglich ist, muß außer dem Ich ein anderes freies Ich als seiend vorgestellt werden. Diese Setzung ergibt sich nicht eigentlich aus einem Analogieschluß, der vom Verständnis des Aufgeforderten auf das Selbstverständnis des Auffordernden schließt. Auch beim Anstoß der Aufforderung ist das eigentümlich synthetisierende Vermögen der Einbildungskraft im Spiel. Sie entwirft das Bild des Auffordernden, und sie hält beides, Begrenzendes und Begrenztes, ursprünglich auseinanderhaltend zusammen. So entspringt der Grundsatz der Sozialität: Das Ich setzt notwendig dem teilbaren wirklichen Ich ein anderes Ich entgegen. Dieser Deduktionsgang kehrt die herkömmliche Theorie der Fremderfahrung grundsätzlich um. Er verläuft nicht vom Ich zum Du, sondern umgekehrt vom Du zum Ich. Und er verfolgt nicht die theoretische Frage der Erkenntnis des Anderen durch mich, sondern einen Dialog sozialer Praxis. Beides verdient, herausgestrichen zu werden. Der Dialog von Aufforderung und Entsprechung setzt beim anderen Ich ein. Vom Moment des Dialogbeginns her kommt dem Du ein Vorrang 43

Uber den abgeleiteten Charakter dieser die Neuzeit weithin bestimmenden .ursprünglichen' Synthesis von Subjektivität und Zeitlichkeit vgl. W. Janke, Die reine Möglichkeit der Zukunft. Zur temporalen Interpretation von Wille und Existenz. In: Weltaspekte der Philosophie. Festschrift für R. Berlinger. Amsterdam 1972. S. 143-59.

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in der Ich-Du-Beziehung zu. Solche Priorität erhebt freilich nicht den Anspruch, das Du ontologisch dem Ich überzuordnen, als sei das Du dem Wesen und Anfangsgrunde nach früher als das Ich. Hier dreht es sich lediglich um ein Früher dem Werden nach und um die Konsequenz für den Scheingrund des monadischen Ich und die Scheinproblematik des Solipsismus 44 . Kann als sicher erwiesen gelten, daß das Du dem Ich vorhergeht, weil es die Verwirklichung seines Freiseinkönnens ermöglicht, dann ist die .objektive Realität* eines anderen Ich so wenig zweifelhaft wie die Gewißheit des Ich selbst. Das Gespenst des Solipsismus zerfällt in sich selbst. Und die neue Theorie der Fremderfahrung baut auf einem Dialog, der das freie Handeln hervorruft. Die Aufforderung stellt das anfängliche Zwiegespräch dar, das jedem herrschaftsfreien Dialog zwischen Menschen zugrunde liegt. Die Aufforderung geschieht in der Weise einer Anrede. Sie provoziert eine zustimmende oder abschlägige Antwort. Der Angesprochene hat zwar zunächst nur die Rolle des Hörenden, aber er antwortet eben durch die Tat, indem er der Aufforderung entspricht oder sich ihr verschließt. Indem das Selbstbewußtsein, um in der Tat zu sich zu kommen, auf eine Anrede hören und ihr faktisch antworten muß, wird es überhaupt erst fähig, mit seinesgleichen zu sprechen. Die .Kommunikation* der Sprache basiert auf der .Interaktion' von Aufforderung und Entsprechung. So gründet der herrschaftsfreie Umgang von Menschen mit Menschen im synthetischen Verhältnis der Aufforderung, in welchem ein freies Bewußtsein mit der Antwort eines Anderen rechnet. Der Dialog-stiftende Charakter der Aufforderung ist streng von der Sprechart des Befehls zu unterscheiden. Jede Art Befehl überspringt ein Zwiegespräch zwischen Gleichberechtigten. In ihm spricht sich ein Verhältnis der Uber- und Unterordnung aus. Die Anrede des Befehls rechnet beim Hörenden nicht mit dem Hören auf die eigene Stimme der Vernunft, sie fordert bedingungslosen Gehorsam. Darum räumt der Befehl dem Anderen gar keinen Auslegungs- und Entscheidungsspielraum ein und läßt erst recht keinen Widerspruch zu. Die Aufforderung dagegen will den Anderen gerade in appellierendem Zuspruch zur Eigeninitiative und zum Ergreifen seiner Selbständigkeit wachrütteln. Sie will den Anderen nicht

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Über die Versuche von F. Gogarten und E. Griesebach, die werdemäßige Priorität des Du in theologischen Gedankengängen und aus religiösen Voraussetzungen seinsmäßig umzumünzen, vgl. W. Weischedel, 1. c. S. 125ff.

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kommandieren, sondern sich selbst überantworten. Sie sucht ihn zu erziehen 45 . Alle Erziehung hebt in der grammatischen Form des Imperativs an. Aber ihre .Befehlsform' spricht nicht eine repressive Gehorsamsforderung aus, sie bedeutet Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit. Und diese kann weder aufgezwungen noch geschenkt, sie muß dem Anderen zugemutet werden. Darin gewinnt Erziehung einen weiten Sinn. Prinzipiell beschränkt sich der Vorgang der Erziehung nicht auf die besonderen Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern und zwischen Lehrer und Zögling. Jeder vernünftige .Einfluß' des Menschen auf den andern und der Gesellschaft auf den Einzelnen kann mit Recht Erziehung heißen, wenn Erziehung besagt, den Mitmenschen für die Möglichkeit des Gebrauchs seiner Freiheit zu bilden.

7. Kapitel: Anerkennung. Zur Grundlegung einer Dialektik der gesellschaftlichen Vernunft Wie ein roter Faden zieht sich die Dialektik der Anerkennung durch die verwickelte Problematik des gesellschaftlichen Seins. Es ist die Wesensbestimmung des Selbstbewußtseins selber, die den Wechselbegriff der Anerkennung zwischen Ich und Du enthält und zur Sprache bringt. Und es sind dessen Gestalten vom Kampf auf Leben und Tod über die Bezüge von Herr und Knecht bis zum unglücklichen Bewußtsein, die eine Erscheinungslehre des Selbstbewußtseins aus dem vielfältigen Umschlag der Anerkennung entwickelt. Beides hat Hegels Phänomenologie auf der Stufe des Selbstbewußtseins expliziert. Marx wird die ökonomische Weite des Anerkennungskampfes herausheben. Danach stellt sich die gesellschaftliche Beziehung des menschlichen Gattungswesens als Kampf zwischen Privateigentümern dar; deren gemeinsamer Boden ist eine wechselseitige Anerkennung. Aber diese erkennt nicht die Macht des menschlichen Selbstbewußtseins, sondern den produzierten Gegenstand als Maß der Macht an. „Unsere wechselseitige Anerkennung über die wechselseitige Macht unserer Gegenstände ist aber ein Kampf" (Ausz. M.; MEW 45

Fichtes Satz „Die Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit ist das, was man Erziehung nennt" (NR § 3; III, 39) ist als hypothetische Grundlage der Erziehungslehre gründlich analysiert worden von J. Schurr, Gewißheit und Erziehung. Versuch einer Grundlegung der Erziehungslehre Fichtes nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Ratingen 1965, insbesondere S. 89ff.

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Erg. 1,460). Solche Pervertierung der Anerkennung bedeutet auch und gerade beim Marx der .Pariser Manuskripte' eine Entfremdung des menschlichen, gesellschaftlichen Wesens. Die Herkunft der Kategorie der Anerkennung und ihr Zusammenhang mit Selbstbewußtsein und zwischenmenschlichem Leben aber sind weder bei Hegel noch bei Marx hinreichend geklärt. Sie sind durch Fichtes Wissenschaftslehre im Zusammenhang mit der Dialogik der Aufforderung systematisch dargelegt worden. Die aufgedeckte Synthesis der Aufforderung eröffnet auf der Grundlage der Wissenschaftslehre die limitative Dialektik der Gemeinschaft. Die Aufforderung hatte sich als eine genuine Kategorie synthetischer .Beschränkung' erwiesen. Sie schränkt das aufgeforderte Ich ein, insofern sie dessen Selbstbestimmung beschränkt, und sie stiftet Einheit, insofern sie Ich und Du durch Anrede und Antwort in einen Bezug freier Vernunftwesen setzt. Die Dialektik der Aufforderung hat die Spaltung des Selbstbewußtseins in getrennte Individuen vollzogen und die mögliche Aufhebung dieser Trennung in die Einheit eines Wir angelegt. Aus ihr erwächst folgerichtig eine neue antithetisch-synthetische Fügung des Selbstbewußtseins. Das sei in einem Vorblick projiziert. Zunächst wird ein neuer Widerspruch aufzudecken sein, der zum Satz leitet: ,Kein Selbstbewußtsein ohne Bewußtsein der Individualität'. Paradoxerweise wird die Aufklärung dieses Begriffs die Individualität als eine soziale Kategorie deutlich machen. Ein zweiter Schritt wird die Art der gesellschaftlichen Synthesis vor Augen führen. Er wird die Anerkennung oder „freie Wechselwirksamkeit" (NR § 3; 111,34) zwischen Ichen deduzieren. Anerkennung ist die notwendige Bedingung für die Wirklichkeit individuellen Seins. So leitet die Lösung des Problems der Fremderfahrung zur methodisch gleich- und fortlaufenden Erschließung gesellschaftlicher Grundverhältnisse. Die Analyse der Aufforderung hat einen Widerspruch liegengelassen. Dank der Aufforderung findet das Ich zu sich selbst, indem es den Grund seines Tuns und Lassens in sich selber setzt. Zugleich aber tritt doch ein Wesen außer mir als .Anstoß' und Grund auf. „Der Grund der Wirksamkeit des Subjects liegt zugleich in dem Wesen außer ihm und in ihm selbst" (NR § 4; 111,41). Dieser Widerspruch verschwindet im Medium der einteilenden Einschränkung. Der Andere außer mir bewirkt die Wirksamkeit des Ich der Form und der Materie-überhaupt nach; denn er evoziert die Form der Selbsttätigkeit in einem materiellen Handlungsspielraum von Möglichkeiten. Im Hinblick auf die bestimmte Materie des Handelns dagegen gründet die Wirksamkeit des Subjekts in ihm selbst.

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Der Auffordernde kann ja, soll seine Ansprache nicht zum Befehl werden, nicht vorschreiben, welche der Möglichkeiten das Selbst ergreifen soll. „Insofern allein kann es sich als absolut freies Wesen, als alleinigen Grund von etwas setzen" (ibid.). Durch diese Freistellung rückt das Ich in die Gestalt der Einzelheit. Der Einzelne als solcher profiliert sich durch eine ausschließlich ihm gehörende Entscheidungssphäre in Entgegensetzung gegen den Einfluß fremder Willkür. „Das, was ausschließend in dieser Sphäre wählte, ist sein Ich, ist das Individuum, das durch Entgegensetzung mit einem anderen vernünftigen Wesen bestimmte Vernunftswesen" (NR § 4; III, 42). Solche Herleitung revidiert das geläufige Vorverständnis und die große Leibnizsche Ausprägung von Individualität. Individualität, als Grundbestimmung des Selbstbewußtseins durchdacht, bezeichnet gar nicht die Einzigartigkeit des Seienden in seiner,unteilbaren' Vereinzelung auf sich selbst. Das individuelle Sein kann nicht zur Charakteristik eines .fensterlosen, grenzenlos einsamen Ich' dienen. In Wahrheit gewinnt der Einzelne seine Ausprägung allererst durch den praktischen Wechselbezug mit den Anderen. „Der Begriff der Individualität ist aufgezeigtermaßen ein Wechselbegriff" (NR § 4; 111,47). Fichtes Grundlegung der Individualität als notwendige Gestalt menschlichen Selbstbewußtseins ist nicht individualistisch, sondern sozialistisch. Zweifellos besitzt das systematisch deduzierte Ich-Individuum das Gehabe eines ,possessiven Subjekts'. Mit seiner Individualität konstituiert sich gleichursprünglich die Kategorie des ausschließenden ,Mein'. Insofern gehört Fichtes Ansatz in eine Tradition, welche die politische Ordnung (die Vertragsgesellschaft) aus dem unaufhebbaren Zusammenhang von Individuum und Eigentum begreift (Hobbes, Locke, Kant) 46 . Indessen entwickelt sich Fichtes Eigentumslehre nicht im Blick auf den Menschen der neuzeitlich-bürgerlichen Klassengesellschaft, sondern einzig aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins. Sie faßt Eigentum darum nicht als den Vernunftbegriff, „etwas Äußeres als das Meine zu haben" (Kant), weil Eigentum von allen möglichen Dingen darin gründet, daß wir zuerst selbst unser Eigentum sind. Das Recht auf Eigentum leitet sich aus dem Anspruch der Freiheit her, in einer bestimmten Sphäre tätig und so allererst existent zu werden. Und das ausschließende Mein des ,possessiven Individuum' — darauf kommt es hier an — ist ursprünglich als Wechselbezug von Mein 46

Zur Einordnung Fichtes in die Tradition des neuzeitlichen „possessive individualism" vgl. B. WiUms, Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie (Staat und Politik X). Köln und Opladen 1967. S. 98ff.

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und Dein erfaßt. Das grenzenlose Naturrecht auf alles (Hobbes' ius in omnia) wird innerhalb der Fichteschen Deduktion des Individuum zum Ungedanken. Der Begriff individuellen Eigentums ist von Anfang an sozial limitiert. „Er ist demnach nie mein; sondern meinem eigenen Geständniss, und dem Geständniss des Anderen nach, mein und sein; sein und mein·, ein gemeinschaftlicher Begriff, in welchem zwei Bewußtseyn vereinigt werden in Eins" (NR §4; III, 48). Es gibt keine Wirklichkeit des Selbstbewußtseins außerhalb der Gemeinschaft eines Wir im Gegensatz von Ich und Du. Dieses Resultat zwingt zur gesellschaftskritischen Kernfrage: Von welcher Art muß dieses Verhältnis sein, damit die Einheit der Gemeinschaft frei in den Gegensätzen ihrer Glieder bestehen kann? Anders gefragt: Was bewahrt eigentlich eine freie Wechselwirksamkeit der Gesellschaft vor der Gefahr des Kampfes aller gegen alle? Denn die Gemeinsamkeit ist doch von ihrer eigenen Stiftung her elementar bedroht. Die Vielheit der Iche konstituiert sich im individuellen Subjekt, dessen private Wirksamkeit freigelassen wird. Dehnt nun nicht natürlicherweise das eine Ich seine Sphäre auf Kosten des anderen aus? Wird dadurch nicht zwangsläufig der Bezug zwischen Menschen zum Verhältnis von Herr und Knecht verwüstet? Hier nun gewinnt die synthetisierende Macht der Einschränkung einen handgreiflich gesellschaftlichen Sinn. Freiheit unter Menschen verlangt die Selbstbegrenzung der je eigenen schrankenlosen Willkür in notwendiger Respektierung der Freiheit des Anderen. Die Freiheit des Anderen mißachten, bedeutet nämlich, die Wirklichkeit des eigenen Freiheitsbewußtseins untergraben. Nur wenn der Anfang der Aufforderung sich in der Wechselwirkung der Anerkennung habitualisiert, ist Freiheit unter Menschen zu retten. Allein in ihr ist jede Art Willkür- und Unterdrückungsverhältnis aufhebbar. Anerkennung also ist nichts anderes als die Einheit eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses der Iche auf dem Grunde der Selbstbeschränkung. Die erstmals von Fichte aufgedeckte dialektische Bewegung der Anerkennung läßt sich von zwei Seiten nachkonstruieren. Von Seiten der Selbstbeschränkung des Anderen ergibt sich dabei: 1. Meine Kenntnis vom Anderen als einem freien Vernunftwesen außer mir hat dessen Selbstbeschränkung zur Bedingung. Meine ,Erfahrung' des anderen Selbstbewußtseins beruht auf dessen Aufforderung an mich zu freier Tätigkeit, und diese setzt die Selbstbeschränkung des Anderen voraus.

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2. Zugleich aber beruht doch die Selbstbegrenzung des Anderen auf der Annahme, ich als der Andere des Anderen sei ein mögliches freies Wesen. Denn der Auffordernde erwartet, daß ich seinem Appell zu entsprechen vermag. Also zeichnet sich eine wechselseitige Limitation ab. Die praktische Aufforderung, die an mich vom Anderen aus ergeht, ist durch die Auffassung bedingt, die der Andere von mir hat. Dieser schränkt den Willen der Objektbemächtigung ein, weil er mich als Freiheitswesen anerkennt. Und weil der Andere sich einschränkt, fasse ich ihn meinerseits als freies Wesen und nicht als unbeschränkt verfügbare Sache an. Natürlich läßt sich diese Wechselbestimmung auch von der anderen Seite, von Seiten der Selbstbeschränkung des eigenen Ich her, entwickeln. 1. Der Akt meiner Selbstbeschränkung setzt die Annahme eines freien Wesens außer mir voraus. Nur einem Nicht-Ich-/c¿, niemals aber einem bloßen Nicht-Ich räume ich eine mich ausschließende Sphäre der Selbsttätigkeit ein. 2. Darauf beruht wiederum die wirkliche .Erschließung' meiner selbst durch den Anderen. Nur auf Grund meiner Einschränkung erkennt mich der Andere als seinesgleichen. Also zeigt sich auch von der Seite des eigenen individuellen Selbst her die notwendige Gegenseitigkeit der Anerkennung. Der Andere erkennt mich als Subjekt an, indem ich ihn als freies Wesen behandele und meine sich auslassende Willkür limitiere, und umgekehrt. Allein in solcher Gleichberechtigung gewinnt die heraufgerufene Wirklichkeit menschlicher Freiheit Bestand. „Das Verhältnis freier Wesen zu einander ist daher das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln" (NR § 4; III, 44). Wie es jeweils mit der gegenseitigen Anerkennung bestellt ist, das kommt nicht in theoretischen Beteuerungen, sondern allein in der gesellschaftlichen Praxis an den Tag; „denn nur Handeln ist ein solches gemeingültiges Anerkennen" (NR § 4; 111,47). Allein die Praxis der Anerkennung hält die Einheit des Wir im Gegensatz zerteilter Selbstbewußtseine lebendig. „Es geschieht hier eine Vereinigung Entgegengesetzter in Eins" (ibid.). Auf dem Wege limitativer Dialektik hat eine kritische Theorie des Selbstbewußtseins die soziale Kategorie der Anerkennung verbindlich her-

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geleitet. Der fabelhafte Einwand, der transzendentale Idealismus sei individualistisch und unterschlage die Dimension des gesellschaftlichen Seins, beweist lediglich, daß sich solche Einrede auf den Denkweg einer Dialektik des Selbstbewußtseins überhaupt nicht einlassen will. Mit methodischer Strenge hat die Wissenschaftslehre durchsichtig gemacht, daß die Macht des selbstbewußten Willens sich selbst zerstört, wenn sie sich nicht an der Schranke des anderen Ich einschränkt. Den einschränkenden Bezug zur Mitwelt verkürzen, heißt, die notwendigen Bedingungen außer acht lassen, welche die neuzeitliche Subjektivität, d. h. das moderne Menschentum, zur Verwirklichung ihrer Selbstmächtigkeit braucht. Die Dialektik der Intersubjektivität behandelt die Existenzfrage des Subjektivität. Der Ursprungsdialog der Aufforderung zum Ich durch das Du und die Gemeinschaft stiftende Wechselbestimmung der Anerkennung bilden die abschließenden Bestimmungen des Menschen als Menschen. Der Mensch wird zum Menschen allererst da, wo er durch Aufforderung erzogen ist. Und der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er, Andere anerkennend, anerkannt ist. Darin liegt seine wesenhafte Bestimmung und geschichtliche Aufgabe. „Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein ganzer vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt" (BdG VI, 306). Die limitative Dialektik der frühen , Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre' ist eine Ontologie des Selbstbewußtseins, in der es um die konkrete Bestimmung des Menschen geht. Darum vollendet sich diese Grundlegung in der Fassung des Ich als eines gesellschaftlichen Subjekts. In ihr dringt die dialektische Ontologie auf die zentrale Kategorie menschlichen Seins, die Existenz. Stößt ,die Kunst dialektischer Entwicklung' bis zu den letzten Bedingungen menschlicher Wirklichkeit und Zeitlichkeit durch, dann treten gesellschaftliche Synthesen als Grundstrukturen des Selbstbewußtseins heraus. Was die wirkliche Welt des Menschen primär konstituiert, das sind das Anderssein des Anderen (oder die Negativität des Nicht-Ich-Ich), die Bewegung des Du, der Anstoß der Aufforderung, das vieldeutige und dialektisch wechselhafte Streben nach Anerkennung. Worin letztlich Bestimmung und Aufgabe des Menschen besteht, das ist die unablässige Arbeit am unerreichbaren, aber unbedingt geforderten Reiche freier, wechselseitiger Anerkennung. Darum ist der Verweisungszusammenhang der Mitwelt in der Praxis der Aufforderung und im Kampfe um Anerkennung ursprünglicher als eine theoretische Erfahrung der Umwelt. Darum überwindet das Selbstbewußtsein seine Widersprüche und Antagonismen erst dann vollends, wenn es die Widersprüche der

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Isolation und die Antagonismen einseitiger Anerkennung, d. h. die Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft, in die Übereinstimmung der Anerkennung aufzuheben strebt. So ergibt sich am Ende diejenige Angabe, mit der Hegels .Phänomenologie des Geistes' definitiv und unvermittelt anheben wird: Das Selbstbewußtsein ist für sich und durch sich selbst, indem und dadurch, daß es für ein Anderes durch sich und für sich ist, d. h. es ist nur als ein Anerkanntes. Diese Konzeption des Ich ist in der Wissenschaftslehre dialektisch erworben.

8. Kapitel: Herrschaft und Knechtschaft. Über die Außebung der,halben Menschheit' in die vollkommene Gesellschaft Die Dialektik des Selbstbewußtseins hat von Haus aus eine politischgesellschaftliche Dimension. Die Bezüge der Anerkennung spielen sich in Wirklichkeit in den Antagonismen von Herr und Knecht und im Prozeß ihrer Aufhebung ab. Ihrer praktischen Wurzel nach tendiert die Grundlegung des Selbstbewußtseins dahin, das Negativum menschlicher Entäußerung im Kreise der bürgerlichen Vertragsgesellschaft, d. i. im Zustand der Staatlichkeit, zu negieren. Fichtes dialektische Bestimmung des Menschen bildet die erste durchschlagende Revolutionstheorie im Stile eines kritischen Humanismus aus. Das läßt sich im Rückblick auf die sogenannten .Revolutionsschriften' (einschließlich der .Bestimmung des Gelehrten' von 1794) und unter Einbeziehung der Dialektik von Aufforderung und Anerkennung darlegen. Herrschaftsbezüge als Verhältnisse einseitiger Anerkennung kennzeichnen die Stufe der halben Menschheit. Auf dieser Stufe lebt der Mensch als ein geschicktes Tier' unter dem Gesetz physischer Kausalität und mit dem Recht des Stärkeren in Verhältnissen einer Subordination ohne Koordination. In diesem Status schneidet der Einzelne seinen Wesensbezug zu den Anderen rigoros ab. „Man will nicht in Gesellschaft mit ihnen treten, sondern man will sie, als geschicktere Tiere, beherrschen" (BdG 2. Vorl.; VI, 309). Auf der Stufe der Sklaverei äußert sich eine Entzweiung, in der die physische Hälfte des menschlichen Doppelwesens als das Ganze erscheint. „Die Menschheit hat sich dann in uns noch gar nicht so weit ausgebildet; wir stehen selbst noch auf der niederen Stufe der halben Menschheit, oder der Sklaverei" (ibid.). Hier herrscht das soziale Urverhältnis von Herr und Knecht, die Sklaverei, vor.

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Knecht meint dabei nicht nur den antiken Sklaven als Besitzstück des Oikodespoten : „Sklave ist derjenige, . . . der ernährt wird, dagegen all seine Kräfte der Familie seines Herrn nach dessen eigener Willkür unterworfen sind" (GdgZ 10. Vorl.; VII,149). Gleichermaßen meint der Titel den Leibeigenen (glebae adscriptus), der als Knecht des Grundherrn ,unangemessene Frondienste' zu leisten hat, der kein Eigentum an Boden besitzt, sondern selbst Eigentum des Grundherrn ist. Im Ganzen bedeutet Knechtsein die gänzliche Veräußerung des Eigentumsrechts, das SichBegeben der Arbeitskraft (,das unmittelbare, alles übrige Eigentum des Menschen begründende Eigentum' — vgl. Beiträge 4. cap.; VI, 178) und überhaupt die Herabwürdigung des Menschen zum Tier. „Ursprünglich sind wir selbst unser Eigenthum. Niemand ist unser Herr" (Beiträge 3. cap.; VI, 117). Das Recht des Menschen, über den freien Gebrauch seiner Kräfte selbst zu verfügen, ist unveräußerlich. Wird es veräußert, d. h. muß die Arbeitskraft ganz abgetreten werden, dann verliert der Mensch die Möglichkeit seiner Selbstbestätigung und Freiheit. So bedeutet die Veräußerung der Arbeitskraft mittelbar die Entfremdung menschlichen Wesens. Weil es aber nur ein Recht auf Sachen gibt, das Recht des Herrn dagegen auf die Person des Knechtes selber geht, darum ist Knechtschaft der härteste Widerspruch gegen das Recht der Menschheit an sich. Dieser Widerspruch macht die Sklaverei in der ganzen Bedeutung des Wortes aus (vgl. Beiträge 5. cap.; VI,233). Entsprechend erscheint die Gestalt des Herrn als Besitzer der Kräfte eines Menschen. Und auch er bildet die Figur eines Selbstwiderspruchs. In Wahrheit ist jeder Herrenmensch selber Knecht. „Jeder, der sich für einen Herrn anderer hält, ist selbst ein Sklave" (BdG 2. Vorl.; VI,309). Diese These verschärft den Präambelsatz des Contrat social: „Tel ce croit le maître des autres, qui ne laisse pas d'être plus esclave q'eux — Mancher dünkt sich Herr über andere und ist doch mehr Sklave als sie" (1,1). Weil nur ein Knecht Knechte um sich und unter sich will, ist der unterjochende Wille im Grunde sklavisch. Die Atmosphäre der Unterwürfigkeit hat im Knechtsbewußtsein des Despoten ihre Quelle. Den Anderen knechten wollen, das ist die Signatur eigener Unfreiheit. „Nur derjenige ist frei, der alles um sich herum frei machen will" (BdG 2. Vorl.; VI, 309). Und weil der Despot auf die Mächte der Stärke oder der List setzt, darum steckt in ihm die Bereitschaft, vor einer stärkeren Gewalt zu kriechen. Das wirkliche Unterjochen der Anderen hat zum Korrelat das mögliche Sich-Unterwerfen. So ist der Herr der Knechte ineins Knecht seines eigenen Bewußtseins.

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Im Grunde stellt sich die Relation von Herr und Knecht als das Verhältnis zwischen .geschickten Tieren' heraus, in welchem jeder den anderen als Jochtier' durch List oder Gewalt für sich einzuspannen sucht. Das ist der Status des härtesten Widerspruchs. Natürlich ist dieser Zustand möglich. Er prägt ja gewöhnlich die alltägliche gesellschaftliche Wirklichkeit. Aber er ist lediglich physisch widerspruchsfrei, moralisch ist er unmöglich. Knechtschaftsverhältnisse sind, aber sie sollen nicht sein. Sie müssen mit moralischer Notwendigkeit aufgehoben werden. Die unumgängliche Erhebung des Menschen auf die Stufe der Menschheit fordert die Umwälzung der Verhältnisse von Herr und Knecht. Damit rücken die Aufhebung der Knechtschaft, die Heraufführung einer herrschaftslosen Gesellschaft, das Verschwinden der Staatlichkeit und das Problem der politischen Revolution in den Themenkreis transzendentaler Dialektik. Um die Entzweiungen, die den Menschen in der politischen Wirklichkeit betreffen, nicht zu verkürzen oder zu verwirren, ist es gut, den vieldeutigen Begriff der Gesellschaft zu verdeutlichen (vgl. Beiträge 3. cap.; VI, 128ff.) 47 . Gesellschaft bedeutet im allgemeinen das Verhältnis zwischen Menschen, das durch einen Vertrag charakterisiert ist. So wäre z. B. eine Handelsgesellschaft eine Vertragsgemeinschaft, geeint in der Einheit eines gemeinsamen Zwecks. Durch eine besondere Art von Vertrag ist die bürgerliche Gesellschaft' ausgezeichnet. Der Staatsbürgervertrag kennzeichnet diese Art Gesellschaft als Staat. Deren Subjekt ist der Mensch als Staatsbürger, ihr Gebiet ist das der veräußerlichen Rechte des Menschen, also das vom Sittengesetz freigelassene Feld der Erlaubnisgesetze oder der Legalität. Nun kommt aber alles darauf an, die Bedeutung von Gesellschaft über den Sinn des Genossenschafts- und Bürgervertrags zu erweitern. Die Idee einer vertragslosen Gesellschaft ist so wenig ein Ungedanke, daß sie auf den ursprünglichen Sinn menschlicher Gemeinschaft 47

Das Verwirrende im Verhältnis von Gesellschaft und Staat ist der falsche Begriff vom Naturzustand im Hobbesschen Verstände: „der Krieg aller gegen Alle, der da Rechtens seyn soll" (Beiträge 2. cap.; VI, 128). Aber eben das Recht der Wolfsnatur, den anderen aufzufressen, dürfte doch das Recht nach sich ziehen, den Unterwerfungsvertrag, der vor dem Inferno des Mißtrauens und der Angst, der Gewalt und des .Bürgerkrieges' schützen soll, nicht z u halten. Fällt dagegen die Hypothese einer ursprünglichen Bösartigkeit des Menschen, dann brechen auch alle politischen Theorien der Neuzeit ein, die darauf bauen. Eine endgültige Unterwerfung unter die zwingende Gewalt des Staates, die Machtübertragung auf einen .Leviathan', der als sterblicher Gott die konfliktlose Entfaltung eines Systems der Bedürfnisse garantiert, erscheint als Phänomen der .halben Menschheit', wenn die Vernunft des Menschen als seine Natur und der vertraglose Naturzustand als derjenige Status des Menschen angesehen wird, „in welchem er allein unter dem Sittengesetz steht" (vgl. VI, 82).

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zurückführt, nämlich die „Aggregation vernünftiger Menschen, die im Räume bei einander leben und dadurch in gegenseitige Beziehung versetzt werden" (BdG 1. Vorl.; VI,293). Die räumliche Nachbarschaft der Vernunft und die menschliche Beziehung gegenseitiger Anerkennung begründen sich nicht rechtlich-vertraglich, sondern moralisch. Ihr Subjekt ist nicht der Mensch als Genosse oder als Bürger, sondern der Mensch als Mensch. Ihr Gebiet ist das der unveräußerlichen Menschenrechte. Es umschließt und durchdringt alle anderen Kreise der Gesellschaftlichkeit. In ihm findet kein Vertrag statt. Verträge lassen sich nur in Hinsicht auf erworbene, also veräußerliche Rechte, nicht aber über natürliche, .angeborene' Rechte schließen. Steht es so, dann sind Legalität und Moralität, Staat und Gesellschaft, Bürger und Mensch, veräußerliche Bürgerrechte und unveräußerliche Menschenrechte nicht identisch zu setzen, sondern zu trennen. Darum ist die staatliche Gemeinschaft nicht schon das ,Gemeinwesen* als der tragende Grund menschlichen Zusammenlebens und die Sicherung und Festigung des rechtlichen Status nicht bereits der alles bestimmende Zweck der Gesellschaftsordnung. Die staatsbürgerliche Emanzipation, so sehr sie auch den Klassengegensatz zwischen NichtBürgern (Sklaven, Metöken, subditi, .Handlangern des gemeinen Wesens') und Vollbürgern mit der Zeit ausgleichen mag, bedeutet noch nicht die völlige Erhebung von der Stufe der halben zur ganzen Menschheit. Der Staat ist so wenig das Gemeinwesen der Freiheit selbst, daß er sogar dessen Gegensatz und Widersacher verkörpern kann. Natürlich nährt sich die Staatsfeindlichkeit der sog. ,staatsverneinenden Periode' Fichtes aus der Empörung gegen die ,Fürstenherrschaft' und aus der Gegnerschaft gegen die bestehende Verfassung einer absoluten Monarchie. Aber anschaulich wird der faule Staat im zeitlosen Sinnbild der großen, alle Selbständigkeit tötenden Maschine. Dieses ,wunderbare Kunstwerk der Subordination' sündigt im Spiel seiner Kräfte gegen die Natur der Vernunft, indem es ein abgestuftes System von Herren und Knechten ausbildet, die alle von einem despotischen Willen abhängen. Diese Maschinerie des Staates hat „von jeher gearbeitet, uns auf jede Art zu gewöhnen, Maschinen zu seyn, statt selbständige Wesen zu seyn" (Beiträge 3. cap.; VI, 142). Das nachhaltigste Mittel, eine staatliche Ordnung in Gang zu halten, die den Menschen zum Teil einer großen Maschine macht, ist die .Geistessklaverei' (VI, 100). Sie unterdrückt die Denkfreiheit und gewöhnt den Verstand an Doktrinen fremder Autoritäten. Solche Herrschaftsform verkehrt den Sinn des Staates. Sie macht aus einem Mittel zur Aufhebung von Regierung und Herrschaft einen Selbstzweck.

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Dieser Widerspruch kann verändert und muß aufgehoben werden. „Keine Staatsverfassung ist unabänderlich, es ist in ihrer Natur, daß sie sich alle ändern. Eine schlechte, die gegen den nothwendigen Endzweck aller Staatsverbindungen streitet, muß abgeändert werden" (Beiträge 1. cap.; VI, 103). Eine Staatsveränderung gegen den Willen und die Macht der Herrschenden heißt Revolution. Offenbar bedeutet für Fichte das Bedenken des säkularen Ereignisses der Französischen Revolution den Ausgangspunkt, wenngleich nicht den Anfangsgrund seiner Systembildung 48 . Sie bietet ihm das reiche Gemälde für den großen Text: Menschenrecht und Menschenwert (Beiträge, Vorrede; VI, 39). Im Blick auf den Vorgang der Französischen Revolution erbringt Fichte den Nachweis, eine Abänderung der Staatsverfassung sei rechtmäßig und (moralisch) notwendig. Im Einblick in die dialektische Verfassung des Selbstbewußtseins gewinnt er die Mittel, den Ubergang aus dem Zustand des gesellschaftlichen Widerstreits in den einer allseitigen Ubereinstimmung zu begreifen. Der Grundgedanke basiert auf der Unterscheidung von unveräußerlichen und veräußerlichen Rechten. Danach kann keine Staatsverfassung unabänderlich sein. Es gibt keine Klausel im Contrat social, welche ihre Unabänderlichkeit gebietet. Das Gebiet der .bürgerlichen Gesellschaft' ist ja das der veräußerlichen Rechte. Diese aber können abgeändert werden, und sie müssen es sogar. Nur durch Abänderung des Bestehenden kann Vervollkommnung geleistet werden. Perfektibilität aber ist die Bestimmung des Menschen. Daher widerspricht ein unabänderlicher Gesellschaftsvertrag dem Geiste der Menschheit. Er bewegt sich auf der Stufe 48

Die instruktive Untersuchung von B. Willms (Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie. Köln und Opladen 1967) versteht die Schriften zur Französischen Revolution und ihr Prinzip, den politisch-revolutionären Begriff der Freiheit, als Ausgangspunkt, aus dem sich die Radikalität des transzendentalen Ansatzes und alle Momente des späteren Systems erklären. Dieser Ansatz verstellt m. E. gerade die systematische Möglichkeit, rückläufig die Kategorien des Politisch-Gesellschaftlichen aus den Prinzipien der Wissenschaftslehre durchsichtig zu machen. Und er ermöglicht den von Willms konstruierten Gegensatz zwischen dem Postulat der totalen Freiheit und der politischkonkreten Ungleichheit, zwischen dem Individuum und der abstrakten Nicht-Unterschiedenheit der Subjekte in der Utopie einer Vernunftgemeinde. Die vorgetragene Kritik an der Aufhebung des so verzerrten Widerspruchs, wonach die Seite der Freiheit derart totalitär gesetzt wird, daß sie in abstrakte Identität und Unfreiheit umschlägt, übersieht die dialektischen Vermittlungen, die gerade diesen Umschlag verhindern sollen. Gleichwohl sind diese Studien von der herkömmlichen Oberflächendiskussion, die Fichte als den Propagandisten eines Macht- und Erziehungsstaates in der Verbindung von Staat und Volk im Geiste der Deutschheit gefeiert oder als den Mitbegründer totalitärer Herrschaft verurteilt hat, durch das Element kritischer Geistigkeit getrennt.

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menschlicher Tierheit; denn das einzige „Vorrecht, welches ihre Thierheit vor anderen Thieren auszeichnet, ist das Vorrecht der Vervollkommnung ins unendliche" (Beiträge l.cap.; VI, 104). Folglich ist das Recht eines Volkes, seine Staatsverfassung zu verändern, unverlierbares Menschenrecht. Die Rechtmäßigkeit der Revolution stellt keinen Freibrief auf gewaltsamen Umsturz aus. Die Revolutionsschriften Fichtes gehören zum Genre politischer Flugschriften, aber sie wollen gerade nicht revolutionäre gewaltsame Aktionen anzetteln. Zwar wird in ihnen gegen die restaurative Tendenz der Regierungen, den Schrecken der Revolution zur Erhaltung der Herrschaftsverhältnisse auszunutzen, erklärt, der politische Terror sei keine Folge der erstrittenen Denkfreiheit, sondern gerade eine Konsequenz der Geistessklaverei, aber darum wird eine Herrschaft des Schreckens nicht legitimiert. Es ist falsch, Fichte als den philosophischen Jakobiner hinzustellen, der das Regiment unbestechlicher Moralität als Herrschaft des Schreckens einzurichten entschlossen war. Seine Revolutionsschriften durchschauen die fatale Verknüpfung von Moralität, revolutionärer Gewalt und Schrecken nicht minder klar als Schillers , Briefe zur ästhetischen Erziehung' und Hegels phänomenologische Analysen ,der absoluten Freiheit und des Schreckens'. Dabei wird die Genesis der Gewalt vorzüglich auf zwei Quellen zurückgeführt, auf eine Aufklärung der Interessen und auf die Entschlossenheit der Weltbeglückung. Bedeutet Interesse die Anteilnahme, die das selbstbezügliche Begehrungsvermögen des Menschen an der Wirklichkeit, d. h. also letztlich an seinem eigenen Existieren und Wohlleben nimmt, dann ist die Interessenlage von Herr und Knecht leicht zu durchschauen. Dem Herrn muß an der Verewigung seiner Position gelegen sein; denn mit seinen Privilegien verliert er nicht nur die falsche Ehre, sondern auch seinen Reichtum, ohne künftig für seinen Unterhalt sorgen zu können, weil er über dem Genießen das Arbeiten verlernt hat. Der Herr würde zum verachtetsten und ärmsten unter den Menschen. Umgekehrt geht das Interesse des Knechtes dahin, die Verhältnisse einfach umzustürzen, also den Besitzstand des Herrn unter sich zu verteilen und dessen Arbeitskraft für sich einzuspannen. Darum erhebt der Knecht eine Parole des Interesses zur ewigen Wahrheit: „Der Reiche, der Begünstigte gehört nicht zum Volke; er hat keinen Antheil an den allgemeinen Menschenrechten" (Beiträge, Einl.; VI, 54). Der Knecht drängt darauf, den Herrn künftig als das zu behandeln, was er für diesen gewesen war, nämlich eine rechdose Sache und ein nützliches Tier. „Das ist ihr Interesse" (ibid.). Eine Revolution,

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welche durch Aufklärung vitaler Interessen (unter Ausschluß des Vernunftinteresses) angebahnt wird, bringt die Relation von Herr und Knecht nicht z u m Verschwinden, sie wechselt lediglich mit Gewalt ihre Glieder aus. Ebensowenig rechtfertigt sich revolutionäre Gewalt durch die Absicht, andere glücklich zu machen. Gewaltsame Weltbeglückung ist ein hölzernes Eisen. Sie bildet die versteckte Form der Despotie, gleichsam landesväterlich für Unmündige zu sorgen, die man zu ihrem Besten zwingen muß. Menschlichkeit läßt sich nicht dadurch einrichten, daß man das Menschlichste, die Selbsttätigkeit, vergewaltigt. Es ist Unrecht, irgendjemanden wider sein Recht auf Selbsttätigkeit glücklich zu machen (vgl. Beiträge, Einl.; VI, 76). Wie aber läßt sich eine recht- und zweckmäßige Revolution durchführen? Wie kann dem Recht auf Staatsveränderung ohne die Konsequenz von Schrecken und neuer Diktatur entsprochen und wie der Endzweck der Revolution, die Aufhebung des Klassengegensatzes von Herren und Knechten auf die Stufe der ganzen Menschheit, erreicht werden? Die zukunftsträchtige Antwort lautet: Das alle Zwangsherrschaft letztlich zwingende Machtmittel ist die ,Cultur zur Freiheit'. Sie lehrt den Knecht den Terror und den Herrn die Regierungs- und Zwangsgewalt zu verschmähen. Sie ist das letzte und höchste Mittel, um den Endzweck des Menschen, die völlige Ubereinstimmung mit sich und den Anderen, in die Wege zu leiten. „Cultur heißt Uebung aller Kräfte auf den Zweck der völligen Freiheit, der völligen Unabhängigkeit von allem, was nicht wir selbst, unser reines Selbst ist" (Beiträge l . c a p . ; VI, 86). So definiert, bedeutet Kultur mehr als einen beliebigen Erwerb und eine kontingente Daseinsform und Entwicklungsstufe des Menschen. Sie bildet die notwendige Bedingung dafür, daß der Mensch nicht im Widerspruch mit sich selbst vergeht, sondern sich zur Einheit mit sich und zur wahren Gemeinschaft mit den Anderen erheben kann. Die ,Bestimmung des Gelehrten' von 1794 hat solchen apriorischen Nachweis der Kultur — auf den vorgezeichneten dialektischen Wegen der ,Privatvorlesung', d. h. der ,Grundlage der Wissenschaftslehre' - nachgezeichnet. Dieser Nachweis bringt auch die Aufhebung der politisch-gesellschaftlichen Widersprüche ins Reine. Ausgang der Deduktion ist der bekannte Gegensatz im Menschen zwischen seiner inneren Freiheit und seiner äußeren Abhängigkeit, der Widerspruch zwischen der Identität des absoluten und der Nicht-Identität des empirisch-theoretischen Ich. Der Gegensatz gleicht sich — wie aus-

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fiihrlich gezeigt — im Streben der praktischen Vernunft aus. „Soll nun dennoch das Ich auch in dieser Rücksicht stets einig mit sich selbst seyn, so muß es unmittelbar auf die Dinge selbst, von denen das Gefühl und die Vorstellung abhängig ist, zu wirken streben" (BdG 1. Vorl.; VI,298). Die praktische Bearbeitung der Naturdinge durch den menschlichen Geist und die Einrichtung der Freiheit in den Schranken der Mitwelt suchen das Nicht-Ich ichhaft und das Ich mit sich selbst übereinstimmend zu machen. Werden die Dinge, von denen das empirische Ich abhängt, ,modifiziert', d. h. nach den Begriffen des Ich abgeändert, dann hängt das Ich mittelbar nur von sich selbst ab. Zu solcher Vermittlung aber reicht der bloße Wille nicht aus. Dazu gehört die Arbeit der Kultur, d. h. „eine gewisse Geschicklichkeit, die durch Übung erworben und erhöht wird" (ibid.). Kultur bedeutet zuerst die Fertigkeit, die äußere Natur zu bearbeiten und nach Begriffen zu modifizieren. So bringt die Agrikultur das Brachland in den Modus einer Vernunft- und zweckbestimmten Wirklichkeit. Kultur meint aber ebenso elementar das Geschick, die innere Natur umzuformen. So verhelfen Sitte, Recht, Kunst usw. der inneren Welt zum Status der Vernünftigkeit. Allgemein zielt die langwierige, immer wieder vom aufbrechenden Zwiespalt und Konflikt der Menschheit retardierte Arbeit der Kultivierung auf die ,Veredlung' der Sinnlichkeit. „Die Sinnlichkeit soll cultiviert werden: das ist das höchste und letzte, was sich mit ihr vornehmen läßt" (I.e.; VI,299). Das ist ein weithin wirkender Gedanke des dialektischen Humanismus. Die notwendige Vermittlung muß die rohe Sinnlichkeit aus ihrer Gegenstellung zur Vernunft befreien. Jede haltbare Revolution hebt mit ihrer Kultivierung zur Freiheit an. Sie bildet das Mittel und die Vermittlung — nicht etwa schon selber den Endzweck — für die völlige Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst49. 49

Dieser Kulturbegriff — Kultur als a priori notwendige Vermittlung gerade auch der gesellschaftlichen Antagonismen — hebt sich scharf gegen die These Rousseaus ab, das Fortrücken der Kultur sei die einzige Ursache des menschlichen Verderbens (vgl. BdG 5. Vorlesung). Nach Fichte besteht der Irrtum Rousseaus darin, im Naturzustand der Ruhe und des Friedens die Aussicht auf die Zukunft abgeblendet zu haben. Damit sei zwar die Quelle des Lasters abgeleitet, aber auch der Ursprung des Menschlichen, nämlich der die Zukunft zeitigende Wille. Ein selbstgenügsames, dem Augenblick verhaftetes Leben „wie das Thier auf der Weide" ist kein Zustand des Menschen (VI, 340). Daraus folgt der Hauptmangel im Aufrufe Rousseaus zur Rückkehr ins goldene Zeitalter des mühe- und schmerzlosen Naturzustandes. Er liegt darin, die Kultur-Arbeit nicht als Aufheben eines Widerstandes im Streben zur Selbsttätigkeit zu bedenken. „Dieser Mangel des Strebens zur Selbsttätigkeit herrscht durch sein ganzes Ideensystem" (VI, 344).

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Von diesem Resultat her lassen sich die Aufhebung des härtesten aller Widersprüche, der Sklaverei, reinterpretieren und die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft auf die dialektischen Erhebungen des Menschseins zurückführen. Zweifellos gehören die Prinzipien totalitärer Herrschaft, das Recht des Stärkeren und die verschleiernde Kraft der List, zu den Mächten des Ungeistes und zur Roheit sinnlichen Lebens. Es ist das langwierige Geschäft von Unterricht, Erziehung und Kultur, das Rechtsund Freiheitsbewußtsein als Allgemeingut im Volke einzupflanzen, welches den Despotismus untergräbt und ihn vor ihm selbst ad absurdum führt, die terroristische Umwälzung verhindert und die Annäherung an das Ideal wechselseitiger Anerkennung fördert. „Den Despotismus zu schützen, giebt es kein Mittel; vielleicht giebt es welche, den Despoten, der sich durch das Uebel, das er uns zufügt, unglücklicher macht als uns, zu bereden, daß er sich von seinem langen Elende befreie, zu uns herabsteige, und der Erste unter Gleichen werde; gewaltsame Revolutionen zu verhindern, giebt es ein sehr sicheres; aber es ist das einzige: das Volk gründlich über seine Rechte und Pflichten zu unterrichten" (Beiträge, Vorrede; VI, 41). Und diese Arbeit einer Kultur zur Freiheit, die den Widerspruch des herrschenden Systems nicht zuschärfen, sondern im Grund vermittlungsreif machen will, muß geleistet werden, bevor die gesellschaftlichen Gegensätze unvermittelt aufbrechen und in allseitigem Morden enden. „Jetzt ist es Zeit, das Volk mit der Freiheit bekannt zu machen . . . , damit es nicht statt ihrer die Gesetzlosigkeit ergreife" (Beiträge, Vorrede; VI, 40). Die Vermittlung der Kultur sucht die einfach negative Anarchie in eine absolute aufzuheben. Anarchie im einfach negativen Sinne der Gesetzlosigkeit meint die einfache Entfesselung des Machttriebes. Sie entsteht, wenn die bestehende Rechtsordnung der Zwangsgesetze aufgelöst wird, ohne daß höhere Freiheitsbindungen bewußt gemacht sind. Kultur zur Freiheit dagegen eröffnet den weiten Weg zur Anarchie im Sinne einer Herrschaftslosigkeit, deren Geist die Gesetzlosigkeit der Sinnlichkeit beherrscht. Auf diesem Wege kann auch der Staat „ein unter gewissen Bedingungen stattfindendes Mittel zur Gründung einer vollkommenen Gesellschaft" sein (BdG 2. Vorl. ; VI, 306). In seiner Wahrheit nämlich ist der Staat kraft der Gesellschaft da und nicht umgekehrt. Unleugbar besitzt der Staat seinen eigenen Sinn. Die Übertragung der vertragsmäßigen Gewalt als Mittel zur Wahrung der veräußerlichen Rechte wird zum Endzweck, wo Stärke und Schlauheit als Organe eines Willens zum Wohlleben die gesellschaftlichen Grundkräfte bilden und wo der gesellschaftliche Trieb nach

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gegenseitiger Anerkennung ertötet ist. Der höhere Sinn der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, sich selbst aufzuheben. Sowie sie damit beginnt, den Bürger von der Angst um die Rechtssicherheit und von der Notwendigkeit ihrer Zwangsgewalt zu befreien, indem sie die Mühe der Kultur-Arbeit auf sich nimmt, arbeitet sie an ihrem eigenen Verschwinden. Diesen Vorgang versinnbildlicht das bekannte Bild der Kerze, die sich durch sich selbst verzehrt, indem sie leuchtet, und die verlöscht, wenn der Tag anbricht (vgl. VI, 103). „Der Staat geht . . . auf seine eigene Vernichtung aus : es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen" (BdG 2. Vorl.; VI, 306). Die Aufhebung des Staates in eine vertragslose Gesellschaft durch das Medium der Kultur utopisiert kein Reich der Freiheit. Die staatenlose, anarchische Gesellschaft stellt sich keineswegs als eine wirkliche prästabilierte Harmonie absolut identischer, freier Subjektivitäten dar. Auch die politisch-gesellschaftliche Aufhebung bleibt in den Grenzen einer kritischen Dialektik. Darin erscheint die vollkommene Gesellschaft als die Konkretisierung der Urgleichung Ich = Ich. Sie ist also wie jene unerreichbar und unumgänglich. Der Fortschritt der Freiheitsbildung von Jahrhunderten kann die Staatsmaschinerie zwar durchsichtiger, einfacher machen, die Regierung in Verwaltung überführen, die Zwangsgesetze einer Einmütigkeit freier Gesinnung nähern, sie kann niemals ein wirkliches Reich der Freiheit errichten. „Könnte der Endzweck je völlig erreicht werden, so würde gar keine Staatsverfassung mehr nöthig seyn; die Maschine würde stille stehen, weil kein Gegendruck mehr auf sie wirkte. Das allgemeingeltende Gesetz der Vernunft würde alle zur höchsten Einmüthigkeit der Gesinnungen vereinigen, und kein anderes Gesetz würde mehr über ihre Handlungen zu wachen haben" (Beiträge l.cap.; VI, 102). Das Wirkliche aber ist nie das Vernünftige wirklich. Die Revolution bewerkstelligt nicht eine völlige Aufhebung der Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft. Die Erhebung zur vollkommenen Gemeinschaft durch die Kultur zur Freiheit macht den Schutz staatlicher Gewalt niemals ganz überflüssig; denn die menschliche Gesellschaft ist nicht die Wechselwirkung der Anerkennung, sie soll es sein. Das menschlich-endliche Selbstbewußtsein konstruiert nicht das Absolute in sich selbst, indem es die Schranken der Endlichkeit aufhebt, ohne sich selber zu vernichten. Es ist seinem innersten Wesen nach der Wille, die Identität von Vernunft und Wirklichkeit zu erstreben. Dieses endlich-unendliche Streben der praktischen Vernunft konkretisiert sich in der unaufhörlichen Arbeit, die

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Widersprüche des gesellschaftlichen Seins aufzuheben. In gesellschaftlicher Praxis äußert sich unmittelbar das dialektische Leben des Selbstbewußtseins. In ihr erfüllt sich die unverlierbare Aufgabe des Menschen. Steht es so, dann sind die Ableitungen von Aufforderung und Anerkennung in ,Naturrecht' und .Sittenlehre' und die Erörterung von Herrschaft und Knechtschaft, Gesellschaft und Staat, Gewalt und Kultur in den .Revolutionsschriften' nicht bloß Anwendungsfälle und konsequente Übertragungen der universalen Dialektik von Ich und Nicht-Ich in regionale Ontotogien des Mitseins. In der Entfaltung des absoluten zum gesellschaftlichen Subjekt bestätigt und vollendet sich der Anfang, nämlich die Bestimmung des Selbstbewußtseins als des dialektischen Wesens menschlicher Existenz.

9. Kapitel:

Die Krise der Limitation. Das Nihilismus-Problem die Schranke absoluten Wissens

und

Die .Bestimmung des Menschen' von 1800 gilt als diejenige Veröffentlichung, die einen Wandel in der Grundlegung der Wissenschaftslehre sichtbar macht. Sie kann als Genealogie der neuzeitlichen Dialektik gelesen werden. Das 1. Buch hat den Titel: .Zweifel'. Es entwickelt den Gegensatz von Weltsichten zwischen Naturalismus und Indeterminismus als Widerstreit von Herz und Verstand. Danach findet sich der Mensch — wie alles, was ist — zuerst und vordringlich nach dem Gesetz des zureichenden Grundes durchbestimmt. Der Verstand beweist es dem Bewußtsein unablässig. Dagegen aber streiten das unmittelbare Freiheitsgefühl des Selbstbewußtseins und die Vernunftinteressen des Willens. Die Argumente gegen die unbeirrbare Kausalerklärung des Verstandes entspringen einer Logik des Herzens. Auf diese Weise wiederholt sich die Antinomie zwischen Freiheit und Notwendigkeit als die systematische Unruhe, die das neuzeitliche Denken in Zweifel stürzt, um es auf die Bahn einer Dialogik des Selbstbewußtseins zu bringen. Die ,Bestimmung des Menschen' fordert eine die Antithesis des Zweifels aufhebende Synthesis. Das zweiseitige Schwanken zwischen dem Wunsche des Herzens, frei zu sein, und der Kausalerklärung des Verstandes, determiniert zu werden, muß zur Entscheidung kommen, sofern der Mensch gerade durch solche Krisen seiner Widersprüchlichkeit das werden soll, was seine Bestimmung ist. Dazu muß sich das Bewußtsein zum Standpunkt des Wissens erheben. In einem Dialog zwischen dem Geist und dem unruhig zweifelnden Bewußtsein bewährt sich (im

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2. Buche: ,Wissen') das Ich-weiß als Fundament in allem Sehen und Wissen von etwas. Dadurch verlieren die Dinge ihr Ansehen, die einzig mich bestimmende Ursache zu sein. Die Furcht verfliegt, daß meine Freiheit durch die Ubermacht der Dinge vernichtet werde; denn das Sein der Dinge schränkt sich darauf ein, aufzuhebender Gegen- und Widerstand des Ich zu sein. Die Limitation befreit das Ich von der Abhängigkeit durch die Dinge und sichert den Dingen die Notwendigkeit ihres Entgegenstehens zu. So mündet die Freiheitsantinomie in eine Dialektik der Einschränkung. In ihr scheint der Primat der absoluten Tathandlung mit dem factum brutum menschlicher Endlichkeit in Ubereinstimmung gebracht und der neuzeitliche Anspruch erfüllt, die Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange, Natur und Mitwelt, unter die Gesetze menschlichen Wissens und Wollens zu stellen. Aber es ist der vieldeutige Zusammenhang zwischen dem absoluten Subjekt und der Schranke, der den Hort der Wahrheit, die Position von Wissen und Selbstgewißheit, selber zweifelhaft werden läßt. Einen Wink für solch umstürzende Ausarbeitung der Kategorie der Limitation gibt das Ende des 2. Buches der ,Bestimmung des Menschen'. Hier wird noch einmal eingeschärft: Unbedingte Freiheit ohne Bindung, eine absolute Subjektivität ohne Schranke bleiben chimärisch. Ihre AllEinheit verliert sich ins Nichts leerer Unbestimmtheit und überfliegt die Wirklichkeit der menschlichen Bestimmung. Die Problematisierung der Schrankenlosigkeit beginnt mit der Einsicht in das einfach negative Bildwesen des absoluten Subjekts. Wissen, das sich von aller Schranke absolviert, indem es alles als sein Gebilde auf sich selbst bezieht, verfällt dem metaphysischen Zweifel, d. h. der Zweideutigkeit von Wahrheit und Schein, von Bild und Sein. So greift die Zweifelsthese der ,Bestimmung des Menschen' gerade die Selbstmächtigkeit von Wissen und Gewißheit an, welche die Zweiseitigkeiten des Cartesischen Zweifels aufgelöst zu haben schien. „Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist nothwendig ein System blosser Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung, und Zweck" (BdM II; SW II, 246). Das in allem Wissen Seiende ist immer nur Gewußtes und Bild, aber nicht die Präsentation von Sein; denn das Wesen allen Wissens ist Bildwesen und dessen vordringlicher, genereller Charakter ein Nichtsein. „Was ist Bildwesen überhaupt? Es giebt davon nur einen negativen Begriff: Bild ist Nicht-Sein" (TdB 1813; NW 1,564). Die Seinsweise des Bildes (re-praesentatio) ist die Nichtanwesenheit dessen, das es

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repräsentiert. Bild und das darin abgebildete Sein stellen die Einheit eines untrennbaren Unterschiedes dar (und Fichtes Bild-Lehre wird zeigen: Alle Disjunktionen und Sonderungen gründen nicht im einfachen Sein, sondern in der Verfassung des Bildseins.) Bild ist keineswegs eine eigenständige Sache neben und außer der Sache, deren Bild es ist. Bild meint die Sache selbst im Existenzmodus von Sichtbarkeit und Erscheinen. Andererseits ist das Bild auch nicht identisch mit der in ihr ersichtlichen Sache. Das Sein, das ins Bild kommt, ist an ihm selbst eben dadurch, daß es Bild und Vorstellung wird, verdeckt und dem Gesicht entzogen. Daher kann das Wissen in seinem Bildwesen dem Anspruch auf positives Sein nicht entsprechen. Wissen bringt es immer nur zu Bildern, zum negativen, d. h. vergegenständlichten Sein, aber nie zu Wirklichkeit und Wahrheit. Das ungehemmte , Leben' des Wissens wäre sonach nichts als ein traumhafter Ablauf von Bildern, unaufhörliches Strömen von Perception zu Perception ohne Anhalt, Wirklichkeit und Ziel. Diese Bildfolge gewänne im grenzenlosen Ich so wenig Einheit und Sinn, daß auch das Ich nicht feststellbar und nichts als ein Bild von Bildern wäre. So erscheint das Ich, das Wissen des Wissens, nicht bloß als unvermögend, etwas Seiendes in seiner Ständigkeit zu präsentieren, es kann vor allem sich selbst nicht feststellen und festhalten. Das absolute Ich wäre so nicht grundgebendes Subjekt, es würde .hinzugedichtet'. Hier zahlt ein Idealismus den Preis für die Aufhebung der substantialen Disjunktion von freiem Ich (substantia cogitans) und körperhafter Weltnotwendigkeit (substantia corporea) mit einem Rückfall in die UnUnterscheidbarkeit von Leben und Traum, Sein und Bild. „Es ist kein Seyn. — Ich selbst weiss überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist" (BdM II; SW 11,245). Der Grund für diese Auflösung ins Nichts der Unwirklichkeit liegt in der Ablösung des Ich von einer adäquaten Schranke; denn alles Schrankenlose und Unbedingte ist unbestimmt. Bestimmtheit verlangt Begrenztheit und negierendes Anderssein. Omnis determinatio est negatio. Indem aber nun das absolute Subjekt dahin tendiert, seine Unbedingtheit zu verwirklichen, entwirklicht es sich, sofern Grenzenlosigkeit Unbestimmtheit nach sich zieht. Die Gefahr der Ich-Entfremdung besteht darin, in unbestimmter Unendlichkeit zu verschweben50. Nun hat die limitative Dialektik von Anfang an darauf gedrungen, die Wirklichkeit des absoluten Subjekts durch eine Synthesis der Einschränkung zu gewährleisten: Die Wurzel des Ich, das unendliche Aussichhin50

Dieser kritische Grundgedanke der .Bestimmung des Menschen' ist klargemacht worden durch W. Schulz, J . G. Fichte. Vernunft und Freiheit. Pfullingen 1962.

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ausgehen des Willens, braucht eine hemmende Schranke, damit überhaupt eine Reflexion zustande kommt. Aber mit der Sorge um die Entwirklichung des Ich und in einer Revision der unendlichen Bestimmung des Menschen gerät der Ansatz der Limitation in die Krise des Zweifels. Die erste Bedeutung von Schranke und Endlichkeit war die des Anstoßes. Am Anhalt des Anstoßes beugt sich die Äußerung des Bewußtseins auf sich zurück und versammelt sich die Möglichkeit der Freiheit zur bestimmten Handlung. Andererseits erweist das Ich nur durch die Uberwindung der Schranke seine Kraft. In dieser Wechselwirkung von Freiheit und Schranke aber steckt ein Bedenken. Die Schranke des Anstoßes bietet für das Streben der praktischen Vernunft keinen wirklichen Halt. Körperwelt und Natur bilden für den ausgreifenden Willen keinen gleichwertigen Widerpart. Ihr Bestand ist bloßer Widerstand, der ständig überwunden, dessen Grenze stetig ins Unendliche hinausgeschoben wird. Eine unverrückbare Grenze erhebt sich dagegen im Anspruch des Anderen. Das alter ego stellt eine Schranke dar, die ebenso unbedingt ist wie das, was sie beschränkt. In ihr stößt die Wirksamkeit des Ich auf ein anderes, das nicht in seiner Wesensgrenze entgrenzt werden kann, ohne daß der angreifende Wille seine eigene Freiheit lädiert. Der Bezug von Ich und Nicht-Ich-Ich fordert rückhaltlose Anerkennung von beiden Seiten. Dadurch ist die Schranke des Anderen trennend und verbindend zugleich. Sie scheidet die Freiheitssphären fremder Selbstbewußtseine ab und verbindet sie durch die Wechseleinschränkung gegenseitiger Anerkennung in die Einheit eines Wir. Die Limitation des Miteinanderseins besitzt eine andere Verbindlichkeit als die von Sache und Umwelt, nämlich die Verpflichtung auf etwas Gemeinsames — letztlich auf das moralische Gebot als Band freier Vernunftwesen. Diese Eingrenzung der einzelnen Willen auf die umgreifende Wirklichkeit der Moralität hebt die Zweifel des Wissens in die Uberzeugung des Glaubens auf. Darum endet die .Bestimmung des Menschen' in ihrem 3. Teil in einer Dialektik des Glaubens. Der Glaube hält die Bestimmung des Menschen zum Mitglied einer geistigen Welt für wahr und setzt in seinem moralisch-praktischen Handeln auf sein Fürwahrhalten. Der Glaubensbestand ist dialektisch. Einerseits trägt die moralische Ordnung die Handlungen der Einschränkung menschlichen Willens; denn sie stückt sich ja nicht als Summe der Selbsteinschränkungen nachträglich zusammen, sie geht ihnen vielmehr Bestimmung gebend voraus. Andererseits liegt ihre Verwirklichung bei der Freiheit des Willens und auf der Seite des tätigen Ich. So trägt der Mensch die übersinnliche (göttliche) Ordnung und ist zugleich von ihr getragen.

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Freilich vertieft sich angesichts dieses Resultats der Vorbehalt: Von sich her findet das Ich auch am anderen Ich keine wahre Bestimmung und Begrenzung; denn das alter ego unterliegt doch an ihm selbst gleichfalls der Wesenlosigkeit des Bildseins. Danach konstituiert das Verhältnis zwischen den Ichen an ihnen selbst lediglich einen Reflex zwischen Bildern. Die Leere der Selbstbespiegelung läßt sich auf jeden Fall nur so erfüllen, daß das vorgeblich absolute Subjekt sich von einer höheren Wirklichkeit und lebendigeren Realität ergreifen läßt. Diese Aussicht verlangt eine Neubesinnung auf die Begrenztheit von Ich und Tathandlung. Die wachsende Einsicht in die Untiefe der neuzeitlichen Subjektivität treibt in die Krise eines autochthonen Nihilismus. Im Dialog mit F. H. Jacobi übernimmt Fichte für den Problemstand seiner Grundlegung diese Wortprägung. Der Ansatz eines von Grund auf schrankenlosen IchSubjekts endet im Nihilismus, d. h. in der Leere des Bild- und Wissenswesens. Ein bei Besinnung bleibender Idealismus entzieht sich der Konfrontation mit dem Nichts so wenig, daß er selber deutlich macht: Das Problem der Subjektivität liegt im Absturz ins Nichts an Realität, im Gespenst einer toten Selbstbespiegelung; es entsteht, wenn die wahre Schranke, d. h. die lebendige Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, aus der sich die letzte Bestimmung des Menschen ergibt, verfehlt wird. Die bewegende Frage der späteren Wissenschaftslehre lautet daher: „Was wäre denn das wahre Mittel, diesem Sturze der Realität, diesem Nihilismus zu entgehen?" (WL 1812; NW II, 325). Das wahre Mittel wäre eine Vermittlung durch eine Grenze, die wirklich Halt und Bestimmung gibt. Aber eben solch limitative Verbindung des Ich mit Wirklichkeit und Leben ist in die Krise geraten. Die Position selbstgewissen Wissens ist der des Glaubens gewichen. Der Glaube an die das Ich umgreifende Verbindlichkeit der Moralität aber — das zeigt die ,Anweisung zum seligen Leben' — ist selbst nur Bild, nämlich Repräsentation göttlicher Vernunft, göttlichen Lichts und Lebens. Uber den Gegensatz von Wissen und Glauben hinaus erhebt sich eine äußerste Disjunktion: Entweder werden die Tathandlung und das absolute Subjekt als Prinzip von Denken und Sein beibehalten — dann laufen alle Vermittlungen von Ich und Nicht-Ich Gefahr, in einer ungeheuren Vernunftverblendnis und Selbstübersteigerung zu enden; oder das Ich setzt sich als Prinzip ab und erniedrigt sich zum Moment des Absoluten — dann laufen die Vermittlungen von absolutem Wissen und göttlichem Sein (Vernunft, Licht, Leben) Gefahr, unbegreiflich und unsäglich zu werden. Jacobi hat diese Disjunktion zur Entscheidung gestellt: „Gott ist, und ist außer mir,

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ein lebendiges, für sich stehendes Wesen, oder Ich bin Gott. Es giebt kein drittes" (WW III, 48)S1. Fichte hat diese analytische Opposition ausdrücklich als diejenige Schwierigkeit aufgenommen, die jede Einheitsphilosophie in ihrer Grundlegung zu lösen hat. Und Kierkegaard wird eben dieses Entweder-Oder als das dialektische Moment im Werden des existierenden Selbst, im Sprung zwischen Wissen und Glauben, festmachen. Fichtes Spätphilosophie ist der Versuch, diese Schwierigkeit in einer radikalen Reflexion des absoluten Wissens auf seine Grenze und seinen Ursprung zu heben. Den ersten Gang solcher Selbstdurchdringungen hat die Wissenschaftslehre von 1801 unternommen. Hier soll nur der letzte Schritt dieser subtilen und beziehungsreichen Analyse wiederholt werden, um die Neufassung des Verhältnisses von Freiheit, Gott und Endlichkeit wiederzugewinnen. Er hebt mit dem Widerspruch an, der das absolute Wissen zu all seinen Synthesen bewegt. „Es ist für sich (= F) schlechthin, was es ist (= A), worin eben der Widerspruch in seiner Spitze zusammengedrängt ist" (WL 1801 § 26; SW 11,62). Zum absoluten Wissen gehört ein Zweifaches: Freiheit, durch die das Wissen zu sich selber kommt (= F), und die Bindung eines Absoluten, die dem Bilden des Wissens Inhalt und Realität gibt (= A). Beides widerspricht sich; denn Freiheit bedeutet ein absolutes Werden, das Absolute aber ein unwandelbares Bestehen. In diesem Gegensatz reicht der Vorschein der kosmologischen Freiheitsantinomie als wirksamer Widerspruch in die Tiefe des Selbstbewußtseins hinein. Der Mensch enthüllt sich als Zwischenwesen, das er ist, wenn seine Herkunft weder im Absoluten noch im Begriff endlicher Reflexion, sondern zwischen beiden feststellbar ist. Dieser vorläufige Bescheid schwört den Ansprüchen beider Parteien ab, der Philosophie endlich-selbstbewußter Freiheit wie dem Spinozismus einer absoluten Substanz. Das Absolute negiert das Wissen; denn es kann niemals objektiviert, also Gegenstand eines Subjekts werden. Und das Bewußtsein bringt es nicht zum Absoluten; denn'was es von sich her vorstellt, ist immer sein eigenes Bild und niemals das Sein. In welchem Punkte aber kämen dann absolutes Sein und absolutes Wissen im Wissen zusammen? „Der Mittel- und Wendepunct des absoluten Wissens ist ein Schweben (§ 23) zwischen Seyn und Nichtseyn des Wissens, und eben damit zwischen nicht absolut Seyn und absolut Seyn des Seyns" (WL 1801 §24; SW II, 51-52). Das hin und her wendende Schweben ist die Lebensweise der produktiven Einbildungskraft. Sie vermag verbindend zwischen Wirklichkeit ud Nicht-Wirklichkeit, Sein 51

Vgl. zu Jacobis Satz, „der ebensosehr Fichtes Prinzip ist", die Stellungnahme Hegels (GuW I, 410ff.).

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und Nichtsein zu schweben. Ihr synthetisierendes Vermögen bewährt sich jetzt als die vermittelnde Mitte, die den Widerspruch zwischen Sein und Wissen aufhebt, indem es bis an die Grenzen des Nichtseins von beiden durchdringt, an ihnen haltmacht und zwischen ihnen hin und her wendend Einheit stiftet. Dadurch, daß die ursprüngliche Bewußtheit an der Schranke des Wissens innehält, wird die Absolutheit des Seins negiert; das reine Sein kommt niemals an ihm selbst, sondern immer nur in den Bildformen und unter den Erkenntnisbedingungen des Wissens zur Erscheinung. Ineins und zumal aber negiert das absolute Sein die Absolutheit des Wissens, dadurch daß das ursprüngliche Bewußtwerden zuriickschwebend bis an die Grenze und den Ursprung des absoluten Wissens herangeht. Darin kommt das Wissen zur Einsicht, daß es Nicht-Wissen ist, weil es eben das absolute Sein, d. h. den Ursprung, die ,Ursichtbarkeit' von Bild und Wissen, als etwas erblickt, das es nicht als solches ins Wissen zu heben vermag. Nur durch die Haltung einer transzendental-kritischen docta ignorantia gewinnt das absolute Wissen ein angemessenes Verhältnis zum Sein als seiner Halt gebenden Grenze. „Mithin kann es seinen absoluten Ursprung nicht erblicken, ohne seine Grenze, sein Nichtseyn, zu erblicken" (WL 1801 § 26; SW 11,63). Indessen endet die kritische Wissenslehre als transzendentale docta ignorantia nicht beim Nichtwissen. Das Nichtsein des Wissens erstarrt nicht in einfacher Negativität. Es negiert ja das Negative des Bildwesens (= Nichtsein des Seins) und poniert dadurch, unter Einschränkung seiner Absolutheit, den schwebenden Zusammenhalt mit dem reinen Sein. „Es ist klar, daß durch ein solches positives Nichtseyn seiner selbst das Wissen zum absoluten Seyn hindurchgehe" (WL 1801 § 24; SW 11,53). Klar ist aber auch, daß das reine Sein ein solcher Anfang des über sein Nichtwissen belehrten Wissens ist, mit dem das Wissen als Wissen nichts anzufangen weiß. „Nur der Anfang des Wissens ist reines Seyn; wo das Wissen schon ist, ist sein Seyn, und Alles, was sonst noch etwa für Seyn (objectives) gehalten werden könnte, ist dieses Seyn und trägt seine Gesetze" (WL 1801 §26; SW II, 63). Vom Absoluten - freilich nur von ihm — ist nichts zu sagen als das einfach ungesonderte ,Ist' ohne Zusatz. Eine spekulativ-dialektische Seinslehre und Logik des göttlichen Begriffs gibt es nicht. Nur die Grenzbesinnung des absoluten Wissens dringt .schwebend' in das Zwischen von Sein und Nichtsein des Seins vor; die dialektische Entfaltung des Wissens aber ist Phänomenologie, Erscheinungs- oder Bildlehre. Alle bestimmten Kategorien sind Grundgesetze und Schemata des Bildseins Gottes und betreffen das Sein in seiner

Das Gesetz der Selbstvernichtung

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negativen Bedeutung als Objektivität, nicht etwa das Absolute oder Gott selbst. „Nur Gott ist. Ausser ihm nur seine Erscheinung" (StL 1813; SW IV, 431). Und die Erscheinung des Seins ist das Feld des Wissens, das ja selbst Äußerung des Seins und Schema Gottes ist. Das also hat die Grenzbesinnung der Wissenschaftslehre von 1801 gezeigt: Absolutes Wissen geht weder im leeren Sichwissen und einer bloß subjektiven Subjekt-Objekt-Einheit auf, noch geht es in eine ontologische Entfaltung des absoluten Seins und der absoluten Subjekt-Objekt-Einheit über. Dank der synthetisierenden Einbildungskraft schwebt es ursprünglich in der fortwährenden Bewegung von Bindung und Entbindung der Freiheit und des Seins dazwischen. So sind eine neue Bedeutung von Grenze, ein tieferer Sinn der Einschränkung für die Bestimmung des Zwischenwesens Mensch und ein Ausweg aus der Aporie des der Subjektivität eingeborenen Nihilismus-Problems gefunden. Wie aber steht es angesichts dieser Lösungen mit der vorausgesetzten Selbstmächtigkeit des Ich?

10. Kapitel: Das Gesetz der Selbstvemichtung in der Genesis des Bewußtseins Das Wesen der Philosophie besteht darin: „Alles Mannigfaltige . . . zurückzuführen auf absolute Einheit" (WL 1804 1. Vortr., S. 7). Alles Mannigfaltige meint nicht die grenzenlose Vielfalt des Seienden, sondern alle Gegensätze und Disjunktionen in den obersten Seinsbestimmungen. Philosophische Forschung konzentriert sich darauf, zu prüfen, ob den vorherrschenden Anfangsgründen noch Mannigfaltigkeit und Nicht-Einheit anhaftet. Dazu ist es nötig, in ihnen den Widerspruch aufzudecken; denn er ist es, der die Disjunktionen herbeiführt. Insofern ist die Arbeit des Begriffs antithetisch. Aber dieses Auseinandersetzen steht im Dienste des Einigens. Relativität und Disjunktion eines vermeintlichen Anfangsgrundes dienen als »Leiter1, auf der das Wissen über den aufzuhebenden Widerspruch zu immer höherer bis zur absolut gegensatzlosen Einheit aufsteigt. Insofern ist die philosophische Analytik synthetisch. Die bekannte analytisch-synthetische Methode aber nimmt im Aufstieg der Wissenschaftslehre von 1804 zur absoluten Einheit eine neue Form und Grundgesetzlichkeit an. Die Dialektik unterstellt sich einem neuen Grundgesetz. Dieses gebietet, von Selbstbewußtsein und Selbstgewißheit als schlechthin unbedingtem Wahrheitsgrund allen Wissens und Seins abzu-

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lassen. Dadurch geht die limitierende Dialektik zu einer Methode absoluten oder aletheuischen Abstrahierens über. Dieser Weg tieferer Selbstdurchdringung dringt in eine bisher unbekannte Geisteswelt ein. Er steigt über die bekannten Gegensätze von Ding und Vorstellung, Theorie und Praxis, Erfahrung und Ubererfahrung, Freiheit und Notwendigkeit auf, um die „absolute Disjunktion" (12. Vortr., S. 119) aufzusuchen. Deren Zweiheit erwächst aus dem Anspruch von zwei Anfangsgründen, die absolute Einheit zu bilden: der ursprünglich einigenden Apperzeption oder der Freiheit des Ich und der Alleinheit Gottes oder des ursprünglichen Lebens als des einigenden Insichaufgehens aller Zweiheit. Bei solcher Zweiheit kann es nicht bleiben. Sie formiert einen Dualismus, der die menschliche Vernunft in Zweifel gestürzt hat und zur Verzweiflung treiben wird. Der Fortgang des Wissens und die Erhebungen der Wissenschaftslehre folgen dem ,Grundgesetz der Einheit'. Dieses gebietet, alle Disjunktionen und Gegensätze durch Aufhebung des zugrunde liegenden Widerspruchs zu höherer Einheit aufzuheben. Das Gesetz herrscht, indem sich das Wissen gleichsam im plötzlichen Einfall der Subjekt-Objekt-Einheit gedrungen sieht, alle Unterschiede auf umfassendere Synthesen zurückzuleiten. Dieser Evidenz entspricht der Genieblick Kants. Aber bei einer bloß faktischen Evidenz und Einsicht, nämlich daß Gegensätze gleichsam mechanisch zur Einheit übergehen, kann sich eine Dialektik des Wissens nicht beruhigen. Sie verlangt Einsicht darin, wie, d. h. nach welchem Entstehungsgesetz es zur Aufhebung der äußersten Gegensätze und zur lichtvollen Einigung der Hauptdisjunktion kommt. In dieser Hinsicht legt Fichtes .Transzendentale Logik' von 1812 das Wort Dialektik fest: „Durch Genie nur plötzliche Evidenz, die wieder entschwinden kann; wahre Dialektik aber die gesetzmäßige Methode, zu dieser Evidenz zu kommen" (NW 1,188). Für die wahre Dialektik kommt alles darauf an, vom Anfange ihrer Erhebungen an dasjenige Gesetz zu finden, nach dem sich das Wissen in seinem Aufstieg zur absoluten Einheit fortbewegt. Ausgang dafür ist der Standpunkt des reinen Wissens. Dessen Schema schematisiert das menschliche Selbstbewußtsein als Zwischenwesen (vgl. WL 1804, 4. Vortr.): A

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Es schwebt zwischen A, dem Absoluten als der Bestimmung gebenden Grenze des Wissens (dem urrealen Leben und göttlichen Sein) und dem ,Punkt' der Freiheit als dem Einheits- und Sonderungsgrund von S (Sein) und D (Denken) wie von χ (sinnlicher Erfahrung, Gebiet der theoretischen Vernunft), ζ (intelligible Welt, Gebiet der praktischen Vernunft) und y (Gebiet der Urteilskraft). Nun aber weiß sich das absolute Wissen als die organische Einheit, d. h. als unmittelbare Trennung und Unabtrennlichkeit all dieser gestuften Gegensätze. „A absolut in S und D und in x, y, ζ gespalten; durchaus in Einem Schlage: Eins nicht ohne das Andere" (WL 1804, 3. Vortr., S. 22). In eben dieser Einsicht aber erfährt das Wissen, daß es dieser Evidenz nicht gewachsen ist; der Unvermitteltheit, dem Plötzlichen (εξαίφνης) dieser Einigung bleibt das Begreifen (und alle Sprache, „deren erste Grundwendung die Objectivation ist" - vgl. WL 1804, 15. Vortr.) inadäquat; „denn alles Aussprechen oder Nachconstruieren = Begreifen ist in sich mittelbar" (WL 1804, 4. Vortr., S. 33). Der Begriff konstruiert nach. Er setzt Vorgegebenes eines durch und vermittels des anderen zu einer synthesis post factum zusammen. So kann er, um der Einheit des reinen Wissens zu entsprechen, nur entweder beim Absoluten anheben, um es mit der Freiheit zusammenzufassen, oder umgekehrt, um so dann Denken und Sein und danach Erfahrung und Ubererfahrung zu konzipieren, indem er wiederum bei einem der Glieder beginnt, um es durch den Gegensatz des anderen zur Allgemeinheit zu vermitteln. In keinem Falle vermag das Konstruieren des Begriffs die Unmittelbarkeit, mit der die wahre Einigung und Sonderung in jedem Bewußtsein, das Ich sagt, doch geschieht, sachgerecht zu fassen. Der kritischen Besonnenheit dieser Selbstbesinnung geht das , Grundgesetz alles Wissens' auf. Das Einheitsgefüge des Wissens erweist sich für das Begreifen als etwas Unbegreifliches. Dem Konstruieren des Verstandes bleibt es ewig verstellt. Wie aber kann es dann überhaupt zu dieser Einsicht jenseits des Begreifens kommen? Und es soll zu ihr kommen, sofern nicht von Anfang an der Weg zur absoluten Einheit und zum absoluten Licht verfehlt, und das heißt: das Gottesverhältnis im Selbstverhältnis des Menschen abgeschnitten werden soll. „Soll es zu diesem wirklich kommen, so muß der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegreifliches Sein gesetzt werden: gesetzt, das Licht solle sein, so ist durch diesen Satz alles das Gesagte gesetzt. Dies haben wir nun eingesehen, und dies ist wahr und bleibt ewig wahr, und drückt das Grundgesetz alles Wissens aus; und als solches können wir es uns merken" (WL 1804, 4. Vortr., S. 39).

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Das Unbegreifliche leuchtet als Unbegreifliches ein, wenn der Begriff sich vernichtet. Vernichtung bedeutet dabei nicht etwa gänzliche und endgültige Auslöschung allen Begreifens. Vernichtung des Bewußtseins und Begriffs besagt, daß der methodische Aufstieg von ihnen als Prinzip absieht und ihre Absolutheitsansprüche fallen läßt; denn diese verstellen und verdecken unvermeidlich die gegensatzlose Einheit des Absoluten. Negieren bedeutet hier eine Art entdeckenden Abstrahierens, wobei das Negierte notwendiges Vehikel des Freilegens bleibt. Darum werden der Begriff und seine Vorstellungsweisen nicht ganz und gar verworfen. Zunächst müssen sie ja, um vernichtet und fallengelassen werden zu können, gesetzt sein. Sonst würde überhaupt nicht gedacht. Sodann muß der Begriff rehabilitiert und wiederaufgenommen werden. Sonst würde außer dem unvordenklichen Sein und dem unsäglichen Leben nichts gesagt und repräsentiert. Begriff und Unbegreifliches sind also unabtrennbar, und zwar gerade nach dem Gesetz der Setzung und Vernichtung des Begriffs. Es ist dieses merkwürdige Grundgesetz, das sich auf allen Stufen des Wissens durchhält. Die Dialektik der Selbstvernichtung wird die letzte Fassung der Wissenschaftslehre auf die Formel bringen: „Gott selbst ist nicht durch das Denken, sondern an ihm vernichtet sich das Denken" (TdB 1813; NW 1,563). Die Dialektik der Selbstnegation formiert sich, indem sie das erworbene Grundgesetz allen Wissens durchdringt 52 . Sofort nämlich greift eine neue Disjunktion die erreichte Einigung an, und zwar wiederum im Stile einer Antinomie von Freiheit und Gebundenheit. Dabei behauptet die (idealistische) Thesis: Wir, die Energie des Denkens, sind Prinzip für das Zustandekommen der höchsten Einheit; denn ohne das Setzen und Konstruieren des Begriffs entstünden weder Nichtwissen noch Sein. Die (realistische) Antithesis behauptet dagegen: Der Vernunftgehalt ist es, der unser Denken ergreift; denn ohne seine bindende Notwendigkeit verfiele unser Konstruieren der freien Willkür. Jeder der beiden Standpunkte beansprucht die volle Wahrheit. „Welcher nun ist wahr, und bei welchem

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Dabei sollte herausgestrichen werden, wie dieses Gesetz den Hiat von Denken und Sein aufklärt: Die Vorstellung vom an sich bestehenden Ding (S) im Unterschied zum sich wissenden Subjekt (D) entstammt dem Prozeß, in welchem der Begriff gesetzt und vernichtet und die Qualität des Unbegreiflichseins abgesetzt wird, so daß das substante Sein auf der einen und das bloß subjektive Denken auf der anderen Seite übrig bleiben. Die Spaltung von Bewußtsein und Sein gründet mithin nicht, wie die spekulative Dialektik meint, in der Selbstentzweiung des göttlichen, sondern in der Selbstvernichtung des endlichen Begriffs.

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sollen wir uns beruhigen?" (WL 1804, 4. Vortr., S. 40). Die neue dialektische Auflösung erklärt beide Positionen für abstrakt und einseitig und stellt den Anfangsgrund in die Mitte zwischen beide. „Die Evidenz ruht weder in dem Einen, noch in dem Andern, sondern durchaus zwischen beiden" (WL 1804, 4. Vortr., S. 41). Die erschöpfenden dialektischen Gänge, die den Widerstreit zwischen den Weltanschauungen des Idealismus und Realismus vermittelnd aufheben, werden hier nur schematisch und so weit verfolgt, um die Grundformen der Dialektik der Ich-Negation sichtbar zu machen. Um die rigorosen Gegensätze im Vermitteln aufzulösen, ist es nötig, vorab eine Disjunktion im Zu-Vermittelnden, nämlich in der nur als unbegreiflich begreiflichen Einheit, herauszugliedern. Fichte belegt das Unbegreifliche, um es überhaupt auslegbar zu machen, mit dem unerschöpflichen Gleichniswort , Licht' im doppelten Sinne von ungesonderter Licht-Helle als der Wirklichkeit des Durchlässigen an ihm selbst und als sich selbst effizierender Licht-Strahl, der seinen Schein von sich her herauswirft. Dem so vorverstandenen Lichte eignet nun eine zweifache, präzise zu unterscheidende Äußerungsweise: die innere und äußere Existenzialform. In innerer Existenz äußert sich das Licht der Vernunft so, daß Vernunft und Vernommenes sich spalten, ohne zueinander in einen Objektbezug zu treten. In .immanenter Äußerung' wirft sich die Vernunft (das Subjektive) nicht am Vernommenen (als Objektives) auf sich zurück, sondern geht, da das Entgegengesetzte bruchlos mit ihm eins ist, nur in sich selber auf. Die äußere und objektive Existenzialform dagegen betrifft diejenige Äußerung, in der das Licht in den Bildbezug zum Wissen und in die Dialektik von Bild (Wissen qua Nichtsein) und Sein (Ursichtbarkeit) eingeht. Diese kritische Unterscheidung zeigt die unkritische, einseitige Haltung beider Parteien. Die idealistische Position sieht allein auf die äußere Existenzialform und behauptet sie als das einzig zulässige Gewisse, der realistische Standpunkt beharrt auf der inneren Daseinsform des Absoluten und hält sich an sie als das an sich seiende Wahre. Beide Standpunkte sind abstrakt, und von beiden Positionen muß ein Aufstieg zur absoluten Einheit abstrahieren. Weil beide den konkreten Zusammenhang von Selbstbewußtsein und Absolutem, von Disjunktion und Einheit verfälschen, darum sind diese abstrakten Glieder im Aufsteigen fallen zu lassen. Trotz dieser Absonderung aber erheben sich beide zu noch grundsätzlicherem Widerstreit. Die idealistische Anschauungsweise verlegt sich nun auf die Energie des ,Urbegriffs', die realistische auf den Bestand der

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,Urrealität'. Urbegriff bedeutet das ,Durch', die vermittelnde Konstruktion des Begriffs auf der Höhe des Durcheinander von Bild und Abgebildetem qua reinem Sein oder Licht. Er wird für das erste in dieser Einheit und für ursprünglicher als das Licht gehalten; denn offenkundig ist der Urbegriff das Prinzip der Disjunktion. Er evoziert die Erscheinungen des Seins, das gesonderte Heraustreten der Glieder dieser Einheit, nämlich das sich als Bild wissende Bild (Selbstbewußtsein) und das in dessen Verstehensformen Abgebildete (Sein). Dieses Zentrum der Bild- und Erscheinungslehre aber muß wiederum im Aufstieg zur absoluten Einheit methodisch zurückbleiben, sobald ihm ein Gegensatz entsteht. Das geschieht in der Behauptung der Urrealität. Die Verabsolutierung der Urrealität erhebt gegen den Urbegriff und das idealistische Bildwesen den Einwand der Leere, des Nichtseins, des Todes. Der Urbegriff als formales Prinzip der Sonderung braucht doch einen vorgängigen, zu sondernden Inhalt, eben die Urrealität. Um das Bildwesen der Ichheit in der Wurzel vor dem Nichts der Leere und dem Tode zu schützen, ist ihm das Prinzip einer absoluten Realität oder Gott vorauszusetzen. Dem Absoluten nämlich ist nicht nur die negative Qualität der Unbegreiflichkeit, ihm ist ein positiver Gehalt zuzuerkennen. In Abstraktion von der Negation des Nichtbegreiflichseins bleibt als wahre Position ein absolut Reales übrig. Dieses umfaßt nicht bloß das Objektive (das reale Sein der Natur) und nicht bloß das Subjektive (das ideale Sein der Geisteswelt), sondern deren ungeteilte Einheit und somit alle Realität; denn mehr als subjektives, ideales und objektives, reales Sein gibt es nicht. Von diesem Gesichtspunkte aus erhält das Urgesetz des Wissens eine schärfere Profilierung. Die Urrealität als das lebendige Ineinanderaufgehen von Subjektivität und Objektivität wird zum Grab und Untergang alles sondernden Durchkonstruierens. An ihr geht der äußerste Objektivierungswille zugrunde. Also muß sich das Sondern des Begriffs absondern. Anders kann das System des Wissens das lebendige ,Ist' nicht in sich aufnehmen. Die prinzipielle Disjunktion zwischen dem Begriff als Urbegriff (B) und dem Licht als Urrealität (L) fordert für das Suchen der absoluten Einheit eine neue, in dieser Reflexionshöhe bislang unbekannte Synthetisierung. „Diese Einheit des L und Β zu finden, . . . ist unsere Aufgabe" (WL 1804, 9. Vortr., S. 88). Offensichtlich bietet allein der Urbegriff ein mögliches Widerlager für die Brücke zum Absoluten. Aus dem undurchdringlichen göttlichen Leben läßt sich nämlich das Gesetz, nach dem der Urbegriff aus ihm entsteht, nicht entnehmen. Mithin muß der aufsteigende

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Prozeß L als Prinzipiat von Β und Β als Prinzipiat von L einsichtig machen. Es ist wiederum die Abstraktion von der einseitigen Selbstgewißheit, welche diese Suche vorwärts bringt. Sie nimmt der Wirklichkeit des Urbegriffs alle Sicherheit. Der Urbegriff an ihm selbst ist nichts als die Form der absoluten Beziehung von Bild und Abgebildetem. Diesem bloßen Durcheinander ist nicht nur die bestimmte Gliederung in S — D wie in x, y, ζ außerwesentlich, vor allem mangelt es ihm an ursprünglicher Lebendigkeit. Zwar besitzt das Durcheinander Möglichkeit und Form des Lebens, nämlich die organische Einheit einer in sich übergängigen Zweiheit und Gegensätzlichkeit, aber es hat nicht den Existenzgrund des Lebens in sich selbst. „Es hat bei aller Anlage zum Leben, dennoch in sich selber nur den Tod" (WL 1804, 11. Vortr., S. 105). Nun ist aber doch das Durch in allem Bewußtsein lebendig. Folglich lebt es zwar, aber nicht aus sich selbst, sondern aus einem anderen, das aus sich selber lebt. Die wirkliche Synthesis des Ich vollzieht nicht ihr eigenes, sondern das Leben des Absoluten. So erzwingt abermals die Seinsbedeutung von Wirklichkeit, Existenz, Leben eine kritische Zurücknahme des Ich-Anspruchs, und damit scheint die Aufgabe einer limitativen Vermittlung von endlichem Begriff und absolutem Leben, von Ich und Gott, unter dem Geleit der Selbstvernichtung gelöst. Einerseits erscheint der Begriff als Prinzipiat des Absoluten; denn er schuldet seine Existenz einem Leben jenseits seiner. Andererseits bleibt das Absolute Prinzipiat des Begriffs; denn es fällt ja erst durch eine Existenzbesinnung ichhaften Daseins ein. Indessen konzentriert diese Aufhebung den Kampf zwischen Idealismus und Realismus lediglich auf einen höher gelegenen Punkt: den Grund für solche Zusammenfügung von Urbegriff und Urrealität. Dabei beruft sich der höhere Idealismus wiederum auf die Energie des sich selbst durchdringenden Denkens. Anfang und Motor für die Aufhebung der .absoluten Disjunktion' sei die Freiheit des Denkens, ohne welche die Operation der dialektischen Verschränkung ohne Antrieb bliebe. Folgerichtig verblaßt die Notwendigkeit eines bewußtseinsunabhängigen Lebens zu einem notwendigen Gedanken konstruierenden Denkens. Der frei konstruierenden Energie des Ich stellt der höhere Realismus die notwendige Selbstkonstruktion des Absoluten entgegen. Die Verschmelzung von L — Β entstehe nicht durch das freie Konstruieren des Ich, sondern durch eine Selbstkonstruktion des Absoluten, die das Denken des Ich bindet und belebt. Beide Positionen sind einseitig. Der Anspruch des Idealismus hält sich borniert an die Seite des Fürunsseins und nimmt auch das noch für einen

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Gedanken und ein Objekt des Ich-denke, was jenseits und unabhängig vom Subjektbezug absolutes Sein und Leben hat. So aber führt sich der Idealismus selbst ad absurdum. Eine bloß gedachte Wirklichkeit und Urrealiiät ist innerlich tot. Und so hätte das, was alle Synthesis leisten sollte, die Energie des Denkens, eben in sich selber den Tod. Folglich scheint die Annahme des Realismus unausweichlich. Trotzdem überspannt auch der höhere Realismus seine Position. Er versieht sich an der Unabhängigkeit des Ansich. In der Proklamation eines absoluten Ansich glaubt er über die Grundstellung des Bewußtseins hinausgekommen zu sein. Indessen läßt sich ein Ansich überhaupt nur negativ verstehen, nämlich als Nicht-Fürunssein. Der Sinn des Ansichseins beruht auf dem Verhältnis zwischen Fiiruns und Ansich, und diese Relation ist doch die Grundform des Bewußtseins. Und so widerspricht sich auch der Realismus von seiner eigenen Voraussetzung her. Er enthüllt sich als ein Idealismus, der sich nur nicht kennt. Solche Argumentation formiert den Widerspruch des Selbstbewußtseins noch einmal zur klassischen Figur einer Antinomie. Der richterliche Vernunftspruch greift abermals auf die Grundgesetzlichkeit allen Wissens zurück. Er lautet: Beide Parteien sind in ihrer Denkhaltung faktisch geblieben, sie haben die Genesis der Vermittlung und deren Gesetz nicht gebührend beachtet. Darum ist das Gesetz der Selbstnegation des Begriffs wieder beizubringen. Es gewinnt jetzt seine umgreifendste Fassung. Der Prozeß der Einheitssuche war zu dem Vermittlungssatz durchgedrungen: Soll es wirklich zu einem Durch kommen, so muß ein vom Durch unabhängiges, in sich gründendes Leben vorausgesetzt werden. Darauf ist das genetische Gesetz zu beziehen. Soll dieser Zusammenhang verbindlich einleuchten, dann muß sich der Begriff nicht bloß in der Bedeutung des Fürunsseins, sondern auch im Hintersinn des Ansich vernichten. Solch zweiseitige Negation der Ichheit erhält daher das Gepräge einer .absoluten Abstraktion'. Die Dialektik angemessener Selbstvernichtung bewährt sich als Verfahren einer entdeckenden, aletheuischen Abstraktion.

11. Kapitel: Separierende und aletheuische

Abstraktion

Seit Hegel herrscht im Streit um die letzten Dinge ein horror abstracti. Abstrakt denken heißt unwahr, unwirklich, borniert-endlich denken. Schon der Verdacht auf Abstraktheit eines Prinzips gilt als Widerlegung. „Ist das Wahre abstrakt", - erklärt Hegels Einleitung in die Geschichte

Separierende und aletheuische Abstraktion

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der Philosophie —, „so ist es unwahr" (Jub. XVII, 53). Der gesunde Menschenverstand geht wenigstens auf den Schein des Konkreten, die Philosophie aber muß alles abstrakte Unendliche zum unendlich Konkreten zurückführen. „Das Abstrakte", heißt es in Hegels Religionsphilosophie, „ist endlich, das Konkrete ist die Wahrheit, ist der unendliche Gegenstand" (Jub. XVI, 226). Und im Anblick der unentwickelten, bloß abstrakt aufgeklärten Freiheit warnt Hegel: „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt, Wirklichkeit zerstören" (Jub. XIX, 553). Hegel perhorresziert die Abstraktion als das Grundübel, welches die Wahrheit fälscht, die Unendlichkeit abriegelt, die Wirklichkeit zerstört. Woran entzündet sich diese Ächtung der Abstraktion? An ihrer trennenden Gewalt, ihrem einseitigen Setzen und ihrem bornierten Verabsolutieren. Separierung des Konkreten, Vereinseitigung des Separierten, Verabsolutierung des Einseitigen, das sind die drei unheilvollen Tendenzen der Abstraktion. Sie trennt und sondert ab, d. h. sie spaltet das zusammengewachsene Eine und vereinzelt dessen Bestimmungen. Sie vereinseitigt, d. h. sie stellt die Wahrheit auf eine der abgetrennten Seiten. Und sie verabsolutiert, d. h. sie steigert die eine wahre Seite zum Absoluten. In der merkwürdigen, nachgelassenen Parodie „Wer denkt abstrakt?" (Jub. XX, 445ff.) beschreibt Hegel den Ungebildeten und den Halbgebildeten als einen Menschen, der alles nur einseitig und von seinem beschränkten Blickwinkel her ansieht. So schimpft die Marktfrau abstrakt. Sie beurteilt alle Welt nur von ihrer Seite, dem Verkauf von Eiern her, und sie läßt an der Käuferin, die ihre Eier faul gefunden hat, kein gutes Haar. Abstrakt denkt, so gesehen, der Unvernünftige in seiner sich auslassenden Unvernunft. Hegels Dialektik des Konkreten hat einen Erzfeind, Fichtes Wissenschaftslehre. „Von ihm und seiner Manier", heißt es in Hegels Vorlesungen über die Neuere Philosophie, „kommt das abstrakte Denken" (Jub. XIX, 460). Seit der Differenzschrift hat Hegel unermüdlich und unerbittlich dieses Urteil gefällt: Die Wissenschaftslehre ist einseitig; Fichte hat Natur und Geist, Ich und Nicht-Ich, Ding und Intelligenz getrennt, das Getrennte aber nicht ins Absolute, sondern eines von beiden, das Ich, als Absolutes gesetzt. Programmatisch erklärt die Differenzschrift: Fichte habe „Eins der Entgegengesetzten vernichtet, und das Andere zu einem Unendlichen gesteigert" (Jub. 1,123). Die Abstraktion sei das πρώτον •ψεύδος des Fichteschen Systems: Die anfänglich gemeinte konkrete Einheit des Subjekt-Objekt wird einseitig zum subjektiven Subjekt-Objekt,

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zum abstrakten Selbstbewußtsein, degradiert; in ihm bleibt das Abgesonderte, die mißhandelte Natur, in theoretischer und praktischer Hinsicht wesentlich ein Totes — nämlich bloßes Nicht-Ich als Material der Pflichterfüllung — ; die konkrete Erfüllung einer absoluten Einigung wird zwar postuliert, aber nicht im System konstruiert. Die subjektive SubjektObjekt-Einheit kommt aus der Differenz nicht heraus. Sie bleibt abstrakt und in der Entzweiung stecken. Die Rückkehr des Andersseins in das Selbstbewußtsein kommt nicht zustande. Weil das Ich mit dem Nicht-Ich niemals fertig wird, bleibt der Grundschaden des Dualismus bestehen. „ D a s Ich (ist) auf einer Seite fixiert" (Jub. XIX, 637). Das Selbstbewußtsein bleibt innerlich ohne unendliches Leben. Die Polemik gegen die Abstraktheit der Wissenschaftslehre war vernichtend. Sie sperrte den Blick für jeden anderen Weg vom Abstrakten zum Konkreten, der nicht dihairetisch-dialektisch auf der Bahn der doppelten Negation, sondern aphairetisch auf dem Wege einer doppelten Abstraktion entwickelt wurde. Solch anderen Weg vom endlich abstrakten Selbstbewußtsein zum konkreten göttlichen Leben hat die vertiefte, umgebildete Wissenschaftslehre seit 1800 gebahnt. Sie war für Hegel ausdrücklich „ohne philosophisches Interesse" (Jub. XIX, 640—41). Aber vielleicht ist es gerade für eine Auseinandersetzung mit der Hegeischen Dialektik von zentralem philosophischen Interesse, die Frage nach Form und Möglichkeit einer dialektischen Abstraktion, nämlich der zur absoluten, konkreten Einheit erhebenden Abstraktion der Abstraktion, neu aufzurollen. Für die Grundlegung der Wissenschaftslehre gilt es, zu unterscheiden, nämlich zwei Formen der philosophischen Abstraktion, die separierende und die aletheuische Abstraktion. Beide sind vorab gegen die geläufige gnoseologische, formal-logische und mathematische abstractio bzw. άφαίρεσις abzuheben. Die erkenntnismäßige abstractio reduziert Einzelnes auf die Allgemeinheit des empirischen Begriffs. Die mathematische άφαίρεσις bildet (nach Aristoteles) die Zahlen. Die logische Abstraktion ist der Grundakt für die Konstituierung der formalen Logik. Philosophische Abstraktion dagegen führt zu Prinzipien der Philosophie. Sie gewinnt ihre Eigenart von dem her, was Erste Philosophie ist. Das Problem der separierenden Abstraktion hat Fichtes berühmte ,Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre' von 1797 eben aus der Aufgabenstellung der Philosophie überhaupt entwickelt. „Die Philosophie hat . . . den Grund aller Erfahrung anzugeben" (1,423). ,Alle Erfahrung' umspannt äußere wie innere Erfahrung, die objektive Erkenntnis der

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körperlichen Außenwelt und des weiten Reiches der menschlichen Innenwelt. Mithin grenzt sich die Philosophie nicht wie die Einzelwissenschaften auf ein Sachgebiet ein, sie geht auf das Seiende im Ganzen, neuzeitlich gesprochen, auf alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung. Philosophie ist Ontologie. Und sie dringt auf Anfangsgründe oder Prinzipien. Nun zeigt eine einfache Zergliederung des Begriffs ,Begründung' zweierlei: 1. Das zu Begründende muß den Charakter des Zufälligen und Tatsächlichen haben. Tatsache nennen wir etwas, das zwar feststeht, aber auch anders bzw. überhaupt nicht sein könnte, weil es den Grund seines Soseins nicht in sich trägt. Tatsachen fordern daher die Frage nach dem Grunde heraus. 2. Grund und Begründetes stehen im Verhältnis des Andersseins. Denke ich Grund, dann stelle ich etwas Bestimmendes vor und außer dem zu Bestimmenden vor. Der Grund liegt außerhalb des Begründeten. Wird diese analysis notionis von Grund auf den Grund aller Erfahrung angewendet, dann ergibt sich: 1. Das zu Begründende, das All der Erfahrung, ist insgesamt zufällig. Es ist Haupttatsache unseres Bewußtseins und fordert die Frage heraus: Warum ist das Seiende im Ganzen gerade so und nicht anders? Warum ist überhaupt Seiendes und nicht nichts? 2. Der gesuchte Anfangsgrund muß außerhalb aller Erfahrung liegen, mit Kant gesprochen: Der einigende Grund aller Gegenstände der Erfahrung kann selbst kein erfahrbarer Gegenstand sein; er liegt notwendig über alle Erfahrung hinaus. „Dieser Satz", erklärt Fichte, „gilt für alle Philosophie" (1,425). Nun hieß im vorsokratischen Anfange das Ganze des Seienden φύσις. Indem die φυσιολόγοι im Dringen auf erste Anfangsgründe (άρχαί) über alles Erfahrbare (μετά τά φυσικά) hinausgehen mußten, war ihr Denken wesenhaft metaphysisch. Das bleibt. Auch die kritische Transzendentalphilosophie Fichtes ist ihrem erklärten Ansätze nach ontologisch und metaphysisch zugleich. Diese ihre sachhaltige Bestimmung enthält ineins ihre methodische Aporie. Eine kritische Erste Philosophie muß alle Erfahrung übersteigen, sofern sie den Einheitsgrund aller Erfahrung finden und entfalten soll — sie darf die Erfahrung nicht transzendieren, sofern sie gegen sich selbst kritisch besonnen bleiben will. Durch Kant ist der Transcensus, der die Schranken unserer Erfahrung beseitigt und die Grenze unserer Endlichkeit mißachtet, als eine zwar unvermeidliche, aber transzendental-logisch auf-

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lösbare Illusion der Metaphysik enthüllt. Seit Kant steckt die Erste Philosophie in dieser Klemme. Sie muß, um Wissen vom Anfangs- und Einheitsgrunde aller Erfahrung zu werden, die Erfahrung überschreiten — sie darf, um nicht in dogmatische Metaphysik zurückzufallen, die Schranken der Erfahrung nicht transzendieren. Wie kann die Philosophie beides, zu ersten Anfangsgründen gelangen und die Grenzen der Erfahrung einhalten? Der Bescheid der frühen Wissenschaftslehre lautet: einzig auf dem Wege der separierenden Abstraktion. Abstrahieren bedeutet dabei „das in der Erfahrung Verbundene durch Freiheit des Denkens trennen" (1,425). Der Grundzug der Abstraktion, das trennende und absondernde Entzweien, erhält Eigenart und Gewicht vom Konkreten her, das aufgespalten wird. Das ontologische Konkretum ist das in der Erfahrung Verbundene, die konkreszierte Einheit von Ding und Intelligenz, von cogitatum und cogitans, von Subjekt und Objekt; denn zu aller Erfahrung gehört doch das Ding (lat. ens, gr. öv), auf das und nach dem sich unser Erkennen (intelligere) richtet, und ein Subjekt, das sich erkennend auf das Ding richtet. Solche Synthesis von Vorstellendem und Vorgestelltem zerteilt sich niemals von sich, aus Natur, sie kann allein durch die Kunst einer freien Abstraktion auseinandergesetzt werden. Und diese verfährt so, daß sie eines der beiden Glieder des Konkretum aussondert und das andere als Prinzip in der Hand behält. Diese Methode überwindet in der Tat die Aporie transzendental-kritischer Metaphysik. Das Denken des ersten Grundes erhebt sich aus Freiheit über alle Erfahrung, weil es von ihrem konkreten Bestände abstrahiert; es überfliegt die Erfahrung nicht, weil es etwas zum Anfangsgrunde aller Erfahrung erhebt, das zwar isoliert an sich nicht in der Erfahrung vorkommt, aber doch selber zum Erfahrungsbestande gehört. Freilich stürzt die separierende Abstraktion die Philosophie, indem sie ihr aus einer Ausweglosigkeit heraushilft, sogleich in eine neue, akutere Aporie. Das bedachte Konkretum läßt offenkundig zwei Möglichkeiten der Aufspaltung zu: Einerseits kann vom Ding abgesehen werden; dann bleiben die Intelligenz an sich, das absolute Subjekt oder reine Ich, als Anfangsgrund zurück und einzig die idealistische Position übrig. Die Intelligenz zum Erklärungsgrunde des vorgestellten Dinges machen, heißt idealistisch denken. Andererseits kann mit demselben methodischen Recht von der Intelligenz abstrahiert werden; dann bleiben das Ding an sich, die Natur, Materie — in Bezug auf das menschlich-gesellschaftliche Sein die ökonomischen Verhältnisse — als Prinzip zurück und nurmehr die dogma-

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tische oder materialistische Position übrig. Das Ding zum Erklärungsgrunde des Dingbewußtseins machen, heißt dogmatisch denken. Daher erzeugt die separierende Abstraktion den Skandal des unheilvollen Widerstreits zweier Weltanschauungen. Fichtes Stellungnahme zur Weltanschauungsantinomie ist weithin bekannt, wenngleich nicht überall in ihrer Konsequenz erkannt. Sie erklärt: Ein Dialog zwischen den Weltanschauungen ist nicht möglich. Dazu gehört wenigstens ein Minimum an Gemeinsamkeit. Das hindert die separierende Abstraktion. Sie eröffnet solch einen klaffenden Gegensatz zwischen Prinzipien, daß in den daraus erwachsenen Systemen „gar kein Punkt gemeinsam" ist (1,429). Daher sprechen die feindlichen Parteien auch gar nicht dieselbe Sprache. Jeder Satz, etwa über die Freiheit, die Natur, über Recht und Staat, den Menschen und die Gesellschaft usw. ist ja Folgesatz eines obersten Grundsatzes und erhält so in beiden Systemen einen unterschiedlichen Stellenwert und verschiedenen Sinn. Die Methode der separierenden Abstraktion schneidet den unmittelbaren Dialog und alle vermittelnde Dialektik ab. Wie also steht es mit der Gigantomachie, der Riesenschlacht zwischen den Ideen- und Materie-Freunden? Keine Seite kann die andere in spekulativer Hinsicht', d. h. mit Beweisgründen direkt besiegen. Aber beide können auch nicht zusammen bestehen. Es kann doch nur eines der beiden Prinzipien das erste und ursprünglich, das andere muß eo ipso das zweite und mithin abgeleitet sein. Was also ist es, wenn nicht die theoretische Vernunft, welches unmittelbar über die Parteinahme der Menschen entscheidet? Fichtes Einsicht lautet: die durch Interesse geleitete Wahl des Willens. „Der letzte Grund für die Verschiedenheit des Idealisten und Dogmatikers ist . . . die Verschiedenheit ihres Interesses" (1,433). Nun laufen unsere vielfältigen Interessen, die alltäglichen Sorge-Interessen, die ökonomischen und politischen Herrschaftsinteressen, aber auch und vor allem die menschlichen Vernunftinteressen auf ein einziges Interesse hinaus. Woran dem Menschen im Grunde gelegen ist, ist die Wirklichkeit seiner selbst. „Das höchste Interesse und der Grund alles übrigen Interesses ist das für uns selbst" (1,433). Wird dieses unsichtbar leitende Selbstinteresse ins Offene gebracht, dann zeigt sich der dreifache, fatale Charakter kämpferischer Weltanschauung: der Primat des Glaubens, der Glaube an den Fortschritt, die leidenschaftliche Parteinahme für den Fortschritt, auf den der Glaube setzt. So glaubt die idealistische Seite, daß das Selbst mächtiger ist als die Dinge, die dogmatische, daß das Sein Basis und Grundbestand jeglichen Bewußt-

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seins ist. So hält der Idealismus für wahr, daß der Gang des Menschengeschlechts vom Glauben an die Dinge zum Glauben an die Ideen fortschreitet, während der Dogmatismus umgekehrt den Fortschritt vom Aberglauben an Ideen zum Setzen auf die Dinge feiert. Und so lassen sich beide Parteien zu leidenschafdicher Parteilichkeit, zu Erbitterung und Verachtung hinreißen. Kommt zu solch leidenschaftlichem Glauben die Macht, dann wird die entgegengesetzte (als rückschrittlich verurteilte) Partei verfolgt und vernichtet. Daher scheint das vielzitierte Urteil des Juristen Anselm Feuerbach über Fichtes Gewaltsamkeit zutreffend: ,Ich bin überzeugt, daß er fähig wäre, einen Mahomet zu spielen . . . und mit Schwert und Zuchthaus seine Wissenschaftslehre einzuführen'. Aber der Rückzug der Theorie auf das Interesse ist gar nicht Fichtes letztes Wort, sondern eine vorlaufende prophetische Warnung. Wo keine beweisbaren Wahrheiten, sondern ausschließlich Interessen entscheiden, da herrschen die Maxime der Parteilichkeit und die Praxis der Liquidation. Solche Gefahr resultiert aus der separierenden Abstraktion, die es bei einer prinzipiell ambivalenten Trennung, Vereinseitigung und Verabsolutierung beläßt. Nicht die Wissenschaftslehre, wohl aber das Zeitalter der Weltanschauungen ist dieser Gefahr erlegen. Kritische Besonnenheit verlangt von der philosophischen Abstraktion, das abstrahierte Moment als Prinzip der konkreten Erfahrung auszuweisen. Das führt zur indirekten Widerlegung des Dogmatismus. Grobschlächtig, aber schlagend zeigt die Erste Einleitung (subtil und zwingend die Deduktion der Kausalität in der ,Grundlage'), daß das abstrahierte Ding an sich in seiner systematischen Entfaltung einseitig und abstrakt bleibt. Es kann die Erfahrung, den Verbund von Ding und Intelligenz, nicht aus sich begründen. Zwar läßt sich die Vorstellung von Dingen als Einwirkung und Abspiegelung der Dinge erklären, nicht aber das Sich-selbst-Vorstellen in aller Ding-Vorstellung. Die Theorie der Widerspiegelung mag das Bewußtsein aus dem Sein, sie vermag nicht das Selbstbewußtsein im Bewußtsein vom Sein herzuleiten. Materie erzeugt Materie, aber nicht die Idee von Materie. Erscheint so im indirekten Beweisgange der Dogmatismus widerlegt, so wäre nun der Idealismus am Zuge, vom abstrakten Ich aus alle Erfahrung systematisch und vollständig zu begründen. Die spekulative Dialektik Hegels hat solche Konstruktion als untauglich-abstrakt verworfen. Die spätere Wissenschaftslehre hat diesen abstrakten Ansatz durch eine tiefere Fassung der Abstraktion verwunden. In ihr kommt selbstkritisch der kritische Punkt der Transzendentalphilosophie zur Sprache: Die Wirklich-

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keit und Existenz, die Aktualität und das Leben. Solche Selbstbesinnung treibt zur radikaleren, aletheuischen Abstraktion. Um sie angemessen erörtern zu können, muß — wenigstens in überschlägiger Wiederholung — der Aufstieg zum Absoluten noch einmal abgesteckt werden. In ihm orientiert sich die philosophische Abstraktion an einer tieferen AufgabenBestimmung der Philosophie. Die Wissenschaftslehre von 1804 hatte ja Philosophie als die Aufgabe bestimmt, alles Mannigfaltige auf absolute Einheit zurückzuführen. Nun kann die absolute Einheit weder in das Sein noch in das gegenüberstehende Bewußtsein, es muß in das Prinzip ihrer Unabtrennbarkeit gelegt werden, welches zugleich Prinzip ihrer Spaltung ist. Diese Aufgabenstellung verabschiedet die Methode der separierenden Abstraktion. Das absolute Wissen ist nämlich durch folgende Erfahrung wissender geworden: Das abstrakt gesetzte Selbstbewußtsein holt die konkrete Einheit von D und S niemals ein; es stellt sich ja immer wieder — theoretisch und praktisch — einen Gegenstand entgegen. In jeder Uberwindung des Gegenstandes qua Nicht-Ich ersteht dem Selbstbewußtsein ein neuer Gegenstand, so daß es nie zur Gleichheit seiner mit sich selbst kommt. Und in jeder Bindung an eine Bestimmung gebende Grenze weicht diese als selbstgesetzte Schranke zurück. Die absolute Einheit bleibt unerreichbares Ziel eines unendlichen Strebens. Die absolute Selbstbestimmung droht im Nihilismus zu versinken. Daher bedeutet die Forderung nach wirklicher absoluter Einheit die Absage an den Einheitsgrund des Ich. Das gesuchte aktuale Prinzip von Einheit und Mannigfaltigkeit muß höher und über der Disjunktion von Intelligenz und Ding liegen, und das Selbstbewußtsein muß sich als dessen Prinzipat, als Erscheinung, Schema oder Bild erweisen lassen. Nun zieht auch die Bestimmung der absoluten Philosophie sogleich eine methodische Aporie nach sich. Welches Recht und welche Notwendigkeit hat denn solcher metaphysisch-theologische Transcensus zum Absoluten? Die Antwort lautet: Das Selbstbewußtsein weist von sich her ins Absolute als seinen Grund hinaus; es ist wesenhaft das sich Ubersteigende selbst. Solch transzendentale Rechtfertigung müßte vom Wesen des Selbstbewußtseins her einleuchten. Was also war das Wesen des Selbstbewußtseins? Sein Wesen hieß ,Durch'. Die nominalisierte Präposition ,Durch' drückt reine Beziehungshaftigkeit aus. Das Ich ist, indem es sich auf sich selbst bezieht und vom Gegenstande als dem anderen seiner selbst unterscheidet. Um sich auf sich beziehen zu können, geht es durch das hindurch, was es nicht selbst ist, das Nicht-Ich. Nur durch die Entzweiung mit dem Gegenstand

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kommt das Selbstbewußtsein zur Einheit mit sich selbst. Daher besitzt das Durch die Struktur der Einheit bei durchgängiger Entzweiung. Einigung durch Entzweiung ist die Grundform allen Lebens. Nun aber eignet doch dem Selbstbewußtsein nicht bloß die tote Form, sondern auch der reale Vollzug des Lebens. (Die frühe Grundlegung hat diese Lebendigkeit als Schweben der produktiven Einbildungskraft deduziert, als das ortlose, ursprünglich einigende Hin-und-her-Schweben zwischen absolut Entgegengesetzten.) Wie aber kommt das durchgreifende Selbstbewußtsein zu Existenz und Wirklichkeit dieses Lebens? Was dem endlichen Bewußtsein von sich her zukommt, ist die Form des Durch und die Möglichkeit oder .Anlage', die Zweiheit von Entgegengesetzten im Durchgang durch den Unterschied wirklich verbinden zu können. Darin liegt die Endlichkeit des Ich: Als bloß mögliches Leben ist es nichtig. Woher aber stammt dann die Wirklichkeit des der Möglichkeit nach Leben habenden Selbstbewußtseins? Die aristotelische Ontologie von δύναμις und ένέργεια, von erster und zweiter Entelechie hat darauf längst eine Antwort erteilt. Fichte holt sie für die Existenz des lebendigen Durch wieder. Damit das Mögliche in seine Wirklichkeit hervorgeht, bedarf es eines Hervorbringenden; und dieses muß schon das in Wirklichkeit sein, wohin es das Mögliche bringt. Das bedeutet für das mögliche Leben und Existierenkönnen des Durch: Es setzt ein Leben voraus, welches das in reiner Wirklichkeit ist, was das Selbstbewußtsein werden soll, nämlich reines Leben, ununterschiedene Einheit, lauteres Licht. Der Existenz des Durch ist ein in sich selbst begründetes Leben vorausgesetzt. Dieses Leben lebt aus sich selbst und nicht in den durchgängigen Formen des setzendentgegensetzenden Selbstbewußtseins. „Dieses Leben daher ist das wahre Absolute" (WL 1804, 110). Somit ist die erste Aporie der neuen Wissenschaftslehre gelöst. Das Selbstbewußtsein begeht keinen unkritischen Uberstieg ins Absolute. Es kann gerade wegen seiner Endlichkeit über sich hinausgehen. Es verweist ja dadurch, daß es bis an die Grenze seines Seins und Nichtseins durchdringt, aus seinem endlichen Wesen, der bloßen Lebensmöglichkeit des Durch, auf ein Absolutes jenseits seiner selbst. Die sofort rege werdende Reflexion hinterfragt diesen Transzensus. Welches war eigentlich der bestimmende Anfang dieses Überstiegs? Solche Frage fragt nach dem Grunde eines Konkretum, nämlich des Verbundes von Selbstbewußtsein und göttlichem Leben. Und hierbei kommen, wie gezeigt, noch einmal auf höherer Reflexionsstufe die separierende Abstraktion und der Widerstreit zwischen Idealismus und Realismus zum Zuge.

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Offenbar liegen zwei Begründungen nahe. Einerseits kann man hierbei von der Realität des göttlichen Lebens absehen und auf dem Selbstbewußtsein beharren; denn der Aufstieg zum Absoluten begann doch damit, daß sich das Selbstbewußtsein bis an seine Grenze durchdrang. Die Setzung des göttlichen Lebens hat demnach die Selbstvergewisserung des Ich zur Voraussetzung. Andererseits kann man vom Selbstbewußtsein, der Selbstdurchdringung des Durch, abstrahieren und das übrig bleibende göttliche Leben zum Ersten proklamieren; denn die Wirklichkeit des Lebens ist ja Voraussetzung und notwendige Bedingung für die mögliche Selbstdurchdringung des Ich. Trotz der erklärten Vorliebe für den Realismus entscheidet sich die Wissenschaftslehre für keine der beiden Seiten. Ihr leitendes Verfahren ist eben nicht mehr die separierende, sondern die aletheuische Abstraktion. Diese macht offenbar, durch Freilegung von Verdeckungen (gr. άληθεύειν). Sie deckt, indem sie die Einseitigkeiten der Separation ent-deckt und vernichtet, das wahre Sein und Einessein göttlichen Lebens auf. Die entbergende, doppelte Abstraktion ist noch einmal in ihren zwei Grundoperationen zu thematisieren. Einerseits ist die Einseitigkeit des Idealismus zu vernichten, d. h. es muß vom abstrakten Fundament der Selbstgewißheit abgelassen werden; denn der Idealismus vollzieht noch im Aufstieg zum göttlichen Leben den entschlossenen Rückzug auf das seiner selbst gewisse Ich. Es stellt das Absolute als Bedingung für das seiner selbst gewisse Sein und Leben des Ich sicher. Indessen muß, tiefer gesehen, die Gewißheit, auf die sich der Idealismus stützt, ungewiß erscheinen. Gewiß scheint die Unabtrennbarkeit von Sein und Bewußtsein. Das ,cogito ergo sum* versichert das Ineinander von Vorstellen und Existieren. Indem ich vorstelle, bin ich, und indem ich bin, stelle ich vor. Der Grund dieses Ineinander, das Prinzip der untrennbaren Zweiheit von Existenz und Bewußtsein, bleibt undurchsichtig und unbefragt. Das aber gilt es doch gerade zu finden. Weil der Idealismus nicht von der fraglosen Selbstgewißheit abläßt, geht er nicht auf das Fundierungsverhältnis von Wirklichkeit, Leben und Bewußtsein ein. Weil er die abstrakte Gewißheit als konkrete Wahrheit behauptet, ist er als abstraktes Prinzip zu durchstreichen. Andererseits ist die Einseitigkeit des Realismus zu vernichten. Es ist vom Fundamente abstrakten Ansichseins zu abstrahieren. Der Realismus setzt auf ein vom Denken unabhängiges Ansich als Grund allen Bewußtseinslebens. Nun hatte sich aber doch der Begriff des Ansich als relational erwiesen. Darum fällt der Realismus augenscheinlich in die Abstraktheiten des Idealismus zurück. Zwar strebt er seinem Ansprüche nach über Bewußtsein und Selbstgewiß-

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heit hinaus, aber er läßt es an Konsequenz fehlen und enthüllt sich als ein schielender Idealismus. Seine Einseitigkeiten baut die aletheuische Abstraktion ab. Sie folgt auch im Falle der realistischen Position dem Grundgesetze der Selbstvernichtung. Was aber bleibt bei solcher Abstraktion der Abstraktion übrig? Reines, von aller Disjunktion und Relation gereinigtes Sein. „Was ist nun", fragt die Wissenschaftslehre am Ende des aletheuisch-entdeckenden Abstraktionsweges, „in dieser Abstraktion von der Relation dieses reine Sein?" (WL 1804, 151). Offenbar Sein als esse in actu, als reine Wirklichkeit und unterschiedslose Einheit. Sein bedeutet beileibe nicht mehr Gegenständlichsein und Objektivität im Unterschied zu Bewußtsein und Subjektivität. Sein und Bewußtseinsleben stellen sich nicht gegenüber, sie gehen restlos ineinander auf. Es bedeutet den reinen, leidens- und gegenstandslosen Vollzug des Lebens, den reinen Akt und das immerwährende Aufgehen von Subjektivität und Objektivität in der Allrealität göttlichen Geisteslebens. Nur unter dem Vorbehalte und mit Abzug der substantivierenden und alles objektivierenden Sprache kann gesagt werden: „Das Sein . . . kann nicht sein, verbaliter, esse, in actu, ohne unmittelbar im Leben selber; aber es ist nur ein verbales Sein; denn das ganze substantive Sein ist Objektivität, die durchaus nicht gilt" (WL 1804, 151-52). Mehr ist über das unsägliche, rein verbale Sein schlechterdings nicht zu sagen. „Ich rechne hier", bemerkt Fichte zu seinen Hörern, „auf Ihre Penetration; denn mit der Sprache ist es hier ziemlich zu Ende" (WL 1804, 198. Lesart: SW). Der entbergenden Penetration ist ein Licht aufgegangen: das Licht eines unserem Selbstbewußtsein überlegenen Absoluten. Ihr leuchtet ein, daß das Selbstbewußtsein nicht selber das Absolute, sondern des Absoluten Erscheinung, Bild oder Schema ist. Freilich ist mit dieser Einsicht die auferlegte Aufgabe der Philosophie nicht beendet. Sie beginnt eigentlich erst. Sie hat das Selbstbewußtsein als wahre Erscheinung oder Bild des Seins und alles Mannigfaltigen in seinen Hauptdisjunktionen als Bild des Bildes zu begründen. Was im Rückblick auf den Aufstieg zu tun bleibt, ist, dessen Methode abschließend zu kennzeichnen und zu rehabilitieren. Die aletheuische Abstraktion ist άφαίρεσις im griechischen Sinne. Άφαίρεσις bedeutet wegnehmen im Sinne von wegräumen, entfernen, freilegen ; άφαιρεϊσθαί τινα είς έλευθερίαν besagt: etwas in die Freiheit, ins Freie und Offene, herausreißen. Seit ihrem griechischen Anfange hat abstractio den Zug des Ent-deckens, der Befreiung von Verdeckungen. Philosophisch scheidet sie sich dadurch in ihrer Hauptrichtung von der διαίρεσις. Dihairesis, das

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einteilend-gliedernde Auseinanderlegen, schließt sich in Logos und Kinesis, in Urteil und Werden, mit der Synthesis zusammen. Der ausgefaltete, dihairetisch-synthetische Prozeß verfährt dialektisch. Er reißt jegliches in Entgegensetzungen auseinander, um die Macht und den Reichtum der Verbindung und Versöhnung zu demonstrieren. Die Aphairesis dagegen entbirgt durch Aufdeckungen von Verdeckungen. Sie ist aletheuisch. Sie dringt zur Wahrheit als άλήθεια durch, indem sie diese ihrer verstellenden Einseitigkeiten entkleidet. Sie züchtet nicht Widersprüche und Antithesen, sondern löst diese selbstkritisch auf. Fichtes aletheuische Abstraktion führt durch Abstraktion der Abstraktion zum absolut Konkreten. Sie übertrifft die dialektische Negation der Negation an kritischer Besonnenheit; denn sie führt entdeckend ins göttliche Leben, ohne das Denken zur auseinanderlegenden Dialektik des lebendigen Logos zu verführen. Das Konkrete ist eben nur durch Kasteiung von Vernunft und Sprache zu erreichen und nur so innezuhalten, daß wir die absolute Abstraktion von den Unterscheidungen des Bewußtseins und von den Objektivationen der Sprache immer wieder vollziehen.

12. Kapitel: Vom Zwiespalt einer Dialektik menschlicher Endlichkeit (Über Leben und Tod im idealistischen Verstände) Das Ende der dialektischen Erhebungen verkehrt deren Anfang. Wie steht es nämlich angesichts der Resultate der Selbstnegation mit der Selbstmächtigkeit menschlichen Selbstbewußtseins und der daraus lebenden Einigung des dialektischen Systems? Endet die Wissenschaftslehre nicht mit einer totalen Umkehr ihres großmächtigen Ansatzes? Der Anfang der Wissenschaftslehre lag doch in der Bestimmung des Menschen durch absolute Selbstbestimmung. Er schien bruchlos in einer Dialektik der Selbstverwirklichung entfaltet, die sich über alle Stufen der Widersprüche, wie sie sich im Selbstverhältnis des antithetisch-synthetischen Ich fanden, zum Primat der praktischen Vernunft zu erheben suchte. Zweifellos führte der erste dialektische Gang der Wissenschaftslehre zum Willen als der innigsten, alle Gegensätze zusammengreifenden Wurzel des Ich. Das Ende der Wissenschaftslehre scheint diesen Anfang in sein Unwesen zu entstellen. Die Dialektik der Selbstverwirklichung weicht dem Gesetz der Selbstvernichtung. Nunmehr entwickelt ein Prozeß der Selbstentäußerung die Widersprüche des Selbst in seinem Verhältnis zum Absoluten und

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ordnet den Primat der praktischen Vernunft der Synthesis einer religiösen Einbildungskraft unter. Verdämmert aber dadurch nicht das Licht freiheitsbewußter Aufklärung im Dunkel einer neuen Mystik? Die transzendentale Reflexion des Wissens auf die ursprüngliche Einheit des Ich-denke wandelt sich doch zur Einkehr in einen unvordenklichen Ursprung. Offenkundig verfällt die Selbstsetzung des Ich dem Gebote seiner Selbstvernichtung. Und die Wahrheit der Selbstgewißheit bleibt hinter der Evidenz einer koinzidentellen Wahrheit (dem Zusammenfall von Sichtbarkeit und Verborgenheit im reinen Lichte) zurück. Beginnt also tatsächlich die Wissenschaftslehre mit dem revolutionären Gedanken der Tat, um damit zu enden, daß sich das tätige Ich in den Abgrund der Gottheit versenkt? Vernichtet sich die anfänglich als das einzig Wirkliche proklamierte menschliche Freiheit, wenn sie sich als Selbstoffenbarung der Freiheit Gottes verstehen gelernt hat? Zerbricht mithin die Selbstherrlichkeit des absoluten Ich in dem Maße, in dem es dem unwiderstehlichen Zuge der Selbstnegation folgt? Es hat ganz den Anschein, als wäre der Gesamtentwurf der Wissenschaftslehre das zwiespältige Denken eines zwiespältigen Denkers. Die Wissenschaftslehre bildet grundsätzlich die Gespaltenheit des Selbstbewußtseins und eine Disjunktion seines dialektischen Lebens vor. Sie folgt einerseits der Tendenz des neuzeitlichen Menschentums, sich rücksichtslos auf die eigene Selbstmächtigkeit zu stellen, und sie entwickelt andererseits die Gegenwendung, das entfesselte Ich und die entgrenzte Freiheit in Wirklichkeit und Leben des Absoluten einzubringen. Indessen beschreiben solche Kennzeichnungen das Schisma neuzeitlicher Wissenschaftslehre nur äußerlich. Es genügt nicht, diese Spaltung zu konstatieren, schon gar nicht, sie auf die Zwiespältigkeit im Wesen eines Denkers zurückzuführen, der wie Fichte zwischen dem Drange nach Tätigkeit und Weltveränderung und der Sehnsucht nach Stille und Versenkung hin und her gerissen wird 53 . Das mag psychologisch (auch ,individual-ideologisch') zutreffen, ontologisch ist es unerheblich. Der Ursprung dieser Sonderung liegt nicht im Charakter eines Denkers, sondern in Sache und Methode des Gedachten: in der limi tati ven Dialektik des Selbstbewußtseins. Dabei muß von Anfang an im Auge behalten werden: Der Ausgang von der Selbstsetzung des Ich impliziert nicht die Behauptung der gott-

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Vgl. den sonst so thesenstarken Vortrag von W. Weischedel, Der Zwiespalt im Denken Fichtes. Berlin 1962.

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gleichen Selbstmächtigkeit des Ich. Der Anfang der frühen Wissenschaftslehre bereits ist der konsequente Versuch, die Endlichkeit des Menschen ontologisch adäquat zu fassen und auszulegen. Die Philosophie der absoluten Selbstsetzung besinnt sich gründlich auf die Schranke des Menschseins. Leben und Methode des Menschseins erwachsen daher in der Gestalt einer limitativen Dialektik. In der begrifflichen Anstrengung und kritischen Disziplin einer Grenzbesinnung auf die menschliche Endlichkeit ruht die Einheit der Wissenschaftslehre. Die sogenannte veränderte Lehre* vertieft dieselbe Reflexion, indem sie in eindringlicher Monotonie bis zu Grenze und Ursprung absoluten Wissens durchzudringen sucht. Aus diesem Einheitspunkt sondern sich zwei Hauptformen limitativer Dialektik voneinander ab. Ihr Sonderungsprinzip ist eben das Verhältnis von Ich und Schranke. Die frühe Dialektik der Selbstsetzung begreift die Schranke als das unersetzliche Mittel, um die Freiheit des Selbst zu verwirklichen. Der ,Anstoß' markiert dabei den Grenzpunkt des dinglich Seienden, den die menschliche Tatkraft ins Unendliche hinausschieben soll. Die Natur tritt dem Menschen so als Herausforderung entgegen, ihr geheimstes Inneres offenzulegen und ihren Widerstand — ihren Entzug und ihr Ubermaß — zu überwältigen. Das Anderssein des Nicht-Ich flößt dem menschlichen Geist nicht Zurückhaltung oder gar scheue Ehrfurcht ein, es berechtigt und verpflichtet ihn, die Natur zu durchdringen, in Besitz zu nehmen und zu beherrschen. Anders steht es mit der Schranke des Nicht-Ich-Ich. Die Limitation als Wechselwirkung der Anerkennung wird zum Element des gesellschaftlichen Seins, und zwar so, daß sich in diesem Medium die Dialektik des Selbstbezugs konkretisiert und beschließt, indem sie das Zueinander eines herrschaftslosen Mitseins vorzeichnet. Insgesamt aber versteht der erste große Entwurf der einschränkenden Dialektik von Mensch und Welt das Sein der Schranke von einem einsinnigen Seinsverständnis her. Das Nicht-Ich, die Welt als Umwelt und Mitwelt, hat den Grundsinn des Gegenständlichseins. Das beschränkende Sein der Welt bedeutet den provozierenden Gegen- und Widerstand für die Freiheit und Selbstbestimmung des Ich. Und dieses selbstverständliche Vorverständnis von Endlichkeit, Schranke und Welt leitet die erste Systembildung der limitativen Dialektik. Deren Weg mußte daher auf ein synthetisierendes Vermögen der Ichheit dringen, das den Gegensatz zur Welt endgültig entsubstanzialisiert und von sich her überwindet. Er hat zur Selbstvermittlung durch den Willen der praktischen Vernunft und bis zu den Verbindungen der verborgensten menschlichen Tätigkeit, der pro-

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duktiven Einbildungskraft und ihren Zeitigungen zukünftiger Zeit, geführt. In ganz anderem Lichte erscheinen Selbstbewußtsein, Endlichkeit und dialektische Vermittlung, wenn die Schranke im Vorblick auf die Nihilismus-Gefahr grenzenloser Freiheit beachtet wird. Die vielberedete Kehre im Denken Fichtes ist die rückhaltlose Einkehr in den Abgrund menschlicher Beschränktheit. Der einseitige, sich zum absoluten Prinzip steigernde Eigenwille der Subjektivität droht, dem Nichts zu verfallen. Das maßlose Streben, alle Begrenztheit und Schranke der Macht menschlicher Vermittlung zu unterstellen, endet vor dem Nichts. Der prometheische Weltbildner steht in Gefahr, zum .spielenden und leeren Bildner vom Nichts und zu nichts' zu werden. Auf einmal erscheint das vom Ich gesetzte Sein der Welt als leeres Bildsein, bar aller Realität, Wirklichkeit und allen Lebens. Diese bestürzende Einsicht drängt die Methode der synthetisierenden Limitation in die Krise. Das endlich-menschliche Ich ist seiner Grenze und Schranke, denen es die Rettung vor leerer Bildlichkeit und toter Objektivität schuldet, gar nicht mächtig. Im Aufsteigen zum einen, immer schon vorausgesetzten lebendigen Sein und zur wahren Urrealität geht das limitierende zum Verfahren aletheuischer Abstraktion über. Und der zum Absoluten aufsteigende Weg läßt zwangsläufig alle Vermittlungen der ursprünglich einigenden Apperzeption unter sich; denn nur durch Abzug und Vernichtung aller verdeckenden Disjunktionen, die aus dem Bewußtsein stammen, kann das einfache und gegensatzlose Sein, göttliches Licht und Leben, einleuchten. So findet sich die dialektische Explikation von Selbstbewußtsein und Schranke vor einem Zwiespalt wieder, der die Synthesis des Menschen mit Welt und Gott zerreißt. Setzt der Mensch die Ichheit als das unbedingt Selbständige durch, dann vermöchte er zwar, von sich her den Gegensatz zur Körperwelt und die Zwietracht der Mitwelt zu steuern, aber ihm würden Gott und sein Gottesbezug verschwinden, und sei es in der moralischen Weltordnung des sich selbst bestimmenden Ich. Reflektiert dagegen das absolute Wissen angesichts der vorauszusetzenden Urrealität göttlichen Lebens auf seine eigene Ohnmacht, dann besteht seine Macht nurmehr darin, seine Freiheit aus Freiheit aufzugeben. Dann setzt es einsichtsvoll auf den eingeborenen Gottesbezug und verliert das Interesse an seiner Macht über Umwelt und Mitwelt. Entweder orientiert sich das Leben des Selbstbewußtseins an den Widersprüchen seines Selbstverhältnisses und macht sich an die Arbeit, diese durch sein eigenes Tun und

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Wollen aufzuheben — oder aber es setzt auf das Gottes-Verhältnis und sucht sein ewiges Wesen in einer Dialektik der Gottesliebe, auf dem Wege der Vernichtung und Resurrektion des Selbst in und vor Gott, zu wahren. Fichtes Wissenschaftslehre durchläuft diesen Zweiweg modernen Bewußtseins, und zwar so, daß sie ihn selber bahnt. Das Ende dieses Denkweges ist ein Versagen des Selbstbewußtseins, das sich seinem eigenen Anfange versagen muß, um nicht den Bezug zum Absoluten zu verkürzen. Weil so die Auslegung von Schranke und Endlichkeit zwischen dem Dawider des Objekts und der unvorgreiflichen Grenze des Absoluten schwankt, pendeln auch die geschichtlichen Entscheidungen bis heute im Zwischenraum, den die erste große Dialektik der Neuzeit, die Wissenschaftslehre, eröffnet hat. Es gehört zu ihren Zwiespältigkeiten, daß die theologische Dialektik des menschlichen Gottesbezugs — spätestens seit der populären psychologischen Religions- und Entfremdungskritik Feuerbachs — und die ästhetische Geschmacksdialektik — nicht zuletzt durch den aggressiven Zweifel an der Autonomie des Schönen und der Kunst — für zusammengebrochen und erledigt gelten, während die Dialektik der Gesellschaft (und der Geschichte) zum vorherrschenden Thema des gegenwärtigen Zeitalters avanciert ist. Nicht einmal das simple Faktum wird mehr gesehen, geschweige denn überdacht, daß die abgehauenen Stämme der Dialektik ebenso wie die weitergezüchteten aus ein und demselben Wurzelgrunde stammen. Zu überdenken ist der verborgene Ursprung für die zwiespältige Dialektik des sich auf seine Endlichkeit besinnenden Selbstbewußtseins. Er liegt eben in der unaufhebbaren Schranke selbst und in der darin gründenden Inkommensurabilität selbstbewußten und absoluten Lebens. Darum lösen sich die Antithesen des Bewußtseins nicht einsinnig in eine absolute Einheit auf. Der Súchel endlich-menschlicher Wirklichkeit und sich zeitigender Zukünftigkeit treibt die dialektischen Aufhebungen unausbleiblich in das Entweder-Oder gottloser Selbstverwirklichung oder weltloser Selbstvernichtung. Gegen eine dialektische Versöhnung des Zukunft zeitigenden, Welt durchgreifenden Willens mit dem immerwährenden göttlichen Leben aber sperrt sich der Riegel endlich-menschlichen Existierens. Wissenschaftslehre betrachtet das wahre Sein und Leben vom Blickpunkt menschlicher Endlichkeit aus. In ihrer Perspektive aber kommt sie weder von der Methode der Dialektik los noch in das absolute dialektische Leben hinein. Sie entfaltet ihr System in dialektischer Gestalt, weil ihre Sache und ihr belebendes Element das Selbstbewußtsein und dessen

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Limitative Dialektik

Antithetik ist. Sie endet in einem unversöhnten Zwiespalt, weil das Selbstbewußtsein von Grund auf endlich verstanden und als Sein des Menschen konzipiert ist. Uberhaupt bleibt neuzeitliches Denken der in sich zwiespältigen Dialektik verhaftet, solange nicht das Selbst des Menschen vom menschlichen Dasein selbst her aletheuisch aufgedeckt wird. Daß dies unterbleibt, liegt nicht an der mangelnden Intensität oder gar an fehlender Konsequenz der großen Systemdenker dialektischen Lebens. Die außerkategoriale Frage nach dem ausgezeichneten Sein menschlichen Daseins ist vom Boden der Seinsverfassung des Selbstbewußtseins aus nicht zu erreichen. Das verhindert vor allem das darin herrschende Vorverständnis von Sein und Nichtsein, von Leben und Tod. Wie selbstverständlich tritt hier als die Schranke für das Ich-Leben und die Selbstverwirklichung menschlicher Möglichkeiten das Nicht-Ich auf. Der Sinn solchen Nichtseins ist die zu belebende, starre Objektivität. Und das ist auch die Bedeutung des Todes. Totsein und erstarrte Dinglichkeit (Auslöschung des selbstbezüglichen Lebens) sind dasselbe. Daher kann die existenziale Schranke des Todes im Horizonte menschlichen Selbstbewußtseins kein fundamentales Thema werden. Dann nämlich schlüge der Tod als Ende der Zukünftigkeit, als die Unmöglichkeit aller Möglichkeiten auf den planenden Willen zurück. Für Willen und Selbstbewußtsein aber bleiben Tod und Nichtsein (Nicht-Ichlichkeit) allemal die zu überwindende Schranke im Prozeß der aufgegebenen Selbstverwirklichung. Der Tod gewinnt hier nicht einmal Bedeutung für das Ich, das ich je selber bin. So erklärt Fichtes epochale .Bestimmung des Menschen': „Ich werde überhaupt nicht für mich sterben, sondern nur für andere" (II, 315). So bleiben Ich und das von der Schranke des Todes unberührte Leben des Bewußtseins identisch. Aber sie geraten doch in eine grundsätzliche Zweideutigkeit. Zuerst nämlich lebt das Ich-Leben als Wirksamkeit menschlichen Willens im strebenden Uberwinden der Entzweiungen, wie sie ihm an der Schranke des Nicht-Ich und an der Fremdheit des anderen Ich entstehen. Leben vollzieht sich hier als Tat der Verwirklichung des Selbst im Aufheben des Dawider- und Andersseins in Natur und Gesellschaft und nährt sich aus der Dialektik von Schranke und Sollen. Später aber geht dem Bewußtsein die andere Bedeutung des Geisteslebens auf: Leben als das gegensatzlose Ineinanderaufgehen von Subjektivem und Objektivem, als Sein des Absoluten und Begriff Gottes. Und jetzt bedeutet das Uberwinden der Schranke für das Ich etwas Entgegengesetztes, nämlich die Tat der Selbstvemichtung der Reflexion im Schweben einer absoluten Abstraktion. Aber auch hier wird die Frage nach dem Tode des Ich nicht dring-

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lieh; das Vernichten des Ich ist nichts als das Aufgeben der schlechten Reflexion und beschränkten Subjektivität, welche die Versöhnung des endlichen Bewußtseins mit dem Absoluten, also mit dem unbeschränkten Leben, herbeiführt. Darum schneidet die späte Wissenschaftslehre die menschlichste aller Fragen, die nach dem Weiterleben der Seele, ab: „Über die Unsterblichkeit der Seele kann die Wissenschaftslehre Nichts statuieren; denn es ist nach ihr keine Seele, und kein Sterben, oder Sterblichkeit, mithin auch keine Unsterblichkeit, sondern es ist nur Leben" (WL 1804, 9. Vortr., S. 90). Sie läßt eine fundamentale Besinnung auf den Tod nicht zu, weil der Tod angesichts des absolut erfüllten Lebens mit leerem Nichtsein zusammenfällt. „Sowie Seyn und Leben Eins ist und dasselbe, ebenso ist Tod und Nichtseyn Eins und dasselbe" (AsL; V, 404). Aus solch gegeneinander laufendem Verstehen von Sein und Leben entfaltet sich die Dialektik des Selbstbewußtseins gegenläufig. Und solange die Grundbegriffe von Sein und Nichtsein, in denen sich die Bewegung der Dialektik explizit aufhellt, nämlich Selbstbewußtsein und Schranke, Möglichsein und Wirklichsein, Existenz und Tod kategorial, d. h. im Vorblick auf das gegenständlich Seiende im Ganzen, ausgelegt und nicht auf die fundamentalen Bezüge menschlichen Daseins zurückgeführt werden, muß der Auslegungsstreit um Sein und Leben währen. Entweder werden die obersten Seinsbestimmungen der Tat und dem Leben ichhaften Willens oder der Urrealität göttlichen Lebens entnommen. In jedem Falle verfährt deren dialektische Entfaltung sorglos gegenüber der menschlichen Existenz und ihrem Sein zum Tode und allzu pauschal gegenüber den ,Kategorien' menschlichen Daseins. Solche Sorglosigkeit hält sich in allen Ausformungen der Soziodialektik durch. Das gilt auch für die klassische Ausgestaltung von Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie, obwohl diese doch mit dem Kampfe auf Leben und Tod anhebt und mit der Furcht des absoluten Herrn, des Todes, endet. Das ist so in allen Gestaltungen der theologischen Dialektik und gilt selbst für Kierkegaards Dialektik der Existenz, für die Angst und Tod keineswegs mit der Krankheit zum Tode und dem verzweifelten Selbst zusammengehen. Und sogar die Dialektik des ästhetischen Humanismus,'welche die Beschränkung und Entschränkung des menschlichen Zustandes im Rückzug auf das Sein und Scheinen der Schönheit zu vermitteln sucht, wird vor der verdrängten Schranke des Todes enden.

3. Abschnitt: Antagonistische Dialektik Der Schein der Versöhnung im ästhetischen Humanismus 1. Kapitel: Französische Revolution und ästhetischer Humanismus. Zum politischen Ansatz einer ästhetischen Versöhnung Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters. Dieser Geistesblitz Friedrich Schlegels ist bekannt, unbekannt ist seine Diagnose, es sei „nichts mehr das Bedürfnis der Zeit als ein geistiges Gegengewicht gegen die Revolution" zu schaffen (Kritische Schriften. München o. J., 90). Offenbar sieht die Französische Revolution wie ein elementares Naturereignis aus. Sie ist — in Hegels Worten - das Wanken der Dinge. Sie reißt die Zeit aus der ruhigen Genügsamkeit an dem Wirklichen und der Ergebung ins Bestehende heraus. Sie zerbricht und vernichtet alle gegliederte geschichtliche Ordnung, alles Vorgegebene und Uberlieferte als etwas an ihm selbst Nichtiges und Brüchiges. Solcher Umschwung aller Dinge scheint unwiderstehlich und das schreckensvolle Schicksal der Moderne zu sein; denn die Urgewalt der politischen Revolution kann die ausgelösten Bewegungen von sich selbst her so wenig ins Gleichgewicht bringen, daß sie vielmehr alles in den Zustand der Anarchie auflöst, sich selbst im Terror zerstört, von da zwangsläufig in Restaurationen umschlägt, um sich schließlich in die schlechte Unendlichkeit eines Wechsels von Revolution und Restauration fortzuwälzen. Revolution an sich selber als das bloß Negative, die Befreiung von einem horriblen Zustande der Gesellschaft und des Staates durch die Kraft gerechter Empörung, ist nichts als die Furie des Verschwindens. Daher wächst das Bedürfnis der Zeit, die Bewegung der Französischen Revolution durch ein geistiges Gegengewicht in ihr menschliches Ziel und ins rechte Maß zu bringen. So weisen Fichtes Revolutionsschriften die politische Revolution als unveräußerliches Menschenrecht nach und fordern die Kultur (Zähmung und Bildung) der Sinnlichkeit als notwendige Bedingung für die Befreiung unseres Ich und eine ,Cultur zur Freiheit' als hinreichende Bedingung für eine haltbare politische Herrschafts- und

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Staatslosigkeit. Und die Wissenschaftslehre bereitet den geistigen Boden für die Idee eines freien Gemeinwesens, dessen Subjekt nicht der Genosse und Bürger, sondern der Mensch als solcher unter dem Gebot wechselseitiger Anerkennung ist. Der Fichte der ,staatsverneinenden Periode* spielt keineswegs den philosophischen Jakobiner. Seine Revolutionsschriften untersuchen vielmehr polemisch die Quellen des Terrors und protestieren gegen die versteckte Form der Despotie, Menschen zu ihrem Heil zwingen zu wollen: Niemals lasse sich Menschlichkeit dadurch erreichen, daß man das Menschlichste, die Selbsttätigkeit, vergewaltige. Auf andere Weise hat das Dichten und Denken Goethes — in der .Natürlichen Tochter' wie im Schluß des ,Wilhelm Meister' — die Summe aus der Französischen Revolution und ihren Folgen ,mit geziemendem Ernste' gezogen (vgl. Gesamtausgabe VIII, 1025). Hier wird die Kategorie der Entsagung als ein geistiges Gegengewicht zur Sprache gebracht; sie soll die alten politischen und gesellschaftlichen Lebensformen vergehen lassen, ohne die in der Italienischen Reise zur reinen Anschauung gebrachten, aber durch die Französische Revolution bedrohten Einheit der ,drei großen Weltgegenden' — Kunst, Natur, Sitten der Völker — heillos zu zerstören 54 . Im Kreise Goethes und unter dem Einfluß der Fichteschen Wissenschaftslehre entstand die vielleicht hellsichtigste Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, Schillers Briefe ,Uber die ästhetische Erziehung des Menschen'. Zumal deren Exposition, das 1. Stück der Horenfassung (die im Oktober 1794 vollendeten Briefe 1 — 9), führt die paradoxe These vom Primat des Ästhetischen vor dem Politischen durch: Das politische Problem der Revolution sei nur durch Vermittlung der ästhetischen Erziehung zu lösen; es sei „die Schönheit, durch welche man zu der Freyheit wandert" (ΝΑ XX, 312). Erstaunlicherweise ist in all dem Streit um Schillers Stellungnahme zur Französischen Revolution — selbst auf dem Niveau der geistesgeschichtlichen Polemik Benno von Wieses gegen die politisch-ökonomischen Generalthesen von Georg Lukács ss — 54

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Theo Stammen, Johann Wolfgang Goethe. In: Die Revolution des Geistes. Hrsg. von J. Gebhardt. München 1968 S. 17 — 42, sucht zu zeigen, inwiefern die Morphologie der methodische Schlüssel zum Verständnis der Französischen Revolution wird und dasselbe leisten kann, was die Zeitgenossen durch ihre zeitkritischen und geschichtsphilosophischen Analysen versuchen: eine hinreichend vernünftige Erklärung des gegenwärtigen Zustandes. G. Lukács, Zur Ästhetik Schillers. In: Beiträge zur Geschichte der Ästhetik. Berlin 1954. S. 11 — 96 konstatiert einen Bruch in Schillers Verhältnis zur Revolution. Die Verknüpfung von Ethik und Ästhetik in der Jugendperiode sei noch ein revolutionäres Kampfmittel

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der philosophische Gehalt der Schillerschen Zusammenfügung von Ästhetik und Revolutionstheorie fast durchweg unbeachtet geblieben. Gerade er aber bedarf im Hinblick auf die größte politische Tendenz unseres Zeitalters einer thematischen Untersuchung. Für Schiller besteht kein Zweifel darüber, daß die Französische Revolution „ d a s große Schicksal der Menschheit verhandelt" (ΝΑ X X , 311). Schon der 1. Brief an den Augustenburger (13. Juli 1793) versteht sie als Versuch eines mündig gewordenen Volkes, sich in seine Menschenrechte einzusetzen, und der 5. Brief ,Über die ästhetische Erziehung' wägt die revolutionäre Chance ab, „das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, und wahre Freyheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen" (ΝΑ X X , 319). D a s ist nach Schiller die weltgeschichtliche Tendenz der Französischen Revolution: gegen den Willen der Herrschenden gewaltsam eine solche Verfassung aufzurichten, deren Substanz das Menschenrecht und deren Maßstab die menschliche Vernunft und nicht mehr das Recht des Stärkeren ist. Danach wäre es an der Zeit, die Idee der Menschenrechte zu gegenwärtiger politischer Wirklichkeit, die Freiheit zum Endzweck der Gesellschaft zu machen; denn „ d a s Zeitalter ist aufgeklärt" (ΝΑ X X , 331). Das Bewußtsein darüber aufzuklären, daß alle Menschen ihrer selbstbewußten Natur nach gleich, nämlich in gleichem Maße frei und nicht mehr durch Geburt in Freie und Sklaven geschieden sind, darin besteht nach Hegel die lange und schwere Arbeit der Weltgeschichte. Ihr Resultat spricht sich immer wieder in einem undurchstreichbaren Glaubensartikel der Aufklärung aus, gegen den Feudalabsolutismus, die spätere Konstruktion einer Geschichtsphilosophie versuche nurmehr, die ökonomisch-kulturellen Resultate der bürgerlichen Revolution in sich aufzunehmen und die Revolution selbst als etwas Schädliches zu umgehen. Die Hinwendung zum utopischen Programm der ästhetischen Erziehung bedeute ein praktisches Sichabfinden mit dem politischen und gesellschafdichen Zustande; sie stelle dabei das Problem der Zerstückelung des Menschen durch die Arbeitsteilung idealistisch auf den Kopf. — B. von Wiese, Schiller und die Französische Revolution. In: Der Mensch in der Dichtung. Düsseldorf 1958. S. 148 — 169 wendet sich vehement gegen die Verfälschung des jungen Schiller in einen ideologischen Vorläufer der Revolution und gegen das Schema, der Dichter der Räuber habe die Französische Revolution bis zum Don Carlos als epochales Ereignis im Fortschritt der Menschheit gefeiert und sei später in idealistischer Flucht vor den praktischen Konsequenzen zurückgewichen. Vielmehr gehöre Schiller von Anfang an auf die Seite des älteren humanen Liberalismus, der von Volkssouveränität, Staatssozialismus und einem wie auch immer begründeten Staatsabsolutismus nichts wissen will und der sich einer Entwicklung widersetzt, die zur absoluten Uberordnung der Gesellschaft über den Einzelnen führt. Das Ereignis der Französischen Revolution lasse solchen Unterschied zwischen der französischen und einer schwäbischen Aufklärung in Erscheinung treten.

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vom anklagenden Anfangssatz des Rousseauschen ,Contrat Social': „L'homme est né libre, et partout il est dans les fers — der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten" bis zu Schillers Antistrophe in ,Worte des Glaubens' (1798): „Der Mensch ist frei geboren, ist frei / und wiird' er in Ketten geboren" oder zu Fichtes politischem Axiom in den ,Beiträgen zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution' (1793): „Ursprünglich sind wir selbst unser Eigentum. Niemand ist unser Herr, und niemand kann es werden" (S.W. VI, 117). Die Französische Revolution scheint der epochale Umschlagspunkt, an welchem das über seine Menschenrechte aufgeklärte Bewußtsein anhebt, den weltlichen Zustand mit menschenwürdiger Freiheit zu durchdringen. Schiller hat diesen Prozeß auf die gedankliche Formel einer gewaltsamen Umwandlung des Notstaates in den Vernunftstaat nach moralischen Prinzipien und gegen die falsche Autorität und Macht des Bestehenden gebracht. Deren Explikation kann die moralische Notwendigkeit, das tragische Schicksal und die Schuld der neuzeitlichen politischen Revolution deutlicher machen. Das revolutionär zu Verändernde ist der Notstaat. Not- oder Naturstaat nennt Schiller „jeden politischen Körper, der seine Einrichtungen ursprünglich von Kräften, nicht von Gesetzen ableitet" (ΝΑ XX, 314). Das Element dieses status civilis sind die Kräfte der sich auslassenden Willkür und des selbstsüchtigen Lebens. Seine Not erwächst aus der schrankenlosen Dynamik der sich kreuzenden possessiven Ich-Bezüge. Seinen notdürftigen Bestand verdankt er der freien, allgemeinen Unterwerfung unter ein Zwangsrecht, das dazu dient, die rücksichtslosen Kräfte privater Selbstbezüglichkeit vor der ihnen immanenten Selbstzerstörung, dem Krieg und der Konkurrenz aller gegen alle, zu schützen. Der Freiraum dieses ,dynamischen Staates' ist nicht mehr als ein .System des Egoismus' (ΝΑ XX, 320). Schillers Definition des Notstaates zielt weniger auf den Feudalabsolutismus des Ancien régime oder auf die Tyrannis der ,Fürstenherrschaft', sie sucht eher die Staatlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu kennzeichnen. Sie schätzt eben jenen bürgerlichen Zustand ab, den Kant vorzüglich in der im September 1793 veröffentlichten Abhandlung ,Ober den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis' rechtsstaatlich legitimiert und den Hegels Rechtsphilosophie unter dem Titel bürgerliche Gesellschaft' entlarvt hat.

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Kants Konstruktion des gemeinen Wesens zeichnet einen Notstaat vor. Wie klar darin auch die Errichtung des Staatswesens aus der menschlichen Vernunft und das Zusammenleben unter öffentlichen Zwangsgesetzen als vernunftgewollt hergeleitet sein mag, die bürgerliche Verfassung lebt im Schatten privatisierter Menschenrechte: In ihr erfüllt sich die Idee der Gleichheit von jedermann darin, als Untertan in gleicher Weise dem Zwangsgesetz unterworfen zu sein; eines jeden Freiheit bewährt sich darin, ungezwungen seine Glückseligkeit nach eigenem Gutdünken zu suchen; und das Recht findet sein Ziel darin, dem privaten Mein und Dein Dauer zu verleihen. Kants Herleitung des Rechtsstaates löst die Menschenrechte in bürgerliche Rechte auf und läßt die Rechtsantinomie von Freiheit und Zwang ungelöst 56 . Hegel wird solch .äußeren Staat' als den Verlust der Sittlichkeit und die Negation der Familie dialektisch fassen. Ihm bedeutet er eben das System der sich nach allen Seiten auslassenden Bedürfnisbefriedigung und Bedürfnisweckung. In der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Sucht nach Erwerb, ihren Tendenzen der Akkumulation und der Pauperisierung ist jeder nur sich selbst Zweck und alles andere ausschließlich Mittel. Hegel nennt die bürgerliche Gesellschaft den ,Notund Verstandesstaat' (vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, 3. Teil, 2. Abschn. § 183). Eben diese Tendenz wird Marx im Rückblick auf die Französische Revolution konstatieren: Die droits de l'homme pervertieren zu Rechten des Bürgers als eines vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen, und die staatliche Sicherheit garantiert ausschließlich dessen Egoismus und ausschließendes Eigentum. „Hegel nennt in diesem Sinne die bürgerliche Gesellschaft ,den Not- und Verstandesstaat' " (Zur Judenfrage; M E W I, 366). Schillers berühmte, durchweg einseitig interpretierte Zeitkritik im 5. und 6. Brief ,Uber die ästhetische Erziehung' trifft den Notstaat also in der zivilisierten Gestalt der bürgerlichen Klassengesellschaft57. Sie stellt si

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Uber die Spannweite einer apologetischen und polemischen Auslegung von Kants Herleitung des Rechtsstaates vgl. J. Ebbinghaus, Das Kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. 1964 Heft 1. S. 23 — 55. — H. Marcuse, Kant über Autorität und Freiheit. In: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Frankf. a. M. 1969. S. 8 1 - 9 7 . Beispielhaft für die Verknüpfung von Schillers Zeitkritik und Emanzipationsprogramm mit Thesen des frühen Marx ist H. Popitz, Der entfremdete Mensch. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1967. Exemplarisch für die ambivalente Bewertung der Schillerschen Analyse von Entfremdung — Arbeit — Geschichte vom Standpunkte der politischen Ökonomie und Geschichtsphilosophie des historischen Materialismus aus ist G. Lukács, WW Χ, 17-47.

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einen Grundschaden fest: die vielfache Trennung der Verwaltung vom Verwalteten, der Regierung vom Regierten, des Gesetzes von den Sitten, des Staates von der Kirche, des Menschen von seiner Arbeit. Zumal die gesellschaftliche Arbeitsteilung (der Manufakturperiode) zerstückelt den Menschen zum Bruchstück, zerteilt ,die Harmonie seines Wesens' zum .fragmentarischen Anteil* am Ganzen. Der wahre Grund solcher Zerrissenheit besteht für Schiller nun freilich nicht im antagonistischen Zustande der niederen und höheren Klassen und im Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Humanismus und der ökonomischen Basis des Bürgertums, sondern ,im Verlust der alles vereinenden Natur' (der Griechenferne) durch die Hegemonie des ,alles trennenden Verstandes' (ΝΑ X X , 322). Nur ein ,Verstandesstaat' vermag die Kräfte zu regulieren, welche den Naturzustand bewegen. Diese aber quellen aus dem natürlichen oder physischen Charakter des Menschen und Bürgers. Im November 1788 schreibt Schiller unter Bezug auf die Vorgänge in Paris, über die er ja durch den Tübinger Stiftler Karl Friedrich Reinhard und durch Wilhelm von Wolzogen gut unterrichtet war, an Caroline von Beilwitz: „Der Staat ist ein Geschöpf des Zufalles, aber der Mensch ist ein nothwendiges Wesen. . . . Der Staat ist nur eine Wirkung der Menschenkraft, nur ein Gedankenwerk, aber der Mensch ist die Quelle der Kraft selbst, und der Schöpfer des Gedankens". Und im Brief vom 13. Juli 1793 an den Herzog von Augustenburg heißt es: „Nur der Charakter des Bürgers erschafft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich". Solches Credo enthält nichts weniger als die Übernahme und Verwandlung der Platonischen Homologie von Seele und Staat: Die Verfassung eines Staates repräsentiert die Verfassung der Seele des Menschen; sie ist ,die deutlichere Formel seiner inneren Gesetzgebung'. So betrachtet, hat der Naturstaat seine unfeste Basis im natürlichen Charakter, „der selbstsüchtig und gewaltthätig, vielmehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft zielt" (ΝΑ X X , 315). Subjekt und Substanz des Notstaates ist der physische Mensch, „der sich nur darum Gesetze giebt, um sich mit Kräften abzufinden" (ΝΑ X X , 314). Seinem physischen Charakter nach akzeptiert der Mensch den verständigen Unterwerfungsvertrag unter den rechtmäßigen Zwang um des physischen Uberlebens und Wohllebens willen und nennt das politische Freiheit. Dem Notstaat steht der ethische oder Vernunftstaat gegenüber, jeglicher politische Körper, der seine Einrichtungen ursprünglich aus dem Gesetz, nicht von Kräften ableitet. In ihm herrscht aber nicht mehr das Erlaubnisgesetz, das seine Einhaltung erzwingen kann, sondern das

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Sollensgebot. Dieses baut unbedingt auf die innere Gesinnung und läßt sich niemals erzwingen. Im Vernunftstaate waltende Kräfte sind Kräfte der Sittlichkeit. „Bey Aufstellung eines moralischen Staats wird auf das Sittengesetz als auf eine wirkende Kraft gerechnet" (ΝΑ X X , 315). Das Sittengesetz gebietet kategorisch, die Menschheit in der eigenen wie in der Person eines jeden anderen jederzeit auch als Zweck zu achten und niemals nur als Mittel zu gebrauchen. Sonach wäre im ethischen Staat das Sittengesetz ,auf den Thron gestellt und der Mensch endlich als Selbstzweck geehrt'. Offenbar braucht solches Reich der Freiheit den Menschen als Person zum Subjekt, und zwar nicht nur im moralisch-praktischen, sondern im weltbürgerlichen Sinne. Ein sittlicher Charakter schont die Würde eines jeden Menschen und rechnet mit dem inneren Wert, der für keinen Preis zu kaufen und zu haben ist. Es ist wiederum Kant, der den Gedanken eines .ethisch bürgerlichen Zustandes' inauguriert hat. Seine Religionslehre von 1793 definiert diesen status civilis als ein Verhältnis der Menschen untereinander, „da sie unter dergleichen zwangsfreien, d. i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sind" (Werke ed. W. Weischedel IV, 753). Und Kant, der unerbittliche, ja sophistische Verneiner des Widerstandsrechts, wird für die Heraufkunft eines solchen ethischen Staates die Französische Revolution als ein Geschichtszeichen deuten. Im ,Streit der Fakultäten' (1798) faßt Kant ,die Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen* in ihrer moralischen Tendenz auf; sie weise indirekt auf das Fortschreiten des Menschengeschlechts zum Besseren, letztlich auf die Verwandlung einer nur ,pathologisch-abgedrungenen Zusammenstimmung der Gesellschaft' in ,ein moralisches Ganze* (vgl. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, IV. Satz). Aus solchem Gedankenkreise jedenfalls fällt Schiller die Vorstellung des ethischen Staates zu: einer Verfassung, deren Substanz Menschenrecht und Menschenwürde sind, die weltbürgerlich von der Selbstbestimmung des sittlichen Charakters ausgeht und auf sie berechnet ist. Die Französische Revolution bricht auf, aus dem Staate der Not ins Reich der Freiheit überzugehen. Ihr großes Bedenken ist das Denken dieses Ubergangs. Wohl niemand hat klarer den tragischen Grundzug dieses Geschehens begriffen als Schiller. Er stellt die drohende Katastrophe, die Umschwünge von politischem Glück in politisches Unglück, in einer Analyse heraus, welche Relation und Modalität von Not- und Vernunftstaat entwickelt. Beider Verhältnis ist das der Kontradiktion. Äußerer Zwang und innere Freiheit schließen einander, radikal gedacht, aus. Macht

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und Bestand von Unfreiheit bedeuten ineins Ohnmacht und Abwesenheit von Freiheit, und in der Heraufkunft totaler Freiheit gehen alle Art Zwangsverhältnisse zugrunde. Sowie also der sittliche Staat entsteht, vergeht der physische. Die morschen Grundlagen des Naturstaates müssen einstürzen, anders kann eine menschenwürdige Gesellschaft nicht an dessen Stelle treten. Eine konsequente politische Revolution hebt alle vorfindlichen Ordnungen als die Gegenmächte menschlicher Selbstbestimmung auf. Aufhebung durch Revolution besagt logischerweise Vernichtung im Sinne der einfach nichtenden Negation. Unter politischem Aspekt gibt es bei der analytischen Opposition von Natur- und Vernunftstaat kein dialektisches Drittes. Nun hat aber die sich in geschichtlicher Erfahrung bekundende bürgerliche Gesellschaft zweifellos den Seinsmodus der Wirklichkeit. So herabsetzend auch ihre Realität, die Zerteilung von Mensch und Bürger, von Arbeit und Werk, von Herr und Knecht, wirkt, immerhin garantiert sie dem Menschen „die Mittel zur Thierheit . . ., die doch die Bedingungen seiner Menschheit ist" (ΝΑ XX, 314). Und das Brecht-nahe Distichon „Würde des Menschen" lagert Würde auf Lebens-Mittel zurück: Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen; Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst. Die Wirklichkeit des Notstaates sichert, in welch notdürftigem Maße auch immer, dem Lebewesen das Leben, dem menschlichen Dasein die physische Existenz. Der sittliche Staat dagegen ist nicht wirklich. Er ist, obzwar moralisch notwendig, physisch doch problematisch. Das Reich der Freiheit in Zeit und Geschichte zu stellen, heißt seine Existenzweise verkennen. Ihm kommt gar keine sich jemals durch Erfahrung bezeugende Wirklichkeit zu. Darum aber ist der ethische Staat nicht ganz und gar unwirklich. Er ist zuhöchst wirksam. Er ist nicht wirklich gegeben, sondern notwendig aufgegeben, und als Aufgabe weist er das politische Lebewesen unabweislich in seine Bestimmung. Sonach wäre der Vernunftstaat „zwar durch keine Erfahrung gegeben, aber durch seine Vernunftbestimmung nothwendig gesetzt" (ΝΑ XX, 313). Wird das bedacht, dann enthüllt sich die revolutionäre Aktion als ein lebensgefährliches Experiment. Sie wagt die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft an ein Ideal, sie opfert das physisch Wirkliche für eine gedankliche Möglichkeit; denn zufolge der Modalverhältnisse räumt die negierte Wirklichkeit des Alten nicht zwangsläufig der Wirklichkeit des

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Neuen den Platz ein. Die Negation wirklicher Knechtschaftsverhältnisse bedeutet nicht unvermittelt die Position wahrer Herrschaftslosigkeit. Dank ihrer einfachen Negativität muß sich die Revolution vielmehr in einen Leerraum zwischen Ideal und Leben hinauswagen. In solchem Vakuum ist der Notstaat nicht mehr wirklich und der Idealstaat noch nicht verwirklicht. Dann aber ist das versprochene Reich der Freiheit nicht gewonnen und die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft verloren. Wann immer eine politische Revolution mehr ist als eine Verbesserung der Legalität im Gefüge des Notstaates und weniger als eine menschliche Emanzipation, eröffnet sie eine doppelte Katastrophe zwischenmenschlichen Lebens. Beide möglichen Gefahren sind in der Französischen Revolution Wirklichkeit geworden. Ihre Analyse macht die tragische Pointe der Schillerschen Revolutionstheorie aus. Die eine Gefahr liegt darin, daß der ,Stand der Verträge' in das ,Elementarreich der Kräfte' (status naturalis) zurückfällt. Die entfesselnde Kraft einer abstrakten Befreiung bindet die Gesellschaft zwar von der falschen Autorität des Zwangsstaates los, aber sie kann sie nicht wieder in Freiheit zusammenbinden. Weil sie den natürlichen Charakter des Menschen nur frei läßt, aber nicht bildet, bringt sie keine tiefere Verbindlichkeit im konkreten Freisein auf. Schiller entdeckt die Struktur eines Terrors der Wut. In ihm werden die Ideen dadurch zur Macht, daß sie die Massen in der Bewußtseinsgestalt von Begierde und Wut ergreifen. Sicherlich orientiert sich solche Kennzeichnung an den Septembermorden der Französischen Revolution und am Schrecken der demagogisch aufgebrachten ,niedern und zahlreichern Klassen' (ΝΑ XX, 319) 58 . Aber Schiller führt auch die politische Entfesselung der Empörung auf Wesensmöglichkeiten des Menschen zurück, auf die Wildheit. Die Gestalt des Wilden bedeutet in diesem Zusammenhange eine menschliche Daseinsform ästhetischer Unbildung und Kunstverachtung auf dem Grunde einer fatalen NichtIdentität. Der Mensch als Wilder ist sich selbst entgegensetzt. Er anerkennt einzig die Sinnlichkeit und kann das Geistige nur auf sinnliche Weise nehmen. Im Wilden stimmen Gefühle und Grundsätze so wenig 58

Der antithetische Ansatz von Charakter und Gesellschaft läßt Schiller die Charakterlosigkeit des Zeitgeistes auch politisch-soziologisch von zwei Schichten oder Klassen her betrachten. Der. nach der Französischen Revolution einseitig diskutierten .Gefahr der niederen Schichten' und Massen stellt Schiller, dem Tenor der Zeitkritik überlegen, die gefährliche Depravation des Charakters entgegen, der die .zivilisierten Klassen' prägt. Vgl. dazu H . Popitz, Der entfremdete Mensch (Zeitkritik und Emanzipation Schillers) S. 3 3 - 4 1 .

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überein, daß er als Träger der Revolution den Terror der Gefühle entfesselt. Den Schrecken des maßlos gewordenen Gefühls komplementiert der Schrecken gefühllos werdender Grundsätze. Der Terror der Tugend bildet die andere, größere Gefahr der modernen politischen Revolution. Schiller nennt sie die Diktatur des .unbestechlichen Bewußtseyns' (ΝΑ XX, 317). Dabei ist nicht etwa die Strenge des Sittlichen schrecklich, noch sind die Grundsätze des Menschenrechts falsch, schreckensvoll ist allein die gewaltsame und bedingungslose Durchsetzung politischer Ideen ohne Rücksicht auf die besondere Wirklichkeit. Sicherlich spiegelt sich darin diejenige Kritik wider, die Schiller vor allem in den Briefen über Don Carlos (1788) an den Heroen seiner Jugenddramen geübt hat: Die rücksichtslose Verwirklichung der Idee, der direkte Weg zum abstrakten Freiheitsstaat verletze die lebendige Menschlichkeit; sie verleite sogar den Selbstlosesten, einen Marquis Posa, zum Despotismus. Nun aber ist eine politische Konsequenz gezogen. Stellen sich die Grundsätze der égalité blind gegenüber den gewachsenen Zeitumständen wirklichen Lebens und taub gegenüber den Ansprüchen des Individuum auf Einzigartigkeit, dann breitet sich jene Uniformität aus, nach der alle in allem gleich zu sein haben und Ungleichen wie Gleichen das Gleiche zuzuerteilen ist 59 . Solch unbestechlich erhabene, Robespierresche Wahn-Gerechtigkeit betrachtet die Individualität als ihren Todfeind. Sie beseitigt die Ungleichheit der Individuen mit rigoroser Gewalttätigkeit. Hier feiert Lykurg posthum Triumphe. Der abstrakten Idee des vollkommenen Staates werden alle Möglichkeiten der individuellen menschlichen Natur zum Opfer gebracht (vgl. ,Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon', 1790). Diesen Vorgang hat Hegel bekanntlich als die ,absolute Freiheit und der Schrecken' geschildert. Er leitet beides vom Dogma der Aufklärung her, die Menschen seien von Natur alle gleich und erst durch Kultur und Gesellschaft ungleich gemacht; daher gelte es im Namen der absoluten Freiheit die natürliche Gleichheit wiederherzustellen. Weil nun aber die Ungleichheit vorzüglich in den Köpfen steckt, ist das Dekapitieren die sinnreichste Art, die Menschheit zu egalisieren. Der Tod und das Töten bedeuten im Zeitalter der Revolution nicht mehr als das Durchschlagen

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Bemerkenswert ist, wie Tocqueville in „L'Ancien Régime et la Révolution" die zweite Phase der Französischen Revolution als despotisme démocratique in der aufkommenden Gestalt eines despotisme administratif gemäß Robespierres Gleichschaltung von Demokratie und Gleichheit abschätzt.

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eines Kohlkopfes. Die Guillotine ist das adäquate Symbol von absoluter Freiheit, totalitärer Gleichheit und dem Terror von Dogmen. Es zeugt von einer grausigen Konsequenz, daß die Unterzeichner jenes Ehrendiploms, das Schiller zum citoyen français ernannte — darunter war Danton —, ihrem eigenen Prinzip, dem Fallbeil unbestechlicher Grundsätze, schon erlegen waren, bevor die Urkunde in Schillers Hände kam. Der Schrecken der jakobinischen Volksjustiz und die Revolutionstribunale des Wohlfahrtsausschusses — die Gleichschaltung von Verdacht und Liquidierung — haben den Fortschrittsglauben der modernen Aufklärung schockiert. Zumal die formale Hinrichtung eines Monarchen durch sein Volk war für Kant der Selbstmord des Staates, die gänzliche Verkehrung aller Rechtsbegriffe, ein crimen inexculpabile, dem Vatermorde gleich. Und Schiller, der eine Streitschrift für die Sache des Königs entworfen hatte, äußerte kurz nach der Enthauptung Ludwigs XVI. seinen Ekel vor „diesen elenden Schinderknechten" (an Körner, 8. Februar 1793). Streng begrifflich hat er solchen Terror der Tugend gleichfalls auf eine Daseinsmöglichkeit des Menschen zurückgestellt, den Barbaren. Der Barbar ist die andere Gestalt ästhetischer Unbildung und menschlicher Nicht-Identität. In ihm überschwemmen nicht wie beim Wilden Gefühle die Grundsätze, die Grundsätze zerstören jegliches Gefühl. Der Barbar, der gefühllose Anwalt der Ideen, vollstreckt zugleich die Urteile einer bedingungslos einschreitenden, hyperbolischen politischen Vernunft. Als Subjekt der Revolution wird der Barbar zu einer schreckenerzeugenden Gestalt der Inhumanität in der Geschichte 60 . Das Bedenken der Revolution stößt auf eine Aporie. Die Umwälzung des Notstaates ist moralisch notwendig und politisch selbstmörderisch. Sie stürzt das Gemeinwesen in die Doppelgefahr, in eine elementare Anarchie zurückzufallen und sich zu einer Diktatur von Dogmen zu übersteigern. Einerseits nämlich scheitern ihre Grundsätze und Ideen am Unmaß der durch sie losgebundenen Wirklichkeit, andererseits fallen die gegliederte Realität und lebendige Individualität den Grundsätzen und Ideen zum Opfer. Vor dem Terror der Wut und dem Terror politischer Prinzipien scheint es keinen anderen Ausweg als die Flucht aus der politischen Misere zu geben, zumal wenn man wie im Falle Schillers ein Klassenbewußtsein

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Die Grundgestalten des Wilden und des Barbaren im Zusammenhange mit Möglichkeiten der politischen Katastrophe und der Eide der Tragödie sind herausgearbeitet bei W. Emrich, Schiller und die Antinomie der menschlichen Gesellschaft. In: Schiller. Reden im Gedenkjahre 1955. Stuttgart 1955. S. 2 3 7 - 5 0 .

Revolution und ästhetischer Humanismus

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unterstellt, das für einen revolutionären Kampf zu schwach erscheint. Tatsächlich bieten sich genügend Zeugnisse für eine derartige ,freie Resignation' an. So bekennt Schiller im großen Rechenschaftsbericht an den Augustenburger vom 13. Juli 1793: „Ich bin so weit entfernt, an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, daß mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu auf Jahrhunderte nehmen". Indessen bezieht sich diese Resignation lediglich auf die politische Revolution als politische, sofern sie auf äußere Uberwindung von .Systemen' abzielt. Nun hat die Forschung darauf hingewiesen, daß Schiller eben nicht der die Französische Revolution legitimierenden französischen, sondern einer aus schwäbischem Boden herauswachsenden Aufklärung zuzuordnen ist. Und diese widersetzt sich gerade einer Entwicklung, die zum Siege der volonté générale und zum Primat des Politischen vor dem Einzelmenschlichen führt. So stimmt Schiller weitgehend mit Wielands Beurteilung der Französischen Revolution und dessen Grundsatz überein: „Soll es jemals besser um die Menschheit stehen, so muß die Reform nicht bey Regierungsformen und Konstituzionen, sondern bey den einzelnen Menschen anfangen" (Worte zur rechten Zeit; WW A XV, 616)61. Schillers Leitgedanke verläuft entsprechend. Die Widersprüche und Antagonismen im Politischen sind nur zu heben, wenn zuvor die Widersprüche im Menschen behoben sind. Die direkte politische Aktion ohne vermittelnde menschliche Emanzipation bleibt so wenig stabil, daß sie haltlos Diktaturen und Restaurationen verfällt. Die revolutionäre Aufhebung von Staats- und Gesellschaftsformen muß auf eine dialektische Aufhebung der menschlichen Antagonismen zurückverlagert werden. Die Basis einer wahrhaft erhebenden politischen Revolution ist eine Dialektik der Menschenbildung. Von daher stellt sich das Problem einer Vermittlung durch einen dritten Staat mit dem Rückhalt in einem dritten Charakter. In der Synthesis eines dritten Charakters müßten die Antithesen von Not- und Vernunftstaat, von physischem und sittlichem Charakter, von Wildheit und Barbarei negiert, bewahrt und höhergehoben sein. Schiller findet solch aufhebende Synthesis im edlen Charakter. Die Bewegung der Veredlung wird einen dialektischen Prozeßcharakter gewinnen, und es wird sich

61

Uber die Einwirkung der politischen Ideen Wielands vgl. B. von Wiese, Schiller. 3. Aufl. Stuttgart 1963. S. 450ff.

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Antagonische Dialektik

zeigen, wie der Edle die übersteigerten Gefühle des Wilden und die abstrakten Grundsätze des Barbaren zu freiester Harmonie bringt. Veredlung ist nun der Endzweck aller Erziehung und Bildung. Die immense Bedeutung der Erziehung gerade auch als stabilisierender Faktor der revolutionären Bewegung hat Schiller in einer Bemerkung über Mirabeaus Schrift ,Sur l'Education' herausgestrichen. Sie sei darauf bedacht, der französischen Konstitution „gleichsam noch im Tumult des Gebärens den Keim der ewigen Dauer durch eine zweckmäßige Einrichtung der Erziehung zu geben" (an Körner, 15. Oktober 1792). Ohne solche edukative Vermittlung kommt jeder politisch-revolutionäre Wandel zur Unzeit und bleibt ohne Dauer. Daher erklärt der Anfang des 4. Briefes: „Soviel ist gewiß: Nur das Uebergewicht eines solchen Charakters bey einem Volk kann eine Staatsverwandlung nach moralischen Principien unschuldig machen, und auch nur ein solcher Charakter kann ihr Dauer verbürgen" (NA XX, 315). Aber es wird sich auch zeigen: Die bewahrende Dialektik der Veredlung gerät in einen Zirkel; und es ist einzig das Werkzeug der Kunst, das der Bewegung, welche die Gegensätze von sittlichem und physischem Charakter von Not- und Vernunftstaat vermitteln soll, aus dem Umtrieb eines fehlerhaften Zirkels heraushilft. Das also muß gegenüber einer Kritik, welche die Herkunft eines ästhetischen Humanismus mißversteht oder gar denunziert, deutlich gemacht werden: Die Realität des Ästhetischen ist politisch deduziert. Soll die dialektische Vermittlung von Notund Vernunftstaat nicht in einem Zirkel fehllaufen, dann muß es das Organon der Kunst, eine ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts und die Veredlung der Sinnlichkeit geben. Sollen die Katastrophen der politischen Revolution humanistisch aufgefangen werden, dann müssen Schönheit und ästhetische Kultur sein. Nichts ist mehr das Bedürfnis unserer Zeit als ein geistiges Gegengewicht gegen die urwüchsige Gewalt politisch-sozialer Revolutionen. Durch Hegel hat die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution zur metaphysischen Theorie des Staates geführt; denn nur dessen sittliche Substanz lasse die in sich unstabile Revolution zu einer tragfähigen Verfassung kommen. Durch Novalis hat die romantische Opposition der politischen eine heilige Revolution entgegengesetzt. Die politische Gewalt entferne das Heilige, mäche die Musik des Weltalls verstummen, ebne die Berge ein, zerbreche den Frieden der Religion. Eine heilige Revolution dagegen könnte das realisieren, was der Französischen Revolution mißlang, politische Freiheit in Bezug auf das Reich Gottes einzurichten. Und

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nach der nachhegelschen, ungeistigen Kritik am Geiste von Staat und Religion hat der frühe Marx das Problem der religiösen Entfremdung und politischen Revolution auf das der menschlichen Emanzipation reduziert62. Wie aber steht es, wenn die Auszeichnung des Menschen darin ruht, in der Gunst des Schönen ganz zu sein? Das legt sich nahe, solange der Mensch als das dämonische, sinnlich vernünftige Zwischenwesen festgestellt und Schönheit als sinnliches Scheinen der Idee begriffen wird. Dann vermöchte der Mensch gleichsam als Ausgleich für seine Zerrissenheit im rechten Verhalten zur sinnlich-ideenhaften Einheit der schönen Kunst frei und ganz bei sich selbst zu sein. Steht es so, dann bildet die Kunst in der Tat das menschlichste Gegengewicht, welches das Leben vor den Verwüstungen durch den Menschen bewahren könnte.

2. Kapitel: Die Deduktion der Kunst aus dem Zirkelproblem der Veredlung Seit Rousseaus Gedankenkonstruktion des ,Contrat social' verläuft der Weg, den bürgerlichen Zustand durch eine Sicherheit verbürgende Form der Vergesellschaftung ohne Einbuße an Freiheit zu erreichen, in einem Zirkel. Soll der Gesellschaftsvertrag nicht die Gestalt eines leviathanesken Unterwerfungsvertrages annehmen — und der Mensch hat nicht die Freiheit, seine Freiheit aufzugeben —, dann fordert er eine fundamentale Voraussetzung, nämlich die gänzliche Selbstentäußerung (aliénation totale) jedes Einzelwillens. Das Ich der Selbstsucht muß entäußert werden; denn nur die Negation der amour propre garantiert eine freie Assoziation von

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Für Marx bildet die Französische Revolution die klassische Periode des politischen Verstandes. Dieser glaubt an die Allmacht des Willens als dem Prinzip der Politik und wird in seinem grenzenlosen politischen Wollen blind gegen seine eigenen natürlichen und geistigen Grenzen (Kritische Randglossen; M E W I, 402). E r sieht nicht den Widerspruch zwischen dem Jiimmlichen Leben', in welchem der Staatsbürger eines ausgebildeten Staates als Gattungswesen abstrakt west, und dem .irdischen Leben', in dem sich der Privatmensch als Träger der bürgerlichen Gesellschaft auslebt. Allein das .politische Drama' der Revolution betreibt den gewaltsamen Widerspruch gegen das Widersprüchliche der bürgerlichen Gesellschaft und ,geht bis zur Guillotine fort'. Weil aber jede politische Revolution ohne menschliche Emanzipation unstabil ist, endet sie mit Restaurationen (zur Judenfrage; M E W I, 357)'. Daher lenkt das Bedenken der Französischen Revolution auch beim Marx der .Pariser Manuskripte' auf eine Bildung des neuen Menschen, auf das freie Spiel der individuellen und gesellschaftlichen menschlichen Lebens- und Arbeitskräfte, letztlich auf eine radikale Umkehr des kategorialen Sinnes von Haben und des Habensinnes zurück.

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Antagonische Dialektik

Menschen. Allein durch solch absolute Negation der Entfremdung wird das Ich der amour propre zum moi commun, zu dem an der volonté générale teilhabenden Ich, welches als Souverän dem Gesamtwillen gemäß handeln und ineins als Untertan dem (absoluten, inappellablen, unfehlbaren) Gesamtwillen unbedingten Gehorsam leisten will. Bedingung dafür, daß ein Vemunftstaat, Rousseauisch gesprochen: ein peuple von citoyens in einer moralisch-geistigen Körperschaft, entsteht, wäre demnach eine Veredlung (Denaturierung, Vergeistigung und Versittlichung) des Menschen. Durch die Erhebung der rohen Instinkte in ein veredeltes Bewußtsein verliert die .natürliche Freiheit', die keine andere Grenze als die Kraft des Individuum kennt, das krude Recht der Gewalt. Nur eine Verbesserung des Charakters ermöglicht die durch den Gesamtwillen begrenzte bürgerliche Freiheit. Und sie trägt die moralische Freiheit, die ihre Grenze in selbst auferlegten Gesetzen findet. Demnach fängt der rechte Staat mit der Menschwerdung seiner Subjekte an 6 3 . Andererseits aber ist doch der rechte Staat Voraussetzung für wahre Humanität. „Wir fangen daher erst eigentlich an, Menschen zu sein, nachdem wir Staatsbürger geworden sind" (The political Writings of J. J. Rousseau; 1,453). Politische Philosopheme im Stile der Rousseauschen Vertragstheorie verlaufen in einem anfänglichen circulus vitiosus. Sie unterstellen die Moralisierung und sittliche Erziehung des Menschen als notwendige Bedingung für die Möglichkeit eines freien Gemeinwesens und zugleich das freie Gemeinwesen als Bedingung für die Möglichkeit wahren Menschseins. Eben in diesen Zirkel scheint auch Schillers Versuch, die Antagonismen von Not- und Vernunftstaat, von physischem und sittlichem Charakter auf dem Wege der Veredlung zu versöhnen, hineinzugeraten. „Das lebendige Uhrwerk des Staats muß gebessert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während seines Umschwungs auszutauschen" (AEM, 3. Brief; XX, 314). Das Beispiel versinnbildlicht das Verfahren der Dialektik, Widersprüche auszubessern, ohne einen der Gegensätze fallen zu lassen, und die Unruhe des Widerspruchs auszugleichen, ohne seine Lebendigkeit stillzustellen. 63

Solche Wesensveränderung des Menschen, welche die Verwandlung des selbstsüchtigen Einzelwillens zum Glied einer innigen Gemeinschaft bewirken soll, ist von Rousseau nicht selbst wiederum auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit hin befragt worden. Nicht zu Unrecht hat die glänzende Darstellung von Rousseaus politischer Philosophie durch I. Fetscher diesen Prozeß mit der Transsubstantiation verglichen, die in der Eucharistie Ereignis wird (Rousseaus politische Philosophie. Neuwied 1968. S. 98).

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„Man muß also für die Fortdauer der Gesellschaft eine Stütze aufsuchen, die sie von dem Naturstaate, den man auflösen will, unabhängig macht" (ÄEM, 3. Brief; XX, 314-15). Die neue Methode sucht eine auflösend-bewahrend-erhebende Vermittlung. Die gesuchte Stütze soll die Gesellschaft bewahren, sie von den Zwängen des Notstaates lösen und über sie erheben. Wo aber ist solche Vermittlung zu finden? Der vulgäre Staat kann solche Stützung nicht bereitstellen. Er kann die Versöhnung der inhumanen Anerkennungsverhältnisse zwischen Menschen nicht leisten; „denn der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, hat das Uebel veranlaßt" (ÄEM, 7. Brief; XX, 328). Der wirkliche Staat bedeutet nicht die Anwesenheit, sondern gerade die Abwesenheit vernunftgesättigter Wirklichkeit. Er kann das Übel der Inhumanität nicht heilen, weil er es produziert und sanktioniert. Und der Vernunftstaat kann die Versöhnung nicht ins Werk setzen, weil er als Idealstaat noch nicht wirklich ist. Der Notstaat ist wirklich, aber nicht vernünftig, der Vernunftstaat vernünftig, aber nicht wirklich. Dieses hegelferne Diktum beruht darauf, daß der objektive Staatscharakter seine Kraft und seinen Geist erst aus der Verfassung des ,inneren Menschen' gewinnt. Also sieht sich die Ermittlung der gesuchten Stütze vom Charakter des Staates auf den Charakter des Menschen verwiesen. Aber auch hier ergibt sich zunächst ein negatives Resultat. „Diese Stütze findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen . . ., sie findet sich eben so wenig in seinem sittlichen Charakter" (ÄEM, 3. Brief; XX,315). Im natürlichen Charakter wurzelt ja die einfach einseitige Negation des Zerstörens, welche die Gesellschaft nicht ins ,organische Leben' erhebt, sondern ins Chaos der Kräfte zurückfallen läßt. Und der sittliche Charakter bildet keinen verläßlichen Vermittlungsgrund, weil er erst gebildet werden soll und weil er, selbst wenn er vorhanden wäre, in seiner Auswirkung unsicher und stets durch den Widerstreit des Sinnlichen gefährdet bliebe. Zur erwünschten Synthesis braucht es mithin eines dritten Charakters, der „von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen Uebergang bahnte" (ÄEM, 3. Brief; XX, 315). Der dritte Charakter hebt den physischen und sittlichen Charakter auf. In ihm gelangt der physische Charakter durch Negation seiner schrankenlosen Willkür mit dem Gesetz zur Ubereinstimmung. Ineins kommt der sittliche Charakter durch Negation seiner rigorosen Gesetzlichkeit mit Empfindung und Gefühl in Einklang. Das Fundament eines dritten Charakters soll also, indem es die Antithesen von Kraft und Gesetz, Sinnlichkeit und Vernunft zusammenfaßt, die gegensätzlichen Gefahren von

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Barbarei und Wildheit mildem. Und auch unter dieser Leithinsicht zeichnet sich die dialektische Aufgabe ab, Nichtidentitäten zu wahrer Identität zu vermitteln. Im Falle des mit sich selbst entzweiten Wilden sind Natur und Begierde entfesselt und der Geist unterdrückt. In der Selbstentzweiung des Barbaren ist umgekehrt die Natur als Gefühl und natürliches Streben unterdrückt und die Vernunft aus den Fugen. Daraus resultiert das Programm, ,in dem Wilden die Natur in Fesseln legen und in dem Barbaren dieselbe in Freiheit setzen'. Einen solchen dritten Charakter zu erzeugen, heißt den Menschen veredeln. Die Gestalt des Edlen bannt Barbarei und Wildheit und vereinigt die reinen Kräfte der Empfindung und der Vernunft. „Das Won veredeln erinnert immer an ein Verbessern, an eine moralische Erhebung" (vgl. X X I I , 293 ff.). Der Anklang dieses zentralen Wortes ästhetischer Aufklärung 64 weist auf eine generelle Bedeutung, das Verbessern eines Schlechten, das Verwerten von Rohem, die Erhebung über einen primitiven, ungeformten Zustand zurück. So ist der Vorgang, in welchem rohes Gestein zu Edelstein geschliffen wird, ein Verbessern, in welchem ein Stoff die gehörige Form, eine Form den ihr angemessenen Stoff erhalten. Darum ist die Redeweise, „daß der Stoff sich zur Form veredelt" (AuW X X , 276) generell treffend. Seine spezielle Bedeutung bekommt der Terminus im Bezirk menschlichen Handelns und Betragens. Hier ist der Gegensatz zu edel nicht bloß roh, sondern gemein. Gemein heißt dabei alles, was die Sinnlichkeit für sich hervorbringt (vgl. Uber das Pathetische; X X , 201). Dieser Gegensatz ist sprechend für mitmenschliches Betragen. Gemein handelt jeder, der rücksichtslos auf seinen eigenen Nutzen bedacht ist, edel der, der ,sich selbst vergessen kann', um einen Anderen frei sein zu lassen (vgl. Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst; X X , 242). Edles Betragen ringt sich das Gute nicht ab, es vollbringt es leicht und gleichsam formvollendet ohne jeden Anflug von Niedertracht und Mißgunst. In dieser Hinsicht also zielt die Veredlung auf die Verbesserung der gemeinen Wirklichkeit. Sie will die Priorität der Empfindung vor allen

64

Aufschlußreich für die Begriffsgeschichte sind die Abhandlungen von Karl Philipp Moritz, insbesondere natürlich „Uber die bildende Nachahmung des Schönen", aber auch „Das Edelste in der Natur", zuerst erschienen in der von Moritz herausgegebenen Zeitschrift „Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen". Uber die Schillersche Rezeption, vor allem in der Jenaer Ästhetik-Vorlesung vgl. X X I , 77; dazu den Kommentar der Nationalausgabe X X I , 190, 272ff., 3 8 6 - 3 8 7 .

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Grundsätzen schon im Felde roher Sinnlichkeit brechen, ohne jedoch den physischen Menschen unempfindlich und aus dem Wilden einen Barbaren zu machen. Das Veredeln sucht den physischen Charakter auf eine Stufe der Menschheit zu erheben, auf welcher die zwanglose Einheit von Sinnlichkeit und Geist eine solche Handlungsweise ermöglicht, daß Empfindungen und Grundsätze aus Edelmut zusammenstimmen. Als Prozeß, welcher die Hauptantithesis im Menschen aussöhnt und erhebt, gewinnt das Tätigkeitswort veredeln im Denken Schillers einen dialektischen Zug. Und es zeichnet sich ab, wie solch vermittelnde Erhebung im Denkkreis des ästhetischen Humanismus ermittelt werden wird: durch das Vermögen der Schönheit und die Arbeit der ästhetischen Kultur. Die dialektische Entfaltung der menschlich-gesellschaftlichen Gegensätze wird bis zum Schlußsatze vorstoßen, den das Jenaer Ästhetik-Kolleg von 1792/93 so vorformuliert: „Das Schöne veredelt die Sinnlichkeit und versinnlicht die Vernunft" (XXI, 88). Der erste vorläufige Einsatz des Wortes veredeln im Anfange der .Ästhetischen Briefe' bedeutet mithin bereits soviel wie dialektisch aufheben. Der Veredelte ist der mit sich in Einklang lebende Mensch. Dessen Charakter heißt edel, wenn der physische Charakter nicht mehr der sittlichen Forderung widersteht, sondern von sich aus bereit und geeignet ist, zwanglos Vernunftgesetze zu erfüllen. Der sittliche Charakter ist veredelt, d. h. höher gehoben, wenn er überlegen genug ist, im Materialen nicht bloß ein Hindernis und in der Sinnlichkeit nicht mehr den Widersacher der Vernunft zu sehen. Schillers Rede von einem Ubertreffen des sittlichen Handelns ist erstaunlich, aber konsequent. Edles Betragen übertrifft ein Handeln aus Pflicht, weil es den Menschen nicht bloß als moralische Person achtet, sondern zugleich als Individuum schont. Das geschieht eben, wenn der moralische Charakter dazu bestimmt ist, Freiheit nicht mehr gegen den Widerstand der sinnlichen Natur und eigentümlichen Individualität durchzusetzen. Das Bild eines edlen Charakters zielt dabei nicht primär auf die private Innerlichkeit einer schönen Seele ab, es entwirft vielmehr die Stütze und Bedingung für eine dauerhafte Verbesserung des Politischen. Wird ihr präziser Vermittlungssinn verstanden, dann verspricht die Rede von der Veredlung des Menschen eine dialektische Realisierung der ansonsten utopischen Revolution. Verläuft indessen dieser dialektische Gang nicht in einem fehlerhaften Zirkel? Die Elevation eines dritten, eines edlen Charakters wird doch für eine dauerhafte Errichtung des sittlichen Staates vorausgesetzt. Somit beginnt der Bau einer wahren politischen Freiheit mit der Arbeit der

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Charakterveredlung. Aber gilt nicht mit gleichem Recht auch das umgekehrte Bedingungsverhältnis? Ist denn nicht die politische Wirklichkeit der Nährboden für Erziehung und Bildung des Menschen? Erst in der gesellschaftlichen Wirklichkeit realisiert sich menschliches Selbstbewußtsein. Wird dieser ontologische Grundsatz bedacht, dann bildet sich der Mensch zum Menschen, sofern und soweit es ihm erlaubt ist, menschlich unter Menschen zu sein. Es sind die politischen Realitäten, die ihm die Chance für sein Menschseinkönnen eröffnen oder verschließen. Und als Konsequenz der Notstaatshegemonie ergibt sich: Was sich als politische Wirklichkeit ausbreitet, ist das physische Staatswesen. Dessen Verfassung barbarisiert. Sie vereinseitigt den Menschen, indem sie ihn in die Herrschaftsbezüge der abstrakten Begierde und Selbstsucht oder - im Gegenschlag — in den Rigorismus einer abstrakten Vernunftdiktatur einbezieht. So soll die Veredlung des Charakters die Einrichtung einer freien politischen Verbindung stützen, umgekehrt aber kann nur ein freies Gemeinwesen die Veredlung fördern. Der ästhetische Humanismus hat sich dem Zirkelproblem des Anfangs gestellt. „Aber ist hier nicht vielleicht ein Zirkel? . . . Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen — aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?" (ÄEM, 9. Brief; XX, 332). Das aufgedeckte Zirkelproblem bringt den ästhetischen Humanismus auf seinen eigentümlichsten Gedanken. Offenbar muß ein Mittel und Werkzeug gefunden werden, das den Charakter veredelt, ohne durch die Wirklichkeit des notstaatlichen Unwesens beeinflußbar zu sein. Ein solches Organ müßte die Widersprüche im menschlichen Charakter zu herrschaftsfreier Einheit erheben und gegenüber den Unterdrückungsverhältnissen des Staates immun sein. Und es dürfte weder der theoretischen noch der praktischen Kultur zugehören, weil diese ja einander in fehlerhaftem Zirkel voraussetzen. „Die theoretische Kultur soll die praktische herbeyführen und die praktische doch eine Bedingung der theoretischen seyn?" (ÄEM, 9. Brief; XX, 332). Theoretische Kultur dürfte hierbei die Ausbildung der individuellen Naturanlagen des Menschen zu wahrhaft zwanglosem Selbstbewußtsein bedeuten, praktische Kultur dagegen die Vervollkommnung des von Zwängen freien politisch-gesellschaftlichen Zustandes. Nun hat offenbar die theoretische Kultur die praktische zum Endzweck und zugleich zu ihrer Mitte und umgekehrt. Dieser Knoten wäre unauflösbar, gäbe es nicht ein Werkzeug der Veredlung, das von den Einflüssen der Staatsgewalt unabhängig und weder der theoretischen noch

Der .transzendentale Weg'

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der praktischen Kultur zugehörig ist. „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst" (ÄEM, 9. Brief; XX, 333). Die Lösung des Zirkelbannes erfolgt nicht durch die Mittel der theoretischen oder praktischen, sondern allein durch die Vermittlung der ästhetischen Kultur. Die schöne Kunst erfreut sich einer „absoluten Immunität" (XX, 333) gegenüber der menschlichen Willkür. Die zuhöchst verletzliche lebende Gestalt des Schönen ist gegenüber dem Druck politischer Barbarei unverletzlich. Der politische Diktator kann das Gebiet der Kunst sperren, aber nicht darin herrschen. Er kann den Künstler in Dienst nehmen, aber die Kunst selbst nicht verfälschen. Auf Grund ihrer absoluten Immunität vermag die ästhetische Kultur auch innerhalb totaler Herrschaftsformen den Charakter der Freiheit zu bilden. Das ist die unzeitgemäße Politisierung der Kunst durch Schillers ,Ästhetische Briefe*. Weil die Kunst autonom und von den jeweils herrschenden politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängig ist, stellt sie eine befreiende Macht dar. Sie kann jederzeit in das Gefüge von Diktaturen einbrechen, indem sie Freiheit im Scheinen des Schönen zum Erscheinen bringt. Ihrer unangreifbaren Unverletzlichkeit wegen ist sie jeder Art von Tyrannis suspekt und bedrohlich. In dem Maße nur, in dem sie politisch funktionalisiert und gesellschaftlich integriert wird, verliert sie ihre kathartische und umschaffende Funktion. Das Werk der Kunst ist ein unmanipulierbares Ding. Seine einzigartige soziale Funktion besteht gerade in seiner reinen Autonomie. Die prinzipielle Forderung nach ästhetischer Erziehung bedeutet, so gesehen, alles andere als Rückzug und Flucht aus der erbärmlichen sozialen Wirklichkeit in die reine Innerlichkeit und den apolitischen Tempelbezirk des Schönen und der Kunst. Die objektive soziale Realität der schönen Kunst ist politisch deduziert. Soll der Übergang vom Notzum Vernunftstaat nicht in einem Zirkel seiner Bedingungsfolge von Anfang an steckenbleiben, dann muß es das Organ der Kunst und der ästhetischen Erziehung geben. Soll politische Vermittlung dialektisch geschehen, dann sollen auch Schönheit und ästhetische Kultur sein.

3. Kapitel: Der ,transzendentale Weg'. Vorzeichnung einer Methode der reinen ästhetischen Vernunft Es ist eine bedeutungsvolle Anmerkung Kants, welche den ausgezeichneten Zusammenhang zwischen Schönheit und Menschheit konstatiert. Sie stellt ihn anhand der kritischen Scheidung von angenehm, gut und schön

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fest. Den Bezug zum Angenehmen teilt der Mensch mit dem sinnlich empfindenden Tier. Die Achtung vor dem Guten teilt er mit (problematisch, d. h. für denkmöglich zu haltenden) Geistern, also mit allen von Antrieben der Sinnlichkeit freien Vernunftwesen. Schönheit dagegen ist nur für den Menschen. „Annehmlichkeit gilt auch für vernunftlose Thiere; Schönheit nur für Menschen, d. i. thierische, aber doch vernünftige Wesen, aber auch nicht bloß als solche (ζ. B. Geister), sondern zugleich als thierische; das Gute ist für jedes vernünftige Wesen überhaupt" (K. d. U. § 5; V, 210). Das Schöne betrifft ausschließlich den Menschen. „Dein Wissen theilest du mit vorgezogenen Geistern Die Kunst, o Mensch, hast du allein" Die Künstler, 1789; Werke II, 677. Es geht den Menschen gerade in seiner doppelten und zwiespältigen Natur an. Schönes leuchtet überhaupt nur einem Wesen auf, das zugleich sinnen- und ideenhaft zu schauen vermag und dem eine Verhaltenheit eignet, mit den Interessen von sinnlicher Begierde und sittlichem Wollen zurückzuhalten. Gleichsam als Ausgleich für die dämonische Zweigeteiltheit in Sinnlichkeit und Vernunft findet sich der Mensch durch die Schönheit als dem sinnlichen Scheinen der Idee begünstigt. Darin erfüllt sich spezifisch menschliches Leben. Eine Nachlaßreflexion Kants nimmt die Abhebung einer tierischen, geistigen und menschlichen Lebensweise vor, die der Mensch allesamt zu leben vermöchte. Die Unterschiede zeigen sich im ästhetischen Verhalten. Durch die erste Lebensform sind wir „des Vergnügens und des Schmertzens", durch die zweite „des Wohlgefallens durch Vernunft", d. h. des selbsterwirkten Gefühls der Achtung, durch die dritte „des Wohlgefallens durch sinnliche Urtheilskraft (Geschmack)" fähig. Auf dem Vermögen reiner ästhetischer Urteilskraft beruht das eigentümlich menschliche Leben des Menschen (Refi. 823; XV, 367). Kants Anmerkung ist vorläufig. Sie läuft in die Korrelation von Schönheit und Menschheit vor, indem sie bemerkt: Schönheit ist nur da, w o der Mensch ganz Mensch ist, nämlich in der Einheit und im freien Zusammenspiel seiner gegensätzlichen sinnlichen und vernünftigen Kräfte. Der ästhetische Humanismus bringt die Wechselseitigkeit dieses Bezuges grundsätzlich zum Austrag und entwickelt den Schlußsatz: Der Mensch ist nur da ganz, wo er spielt, nämlich mit der Schönheit65. Ohne Eingehen 6ΐ

Das Phänomen des unlösbaren Wechselbezugs von Kunst und Mensch stellt Goethe in „Der Sammler und die Seinigen" - an dessen Konzeption Schiller bekanntlich großen

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auf das Schöne bliebe der Mensch unaufhebbar zerteilt, seine Einheit ein Geheimnis und sein politisch-gesellschaftlicher Zustand ein katastrophaler Kampf der Gegensätze. Dieser Ansatz zeichnet den Weg für die Auflösung des .ästhetischen Problems' und damit den Umweg für die Lösung des .politischen Problems in der Erfahrung' vor. Es hatte sich ja ergeben: Unausweichlich stößt die Methode, politische Gegensätze dialektisch zu heben, auf den Verfassungsstreit der Seele. Und die Antagonismen der seelischen Verfassung führen auf das ästhetische Problem in der Fragestellung: Was sind Schönheit und Kunst, daß sie die widerspruchsvolle Verfassung von Seele und Staat zu einigen vermöchten? Was ist der Mensch, daß er im Spiel mit dem Schönen seine eigentümlichste Freiheit findet? In dieser Zuspitzung gewinnen die offenkundige Zusammengehörigkeit von Menschheit und Schönheit prinzipielles Gewicht und der ästhetische Humanismus sein ursprüngliches Problemfeld. Die thematische Untersuchung des Menschen in seiner zerteilten und widersprüchlichen Natur und die Suche nach seiner Einheit und Ganzheit werden auf die Schönheit als die alles vermittelnde Mitte treffen. So kann ein ästhetischer Humanismus, indem er sich auf die gegensätzliche Verfassung des Menschseins einläßt, zugleich Aufschluß über Sein und Verbindlichkeit des Schönen erbringen. Solche Erschließung geschieht auf „transcendentalem Weg" oder auf dem „Wege der Abstraktion" (XX, 341. 340). Die Methode übersteigt den Kreis der Erscheinungen, um unter ,Wegwerfung aller zufälligen Schranken' auf diejenigen Bedingungen einzugehen, die notwendig sind, damit der Mensch ganz und wesentlich Mensch sein kann. Und nun läßt sich der Ausgang dieses methodischen Prozesses antizipieren. Wird von den bloß zufälligen Bedingungen, die den Menschen bestimmen, abstrahiert — etwa von Zufälligkeiten der Geburt und des Standes, von Glücksgaben wie Aussehen, Reichtum, Macht, von den Talenten des Geistes, Eigenschaften des Temperaments usw. —, dann bleibt eine zweifache, notwendige Bedingtheit, eine antagonistische Zweiheit übrig; denn auch der ästhetische Humanismus orientiert sich fraglos am Selbstbewußtsein als dem Subjekt aller menschlichen Verhältnisse. Im Lichte der Widersprüchlichkeit von Selbst- und Weltbewußtsein, von absolutem und endlichem Subjekt, von theoretischer und Anteil hatte — so fest: „Die Natur, will ich einmal zugeben, lasse sich unabhängig von dem Menschen denken, die Kunst bezieht sich notwendig auf denselben: denn die Kunst ist nur durch den Menschen und für ihn" (Werke, Berlin o. J., XXVIII, 135).

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praktischer Vernunft lassen sich phänomengerecht Gegensätze herausgliedern, die untrennbar zum Menschen als Menschen gehören. Schillers transzendentaler Weg ist daher eine Methode, welche dieser Widersprüchlichkeit analytisch nachgeht, um die apriorischen Bedingungen ihrer Synthesis entdecken zu können. Und diese analytisch-synthetische Forschungsmethode entspricht dem durch die Wissenschaftslehre entdeckten dialektischen Leben des Selbstbewußtseins. Ein Humanismus konzentriert sich dabei auf das konstituierende Selbstbewußtsein des Menschen, sofern der Mensch eben durch den Bezug zur Schönheit ausgezeichnet ist. Ziel und Ende dieses Verfahrens liegen mithin darin, die reine, alle Erfahrung von Einzelschönem maßgeblich leitende, .platonische' Idee der Schönheit zu rechtfertigen. Solche Deduktion im Sinne der quaestio iuris wäre geglückt, wenn der reine Vernunftbegriff der Schönheit sich als die letzte, grundgebende Bedingung nachweisen ließe, durch die der Mensch ganz das ist, was er sein soll, nämlich lebendige und freie Einheit seiner antagonistischen Gegensätze 6 6 . Die so angelegte Verschränkung zweier reiner Vernunftbegriffe bildet keineswegs einen bewußt aufgestellten Zirkel, in dem die Schönheit aus der Menschheit und die Menschheit aus der Schönheit gefolgert und so beide von Grund auf verfehlt werden, so daß das Ende der Ableitung nichts mehr mit dem Ziel, nämlich der Ermöglichung wahrer politischer Freiheit, zu tun hätte 6 7 . Dagegen ist von vornherein in Anschlag zu 66

Wenn Kant das Ästhetische als ein Mittleres zwischen Theoretischem und Praktischem fordert, so hat Schiller es als dynamischen Prozeß in der Entwicklung des Geistes einsichtig gemacht. „Damit aber steht Schiller genau auf dem Punkte, an welchem die transzendentale Methode Kants in die dialektische Methode seiner Nachfolger überzugehen beginnt. Wie bedeutsam Schillers Schriften für diesen Ubergang und wie entscheidend sie damit für die gesamte Ausbildung und Entwicklung der Nachkantischen Systeme geworden sind, das hat die Geschichte der Philosophie bisher kaum gewürdigt" (E. Cassirer, Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften. In: Idee und Gestalt, Darmstadt 1973. S. 98). Dieses Urteil ist auch heute noch gültig. Cassirers geistvoller Versuch, die Eigenart von Schillers Dialektik — das Medium der künstlerischen Gestaltung, die Dramatisierung der Fundamentalgegensätze zu objektivdramatischen Gestalten usw. — aus seiner Persönlichkeit und der subjektiv-dichterischen Erfahrung zu profilieren, trifft jedoch nur Akzidentelles. Schillers dialektische Methode mag .Ausdruck seiner persönlichen und lebendigen Denkform' sein, substantiell ist sie der Ausdruck einer sachlichen Aporie in dem von Kant und Fichte eröffneten dialektischen Selbstverständnis des Menschen.

67

Zum polemischen Nachweis eines Zirkels in der .Ideenkonstruktion' und über die Verkehrung der geschichts- und staatsphilosophischen Hypothesen in den zentralen spekulativen und metaphysischen Erörterungen vgl. K. Hamburger, Schillers ästhetisches Denken. Nachwort zu Schiller, Uber die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart 1965. S. 140ff.

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bringen: Der methodische Ansatz, der die Korrelation von Mensch- und Schönsein thematisiert, entspringt gerade aus einem Zirkel, der die rechte Vermittlung von politischem Ideal und Wirklichkeit bedroht. Aus dessen Bedenken resultiert die grundsätzliche Frage nach dem Bezug von Kunst und Mensch. Dessen transzendental-dialektische Entfaltung beginnt folgerichtig mit einer Analytik der Gegensätze im Wesen des Menschen; denn zuerst müssen Kraft und Ausmaß der Widersprüchlichkeit aufgedeckt werden, und diese wirkt eben im Leben menschlichen Selbstbewußtseins. Erst von hier aus können die Art und das Vermögen der Einheit bemessen werden. Darum zielt die Methode eindeutig auf den Nachweis der Schönheit. Sie steht als das Sein im Blick, das dem zwiespältigen menschlichen Selbst Einheit verspricht. Deren Vorbegriff ist ja die Idee einer Ganzheit, in welcher der Mensch unzerteilt Mensch sein kann. „Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich aufzeigen ließe, müßte also — weil er aus keinem wirklichen Falle geschöpft werden kann, vielmehr unser Urtheil über jeden wirklichen Fall erst berichtigt und leitet, — auf dem Wege der Abstraktion gesucht, und schon aus der Möglichkeit der sinnlichvernünftigen Natur gefolgert werden können: mit einem Wort: die Schönheit müßte sich als eine nothwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen. Zu dem reinen Begriff der Menschheit müssen wir uns also nunmehr erheben" (ÄEM, 10. Brief; XX, 340).

4. Kapitel: Person — Zustand. Die Humanismusanforderung der Wesensverwirklichung Humanismus im weitesten Sinne bedeutet den Vorgang, daß der reine Begriff der Menschheit in die Mitte des Seienden rückt. Als alles vermittelnde Mitte erwirbt das Sein des Menschen eine neue Wesenshoheit und eigentümliche Würde. Deren Titel heißt Person. In diesem neuzeitlichen Grundwort klingt nicht mehr die Wurzelbedeutung von ,persona' als Maske des Schauspielers an, durch die hindurch die Sage des Weltspiels tönt. Das humanistische Vorverständnis versteht den Menschen nicht als Maske des Seins. Und es bezieht sich auch nicht — nicht einmal analogice — auf die christlich-theologische Tradition, die im Begriff ,persona* — ύπόστασις die Glaubensgeschehnisse der Trinität (Substanz-Dreiheit in einfacher Lebenseinheit) und Inkarnation (,hypostatische' Union von endlich-menschlichem und absolut-göttlichem Sein) zu fassen suchte. Person bedeutet neuzeitlich das Selbstsein des Menschen, das sich im

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,Personalpronomen* Ich und in der Interpersonalität des Du und Wir ausspricht und das in Bezügen zur Um- und Mitwelt sein Wesen verwirklichen will. Die Sorge des Humanismus, daß der Mensch frei werde für seine Menschlichkeit, artikuliert sich zum Streben, die Persönlichkeit harmonisch auszubilden und universal zu entfalten. Daher ist nichts so gängig geworden wie die Vorstellung von der Persönlichkeit als ,dem höchsten Glück der Erdenkinder'68 und wie das Postulat der Selbstverwirklichung. Aber solche Rede- und Denkweisen bleiben oberflächlich und unscharf, solange sie nicht die metaphysische Dimension einhalten, aus der sie entstammen. Und in der Tat werden die ontologischen Grundbezüge von Person, Wesen, Selbst, Wirklichkeit usf. im humanistischen Personalismus (und im pauschalen marxistisch-leninistischen Antipersonalismus) kaum mehr bedacht. Der Ansatz des Menschen als Person und die Rede von der Wesensverwirklichung als dem eigentlichen Werk des Menschen haben im Denken Schillers ihren ersten systematischen Aufschluß erhalten. Sie gewinnen im ersten Schritt der antagonistischen Dialektik ein angemessenes Fundament. Dieser deckt das Wesen der Person in seiner dialektischen Funktion innerhalb der Grundbedingungen des Selbstbewußtseins und seiner zerteilten Einheit auf. Natürlich wird dabei die idealistische Prägung des Personbegriffs nicht übersprungen. Kant hat den Begriff aus der Gerichtssprache übernommen. Bekanntlich benennt das römische Rechtswesen mit .persona' den Rollen-Träger von Rechtsbezügen vor Gericht und grenzt den Terminus gegen das rechtlose Subjekt, die Sache (res corporalis), ab. Darum kennzeichnet der Titel einer Rechtsperson zugleich den Stand des Freien im Gegensatz zum Sklaven als einer Sache69. Von daher versteht auch Kant unter Person vor allem ein Wesen, das Rechte hat. Im Horizonte philosophischer Reflexion aber erwächst darüber hinaus die dreifache Bedeutung von persona psychologica, persona transcendentalis,

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Goethisch bedeutungsvoll ist, daß die .Rede vom höchsten Glück der Erdenkinder' im Buch Suleika des West-östlichen Diwan dialogisch als Gemeinplatz ironisiert und die Lebensweise einer Anmessung an das unverlierbare, bleibende Selbst in eine Zuständlichkeit hinübergespielt wird, in der sich der Mensch entäußert und an den Anderen verschwendet. Vgl. die Gegenstrophe ,Hatem' zur Konfession: „Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit" — „Kann wohl sein! so wird gemeint; Doch ich bin auf andrer Spur: Alles Erdenglück vereinet find' ich in Suleika nur" — usw. bis zur dialektischen Metamorphose der Liebenden. Immer noch lehrreich ist der Beitrag von A. Trendelenburg zur Geschichte des Wortes Person. In: Kantstudien, Bd. 13 (1908) 1-17.

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persona moralis. Person im psychologischen Verstände („psychologische Persönlichkeit") meint das Vermögen, sich der numerischen Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden (vgl. 3. Paralogismus; K. d. r. V. — A 361; MS Einleitung IV). „Der Begriff der Persönlichkeit, sofern er bloß transzendental ist", bedeutet die „Einheit des Subjekts, das uns übrigens unbekannt ist, in dessen Bestimmungen aber eine durchgängige Verknüpfung durch Apperzeption ist" (K. d. r. V. — A 365). Vorzüglich aber heißt das moralische Ich Person im Kantischen Verstände. Das moralische Personsein kennzeichnet ein Wesen, dessen Natur sich schon als Zweck an sich selbst auszeichnet und darüber erheben sollte, bloß als Mittel gebraucht zu werden (vgl. GMS, 2. Abschnitt u. ö.). So bezeichnet Person nunmehr das Selbst des Menschen im dreifachen Sinne zeitlicher Selbstwahrnehmung, reinen Selbstbewußtseins und freier Selbstbestimmung (vgl. Anthropologie, § 1). In Schillers transzendentalem Weg kann der Komplex der psychologischen Person nicht auftreten; denn eine transzendentale Methode muß den Kreis der Erfahrung („da uns die Erfahrung nur einzelne Zustände einzelner Menschen, aber niemals die Menschheit zeigt" - ÄEM, 10. Brief; XX, 340) übersteigen. Wohl aber geht sie vom transzendentalen Sinn der Person, der sich in dem „ewig beharrenden ICH und nur in diesem offenbart" (ÄEM, 11. Brief; XX, 342) aus, um ihre moralische Grundbedeutung als das „freye Principium im Menschen" (vgl. AuW; XX, 263) darzutun. „Unsre wahre Person", heißt es in ,Vom Erhabenen', ist „unser moralisches Selbst" (XX, 185). Das eigentlich Bewegende der Schillerschen Begriffsfindung aber liegt darin, daß Person in wechselseitigen Zusammenhang mit ihrem Gegensatz versetzt und als dialektischer Begriff verstanden wird. Darum bleibt ihre Erörterung einer phänomenologischen Fassung der Personalität — etwa bei Husserl und Scheler — überlegen; denn undialektische Deskription kommt im Grunde über eine bloß negative Auslegung nicht hinaus, wonach Person alles ist, nur kein Ding, keine Substanz, kein Gegenstand. Recht besehen, stellt sich mit der Einheit der Person eine gegensätzliche Zweiheit ein, ohne die der Mensch nicht Mensch zu sein vermöchte. Der Mensch „ist nicht blos Person überhaupt, sondern Person, die sich in einem bestimmten Zustand befindet" (ÄEM, 11. Brief; XX, 342). Eine antinomische Zweiseitigkeit, nach welcher jedes Ich zugleich Person und Sache ist, haben schon die ,Augustenburger Briefe' angelegt. „Meine Vernunftbestimmung personifiziert mich, da die Natur mich blos als eine Sache, und als ihr Mittel behandelt" (Jonas; 111,383). Die Analytik des ästhe-

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tischen Humanismus gliedert nun die Hauptantithesis menschlichen Seins aus dem Vorblick auf die Struktur endlichen Selbstbewußtseins heraus. Person und Zustand artikulieren „das Selbst und seine Bestimmungen" (XX, 341). Sie stellen den Doppelbezug des Cogito zur Diskussion, ineins wechselndes Bewußtsein der gegenständlichen Welt (Zustand) und ständigbeständigendes Bewußtsein seiner selbst (Person) zu sein. Von dieser Zweiheit kann die transzendentale Abstraktion nicht absehen. Der anfängliche Anblick menschlicher Verfassung bleibt der einer untilgbaren Widersprüchlichkeit, einfach darum, weil der Mensch endlichen und nicht göttlichen Wesens ist. Menschliche Endlichkeit hat die Signatur eines Bewußtseinslebens, worin die Selbigkeit der Person (des beharrenden Selbst) nur in und durch die Entgegensetzung wechselnder Weltzustände gedeiht und das „eben so wenig ohne jene Entgegensetzung im Gemüthe als ohne die absolute Einheit desselben möglich wäre" (ÄEM, 19. Brief; XX, 371). Die abgründige Verschiedenheit von Person und Zustand scheidet den Menschen von der Gottheit, dem notwendigen Wesen' (ens necessarium) qua .absolutem Subjekt' (XX, 341). Im Begriffe Gottes oder im göttlichen Begriff sind das Selbst und seine Bestimmungen, Person und Zustand, identisch zu denken, letztlich darum, weil ihm kein Werden und keine Zeitlichkeit zuzusprechen sind, so daß das Vermögen der Person sich immer schon notwendig in der Wirklichkeit seiner Bestimmungen offenbart (,verkündigt'). Wenn im endlichen Wesen dagegen Person und Zustand „ewig Zwey" bleiben, wie steht es dann mit der geforderten Ganzheit und Universalität des Menschen? Die Frage nach Einheit und Zusammenhang der unaufhebbaren Zweiheit stellt das Synthetisieren vor eine Aporie. Die naheliegende Auskunft wäre doch: Beide Glieder beziehen sich aufeinander als Grund und Folge. Das aber ist unmöglich. Die beharrende Person zum Grunde des Zustandes einsetzen, hieße, den Zustand in die Beharrung überführen; dann stünde unser Welt-Vorstellen still. Den Zustand als Bestimmungsgrund der Person durchsetzen, hieße, die Person in Wechsel überführen; dann wäre die Identität der Selbst-Vorstellung aufgelöst. Das Welt-Vorstellen ist eben nicht der Grund unseres Selbstbewußtseins, und unser Bei-der-WeltSein ist nicht die Folge des Selbstseins. Andererseits können die zwei maßgeblichen Bestimmungen nicht einfach grundlos sein, sofern Sein — seit Leibnizens Heraushebung des Satzes vom Grunde — besagt, hinreichend begründet sein. Also muß jedes Glied den Grund in sich selbst haben. Durch dessen Heraushebung erst kommt die Antithetik der Zweiheit von Person und Zustand auf den Grund.

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Als Person gründet der Mensch in der Freiheit, als Zustand in der Zeit. Das Sein der Person war ja als bleibendes und ständiges Anwesen vorverstanden. Das aber leidet kein Anderswerden durch fremde Bestimmungen. Wird der Mensch als beharrendes Selbst nicht durch anderes, dann ist er durch sich selbst bestimmt. Der Grund für die Ständigkeit des Ich ist seine Selbständigkeit und Freiheit. Die transzendentale Person wurzelt in der moralischen. Die Zuständlichkeit des Menschen dagegen gründet in der Zeit. Der je bestimmte Zustand jeweiliger Weltvorstellung besteht und begibt sich in einem aufeinander folgenden Erfolgen. Die Zeit als das ursprüngliche Nacheinander von Jetzten ist das Folgen-Lassende, das alles Werden und den Wechsel der Bestimmungen allererst eröffnet. So gedacht, ist die Aufeinanderfolge des Bewußtseinsstrebens in der Jetzt-Folge der Zeit fundiert. „Die Zeit ist die Bedingung alles Werdens: ist ein identischer Satz, denn er sagt nichts anders, als: die Folge ist die Bedingung, daß etwas erfolgt" (ÄEM, 11. Brief; XX, 342). Der je bestimmte Weltbezug des Menschen braucht Zeit. „Ohne die Zeit . . . würde er nie ein bestimmtes Wesen seyn" (XX, 342). Somit stößt die Ergründung von Person und Zustand auf zwei Grundmächte menschlicher Existenz, Freiheit und Zeit. Der Mensch ist das doppelgebürtige Wesen von Zeitlichkeit und Freiheit und durch diese zweifache Herkunft widerspruchsvoll; denn Freiheit und Selbstanfang schließen eben ursprünglich die Abfolge der Zeit, die Zeit und ihre Folgen den Selbstanfang der Freiheit aus. Damit aber wird die Frage nach der lösenden Synthesis der Hauptantithesis von Person und Zustand noch dringlicher. Wie schließt sich dieser fundamentale Gegensatz zur bruchlosen Einheit unserer sinnlich-vernünftigen Natur zusammen? Die beziehungsvolle Antwort lautet: Die Einheit von Freiheit und Zeit, die Koinzidenz von Person und Zustand, ist dem Menschen nicht gegeben, wohl aber aufgegeben. Die geeinte Menschheit ist nicht wirklich, sie soll sein. Die Bestimmung des Menschen ist eine Aufgabe. Diese läßt sich jetzt aus dem aufzuhebenden Gegensatz ontologisch angemessen formulieren. Die Anforderung, die an den Menschen als Menschen ergeht, lautet: Verwirkliche dein Wesen! Freilich wird sich ebenso unübersehbar zeigen: Diese Anforderung erhebt einen doppelten Anspruch, sie ist in sich selbst antagonistisch. Das fragwürdige, gespaltene Verhältnis von Person und Zustand wird seinsmäßig einsichtiger in den überlieferten Bezügen von Wesen (Möglichkeit) und Wirklichkeit, dementsprechend von Form und Materie. Dabei läßt sich die ontologische Zuweisung vom Blick auf das Vermögen des

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menschlichen Selbst leiten. Dessen .Wesen' ist offenkundig das in der Freiheit gründende Personsein. Es ist Form, sofern forma — είδος seit alters Beständigsein und Beharrung bedeutet. Form und Wesen des menschlichen Selbst aber haben die Seinsweise der Möglichkeit und Anlage im Sinne von Vermögen und Kraft. (An diesem Punkte scheidet sich der neuzeitliche Antagonismus des Selbstbewußtseins von der Aristotelischen Analogie der Physis, die Form und Wesen in jeglicher Hinsicht aus dem Modus des Wirklichseins auslegt.) Auf Grund seiner Selbstbezüglichkeit und Freiheit ist das Menschwesen dazu vermögend und veranlagt, sich selbst in der Welt zu äußern und im Ergreifen von Welt Wirklichkeit zu gewinnen. Das aber will zugleich besagen: Bloß als Person, allein in seinem Freiheitsvermögen, ist der Mensch leere Form und unerfüllte Wesensmöglichkeit. Die Wirklichkeit des Menschen liegt in seiner zeitbestimmten Zuständlichkeit. Zustand hat den Modalcharakter der Wirklichkeit, insofern ihm zukommt, Materie zu sein. Materie oder Realität bedeutet dabei den je und je wechselnden Sachgehalt (realitas), den das menschlich-endliche Bewußtsein nur auf dem Wege der Wahrnehmung erhält. Das Selbstbewußtsein kann mithin wirklich heißen, wenn es sich auf die Inhalte der sinnlich andrängenden Welt einläßt. Das aber will einschränkend sagen: Bloß als Zustand, allein in der materiellen Wirklichkeit der Zeiten, ist der Mensch „noch weiter nichts als Welt, wenn wir unter diesem Namen bloß den formlosen Inhalt der Zeit verstehen" ( X X , 343). Diese eigentümliche, aber durchaus präzise ontologische Verschränkung von Person und Zustand bringt den antagonistischen Charakter menschlicher Existenz an den Tag. Sie hellt auf, wie das Dasein durch Ausweitung und Uberspannung eines seiner gegensätzlichen Grundmächte zweifach bedroht ist. Form und Person sind leere Form und bloße Möglichkeit. Im Modus des Möglichseins bleibt der Mensch ganz bei sich selbst. Hält er sich ausschließlich an die Wahrung seiner Persönlichkeit, dann hält er mit seinem Wesen zurück und läßt sich nicht auf die wechselnden Zeitumstände und das Zeitgetriebe ein. So aber entgleiten ihm die Zeit, seine Welt und Wirklichkeit. Er bleibt leeres, nie sich selbst wagendes, aus sich heraustretendes Vermögen. Die weise Epoché, die sich niemals den Bestimmungen der kontingenten Zeit ausliefert, vergeht mit der Zeit zur Unbestimmtheit und Unprofiliertheit eines unerfüllten Daseins in seinen leer gebliebenen Möglichkeiten. Umgekehrt droht der überspannte Zustand, das rastlose Aufgehen in Zeit und Welt, wesenlose

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Wirklichkeit zu werden. In solcher Verwirklichung zerstreut sich der Mensch mit der Zeit gänzlich. Er verwirklicht immerzu die sich je zufällig aufdrängenden Möglichkeiten und ergreift wahllos seine Chance, ohne sich je zu seinem überzeitlichen Wesen und ewigen Selbst zu entscheiden. So aber verliert sich im ruhelosen Ergreifen der wirklichen Welt gerade die eigentliche und wesenhafte Wirklichkeit. Der Antagonismus des Daseins hat zwei Fälle. Wird im ersten die Wahrung des Wesens durch Weltverlust erkauft, so bedeutet im zweiten Falle der Weltgewinn den Verlust der Person und des Wesens. Aus der antagonistischen Ursituation erwächst dem Menschen die Doppelaufgabe seiner Wesensverwirklichung. „Um also nicht bloß Welt zu seyn, muß er der Materie Form ertheilen; um nicht bloß Form zu seyn, muß er der Anlage, die er in sich trägt, Wirklichkeit geben" (ÄEM, 11. Brief; XX, 343). Freilich ist mit dieser Konzeption menschlicher Aufgabe und Bestimmung für ihre Lösung nichts getan. Genauer besehen, liegen in dieser Aufgabe zwei entgegengesetzte Anforderungen, die einander widersprechen. Vorzüglich kommt das in den entgegengesetzten Forderungen heraus, die an das Verhalten gegenüber der Zeit ergehen. Einerseits soll der Mensch sein Wesen verwirklichen, also die in ihm angelegte Form zur Erscheinung bringen. Dies fordert das eine Fundamentalgesetz vom Menschen, das auf absolute Realität dringt, nämlich alles zur Welt zu machen, was bloß Form ist. „Er verwirklichet die Form, wenn er die Zeit erschafft" (XX, 343). Zeit sein lassen, besagt für das Ich, sich auf das in der Jetztfolge an- und abfließende Mannigfaltige der Weltinhalte einlassen. Andererseits soll der Mensch sein Wesen verwirklichen, also die äußere Materie formieren. Dies verlangt das andere Fundamentalgesetz von ihm, das auf absolute Formalität drängt. „Er formt die Materie, wenn er die Zeit wieder aufhebt" (XX, 343). Die Zeit aufheben, heißt für den Menschen, die Jetztfolge-Zeit in Allzeitlichkeit zu verwandeln. Das geschieht, indem der Mensch jede seiner Äußerungen in der Zeit zum Gesetz für alle Zeit erhebt. Mithin sollte der Mensch, um sein Wesen zu verwirklichen, beides: Zeit erschaffen und vernichten. Darin sticht hervor, wie widerspruchsvoll die einfache Forderung nach Selbstverwirklichung beschaffen ist. Überdies kommt in ihr ein zweiter Antagonismus, die Gefahr von Hybris und Verzweiflung, zum Vorschein. Er tritt als Widerspruch zwischen menschlicher Kreatürlichkeit und Gottgleichheit auf, und zwar im Gefolge der Humanismus-Frage: Legt sich der Mensch dadurch, daß er sich in die Mitte des Seienden stellt, zugleich als das höchste Seiende aus,

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oder kommt ihm dadurch seine Endlichkeit und Ohnmacht zu Bewußtsein? Nun drückt sich die Anforderung, die an den Menschen als solchen ergeht, in der Formel aus: „Er soll alles innre veräußern und alles äussere formen" (XX, 344). Eine vollständige und universale Veräußerung des Inneren und Erinnerung des Äußeren als Verwirklichung des Wesens, das ist doch gerade der Lebensvollzug der Gottheit in Schillers Grenzbegriff des »absoluten Subjekts'. So scheint sich im System des ästhetischen Humanismus die überschwengliche Behauptung des Zwanzigjährigen zu festigen: „Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen" (Philos, d. Physiol.; X X , 10). Geschähe die allseitige Veräußerung des Inneren notwendig und unmittelbar als Verwirklichung des Selbst im universalen Aneignen des Äußeren, dann wäre der Mensch nicht etwa nur imago Dei im christlich-mittelalterlichen Analogieverständnis, er wäre Gott wahrhaft gleich. Indessen verläuft der menschliche Weg von Entäußerung, Erinnerung und Selbstverwirklichung durch den unaufhebbaren Widerspruch. Seine freie, geistvolle Persönlichkeit lebt in und aus der Entgegensetzung zum Zustand, zu Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Zeitlichkeit und Tod. Und solcher Widerspruch birgt den Stachel der Verzweiflung und die Gefahr menschlicher Verunglückung. Der ungeheure Kontrast zwischen souveräner Gottgleichheit und kleinlichster Endlichkeit bildet für Schiller von Anfang an den Gegensatz, der das Geglücktsein des Menschen gefährdet. So lautet die Urklage des Julius in den am Anfang der achtziger Jahre konzipierten philosophischen Briefen': „Unglückseliger Widerspruch der Natur — dieser freie emporstrebende Geist ist in das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten, mit seinen kleinen Bedürfnissen vermengt, an seine kleinen Schicksale angejocht — dieser Gott ist in eine Welt von Würmern verwiesen" (XX, 112). Es ist die Widersprüchlichkeit, die dem Menschen die unvermittelte, gegensatzlose ontologische Koinzidenz von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit, d. h. für Schiller: das Gepräge göttlichen Seins, verwehrt. Immer schärfer wird die nachfolgende Dialektik der Existenz die verzweifelte Situation erschließen, in welcher der Mensch gerade dadurch, daß er rückhaltlos seiner natürlichen Tendenz folgt, im Prozeß von Veräußerung und Wiederaneignung das Wesen zu verwirklichen, sein Selbst entwirklicht und sich seiner Menschheit entfremdet. Der ästhetische Humanismus sucht dieser bedenklichen Lage Rechnung zu tragen. „ D i e Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwiedersprechlich in seiner Persönlichkeit in sich. Der Weg zu der Gottheit, wenn man einen Weg nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm auf-

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gethan in den Sinnen" (ÄEM, 11. Brief; XX,343) 7 0 . Das Göttliche im Menschen meint hierbei nicht die Unbedingtheit des moralischen Willens, sondern das Vermögen universaler Selbstentäußerung und Weltaneignung. Das Menschliche im Menschen liegt dabei im Unvermögen, diese seine Möglichkeit ganz erfüllen zu können. Will der Humanismus bei Besinnung bleiben, dann muß er die Aufgabe der menschlichen Bestimmung an der Schranke der Gottheit abgrenzen. „Beyde Aufgaben, in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu dem Begriff der Gottheit zurücke" (ÄEM, 11. Brief; XX, 344). Die Angleichung des Menschen an Gott bleibt stets auf dem Wege und unvermeidlich in Gefahr, dem tragischen Widerstreit menschlicher Grundkräfte zu erliegen. Der ästhetische Humanismus ist der kritische Prozeß, in dem der Mensch in die Mitte des Seienden rückt, ohne sich als das höchste Seiende setzen zu können. Er bildet den einzigartigen Versuch, die jederzeit aufbrechende Zerstückung der Menschheit in der menschlichsten aller Relationen, im Bezug von Mensch und Kunst, zu einer entschränkten, göttergleichen Einheit aufzuheben. Der Humanismus wird ästhetisch, sofern er im Felde der Anschauung (αϊσθησις) durch das Medium des Geschmacks den Wesensbezug zum Schönen erschließt und so eine spekulative Vergötterung des Endlichen hindert. Darum wird der Geschmack, d. h. das Vermögen, Schönes schön zu finden, zum eigentlichen Organ der Humanität. In diesem Zusammenhange notiert die Michaelis-Nachschrift der Jenaer Ästhetik-Vorlesung von 1792: „Der Geschmack bringt die obern und niedern Gemüthskräfte in Vereinigung; er ruft die philosophierende Vernunft von Grübeleien zur Anschauung zurück; er giebt Humanität" (XXI, 69). 70

Daß der Widerspruch von Vergöttlichung und Tod die thematische Einheit von Schillers Werk ausmacht, kann die Untersuchung von G. Kaiser im Hinblick auf das Organisationsprinzip der , Anthologie auf das Jahr 1782' und auf das Drama von den ,Räubern' bis zum .Wallenstein' — das eigentliche Feld der dramatisch gespannten Pole von Gottgleichheit und Tod - eindrucksvoll belegen (Vergötterung und Tod. Die thematische Einheit von Schillers Werk. Stuttgart 1967). Bedenkenswert bleibt, daß dem Weg zur Gottheit in den .Ästhetischen Briefen* nicht Tod und Sterblichkeit des Daseins entgegenwirken. Diese bilden in einer Analyse des Menschen kein Thema, in welcher Kants große Idee intelligibler Selbstbestimmung und Fichtes Kategorie der Wechselbestimmung zwischen Ich und Nicht-Ich vorherrschen. Das Sein zum Tode kann ein Selbstbewußtsein nicht erschüttern, das sich seines ewigen, intelligiblen Wesens und der Einheit im Gegensatze sicher ist. Erst in der Dimension des Erhabenen übernimmt die Gewalt des Todes die Rolle eines Widerparts gegen die Macht menschlichen Willens. Und es bedeutet vollends die tragische Auflösung der ästhetischen Versöhnung, daß auch das zeitlose und freie Dasein des Schönen der Vergänglichkeit der Zeit und damit dem Tode anheimfallen muß. Das hat Schiller in der Nänie gedichtet (vgl. dazu B. von Wiese, Die Utopie des Ästhetischen bei Schiller. In: Zwischen Utopie und Wirklichkeit. Düsseldorf 1963. S. 93).

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5. Kapitel: Stofftrieb — Formtñeb: tragischer Antagonismus Du kannst, denn Du sollst. Dem Gebote vernünftigen Sollens entspricht der Stand des Könnens. Nun impliziert das Sollensgebot des Humanismus aber „zwey entgegengesetzte Anforderungen an den Menschen" (XX, 344). Wie kann ihnen entsprochen werden, ohne daß dadurch gerade die aufgegebene Einheit der Menschheit im Streite der Forderungen verloren geht? Um das zweifache Soll erfüllen zu können, findet sich der Mensch durch zwei Kräfte in Stand gesetzt. Schiller nennt sie Stofftrieb und Formtrieb. Trieb besagt dabei generell den aus der Natur des Menschen stammenden Antrieb zur Wesensverwirklichung. Der Terminus beschränkt sich also nicht auf das unfreie, unmittelbar bestimmte, niedere Begehrungsvermögen, nach dem sich der Mensch als Naturwesen verhält und über dessen Schranke er durch Reflexion hinausgeht. Trieb meint den aus dem Widerspruch des ganzen Menschseins geborenen Drang, den Gegensatz von Wesen und Wirklichkeit, an dem das Ich leidet, auszugleichen. Trieb überhaupt (appetitus) ist also, dialektisch gesehen, nicht einfach der aus sich drängende Drang des mit seiner Abstraktheit unzufriedenen Ich, tätig zu werden und sich zu objektivieren, er ist das Streben, den fundamentalen Widerspruch zwischen Person und Zustand, Form und Materie, Selbst und Welt zu vermitteln und aufzuheben. Nun steckt das Problem dieses Einheitsstrebens offenkundig in der Zweiheit der Triebe. Darum hat eine philosophische Trieb-Lehre vor allem drei Fragen aufzuklären: Was ist und was vermag der Stofftrieb? Was ist und was vermag der Formtrieb? Was ist und was vermag die Zweiheit dieser Triebe? Der Stofftrieb oder sinnliche Trieb (in der Horen-Fassung: Sachtrieb) entspringt aus der sinnlichen Natur des Menschen. Er ist derjenige Antrieb zur Wesensverwirklichung, der auf Verwirklichung und auf Welterfüllung des menschlichen Zustandes dringt. Das spezifische Vermögen dieses Triebes ergibt sich daraus, was er dabei vermag. Der Stofftrieb vermag, den Menschen „in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen" (ÄEM, 12. Brief; XX,344). Das klingt befremdlich. Inwiefern kann der Mensch zur Materie gemacht werden? Die Antwort muß im Blick behalten, daß der Mensch wesentlich vom Bewußtsein her gedacht wird und der Stofftrieb sonach den Drang der Vorstellung meint, Stoff in sich aufzunehmen, um wirklich zu werden. Der aufzunehmende Stoff oder die Materie des menschlich-endlichen Bewußtseins sind die Empfindungen. Der Stofftrieb treibt den Menschen somit zu Zuständen der

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Empfindung im subjektiven und objektiven Sinne des Wortes. Das Subjekt der Empfindung ist das empfindende Gefühl, das Objekt der empfundene Sachgehalt (Realität). Vom Stofftrieb gedrängt, findet sich der Mensch mitten in einem Zustande, in dem er darin aufgeht, fühlend bei den Realitäten der Welt zu sein. Nun lebt das Gefühl aber in einem unterschiedslosen Aufgehen des Fühlenden im Gefühlten und trennt sich darin vom Geist, dessen Element das Unterscheiden ist. Indem der Mensch also fühlend in der Materie, den sich darbietenden Sachgehalten der Welt, aufgeht, ist er selbst Welt und Materie und nicht Geist. Inwiefern aber setzt der sinnliche Trieb den Menschen in die Schranken der Zeit? Zunächst ist klar: Der Mensch, der im Zustande der Empfindung von Welt weilt, ist in der Zeit; denn die Empfindung (ζ. B. eines jetzt aufklingenden Geigentons) ist Zustand einer von Sachgehalten erfüllten Jetzt-Zeit. Das Element der Zeit, das gegenwärtige Jetzt, aber hat das Ansehen der Grenze, weil es die Teile der Zeit, Vergangenheit und Zukunft, auseinanderhaltend zusammennimmt. Der ästhetische Humanismus faßt das elementare Sein der Jetzt-Zeit als Schranke. Die Wirklichkeit der Zeit erscheint als das Ausschließende und die Grenze der Gegenwart als höchste Begrenzung. Die Schranke der Zeit läßt nur einen Sachund Weltgehalt wirklich zu und schließt, indem sie eine Möglichkeit ins Dasein bringt, unbegrenzte andere Möglichkeiten aus. Das bedeutet für das In-der-Zeit-Sein des Menschen: Er kann sich nur derart in der Schranke der Zeit verwirklichen, daß er eine seiner Möglichkeiten verwirklicht und darin unendlich viele andere vergibt. Jede erfüllte Gegenwart beschränkt „die ganze unendliche Möglichkeit seiner Bestimmungen auf diese einzige Art des Daseyns" (ÄEM, 12. Brief; XX, 345). So überliefert der Stofftrieb den Menschen der Macht der Welt und der Schranke seiner Zeitlichkeit. Wie aber steht es dann mit der Einheit des Menschen, wenn sich dieser Antrieb zur Wesensverwirklichung zur Gänze durchsetzt? „Wo also dieser Trieb ausschließend wirkt, da ist nothwendig die höchste Begrenzung vorhanden; der Mensch ist in diesem Zustande nichts als eine GrößenEinheit, ein erfüllter Moment der Zeit" (ÄEM, 12. Brief; XX, 345). Trieb ist Streben, die zerteilte Nicht-Identität des Menschen zu einigen; der Stofftrieb, allein und ausschließlich gesetzt, bringt es bloß zur Größeneinheit. In gänzlicher Hingabe an das Dargebot der Welt ist der Mensch Eines in der Einheit der Empfindung. Diese hat als erfüllte Zeit eine ausmeßbare Größe, nämlich vom Jetzt, da die Zeit mit einem bestimmten Inhalt gefüllt ist (ζ. B. einem Geigenton, dem ich angespannt lausche), bis

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zum Jetzt, wo sie davon leer ist. Es leuchtet ein, daß solch quantitative Größeneinheit den Anspruch auf menschliche Wesenseinigung enttäuscht. Damit ist aufgeklärt, was der Stofftrieb ist und was er vermag. Und es meldet sich eine Gefährdung des Menschen an, wenn dieser Trieb ihn ganz und gar einnimmt. Solches Eingenommensein reduziert ihn auf eine Größeneinheit, die eine wahre, das Wesen verwirklichende Einheit der menschlichen Existenz untergräbt. Diese Gefahr erscheint unvermeidlich, da der Mensch mit dem Stofftrieb, der ihm sinnlich erfülltes Dasein und den realen Weltbezug in der Zeit verschafft, unlösbar verknüpft ist. Was ist und vermag dagegen der Formtrieb, und was für eine Einheit erbringt er für den Menschen? Der Formtrieb stammt aus der vernünftigen Natur des Menschen. Er ist derjenige Antrieb zur Wesensverwirklichung, der auf die Behauptung des Wesens und der Person dringt. Wie aber vermag er das? „Er hebt die Zeit, er hebt die Veränderung auf" (ÄEM, 12. Brief; XX, 346). Das geschieht, indem er die Jetzt-Zeit in die All-Zeit verwandelt oder (in einer Schillerschen Formel) den Moment als Ewigkeit behandelt. Der Formtrieb betreibt solche Aufhebung der Zeit, wenn er auf ,Wahrheit und Recht' setzt. Diese überschwenglichen Behauptungen sind zum wenigsten folgerichtig. Das Streben, Person und Freiheit durchzusetzen, muß die Zeit und ihre Folge, die Veränderung, negieren; denn transzendentale Person bedeutet ja die absolute und widerspruchslose Einheit des Selbst, in der das Ich immer und ewig mit sich selbst übereinstimmt. Daher will der Trieb, der auf Behauptung dieses zeitlosen, intelligiblen Charakters aus ist, alle menschlichen Zustände der Gerichtsbarkeit der Zeit entreißen und einer Gesetzlichkeit unterstellen, welche unbedingt, immer und für alle gilt. In seiner Zuständlichkeit unterliegt der Mensch dem Richtmaße der Zeit sowohl im Beurteilen des Wahren wie im Tun des Rechten. Er urteilt über das Wahre durch das Gefühl, d. h. für diesen Moment und nach diesem subjektiven Eindruck. Und er richtet über das Gute und Rechte aus bloßer Neigung, d. h. ebenfalls für jetzt und nach jeweiligem Bedürfnis. Der Formtrieb aber „dringt auf Wahrheit und auf Recht" (ÄEM, 12. Brief; XX, 346), d. h. auf Instanzen, die für alle Zeit und für alle Fälle gelten. Er stellt Erkenntnis und Willen derart unter Gesetze, daß das Wahre durch das Erkenntnisgesetz, das Gute und Rechte durch das Sollensgesetz der Gerichtsbarkeit der Zeit entzogen sind. Nunmehr verkündet das Urteil ,Das ist' bzw. ,Das soll sein': ,Es ist immer so und niemals anders' bzw. ,Das soll zu jeder Zeit so sein'. Indem also der Formtrieb einen einzelnen Fall im Wechsel der Zeit zum Gesetz für alle Zeiten macht, hebt er die Zeit auf.

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Wie aber steht es da mit der Einheit des Menschen, wo dieser Trieb der Wesenswahrung alleine herrscht? Wirkt der Formtrieb ausschließend, dann ist die höchste Entgrenzung vorhanden; der Mensch ist unter dieser Tendenz nichts als eine „Ideen-Einheit" (XX, 347) oder eine „Gattungseinheit". Die Gattung, zu welcher der Formtrieb den Menschen erhebt, ist die der reinen, vernunfthaften Geister. Diese einseitige Tendenz des Antriebs zur Wesensverwirklichung sucht den Menschen als Geist zu verwirklichen und entwirklicht ihn als Menschen; denn im Status der Ideen- oder Gattungseinheit wäre der Mensch nichts als die unerfüllte Idee der Freiheit. Und darin, im Uberschwang der Ideeneinheit seine Menschheit zu verlieren, meldet sich eine zweite, unvermeidliche Gefahr für das menschliche Dasein an. Beide Grundtriebe, je für sich und absolut gesetzt, bringen es nicht zur Einheit des Menschseins. Der Stofftrieb treibt den Menschen zu bloßer Größeneinheit, in die Einheit des Welt empfindenden Sinnenwesens, zurück, und der Formtrieb treibt den Menschen zur reinen Ideeneinheit, zur fühllosen Selbigkeit eines zeitlosen Geistwesens, empor. Die humane Einheit von Empfindung und Geist ist in beiden verfehlt. Vielleicht ergibt aber nun die Summe beider Triebe die gesicherte Einheit? Indessen belehrt schon die Rücksicht auf die gegensätzliche Zweiheit menschlichen Selbstbewußtseins, der sie angehören, darüber: So wie Person und Zustand bzw. Form und Stoff entgegengesetzt sind, so treiben Stoff- und Formtrieb in entgegengesetzte Richtungen. Ihre Tendenzen und Richtungen widersprechen sich. So entwickelt Schiller eigenständig die Phänomene, welche Fichte und Schelling in ihrer Analyse von der zentrifugalen und zentripetalen Tendenz des Selbstbewußtseins herausgegliedert haben. Der Stofftrieb bringt das Bewußtsein außer sich und zur Welt. Der Formtrieb dagegen tendiert nach innen und läßt das Bewußtsein, in sich gehend, zu seiner Persönlichkeit zurückkehren. Beide Triebe liegen miteinander im Streit. Sie bilden einen Widerstreit der Kräfte oder einen Antagonismus. In der Fassung dieses Gegensatzes als eines Antagonismus liegt die originale Auffassung der Schillerschen Dialektik des Selbstbewußtseins. Antagonismus ist das späte Kunstwort für einen Gegensatz und Widerspruch, in dem der angestrengte Kampf und Streit von Parteien gegeneinander zur Sprache kommt. So ist die Bedeutung ,Antagonista = adversarius, ein Gegner, Widerpart' in der Schulphilosophie geläufig 71 . Es sind der Kampfcharakter eines weltanschaulichen' Gegensatzes, der gesell71

Vgl. dazu W. Goerdt, Antagonismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter, I, 358/59.

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schaftliche Bezug und eine geschichtliche Dynamik, die den AntagonismusBegriff geprägt haben. (Diese drei Komponenten sind ja in der marxistischleninistischen Ausprägung herausgetreten. Marx hat die gesellschaftlichen Antagonismen auf die antagonistische Form von Produktionsverhältnissen zurückgeführt und Lenin die Unterscheidung von Widerspruch und Antagonismus festgelegt; in deren Gefolge ist Antagonismus — vorzüglich im Hinblick auf den Klassenkampf — als derjenige Kampf der Gegensätze zwischen Altem und Neuem definiert worden, der auf dem Wege der Gewalt zu entscheiden ist.) Vor Schiller hatte Kant in ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht* Antagonismus als ungesellige Geselligkeit gefaßt (Akad.-Ausg. VIII, 20f.). Antagonismus heißt danach der Kampf zwischen der Neigung des Menschen, sich zu vergesellschaften, und seinem Hang, sich zu vereinzeln. Dank seiner fruchtbaren Unruhe erscheint der Antagonismus als Mittel, durch den die Natur ihre Anlagen zu entwickeln und die Gesellschaft ein moralisches Ganzes zu werden vermögen. Im 6. Brief ,Uber die ästhetische Erziehung' versteht Schiller unter Antagonismus den gesellschaftsrelevanten, geschichtsträchtigen Widerstreit im Menschen, der entsteht, wenn sich einzelne Kräfte isolieren und eine ausschließende Gesetzgebung anmaßen. „Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur" (ÄEM, 6. Brief; X X , 326). Ein Vermögen nämlich, das sich verabsolutiert und sich ins Äußerste steigert, evoziert den Widerstand der Wahrheit und geht in der herausgeforderten .Wahrheit der Dinge' unter. „Einseitigkeit in Uebung der Kräfte führt zwar das Individuum unausbleiblich zum Irrthum, aber die Gattung zur Wahrheit" (ÄEM, 6. Brief; X X , 327). Solche List der Vernunft aber fördert nach Schiller nicht einen notwendigen Gang des Geistes durch die Geschichte. Bildete der Antagonismus das unausweichliche Gesetz des Fortschritts, dann würde das Individuum unter dem ,Fluch dieses Weltzwecks' — unter dem Fetisch Fortschritt — leiden. Dann wären alle vergangenen Geschlechter Knechte der Menschheit gewesen. Der Mensch aber kann nicht dazu bestimmt sein, über irgendeinen Zweck sich selbst zu versäumen. Der Gedanke des Antagonismus als die notwendige Aufopferung der Individuen im Dienste des Fortschritts paßt nicht mit der humanistischen Grundidee der Person vom Selbstzweck des Menschen zusammen. „Es muß also falsch seyn, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität nothwendig macht" (ÄEM, 6. Brief; X X , 328). Wie aber ist das hervorstechende Phänomen des Antagonismus richtig zu denken?

Stofftrieb — 'Formtrieb

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Was es mit dem antagonistischen Kampf und Widerstreit im Hinblick auf Individuum und Gesellschaft auf sich hat, kommt erst in der Ausarbeitung des Gegensatzes von Stoff- und Formtrieb heraus. Hier findet die Frage ,Woher kommt es zum Antagonismus, wenn er nicht wesensnotwendig aus der Natur des Menschen stammt?' eine sachgerechte Antwort. Sie besagt: Der Antagonismus beherrscht das menschlich-endliche Selbstbewußtsein und dessen gesellschaftlich-politische Auswirkungen; aber er bildet keinen notwendigen Widerspruch, sondern einen tragischen Widerstreit. Zwar wendet sich die Zweiheit der Kräfte und Triebe nicht mit Notwendigkeit zu einem vernichtenden Kampfe gegeneinander, wohl aber wohnt dieser Zug dem Menschen als seine Gefahr und Wesensgefährdung inne. Der so gedeutete Antagonismus entspricht der Dialektik des Tragikers. Daß der Antagonismus nicht notwendig und kein eingewurzelter Widerspruch ist, liegt seit Kants Antinomie-Lösung nahe. Ein Widerspruch herrscht, wenn demselben Entgegengesetztes zugleich in derselben Hinsicht zugesprochen wird. Dem menschlichen Selbstbewußtsein kommt die Entgegensetzung der Triebe zugleich zu, aber nicht in derselben Hinsicht. Der Stofftrieb nimmt den Menschen im Reiche der Zeit, der Formtrieb im Reiche der Ideen ein. So löst sich der Anschein des notwendigen Widerspruchs durch Einschränkung auf, wobei sich die Zeitlichkeit als Macht der Limitation bewährt; denn der Stofftrieb bleibt an die Schranke der Zeit gebunden. Wohl aber kann der Antagonismus einen tragischen Widerspruch herbeiführen. Das geschieht, wenn sich die Triebe „selbst misverstehn, und ihre Sphären verwirren" (ÄEM, 13. Brief; XX, 347). Solche Verwirrung ist eine „freie Übertretung der Natur". In dieser Grenzübertretung wird der Mensch maßlos, weil er sich über die Grenzen seiner Vermögen täuscht. Dabei läßt er sich von einem natürlichen Schein, der aus der Natur seiner in sich maßlosen Triebe stammt, bestechen. Erliegt der Mensch dem Blendwerk, in welchem die einseitigen Synthesen der Triebe als das unbeschränkt Absolute erscheinen, dann verfehlt er seine Bestimmung. Solche Verfehlung ist von der Art der Hamartia, des tragischen Versehens. Indem er sich an der Grenze seiner Triebe versieht, verfehlt er sein geglücktes Menschseinkönnen in katastrophalem Ausmaße; denn er verliert dabei gänzlich seinen Stand, sein Selbst und seine Welt. Er kann nicht mehr als Mensch existieren. Und weil der Antagonismus der Triebe zweiseitig ist, kann er „auf eine zweyfache Weise seine Bestimmung verfehlen, . . . mithin eben darum in beyden Fällen keines von beyden, folglich - Null seyn" (ÄEM, 13. Brief; XX, 349).

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Der erste Fall tragischer Verwirrung entsteht, wenn der Mensch dem sinnlichen Trieb unbedingt Folge leistet. Dann erklärt er die Satzung der Zeit für absolut verbindlich und die Grundsätze der Ideen für nichtig. Dann hört er in seinem Handeln einzig auf das Gebot der weltgeschichtlichen Situation und verspottet überzeitliche Ideen wie Wahrheit und Recht. Er hält die Sinnenwelt, die er in seiner Gewalt zu haben glaubt, für die einzige und absolute Sphäre der Wahrheit. Aber solcher Verrat an den Ideen rächt sich. Dabei stehen die Ideen nicht auf, um den maßlosen Anspruch der Zeit-Gegebenheiten durch ihr ewiges Wesen hinfällig zu machen. Diese eingängige Ansicht vereinfacht den Sachverhalt. Vielmehr steht es so, daß sich dem Menschen die wirkliche, sinnliche Welt, die er zur einzig absoluten Stätte seines Wirkens ausruft, entzieht; denn der Stofftrieb macht den Menschen zur Materie. Seiner Tendenz verfallen, hat und besitzt er nicht die von ihm ergriffene Welt, er wird selbst Teil der Welt. Das Getriebe der Welt und deren Prinzipien, Sinnlichkeit und Gewalt, gewinnen Macht über ihn. So wird das Ganze unmenschlich, und der Mensch hat beides verloren, den Glauben an die Ideen und den Besitz der Welt. Im zweiten Falle tragischer Vermessenheit vermißt sich der Mensch an der Bedingtheit des Formtriebes. Dieser dringt auf Wahrheit und Recht. Wird dieses Streben maßlos, dann überfordert es im Namen von Ideen die Zeit. Dann will der Mensch die ihn beschränkenden Welt- und Zeitumstände nicht wahrhaben und negiert gewaltsam alle Wirklichkeit, deren Kontingenz und Individualität sich dem Allgemeinen nicht fügt. Der Wille, das Reich der Ideen gewaltsam durchzusetzen, führt in die Katastrophe. Die Aufhebung und Vergewaltigung der Wirklichkeit rächt sich, und zwar wiederum nicht einfach dadurch, daß die unterdrückten Lebensmächte aufstehen und den maßlosen Anspruch der Ideen niederschlagen. Vielmehr wird die Idee, indem sie ihren Gegensatz, das wirkliche Reich der Zeit, negiert, selbst unwirklich; denn „die absolute Realität (fordert) zu ihrer Verkündigung Schranken" (ÄEM, 13. Brief; XX, 351). Ideen sind und wirken, sofern sie sich an der Grenze der Wirklichkeit versammeln und in ihr gewaltlos offenbaren. Sie pervertieren, wenn sie die sinnliche, individuelle Fülle des Lebens durch die Diktatur abstrakter Gesetze ausrotten. Auch so nämlich wird das Ganze unmenschlich, und der Mensch verliert beides, die sinnliche Weltfülle und das Ethos der Ideen. Offenkundig wiederholen sich im Antagonismus der Triebe Grundmöglichkeiten humanistischer Katastrophen, wie sie sich in der politisch-

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sozialen Auseinandersetzung zwischen Vernunft- und Notstaat ankündigten. Und es wird begreiflich, warum diese Aitiologien des Tragischen bei Schiller im Innenraum der Seele und im Geschichtsraum des PolitischGesellschaftlichen zusammenspielen. Und es läßt sich zeigen, wie solche Antagonismen aus Parteiungen menschlichen Selbstverstehens herauswachsen. Im immer noch zu wenig beachteten Epilog von ,Uber naive und sentimentalische Dichtung' findet sich eine Analyse des „sehr merkwürdigen psychologischen Antagonism unter den Menschen in einem sich kultivierenden Jahrhundert" (NuSD; X X , 491). Der psychologische Antagonismus ist radikal; er trennt die Menschen mit einer unduldsamen Entschiedenheit, die jeden zufälligen Interessenstreit an Schärfe übertrifft. Er entzündet einen Widerstreit, in dem jegliche menschliche Vorstellung von einer Partei und Klasse gefeiert, von der anderen verbannt wird. Solch unversöhnlicher Streit nährt sich aus der Einseitigkeit von Prinzipien und gründet in der ,inneren Gemütsform', also in derjenigen Weise, in der der Mensch sein Selbst versteht und nach seiner Weltanschauung lebt. Sonach spaltet sich die menschliche Natur in die Klasse der Realisten und Idealisten. Beide Lebensformen sollen hier nicht in ihren Einzelzügen beschrieben werden. Es geht lediglich darum, die Quelle der Trennung, den Punkt des Streites und die Gefahren des Antagonismus von Realismus und Idealismus darzulegen. Wie selbstverständlich kehrt als Prinzip der Unterscheidung der antinomische Gegensatz zwischen Naturnotwendigkeit und Vernunftbestimmung und der Weltanschauungsstreit zwischen Empirismus und Piatonismus wieder. Und mit antinomischer Konsequenz verrennen sich beide Parteien in eine gefährliche, extreme Einseitigkeit. Freilich erscheint hier — in naheliegendem Vergleich zum von Kant offengelegten Interessenkonflikt zwischen Freiheitspartei und Physiokraten — die idealistische Ubersteigerung katastrophaler. (Dieser Punkt ist ein weiteres Zeugnis für die Realismus-Freundlichkeit des Deutschen Idealismus, die eben nur diejenigen erstaunen kann, welche den Deutschen Idealismus als einseitige Partei und nicht als die große Einigung aller Idealismen und Realismen betrachten.) Eine realistische Lebenseinstellung bleibt ihrem Wissen und Handeln nach im Umkreis des Bedingten befangen und der Notwendigkeit der Bedingungsfolge ergeben, ohne auf etwas Unbedingtes zu dringen. Für idealistische Begeisterung dagegen zählen nur oberste Gründe des Wissens und die Unbedingtheit der Willenshandlungen, ohne daß die Begrenzungen der wirklichen Umstände und die Fälle der Anwendung auch nur in Erwägung gezogen werden. In der politischen Richtung stellt der Realis-

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mus folgerichtig den Wohlstand auf Kosten der Selbständigkeit, der Idealismus die Freiheit auf Kosten des Wohlstandes zum Endzweck auf. Und einer tieferen Einsicht kommt es darauf an, auszumessen, was beide miteinander kämpfenden Systeme kosten, wenn sie ihre einseitigen Zielvorstellungen durchsetzen. „Der Idealist wird die Mängel seines Systems mit seinem Individuum und seinem zeitlichen Zustand bezahlen . . .; der Realist büßt die Mängel des seinigen mit seiner persönlichen Würde" (NuSD; XX, 498). Der Mangel des realistischen Systems besteht im Aussparen des Unbedingten und Übersinnlichen. Dadurch glaubt der Realist, die Sinnenwelt zu besitzen und rational zu meistern. „Er ist im Besitze, die Erde ist sein, und es ist Licht in seinem Verstände" (XX, 498). Aber er verliert über der Sicherung der lebendigen Weltzustände sein unbedingtes Selbst, seine Persönlichkeit. Umgekehrt ergeht es der Uberschwenglichkeit des Idealisten. Er strebt über alles Einzelne, Bedingte, Gegenwärtige hinaus, um seine Persönlichkeit im Absoluten, Allgemeinen und Ganzen sicherzustellen, „und vergißt darüber, daß das Ganze nur der vollendete Kreis des Individuellen" ist (XX, 499). So zeichnen sich für den Fall, daß beide Weltanschauungen ihre Sphären verwirren, katastrophale Folgen ab. „Keiner kann in das Gebiet der andern einen Eingriff thun, ohne entweder für den innern oder aeussern Zustand des Menschen schlimme Folgen anzurichten" (XX, 501). Entweder nämlich verblaßt die Würde der Person, oder es entleert sich das individuelle Dasein. Somit tauchen wieder zwei Fälle auf, wie die Einheit (den zeitlichen Gehalt) unsers Lebens, im zweyten um die Würde (den Gehalt) oder die Form (der moralische Gehalt) weicht. Wird die unbedingte Idee als wirklich Seiendes verstanden, dann muß das, was wirklich ist, nämlich das jederzeit bedingte Dasein, nichtig erscheinen. Wird umgekehrt das bedingte, innerzeitlich Einzelne unvermittelt zum Maßstabe für Sein und Anwesenheit genommen, dann muß das bedingungslose Personsein zu nichts werden. „In dem ersten Fall ist es also um den Werth (den zeidichen Gehalt) unsers Lebens, im zweyten um die Würde (den moralischen Gehalt) unsers Lebens gethan" (XX, 501). Diese Andeutungen reichen aus, um zu zeigen, daß der psychologische Antagonismus der poetologischen Abhandlung den tragischen Antagonismus der ,Ästhetischen Briefe' in sich enthält. Und es erweitert nur den Rahmen der Antagonismus-Lehre, wenn ihre .psychologische' Analyse abschließend den Schrecken des falschen Idealismus kategorisiert. Der falsche Idealist ist der Phantast. Dieser vergewaltigt und uniformiert die individuelle Natur nicht etwa, weil er in ihr die Strenge und Lauterkeit des

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Unbedingten vermißt, er verläßt den Boden der gegliederten Wirklichkeit, um den Utopien seiner Einbildungskraft und der Willkür seiner entbundenen, anarchischen Freiheitsvorstellung Folge leisten zu können. Idealistisches Schwärmertum — der Umschlag freiheitlicher Bindung in die phantastische Maßlosigkeit der Willkür — ist diejenige Art tragischer Verwirrung, welche die Menschheit ihren unheilvollsten Katastrophen zutreibt. „Eben darum, weil die Phantasterey keine Ausschweifung der Natur sondern der Freyheit ist, also aus einer an sich achtungswürdigen Anlage entspringt, die ins unendliche perfektibel ist, so führt sie auch zu einem unendlichen Fall in eine bodenlose Tiefe, und kann nur in einer völligen Zerstörung sich endigen" (NuSD; XX, 503).

6. Kapitel: Die Synthesis der Wechselwirkung und das Symbol des ästhetischen Spiels Antagonistische Dialektik deckt Entgegensetzungen in der Natur menschlichen Selbstbewußtseins auf, um deren Einheit von Grund auf wiederherzustellen. Dabei hat der transzendentale Weg zur Zweiheit von Person und Zustand und zur Bestimmung des Menschen geführt, die Einigung mit sich selbst und der Welt als Aufgabe der Wesensverwirklichung zu übernehmen. Die Analyse dieser Aufgabe aber ist in die Bewegung der Antithese hineingerissen worden, in das tendenzielle Gegeneinander von Stoff- und Formtrieb und damit in eine radikale Gefährdung der menschlichen Natur. Die Freilegung des antagonistischen Radikalismus bringt die dialektische Untersuchung menschlichen Seins und Einesseins in Not. „Wie werden wir also die Einheit der menschlichen Natur wieder herstellen, die durch diese ursprüngliche und radikale Entgegensetzung völlig aufgehoben scheint?" (ÄEM, 13. Brief; XX, 347). Historisch und systematisch bieten sich zwei Auskünfte an, um den aufbrechenden Antagonismus zu überwinden. Die naheliegende Auskunft der Uberlieferung, die von Plato bis Kant reicht, versteht den Antagonismus als eine unmittelbare Notwendigkeit. Sie sieht daher in der Unterordnung das einzige Mittel, um die Einheit des Menschen vor der Selbstzerstörung seiner Triebe zu retten. Die vorherrschende Subordination lehrt eine rigorose Unterordnung des sinnlichen Triebs unter den vernünftigen Willen, Platonisch gesprochen: die wache Beherrschung der in sich maßlosen Begierde (έπιθυμητικόν) durch den mutvollen Drang

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(θυμός), der sich von der Vernunft (λόγος) leiten läßt. Dann herrscht Gerechtigkeit und rechte Einheit in der gespannten Verfassung der Seele, wenn der mutvolle Drang auf die Vernunft hört und beide den begierdehaften Seelenteil überwachen, d. h. seine Maßlosigkeit in Schach halten. „Sobald man einen ursprünglichen, mithin nothwendigen Antagonismus beyder Triebe behauptet, so ist freylich kein anderes Mittel die Einheit im Menschen zu erhalten, als daß man den sinnlichen Trieb dem vernünftigen unbedingt unterordnet" (ÄEM, 13. Brief; XX, 347 Anm.). Die andere Lösung kehrt dieses Verhältnis um und verkündet die Herrschaft der Sinnlichkeit, welche die Vernunft als Berechnung und Ratio in ihren Dienst stellt. Dann kann der Mensch mit sich selbst und seinen Trieben übereinstimmen, weil für eine zweckmäßige und totale Befriedigung der Bedürfnisse gesorgt ist. Schillers Kritik hat ihre Stoßrichtung gegen die vorherrschende metaphysische Subordination der Sinnlichkeit. Sie erschöpft sich dabei nicht im Einwand gegen den Kantischen ,Rigorismus', sie kehrt die Platonischen Positionen sowohl im Grundriß der gerechten Verfassung wie im Urteil über die Kunst um. Der kritische Hebel setzt an der verfehlten Auffassung des Antagonismus an. Die Tradition mißversteht diesen Gegensatz der Triebe als eine Entgegensetzung, die aus der Natur des Menschen entspringt und notwendig zur Selbstvernichtung führt, wenn nicht Unter- und Uberordnung, ,wesensgemäße' Herrschaft und Knechtschaft, ein Uberleben ermöglichen. Aber diese Konsequenz versagt die Möglichkeit, die feindlichen Spannungen in die Einheit einer Harmonie aufzuheben. Sie kann Uniformität erzwingen, indem sie die Lebendigkeit und Individualität von Sinnlichkeit und Empfindung diszipliniert, aber sie hebt die Zweiheit nicht auf, weil die widerstreitenden Gegensätze niemals versöhnt, sondern immerfort gebändigt werden. „Daraus aber kann bloß Einförmigkeit, aber keine Harmonie entstehen, und der Mensch bleibt noch ewig fon getheilt" (ÄEM, 13. Brief; XX, 347—348 Anm.). In Wahrheit aber ist der Antagonismus ein tragischer Widerstreit. Er entsteht nicht ,νοη Natur', sondern ,durch eine freie Übertretung der Natur', durch ein tragisches Mißverstehen und eine Verwirrung der Sphären. Steht es so, dann kann die Verwirrung entwirrt, der Kampf der Gegensätze versöhnt und der Schein eines notwendigen Widerspruchs in der Wahrheit einer harmonisierenden Wechselwirkung aufgehoben werden. Die zentrale dialektische Kategorie der Wechselwirkung, die Korrelation auf der Basis der Limitation, hat Schillers Antagonismuslösung der Wissenschaftslehre entnommen. „Diesen Begriff der Wechselwirkung und

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die ganze Wichtigkeit desselben findet man vortrefflich auseinander gesetzt in Fichte's ,Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre', Leipzig 1794" (ÄEM, 13. Brief; XX, 348 Anm.). Der .transzendentale Weg' trifft auf die Wechselwirkung als diejenige Bedingung, die notwendig ist, damit die zerbrochene Einheit des Menschen im Kampfe von Stoff- und Formtrieb wiederherstellbar wird. Ihre Wechselseitigkeit ist dreifach aufgebaut, als wechselseitige Beziehung, wechselseitige Einschränkung und wechselseitige Steigerung. Die Wechselwirkung hält die beiden auseinanderstrebenden Triebe des Menschseins zusammen, setzt sie in ihre gehörigen Grenzen und bringt beide gegenseitig zu ihrer .höchsten Verkündigung', zur gänzlichen Offenbarung dessen, was sie vermögen. Die Wechselwirkung hält zunächst die ontologischen Bezüge der Daseinsrelation zusammen und stützt deren Korrelation; denn Form und Formtrieb brauchen die Materie. Die Idee der Freiheit und Grundsätze von Wahrheit und Recht sind ohne die Zeit und das zeitlich-geschichtliche Leben unwirklich. Sie offenbaren sich materialiter im Reiche der Zeit. Und umgekehrt braucht das Leben in der Fülle der Welt-Zeit Ideen. Ohne die Form zerstreute sich die Materie und verfiele im Andrang der Zeit. So gesehen, zeigt sich die Wechselwirkung zunächst als konfundierendes Bedingungsverhältnis. Überdies aber besorgt sie die nötige Einschränkung. Das Gesetz der Wechselwirkung erscheint dadurch als zentrale synthetische Leistung der Limitation, daß es Stoff- und Formtrieb wechselseitig beschränkt. „Beyde Triebe haben also Einschränkung, und, insofern sie als Energieen gedacht werden, Abspannung nöthig" (ÄEM, 13. Brief; XX, 352). Weil die Schrankenlosigkeit eines Gliedes die Auflösung des Ganzen nach sich zieht, muß jeder Trieb eine „Grenze, die nicht anders als zum Nachtheile beyder überschritten werden kann" (XX, 348 Anm.), einhalten. Solch rettende Einschränkung geschieht nicht durch einfache Subordination, sondern auf dem Wege einer Wechselwirkung, in welcher beide Gegensätze „zugleich subordiniert und coordiniert" (XX, 348 Anm.) sind. Die Wechselbestimmung hebt die Einseitigkeit des Bestimmens und Bestimmtwerdens, des Tuns und Leidens oder des Unterwerfens und Unterordnens auf. Sie eröffnet für jede der beiden Triebe ein Wechsel-Tun-und-Leiden. Einerseits ist jeder Trieb tätig und bestimmend und legt die Grenzen des anderen Triebes fest. Andererseits findet er sich leidend und bestimmt, d. h. in seine Schranke eingewiesen und in seiner Grenze festgelegt. So schließt der Formtrieb, indem er im Reiche der Freiheit herrscht, die Sinnlichkeit als Prinzip ebenso aus, wie der Stofftrieb, indem er im Gebiete

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der Zeit regiert, die Sphäre der Person einschränkt. Die einschränkende Wechselbestimmung bringt die einseitigen Unterwerfungsfälle zum Verschwinden. Zwar enthält die Wechselbestimmung Unterordnung — denn das eine Glied wird ja durch das andere bestimmt und begrenzt — , aber sie koordiniert sogleich diese Subordination. Jedes Glied bestimmt ja auch das andere. Es bestimmt und wird zugleich bestimmt. Und diese Wechselbestimmung (von Person und Zustand, von Freiheit und Zeit, von Idee und Leben) hemmt und vernichtet nicht etwa die Triebe des Menschen und ihre entgegengesetzten Tendenzen, sie läßt beide in geglückter, schrankenloser Harmonie zusammenwirken. Limitative Abspannung bedeutet nicht etwa Verminderung oder Abstumpfung der einen überspannten Kraft durch die andere, sondern wechselseitige Vervollkommnung und Steigerung ihrer Energie. Die Wechselwirkung ist der synthetische Akt eines sich steigernden Wechsel-Tun-und-Leidens beider antithetischen Triebe. „Jeder einzelne für sich (gelangt) gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung, daß der andere thätig ist" (ÄEM, 14. Brief; X X , 352). Nun ist der Stofftrieb perfekt, wenn er zuhöchst extensiv und lebhaft veränderlich ist, d. h. Welt in größtem Ausmaße und mit höchster Lebhaftigkeit ergreift. Umgekehrt erscheint der Formtrieb vollkommen, wenn er zuhöchst intensiv und beständig ist, d. h. Welt so allgemein wie möglich begreift und so in seinen allgemeinen Gedanken bei sich selber bleibt. Unter der Leitung der Wechselwirkung ergibt sich wechselseitige Vollkommenheit. Je extensiver der Stofftrieb tätig ist, desto intensiver kann der Formtrieb wirken. Je mehr Welt ergriffen wird, desto mehr Welt wird begreifbar. Und umgekehrt: Je mehr Welt ich begreife, je tätiger und intensiver der Formtrieb ist, desto leichter und ungefährdeter kann ich mich extensiv von der Welt ergreifen lassen. Dieses zwanglose, immer reicher werdende Zusammenspiel von Tun und Leiden, die Harmonie zwischen höchster Daseinsfülle und Selbstbestimmung, kommt also nur zustande, wenn Vernunft und Sinnlichkeit, Form- und Stofftrieb, einander nicht unterdrücken, sondern sich gegenseitig so bestimmen, daß sie frei und leicht das ihnen Zustehende tun. Und nun ist zu sehen: Im Zustande geglückter Wechselwirkung sind alle begrenzenden Schranken entfernt. In ihm herrscht Schrankenlosigkeit, weil er alle Realität vereinigt. Die Schranke von Zeit und Endlichkeit, durch welche die erfüllte Wirklichkeit unendliche Möglichkeiten vernichtet, hebt sich auf. Die Idee der erfülltesten Realität im Wechselspiel gespanntester Tätigkeit bringt die limitative Dialektik abgrenzender Einschränkung auf die Bahn einer ins Schrankenlose zurückgehenden ästhetischen Dialektik.

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Mit der Aufhebung des Antagonismus der Triebe scheint der transzendentale Weg am Ende. (Und es ist klar, daß zugleich die begrifflichkategoriale Aufklärung der Rede vom dritten Charakter und von der Veredlung des Menschen gelungen ist.) Die Synthesis der Wechselwirkung von Stoff- und Formtrieb ist als diejenige Bedingung deduziert, welche eine totale Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst verspricht. Welche Rolle aber spielen in solcher Aufhebung das Schöne und die Kunst? Und wie steht es mit der Ankündigung des ästhetischen Humanismus, wonach die Schönheit sich als letzte, alles durchragende Bedingung des Menschseins wird aufzeigen lassen? Der Begriff einer Wechselwirkung des Entgegengesetzten kann nicht das letzte Wort in der dialektischen Erschließung des Daseins sein. Er konzipiert zwar Einheit und Ganzheit eines vollendeten Lebens, aber nur in der Seinsart einer unendlichen Aufgabe und unerfahrbaren Idee. Wodurch aber ist gewährleistet, daß diese Vorstellung einer maximalen Totalität aller Kräfte und einer bruchlosen Verwirklichung des Wesens nicht eine Illusion und der Traum menschlicher Gottgleichheit ist? Wer verbürgt, daß der Mensch dieser schrankenlosen Vorstellung wirklich adäquat sein kann? Wie also läßt sich die Wahrheit des Humanismus, die Adäquation der Idee vom Menschen mit seiner Wirklichkeit, bewähren? „Daß er dieser Idee wirklich gemäß, folglich in voller Bedeutung des Worts, Mensch ist, kann er nie in Erfahrung bringen" (ÄEM, 14. Brief; XX, 353). Die alltägliche Erfahrung bleibt abstrakt und einseitig, weil eben zu Zeiten die Empfindung (das Fühlen, Streben, Gestimmtsein), mitunter das Denken dominiert. Im ersten Falle bleiben die Person und ihre absolute Existenz, im zweiten der Zustand und die Existenz in der Zeit verdeckt. Was in jedem Falle unerschlossen bleibt, ist die menschliche Existenz. Deren Erkennbarkeit ist gerade durch den Ideencharakter der menschlichen Bestimmung in Frage gestellt. Eine Idee ist per definitionem ein Vernunftbegriff (wie Welt, Seele, Gott usw.), dem niemals eine Anschauung adäquat ist. Bliebe mithin dem Menschen eine vollständige Anschauung seines Menschseins versagt, so daß die Bestimmung seiner Unendlichkeit auf keine Weise zur Darstellung käme? Wäre er mithin ein Erkenntniswesen von der Art, daß ihm sein eigenes Wesen unerkennbar bleibt? In der Tat: Der alles aufklärende Mensch scheint sich selbst ein „Geheimniß" (XX, 353) zu sein. Indessen — es gibt eine einzige Möglichkeit, eine Idee zu veranschaulichen, die symbolische. An dieser Stelle der dialektischen Gänge gewinnt das Symbol eine zentrale Bedeutung. Sie ist in der Diskussion entweder

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einfach übersehen oder doch beträchtlich unterschätzt worden. Die einschlägige Klärung hat Kant im § 59 der Kritik der Urteilskraft vorgelegt. Symbol (Sinn-Bild) ist eine Versinnlichung oder Hypotypose einer Idee auf dem indirekten Wege einer Analogiebildung durch eine eigentümliche (im Grunde immer noch unaufgehellte) bildhaft analogisierende Urteilskraft. So veranschaulicht, um Kants berühmtes Beispiel heranzuziehen, eine Handmühle die Idee des ungerechten despotischen Staates. Zwar haben Handmühle und Despotismus keinerlei sachhaltige Ähnlichkeit, dennoch gibt die Handmühle etwas von Despotismus zu sehen, wenn die Urteilskraft eine Analogie in bezug auf deren Kausalverhältnisse reflektierend ersieht: Wie bei der Handmühle die Körner von einer Hand regiert und zermahlen werden, ohne ein Verhältnis zum Regierenden zu haben, so geschieht es dem Bürger im Verhältnis zum Despoten usf. Die für den ästhetischen Humanismus entscheidende Vorgabe des Symbolbegriffs liegt in Kants Fassung der ästhetischen Symbolisierung. „Das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten" (KdU §59, Akad. Ausg. V, 353). Die Schönheit erschließt anschaulich die intelligible Bestimmung des Menschen. Es ist im Grunde die Analogie zwischen den Strukturen von ästhetischer und moralisch-praktischer Freiheit, welche das ästhetische Verhalten zum Schönen für ein Symbol sittlicher Selbstbestimmung tauglich macht. In seinen Jenaer ,Ästhetischen Vorlesungen' erinnert Schiller an dieses Symbolverhältnis und legt von daher das Schöne als Mittelglied zwischen der Sittlichkeit und Sinnlichkeit aus (XXI, 81). Nun zielt nach den dialektischen Erhebungen des ästhetischen Humanismus die Aufgabe des Menschen auf die Idee einer totalen Wechselwirkung der Kräfte. Von diesem Vernunftbegriff gibt es direkt keine angemessene Anschauung. Wie aber stünde es, wenn sich ein Zustand fände, in welchem der Mensch eine volle Ubereinstimmung seiner auseinander strebenden Kräfte im besonderen Verhältnis zu einem ausgezeichneten Gegenstande in herausgehobener Gleichzeitigkeit erführe? Ließe sich nicht darin eine zwar indirekte, aber doch treffliche Veranschaulichung der Idee der Menschheit, eine Darstellung seiner Unendlichkeit gewinnen? „Gäbe es aber Fälle, wo er diese doppelte Erfahrung zugleich machte, wo er sich zugleich seiner Freyheit bewußt würde, und sein Daseyn empfände, wo er sich zugleich als Materie fühlte, und als Geist kennen lernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige Anschauung seiner Menschheit, und der Gegenstand, der diese Anschauung ihm verschaffte, würde ihm zu einem Symbol seiner ausgeführten Bestimmung, folglich (weil diese nur in der Allheit der Zeit zu erreichen ist)

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zu einer Darstellung des Unendlichen dienen" (ÄEM, 14. Brief; XX, 353). Die bahnbrechende Fragestellung lautet daher: Gibt es eine solche Verfassung und einen solchen Gegenstand, und wie müßte er beschaffen sein, um zum Symbol der vollendeten menschlichen Bestimmung zu taugen72? Das dialektische Verfahren befragt nun nicht einfach die scheinbare Unvermitteltheit der Erfahrung, sie bahnt ihren transzendentalen Weg durch synthetisierende Konstruktionen der bisher ermittelten reinen Grundbestimmungen der Erfahrung. Dabei muß die Methode eine neue Dreiheit entfalten. Die gesuchte, symbolträchtige menschliche Existenzweise dürfte weder einseitig durch den Stofftrieb noch durch den Formtrieb, sie müßte durch einen dritten Trieb eingenommen sein. Dieser Trieb kann nicht in einer dritten, bislang verborgen gebliebenen Natur des Menschen wurzeln; denn der Mensch ist eine sinnlich-vernünftige Doppelnatur, aus der nicht mehr als zwei Grundtriebe entspringen. Demnach ist ein dritter Trieb neu, wenn sich seine Richtung den Tendenzen beider Grundtriebe, je für sich genommen, so entgegensetzt, daß sie beide vermittelt und aufhebt. Das vermittelnde Dritte ist also nicht ein anderes Seiendes neben den Entgegengesetzten, es ist nichts als das Zusammenwirken der beiden Grundtriebe in einer neuen, den natürlichen Tendenzen entgegenlaufenden Richtung. Das läßt sich in Rücksicht auf die Grundmächte der Freiheit und der Zeit durchkonstruieren. Der sinnliche Trieb hat die Tendenz, Zeit zu erschaffen und den Menschen in die Schranke der Zeit zu setzen. Der Formtrieb hat die Tendenz, Zeit aufzuheben und die Jetzt-Zeit in All-Zeit zu verwandeln. Der dritte Trieb nimmt beide Tendenzen zusammen, indem er sich jeder einzelnen widersetzt. Er versetzt den Menschen weder 72

Schillers sogenannte Kallias-Briefe haben Kants Einsicht in den Symbolcharakter des Schönen aufgenommen und im Zuge der , Objektivierung' der ,subjektivierten' Geschmacksästhetik auf den schönen Gegenstand gewendet. Sonach steht nicht mehr der ästhetische Zustand des Subjekts als das Analogon zum sittlichen im Blick, sondern die Seinsweise des schönen Gegenstandes selbst als „diejenige Form in der Sinnenwelt, die bloß durch sich selbst bestimmt erscheint" (an Körner, 18.2.93; Jonas III, 256). Das Schöne ist symbolische Darstellung der Freiheit; „denn dargestellt heißt eine Idee, die mit einer Anschauung so verbunden wird, daß beide Eine Erkenntnisregel miteinander theilen" (ibid.). Es darf nicht übersehen werden, daß die berühmte Definition, Schönheit sei Freiheit in der Erscheinung, in den Kallias-Briefen durch das Schein-Wesen des Symbolischen erschlossen wurde. „Die große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Erscheinungen der Natur zurück, und diese nennen wir Schönheit" (ibid.). Über die geschichtliche Wandlung des Symbolbegriffes in der Neuzeit und seine systematische Bedeutung im Idealismus Kants und Schillers vgl. W. Janke, Das Symbol. In; Philos. Jb. 76,1 (1968) S. 164-180.

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einfach in die Zeit, noch hebt er die Zeit auf — er geht darauf aus, „die Zeit in der Zeit aufzuheben" (XX, 353). Dasselbe Konstruktionsschema läßt sich für das menschliche Freiheitsstreben durchführen. Der Formtrieb besitzt die Tendenz, die persona moralis zu behaupten, die moralische Freiheit durchzusetzen und die menschliche Gesittung einem Selbstzwang unter Nötigung durch das Sollensgesetz zu unterwerfen. Dem Stofftrieb dagegen eignet die Tendenz, den Menschen in seinen Neigungen freizulassen und ihn so der physischen Nötigung durch das Objekt zu überlassen, das er sinnlich begehrt. Der dritte Trieb dürfte mithin weder moralisch noch physisch nötigen. Er müßte den Menschen in einen Zustand völliger Bestimmungsfreiheit bringen. Und wie läßt sich angesichts dieses erstaunlichen Resultats der Gegenstand fassen, auf den sich dieser dritte, die Einseitigkeiten von Freiheit und Zeitlichkeit aufhebende Trieb richtet? Auch er läßt sich aus dem Sein des Gegenstandes von Stoff- und Formtrieb herauskonstruieren. Er müßte aus beiden zusammengesetzt und jedem einzelnen von beiden entgegengesetzt sein. Die Gegenständlichkeit des sinnlichen Triebs oder des , Lebenstriebs' (XX, 347 vgl. ,Uber das Erhabene', XXI, 51) kann Leben heißen; denn Leben besagt unmittelbar gefühlte Gegenwart, und das Objekt des Lebens ist eben das im Jetzt Empfundene. Das Sein des Gegenstandes, auf das sich der Formtrieb richtet, heißt Gestalt; denn Gestalt und Form benennen das Bleibende und Gesetzliche, an das sich theoretische und praktische Vernunft, Wille und Denken, halten. Das gegenständliche Sein, an das sich der dritte Trieb hält, wäre danach nicht bloßes Leben; es ist nicht bloßes Material der Empfindung. Und es ist auch nicht reine Gestalt. Es widersetzt sich dem Aufgehen in die Begrifflichkeit eines Gedankens oder eines Zieles. Die Gegenständlichkeit, die dem dritten Trieb entspricht, ist ,lebende Gestalt'. Was ist das für ein Trieb, der das Erstaunlichste vermag, nämlich die Zeit in der Zeit aufzuheben und den Menschen in den Zustand absoluter Zwanglosigkeit oder freiester Bestimmbarkeit zu versetzen? Und was ist das für ein Gegenstand, in dessen Sein Leben und Gestalt symbolisch zusammenfallen? Der dritte, vermittelnde Trieb ist der Spieltrieb, sein Gegenstand das Schöne und das Werk der Kunst. , Lebende Gestalt' ist der sachgerechte Name für die Schönheit. Seine kritische Konzeption hebt die Einseitigkeit der empirischen, physiologischen Ästhetik (z. B. Burke) und die der spekulativen, dogmatischen (der Leibnizschule) auf (vgl. 15. Brief, Anm.). Einseitig ist jene vorkritische Begründung des Schönen, welche wie die von Burke in psychologisch-physiologischen Untersuchungen auf

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das Erleben des lebendig Erfühlten zurückgeht und so Schönheit ,zum bloßen Leben macht*. Das hieße, das Schöne mit dem Gegenstand des Stofftriebs gleichsetzen. Aber nicht weniger abstrakt verfahren die .Anhänger des dogmatischen Systems'. Diese verstehen unter Schönheit nur die bloße Gestalt, in der Kantischen Fassung der dogmatischen Vollkommenheitsästhetik ausgedrückt: die Form objektiver Zweckmäßigkeit ohne Zweck, verworren gedacht. So aber wäre das Schöne in die Gegenstände des Formtriebs hineingemischt. In Wahrheit ist das Sein des Schönen eine solche Synthesis von Leben (Empfindungsgehalt) und Gestalt (Ideengehalt), in welcher Leben und Gestalt sich nicht etwa zu einer Zweiheit summieren, sondern zur Einheit eines neuen Sinnes durchdringen. Der schöne Gegenstand existiert nur so, daß sein sinnliches Leben eine Idee in durchgestalteter Einheit für uns und durch uns zum Scheinen bringt. „Nur indem seine Form in unsrer Empfindung lebt, und sein Leben in unserm Verstände sich formt, ist er lebende Gestalt" (ÄEM, 15. Brief; XX, 355). Die Empfindung gestaltet sich, wenn das Empfundene (Farben und Töne) im Wie seines Erscheinens eine Idee zur Darstellung bringt. Die Form ist belebt, wenn ihre Idee im sinnlichen Scheinen zur Anwesenheit kommt. Gestalt ist Form im sinnlichen Vorscheinen des Schönen. So entsteht der Terminus „lebende Gestalt" nicht, wie man meint, durch eine Erschleichung, die mit dem Doppelsinn von Gestalt bzw. Form täuschen will. Er bildet die sachgerechte Benennung der Schönheit durch eine Kritik des Geschmacks, welche das Schöne sowohl von den Objekten des Lebenstriebs wie von denen des Formtriebs absetzt und in seiner vereinenden Synthesis zu treffen sucht73. Der ästhetische Humanismus begründet diese Fassung der Schönheit aus ihrer aufhebenden Kraft. Das Schöne erhebt den Menschen über bloße Lebensempfindung und reines Ideendenken und entzieht ihn dadurch aller gefährlichen Einseitigkeit. Es entrückt den Menschen in das beglückende Einessein mit sich selbst, den Gipfel, die .Consummation' seiner Daseinsmöglichkeit. 73

Die Metabasis der Begriffe von Form und Gestalt und die metaphorische Übertragung ihrer räumlich-zeitlichen Bedeutung auf geistige Verhältnisse endarven nach K. Hamburger (Schillers Fragment ,Der Menschenfeind' und die Idee der Kalokagathie. In: Philosophie der Dichter. Stuttg. 1966. S. 119 ff.) die unechte Dialektik, in der sich Schillers Denken auf ästhetischem Gebiete bewegt. Aber antithetische Prinzipien (wie Leben — Form) gehen doch nicht unverändert als Bestandteile einer Summe in ihre Vereinigung (lebende Gestalt) über. In einer .echten' dialektischen Synthesis gewinnen sie die Einheit eines neuen Sinnes. Die Gestalt des Formtriebs und die lebende Gestalt des Spieltriebs sind nicht durch eine formallogische Metabasis eis alio genos, sondern durch einen dialektischen Ubergang zu einer höheren Stufe der Sinneinheit unterschieden.

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„Die Schönheit, als Consummation seiner Menschheit, kann also weder ausschließend bloßes Leben . . . noch kann sie ausschließend bloße Gestalt seyn" (ÄEM, 15. Brief; X X , 356). Der dritte Trieb, der sich zum schönen Gegenstande verhält, heißt Spieltrieb. Und nun leuchtet ein: Das Spiel mit dem Schönen hebt die Zeit in der Zeit auf und befreit von der zweifachen Nötigung der Sinnlichkeit und Vernunft. Unüberhörbar klingt im neuen Spielbegriff Kants Aufweisung eines freien Spiels der Erkenntniskräfte im verbindlichen Urteil über das Schöne an. Und unstreitig befreien der Zustand ,schicklichen' Zusammenspiels von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand (Vernunft) und die Befindlichkeit des einzig freien, interesselosen Wohlgefallens (vgl. K d U § 5) von den einseitigen Nötigungen der Neigung und der Moralität. Was aber bedeuten Spiel und ästhetische Freiheit im Problemhorizont einer antagonistischen Dialektik? Spiel ist vor allem ein Tun, das in sich selbst mühelos und lustvoll ist und dessen einziger Zweck darin besteht, gut zu spielen. Darum grenzt sich das Spiel von der Arbeit im Sinne einer Mühsal ab, deren Lust und Lohn außer ihr liegen. Und es vermag den Menschen des Notstaates für den Augenblick aufgehobener Zeit aus dem Zustande zu reißen, in welchem die arbeitsteilige Lohnarbeit ihn zum Bruchstück zerteilt. Im Spiel kann der Mensch die Rückkehr aus seiner arbeitsweltlichen Zerstückung in seine Ganzheit symbolisch' erfahren. (Daß die unentfremdete Arbeit das ontologische Gepräge des Spiels hat, darüber könnte die These des frühen Marx belehren: „Der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit", PM; 1,568). Und das Spiel als das Spielerische, das Leichte hebt sich gegen den Ernst ab. Das ist die der antagonistischen Dialektik eigentümliche Bestimmung. Das Spiel wird als Aufhebung einer zweiseitigen Gefährdung unserer Existenz definiert. Es erhebt über „den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals" (XX, 359). Darin offenbart sich vollends die antithetische Synthesis des Spieltriebs in ihrer Versöhnung der entgegengesetzten Tendenzen. Dem Stofftrieb geht es um Leben und Existenz in der Welt, welche durch Not und Schicksal gefährdet sind. Wo Leben und Existenz bedroht sind, da wird es dem Menschen (qua Zustand) Ernst. Dem Formtrieb dagegen geht es ausschließlich darum, Persönlichkeit und Würde zu wahren. Sie aber sind durch Verletzung der Pflicht und der Menschenrechte bedroht. Da, wo seine Würde in Gefahr gerät, wird es dem Menschen (qua Person) Ernst. Und schließlich hatte die Antagonismus· Analyse gezeigt: Wenn sich beide Triebe im Kampfe gegenein-

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ander wenden, dann ist beides gefährdet, Existenz und Würde. Der Ernst des Schicksals durchstimmt latent unser Dasein. Das Spiel des Spieltriebs hebt den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals auf. Die Pflicht verliert ihren Achtung abnötigenden Ernst, sie wird leicht; denn im ästhetischen Spiel nimmt die gebietende Idee durch schönen Schein und geistige Lust für sich ein. Und die Wirklichkeit der Existenz verliert ihren sorgenvollen Ernst, sie wird klein (XX, 357). Im ästherischen Spiel erscheint die kurze Spanne der Lebenszeit unbedeutend und erweitert sich in der Idee, die im Schönen so erscheint, daß sie mich sinnlich anrührt und entrückt. So entgeht das Spiel dem Pascalschen Fluch, nichts als Zerstreuung, existenzielles divertissement, Flucht vor dem Ernst des Lebens und des Todes zu sein. Es wird als diejenige Existenzweise des Menschen umrissen, in welcher er vollständig gesammelt, in beglückender Zusammenstimmung seiner gegeneinander gespannten Triebe ganz da ist. Freilich überhebt sich der Mensch der Antagonismen nur für den Augenblick, in welchem der Spieltrieb Zeit in der Zeit aufzuheben vermag. Zwar vollzieht sich jedes Spiel eine Weile lang, dennoch ist der Spielende inmitten der Zeit zeitverloren. Das Spiel mit dem Schönen lebt aus dem unmeßbaren, Vergangenheit- und zukunftlöschenden Augenblick, in welchem die Schönheit blitzhaft aufleuchtet („flüchtig wie des Blitzes Schein" vgl. Die Gunst des Augenblicks, 1803; Werke II, 810). Der ästhetische Augenblick bildet die dialektische Ubergangskategorie, in welcher sich Zeit und Ewigkeit berühren und der Mensch für die Zeit eines einzigen Blicks aus der Not seines endlichen, zerteilten Daseins in die Helle seiner unendlichen Bestimmung eintritt. Die Ekstase des ästhetischen Augenblicks hebt den Spielenden aus seinem alltäglichen Verstehen in eine Verstehbarkeit von Sein hinaus, die zugleich eine einzigartige Verstehbarkeit seiner selbst ist74. Die Sinnerschließung geschieht symbolisch. Da, wo sich der Mensch in der Gunst des Augenblicks und der Freiheit des Spiels ganz auf das Schöne einläßt, gewinnt er ,die vollständige Anschauung seiner Menschheit'. Der ästhetische Zustand als augenblickliches Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Vernunft, von Materie und Geist im Verhalten zum Schönen macht indirekt und analogice die Idee einer Seelenverfassung anschaulich erfahr-

74

Über die Rolle der Zeitlichkeit und des ästhetischen Augenblicks in Schillers Humanismus vgl. W. Janke, Die Zeit in der Zeit aufheben. In: Kant-Studien 58 (1967) 433-57.

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bar, die dem Menschen auf seinem Wege zur Gottheit aufgegeben ist: den Vernunftbegriff einer totalen Wechselwirkung der Triebe. Der Spieltrieb bildet also nicht den dritten synthetischen Trieb, der die Antithesis von Stoff- und Formtrieb überhaupt vereinigt. Ihn mit der totalen, schrankenlosen Wechselbestimmung gleichsetzen, wie es landläufig geschieht, heißt, die Dialektik und kritische Besonnenheit des ästhetischen Humanismus schrecklich zu simplifizieren. Der Spieltrieb stellt die Wechselbestimmung der Triebe nur in einem besonderen und seltenen Falle, im Falle der Gunst des Schönen dar. Recht besehen, ist der Spieltrieb nicht die absolute Wechselwirkung selbst, sondern eben deren symbolische Veranschaulichung und Bürgschaft. Und daraus folgt: Das ästhetische Verhalten zum Schönen bedeutet weder Wesensvollendung und Endzweck menschlichen Seins noch das Mittel oder den Weg dahin. Die im freien Spiel des Subjekts sich zeigende lebende Gestalt des Gegenstandes bildet das Symbol der menschlichen Ganzheit, .seiner ausgeführten Bestimmung'. Und das Bedeutsame des Symbols ist weder der ästhetische Akt (das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand, von bewußter und unbewußter Tätigkeit im Betrachten bzw. Hervorbringen des Schönen) noch der Gegenstand (das Ineinanderscheinen von Gehalt und Gestalt) je für sich selbst, sondern die einzigartige, begünstigte Subjekt-Objekt-Einheit im Spiele des Subjekts mit dem schönen Gegenstand; denn das Schöne ist kein vorliegendes, antreffbar Vorhandenes und nichts ohne den ästhetischen Akt, und das ästhetische Spiel ist nichts ohne das Sein dessen, mit dem es spielt, dem Wunder der Schönheit. Das Spiel mit dem Schönen erfüllt den Sinn des Symbols in eigentümlicher, unverkürzter Weise. Meint Symbol einen bedeutsamen Zusammenfall von Sinnlichem und Unsinnlichem, so bedeutet das Schöne eben diejenige Einigung von Sinnlichkeit und übersinnlicher Idee, welche die gottgleiche Koinzidenz veranschaulicht. Von daher nimmt das Symbol seine alte Rolle als Erkennungszeichen, Dokument und Ausweis, als Pfand und Bürge der Wiedererkennung wieder ein. Ist das Kunstwerk der unendliche Zusammenfall von Sinnlichem und Ubersinnlichem, von Reellem und Ideellem, von Freiheit und Notwendigkeit — endlich dargestellt, dann taugt es zum Dokument und Erkennungszeichen des Absoluten. Und besteht die Wirklichkeit des Symbols in der Verpflichtung, die es auferlegt, dann leuchtet ein, warum das Spiel mit dem Schönen unter die Forderung des Sollens fällt. Zwar spricht solches Sollen nicht mit der Nötigung eines moralischen Imperativs, so daß der transzendentale Gedanke des Geschmacks in eine moralische Forderung gewandelt und als

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Imperativ formuliert wird: Verhalte dich ästhetisch!7S Wohl aber spricht das Gesetz: „Es soll eine Schönheit seyn" (ÄEM, 15. Brief; XX, 356) mit dem Ernst der humanistischen Aufgabe, das eigene Wesen angesichts der Not antagonistischer Entzweiungen zu verwirklichen. „Es soll eine Menschheit existieren" (ibid.). Auch darin setzt Schiller den Umbruch der Platonischen Seelen- und Staatsverfassung ins Werk. Die Platonische Unterstellung von Unernst und Spiel (παιδία) der Kunst und von der Gefährdung des menschlichen Geistes durch den wesenlosen Schein im skandalösen 10. Buch des Staates weicht endlich der Einsicht in eine überernste Verbindlichkeit von Spiel und Schein des Schönen. Das Spiel des Menschen mit dem Schönen ist keine unverbindliche Spielerei des Geschmacks, der sich an der Wesenlosigkeit eines berückenden Scheins vergnügt, es bildet das Unterpfand einer Erkenntnis, in welcher der Mensch seine im Widerstreit der Kräfte vergessene Wesensmöglichkeit symbolisch wiedererkennt. Es bezeugt und verbürgt, daß die Idee von der unbeschränkten Harmonie der Kräfte, von der Aufhebung der Subordination und Herrschaftsverhältnisse in Seele und Staat, keine Illusion darstellt. Freilich sind dabei die Spielregeln des Spiels einzuhalten, soll nicht der ästhetische Symbolbereich zum Reiche einer psychologischen und politischen Utopie verfälscht werden. Der Mensch soll mit dem Schönen nur spielen, d. h. er soll das Schöne nicht schon für die wahre Wirklichkeit, den ästhetischen Staat ζ. B. für das Ziel der Geschichte halten. Und der Mensch soll nur mit der Schönheit spielen. Er soll nur im Reiche der Kunst, nicht in dem Gebiet von Zeit und Freiheit den Ernst aufheben. Der einzigartige Fall, daß der Mensch im rechten Spiele mit dem Schönen ganz das ist, was er sein soll, verbürgt, daß es einen Ausweg aus dem Getriebe des Antagonismus gibt. Um das Menschliche dauerhaft umzuschaffen, dazu braucht es eines dialektischen Ruhe- und Umschlagpunktes: die Vermittlung des ästhetischen Spiels und die zweite Schöpfung durch Schönheit und Kunst.

75

Dies hat H.-G. Gadamer als einen Wendepunkt im ästhetischen Bewußtsein festgestellt. Vgl. Wahrheit und Methode. 2. Aufl. Tübingen 1965. S. 77.

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Antagonische Dialektik

7. Kapitel: Schönheit — ,unsre zweyte Schöpferin'. Die Vermittlung des ästhetischen Zustandes Schönheit ist unsere zweite Schöpferin. Diese poetische Wendung bringt die neuschaffende Kraft des Schönen und der Kunst zur Sprache. Sie benennt den Anblick des Schönen, der — beispielhaft in Werken griechischer Kunst — selbst noch als Torso den Menschen gänzlich durchdringt. „denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern." (Rilke, Archaischer Torso Apollos) So hatte Schiller im Hinblick darauf, wie das „Antlitz einer Juno Ludovisi zu uns spricht", die unsägliche Rührung beschrieben, mit der die Schönheit der Kunst, diese „völlig geschlossene Schöpfung" uns anrührt und in einen neuen, dem Verstände unbegreiflichen Zustand versetzt (XX, 360). Die Rede von der Natur als unserer ursprünglichen und von der Schönheit als unserer zweiten Schöpferin ist mehr als eine vielsagende hymnische Personifizierung. Mit ihrer Formel läßt sich der Anspruch des Humanismus auf eine Wiedergeburt (Renaissance und Resurrektion) des ,neuen Menschen', die Aufhebung seiner Denaturierung, Entwirklichung und Entfremdung, dialektisch präzise fassen. Und sie ersetzt die frühe, dogmatisch-dialektische Formel von der Liebe als dem mit neuem Geiste belebenden, großen Zusammenhang aller denkenden Naturen, welche schon die 2. Karlsschul-Rede von 1780 geprägt hatte: „Liebe ist der zweite Lebensodem in der Schöpfung" (XX, 32) 76 . Nicht die Liebe, die Schönheit ist, dialektisch nachgerechnet, die Instanz, welche den von der Einheit der Natur abgefallenen Menschen zu neuer Einheit erhebt. „Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweyte Schöpferin nennt" (ÄEM, 21. Brief; XX, 378). Die Wiedergeburt des Menschen geschieht auf dem Wege einer Vermittlung. Schönheit gibt dem sinnlich empfindenden Menschen die Gedankenwelt des Geistes und dem geistigen Menschen die Sinnenwelt wieder. Eine zweite Schöpfung ereignet sich mithin in einem mittleren 76

E. Cassirer (1. c., S. 87ff.) hat darauf hingewiesen, wie die allbeseelende Synthesis und neuempfindende Schöpfung der Liebe — auf dem Stande der .Theosophie des Julius' — einer aufkeimenden Skepsis und Verzweiflung anheimfällt. Die Liebe, das „unfehlbare Land der empfindenden Schöpfung", ist, weil sie allein in der Phantasie des Künstlers existiert, „zuletzt nur ein glücklicher Betrug" (an Reinwald, 14. April 1783; Jonas I, 112).

Die Vermittlung des ästhetischen Zustandes

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Zustande, in dem uns die Schönheit erhebt. An diesem Punkt, auf den die Ermittlungen der antagonistischen Dialektik hinsteuern, bricht das Problem von Entgegensetzung und Vermittlung in unversöhnter Schärfe wieder auf. „Die Schönheit verknüpft die zwey entgegengesetzten Zustände des Empfindens und des Denkens, und doch giebt es schlechterdings kein Mittleres zwischen beyden. Jenes ist durch Erfahrung; dieses ist unmittelbar durch Vernunft gewiß. Dieß ist der eigentliche Punkt, auf den zuletzt die ganze Frage über die Schönheit hinausläuft" (ÄEM, 18. Brief; XX, 366). Die bisherigen Erhebungen der Dialektik sind lediglich bis zu einem Faktum gediehen. Nachgewiesen ist, daß die an sich unaufhebbare Zweiheit und Gegensätzlichkeit menschlicher Bestimmungen im Spiel mit dem Schönen zu einer Ganzheit vermittelt ist. Daß dies faktisch so ist, dafür bürgt die Erfahrung des Daseins mit der Kunst. Wie aber dieser mittlere Zustand, der den unendlichen Abstand der widerspenstigen Grundtriebe überbrückt, möglich sei, bleibt aporetisch. Dabei muß die Dimension dieses Ubergangsproblems eingehalten werden. Zur Frage steht nicht bloß die gnoseologische Genese von Empfindung und Denken im Durchlaufen einer ästhetischen Einbildung, intendiert ist immer auch der Übergang aus dem Zustand physischer Notwendigkeit und aus dem gesellschaftlichen System des Egoismus in den Status der inneren Notwendigkeit und einer vernunftgerechten politischen Freiheit. Die Frage nach dem mittleren Zustande der Schönheit verspricht Aufklärung über die Geschichte der menschlichen Freiheit in ihrem vollen Umfange. Es ist der Problemstand der Sache, der den Vorgang der Methode vorschreibt. Die zugespitzte Fragestellung des ästhetischen Problems macht „zwey höchst verschiedene Operationen, welche bey dieser Untersuchung einander nothwendig unterstützen müssen" (XX, 366), erforderlich, nämlich die strenge Scheidung einer kritischen Antithesis und die bruchlose Einigung einer ästhetischen Synthesis. Das erste, antithetische Geschäft hat die transzendentale Analytik des reinen Menschseins hinlänglich besorgt. Jetzt ist die Synthesis durchzuführen und zu zeigen, wie die Entgegensetzungen durch die Schönheit vollständig verbunden und wodurch sie bruchlos „aufgehoben werden" (XX, 366). „Unser zweytes Geschäft ist also, diese Verbindung vollkommen zu machen, sie so rein und vollständig durchzuführen, daß beyde Zustände in einem Dritten gänzlich verschwinden, und keine Spur der Theilung in dem Ganzen zurückbleibt" (ÄEM, 18. Brief; XX, 366). Hier stellt sich, durch die Sache erzwungen, der Methodenbegriff der Aufhebung ein. Aufheben besagt, zwei entgegengesetzte Positionen in einem Dritten verschwinden machen.

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Sein Rhythmus ist also dreigängig und sein Negieren Vernichtung, Bewahrung und Versöhnung ineins. Die Gegensätze Sinnlichkeit — Vernunft, Notstaat — Vernunftstaat dürfen also nicht ausgerottet, wohl aber muß ihre Macht, ihr ausschließlicher Prinzipienanspruch, negiert werden. Die methodische Vorfrage lautet daher: Bei welchem der beiden Gegensätze muß solche Aufhebung anheben? „Jene Macht der Empfindung muß . . . vernichtet werden" (ÄEM, 20. Brief; XX, 374). Das ist das erste Gebot einer ästhetischen Versöhnung. Der Prozeß der Aufhebung muß anfänglich beim Lebenstrieb einsetzen. Das legt dessen Priorität nahe. Innerhalb der Genesis des persönlichen Freiheitsbewußtseins ist das Individuum, das Selbst in der ungehemmten Macht des sinnlichen Triebes, Welt an sich zu reißen, zeitlich früher als die Person. Entsprechend geht im weltgeschichtlichen Fortschritt des Freiheitsbewußtseins die Macht der schrankenlosen Selbstsucht der Macht der Vernunft voraus. „In dieser Priorität des sinnlichen Triebes finden wir den Aufschluß zu der ganzen Geschichte der menschlichen Freyheit" (ÄEM, 20. Brief; XX, 374). Die antithetische Aufhebung ist mithin ein in den Anfang zurücklaufender Prozeß. Er führt die bestehenden Gegensätze nicht unmittelbar zu höherer Vereinigung fort, er macht vielmehr die Macht der Empfindung in ihrem Ursprünge rückgängig. In dieser Bewegung liegt die Eigenart der Schillerschen Dialektik. Der Mensch kann die „Kluft" (den Chorismos) zwischen seiner aktiven und passiven Bestimmung nur überwinden, wenn die Macht der Sinnlichkeit aufgehoben wird, bevor sie in den Gegensatz zur Vernunft eintritt. „Er muß einen Schritt zurückthun" (XX, 374). So beginnt deutlicher zu werden, wie die Schönheit aufhebend wirkt. Der erste Schritt der Aufhebung führt in einen mittleren Zustand, der den Menschen in den Stand unbegrenzter Bestimmbarkeit zurückversetzt. Auf ihn hat sich die Methode dialektischer Befreiung zu konzentrieren. Was also ist das für ein Zustand? Inwiefern begibt sich in ihm eine bewahrende Negation? Und warum erhebt sich durch ihn der Mensch, als wäre er durch die Schönheit gleichsam neu geboren? Der mittlere ästhetische Zustand kann systematisch festgestellt werden. „Es lassen sich in dem Menschen überhaupt zwey verschiedene Zustände der passiven und aktiven Bestimmbarkeit, und eben so viele Zustände der aktiven und passiven Bestimmung unterscheiden. Die Erklärung dieses Satzes führt uns am kürzesten zum Ziel" (ÄEM, 19. Brief; XX, 368). Der Zustand passiver Bestimmbarkeit betrifft das Gemüt (mens, animus) im Modus der Möglichkeit, zu wirklicher Welt-Vorstellung bestimmt zu

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werden. Dieser Status der Bestimmbarkeit ist leere Unendlichkeit und gänzliche Schrankenlosigkeit, weil noch jegliche Realität fehlt. Er bedeutet seinsmäßig nichts als Empfänglichkeit für Vorstellungen: Seele als mögliche Anwesenheit von Ideen (,tabula rasa'). Der Zustand passiver Bestimmung nennt die Wirklichkeit des Gemüts, sofern es durch Leiden konstituiert ist. Er kennzeichnet den Menschen in seiner sinnlichen Natur und in seinem begehrenden Weltverhalten. Dieser Status der Bestimmung bedeutet ein wirkliches Beschränktwerden durch Welt unter dem Andränge der Sinnlichkeit. Der Zustand aktiver Bestimmung dagegen prägt die Wirklichkeit des Bewußtseins, sofern sie durch Tätigkeit, ,eine absolute Thathandlung des Geistes', konstituiert ist. Auch dieser Status bedeutet für das Ich ein Beschränkt- und Bestimmtsein, freilich nur „insofern es sich selbst aus eigenem, absolutem Vermögen beschränkt" (XX, 376). Nun sind, wie hinlänglich gezeigt, die passive und aktive Bestimmung des Menschen durch eine unendliche Kluft getrennt; denn Leiden, Fremdbestimmung, äußere Notwendigkeit auf der einen, Tätigkeit, Selbstbestimmung, innere Notwendigkeit auf der anderen Seite schließen einander aus und streben tendenziell auseinander. Das Rätsel ihrer Vereinigung kommt im Rückgang zu den Zuständen der Bestimmbarkeit ins Ziel. Dabei bleibt der Status passiver Bestimmbarkeit außer Betracht; denn er bildet ja eben die Möglichkeit vor, aus der das zwiespältige Welt- und Selbstbewußtsein unter den notwendigen, gegensätzlichen Bedingungen von Tathandlung und Leiden besteht. Was bedacht werden muß, ist der Zustand einer aktiven Bestimmbarkeit. Dieser Zustand betrifft das Gemüt in seiner ästhetischen Gestimmtheit und Freiheit. Das Eigentümliche an ihm ist sein Modalcharakter, nämlich die Wirklichkeit eines Könnens. In ihm herrscht die lebhafteste, unbeschränkte Tätigkeit im Modus der alles sein könnenden Möglichkeit (Energie im aristotelischen Sinne der 1. Entelechie). Nur durch ästhetische Bestimmungslosigkeit und Freiheit hindurch können Leiden und Tun ineinander übergehen, und nur aus dem Augenblick ästhetischer Stimmung kann ein neuer Mensch entstehen. „Er muß also, um Leiden mit Selbsttätigkeit, um eine passive Bestimmung mit einer aktiven zu vertauschen, augenblicklich von aller Bestimmung frey seyn, und einen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit durchlaufen" (ÄEM, 20. Brief; XX, 374). Solche Rückkehr in den negativen Zustand der Schrankenlosigkeit trennt die ästhetische Dialektik von der limitativen. Die Aufhebung durch wechselseitige Einschränkung wird in einen Bereich unbegrenzter Schrankenlosigkeit zurückgeleitet. Im ästhetischen Zustande wird der Mensch,

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wenngleich nur im Nichtsein der Bestimmbarkeit, von aller Bestimmung und Schranke frei. Diese , gottgleiche' Entschränkung menschlicher Wirklichkeit hat die Dialektik der Limitation nicht bedacht. Sie hat — trotz Fichtes nachträglicher Konstruktion des dritten, ästhetischen Triebes in den Briefen ,Ober Geist und Buchstab in der Philosophie' 77 — die Bedeutung der schrankenlosen Bestimmbarkeit als dialektischen Umschlagplatz nicht ausloten können, weil sie an der Grundgleichung .menschliche Endlichkeit = Schranke' und am Primat des praktischen Triebes festhält, der die Schranke stets überwinden soll, aber niemals aufheben kann. Auf welchem Wege aber hebt denn nun dieser vierte Zustand die Macht und Determination der Sinnlichkeit auf? Es soll der absolute Prinzipienanspruch der Sinnlichkeit in ihrem Anfangsstadium gebrochen werden; sonst besteht keine Hoffnung auf Versöhnung mit der Gegenpartei, der Persönlichkeit und seinem Formtrieb. Zugleich aber muß die Realität des Stofftriebes festgehalten werden; sonst verliert das Selbst und die Person den Bezug zu Leben und Welt. Das Dasein soll der Schranke der Zeit und der Determination der Materie enthoben und doch nicht zeitlos und inhaltsleer werden. „Die Aufgabe ist also, die Determination des Zustandes zugleich zu vernichten und beyzubehalten" (ÄEM, 20. Brief; X X , 375). Wie aber ist solch bewahrend-vernichtende Aufhebung (negatio et conservano) ins Werk zu setzen? Das geschieht durch eine solche Entgegensetzung, daß die Gegensätze bestehen bleiben, aber einander aufwiegen. Die Allegorie der ausgewogenen Waage macht verständlich, wie eine volle Schale die andere nicht mehr unterdrückt, ohne entleert zu werden. Wird ihr eine andere, gleichgewichtige entgegengesetzt, dann kommen beide Schalen in den Schwebezustand erfüllter Entsprechung. Analog setzt sich im Zustande aktiver Bestimmbarkeit dem machtvollen Lebenstrieb das Vernunftstreben entgegen, so daß beide, Sinnlichkeit und Vernunft, zugleich tätig bleiben. Sofern die bestimmenden Kräfte einander aufwiegen und in einer Schwebe halten, findet sich der Mensch in einem Status erfüllter Tätigkeit und unbegrenzter Bestimmungs77

Über die Grenzen der Fichteschen Nachkonstruktion des ästhetischen Triebes und der ästhetischen Vermittlung innerhalb des Systems eines ethischen Idealismus vgl. M. Tielkes, Schillers transzendentale Ästhetik, Diss. Köln 1973. S. 36—52. Es sei hinzugefügt, daß die W. L. nova methodo (S. 610) die Ästhetik als Vermittlung des gemeinen mit dem transzendentalen Standpunkt ansetzt. Im ästhetischen Mittelpunkte erscheint die Welt nicht, wie in gemeiner Ansicht, einfach gegeben und auch nicht, wie in transzendentaler Reflexion, bloß gemacht — sie erscheint uns gegeben, so als wenn wir sie selbst gemacht hätten. Aber auch hier dient die Ästhetik nur zur Erhebung vom gemeinen zum transzendentalen Standpunkt und nicht als Aufhebung transzendentaler Gegensätze selber.

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losigkeit. Dieser Zustand realer und aktiver Bestimmbarkeit ist der ästhetische. Und es ist wohl deutlich, daß diese Fassung den Spieltrieb im Wie seiner Aufhebung durchsichtig macht. Die lebhafteste Aktivität, das Insichschweben, eben die aktive Bestimmungslosigkeit des Spielens, verdankt sich einer Ausgewogenheit aller Kräfte. Die ausgewogene Ubereinstimmung des mittleren Zustandes versetzt das Gemüt in eine einzigartige, freie Bestimmung. An ihr fallen die Charaktere der ästhetischen Freiheit und antithetischen Befindlichkeit gleichermaßen auf. Aktive Bestimmbarkeit schließt Freiheit von jeglicher Bestimmung, von physischer wie von moralischer Nötigung, ein. Und die ausgewogene Stimmigkeit impliziert den Schwebezustand der Stimmung einer geistigen Lust, in welcher sich der Mensch des Zusammenspiels aller Kräfte, eines gesteigerten und erfüllten Lebens, unmittelbar inne ist. In diesem Zustand wird er frei dafür, auf eine neue Weise sein Dasein zu führen. In Spiel und Gestimmtheit dieser Freiheit waltet die Schönheit, unsere zweite Schöpferin. Wie also steht es nun mit der Elevation, der Aufhebung auf eine Stufe der Menschheit, in der die Kämpfe des Antagonismus schweigen? Die Frage, ob die Schönheit den Menschen überhaupt zu erheben vermag, verwickelt sich sogleich in einen Thesen-Streit. Die eine Partei erklärt das Schöne und die ästhetische Stimmung für völlig unfruchtbar, die andere für zuhöchst fruchtbar, neue Erkenntnisse zu finden und Gesinnungen zu wandeln. Beide Ansichten sind berechtigt, wenn nur die Seinsweise des ästhetischen Zustandes, das wirkliche Können (oder die 1. Entelechie) der aktiven Bestimmbarkeit, zu Rate gezogen wird. Sieht man darin nur die Nicht-Wirklichkeit, den Mangel jeder besonderen Bestimmung, dann erscheint die Schönheit in ihrer ganzen Wirkungslosigkeit. Die ästhetische Stimmung entwickelt keine einzige Erkenntniswahrheit, sie führt keinen moralischen Zweck aus und hilft keine Pflicht zu erfüllen. Ihre unendliche Möglichkeit und Bestimmbarkeit enthält keine einzige wirkliche Bestimmtheit. Andererseits läßt sich die Schönheit als die „höchste aller Schenkungen, als die Schenkung der Menschheit" (XX, 378) betrachten. „Denn ob sie uns gleich die Menschheit bloß möglich macht, und es im übrigen unserm freyen Willen anheim stellt, in wie weit wir sie wirklich machen wollen, so hat sie dieses ja mit unsrer ursprünglichen Schöpferin, der Natur gemein, die uns gleichfalls nichts weiter als das Vermögen zur Menschheit ertheilte" (ÄEM, 21. Brief; X X , 378). Die Gabe der Schönheit gibt dem Menschen etwas zurück. Ihr Geschenk besteht darin, „daß ihm die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll,

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vollkommen zurückgegeben ist" (XX, 378). Diese Behauptung bringt das Problem der ästhetischen Vermitdung in seine Schlußstellung: Wie macht das schöne Spiel solche Wiedergeburt möglich? Offenbar schenkt die Schönheit dem Menschen eine verloren gegangene Chance zurück, nämlich die, ganz und ungeteilt Mensch sein zu können. Die erste Möglichkeit dazu hatte der Mensch von Natur. Darum wird die Natur als erste Schöpferin apostrophiert; denn von Natur aus erhalten wir das Vermögen zur Menschheit, die Kräfte des Selbstbewußtseins und der Weltempfindung, zuerteilt. Aber die Schöpferkraft der Natur gibt nicht weniger, jedoch auch nicht mehr als ein wirkliches Können. Sie versetzt den Menschen in den Stand der Freiheit, sein Wesen und Selbstsein zu verwirklichen oder zu entwirklichen. Was er in Wirklichkeit aus dieser Gabe macht, liegt bei den Entscheidungen seines souveränen Willens. Nun vergibt aber der Mensch gerade dadurch, daß er seine Kräfte und Triebe schrankenlos verwirklichen will, die erste Möglichkeit, wirklich ganz Mensch zu werden. Die Geschichte der Freiheit ist die Geschichte von Antagonismen der Triebe und Klassen. Ihr Grundzug ist die Denaturierung der Natur-Begabung, die fortlaufende Unterjochung eines Teiles der Menschheit (im Einzelnen wie in der Gesellschaft) durch den anderen und die fortschreitende Zerstückelung der Ganzheit menschlichen Wesens zu Bruchstücken seiner selbst. Solange die entfesselte Natur von Stoffund Formtrieb ausschließlich das Getriebe der Geschichte in Bewegung hält, gibt es keine Möglichkeit der Aussöhnung. Und solange ihr unheilvoller Antagonismus für naturnotwendig gehalten wird, bleibt die metaphysische Tradition in Kraft: Was allein hilft, sei Subordination und Unterwerfung unter die Herrschaft des Willens; die Unschuld eines ganzheitlichen Naturstandes ist in Wirklichkeit vergeben und nie zurückzugewinnen. Dagegen richtet sich das Credo des ästhetischen Humanismus: Allein die Gunst und das Geschenk der Schönheit machen gleichsam diesen Sündenfall der Menschheit rückgängig78. (Offenbar geschieht dadurch eine äußerste ,Humanisierung' und Säkularisierung des christlichen Mysteriums, nach welchem die Menschenwürde — die humanitas qua imago Dei — im Abfall von der göttlichen Natur zerstört und durch das Gnadengeschenk der Menschwerdung Gottes — auf dem Wege einer Versinn78

Darin, den Sündenfall der Menschheit rückgängig machen zu können, hat B. v. Wiese die Macht der ästhetischen Utopie und die Realität einer Heilslehre des Schönen gesehen. Vgl. Die Utopie des Ästhetischen bei Schiller. In: Zwischen Utopie und Wirklichkeit. Düsseldorf 1963. S. 81-101.

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lichung des Geistes und Vergeistigung des Sinnlichen — wiedergeschenkt wird.) Dem Glauben des ästhetischen Humanismus zufolge begabt die Schönheit den Menschen in einer zweiten Schöpfung mit der Möglichkeit, gleichsam von vorne mit seiner Menschwerdung anzufangen. Wie das sein kann, wird abermals im Achten auf die Zeitlichkeit wahrhaft schöner Zeit begreifbar. Der ästhetische Augenblick hebt die Zeit in der Zeit auf. Schönheit entrückt den Menschen aus aller Vergangenheit und Zukunft der Jetzt-Zeit. Die Zeitenthobenheit des ästhetisch gestimmten Menschen hat eine auflösende und erlösende Macht. Sie entreißt das Dasein dem Zeitfluß der Geschichte und enthebt aller bereits durchlaufenen und erlittenen Determinationen. In der Zeitabfolge seiner Geschichte hat der Mensch — nach ,den schönen Tagen der griechischen Kunst' — den Zustand der Reinheit und Integrität durch den Einbruch des anfänglich übermächtigen Lebenstriebes verloren, und zwar für alle Zukunft; denn jeder künftige Zustand wird durch seine Vergangenheit bedingt. „Nur der ästhetische ist ein Ganzes in sich selbst, da er alle Bedingungen seines Ursprungs und seiner Fortdauer in sich vereinigt. Hier allein fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen; und unsre Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußrer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren" (ÄEM, 22. Brief; XX, 379). Die zeitentrückende, ästhetische Augenblicksstimmung transzendiert die ZeitGeschichte. Was in ihr und durch sie geschieht, ist eine umschaffende Selbstbegegnung des Menschen, eine neue Erschließung der Welt im Lichte des Schönen, eine Erschütterung des alltäglichen und eine Lichtung eigentlichen Verstehens. Aber der ästhetische Zustand aktiver Bestimmbarkeit ist nichts anderes als ein Geschenk der Schönheit. Der allmächtige Wille kann es annehmen oder abweisen. Ästhetische Freiheit ist eine leicht zu verspielende Chance, die zweite Schöpfung eine reine Möglichkeit, ein bloßer Augen-Blick.

8. Kapitel: Die symbolische Wendung. Zur fragwürdigen Dialektik von ästhetischer Erziehung, ästhetischem Schein und ästhetischem Staat Der transzendentale Weg scheint zu Ende und die Dialektik am Ziel. Das ästhetische Problem, die Frage nach Wesen und Wirksamkeit des Schönen und der Kunst, hat sich gelöst. Für das politische Problem in der Erfahrung, die Revolution des Notstaates und die Veredlung des Charakters, ist eine Basis gefunden. Und die Widersprüche und Antagonismen

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endlichen Selbtbewußtseins haben den Grad schrankenloser Versöhnung erreicht. Denn transzendental gesehen, ist Schönheit als letzte notwendige Bedingung des Menschseins aufgewiesen. Ohne den Zusammenfall von Empfindung und Denken im ästhetischen Augenblick wäre deren Vereinigung undenkbar. Ohne das Symbol des Spiels bliebe sich der Mensch als Mensch ein Geheimnis. Ohne die Schönheit wäre ein Leben, sei es das der Begierde des Stofftriebs, sei es das der Strenge des Formtriebs, noch kein menschliches Leben. Politisch-gesellschaftlich verfolgt, ermöglicht die Geschmacksbildung und ästhetische Kultur die „schönere Humanität unserer Sitten" (vgl. Schillers Rezension von Goethes Iphigenie auf Tauris'). Ohne die Bildung des dritten Charakters, d. h. ohne ästhetische Erziehung, geriete die Umwandlung des Notstaates in den doppelten Sog von Anarchie und Tyrannis. Ohne das Residuum eines ästhetischen Staates gäbe es keine Bürgschaft für die Überwindbarkeit des Naturstaates. Ohne ein drittes Reich des schönen, wesenlosen Scheins käme kein Hauch der Beunruhigung in die Herrschaftsgefüge der physischen Gesellschaft. Und schließlich verspricht, dialektisch betrachtet, allein die ästhetische Synthesis eine absolute Versöhnung inmitten menschlicher Endlichkeit. Ohne den Rückgang in den grenzenlosen ästhetischen Zustand blieben die Schranken der Limitation letztes, zerteilendes Prinzip des ganzen Menschen. Ohne die Besinnung auf die bloße Bestimmbarkeit und Möglichkeit dieses mittleren Zustandes ginge die Endlichkeit des Menschen im dialektischen Prozeß seiner Entschränkung verloren. Indessen häufen sich Bedenken und Einsprüche gegen die Geschlossenheit des Gedankenganges, die Widerspruchsfreiheit der Problemlösungen, die Reichweite der Methode. Sie sind hier unter dem Hinblick einer Systematik der antagonistischen Dialektik zu diskutieren. Fast alle Bedenken hängen am Vorwurf der Inkonsequenz bzw. eines Umbruches in der Entwicklung des Schillerschen Entwurfes: Der zielstrebige, aufs Ganze gehende Ansatz in den Briefen wandele sich während seiner Ausführung. An die Stelle der wahren sittlichen und politischen Freiheit, zu der die Kunst vorbereiten sollte, trete die Bildung eines ästhetischen Staates. Der Bau des Vernunftstaates zerbröckle zu Zirkeln einer für die Kunst interessierten Bildungsgesellschaft; denn die Funktion der Kunst, die ästhetische Erziehung, biege sich auf die Kunst selber zurück, so daß aus der Erziehung durch die Kunst eine Erziehung zur Kunst werde. Dieser Befund ist verschieden interpretiert worden: als Folge der prekären Ideenlegierung des Schönen und Guten (kalon kagathon), der vergewaltigten Beziehung zwischen Schönheit und Menschheit wie zwischen Kunst und

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menschlicher Existenz, welche große Partien von Schillers ästhetischen Schriften zu widerspruchsvollen, sich in gefährlichen Zirkeln bewegenden Denkgebilden mache (K. Hamburger), — als Ausdruck einer inneren Verschiebung in der ontologischen Basis der Schillerschen Ästhetik (H.-G. Gadamer), — als verlegener Ausweg aus dem Dilemma, an Kants strengem Autonomiegebot festzuhalten und der Kunst zugleich eine Funktion zu geben (R.-P. Janz). In jedem Falle aber wird eine Verschiebung des Entwurfs, eine Inkonsequenz der Durchführung, d. h. zugleich eine Vermengung von Methoden als offenkundige Tatsache unterstellt. Es sei eben nicht gelungen, zwei Forderungen miteinander zu vereinbaren, nämlich das Schöne und die Kunst autonom zu lassen und zum Werkzeug für die Veredlung des Charakters und damit zum Organon für alle Verbesserung im Politischen zu machen. Daher entstünden Risse und Dualismen im Hinblick auf die Einheit der Subjektivität, die Verbindlichkeit des Staates und die Eintracht zwischen Wirklichkeit und Schein. Es wird zweideutig, ob die harmonische Subjektivität real möglich ist — wie sie ja im Zeitalter der Griechen wirklich war —, oder ob sie bloße Idee und niemals zu verwirklichen ist. Es wird fragwürdig, was denn dieser ,ästhetische Staat', der nur in wenigen auserlesenen Zirkeln lebt, noch mit dem politischen gemeinsam hat, von dem die Untersuchung ausging. Und es ist bedenklich, daß die Freiheit der schönen Moralität zum Ersatz und Surrogat politischer Freiheit wird 79 . So stellen sich am Ende des transzendentalen Weges offene Fragen und offenbare Bedenklichkeiten ein. Soll die ästhetische Erziehung Sittlichkeit bewirken, indem sie es dem Menschen leicht macht, moralisch zu handeln — oder ist der Zustand des Spiels selbst diejenige Existenzweise, in welcher der Mensch ganz das ist, was er sein soll? Treten das Schöne und die Kunst seinsmäßig als Schein in einen solchen Gegensatz zur Wirklichkeit, daß sie nicht mehr deren Ergänzung und Perfektionierung (έπιτελείωσις im Aristotelischen Verstände), sondern gerade deren Verschleierung oder Verklärung sind; und klafft nicht dadurch in der Mitte der ästhetischen Ganzheit ein neuer Gegensatz auf, eben der von Schein und Wirklichkeit? Die ästhetische Vermittlung der Dualismen gelingt eben 79

Als Koryphäen der herrschenden Schiller-Kritik seien genannt: K. Hamburger, Schillers Fragment ,Der Menschenfeind' und die Idee der Kalokagathie. Schiller und Sartre. In: Philosophie der Dichter. H.-G. Gadamer, Die Transzendierung der ästhetischen Dimension. WuM, 1. Teil, I. H . Kuhn, Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel. Berlin 1931. R.-P. Janz, Autonomie und soziale Funktion der Kunst. Stuttgart 1973.

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nur partikulär, im ausgesonderten Seinsbereiche des Scheins. Ästhetische Freiheit und edles Betragen gedeihen nur im flüchtigen Medium des Spiels, in der Wesenlosigkeit des Scheins, im sublimen Kreis des ästhetischen Staates. Muß sich daher nicht die Poesie der ästhetischen Versöhnung peinlich von der Prosa entfremdeter Wirklichkeit abgrenzen?80 Und femer: Gesetzt, der ästhetische Zustand sei nicht Durchgang, sondern Ziel (des menschlichen Weges zur Gottheit), was ist das für ein paradoxes Ziel, zu dem kein Weg hinführt? Zerschellen an diesem Widersinn nicht Einheit und Angemessenheit der Methodik? So ist die Dialektik der .Ästhetischen Briefe' auch wahrhaft unempfehlend beurteilt worden. Sie sei einfach unecht, nämlich ein Prozeß unverhohlener logischer Gebietsverletzungen, eine Kreisbewegung, die sich in fehlerhaften Zirkeln drehe, oder bestensfalls ein unzureichender und am Ende für die Sache unpassender Weg. Das dialektische Modell finde wohl Anwendung auf den Prozeß der Annäherung an das unerreichbare Absolute, das Ziel aber liege jenseits des Weges. Im ästhetischen Humanismus gehe die Bahn zum Spieltrieb durch dialektische Synthetisierungen, der Inhalt der höchsten Synthesis selbst aber sei allein in Paradoxien — dem adäquaten, traditionellen Stilmittel für die Aussage der Unaussagbarkeit des Göttlichen — ausdrücklich zu machen. Erst im Hegeischen Denken setze sich die Statik unvermittelter Paradoxien in die Vermittlungen eines dialektischen Prozesses um 81 . Angesichts solch erdrückender Belastungen ist der Abschluß bzw. Abbruch der .Ästhetischen Briefe' anhand der Leitfragen zu überprüfen: Wie steht es mit dem Organon der antagonistischen Dialektik, einer ästhetischen Erziehung? Wie läßt sich ihr Medium, der ästhetische Schein, seinsmäßig gegensatzlos denken? Und wie weit tragen die dialektische Synthesis und ihre Versöhnung, ästhetische Existenz und ästhetischer Staat? Erst eine Klärung dieser Fragen kann entscheiden, ob die antagonistische Dialektik durch die vermittelnde Einigungskraft der Schöheit die tragischen Widersprüche des Menschseins bannt oder ob sie ihnen etwa selber erliegt. Schönheit, zumal in ihrer höchsten Ausprägung, der Kunst, ist die Gunst, welche dem Menschen die Möglichkeit der .Revelation' und zweiten Schöpfung schenkt. Ästhetische Kultur ist der Erziehungsvorgang, durch welchen der Mensch fähig wird, dieses Geschenk in rechter 80 81

Vgl. H . - G . Gadamer, WuM, S. 79. Vgl. G. Kaiser, Vergöttlichung und Tod, 1. c. S. 23.

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Weise anzunehmen. Ihre Aufgabe besteht darin, „den Menschen auch schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen, und ihn, so weit das Reich der Schönheit nur immer reichen kann, ästhetisch zu machen" (ÄEM, 23. Brief; XX, 385). Den Menschen ästhetisch machen, meint nicht etwa, seinen Kunstgeschmack im Sinne einer genießenden Kennerschaft zu verfeinern, ihn über eine triviale Wirklichkeit zu erheben und in bildungsbürgerlicher Absicht zu bilden. Es bedeutet eine „Umwälzung seiner Natur" und eine Rückführung in „den eigentlichen Anfang der Menschheit in ihm" (XX, 405), wobei der Mensch lernt, im Reiche der Schönheit heimisch zu werden, ohne seine Grenzen zu verletzen und seine Formen zu mißbrauchen. Dazu „bedarf es einer totalen Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise" (XX, 405). Die Umgestaltung und Befreiung der Sinnlichkeit und Begierde in ihrem eigenen Felde vermittelt der Spieltrieb. Diesen Trieb zu kultivieren, dadurch den Menschen zu veredeln und so eine dialektische Staats- und Gesellschaftsveränderung zu fördern, ist Sache der ästhetischen Erziehung des Menschen. Dies entspricht auf eine eigene Art dem Rousseauschen Erziehungskonzept, welches die Erziehung als Mittel begreift, Verhältnisse radikal zu verändern, und nicht mehr als Werkzeug, sich den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem (korrumpierenden) Stande der Kultur anzupassen 82 . Und dieser Ansatz vermittelt Kantische Antithesen auch im Hinblick auf das Erziehungsgebot des Menschen, der ja nach Kants berühmtem Diktum nichts ist, als was Erziehung aus ihm macht. Bekanntlich versteht Kant Erziehung als Einheit von Disziplinierung und Kultivierung. Dabei meint Disziplinierung eine Handlung, welche die Wildheit des Menschen negiert und den Wilden unter dem Zwange der Gesetze hindert,in seinem tierischen Lebenstrieb von der Menschheit abzuweichen. Solche Zucht ist der zwar unumgängliche, aber doch bloß negative Teil der Erziehung — weshalb Disziplinierung erst dann von Übel ist, wenn sie für das Ganze der Erziehung genommen wird. Der positive Teil des Erziehungsvorganges fächert sich auf in Kultivierung im engeren Sinne (Ausbildung von angelegten Kenntnissen und Fertigkeiten durch Belehrung und Unterweisung zu beliebigen Zwecken), Zivilisierung (staatsbürgerliche Erziehung, die den Menschen zum civis tauglich macht) 82

Vgl. dazu C. Menze, Die Rolle der Ästhetik in Wilhelm von Humboldts Theorie der Bildung. In: Gegenwart und Tradition, Festschrift B. Lakebrink. Freiburg 1969. S. 125 ff. Hier wird nachdrücklich die politische Funktion der ästhetischen Erziehung nicht nur bei Schiller, sondern auch beim jungen Hölderlin, bei F. Schlegel und nicht zuletzt beim .unpolitischen' Wilhelm von Humboldt herausgehoben.

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und Moralisierung (Erziehung zum Bürger der sittlichen Welt durch Bildung der Denkungsart). In diesem Entwurf klafft ein Gegensatz. Die einfach negative Disziplinierung zähmt nur die Wildheit des sinnlichen und die positive Moralisierung erreicht nur die Geistigkeit des vernünftigen Menschen. So aber bleibt der Mensch eben „noch ewig fort getheilt" (XX, 348 Anm.). Angesichts der Misere solcher pädagogischen Zerstückung spielt Schiller der ästhetischen Kultivierung die entscheidende Rolle innerhalb der Erziehung des Menschen (und der Vollendung des Menschengeschlechts) zu. Ohne ihre formende Vermittlung läßt sich die sinnliche Empfindungsart nicht positiv ändern; denn der bloß disziplinierte Mensch bleibt ohne jedes positive Verhältnis zur sittlichen Freiheit und der bloß moralisierte ohne Rückhalt in der sinnlichen Welt 83 . Ästhetische Erziehung dagegen will den ,Wilden' nicht einfach durch Subordination der Empfindung unter das Gesetz domestizieren, sondern seine Empfindungsart ästhetisch für Freiheit empfänglich machen. Wie aber steht es angesichts dieses Einsatzes mit der Funktion der ,Kunsterziehung'? Einerseits erzieht sie doch offenkundig durch Kunst. Der Schritt von der rohen Sinnlichkeit zur Schönheit vermittelt den gewaltlosen Fortgang „von der Schönheit zur Wahrheit und zur Pflicht" (XX, 385). Der ästhetische Zustand führt ohne Zwänge in den logischen und moralischen, und der ästhetische Staat spielt dem ethischen vorher. Andererseits führt ästhetische Erziehung ebenso unstreitig zur Kunst. Erst und allein im Mittelreiche des Scheins und des Spiels ist der Mensch vollendet und unzerteilt Mensch. Verirrt sich somit der Entwurf einer ästhetischen Erziehung in narzißtischer Verblendung aus der Stellung des Mittels und Durchgangs in die Position des Endzwecks und Ziels? U m diese Frage entscheiden zu können, muß der eigentümliche dialektische Prozeß beachtet werden, in welchen die ästhetische Kultivierung eingewickelt ist. Er führt auf einen neuen Anfang im Urmodus einer aktiven Bestimmbarkeit zurück. (Die Losung lautet eben nicht ,Zurück zur Natur!', sondern ,Zurück zur Kunst!') Somit scheidet die Vorstellung aus, der mittlere Zustand sei eine Durchgangsphase zwischen einem zurückgelassenen Anfang und einem bevorstehenden Ziel. Er ist die anfängliche Möglichkeit einer zweiten Schöpfung. Von da aus erscheinen Erziehung durch Kunst und zur Kunst als ein und derselbe Schritt, näm83

Vgl. das ebenso zielsichere, wie mißtönende Distichon aus den „Tabulae Votivae" (1797): Bürger erzieht ihr der sittlichen Welt, wir wollten euch loben, stricht ihr sie nur nicht zugleich aus der empfindenden aus. Die Erzieher; Werke II, 732.

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lieh das Zurücktreten von aller bestimmten Wirklichkeit in einen Neuanfang. Und daher kann widerspruchsfrei geurteilt werden: Ästhetische Kultur erzieht durch Kunst; denn der ästhetische Zustand ist ja aktive Bestimmbarkeit, durch die dem Menschen die Möglichkeit einer Resurrektion geschenkt ist. Und sie erzieht zur Kunst; denn der ästhetische Zustand ist ja das Spiel aktiver Bestimmbarkeit, in welcher der Mensch ganz in schrankenloser Tätigkeit wirklich ist. Und es wird nochmals herauszustreichen sein: Dieser Anfang steht zum Ziel, zur ausgeführten Bestimmung des Menschen überhaupt, nicht in der Relation von Zweck und Mittel, sondern im Verhältnis von Symbol und Idee. Mag der Verwirrung von Zweck und Mittel, Durchgang und Ziel in der ästhetischen Erziehung auch gesteuert werden können, entkräftet sich nicht ihre Versöhnungsabsicht im heraufbeschworenen Gegensatz von Sein und Schein, von ästhetischer Illusion und gemeiner Wirklichkeit, von heilender Poesie und unheiler Prosa? Bildet nicht gerade das Reich des unwirklichen Schönen den Gegensatz zur unschönen Wirklichkeit aus, und negiert nicht der wesenlose Schein der Einbildungskraft die wesenhafte Wahrheit der Vernunft? Das Sein des Schönen ist Schein, streng geschieden vom Wirklichsein des Wirklichen qua energeia, actus — existentia, Dasein. So aber scheint doch das Ästhetische fast alles an einigender Kraft einzubüßen. Setzt es doch eine Nicht-Identität voraus, nämlich den Unterschied seiner selbst zum eigentlichen, wirklichen Sein, von dem es sich als Schein und Illusion, als Nachahmung und Zauber, als Einbildung und Traum unterscheidet. Und behält schließlich die dialektische Versöhnung, wo sie sich rein ereignet, nicht einen bloß partikulären Umfang, indem sie sich auf das edle Betragen von ästhetisch Gebildeten in den erlesenen Zirkeln des ästhetischen Staates kapriziert? Um solche Schein-Dialektik gerecht abschätzen zu können, müssen Charakter und Funktion des ästhetischen Scheins näher untersucht werden. Natürlich geht der vorphilosophische Sprachgebrauch Schillers dahin, Schein mit Illusion, Täuschung, Zauber, Nachahmung, Erdichtung, Künstelei zu assoziieren. Das gilt auch für den schönen Schein, der im gewöhnlichen Urteile mit dem falschen gleichgesetzt wird, ζ. B. in dem Falle, in welchem angesichts der wirklichen, schuldlosen Natur die bloße Nachahmung, der Täuschungseffekt und Illusionscharakter des Scheins entdeckt und dadurch „der schöne, aber falsche Schein, der gewöhnlich in unserm Urtheile sehr viel bedeutet, hier plötzlich in Nichts verwandelt wird" (NuSD; XX, 417 Anm.). Die Dialektik der ästhetischen Briefe' versteht dagegen das Scheinen der Schönheit und der Kunst gerade als

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Überwindung der Gegensätze von Wirklichkeit und Illusion, von Natur und idealer Vernunft. Sie verfolgt Spiel und Geschmack, edle Form und Symbol des Schönen bis in ihre aufhebende Ursprünglichkeit, „bis der Schein die Wirklichkeit und die Kunst die Natur überwindet" (vgl. Schluß des 9. Briefes; XX, 336). Folgerichtig beginnt die dialektische Erörterung des ästhetischen Scheins im 26. Brief damit, den Schein aus dem Widerspruch zur Realität und Wirklichkeit zu befreien und damit von der Anklage des Betrugs und der Täuschung zu entlasten. Dies geschieht durch Abgrenzung gegen den .logischen Schein'. Ein logischer Schein verleitet die Erkenntniskräfte dazu, Wirkliches mit Unwirklichem zu verwechseln, Nichtseiendes als seiend, Seiendes als nichtseiend zu beurteilen, kurz: sich von der Wahrheit ein falsches Bild zu machen. Den ästhetischen Schein als etwas Täuschendes, Vorspiegelndes, Beschönigendes, überhaupt als Ablenkung von der Wahrheit anzusehen, heißt, ihn mit dem logischen Schein zu identifizieren. Wo das im enthusiastischen ,Eifer' für Wahrheit und Wesen geschieht, da erwächst eine ,Unduldsamkeit', welche „über die ganze Kunst des schönen Scheins, weil sie bloß Schein ist, ein wegwerfendes Urtheil" spricht (ÄEM, 26. Brief; XX, 400). (Dieses Urteil hat die Metaphysik durch Piatos Verbannung der Kunst aus dem Staate gesprochen: Die Kunst muß vertrieben werden, weil ihr schöner Glanz, das φάντασμα, von der Wahrheit der Ιδέα ablenkt und dadurch die gerechte Verfassung gefährdet.) Unbefangen betrachtet, ist der ästhetische Schein nicht falsch, unrein, verdeckend und ideenfeindlich. Er ist aufrichtig, selbständig, wohltätig und idealisch. Schillers Umgrenzungen stellen den Schein auf seine eigene Substanz und Wirksamkeit zurück. Der ästhetische Schein ist aufrichtig. Er heuchelt nicht Realität, er bekennt sich zu seinem Scheinen. Der sich als Schein bekennende Schein verzichtet offen auf allen Anspruch, realitätsnah und wirklichkeitskonform zu sein. Der aufrichtige Schein täuscht kein Anwesen von Wirklichkeit vor, er offenbart sein Sein als wesenloses Scheinen und als reiner Aufschein. Der reine Schein ist selbständig. Er bedarf nicht der Wirklichkeit, um zu sein, er hat den Grund seines Bestehens in sich selbst. Und er hat Wirklichkeit nicht nötig, um zu wirken. Die Verkuppelung des rein Ästhetischen mit Interessen verdirbt dessen Zeugniskraft für die Freiheit. Wird der schöne Schein dienstbar gemacht, sei es als Mittel für ökonomische Werbung oder als Instrument politischer Weltverbesserung, dann „kann er nichts für die Freyheit des Geistes beweisen" (XX, 402). Ein unfreier Schein, der sich auf Realitäten stützt, taugt nicht mehr zur Stütze, um die Wirklichkeit zu verändern.

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Schillers Lehre vom selbständigen Schein setzt die gesellschaftliche Funktion der Kunst gerade in ihrer Autonomie fest. Nur in der völligen Unabhängigkeit und Integrität ihres Scheinens verrichtet die Kunst ihr Werk, nämlich geistige und politische Freiheit auch in Zeiten der Unfreiheit zu bezeugen und zu verbürgen. Und nur der aufrichtige und selbständige Schein ist wohltätig, indem er „Leerheit ausfüllt und die Armseligkeit zudeckt" (XX, 403). In seiner Aufrichtigkeit verdeckt und beschönigt er nicht etwa eine verelendete Welt, wohl aber reißt er das Dasein aus der leeren Monotonie einer verkümmerten Zeit heraus, um es in die reichere Fülle des ästhetischen Zustandes zurückzunehmen. Und endlich kann der schöne Schein idealistisch heißen; denn dieser Schein ist es, „der eine gemeine Wirklichkeit veredelt" (XX, 403). Der ästhetische Schein lenkt den Menschen so wenig von der Verbindlichkeit der Idee ab, daß er gerade den Gegensatz zwischen gemeiner und wahrer Wirklichkeit, zwischen Sinnlichkeit und Idee, vermittelt. Diese vierfache Kennzeichnung steuert die Ästhetik aus dem Sog der Mimesis-Theorie heraus. Sie erhebt den ästhetischen Schein über den Gegensatz zur Wirklichkeit, dem er als Nachahmung, Illusion, Zauber und Traum anheimfällt. Ein Schein, der in sich selbst besteht, kann derart wirken, daß er das Wirkliche an Wirksamkeit übertrifft. Sein Scheinen leuchtet absichtslos, darum unangreifbar und unberechenbar für alles Herrschende so in das antagonistische System gewohnter Wirklichkeit hinein, daß es dieses dem Einfall einer umstürzenden Möglichkeit aussetzt. Im Scheinen des Schönen und der Kunst leuchtet die reine Möglichkeit des Menschen auf, die sich nicht am Wirklichen mißt, sondern dieses ihrem Maßstabe unterstellt 84 . So ist zwar die bruchlose Einheit des selbständigen, schönen Scheins gesichert und eine unerhörte Veränderung der Welt und Mitwelt in Aus-

84

K.-H. Volkmann-Schluck (Die Kunst und der Mensch. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Frankfurt a. M. 1964) bedenkt die Ablösung der Schönheit von der Wahrheit durch Schillers entschlossenen Rückgang in das wesenlose Reich der Einbildungskraft aus dem Vorgange, in welchem sich die Wahrheit im Zeitalter der Neuzeit durch die Wesensprägung des Technischen von der Schönheit abgekehrt hat. Das geschieht unter der leitenden Absicht, den verborgenen Bezug des ästhetischen Scheins zur Wahrheit sichtbar zu machen. Dafür wird die eigentliche Anwesenheit des dichterisch Gesagten daraufhin durchgeklärt, wie das Sein der Dichtung die einseitige Vorentschiedenheit über Wirklichkeit und Sein fragwürdig macht. Und das hat zur Voraussetzung, daß die reine Präsenz ihres Scheins allein im Blick auf sie selbst zu bestimmen ist, absolviert vom maßgeblichen Hinblick auf das gemeinhin wirkend Wirkliche.

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sieht gestellt. Aber wie weit trägt die ästhetische Vermittlung des dritten, edlen Charakters und des ästhetischen Staats nun wirklich? Diese bohrende Frage zwingt dazu, die Existenzform des Edlen und eines edelmütigen Gemeinwesens im Lichte der aufgeklärten Effizienz des Schönen und der Kunst darzulegen. Edel heißt die Lebensweise und Gestimmtheit, in welcher der Mensch alles Wirkliche ästhetisch behandelt. Sie äußert sich im Seinlassen der Dinge und Freilassen der Menschen und durchdringt alles menschliche Tun und Lassen bis in die Formen der unauffälligen Höflichkeit und souveränen Behandlung auch der kleinlichsten Sachen. Edles Betragen erweist sich als Vertiefung der soziodialektischen Kategorie der Anerkennung. „Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frey zu seyn, er muß alles andere um sich her, auch das Leblose, in Freyheit setzen" (ÄEM, 23. Brief; XX,386 Anm.). Der Edle repräsentiert also nicht als in sich versponnener Schöngeist eine Existenzform des Solipsismus, er bedeutet die Möglichkeit freiesten Mitseins; denn seine zwanglose, formvollendete Freiheit wirkt befreiend. Edles Verhalten gibt ohne Nötigung Freiheit aus Freiheit. Insofern geht das Edle über das moralisch Notwendige (die Pflicht) hinaus. Edles Betragen ist ein Anerkennen des Menschen als Menschen. Es anerkennt ihn nicht nur als selbstbewußten Geist, als moralische oder rechtliche Person, es läßt ihn auch in seiner sinnlichen Individualität, d. h. in der Schönheit seiner ganzen Menschlichkeit, gedeihen. „Es giebt also zwar kein moralisches, aber es giebt ein ästhetisches Uebertreffen der Pflicht, und ein solches Betragen heißt edel" (XX, 387 Anm.). Und dies erstreckt sich sogar auf die innerweltlichen Dinge. Das ästhetisch freie Behandeln vernutzt und verbraucht auch die Sachen nicht bloß als Mittel und pure Gebrauchsdinge. Es schützt die Dinge der Form ihres Erscheinens wegen. Solche Schonung von Mit- und Umwelt steht im Ansehen des Uberflüssigen. „Bey dem Edlen (wird) immer ein Ueberfluß wahrgenommen" (XX, 387 Anm.). Die ästhetische Freisetzung ist überflüssig, weil sie weder physisch noch moralisch nötig ist — und weil sie aus überreicher Freiheit zum Sein des anderen überfließt. Der ästhetische Uberfluß macht den Reichtum des Menschlichen aus. Die durch edles Verhalten geprägte Gesellschaft ist der ästhetische Staat. Durch diese ihre veredelnde Kraft wird die Schönheit zum politischen Prinzip. Sie erteilt dem Menschen seinen ,geselligen Charakter' und eröffnet somit den ,Kreis des schönen Umgangs'. In diesem herrscht eine schrankenlose, weder durch Zwangsrecht noch Pflichtgebot konstituierte Freiheit. „Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz

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dieses Reichs" (ÄEM, 27. Brief; X X , 410). Das Grundgesetz des edlen Betragens stiftet die Einheit einer Harmonie, die alle Kämpfe, Antagonismen, Abständigkeiten und Parteiungen in sich aufgehoben hat, weil der Geschmack das Subjekt der Gesellschaft in seinem Charakter harmonisiert hat. „Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet" (XX, 410). So erfüllt sich die Foderung nach der Vermittlung der Dualismen im Staat durch einen dritten Charakter, und diese ästhetische Vermittlung erhebt den Menschen in einen entrückt-beglückenden Zustand, in welchem er sich als absolutes Subjekt fühlt, weil er seiner Schranken enthoben ist. „Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seiner Schranken, so lang es ihren Zauber erfährt" (XX, 411). Der Schlußhymnus der ,Ästhetischen Briefe', immer unverhüllter zu freien Rhythmen gesteigert, feiert den so konstituierten ästhetischen Staat als das Gemeinwesen, in welchem Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ihre Einkehr halten. Aber er beschränkt ineins die Erfüllung der Ideale der Französischen Revolution auf das Reich des ästhetischen Scheins. „Hier also in dem Reiche des ästhetischen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte" (XX, 412). Also enttäuscht das Ende des dialektischen Weges doch die anfänglich geweckten, großen Erwartungen? Anstatt politische Freiheit in geschichtlicher Welt einzurichten, baut der ästhetische Humanismus an einem abgelegenen und abgegrenzten .fröhlichen Reiche des Scheins'. Anstatt den umfassenden Vernunftstaat zu erarbeiten, preist er die Zirkel ästhetischer Gemeinschaften als einzig mögliche Erfüllung der politisch-gesellschaftlichen Ideale. Also erreicht der transzendentale Weg gar nicht sein Ziel, sondern verläuft in einer ästhetisch-humanistischen Sackgasse ? Indessen muß auch dieses abschließende Urteil in Rücksicht auf die Eigenart der Schillerschen Dialektik berichtigt werden. Der dialektische Weg des ästhetischen Humanismus ist nicht teleologisch, er ist symbolisch angelegt. Die Folge seiner Phasen fällt nicht unter die Relation von Mittel und Zweck, sondern unter die Entsprechung von Sinnbild und Urbild. Der in den ästhetischen Zustand und ästhetischen Staat zurücklaufende transzendentale Weg gebraucht an seinem Wendepunkt die Methode der Symbolisierung. Dabei muß eben eingeräumt werden: Das Sein des Symbolisierenden darf nicht nach dem Umfange seiner Wirklichkeit, es muß allein nach der Bedeutung und Verbindlichkeit seiner Symbolkraft abgeschätzt werden. Nun bedeutet der Zusammenfall von Empfindung

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und Geist, von Sinnlichkeit und Idee während des Spiels mit dem Schönen im Reiche des Scheins alles für die Idee menschlicher Freiheit in Selbstbewußtsein und Staat. Der glückliche Fall des Spiels verbürgt und veranschaulicht die unbeschränkte Wechselwirkung aller Kräfte, d. h. das Absolute im Menschen. Es hält dem Menschen sein Urbild, die Gottgleichheit, offen und macht ihm die Annäherung an Gott verbindlich. Das geschieht nicht etwa in der Sageweise der Paradoxic, sondern in der Zeichensprache des Symbols. So sagt der bedeutungsvolle Anspruch, ,die Zeit in der Zeit aufzuheben', nicht ein Paradox des Unsäglichen aus, er erfaßt dialektisch präzise die erhebende Seinsart des ästhetischen Augenblicks, um dadurch die Idee einer schrankenlosen Wechselwirkung absolut erfüllter Zeit zu veranschaulichen. Das ist die eigentümliche Wendung der antagonistischen Dialektik. Ihre wirkliche ästhetische Synthesis ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als der symbolische Ausweis für die Möglichkeit einer gottgleichen, über alle Entzweiungen und Antagonismen erhabenen Menschheit. „Da nun aber bey dem Genuß der Schönheit oder der ästhetischen Einheit eine wirkliche Vereinigung und Auswechslung der Materie mit der Form, und des Leidens mit der Thätigkeit vor sich geht, so ist eben dadurch die Vereinbarkeit beyder Naturen, die Ausführbarkeit des Unendlichen in der Endlichkeit, mithin die Möglichkeit der erhabensten Menschheit bewiesen" (ÄEM, 25. Brief; XX, 397).

9. Kapitel: Idyll oder Tragödie. Die zwiespältige Auflebung antagonistischen Dialektik

der

Immer wieder ist für die Resignation des Schillerschen Humanismus, seinen Rückzug in Traum und Dichtung, die Schlußstrophe aus ,Der Antritt des neuen Jahrhunderts' zitiert worden: In des Herzens stille Räume Mußt du fliehen aus des Lebens Drang, Freiheit ist nur in dem Reich der Träume Und das Schöne blüht nur im Gesang. Werke II, 823 Danach wäre der Heilsplan des ästhetischen Humanismus ohne Zukunft. Und in der Tat müßte die ästhetische Versöhnung als nicht tragfähig zurückgenommen werden, wenn dieser Rückzug nicht die Kraft der Wiedergeburt in sich bärge und wenn Kunst und Poesie ihr Wesen

Idyll oder Tragödie

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darin hätten, alle Wirklichkeiten in die Abgeschiedenheit des Traumes zu verdrängen. Wie es mit dem Abbruch des ästhetischen Optimismus und mit dem Zusammenhange von Schönheit, Versöhnung und Dichtung bestellt ist, wird sich im Ausblick auf diejenigen Abhandlungen ergeben, welche den ,Ästhetischen Briefen* folgen und sie zu komplettieren suchen. Dabei spielen für die Fragestellung der antagonistischen Dialektik die Theorie der Idylle aus ,Ober naive und sentimentalische Dichtung' und die Aussicht des tragisch Erhabenen in ,Über das Erhabene' eine ausschlaggebende Rolle. Beides soll soweit herangezogen werden, um entscheiden zu können, ob der Gesamtentwurf einer ästhetischen Erziehung dem Zwiespalt der Ich-Dialektik entgeht oder erliegt. Orientierungspunkt für solche Überlegungen ist die Wesensbestimmung der Poesie in Schillers großer poetologischer Scheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung. Alle Poesie hat ihr Wesen darin, der Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben. Die Kunst und der Mensch bilden ein untrennbares Paar. Der Wesensbegriff des Humanen ist die Idee eines Unendlichen, ,des Absoluten im Menschen*. Er sieht sich im Zusammenwirken der zerteilten menschlichen Natur zu einem harmonischen Ganzen erfüllt. Die Kunst der Dichtung sichert und stärkt diese Idee durch ihre Weise der Versinnlichung. Das Wesen der Poesie ist es also, Symbol zu sein, eine sinnliche Bekräftigung jener Idee in der Sinnenwelt (vgl. NuSD; XX, 468). Dichtung ist das Gebilde einer produktiven Einbildungskraft, welche das unendliche Sein des Menschen in einem Falle versinnlicht. Schiller hat die durchschlagende ontologische Symbolformel der Kunst, Zusammenfall von Sinnlichem und Ubersinnlichem (von Idealität und Realität, Unendlichem und Endlichem usf.) im Sinnlichen zu sein, als Aufgabe eines ästhetischen Humanismus ausgelegt. Demnach ist die Bestimmung der Dichter in dürftiger Zeit, jene Idee der Menschheit, obwohl sie durch wirkliche Erfahrung ständig widerlegt wird, sinnlich zu bestätigen und zu stärken. Diese Konzeption deckt sich mit dem Begriff der Idylle. Idylle ist diejenige Dichtungsart, in welcher der sentimentalische Dichter auf der Suche nach der verlorenen Natur den Widerstreit zwischen der begrenzenden Wirklichkeit und der unendlichen Idee austrägt. Diese Art sentimentalischer Darstellung stimmt nicht als Klage und Trauer um die für immer verlorene Natur und das ewig unerreichbare Ideal elegisch. Das Idyll schildert die wiedergewonnene Einheit der Natur und die Verwirklichung des Ideals. Dabei geht dieses Genre über eine Schäferidyllik hinaus, welche das goldene Zeitalter glücklicher Menschheit vor dem

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Anfang der Kultur besingt. Die Idylle ist Poesie der Hoffnung. Sie errichtet das ,fröhliche* Reich des Scheins, welches den frohen Mut wahrt, durch die Antagonismen von Kultur und Gesellschaft hinweg zu einer freien, menschenwürdigen Vereinigung der Gegensätze zu kommen. „Der Begriff dieser Idylle ist der Begriff eines völlig aufgelösten Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen, als in der Gesellschaft, einer freyen Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze, einer zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur, kurz, er ist kein andrer als das Ideal der Schönheit auf das wirkliche Leben angewendet" (NuSD; XX, 472). Diese Definition erledigt die provokative Frage, ob Schillers Dialektik der Revolution in einer Poetik der Idylle ausldinge, ob die politisch gezielte Aufhebung gesellschaftlicher Widersprüche und Kämpfe nurmehr im Bildchen des Idylls Gestalt gewinne. Der Charakter der Idylle besteht darin, daß aller Gegensatz „vollkommen aufgehoben sey" (XX, 472). Ihr vorherrschender Eindruck ist der einer lebendigen Ausgewogenheit, begleitet von dem ,Gefühl eines unendlichen Vermögens'. Eben dadurch erfüllt die Idylle den Anspruch des Poetischen, nicht selber Wirklichkeit, wohl aber ein Vorschein der Wahrheit zu sein, der den Menschen bestürzt und als Menschen bekräftigt. Das Sujet der Idylle kreist um die Beendigung aller menschlichen Kämpfe und aller aufgegebenen titanischen Arbeiten, und zwar durch eine Erhebung, in welcher der Mensch die Grenze zum Göttlichen erreicht und überschreitet. So erfüllt Schillers berühmter Idyllen-Plan, die Vermählung des Herkules mit der Hebe, in klassischer Weise die Anforderungen des Stoffes. Er thematisiert den Übertritt des Menschen in den Gott; er hat das erlösende Ende aller Lebenskämpfe zum Inhalt, die Wiedergeburt und Vergötterung des Herkules durch den Göttertrunk, den ihm Hebe, die Göttin ewiger Jugend, reicht 85 . Genau hier, am Grenzplan solcher Idyllik, bricht das Problem der Kunst, ihrer politischen Versöhnung und ihrer zugehörigen dialektischen Grundform, auf. Erzählt die symbolische Erhebung in der Idylle wirklich die Wahrheit über den Menschen, und spricht der Idyllendichter das letzte Wort über das antagonistische Wesen des Menschen? Oder wird solches Sagen hyperbolisch85

Das umfassende Problem von Schillers Herkules-Rezeption muß hier außer Betracht bleiben. Informativ dafür ist die treffende Polemik von G. Kaiser gegen Ursula Wertheim, Der Menschheit Götterbild. Weltanschauungs- und Gattungsprobleme am Beispiel von Schillers Herkules-Rezeption. In: Studien zur deutschen Klassik. Berlin 1960. Der so bedeutungsvolle Gegensatz von Herkules-Idylle und „Nänie" ist herausgehoben bei E. Staiger, F. Schiller. Zürich 1967. S. 220-224.

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naiv, weil es das Dasein des Menschen und seine Endlichkeit transzendiert, indem es seine herkulische Kraft durch die Gabe der JugendSchönheit vergöttert? Es beginnt sich abzuzeichnen, daß solche Erhebung des menschlichen Selbst eine schrankenlose Variante neuzeitlicher Dialektik der Ich-Verwirklichung ist. Sie betreibt in ihrer Idyllisierung des Menschen eine Aufhebung, in welcher es „lauter Licht, lauter Freyheit, lauter Vermögen — keinen Schatten, keine Schranke, nichts von dem allem mehr zu sehen" gibt (An Wilhelm von Humboldt, 29. November 1795). Indessen markiert gerade die Herkules-Idylle diejenige Stufe, über die hinweg ein solcher Uberstieg führt: die Negation des endlich-menschlichen Selbst, den Tod und die Auslöschung des beschränkten Bewußtseins. Schwenkt aber dadurch nicht die Dialektik hyperbolischer Selbst-Verwirklichung auf die andere Seite hinüber, zur Dialektik der Selbst-Vernichtung? Und wirklich sucht die Dialektik der Schönheit ihre Ergänzung in einer Theorie des Erhabenen. Diese läuft in Rücksicht auf das tragisch Erhabene in eine ästhetische Dialektik aus, welche die Wiederherstellung der zerstörten Einheit durch das erhebende Mittel freiwilliger Selbstvernichtung ins Werk setzt. Wie also zeigt sich vom Standpunkte des Erhabenen aus der Widerspruch in Menschheit, Natur und Geschichte? Wie geschieht die Aufhebung solchen Widerspruchs im Erhabenen? Und wie ist es mit der Einigung von Schönem und Erhabenem, d. h. mit der bekannten Rede vom Ideal-Schönen, bestellt? Das Uberdenken dieser dreigeteilten Frage kann über die Geschlossenheit der ästhetischen Dialektik Klarheit verschaffen. Selbstverständlich liegt einer Explikation des Erhabenen der Mensch als Wesen des Selbstbewußtseins zugrunde. Ebenso fraglos wird der Wille oder die praktische Vernunft als innerste Wurzel des Ich vorverstanden. Dementsprechend tritt der Mensch als Wesen eines .unglücklichen Widerspruchs' (UdE; XXI, 38) auf. Und natürlich wurzelt der fatale Widerspruch — innerhalb der transzendental-kritischen Anschauung — im Gegensatz zwischen der Endlichkeit und dem Absolutheitsanspruch von Bewußtsein und Wille. Das hat Schiller am Anfange der Analyse des Erhabenen in seiner Sprache ausdrücklich wiederholt. Wille ist Tätigkeit der Selbstbestimmung. Darum will er alle Gewalt aufheben; denn das Erleiden fremder, gewalttätiger Bestimmungen hebt ihn selber auf. Mithin ist der Wille im Grunde der Trieb nach absoluter Befreiung von allem, was Gewalt ist. Andererseits bleibt der Mensch in seiner Endlichkeit dem

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Zustande ausgesetzt, Gewalt zu erleiden. Vor allem findet er trotz einer titanischen Bewältigung der Natur durch .physische Kultur' kein Mittel, der Gewalt des Todes zu entgehen. Der Anspruch auf absolute Befreiung von der Gewalt zerreibt sich am Unvermögen, die Macht der Natur zu brechen. „So entsteht daraus ein unglücklicher Widerspruch zwischen dem Trieb und dem Vermögen" (OdE; XXI, 38). Derselbe unglückliche Widerspruch läßt sich im unbefangenen Blick auf Welt und Geschichte konstatieren. „Die Welt, als historischer Gegenstand, ist im Grunde nichts anders als der Konflikt der Naturkräfte unter einander selbst und mit der Freyheit des Menschen" (UdE; XXI, 49). Die Welt und ihre Geschichte unterstehen der Herrschaft des uralten Chronos, „der alles zerstörenden und wieder erschaffenden, und wieder zerstörenden Veränderung" (UdE; XXI, 52). Das Chaos der Welt im sich verschlingenden Gegeneinander schaffender und zerstörerischer Naturkräfte und menschlicher Leidenschaften läßt sich offenkundig nicht unter die Prinzipien der Zweckmäßigkeit (in der Natur) und des Fortschritts (in der Geschichte) bringen. Gegen die geläufigen Vorstellungen der Aufklärung entwirft Schiller das dramatische Urbild von Natur und Geschichte. Ausdrücklich weist er einen „Spekulationsgeist" ab, der philosophisch versucht, die moralische Welt der Freiheit und die physische Welt des Chronos in Übereinstimmung zu bringen. Hier leistet die Dialektik endlichen Selbstbewußtseins darauf Verzicht, ihren eigenen Antagonismus durch eine dialektisch verbrämte Teleologie der Naturgeschichte lösen und die tragischen Konflikte in eine Theodizee der Weltgeschichte überführen zu lassen. Die Welt und ihre Geschichte sind das ,furchtbar herrliche Schauspiel' von Zerstörung, Verderben, Ungerechtigkeit, Unglück, das danach ruft, in ästhetischer Einstellung zur Tragödie zu werden. Wie aber läßt sich das schicksalsträchtige Unglück solcher Widersprüche im Menschen, in Natur und Geschichte aufheben? Auf erhabene Weise. Die erhabene Erhebung des Bewußtseins verlangt vom Menschen, seine physische Unterlegenheit gegenüber den Mächten der Natur und des Schicksals mit Schauer einzugestehen, um seine moralisch-geistige Überlegenheit desto freudiger zu empfinden. Darum gilt es, das physische Verhältnis zur Natur (und Geschichte) gänzlich aufzuheben. Aufheben aber heißt im Falle des erhabenen Menschseins nicht, das physische Verhältnis zur Physis zu bewahren und zu widerspruchsloser Einheit mit dem Geiste höher zu heben, sondern deren Gewalt zu vernichten. Das kann offenbar nicht der Sache und der physischen Überwältigung, wohl aber dem Begriffe und einer geistigen Bewältigung nach geschehen. „Eine Gewalt

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dem Begriffe nach vernichten, heißt aber nichts anders, als sich derselben freywillig unterwerfen" (ÜdE; XXI, 39). Das lehrt die ,moralische Kultur' : aus allen physischen Abhängigkeiten und geschichtlichen Erleidnissen herauszutreten und durch Freiheit im Stile der Selbstunterwerfung überlegener Geist zu sein. So erhebt sich der Mensch über die Schrecken des Todes, wenn er sich ihm zwar als Kreatur unterlegen, als Geist aber überlegen weiß. Und indem er dessen furchtbare Gewalt nicht gegen, sondern mit seinem Willen erleidet, hebt sich der Widerspruch zwischen Willensanspruch und Willensvermögen auf. Weil es beim Menschen letztlich um die Erhebung des erhabenen Willens aus seiner Widersprüchlichkeit geht, darum gewinnt unter den verschiedenen Arten und Bedeutungen des Erhabenen das praktisch Erhabene einen Vorrang vor dem theoretisch Erhabenen. Die Konfrontation des Begehrungsvermögens mit dem Furchtbaren drängt das Problem des mathematisch Erhabenen, die Überwältigung der Anschauung durch das Unendliche in der Natur, zurück. Und das pathetisch tragisch Erhabene gewinnt gegenüber dem dynamisch Erhabenen, eben der Sicherheit unseres Geistes angesichts der Allgewalt der Natur, die zentrale Stelle, wenn es sich um die Konflikte und Antagonismen menschlichen Daseins und deren Aufhebungen dreht. Im pathetisch Erhabenen siegt der moralische Widerstand gegen das Leiden im Zustande des Leides. Ein mitleiderregendes Erleiden des Furchtbaren, das zugleich erhaben ist, heißt tragisch. Hier stellt der Mensch die durch schuldhafte Verwirrung der Sphären aus den Fugen geratene Welt im Leiden wieder her. Und es enthüllt sich der Mensch in seiner erhabensten Möglichkeit, wenn er das Leiden bejaht, die Gewalt des Todes auf sich nimmt und im vernichtenderhebenden Untergang das rechte Verhältnis der Welt wiederherstellt. Damit erhält die Leitfrage des ästhetischen Humanismus: Wie ist der Mensch inmitten des Widerspruchs und Antagonismus überhaupt möglich? eine zweifelerregende Antwort. Im Lichte des tragisch Erhabenen kann der Mensch sein Menschsein verwirklichen, indem er sich selbst vernichtet und dadurch unheilvolle Zwietracht heilt. Wie aber steht dazu der Bescheid der ,Ästhetischen Briefe'? Der versöhnenden Macht der Schönheit zufolge ließen sich doch tragische Verwirrungen ausgleichen und Katastrophen — gerade auch solche der Weltgeschichte, d. h. der Französischen Revolution — auffangen. Kehrt sich mithin der Versuch, das tragische Scheitern der Menschheit durch ästhetische Selbstverwirklichung zu entschärfen, in eine Dialektik der Selbstvernichtung um, in welcher sich der Mensch als Mensch zerstören muß, um zum ,reinen Dämon in ihm'

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aufzusteigen? Fällt sozusagen die Dialektik schöner Harmonie einer Dialektik des tragisch Erhabenen zum Opfer? Oder vermag gerade der Begriff des Erhabenen das ästhetische Konzept zur überwältigenden Einheit des Ideal-Schönen zu ergänzen? In jedem Falle muß sich ein Ungenügen im ersten Entwurf der ästhetischen Erziehung angeben lassen. Dabei kann wohl die deplacierte Abschätzung der Schönheit als bloß verfeinerte Sinnlichkeit und als Kalypso-Zauber und -Verführung (XXI, 45) ebenso beiseite gelassen werden wie das alte Augustenburger Projekt, das Schöne in seiner schmelzenden Schönheit mit der energischen Schönheit des Erhabenen zu synthetisieren. Solche empirischen Vereinseitigungen fallen hinter den Stand der transzendental-dialektischen Erhebungen zurück. Warum das System der Schönheit, für sich genommen, ein Torso bleiben muß, erhellt aus der Rücksicht auf Wirklichkeit qua Existenz und Dasein. Schillers Abhandlung über das Erhabene trifft damit — wie alle Dialektik des Selbstbewußtseins — auf den Widerstand, der einer absoluten Selbstsetzung des Geistes Schranken setzt. Zwar trägt das veredelte Subjekt eine unbeschränkte und unverlierbare Fülle des Lebens in sich, aber doch nur dank einer Reflexion, die sich an die Erscheinungsweisen des Seienden hält und alles Interesse an Dasein und Existenz abblendet. So werden der Wille und seine Widersprüchlichkeit geschont. Wird dagegen der Wille als problematische Einheit des Selbstbewußtseins thematisiert, dann kann die Frage nach der Existenz so wenig ausgeklammert werden, daß sie ihrerseits die Seinsweise des Scheins hinterfragt. Darum stellt eine Theorie des Erhabenen sogar den schönen Schein auf das Fundament des Daseins zurück und setzt das Spiel mit dem Schönen der Gewalt der Natur, welche alles Dasein beherrscht, aus. „Aber endlich will doch auch der Schein einen Körper haben, an welchem er sich zeigt, und solange also ein Bedürfniß auch nur nach schönem Schein vorhanden ist, bleibt ein Bedürfniß nach dem Daseyn von Gegenständen übrig, und unsre Zufriedenheit ist folglich noch von der Natur als Macht abhängig, welche über alles Daseyn gebietet" (ÜdE; XXI, 40). Am Widerstand der Existenz und am machtvollen Widerspruch der äußeren und inneren Naturgewalt bricht das Ungenügen ästhetischer Uberformung auf. Der ,schöne Charakter' begnügt sich mit dem Wunsche, daß Schönes und Vollkommenes existieren soll. Ihm fehlt die Größe zu fordern, „daß das Existierende gut und schön und vollkommen sey" (UdE; XXI, 41). Die ästhetische Versöhnung betreibt unmittelbar eben nicht die daseiende, sondern die symbolhaft-scheinende Einigung von Wesen und Existenz.

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Erst die Erhebung des Erhabenen sichert die geistige Einheit des Menschen gegenüber den Gewalten des Daseins. Steht es am Ende also so, daß erst eine Verbindung des Erhabenen mit dem Schönen den Menschen zum ,vollendeten Bürger der Natur' macht und daß nur eine ästhetische Erziehung, welche außer dem Spieltrieb auch das Gefühl für das Erhabene kultiviert, die Ganzheit des Menschen vor dem zerteilenden Widerstreit schützt? Erfüllt mithin gerade das Zusammenspiel von Tragödie und Idylle, also die poetische Gestaltung des Schönen und des Erhabenen, die Aufgabe der Poesie, der Menschheit ihren vollständigen Ausdruck zu geben, vollkommen? Und hat demnach die antagonistische Dialektik über die Synthesis des Spieltriebs hinaus den Widerspruch von Willen und Gewalt und die Aufhebung des Erhabenen zu durchlaufen, um zur großen und umfassenden Versöhnung menschlichen Daseins zu kommen? So steht es mit dem Menschen nicht. Zwar ist sicher, daß sich der systematische Ort des Erhabenen in Schillers Humanismus aus der Relation zur Schönheit (nicht zum Ethischen) und aus der Tendenz ergibt, den Streit zwischen Willen und Existenz aufzulösen, der im ästhetischen Kreis des Schönen ausgespart war. Aber es sollte ebenso klar sein, daß der Begriff des Ideal-Schönen, die proklamierte Synthese von Erhabenheit und Schönheit, die Widersprüche des Menschseins nicht aufhebt, weil er sich selbst widerspricht 86 . „Bey dem Schönen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit zusammen, und nur um dieser Zusammenstimmung willen hat es Reiz für uns" (OdE; XXI, 43). Die Harmonie gegeneinander gespannter Kräfte während des Spiels mit dem Schönen im Reiche des selbständigen Scheins hatte sich als letzte Bedingung erwiesen, die es dem Menschen ermöglicht, aus frischen Quellen Mensch zu sein. Im .Augenblick' solcher Identität gewinnt der Mensch seine Unversehrtheit und eine Möglichkeit zurück, aus neuer, ungeahnter Erschlossenheit sein Leben zu verwandeln und das Bild freier Versöhnlichkeit in die Wirklichkeit zu tragen. Der transzendentale Weg des Humanismus führt vor solch schöpferisches Bild der Oberein-

86

W . Düsings sorgfältige Untersuchung der vielfachen Bedeutung und Beziehung des Erhabenen (Schillers Idee des Erhabenen. Diss. Köln 1967) folgt der Leitlinie, das Erhabene aus seiner Beziehung zum Schönen festzustellen. Sie bekräftigt dabei die These von G. Fricke, daß der grundsätzliche und zentrale Widerstreit zwischen Schönheit und Erhabenheit unversöhnbar bleibt (Der religiöse Sinn der Klassik Schillers. Zum Verhältnis von Idealismus und Christentum. München 1927, Kap. VI).

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Stimmung, lind er hebt alle Gegensätze und Antagonismen in schrankenloser Identität und Harmonie der Schönheit auf. „Beim Erhabenen hingegen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit nicht zusammen, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüth ergreift. Der physische und der moralische Mensch werden hier aufs schärfste von einander geschieden" (OdE; XXI, 43). Der Grundzug des Erhabenen ist die Nicht-Identität. Der Widerspruch zwischen Unterliegen und Überwältigung gegenüber den Daseinsmächten der Natur hatte sich hier als das Belebende herausgestellt, das der Existenz des Menschen einen unerhörten Schwung gibt. Im Aufschwünge des Erhabenen bleiben Scheidung und Unterschied Anfang und Ende. Der Mensch muß in der Ganzheit seiner physisch-moralischen Doppelnatur zertrennt werden, damit er sich als reine Intelligenz oder ,reiner Dämon' erfahren kann. Die Theorien des Schönen und Erhabenen fügen sich daher nicht zur Einheit eines Systems zusammen. Ihre Darlegungen spalten den Plan des ästhetischen Humanismus und die Einheit seiner dialektischen Methode zu unvereinbarer Zweiheit auf. Die Seinserfahrung des Schönen erschließt die Möglichkeit des Menschen rein als Menschen, läßt aber die Kraft des reinen Willens gegenüber den Gewalten der Natur im Dunkeln. „Durch die Schönheit allein würden wir also ewig nie erfahren, daß wir bestimmt und fähig sind, uns als reine Intelligenzen zu beweisen" (UdE; XXI, 43). Die Erfahrung menschlicher Erhabenheit dagegen erschließt das Dämonische im Menschen, verschließt aber eben darum den Menschen als Menschen. „Das Schöne macht sich bloß verdient, um den Menschen, das Erhabene um den reinen Dämon in ihm" (UdE; XXI, 52). Beides aber, das Schöne und das Erhabene, ergänzen sich nicht zu umfassender Ganzheit, sie schließen einander aus. Zu einer übergreifenden Versöhnung von schöner Identität und erhabener Nicht-Identität führt kein methodischer Weg. Auf dem Höhepunkte des ästhetischen Humanismus, in der Aufstellung des Ideal-Schönen, gabelt sich der Zweiweg der Dialektik des Selbstbewußtseins. Der Weg der Selbst-Verwirklichung des Menschen und der Weg seiner dämonischen Selbst-Vernichtung laufen auseinander. Die dialektische Versöhnung des Menschen zum Menschen und die tragische Erhebung zum Dämon (der, auf die Stimme des Gottes hörend, das Menschliche opfert), passen nicht zusammen. Dabei behält die Dialektik der Selbstvernichtung das letzte Wort. Der Tragiker Schiller durchstreicht selbst die Dialektik schöner Selbstverwirklichung.

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An die Stelle der Herkules-Idylle tritt die Achilles-Elegie. Die Versinnbildlichung einer alle Sterblichkeit abstreifenden Erhebung weicht der Klage über das vom Tode überschattete Dasein. Die Idylle — nach Schillers Plan von 1795 eben diejenige poetische Darstellung, in der „alles Sterbliche ausgelöscht ist" (An W. von Humboldt; 29. November 1795) sollte durchaus zur Veranschaulichung einer Bewegung werden, in welcher der Mensch aus den Kämpfen und über die Widerstände seiner Endlichkeit in einen göttergleichen Zustand eingeht. Und offenbar gehört solche Idyllik zum Verständnis eines Selbstbewußtseins, welches den Prozeß limitativer Dialektik in eine schranken-, Widerstands- und todlose Synthesis überhöht. Die „Nänie" von 1799 bedeutet den Einbruch von Existenz, Tod und Vergänglichkeit in den Kreis des ästhetischen Daseins. Sie läßt eine ästhetische Dialektik des Selbstbewußtseins zweideutig erscheinen, welche das Leben auf eine reine Möglichkeit zurückführt, die ästhetisch und nicht aus dem Sein zum Tode ausgelegt ist. Denn ist nicht auch die neugebärende Möglichkeit des Schönen in die Unmöglichkeit aller Möglichkeiten, den Tod, einbehalten? So vergeht denn auch wortlos der Plan einer alles versöhnenden Idylle, während der Threnos, das Dröhnen der Totenklage: „Auch das Schöne muß sterben ! Das Menschen und Götter bezwinget" Werke II, 722 unsterbliche Gestalt gewinnt.

Teil II Die Selbstaufhebung der Dialektik Herrschaft und Knechtschaft — Verzweiflung — Entfremdung (Hegel. Kierkegaard. Marx)

1. Abschnitt: Soziodialektik Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes 1. Kapitel: Hegels Satz des Selbstbewußtseins „Man muß beginnen mit der Hegeischen Phänomenologie, der wahren Geburtsstätte und dem Geheimnis der Hegeischen Philosophie" (PM, 640 — 641). Die Phänomenologie ist für Marx die Geburtsstätte einer Logik und Wissenschaft des absoluten Geistes. In ihr erhebt sich der erscheinende subjektive Geist von der Gewißheit des Selbstbewußtseins zur Wahrheit und Gewißheit der Vernunft. Mit diesem einleitenden Ubergang enthüllt die Phänomenologie das Geheimnis, welches Zutritt in das einheimische Reich der Wahrheit verschafft. Sie lehrt die Dialektik der Negativität als bewegendes Prinzip und faßt die Selbsterzeugung des Menschen als einen sich selbst überwindenden Prozeß. Aber sie fordert zugleich auch die über- und unmenschliche Abstraktion von der konkreten Menschlichkeit des Selbstbewußtseins; denn anders kommt das Wissen nicht in eine Dialektik der reinen Gedanken im Ausmaße der Ontotheologik hinein. Dies, die Selbsterzeugung und Selbstentfremdung des Menschen, ist für Marx das undurchsichtige Geheimnis Hegelscher Philosophie. Es ist kritisch aufzuklären, und zwar immanent, im Verfolgen der phänomenologischen Dialektik des Selbstbewußtseins selber. Dabei wird sich ein natürlicher Schein zeigen. Er wird sich in der theologischen Versöhnung des bedrückendsten menschlichen Mißverhältnisses, in der dialektischen Krise von Herrschaft und Knechtschaft, bezeugen. Die Dialektik der Phänomenologie beginnt als eine Gesprächskunst, die das Bewußtsein zur Einsicht bringt, sein jeweiliges Urteil als Vorurteil zu revidieren und den Anspruch auf unbedingte Geltung zurückzunehmen. Solche Dialogik zeigt, wie sich der endliche Wille nach absoluter Wahrheit in den Schein verwickelt, etwas bloß Relatives für das Absolute zu halten. „Die Wissenschaft muß sich aber von diesem Scheine befreien; und sie kann dies nur dadurch, daß sie sich gegen ihn wendet" (PhdG 66). Dazu braucht sie eine Methode, die lehrt, in der Erscheinung selbst Schein

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und Sein zu durchschauen. Das eben geschieht auf dem Wege phänomenologischer Dialektik. Deren Gesprächsführung ist sokratisch, ihre Beweisführung apagogisch, ihr Resultat ein derartiges Zurückweisen des Unbedingten, das die Bedingtheit der Sache, die sie durchspricht, aufklärt. Sie ist da, wo sie überzeugt, eine Logik des natürlichen Scheins. Unglücklicherweise reichen die Ambitionen der phänomenologischen Dialektik höher. Sie begnügt sich nicht damit, Instrument einer kritisch scheidenden, endlichen Vernunft zu sein, sie verselbständigt sich zur Methode, welche die Lebendigkeit des sich erhebenden Geistes selber sein will. Dieser Anspruch scheint sich spätestens in dem Moment glänzend zu bewähren, in welchem der erscheinende Geist vom endlichen Ich über das allgemeine Selbstbewußtsein zur Vernunftgleichung Ich = Ich übergeht. Aber dieser Ubergang ist fragwürdig. Er hat in Tat und Geschichte diejenige Krise ausgelöst, welche die Hegeische Dialektik nicht verdauen konnte. Die rettende und alles lösende Erhebung des Geistes ins absolute Wissen muß durch das Selbstbewußtsein und dessen Hauptphänomen, den Widerspruch von Herrschaft und Knechtschaft, hindurch. Hier finden die dialektischen Gänge der Jenaer Phänomenologie eine unübersteigbare Barriere. Nun gelten aber doch die Umschwünge von Herrschaft und Knechtschaft gerade als Musterbeispiel für die lebendige Struktur und die bewegende Kraft der dialektischen Methode. Gewiß, die neuzeitliche Dialektik feiert als Soziodialektik ihren letzten Triumph, aber sie enthüllt darin zugleich ihre tiefe Fragwürdigkeit. Das eben ist die weitreichende Frage: Verschleiert nicht gerade die glatte Manier der gesellschaftlichen Urdialektik von Herr und Knecht die Ohnmacht des Geisteslebens, gewaldos und ohne Bruch aus der entzweiten Sphäre des endlichen Selbstbewußtseins ins heile Reich der absoluten Vernunft überzugehen? Findet die Soziodialektik, also die spekulative Negation der Verdinglichung und Knechtung des Menschen durch Herrschaft, wirklich vom Boden des Selbstbewußtseins aus eine Antwort auf die soziale Frage? Oder hebt sich etwa die Hegeische Philosophie schon in ihrer Geburtsstätte, der Phänomenologie, selber auf? Bemerkenswerterweise ist es eine Definition, welche den Horizont der Soziodialektik umgrenzt. Hegel unterlegt allen Phänomenen dieser Stufe ein definitives Urteil über Selbstbewußtsein und Anerkennung. Sein Satz des Selbstbewußtseins lautet: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist, d. h. es ist nur als ein Anerkanntes" (PhdG 141). Diese Bestimmung ist ein philosophischer Wesenssatz. Er umgrenzt das Wesen des Selbstbewußtseins und

Hegels Satz des Selbstbewußtseins

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mißt den Grund und Boden aus, auf dem die Gestalten des selbstbewußt gewordenen Geistes erscheinen. Seine definitorische Kraft erschließt dieser Satz freilich erst, wenn er sowohl als Resultat wie als Wendepunkt eines übergreifenden Prozesses gelesen wird. Er steht da als Folgesatz, der aus den Widersprüchen des gegenständlichen Bewußtseins entspringt, und er markiert eine ungeheure Wende, den Eintritt in ,das einheimische Reich der Wahrheit', nämlich in die Selbstgewißheit des Ich und den Ubergang zur Gewißheit der Vernunft, alle Realität zu sein. Eine Erörterung, welche dem Wahrheitsanspruch dieses Satzes gewachsen sein will, muß ein Dreifaches tun. Sie muß ihn als Definition durchsichtig machen, als Resultat überprüfen und als Wendepunkt auf dem Wege des Bewußtseins zur Vernunft abschätzen. Ohne diese kritische Besinnung auf den Begriff des Selbstbewußtseins hängt jegliche Diskussion über die soziale Kategorie von Herrschaft und Knechtschaft in der Luft. Das Selbstbewußtsein ist an und für sich. Das ist seine generelle Herkunftsbestimmung. Sie greift auf überlieferte Grundworte der Ontologie zurück. Das Selbstbewußtsein ist an sich. An sich ist das Ubersetzungswort von griechisch καθ' αύτό, lateinisch per se. Es kommt einem Seienden zu, sofern es eigenständig ist, d. h. in sich selbst steht und anderem Sein, das nur in mitgängiger Weise seiend ist, Bestand gibt, indem es ihm zuvor und zugrunde liegt. Diesen Sinn von Sein erfüllt das Selbstbewußtsein. Das bedeutet negativ und abwehrend: Selbstbewußtsein ist kein Akzidenz einer Bestand gebenden Substanz, etwa eine Eigenschaft der an sich seienden Materie. Und das bedeutet positiv und aufschließend: Das Selbstbewußtsein gibt, in sich stehend, anderem Bestand, nämlich jeglicher Vorstellung. Allem, was ist, und das heißt neuzeitlich: was bewußt ist, liegt einheitlich einigend das Selbstbewußtsein zugrunde. Das erste grundgebende Subjekt im neuzeitlichen Verstände ist das Ich. Alles Vorstellen von etwas ist in seiner Wahrheit ein Ich-stelle-vor. „Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein, und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtsein eines Gegenstandes Selbstbewußtsein ist" (Enz. §424; X,272). Zudem ist das Selbstbewußtsein für sich. Dieser Titel nimmt in neuzeitlicher Transformation die zweite überlieferte Grundbestimmung für das wesentliche Sein auf. Für-sein meint ansichtig und offenbar sein hinsichtlich dessen, was etwas ist, für die denkende Seele (δηλοϋν, Offensein im Sinne der ιδέα). Das Selbstbewußtsein ist für sich. Das bedeutet negativ: Es ist wesentlich nicht für anderes und mithin nicht Objekt; denn was zwar an sich und eigenständig, aber für anderes ist, d. h. dadurch in

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sein Wesen kommt, daß es einem erkennenden und handelnden Bewußtsein als einem anderen entgegensteht, ist der Gegenstand. Das Selbstbewußtsein dagegen zeichnet sich positiv als dasjenige An-sich-Seiende aus, das für sich selber ist; denn für das Selbstbewußtsein ist das Ich der Gegenstand. Darum erfüllt sich das Sein des Subjekts, die Subjektivität, darin, sich selbst das Objekt zu sein und in dieser Beziehung seiner selbst gewiß und durch sich selbst bestimmt zu werden. Damit überragt der Selbstbezug des Fürsichseins (die Reflexion) alle Stufen des gegenständlichen, selbstlosen Bewußtseins. Er sichert einen dreifachen Vorrang, nämlich die Wahrheit als Selbstgewißheit, die Freiheit der Selbstbestimmung und die Unendlichkeit des ,inneren Unterschieds'. Erst das Selbstbewußtsein bringt es zu einer Gewißheit, die anstelle der wankend gewordenen sinnlichen Gewißheit ein neues Wahrheitsfundament bietet. Selbstgewißheit (certitudo) bedeutet die von allem Zweifel befreite Sicherheit, daß das vom Subjekt Vorgestellte auch ,aktual-real' ist, d. h. in Wirklichkeit da ist. Alles gegenständliche Bewußtsein verharrt in Ungewißheit. Ihm bleibt problematisch, ob sein Gegenstand, die Welt außer uns, bloß vorgestellt und hingeträumt wird oder mit wirklichem Sachgehalt (realitas actualis) existiert. Ohne Zweifel dagegen existiere ich selbst; denn noch im Zweifel an meiner Existenz existiere ich als Zweifelnder. Dem skeptischen Leugnen des Seins widerspricht hier das Sein des Leugnens. Und das Fürsichsein garantiert die Freiheit der Selbstbestimmung. Durch sich selbst und nicht durch ein anderes, das ich nicht bin, bestimmt zu werden, ist der Grundzug aller Freiheit. Das gegenständliche Bewußtsein besitzt diesen Zug der Freiheit nicht; denn es hat immer ein anderes und Fremdes, ein Nicht-Ich, zum Gegenstand, nach dem es sich richtet. Es wird, weil alles Vorstellen durch das bestimmt wird, was es vorstellt, fremdbestimmt. Ein Bewußtsein dagegen, das sich selber zum Objekt hat, bildet eben den einzigartigen Fall, daß es, indem es vom Gegenstande bestimmt wird, durch sich selbst bestimmt und also frei ist. Schließlich eröffnet das Fürsichsein einen ersten Anblick von Unendlichkeit. Das gegenständliche Bewußtsein bleibt ohnmächtig endlich, weil es an einem Objekt, von dem es sich unterscheidet, eine Grenze findet. Im Fürsichsein dagegen erstarrt das Bewußtsein nicht in begrenzter Endlichkeit. Es erringt Unendlichkeit im Sinne des ,inneren Unterschieds'. Weil es sich in sich selbst und nicht in Rücksicht auf ein äußerlich beschränkendes Anderes unterscheidet, gewinnt es unendliches Sein. Durch diese drei Charaktere der Selbstgewißheit, der Selbstbestimmung und des unend-

Hegels Satz des Selbstbewußtseins

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liehen Selbstbezugs prägt das Fürsichsein oder die Reflexion dem Bewußtsein den Stempel des Geistes auf; denn das Fürsichsein bildet das Ich, das Ich in seiner Freiheit und Selbstbestimmung aber die erste, einfachste und substanzielle Bestimmung des Geistes. „Die Substanz des Geistes ist die Freiheit, d. h. das Nichtabhängigsein von einem Anderen, das Sichaufsichselbstbeziehen" (Enz. §382, Zus.; X,31). Damit sind die »ersten Bestandteile' im Aufbau des Selbstbewußtseins vorläufig erörtert. Ungeklärt ist noch die Bedeutung des Und im Teilsatz: Das Selbstbewußtsein ist an und für sich. Ein glücklicher deutscher Terminus, der diese Zweiheit ausdrückt, ist ,Selbst-Ständigkeit'. Er benennt sowohl das Ansich im Sinne der Eigenständigkeit wie das Fürsich im Sinne des Selbstseins. Die gesamte Phänomenologie des Selbstbewußtseins wird sich darum drehen, ob und wieweit die erscheinenden Gestalten des Selbstbewußtseins, ζ. B. der Herr, der Knecht, der Stoiker, der Skeptiker, das unglückliche Bewußtsein dem Wesensanspruch auf Selbständigkeit oder auf Anundfürsichheit entsprechen. Darum trägt dieser Abschnitt die Uberschrift Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins'. Das Selbstbewußtsein ist beides, sowohl Substanz und eigener Bestand wie Subjekt und Selbstbezug. Aber das Und bedeutet nicht die Addition einer Summe, so als käme das Selbstbewußtsein eigenständig als etwas an sich Vorhandenes innerweltlich vor und außerdem träten das Sich-Wissen und Für-sich-sein-Wollen noch hinzu. Vielmehr bedeutet das Fürsichsein nichts anderes als das wirklich gewordene Ansich. Das Selbstbewußtsein besteht wirklich, indem es für sich geworden ist, was es an sich und seiner Möglichkeit nach immer schon war. Darum kann Hegel im ausdrücklichen Rückgriff auf die von der Aporie des Werdens und der Bewegung gefesselte Ontologie des Aristoteles konstatieren: Das Ansichsein ist die Anlage, die Möglichkeit (δύναμις) des Fürsichseins und das Fürsichsein die Tätigkeit, die Verwirklichung (ένέργεια) des Ansich (vgl. Enz. § 85, § 142 u. ö.). So gesehen, ist das Sein des Selbstbewußtseins Bewegung, nämlich Ubergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit. Es ist Leben, weil es zu seiner Verwirklichung keines äußeren Antriebes bedarf. Es lebt aus der Unruhe seiner Natur. Und es ist geistiges Leben, nicht nur die Selbstverwirklichung des bloß Lebendigen (wie Pflanze und Tier); denn die Unruhe seiner Natur, die es zur Verwirklichung seiner selbst treibt, ist der Widerspruch des Ich, und die Versöhnung des Widerspruchs ist von der Art, daß das Verwirklichende und das Verwirklichte nicht (wie ζ. B. bei Pflanze und Samen) als Seiende verschieden, sondern das eine und selbe

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sind, nämlich der sich selbst erkennende Geist. Mit dieser vorläufigen Erhebung kann das Selbstbewußtsein schon schärfer gefaßt werden. Es ist geistiges Leben, sich selbst verwirklichende Selbständigkeit und Freiheit. Es ist an und für sich, indem es sich selbst im Sich-Wissen und -Wollen verwirklicht. „Der Geist ist wesentlich nur das, was er von sich selber weiß. Zunächst ist er nur an sich Geist; sein Fürsichwerden bildet seine Verwirklichung" (Enz. §385, Zus.; X,40). Das Selbstbewußtsein ist Geist. Damit allerdings ist erst das genus proximum, sein Herkunftsbereich angegeben. Aber das Selbstbewußtsein ist nicht absoluter und unbedingter, sondern relativer und bedingter Geist. Es ist an und für sich — indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist. Im zweiten Teil des Hegeischen Satzes vom Selbstbewußtsein kommt offenbar die spezifische Differenz des menschlichendlichen Geistes zur Sprache, der Bezug zu einem anderen Ich. „Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" (PhdG 140). Diese Konzeption hält die Fichtesche Wendung zur Soziodialektik fest. Hegels Satz des Selbstbewußtseins lehrt definitiv: Das Mitsein mit Anderen gehört konstitutiv zum Ich und begründet allererst die Möglichkeit einer freien Verfassung des Selbstbewußtseins. Die Reflexion des Selbstbewußtseins ist in sich eine soziale Beziehung. Die Art dieses Bezuges heißt Anerkennung. Das Selbstbewußtsein ist nur ,als Anerkanntes'. Der Mensch existiert nur menschlich in einem Bezug zum Anderen, der ihn in der Tat anerkennt, d. h. als seinesgleichen, als freies Vernunftwesen behandelt. Die Wahrheit des Selbstbewußtseins braucht die Wechselseitigkeit der Anerkennung. So konstatiert die Jenaer Realphilosophie: „Der Mensch wird notwendig anerkannt und ist notwendig anerkennend" (JR, 206). Anders kann das Selbstbewußtsein nicht zur Gewißheit seiner Wahrheit und der Mensch nicht zu einer menschlichen Existenzweise finden. Der Satz des Selbstbewußtseins impliziert eine Logik der Anerkennung, und zwar für uns, das philosophierende Bewußtsein, das den Begriff der Anerkennung analysiert. Die Einheit des Ich umfaßt die Einheit des Wir und den Unterschied von Ich und Fremd-Ich. Im Unterschiedenen liegt ein doppelter Sinn. Der Andere ist nämlich für mich ein Fremdes und anderes {alter ego). Zugleich aber ist er auch nicht von mir unterschieden, sondern dasselbe wie ich (alter ego). Entsprechend bin ich für den Anderen fremd und andersartig, zugleich aber auch nicht unterschieden, sondern ein Vertrautes und Selbes. Wird nun die geistige Einheit, welche die Einheit des Wir und die Doppelheit unterschiedener Selbstbewußtsein umgreift, auseinandergelegt, dann entsteht uns in dieser

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Auseinanderlegung eine Bewegung. „Die Auseinanderlegung des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung des Anerkennens dar" (PhdG 141). Der erste Schritt der Bewegung kann als Phase der Entäußerung definiert werden. Das Selbstbewußtsein mußte ja, um zu sein, auf das andere, ihm fremde Selbstbewußtsein eingegangen sein. „Es ist außer sich gekommen" (PhdG 141). Die Entfremdung in einem doppelsinnigen Äußeren wird zu einer zweifachen Selbstentäußerung. Zunächst hat sich das eigene Selbst verloren; „denn es findet sich als ein anderes Wesen" (PhdG 141). Das ist der Fall, sofern ich mein Selbst ganz an einem anderen Selbst habe. Dann bin ich mir selber fremd. Mein Selbstbewußtsein besteht nurmehr in der Anerkennung, die der Andere mir gewährt. Ineins aber wird damit auch der Andere als anderes Ich aufgehoben; denn der Andere kommt nur als mich Anerkennender, nicht aber in seinem Eigenwesen in den Blick. Wenn ein Ich durch den Anderen unter Nichtachtung des anderen Selbst sich zu bestätigen sucht, dann sieht es „auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Andern" (PhdG 141). Dieser Zustand entspricht den durchschnitdichen Verdeckungen des äußerlich dahinlebenden Selbstbewußtseins. Bei solch totaler Entäußerung kann das Selbstbewußtsein nicht stehenbleiben. „Es muß dies sein Anderssein aufheben" (PhdG 141). Die Begründung für die Notwendigkeit dieser Aufhebung kann nicht dem endlichen Selbstbewußtsein selber, es muß seiner Abkunft aus dem Geist entnommen werden. Ist das endliche Ich Repräsentant des unendlichen Geistes und der Geist unbedingtes Fürsichsein, dann wird sich das Selbstbewußtsein unter keiner Bedingung mit dem Zustande der Entfremdung und Unfreiheit abfinden. Natürlich behält auch die Aufhebungsphase der Anerkennung in der Dimension der Intersubjektivität einen doppelten Sinn. Das Negieren geht auf ein Doppeltes. „Es muß darauf gehen, das andere selbständige Wesen aufzuheben, um dadurch seiner als des Wesens gewiß zu werden" (PhdG 141 —142). Um sich selbst wiederzugewinnen, muß das Ich das andere Ich als Prinzip seines Seins absetzen. Dadurch verneint das Selbstbewußtsein die Ansicht, sein Bestimmungsgrund sei ein anderes einzelnes Ich in seiner Andersheit. „Zweitens geht es hiemit darauf, sich selbst aufzuheben, denn dies andere ist es selbst" (PhdG 142). Wird erinnert, daß das entäußerte Ich sein Eigenwesen in das Selbst des Anderen (in das ,Man', das die Regeln der Anerkennung diktiert) gesetzt hatte, dann leuchtet die Konsequenz ein. Mit der Negation des mich entfremdenden Fremd-Ich verschwindet auch der darin festhängende Eigensinn meiner selbst.

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„Dies doppelsinnige Aufheben seines doppelsinnigen Andersseins ist ebenso eine doppelsinnige Rückkehr in sich selbst" (PhdG 142). Indem sich das Selbstbewußtsein des Außersichseins entäußert, kehrt es, das Unterschiedene als Moment höherer Einheit bewahrend, in sich selbst, das meint jetzt: in die konkrete Allgemeinheit des Selbstbewußtseins, zurück. So verläuft die Bewegung des Anerkennens nach dem Gesetz der absoluten Negativität. Konsequenterweise bewahrt sich auch während dieser Rückkehr der Doppelsinn des Unterschiedenen. Dadurch, daß das andere Ich, in das ich mich entäußert habe, negiert wird, stimme ich wieder — erhoben über falsche Anerkennungen — mit mir selbst überein. Zugleich lasse ich eben dadurch, daß ich mich so aufhebe, wie ich im Anderen bin, auch den Anderen in seinem Eigenwesen frei. Wo das Selbstbewußtsein in dieser Bewegung ankommt, da ist die Einheit eines Miteinander, in dem ich meine Freiheit dadurch besitze, daß ich den Anderen als freies Wesen anerkenne. Natürlich läßt sich die Bewegung des Anerkennens zugleich von der anderen Seite, nämlich als Tun des Anderen, durchkonstruieren. Dann geht die Entäußerung und Wiedergewinnung des Anderen eben in mir vor. Und natürlich tritt darin der Doppelsinn auf, den ich für den Anderen habe. „Die Bewegung ist also schlechthin die gedoppelte beider Selbstbewußtsein" (PhdG 142). Erst die wechselseitig umschlagende Bewegung hat das allgemeine Selbstbewußtsein zum Resultat. Ich finde zu mir selbst zurück, indem ich den Anderen als anderes Ich in sein Wesen freilasse, und der Andere kommt zu sich selbst, indem er mich freigibt. Die Einkehr des Selbstbewußtseins in die Freiheit seines gemeinen Wesens ist das wechselseitige Tun der Anerkennung. „Das einseitige Tun wäre unnütz, weil, was geschehen soll, nur durch beide zu Stande kommen kann" (PhdG 142). So wird Hegels Satz des Selbstbewußtseins als eine Definition des Menschen durchsichtig. Der Mensch ist dasjenige Wesen des Geistes, dessen Bewußtsein durch den Anerkennungsbezug zum anderen Selbstbewußtsein konstituiert wird. Die Umgrenzung des Selbstbewußtseins definiert den Menschen als für sich seiendes, freies, gesellschaftliches Wesen 87 . 87

Inwiefern der Begriff der Anerkennung seine humanistische Wurzel in der Kantischen Tugendlehre (im Begriff der Achtung in Bezug auf Andere, observantia aliis praestanda) hat und wie in der Jenaer Realphilosophie die Anerkennung als Ubergang aus dem Naturin den Rechtszustand im Hinblick auf die Ungleichheit zwischen Besitzenden und Besitzlosen eingeführt war, bleibt hier, wo es um die Analyse der reinen dialektischen Bewegung des Anerkennens geht, außer Betracht.

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2. Kapitel: Der Sprung in Herkunft und Zukunft des Selbstbewußtseins. (Zu den Übergängen des Lebens und der Begierde, des ungleichen und des allgemeinen Selbstbewußtseins) Die Phänomenologie von Herrschaft und Knechtschaft beginnt unphänomenologisch. Sie schickt die Definition des Selbstbewußtseins aus dem Wechselbezug freier Anerkennung voraus. Es scheint fraglich, ob sich dieser Grundsatz überhaupt methodengerecht aus der Vergangenheit des gegenständlichen Bewußtseins hervorholen läßt. Nun kann die dialektische Entwicklung des gegenständlichen Bewußtseins in den dunklen Umschwüngen von , Kraft und Verstand' über die Momente des Lebens und der Begierde zum Ich nicht im einzelnen durchgemustert werden 88 . Wohl aber lassen sich kritische Punkte dieser dialektischen Herleitung thesenhaft angeben. Skeptisch zu betrachten ist beides, die Ableitung des Selbstbewußtseins aus der Erfahrung des Lebens und die Genesis des Fremd-Ich aus den Widersprüchen der Begierde. Ermittelt der Zusammenhang von Leben und Bewußtsein wirklich zwingend die Genesis des Fürsichseins? Und entwickelt sich das Verhältnis zum anderen Ich tatsächlich mit methodischer Strenge aus den Widersprüchen der Begierde? Für die Verknüpfung von Leben und Bewußtsein muß der entscheidende Satz herangezogen werden: „Sie (die reflektierte Einheit des Lebens) ist die einfache Gattung, welche in der Bewegung des Lebens selbst nicht für sich als dies Einfache existiert; sondern in diesem Resultate verweist das Leben auf ein Anderes, als es ist, nämlich auf das Bewußtsein, für welches es diese Einheit, oder als Gattung ist" (PhdG 138). Diese These unterstellt, daß das Sein des Gegenstandes in sich Leben geworden und das Leben als reflektierte Einheit expliziert ist. Nicht von ungefähr gebraucht die Einleitung in das Reich des Selbstbewußtseins die dialektische Urchiffre des Lebens. Von der Bewegtheit des Lebens hat dem jungen Hegel die Weg weisende Formel der Dialektik eingeleuchtet: Leben und Sein sind Identität der Identität und Differenz. Und die Wiederholung dieser Lebensstruktur in der Überleitung vom gegenständlichen zum Selbstbewußtsein zeichnet den dialektischen Aufbau des Ich vor. 88

Diese Zusammenhänge sind erstmals von H . Marcuse ins Zentrum einer ontologischen Besinnung über Leben und geschichtliches Bewußtsein gerückt und durch die Auslegungskunst H . G. Gadamers dem Verständnis näher gebracht worden. (H. Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit. Frankf. a. M. 1932. — H. G. Gadamer, Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins. In: Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1973. S. 217—242).

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Leben ist in sich reflektierte Einheit, nämlich die Einheit einer Bewegung, welche als Kreislauf eines Identität und Unterschied zusammennehmenden Ganzen in sich zurückkehrt. Das Lebendige ist weder nur die Gattung in ihrer Selbigkeit und Kontinuität noch die individuelle Gestalt in ihrem diskreten Unterschied, und die Lebendigkeit erschöpft sich weder im Entzweien in die Unterschiede noch im Auflösen des unterschiedlichen Bestandes. Die Kraft des Lebens spielt mit dem Widerspruch zwischen den Unterschieden der individuellen Gestalten und der Identität des allgemeinen Gattungswesens. Leben ist das einfache, unteilbare Ganze, welches die Prinzipien von Unterschied und Selbigkeit, Entzweiung und Vereinigung als Momente in sich aufhebt. Leben ist eben dieser Kreislauf, „das sich entwickelnde und seine Entwicklung auflösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze" (PhdG 138). Die Entsprechung zum Selbstbewußtsein liegt auf der Hand. Die Verhältnisse von Identität und Differenz, von Allgemeinem und Einzelnem sind beim Lebendigen und beim Ich gleich. Ebenso offenkundig ist die schwache Stelle dieser analogia proportionalitatis. Gewiß ist das Selbstbewußtsein Leben im dialektischen Grundriß der Lebendigkeit, aber das Selbstbewußtsein ist ein ,anderes Leben'. Diese Andersheit zwischen dem bloßen Leben des Objekts und dem Leben des Subjekts bedeutet zunächst eine qualitative Differenz. Das andere Leben ist nicht ein quantitatives Mehr, es ist ein ausgezeichnetes Leben, Lebendigsein im Status der sich wissenden und sich wollenden Rückkehr in sich. Während das bloße Leben die Bewegung eines unteilbaren Rückbezugs vollzieht, aber nicht für sich als dieses Einfache existiert, ist das Selbstbewußtsein ein Gattungswesen, das für sich selbst Gattung ist. Und das Anderssein bedeutet so ein Entgegenstehen. Das bloße Leben ist das Sein, das für ein anderes, eben für das Bewußtseinsleben ist. Stehen sich Leben und Ich in der Gegenstellung von Objekt und Subjekt gegenüber, wie ist dann die Notwendigkeit des Ubergangs zu denken? Als die Notwendigkeit eines Zusammenhanges, in dem mit dem Bewußtsein von gegenständlichem Leben das Bewußtsein von sich selbst als höherer Lebendigkeit auftritt. Der Grund für solches Zusammenauftreten besteht in einem Verweisungszusammenhang. Der Bestand des Lebens verweist auf das Bestehen des Ich. Das Bewußtsein muß ein Verständnis von sich selbst besitzen, sonst hat es kein Organ und Auge für die reflektierte Einheit der lebendigen Natur. (So hatte ja die Verstandesmetaphysik auf Leibnizscher Höhe in ausdrücklicher Analogie zum Ich das Sein des Gegenstandes als Lebendigsein erschlossen.)

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Wie stringent auch dieser Bedingungszusammenhang sein mag, taugt er zu einem Beweis, der das Ich aus seiner Grundlage, der realen Natur, entwickeln will? Gezeigt ist doch lediglich dieses: Das Leben kommt als Wahrheit des Gegenstandes nur dann zum Bewußtsein, wenn das .andere Leben', eben das Selbstbewußtsein, schon da und vorausgesetzt ist. Woher aber ist diese Auszeichnung des Lebens, die Wirklichkeit des sich wissenden und wollenden Selbstbezugs, entstanden? Eben die Genesis des Ich erliegt einem Zirkel. Das Selbstbewußtsein wird gar nicht aus der Erfahrung des Lebens abgeleitet, sondern ihr vorausgesetzt. Letztlich läßt sich für den Ursprung des Selbstbewußtseins aus dem Bewußtsein des Lebens nicht mehr folgern als in Rücksicht auf das Verstehen der Gesetzlichkeit in ,Kraft und Verstand'. Hier wie dort steht das Bewußtsein mit diesen Erfahrungen erst ,auf dem Sprunge', sich zum Selbstbewußtsein zu erheben. Es »entzündet' sich am Bewußtsein dieser dialektischen, lebendigen Einheit des Unterschiedenen (vgl. Enz. §423, Zus.). Der zündende Funke aber ist unableitbar: der ,Blitz der Subjektivität', die unvermittelte Setzung des Ich, dessen Grund der Wille ist. Mithin wird dem Bewußtsein in seinem eigenen Tun bewußt, daß es Selbstbewußtsein ist, und es muß schon zu diesem Bewußtsein gekommen sein, um Bewußtsein des Lebendigen zu werden. Das Selbstbewußtsein, die erste Gestalt des Geistes, ist freier Ursprung und nicht Resultat. Wie aber steht es mit der menschlichen Bedingtheit des Geistes, dem In-Beziehung-Sein zu einem anderen Selbstbewußtsein? Die Genesis des Fremd-Ich führt zu einer Explikation des anderen Lebens als Begierde zurück. Also muß die Frage beleuchtet werden: Wie entsteht aus der Dialektik der Begierde das Anerkennungsverhältnis zwischen Ichen? Begierde ist hier nicht der Titel für einen physischen Akt und bedeutet nicht die dumpfe Selbstsucht, die auch Tieren eignet. Begierde ist die erste Gestalt des zum Leben erwachten Selbstbewußtseins. Sie stellt das Bewußtsein ontologisch in seinem Verhältnis zur Welt der Gegenstände fest, und zwar so, daß es als Trieb sich selbst im äußerlichen Objekt zu befriedigen strebt. Begierde als Trieb ist das elementare Streben, den Urwiderspruch des Ich zwischen der Allgemeinheit der Ichheit und der unmittelbaren Einzelheit im Unterschied zu Anderen aufzuheben, und zwar in einem verworrenen, nicht vom Denken begleiteten Bewußtsein von der Nichtigkeit des Anderen. Das Selbstbewußtsein in der Gestalt der Begierde ist jedes Einzelne. Es kennt nichts als die Befriedigung seiner Sucht, das für nichtig gehaltene Andere zu zerstören, aufzuzehren, sich einzuverleiben, um sich durch solche Negation in seiner Wahrheit zu

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bestätigen. „Das Selbstbewußtsein in seiner Unmittelbarkeit ist Einzelnes und Begierde" (Enz. §426; X,276). Aber die Begierde erlebt, indem sie sich verwirklicht, nichts als eine fortlaufende Reihe von Enttäuschungen. Sie verläuft in der Langeweile eines Prozesses von schlechter Unendlichkeit; denn ihre Befriedigung geschieht nur im Einzelnen und Vorübergehenden, das nicht etwa zum Bleibenden gebildet, sondern selbstsüchtig verzehrt wird. Sie ist darum selbst vorübergehend. Darum taumelt die Begierde zum Genuß und verschmachtet im Genuß nach Begierde. Die Erfahrung dieses Widerspruchs leitet von der Einseitigkeit der Begierde zur Wechselseitigkeit der Anerkennung über. Die ewig ungestillte Selbstsucht der Begierde erfährt, daß sie auf die Selbständigkeit des Entgegenstehenden angewiesen ist. Das besagt nicht nur, daß der Gegenstand in seiner Selbständigkeit der negierenden Begierde jeweils vorausgesetzt sein muß, die Erfahrung geht tiefer. Sie sieht sich auf eine solche Selbständigkeit angewiesen, die dafür Voraussetzung ist, daß das Selbstbewußtsein der Begierde seine Wahrheit im Anderen bewährt und nicht entwährt. Wie aber kann sich die Begierde des Ich befriedigen, ohne daß das Andere die nötige Selbständigkeit verliert? „Um der Selbständigkeit des Gegenstandes willen kann es daher zur Befriedigung nur gelangen, indem dieser selbst die Negation an ihm vollzieht;.. . denn er ist an sich das Negative, und muß für das Andre sein, was er ist" (PhdG 139). In diesem Bedingungsverhältnis erhebt sich das Selbstbewußtsein der Begierde zum Anerkennungsverhältnis zwischen Ichen, weil das selbständige Andere, das an sich das Negative ist, selber Selbstbewußtsein geworden ist. Ihm wird das Vermögen angemutet, seine Einzelheit und sinnliche Unmittelbarkeit, und d. i. den Unterschied zum anderen Ich, zu negieren. Weil das Selbstbewußtsein notwendig dasjenige für sich wird, was es an sich ist, muß es diese Negation auch vollziehen. Das aber kann doch nur heißen: Der selbständige Gegenstand ist ein Ich, das seine Freiheit gewinnt und sich in dieser Freiheit von sinnlicher Unmittelbarkeit zum Anderen als einem freien Ich verhält. Dieses freie Anerkennen ist notwendig, damit die geläuterte Begierde zu dauerhaftem Selbstbewußtsein gelangt. „Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem andern Selbstbewußtsein" (PhdG 139). Dieser Aufschluß des anderen Ich und seine Einschließung in die Struktur des Selbstbewußtseins sind mit Recht für problematisch gehalten worden. Wiederum leuchtet eine bloß hypothetische Notwendigkeit ein. Soll die Begierde als Gestalt des Ich zur objektiven Wahrheit seiner subjektiven Gewißheit kommen, dann muß ein Objekt vorausgesetzt sein,

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das selber Subjekt ist. Aber dieser Bedingungszusammenhang setzt das, was erschlossen werden soll, die Relation zum anderen Selbstbewußtsein, notwendig voraus und läßt das genetische Problem offen: Woher entsteht ein anderes Ich, das freizügig genug ist, um dem begehrenden Ich durch Negation seiner Eigenheit Befriedigung zu gewähren? Die Enzyklopädie setzt für die Genesis des Bewußtseins eines freien Objekts ,das Urteil oder die Diremtion' des Ich ein. Eine unvermittelte Ur-Teilung und ein trennendes Auseinandernehmen hat den äußeren Gegenstand aufgehoben „und das Andere mit dem Ich erfüllt, aus etwas Selbstlosem zu einem freien, zu einem selbstischen Objekt, zu einem anderen Ich gemacht, — somit sich als ein unterschiedenes Ich sich selber gegenüber gestellt" (Enz. §429, Zus.; X, 280). Damit nimmt auch die Genesis des anderen Ich zur Metapher vom Blitz der Subjektivität Zuflucht, welcher das Dunkel der Selbstlosigkeit aufhellt und die kompakte, naturhafte Ununterschiedenheit im Ich zerteilt. Dieser freie Sprung aus dem Status der Begierde in den der Anerkennung wird auch nicht überflüssig, wenn der dialektische Passepartout der Liebe diese Zusammenhänge aufschließen soll. Selbst wenn die verzehrende Gier zum Verlangen nach der Begierde eines Andern sublimiert wird und das Begehren dahin strebt, von einem Anderen begehrt zu werden, bleibt der Kurzschluß der Begierde (in aller Geschlechtsliebe) bestehen. Im vorübergehenden Rausch gegenseitigen Begehrens bleiben der Andere für mich und ich für den Anderen einzelne Objekte flüchtiger Selbstbefriedigung, es sei denn, in der ,anthropogenen' Begierde, die sich auf ein , anderes lechzendes Leeres' richtet, ist der Anerkennungsbezug zu einem wahren Selbst schon eingeschoben89. Damit ergibt sich auch für die Ableitung des anderen Ich: Es ist für das Bewußtsein (und nicht nur für uns, die wir vorgeblich schon mit der Idee des Lebens zur Vernunftgewißheit gelangt sind) nachgewiesen als notwendige Bedingung für die mögliche Bewährung des Selbstbewußtseins überhaupt. Das aber ist keine dialektische Vermittlung, sondern transzendentale Deduktion. Der Satz des Selbstbewußtseins ist kein vermittelter Folgesatz, er bedeutet einen Satz im Sinne eines Sprunges. Er setzt durch den Sprung der Freiheit aus dem naturgebundenen Leben und der fremdbestimmenden 89

Vgl. A . Kojève, Zusammenfassender Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der PhdG. I n : Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt 1973, S. 145. Die dunkle Erhebung der Begierde zur Anerkennung, wonach das Selbstbewußtsein seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein erreicht, sucht der Kommentar von I. Fetscher (Hegels Lehre vom Menschen. Stuttgart 1970) am Beispiel der Geschlechtsliebe aufzuklären. Sie wird dadurch nicht verständlicher.

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Begierde in das Reich der Selbstgewißheit und Selbstbestimmung über und eröffnet das Feld für eine phänomengerechte Dialektik der Anerkennung. In den Prozessen des Zwischenmenschlichen erreicht diese Methode ihr angemessenes Gebiet. (Sie verfährt zwangsweise antizipierend, wo sie den Menschen auf der Stufe des ,Naturgeistes' entwickelt. Das läßt sich an Hegels .Anthropologie' studieren.) Die Dialektik selbstbewußten Lebens gehört wesensgerecht zum Menschen als einem gesellschaftlichen Wesen; denn das Ich hat den Widerspruch von Einfachheit und Unterschied in sich und lebt aus der Unruhe, diesen Widerspruch aufzuheben. Das Sein des Ich bedeutet einerseits „das ganz Allgemeine, absolut Durchgängige, durch keine Grenze Unterbrochene, das allen Menschen gemeinsame Wesen" (Enz. §430, Zus.; X,281). Selbstbewußtsein ist das gemeine Wesen, das allen Menschen als solchen gemeinsam ist und sich über alles Seiende erstreckt, das Mensch ist. Es hat an keiner Besonderheit, etwa der Rasse, des Geschlechts, des Standes, eine ausschließende Grenze. Dieses eine und identische Ich macht für die Selbstbewußtsein, die sich aufeinander beziehen, ,ein Licht' aus; denn im Lichte des Selbstbewußtseins schaut jeder im anderen sich selbst und die Unterschiedslosigkeit und Gleichheit aller an. Andererseits bedeutet Ich „dennoch zugleich Zweie ..., die, in vollkommener Starrheit und Sprödigkeit gegen einander, jedes als ein In-sich-reflectirtes, von dem Anderen absolut Unterschiedenes und Undurchbrechbares bestehen" (I.e.; X,281). Befangen in der Natürlichkeit, schließen Menschen einander aus. In der Form des natürlichen Lebens, im Naturzustande isolierender Selbstbezüglichkeit und Einzelheit, sperrt sich das Ich gegen den anderen. Und es erscheint diesem als ein undurchdringliches Individuum, das sich als Einzigartiges absolut von jedem anderen unterscheidet. Das Selbstbewußtsein wird durch die Unruhe eben dieses Widerspruchs zwischen Identität und Differenz belebt. Dabei konkretisiert sich der Gegensatz in verschiedenen Hinsichten. Seine folgenreichste Ausgestaltung findet er im Kontrast von Zwangsgewalt und Freiheit. „Die nähere Gestalt des . . . angegebenen Widerspruchs ist die, daß die beiden sich zueinander verhaltenden selbstbewußten Subjecte, — weil sie unmittelbares Daseyn haben, — natürliche, leibliche sind, also in der Weise eines, fremder Gewalt unterworfenen Dinges existieren und als ein solches aneinander kommen, — zugleich aber schlechthin freie sind" (Enz. § 431, Zus. ; X, 281—282). In der Freiheit manifestiert sich die Identität des Ich, sofern eben alles Selbstbewußtsein den Grundzug der Selbstbestimmung hat und darin der Mensch als solcher durchgängig gleich ist. Als absolut Unterschie-

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denes dagegen, in seinem natürlichen, leibgebundenen Dasein, ist der Einzelne wie ein Ding der Natur und der inneren Gewalt der Bedürfnisse und Leidenschaften wie der äußeren Gewalt der Natur und den Zwängen der Mitwelt ausgesetzt. Unter diesem Aspekt lassen sich die sozialen Konflikte und Bewegungen aus ihrer Quelle begreifen. Als identisches Ich erscheint jedermann frei und allen anderen gleich, als unterschiedenes Ich in seiner ausschließenden Selbständigkeit leistet es den anderen Widerstand und gerät mit diesen gewaltsam aneinander, weil die egoistische Reflexion jeden anderen als Ding nimmt. Die Auseinandersetzung der Iche wird eine Sache auf Leben und Tod. Im Kreise des Selbstbewußtseins ist das widerständige Andere primär der Andere, und die Arbeit und der Fortschritt der Vernunft haben sich darauf zu konzentrieren, die Kämpfe, Konflikte, Ungleichheiten zwischen den Subjekten auszugleichen. In der Uberwindung des Außersichseins des einen im anderen Ich und in der Konstruktion des gemeinen Wesens als ,allgemeines Selbstbewußtsein', darin erschöpft sich der wahrhaft geschichtsträchtige Befreiungskampf des Geistes. Solches Fürsichwerden menschlichen Bewußtseins hebt den einfach negativen Zugriff der Begierde auf die Dinge in sich auf. Es erlebt seine Krise in den wechselhaften Beziehungen von Herr und Knecht und sucht die leere, widerspruchsvolle Identität des Ich durch das freie Gemeinwesen des allgemeinen Selbstbewußtseins zu realisieren und zu versöhnen. So hebt sich umrißhaft eine dialektische Stufenfolge des Selbstbewußtseins ab. „Das Selbstbewußtsein hat in seiner Bildung oder Bewegung die drei Stufen: 1) der Begierde, sofern es auf andere Dinge; 2) des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft, sofern es auf ein anderes, ihm ungleiches Selbstbewußtsein gerichtet ist; 3) des allgemeinen Selbstbewußtseins, das sich im anderen Selbstbewußtsein und zwar ihm gleich, so wie sie ihm selbst gleich, erkennt" (Propäd. II, 1. Abt. §24; III, 107). Diese Vorüberlegungen sollten anzeigen, inwiefern die Bewegung des Selbstbewußtseins dem Aufbaugesetz einer Soziodialektik folgt. In der sozialen Konkretisierung des Widerspruchs von Einfachheit und Unterschied findet das Spekulative seine Beglaubigung und Rechtfertigung. „Wir haben hier die gewaltige Diremtion des Geistes in verschiedene Selbste, die an-und-für-sich und für einander vollkommen frei, selbständig, absolut spröde, widerstandleistend — und doch zugleich mit einander identisch, somit nicht selbständig, nicht undurchdringlich, sondern gleichsam zusammengeflossen sind. Dies Verhältnis ist durchaus speculativer Art; und wenn man meint: das Speculative sei etwas Fernes und Un-

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faßbares, so braucht man nur den Inhalt jenes Verhältnisses zu betrachten, um sich von der Grundlosigkeit jener Meinung zu überzeugen" (Enz. §436, Zus.; X, 290). Die spekulative Bildung des Selbstbewußtseins ist der Wendepunkt auf dem Wege zum absoluten Geist. In dieser Perspektive hebt sich Hegels Satz vom Selbstbewußtsein von allen vergleichbaren transzendentalkritischen Fassungen ab. „Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet" (PhdG 140). Mit der Verfassung des Selbstbewußtseins ist schon — wenigstens für uns, das philosophierende Bewußtsein — der Begriff des Geistes vorhanden. In ihr liegt das Konzept einer Bewußtseinseinheit, welche sich nicht aus dem Unterschied und Gegensatz der Welt auf die Punktualität monadischer Selbstgewißheit zurückzieht, sondern ihre Gewißheit durch die Ubereinstimmung mit dem entgegengesetzten Anderen bewährt. Selbstbewußtsein bedeutet die Gleichung des Ich, die sich aus dem Unterschied und Gegensatz zu einem anderen selbständigen Ich und in der Aufhebung dieses Unterschiedes im Wir ergibt, ,Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist'. Der freie, die Unterschiede auflösende Bezug zum anderen Ich, das ist der Vorentwurf der Vernunft und die Wende zur absoluten Gleichung Ich = Ich. Weil Hegels Aufschluß der Mitwelt (Ich = Wir) die kritische Wende auf dem Wege zum Absoluten und zur .zweiten Schöpfung der Welt' bildet, darum fällt dem Selbstbewußtsein die zentrale Vermittlerrolle in einem System zu, das nicht unvermittelt mit dem Absoluten beginnen, sondern es genetisch aus .Erfahrungen' des Bewußtseins aufbauen will. Der entscheidende Abschnitt der spekulativen Dialektik führt vom Selbstbewußtsein im engeren Sinne (dem individuellen Ich in der selbstgewissen Behauptung seiner Einzelheit) bis zum Ich der Vernunftgewißheit, alle Realität zu sein (Ich = Ich). Mit dem Aufbau des ,allgemeinen Selbstbewußtseins' scheint der Mittelbegriff für den notwendigen Zusammenschluß von Sein und Bewußtsein gefunden. Nun formuliert der Satz des Selbstbewußtseins am Anfange der Phänomenologie von Herr und Knecht in der großen Jenaer Fassung eben das Wesen menschlichen Geistes, das die Heidelberger Enzyklopädie als .allgemeines Selbstbewußtsein' definiert. „Das allgemeine Selbstbewußtsein ist das affirmative Wissen seiner selbst im andern Selbst, deren jedes als freie Einzelnheit absolute Selbständigkeit hat, aber . . . die reelle Allgemeinheit als Gegen-

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seitigkeit insofern hat, als es im freien Andern sich anerkannt weiß, und dies weiß, in sofern es das andere anerkennt und dasselbe frei weiß" (Enz. § 436; X, 289). Die Frage, welche die Entfaltung des Hegeischen Systems an ihrem Wendepunkte anspricht, fragt dem Satze des Selbstbewußtseins und dem Zustande allgemeiner und freier Anerkennung nach. Angezeigt war: Dieser Vorsatz ist nicht aus der Vergangenheit des Bewußtseins mit dialektischer Kontinuität hervorgeholt worden. Die große Frage ist: Kann er in der Phänomenentwicklung des Selbstbewußtseins eingeholt werden? Dafür ist die Begriffslogik der Anerkennung zu verlassen und deren Phänomenologie im Kampf- und Arbeitsfeld geschichtlicher Wirklichkeit zu entwickeln. „Dieser reine Begriff des Anerkennens, der Verdopplung des Selbstbewußtseins in seiner Einheit, ist nun zu betrachten, wie sein Prozeß f ü r das Selbstbewußtsein erscheint" (PhdG 143). Thematisch zu verfolgen ist jetzt das Fortschreiten der Anerkennung von ihrer brutalen Negation (im Kampfe auf Leben und Tod) zur einseitigen Anerkennung des Herrn durch den Knecht und zur Anerkennung, die der Knecht durch die Arbeit für sich selbst erwirbt, über die Ausschaltung sozialer Herrschaftskonflikte in Stoizismus und Skeptizismus bis zur Verinnerlichung und theologischen Transformation in den Anerkennungsproblemen des unglücklichen Bewußtseins. Diese Phänomene des Selbstbewußtseins erscheinen für das Selbstbewußtsein selber. Daher kommt es nunmehr methodisch darauf an, das schrittweise Zum-Vorschein-Kommen des Selbstbewußtseins in seiner Wahrheit vom jeweiligen Standpunkte des Selbstbewußtseins aus zu entwickeln. Das geschieht, wenn die Widersprüche erfahren werden, die das Selbstbewußtsein mit denjenigen Vorurteilen und Einseitigkeiten macht, in denen es das Anerkennungsverhältnis zum Anderen formuliert und unbedingt festzuhalten trachtet. Wie aber steht es, wenn die Soziodialektik der .Phänomenologie' die ungleichen Anerkennungsverhältnisse auf der Stufe des Selbstbewußtseins nicht überwindet? Wenn die Aufhebung in das .allgemeine Selbstbewußtsein' nicht gelingt und das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft auf der Stufe menschlicher Intersubjektivität das letzte Wort bleibt? Müßte dann nicht der Ubergang zur (göttlichen) Vernunft mißlingen? Würde sich dann nicht die dialektische Aufhebung ins Absolute an der rissigen Bruchstelle menschlichen Selbstbewußtseins selber aufheben? Und hat sich nicht wirklich die ontotheologische Dialektik des Hegeischen Systems an den unvermittelten Realitäten menschlicher Herrschafts- und Knechtsbezüge aufgelöst?

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J. Kapitel: Die Herkunft von Herrschaft und Knechtschaft — Der Kampf um Anerkennung auf Leben und Tod Man hat seit langem behauptet: Der Anfang im Kampf um Anerkennung und die Heraufkunft von Herrschaft und Knechtschaft innerhalb des Hegeischen Denkens sind maßgeblich durch die Naturstandslehre und den Bürgerkriegshorror von Hobbes geprägt. Hegel selbst referiert in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie den Naturzustand im Sinne von Hobbes als einen ,thierischen Zustand', der aus dem natürlichen Eigensinn des Selbstbewußtseins erwächst und lebt. Es ist die ungeistige Natürlichkeit des Eigenwillens, welche in einer Atmosphäre von allseitigem Mißtrauen und ungehemmter Furcht das Bedenken auslöst, von der Stärke oder List des Anderen lädiert und getötet zu werden, und dazu treibt, den Anderen gnadenlos zu bekämpfen. Jedenfalls wird der Grundsatz ,status hominum naturalis est bellum omnium in omnes' zum bewegenden Moment des erscheinenden Selbstbewußtseins innerhalb der Phänomenologie des Geistes. In ihm findet der Kampf um Anerkennung seine extremste Formulierung. Die Gewaltsamkeit eines Kampfes, der die Verachtung des Lebens zum Element und den Tod des Anderen zur Absicht hat, charakterisiert die erste Gestalt, in welcher sich die Selbstbewußtsein zueinander verhalten: den Einzelnen im Naturzustande, d. h. in seinem abstrakten Fürsichsein unter Absehung von allen Verbindlichkeiten eines status civilis. „Der Kampf um die Anerkennung in der angegebenen bis zum Äußersten getriebenen Form, (kann) bloß im Naturzustande, — wo die Menschen nur als Einzelne sind, — stattfinden" (Enz. §432, Zus.; X,283). Dabei ist freilich nicht zu übersehen : Die Hobbesnähe hat sich von den Jenaer Schriften vom System der Sittlichkeit bis zum Abschluß und Neuansatz der Phänomenologie grundlegend gewandelt90. Zu Beginn der 90

Als Repräsentant der pauschalen These, Hegels Kampf um Anerkennung und dessen Analyse von Herrschaft und Knechtschaft seien maßgeblich von Hobbes beeinflußt, gilt Leo Strauß. Eine differenzierende, vielfach erhellende Untersuchung dieser Zusammenhänge hat erst L. Siep vorgelegt (Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften. In: Hegelstudien 9 (1974). 155 — 207). L. Siep konstatiert dabei ein Defizit an Vermitdungskraft, das der Kampf um Anerkennung in der PhdG gegenüber den früheren Entwürfen erleidet. Er beläßt es dabei, diese Einbuße zu ermitteln. Dagegen sollte gezeigt werden: In der Unterbrechung der dialektischen Zusammenhänge zwischen Familie und sittlicher Welt und im (vergeblichen) Versuch, diese in einer Soziodialektik tiefer zu fundieren, kommt das Problem des Übergangs allererst ins Offene.

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Jenaer Zeit gehört der Kampf um Anerkennung zur Theorie der Sittlichkeit. Der Streit um Besitznahme und Besitzverletzung, der Zweikampf um Ehre und Ansehen entwickeln die Stellung des Individuums zu Recht und Staat. Solcher Anerkennungskampf steht mitten zwischen Familie und Staat und vermittelt das Bewußtsein der Einzelheit mit dem allgemeinen Willen und dem Geist des Volkes. Seit dem Systementwurf von 1803/04 setzt sich dabei Hegels Darstellung immanent mit der Hobbesschen Grundidee auseinander. Sie begreift den Kampf auf Leben und Tod als Konsequenz unbegrenzter Freiheit des Individuums und als notwendiges Moment für die Erhebung des individuellen praktischen Bewußtseins zu Gemeinschaft und Recht. Die Phänomenologie von 1807 ignoriert diese Zusammenhänge und Ubergänge. Sie verzichtet auf eine vorschnelle Aufhebung des vorrechtlichen status naturalis in die Vernunftverhältnisse von Recht und Staat. Bei dieser Siebung bleiben die Elemente der Hobbesschen Naturstandslehre übrig, Kampf, Todesfurcht, Herrschaft und Knechtschaft. Sie werden in die dialektischen Zusammenhänge des sich zu seiner Allgemeinheit durchringenden Selbstbewußtseins aufgenommen und darin verwandelt. Ihre Verwandlung ist in einem Vorblick anzuzeigen. Bei Hobbes ist der Krieg aller gegen alle die Folge hemmungsloser Freiheit. Freiheit wird physikalisch als Abwesenheit von Hindernissen definiert. So kann das bellum omnium contra omnes als anthropologischer Ausdruck für den physikalischen Sachverhalt der .matter in motion' genommen werden. Hegels Phänomenologie faßt den Kampf auf Leben und Tod als Konsequenz des um Anerkennung, also um seinen Wesensbestand ringenden Selbstbewußtseins. So erscheint der Tod als Bewährung und unüberbietbare Manifestation menschlicher Entschlossenheit. „Der absolute Beweis der Freiheit im Kampfe um die Anerkennung ist der Tod" (Enz. § 432, Zus.; X,283). Und es wird sich zeigen: Die Furcht vor dem Tode dient in allen Phasen der Geschichte dialektischen Selbstwerdens — bis hin zur Erfahrung des Terrors der Französischen Revolution — dazu, das Individuum vom verdinglichten Dasein, von den Kümmernissen bloßer Selbsterhaltung frei zu machen und selbstbewußtes Leben — das Sichlosreißen von den Dingen und die Rückwendung auf das selbstbestimmende Ich — in Gang zu setzen. Für Hobbes aber bleibt der Tod einfach das größte Übel, malum maximum malorum naturalium (De cive; II, 139 u. ö.), und für ihn stellt der Mensch, weil er nach dem unaufhebbaren Naturgesetz der Selbsterhaltung wirkt, unter dem Druck der Todesfurcht Freiheit und Ehre hinter das Uberleben zurück. Darum propagiert

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Hobbes einen Unterwerfungsvertrag, durch welchen sich alle ehr- und besitzgierigen possessiven Subjekte der furchtgebietenden Staatsgewalt bedingungslos unterwerfen. So lassen sich zwar die Schrecken des Bürgerkrieges vermeiden und die Ungleichheiten zwischen Herren und Knechten durch Unterwerfung aller tilgen, aber die Furcht des Todes im Kampfe aller gegen alle wird schließlich nur .aufgehoben' in der Furcht vor Strafe und Gewalt des großen Leviathan. Für Hegel kann der Staat zwar durch Gewalt und Unterwerfung entstehen, aber er beruht nicht auf ihnen. Und die Phänomenologie sucht den zerstörenden Kampf schon in der Relation von Herrschaft und Knechtschaft aufzuheben. Sie bildet eben diejenige soziale Konstellation, die das Chaos des Einander-Totschlagens und die Brutalität des Ausrottungskrieges mildert und entkräftet. Auf dieser Stufe ist die Sinnlosigkeit des Kampfes auf Leben und Tod einsichtig geworden. Und hier hat sich der Geist in eine gesellschaftliche Ordnung gefügt, aus Erfahrung um die Notwendigkeiten von Herrschen und Dienen. Weil also das Bewußtsein von Herrschaft und Knechtschaft durch die primitive Auseinandersetzung mit Leben und Tod gezeichnet ist, darum muß diese ihre Vergangenheit wiederholt werden. Für eine Rekonstruktion der Soziodialektik genügt es, den dialektischen Grundriß des Kampfes auf Leben und Tod nachzuzeichnen. Dazu sind drei Fragen zu verfolgen: Welches ist die erste und unmittelbare Gestalt des erscheinenden Selbstbewußtseins, und in welcher These spricht sie ihre Weltanschauung aus? In welchen Widerspruch wird sie überführt? Welche Synthesis löst ihren Widerspruch? Die erste und unmittelbar auftretende Gestalt des Selbstbewußtseins ist der Einzelne. Darin, ein reines Dieses oder ein Einzelnes zu sein, liegt seit den Wahrheitsansprüchen der sinnlichen Gewißheit das Moment der Unmittelbarkeit. Das einzelne, durch das Allgemeine nicht vermittelte Ich nennt Hegel Individuum. Das individuelle Ich also oder Dieser-Einzelne erfüllt den Standpunkt des Selbstbewußtseins in seiner Unmittelbarkeit und seiner absoluten Abstraktion. Selbstverständlich nimmt das Einzel-Ich die Charaktere des Fürsichseins in Anspruch. Es geht auf unzweifelhafte Gewißheit und radikale Freiheit aus. Es pocht nicht mehr bloß auf eine sinnliche, monstrierbare Gewißheit, es demonstriert die Selbstgewißheit der Reflexion. Und der Einzelne sichert seine Freiheit, indem er sich rücksichtslos von allem gegenständlichen Sein losreißt. Sein Wesen ist die ,Bewegung einer absoluten Abstraktion', das Ausschließen alles anderen aus sich. Nun steht das ausschließende Gegenständliche im Ansehen des

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Lebens. Leben in der Form des natürlich-leiblichen Daseins gehört aber auch zur Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins. Mithin muß der Einzelne, will er nicht dem Widerspruch zwischen seinem freien Wesen und seinem fremdbestimmten, leiblichen Dasein erliegen, auch von seinem eigenen Leib-Leben abstrahieren. Das ist der Preis der Freiheit. Sie fordert, gleichgültig gegen das eigene Leben zu sein und die eigene Natürlichkeit nicht bestehen zu lassen; denn hier herrscht das Bewußtsein einer rein negativen Freiheit, die sich einzig in der Abstraktion vom natürlichen Dasein manifestiert. Damit ist das Selbstbewußtsein in seiner unmittelbaren Erscheinung beschrieben, als der Einzelne in der Kraft absolut-abstrakter Vereinzelung. Er spricht seine Wahrheit mit der Rückhaltlosigkeit einer absoluten Wahrheit aus. Die These des Einzelnen lautet: Das Wesentliche und einzig Gewisse bin allein ich, dieser Einzelne, und worauf alles ankommt, ist die Sicherung meiner Freiheit durch Ausschluß alles anderen. Das Unwesentliche, Gleichgültige und Ungewisse ist das bloße, mich verdinglichende Leben, auch und vor allem das unmittelbare Dasein und leibliche Wohl meiner selbst. Diese Thesis impliziert eine gegenseitige Ausschließung des anderen. In der Welt des Selbstbewußtseins ist das ausgeschlossene andere primär das andere Individuum. Der Andere nämlich kommt im Vollzug der absoluten Abstraktion auch nur als Leib- und Lebewesen, als ein in das Sein des Lebens versenktes Bewußtsein, in Betracht. So anvisiert, bleibt der Andere für mich unwesentlich und gleichgültig. Er ist von meiner Seite her gänzlich zu negieren. Diese Satzung gilt nun in gleichem Maße für das andere Subjekt in dessen Einzelheit. Für den anderen Einzelnen bin ich, was er für mich ist, nämlich ein zu verdinglichendes Subjekt, ein ,mit dem Charakter des Negativen bezeichneter Gegenstand', ein zu negierendes Nicht-Ich. Aus dieser Gegenseitigkeit ergibt sich für die unmittelbare Konfrontation der Iche: „Es tritt ein Individuum einem Individuum gegenüber auf. So unmittelbar auftretend, sind sie für einander in der Weise gemeiner Gegenstände" (PhdG 143). Damit erst ist die absolute Abstraktion und Selbstbezüglichkeit des Einzelnen voll entfaltet. Der Einzelne löst sich nicht bloß von den Bindungen an Leib und Leben, sondern vor allem auch von den Bindungen der Gesellschaft. Dem Selbstbewußtsein des Einzelnen fallen keinerlei Pflichten und Rechte des Menschen gegen Andere ein, es schneidet egozentrisch alle sozialen Bezüge ab. Im Naturzustande also findet sich das Selbstbewußtsein anfänglich nicht durch Sozialität definiert

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und die Subjektivität durch Intersubjektivität konstituiert. Freilich wird am Ende im Lichte der Vernunft herauskommen, daß die Wahrheit des Selbstbewußtseins in der Bestimmung des Einzelnen als ζωον πολιτικσν liegt und das Wesen des Individuum nur im Gemeinwesen Bestand hat. Aber seine erste Erscheinung ist logischerweise das Gegenteil davon, der von allen Bindungen an andere Menschen abstrahierende und alles als sein Eigentum an sich ziehende Einzelne. Diese Erscheinung neuzeitlichen Selbstbewußtseins ist seit Hobbes' Lehre vom possessive subject' bis zur letzten Verabsolutierung des privaten Egoismus bei Max Stirner in der Kategorie des je einzigen, vereinzelten Ich als dem Eigner von Eigentum (der nur dadurch konkret wird, daß ihm alles andere, was nicht er selbst ist, zu eigen werden kann) als Figur von weltgeschichtlicher Bedeutung erkannt worden. Diese kommt in der Phänomenologie' als erster Repräsentant des Selbstbewußtseins zur Sprache. Die Thesis des abstrakt Einzelnen wird im Dialog mit dem philosophierenden Bewußtsein durchgesprochen. Der Philosoph ist der Fragende, der Grundstellungen in Frage stellt, indem er deren Bewährung und Darstellung fordert. Das philosophierende Bewußtsein (also wir, sofern wir Rechenschaft über absolute Behauptungen verlangen) fragt: Wie bewährt sich diese Wahrheit? Und wir verlangen vom Egoisten, da er ja im Grundsatz der Nichtanerkennung ein Prinzip des Handelns formuliert, einen Beweis durch die Tat und nicht bloß theoretische Versicherungen. In welchem Tun also stellt sich das Selbstbewußtsein des radikal Einzelnen dar? Die Antwort, die das Selbstbewußtsein gibt, und der Beweis, den es antritt, sind so radikal wie die These. Der Einzelne bewährt die Wahrheit seiner Unabhängigkeit im Kampfe auf Leben und Tod. Der extreme Individualist muß für seine Uberzeugung zweierlei leisten. Er muß sein eigenes Leben dransetzen und auf den Tod des Anderen gehen. Sonst bleibt seine These blutleer und die Behauptung seiner Selbstbestimmung ein Gerede. Es gibt nur einen Beweis für die Nichtachtung des bloßen Lebens und aller umweltlichen Bindungen, das Bestehen des Todes im Kampfe um Freiheit. „Nur durch Kampf kann also die Freiheit erworben werden; die Versicherung, frei zu seyn, genügt dazu nicht; nur dadurch, daß der Mensch sich selber, wie Andere, in die Gefahr des Todes bringt, beweist er auf diesem Standpunkt seine Fähigkeit zur Freiheit" (Enz. §431, Zus.; X,282). Der Einzelne muß, um seine Position zu erfüllen, rücksichtslos sein eigenes Leben dransetzen. Er behauptet doch, nicht ins gegenständliche Leben versenkt, nicht an den Reichtum materiellen Wohlseins zerstreut,

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nicht in leiblicher Natürlichkeit befangen zu sein. Er gibt vor, das bloße Leben als die fremde Gewalt zu verachten, die ihn zwar umstellt, aber seine freie Selbständigkeit nicht berührt. Um solche Lebensverachtung zu beweisen, muß er bereit sein, bis zur einfachen Negation des Lebens überhaupt zu gehen. Eine andere Bewährung gibt es nicht. „Es ist allein das Daransetzen des Lebens . . ., wodurch bewährt wird, daß dem Selbstbewußtsein nicht das Sein . . ., nicht das Versenktsein in die Ausbreitung des Lebens das Wesen, sondern . . . daß es nur reines Fürsichsein ist" (PhdG 144). Nur so stellt sich das Selbstbewußtsein überzeugend für Andere als frei dar, und nur in tatsächlicher Verachtung des natürlichen Daseins erzwingt es die Anerkennung des Anderen. „Um sich als freies geltend zu machen und anerkannt zu werden, muß das Selbstbewußtsein sich für ein anderes als frei vom natürlichen Dasein darstellen" (Propäd. II, 1. Abt. Β § 32; III, 109). „Ebenso muß jedes auf den Tod des andern gehen, wie es sein Leben daransetzt" (PhdG 144). Das bedeutet am Rande: Das Selbstbewußtsein des Einzelnen setzt nicht nur sein eigenes, sondern ebenso fremdes Leben aufs Spiel, weil es für die Erringung der Freiheit konsequenterweise auch das ,unwesentliche' Leben Anderer zu opfern bereit ist. Zentral aber dreht sich die Rede vom Kampf auf Leben und Tod nicht um das Mit-Dransetzen fremden Lebens, sondern um einen tödlichen Kampf der Einzelnen mit- und gegeneinander. Der Kampf auf Leben und Tod ist ein elementarer Zweikampf der Subjekte um ihre freie Existenz. Er darf daher nicht etwa mit dem Zweikampf von Duellanten innerhalb der zum Feudalsystem entwickelten Gesellschaft verwechselt werden. Dort dient er lediglich zum ,Beweis' von Ehre und ,Fleckenlosigkeit' für eine rohe und geltungssüchtige Gesinnung, welche die äußerliche Ehre zu ihrem Götzen macht. Der Zweikampf im Naturzustande ist ein Ringen um die Anerkennung als freies Subjekt überhaupt. Und nur von der spekulativen Wahrheit des Anerkennungsprozesses her leuchtet ein, warum der Einzelne im Naturzustand unausweichlich auf den Tod des Anderen geht. Jeder Einzelne ist seiner selbst gewiß, ohne des Anderen gewiß zu sein. Dieses Faktum bedeutet, spekulativ gesehen : „Seine eigne Gewißheit von sich (hat) noch keine Wahrheit" (PhdG 143). Die volle Wahrheit des Selbstbewußtseins liegt eben in der Wechsel-Gewißheit, in der ich mich im Anderen als einem, der mich anerkennt, wiederfinde. Diese Wahrheit der Selbstgewißheit muß erkämpft werden; „denn Ich kann mich im Andern nicht als mich selbst wissen, insofern der Andere ein unmittelbares anderes Daseyn für mich ist; ich bin daher auf die Aufhebung dieser seiner Unmit-

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telbarkeit gerichtet" (Enz. § 431 ; Χ, 281). Die Aufhebung der Unmittelbarkeit des Fremden geschieht als Negation des für nichtig gehaltenen Lebens im einfachen Totschlagen. Und so scheint das Hindernis auf dem Wege zu gegenseitiger Anerkennung beseitigt, eben die gegenseitige Nichtanerkennung, durch die der eine den anderen zum gemeinen Gegenstande herabwürdigt. Wenn der Einzelne das natürliche Dasein des Anderen liquidiert und das leibhafte Leben totschlägt, beweist er in der Tat, daß er im Anderen nicht außer sich ist. Das scheint eine Endlösung. Eliminiere ich das Leben des Anderen, dann kann ich nicht mehr im Anderen auf eine fremde Natürlichkeit stoßen. Und ich entkomme der Riesengefahr, daß der Andere seinerseits mich wie eine Sache behandelt, mich objektiviert und letztlich beseitigt. Auf dem Wege des Ausrottungskampfes (bellum internecinum) scheint das Bewußtsein des abstrakten Einzelnen zur Gewißheit seiner Wahrheit zu kommen; denn was seine Freiheit hindert und seine Selbstgewißheit beirrt, das Versenktsein ins unmittelbare Dasein, die Zerstreuung in das andrängende Leben, ist überwunden, und zwar eben durch das Dransetzen eigener Existenz und durch das Dringen auf den Tod des Anderen. Aber solche Bewährung löst die Wahrheit, die sie beweisen soll, gerade auf. Das Wahre ist doch, was es außerdem noch sei, das Sich-Durchhaltende und Währende. Ein rein abstraktes Selbstbewußtsein, das sich in den Kampf auf Leben und Tod stürzt, währt nicht lange. Im allgemeinen EinanderTotschlagen kommt der Einzelne um, und zwar gänzlich, nicht nur mit seinem leiblichen Leben, sondern auch mit seiner Freiheit. Im Sog des Todes als der natürlichen Negation des Bewußtseins insgesamt geht auch der Sieger leer aus. Selbst derjenige, der im Kampfe übrigbleibt, existiert nicht in der Freiheit der Anerkennung; denn durch die rohe Negation der Unmittelbarkeit des Anderen verliert auch dessen geistige Position ihre Realität. Und „so existiert der Übriggebliebene ebensowenig wie der Todte, als ein Anerkannter" (Enz. § 432, Zus.; X,283). Die Jenaer Realphilosophie* artikuliert diese Verkehrung des Scheins so: „Ihm als Bewußtsein erscheint dies, daß es auf den Tod eines anderen geht; es geht aber auf seinen eigenen; (es ist) Selbstmord, indem es sich der Gefahr aussetzt" (JR, 211). Dieser Zusammenhang von Todesgefahr und Selbstmord drückt nicht die triviale Warnung aus, daß derjenige, der die Lebensgefahr sucht, darin schließlich umkommt, er will spekulativ gelesen werden. Wer auf den Tod des Anderen zielt, trifft sein eigenes Selbst, sofern das Selbstbewußtsein seine eigene Freiheit darin bewährt, daß es sie im Anderen verwirklicht und anschaut.

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Das anfängliche Ansinnen des Selbstbewußtseins in der Gestalt des Einzelnen hat sich ins Gegenteil verkehrt. Seine Ansicht war, nichts als sich selbst anzuerkennen und alles zu negieren, was sein Selbstsein und seine Freiheit gefährdet. Zur Gefahr zählt vor allem, daß der Einzelne sich im Anderen als dem ,gemeinen Gegenstande' nicht wiederfindet und daß er seinerseits vom Anderen nur in seinem .unmittelbaren Dasein', also als unfreies Ding abgeschätzt wird. Das Mittel, diese Gefahren der Verdinglichung zu beseitigen, ist ihm der Tod oder die natürliche Negation. Aber das Heilmittel der Negation war zu primitiv angewendet. Die Gewalt des Totschlags schneidet jeden Bezug zwischen Menschen endgültig ab und vernichtet gerade das, was es aufheben, also doch bewahren und erhöhen wollte, nämlich ein menschlicheres Leben in Freiheit. Die Freiheit des Einzelnen als radikale Abstraktion vom natürlichen Dasein ist in Wahrheit eine Freiheit, die selbst kein Dasein hat. Der Kampf auf Leben und Tod in seiner brutalsten Konsequenz bedeutet die Ausrottung, Liquidation dessen, der mich verdinglicht. Aber dieser Kampf bleibt auch darin kraftlose Negation. Er hat nicht die Langmut, das Negierte aufzubewahren, menschlicher zu machen. Dazu gehört schlichtweg das Uberleben. Das Selbstbewußtsein des Einzelnen hat den Widersinn seiner Weltanschauung erfahren, eben dadurch, daß er sie im Kampfe auf Leben und Tod in praxi zu beweisen suchte. „In dieser Erfahrung wird es dem Selbstbewußtsein, daß ihm das Leben so wesentlich als das reine Selbstbewußtsein ist" (PhdG 145). Nunmehr stellt sich der Thesis eine Antithesis gegenüber, und jetzt läßt sich das Gefüge dieses ersten Dialogabschnittes überschauen. Die Thesis lautete: Das Wesentliche und Wahre ist die Freiheit meiner selbst als dieses Einzelnen hier. Im Kampfe auf Leben und Tod hat sich eine Antithese herausgebildet: Das Wesentliche ist das Leben und Uberleben des Selbstbewußtseins. Seine schlechthinnige Unabhängigkeit ist erst das zweite und nicht so schrecklich wichtig. Es setzt das Leben voraus. Beide Grundsätze widersprechen einander. Ihr Widerspruch ist aufgelöst, wenn beide nicht als einander ausschließende Prinzipien, sondern als Momente eines höheren Verhältnisses aufgefaßt werden. Die erste Synthesis auf dem Boden des Selbstbewußtseins ist ein gesellschaftlicher Bezug. Dieser spielt zwischen Herren und Knechten. In ihrer Verbindung vereint sich der Wille zum Uberleben um jeden Preis mit der unbedingten Begierde nach negativer Freiheit. Beides erscheint auf zwei Gestalten des Selbstbewußtseins verteilt, auf den Knecht, dem das Sein und Uberleben das Wesentliche ist, und den Herrn, dem das egozentrische Fürsichsein das Wesen ist. In deren Verhältnis zueinander ist die sinnlose

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Gewalt des Kampfes auf Leben und Tod aufgehoben. Beide suchen einander nicht mehr totzuschlagen, sie lassen einander sein, indem der eine sich dem anderen unterwirft und der andere sich den einen unterjocht. So hat sich das bellum internecinum gleichsam zum bellum subiugatorium gemildert. Offenbar aber kann der Kampf um gleiche Anerkennung mit diesem Vergleich nicht enden. Die Momente der Synthesis, so unerläßlich beide für die Verwirklichung von Freiheit sind, bleiben ungleich. „Das eine Moment ist so nothwendig, als das andere, aber sie sind nicht von demselben Werthe" (Propäd. II, 1. Abt. § 3; III, 109). Weil die Freiheit gegenüber dem Leben im Hinblick auf die Selbständigkeit des Menschen den höheren Wert behält, rückt der eine, der auf die Freiheit setzt, gegenüber dem anderen, der das Leben vorzieht, in einen höheren Stand, nämlich den des Herrn. „Indem die Ungleichheit eintritt, daß dem einen von zweien Selbstbewußtsein die Freiheit gegen das sinnliche Dasein, dem andern aber dieses gegen die Freiheit als das Wesentliche gilt, so tritt mit dem gegenseitigen Anerkanntwerdensollen in der bestimmten Wirklichkeit das Verhältniß von Herrschaft und Knechtschaft zwischen ihnen ein" (Propäd. 1. c.; ibid.). Dieses Verhältnis von Herr und Knecht gewinnt das Ausmaß einer absoluten Wahrheit und das Ansehen eines ersten Prinzips. Sein Grundsatz besagt: Die Angel, um die sich die geschichtliche Welt des Menschen dreht, ist das Verhältnis zwischen Herren und Knechten. Ohne diesen Bezug gibt es keine Gesellschaft, ohne Herren und Diener kann die Welt nicht bestehen. Sie würde in das Chaos von Mord und Totschlag zurückfallen.

4. Kapitel: Die Thesis des Herrn und die von Macht und Genuß

Verkehrtheit

Die erste Figur, welche für das Weltprinzip von Herrschaft und Knechtschaft eintritt, ist der Herr. Seine These lautet: Das Unmittelbare und Bestimmende in diesem Urverhältnis ist das Herrentum, d. h. das Selbstbewußtsein, dem seine eigene Freiheit im Ausmaße eigensinniger Unabhängigkeit und das Anerkanntsein durch die anderen im Sinne von Prestige, Ruhm, Ehre als das allein Wesentliche gilt. Das Unwesentliche ist das materielle, sinnliche Dasein. Diese Position des Herrn hängt nicht an der Geburt. Niemand wird zum Herrn geboren, wie niemand zum Knechte geboren wird. Vormals in der antiken Welt schieden sich Herren und Knechte durch Geburt. Darum

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gewannen Herkunft und Geschlecht (γένος) schicksalsmäßiges Gewicht. Sie bestimmten, ob jemand zum Stande der Freien oder zu den Sklaven gehörte. Die moderne Welt dagegen setzt Freiheit und Unfreiheit in das Entscheidungsvermögen des Willens und der praktischen Vernunft. Der Mensch ist als allgemeines Ich allgemein zur Freiheit befähigt. Herr und Knecht zählen nicht mehr zu den natürlichen Gemeinschaften91. Hegel hat die Natürlichkeit der Freiheit, d. h. das Herrsein durch Geburt, als eine geschichtlich vergangene Befangenheit der antiken Völker dargestellt. „Bei ihnen wurde vielmehr der Mensch nur dann für frei gehalten, wenn er als ein freier geboren war" (Enz. § 433; X, 286). Diesen Wandel zur allgemeinen Freiheit begründet er vom neuzeitlichen Prinzip der Ichheit her. „Der Mensch als solcher - als dieses allgemeine Ich, als vernünftiges Selbstbewußtsein, — ist zur Freiheit berechtigt" (ibid.). Und diese Einsicht beleuchtet auch den Wahn des Rassismus, aus den natürlichen Unterschieden der Menschenrassen einen Unterschied in Herren- und Untermenschen herzuleiten und aus rassischer Abstammung eine geistige Inferiorität zu beweisen, die es erlaubt, „daß einige wie Thiere beherrscht werden dürften. Aus der Abstammung kann aber kein Grund für die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Menschen zur Freiheit und zur Herrschaft geschöpft werden. Der Mensch ist an sich vernünftig; darin liegt die Möglichkeit der Gleichheit des Rechtes aller Menschen" (Enz. § 393, Zus.; X , 71).

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Noch Leibniz rechnet in seinem erst 1849 veröffentlichten Entwurf von 1678 „die natürlichen Gesellschaften" Herr und Knecht — nach Mann und Weib, Eltern und Kindern — zur dritten natürlichen Gemeinschaft der .Haushaltung'. Ein Knecht von Natur hat Arbeitskraft ohne Verstand. Weil alle Kräfte des leitenden Verstandes wegen sind, ist der Knecht alles, was er ist, seines Herrn wegen. In seiner ganzen Schärfe reduziert sich das Verhältnis von Herr und Knecht auf das zwischen Mensch und Vieh. So aber ist es weder zu finden noch zu dulden; denn jeder Mensch ist mit einer unsterblichen Seele begabt, also potentiell verständig und selbst bei zeitweise totaler Stumpfheit doch vom Vieh unterschieden. „ O b auch gleich solche Knechtschaft der Schärfe nach unter Menschen nicht zu dulden, so ist doch etwas so ihr ähnlich und nahekommt, zu Zeiten der Natur gemäß" (Opuscules métaphysiques. Hrsg. von H. H . Holz. Darmstadt 1965. S. 403). Diese christlich-aufgeklärte Haushaltslehre ist ebenso weit von der aristotelischen Ö k o nomie wie von Hegels Phänomenologie entfernt. Eine geistesgeschichtliche Konfrontation unter dem Hinblick der Genesis der bürgerlichen Gesellschaft hat H . H. Holz (Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel. Zur Interpretation der Klassengesellschaft. Neuwied/Berlin 1968) unternommen. Darin ist Leibniz über- und Hegel unterpretiert (vgl. die Rez. von J . Heinrichs. I n : Hegel-Studien VII (1972) 371 ff.). Das Leibnizsche Lösungswort auch für gesellschaftliche Mißverhältnisse ist die unendliche Harmonie im Sinne einer schönen Proportion von Verstand und Macht. (Vgl. „Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät"; Akad. Ausg. IV, 1, S. 530—538 u. ö.).

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Daß der in seiner Möglichkeit gleichberechtigte Mensch in Wirklichkeit zum Herrn oder Knecht werden und sich vom Knecht zum Herrn umschaffen kann, das liegt am Ausfall der Selbstbeherrschung. Mithin legitimiert sich die Stellung des Herrn nicht (wie bei Plato) durch höhere Einsicht und leitendes Wissen und nicht (wie bei Aristoteles) durch die zum Herrschen taugliche Physis, erst recht nicht durch einen ererbten sozialen Rang und auch nicht (wie bei Marx) durch den Privatbesitz an Produktionsmitteln. Sie erhält ihre relative Rechtfertigung durch eine Überlegenheit an Freiheit und Selbstbeherrschung. Von sich aus erhebt sich das Bewußtsein des Herrn über das natürliche, in die Welt eingebundene Leben um eines Idealen willen, nämlich der Vorstellung, von anderen anerkannt und geehrt zu sein. Solche Selbstüberlegenheit, die das eigene Leben und Wohlergehen so geringschätzt, daß sie es drangibt, kann nicht aus dem Leben und der vitalen Begierde nach Selbsterhaltung kommen. Sie ist ein freier, durch keine Lebensumstände determinierter, jederzeit möglicher Selbstanfang geistiger Existenz. Die Gesinnung des Herrn kommt in der Furcht des Todes zutage. Der Herr erklärt: Ich will lieber überhaupt nicht leben als verachteter Diener eines anderen und ruhmloser Sklave der Dinge zu sein. Und er ist bereit, sein Leben daranzusetzen. Dieser Heroismus des modernen Selbstbewußtseins steht in lehrreichem, hier nicht weiter zu verfolgendem Kontrast zum Heroen der Antike, Achill. Ihn läßt Homer bekanndich genau das Umgekehrte sagen: Ich wollte lieber Tagelöhner sein eines armen Kätners als Herrscher im ganzen Reiche der Schatten (Odyss. X I , V. 488—91). Aus der Überlegenheit über die Furcht vor dem Tode rechtfertigt sich die Deklaration des Herrn, er allein sei unabhängig und frei, der Knecht dagegen sei der Abhängige, weil jener an Leib und Leben hängt. Die Thesis des Herrn wird in einem Zwiegespräch mit dem philosophierenden Bewußtsein durchgesprochen. Dieses behält unaufdringlich die Gesprächsführung in einem sokratischen Fragen, das darauf abzielt, daß die Widersprüchlichkeit und Haltlosigkeit der These auch für ihren Vertreter einsichtig und zwingend wird. Das philosophische Wissen widerlegt also nicht sogleich aus seiner Einsicht in die wahren Ursachen und Gründe, es leitet einen indirekten Beweis ein, indem es die .Wahrheiten' des Scheinwissens annimmt und befragt: Wie bewährt und vollbringt sich diese Wahrheit? Sachnäher, in genauer Rücksicht auf das zweifache Verhältnis der Herrschaft gefragt: Wie bezieht sich der Herr in Wirklichkeit auf den Knecht? Wie bezieht sich der Herr auf die Dinge?

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Der Bescheid über den Bezug zum Knecht lautet: „Der Herr bezieht

sich auf den Knecht mittelbar durch das selbständige Sein" (PhdG 146). Der unmittelbare Bezug zwischen zwei Selbstbewußtsein war der gewalttätige Kampf um ausschließliche Anerkennung, dessen Widersinn an der natürlichen Negation des Bewußtseins, der Vernichtung des Todes, offenkundig wurde und eben zur Unterwerfung des einen unter die Botmäßigkeit des anderen führte. Dadurch ist die brutale Gewalt, welche zerstört, um sich selbst zu bestätigen, zwar gehemmt, aber nicht gänzlich beseitigt. Sie erhält sich im Modus von Macht und unterjochendem Zwang. Die Abschwächung geschieht dadurch, daß der Herr sich nicht mehr unmittelbar auf den anderen richtet, sondern vermittels der Dinge, mit denen ja das Knechtsbewußtsein unmittelbar synthetisiert ist. Die Art der neuen Relation läßt sich über den Mittelbegriff des ,Seins' erschließen. Dabei kann als Prämisse vorausgesetzt werden: Das Sein (oder die selbständigen Dinge) ist die Macht über den anderen; denn für den Knecht, der in sich haltlos um Leib und Leben bangt, bedeuten die Dinge alles, nämlich Lebens-Mittel und Garantie für seinen Bestand. Der Herr dagegen ist die Macht über das Sein. Weil ihm das selbst- und ehrlose Vegetieren nichts gilt, verlieren für ihn die Dinge ihre Selbständigkeit. Er findet in ihnen nicht seine lebenserfüllende Substanz. Daraus ergibt sich schlüssig die Machtstellung und Uberordnung des Herrn. „Indem er die Macht darüber, dies Sein aber die Macht über den Andern ist, so hat er in diesem Schlüsse diesen Andern unter sich" (PhdG 146). Der Herr bezieht sich auf den Knecht im Modus der Macht. Und die Macht realisiert sich als ein Zwang, der den Knecht zwingt, sich für den Herrn an den Dingen abzuarbeiten. Daher lautet der Bescheid über die Relation von Herr und Ding:

„Ebenso bezieht sich der Herr mittelbar durch den Knecht auf das Ding" (PhdG 146). Auch der Bezug zum Sein ist nicht mehr unmittelbar. Die Unmittelbarkeit des gedoppelten Selbstbewußtseins war der Kampf auf Leben und Tod; seine Gewalt wird durch die Mittelstellung der Dinge im Ausüben von Zwängen der Macht aufgehoben. Entsprechend ließe sich zeigen: Der unmittelbare Bezug des Selbstbewußtseins zum Sein ist die Begierde. Sie wird zum Genießen des Herrn höhergehoben und kultiviert, und zwar durch die Mittelstellung des Knechtes. Dabei hatte die Analyse der Begierde als Anfangsphase des Selbstbewußtseins gezeigt: Die Begierde will sich durch Negation des Gegenstandes, dessen selbständiges Leben sie zerstört und verzehrt, befriedigen und dadurch als das Telos des Lebens bestätigen. Aber die Begierde kann ihre Wahrheit nicht bewähren, ohne

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sie zu entwähren; denn die Dinge, in denen sich die Begierde dauerhaft bestätigen will, geben sich nicht selber preis und haben kein Bleiben. Eine erste, freilich auf die Dauer gleichfalls haltlose Synthesis bildet der mittelbare Bezug des Herrn zum Ding. Der Herr nämlich schiebt den Knecht wie eine Art Werkzeug zwischen sich und die Dinge. Der Knecht läßt sich durch die Macht des Herrn zwingen, die Lebens-Mittel zu Genuß-Mitteln für den anderen zu bearbeiten. So bekommt der Herr im Genießen die Widerständigkeit der Dinge nicht mehr zu spüren. Unmittelbar gehen die Lebewesen (auch Pflanzen und Tiere) in ihrem natürlichen Wachsen und Gedeihen von sich her in ihrem eigenen Zweck auf. Darum sind sie für den Zugriff des Menschen, für den Verzehr der Begierde, nicht bereit, und daher hat die Begierde das mühsam Erjagende und rasch Verschlingende an sich. Der Herr dagegen gelangt dank der vermittelnden Dienstleistung des Knechtes zu einem mühelosen Genuß der Dinge. Er selbst kann die Begierde zum Genuß verfeinern. Der Knecht dagegen ist in diesem Bezug nichts als das Mittel für die Herrschaft des Herrn über das Sein. Damit ist die Doppelfrage nach den tatsächlichen Verhältnissen des Herrn zu den Dingen und zu den anderen .Subjekten* beantwortet. Erschlossen wurde, wie der Herr sein Herrentum vollbringt. Der Herr beweist seine totalitäre Unabhängigkeit in der Ausübung seiner Uberlegenhéit als Zwang über andere und in der Kultivierung des Lebens im Genuß. Ein wirklicher Herr hat eine bezwingende Macht über andere und genießt die Dinge des Lebens. Darin glaubt er seine Selbständigkeit verwirklicht zu haben. Diese Wahrheit der Herrenkaste kann sich nicht halten. Indem der Herr seine Unabhängigkeit vollbringt, riskiert er sie. Im Genuß der Arbeit anderer und in der Macht über andere hängt er von diesen ab. Ohne die Arbeit des Knechtes fällt der Genuß des Herrn weg. Und auch die Macht der Oberen hat ihre Wirklichkeit allein in der Ohnmacht der Unteren; ohne diese ist sie nicht da, sofern eben alles Tun des Tätigen seine Anwesenheit im Leiden der Leidenden hat. Die Herrlichkeit des Herrn basiert auf der Unterwerfung der Knechte. Herrschaft im Stile unterwerfender Macht ist aber das Bedürftige an ihm selbst. Sie unterwirft die anderen, weil ihre Fülle an der Erfüllung durch andere hängt. Sie bedarf, um zu sein und sich ihrer bewußt zu sein, der Wirklichkeit des Anerkanntwerdens. Darin besteht die Dürftigkeit der Macht, im Herrwerden über andere, auf deren Unterwürfigkeit sie angewiesen ist. Uberhaupt aber pervertiert die behauptete Selbstmächtigkeit des Herrn im Genuß des Lebens

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und der Macht; denn das Genießen ist ein unfruchtbares Verhalten. Es läßt den Herrn, der getrennt von der Bildung und Kreativität der Arbeit lebt, bei aller Verfeinerung seiner Genußkultur verblöden. Und das Genießen korrumpiert die anfängliche Tatkraft des Herrn. Genießen ist eben ein passives Empfangen und bleibt auf dasjenige angewiesen, was den Genuß verschafft, die Tätigkeit des Knechtes. Also erscheint der Herr dadurch, daß er seine Herrschaft ungezügelt ausübt, in Wirklichkeit als der Knecht des Knechtes. Grundsätzlich gesehen, kippt der Anerkennungswille des Herrn um, weil das vorherrschende Anerkennungsverhältnis unstabil ist. Von Seiten des Herrn gesehen, liegt seine Einseitigkeit darin, daß — um in der berühmten, von Marx variierten Formel zu sprechen — der Herr das, was er gegen den Knecht tut, nicht auch gegen sich selber tut. Er hebt das abstrakte Fürsichsein des Knechtes auf, indem er dessen Besonderheit und Eigenwillen vernichtet; seinen eigenen Eigenwillen aber läßt er bestehen und steigert ihn zum Absoluten. Es sollte klar sein, daß durch diese Methode der Widerspruch, welcher die Soziodialektik bewegt, nur relativ und teilweise aufgehoben ist, nämlich der Gegensatz zwischen der „in sich reflectirten Besonderheit und der gegenseitigen Identität der unterschiedenen selbstbewußten Subjecte" (Enz. § 433, Zus.; X,286). Der Herr zerstört die Individualität des Knechtes und erniedrigt dessen Selbstbewußtsein zu devoter Selbstverleugnung, indem er zugleich seinen eigenen Eigenwillen zur beherrschenden Macht steigert. So aber findet der Herr am Ende das Gegenteil von dem, was er zu Anfang suchte. Was der Herr am Anfang in seinem Streben nach Prestige, Ehre, Ruhm will, ist im Grunde, sich von anderen als ein ausgezeichneter und geglückter Mensch rühmen zu lassen. In der Tat aber kommt heraus: Der Herr wird nicht von einem Menschen, sondern von einem Knecht anerkannt. Der Knecht aber ist dem Herrn wie eine gemeine Sache und ein bloßes Werkzeug, ihm kommt ein offener, menschlich ,ebenbürtiger* Bezug nicht zu. Immerhin läßt der Herr den Knecht am Leben. Er sorgt sogar für dessen Lebensunterhalt, und so scheint eine Gemeinsamkeit in der gemeinsamen Sorge und Vorsorge um die Befriedigung der Bedürfnisse und ein Zusammenschluß des selbständigen und unselbständigen Selbstbewußtseins aus Anlaß der Arbeit an den Dingen hergestellt. Aber der Herr erhält das Leben des Knechtes allein darum, weil dessen Arbeitskraft Mittel seiner Herrschaft ist (vgl. Enz. § 434—35). Den Eigenwillen des Knechtes nimmt der Herr nicht in sein Selbstbewußtsein auf. Ein knechtischer Sinn aber, der Mittel zum Zweck und in dieser Ordnung zu denken gewohnt

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ist, ehrt und achtet den Herrn nicht, er schmeichelt ihm höchstens, um den Despoten bei Laune zu halten. Darin nützt der Knecht seinerseits die Anerkennung in ihrer verkommenen Form als Schmeichelei und Verherrlichung als Mittel für seine Zwecke der Lebenssicherung aus. Mithin kann der Herr nicht das finden, was er sucht, nämlich vom Menschen als geglückter Mensch geehrt zu werden. Er hat seine Position auf der Anerkennung durch Unfreie aufgebaut. Ein unfreies Anerkennen aber besitzt keine Wahrhaftigkeit. Die Selbsttäuschung des Herrn steckt in der Meinung, er könne im knechtischen Bewußtsein seine Freiheit vorbehaltlos anerkannt finden und so im anderen bei sich selber sein. In Wahrheit aber wird der Herr, der sein Selbstbewußtsein aus der Anerkennung von Knechten nährt, sich selbst als Mensch fremd. Das unfreie, schmeichlerisch verherrlichende Anerkennen des Knechtes verdirbt das Selbstbewußtsein des Herrn. Dasselbe, spekulativ ausgedrückt: Alles Selbstbewußtsein ist Selbstgewißheit, die auf Wahrheit (Übereinstimmung mit dem Objekt) drängt. Darum sucht der Herr im anderen wie in einem Spiegel seines eigenen, selbstgewissen Wissens ansichtig zu werden. Aber in diesem Spiegel spekulativer Bewahrheitung erkennt der Herr nicht sich selbst in seiner Selbständigkeit wieder. Er erblickt den Knecht, und er erfährt seine eigene Abhängigkeit von diesem. „Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische Bewußtsein" (PhdG 147).

5. Kapitel: Die Antithesis des Knechtes und ihre Verkehrung in Todesfurcht, Zucht und Arbeit Der Herr erleidet den Widerspruch. Er erfährt die Negation seiner Position — die Paralysierung der Macht, die Enervierung des Genusses, die Zerstörung des Anerkennungsbezuges —, und er sieht sich gezwungen, die reductio ad absurdum, in der seine Selbstbehauptung verfällt, zuzugeben. Im Erleiden dieses Widerspruchs ist der Herr erfahrener geworden. Aber er hat den Umsturz, der ihn trifft, nicht begriffen. Daß die Wahrheit des Selbstbewußtseins aus der Wechselbeziehung freier Anerkennung stammt und daß die Gewißheit des Herrn an der Unwahrheit eines pseudomenschlichen Anerkennungsverhältnisses scheitert, das weiß nicht der Herr, sondern allein das philosophische Bewußtsein im Hintergrund. Der Prozeß des Anerkennens vollzieht sich auf dem Rücken des Herrn, nicht vor seinen Augen. Darum zieht sich die weltgeschichtliche

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Gestalt des Herrn geschlagen (von Blindheit) aus dem Dialog über die Idee von Herrschaft und Knechtschaft zurück. An seine Stelle tritt der bisher schweigende Dialogpartner, der Knecht. Er greift ein, nicht um das absurd gewordene Verhältnis des Herrn zum Knecht abzuschaffen, sondern um ihm von der Position des Knechtes aus einen Sinn zurückzugeben. Das muß beachtet werden, soll die Rolle des Knechtes (des Sklaven, proles, Arbeiters) innerhalb der Dialektik des Selbstbewußtseins richtig eingeschätzt werden. Der Knecht versteht sich am Anfang nicht als Revolutionär, sondern als Diener seines Herrn. Er sucht das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft als Prinzip der sozialen Welt zu retten. Das geschieht, indem er der Thesis des Herrn eine Antithesis im Namen derselben Wahrheit entgegenstellt. Sie lautet: Das Unmittelbare und Bestimmende in dieser Grundrelation ist der Knecht; das lautere Knechtsein besteht in einem Selbstbewußtsein, dem das Fürandere-Sein das wesentlichste und höchste Gut ist. Der Diener nämlich ist selbstlos in dem Sinne, daß er zu seinem Selbst ein anderes Selbst, den Herrn, hat. Danach beruht aller soziale Bezug im Grunde auf der Tugend des ergebenen Dienstes für den anderen und in der selbstlosen Anerkennung eines Höheren. Auch dieser Satz des Knechtes wird im Zwiegespräch mit dem philosophischen Bewußtsein durchgesprochen und erprobt. Und auch er wird nicht direkt widerlegt, sondern befragt. Wie vollbringt und bewährt sich diese Wahrheit? Wie bezieht sich der Knecht in Wirklichkeit auf die Dinge und den Herrn? Die Antwort lautet: in der Furcht des Todes, in Gehorsam, Zucht und Gewohnheit des Dienstes, im Bilden der Arbeit. Im Vollzug dieses Tuns werden sich das Selbstverständnis und die Willenserklärung des Knechtes ins Gegenteil verkehren. „Wie die Herrschaft zeigte, daß ihr Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird auch wohl die Knechtschaft vielmehr in ihrer Vollbringung zum Gegenteile dessen werden, was sie unmittelbar ist" (PhdG 147—48). Das Wesen des Knechtes ist unmittelbar ein unselbständiges Außersichsein, das sich dreifach vollbringt. Anfänglich erscheint der Knecht völlig außer sich in Furcht vor dem absolut Anderen (dem Tod). Er scheint ganz im Dienst für einen anderen (den Herrn) aufzugehen und sich gänzlich am anderen (den Dingen) abzuarbeiten. Indem der Knecht nun Furcht, Dienst und Arbeit vollbringt, kehrt sich das Außersichsein schrittweise in ein ausgeprägtes Fürsichsein um. Die Umkehr beginnt mit der Katharsis der Furcht. Furcht ist Zittern vor dem Tode, ein Gefühl, in dem der Mensch bis in die Wurzel seiner

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Existenz erbebt. In dieser ihrer Radikalität unterscheidet sich bei Hegel Furcht von Angst. Die Angst richtet sich auf Akzidentelles und vergeht mit der Zeit. Ich habe Angst um dieses oder jenes, dessen Verlust mich zwar mehr oder weniger schmerzt und beeinträchtigt, mich aber nicht vernichtet. Darum ist die Angst ,innerzeitlich' und nach einer Weile ausgestanden. In der Furcht dagegen zittre ich um mein Dasein. Angesichts des Furchtbaren, des Todes, löst sich alles Bestehen auf. Dem Bewußtsein wird alles, woran es sich durchschnitdich und alltäglich hält, nichtig, weil es im Tode nicht bleibt, sondern entgleitet. Und weil die Todesfurcht das Vergehen unserer Zeit fühlbar macht, vergeht sie nicht mit der Zeit. Die Furcht ist somit von der Angst in der Wurzel unserer zeitlichen Existenz unterschieden 92 . Für das Knechtbewußtsein gewinnt sie eine zweiseitige Bedeutung. Zunächst hat sie den Sinn einer einfachen Negation. Sie vernichtet die Selbständigkeit des Furchtsamen und treibt ihn in eine Abhängigkeit vom Furchtlosen. Der Tod als die natürliche Negation leiblichen Lebens muß demjenigen, dem das natürliche Dasein alles ist, als das grauenvolle Nichts erscheinen. Daher kettet die Todesfurcht ein knechtisches Bewußtsein fest an die dauerhaft scheinenden Dinge. Aber die Furcht ist nicht bloß das lähmende Zittern um das nackte Leben, sie bildet das Gefühl für eine absolute Macht aus. Die Empfindung des Todes als des absoluten Herrn weckt das Gefühl für die Nichtigkeit der lebenshungrigen Selbstsucht. So gesehen, ist die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit. In ihr beginnt zu dämmern, wie es mit dem wahren Selbstsein des Menschen unter dem Ansprüche Gottes als des Absoluten steht. Dieser positive Sinn der Furcht hat die Kraft, die negativen Zwänge der Furcht zu negieren. Der absolut negierende Prozeß der Furcht ist nichts anderes als die Bewegung des Selbstbewußtseins, das sich im Knechte regt. „Diese reine allgemeine Bewegung, das absolute Flüssigwerden alles Bestehens ist aber das einfache Wesen des Selbstbewußtseins, die absolute Negativität, das reine Fürsichsein, das hiemit an diesem Bewußtsein ist" (PhdG 148). In der Todesfurcht löst sich die Dinghaftigkeit des Bestehens auf. Im Beben vor dem Tode schwindet der Halt, den das Bewußtsein des Knechtes an den Beständen der Dingwelt und der Mitwelt zu haben glaubte. Es findet sich in dieser Auflösung auf sich selbst zurückgetrieben. „Dies Bewußtsein 92

Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Hegeischen Analyse der Todesfurcht vgl. W.Janke, Herrschaft und Knechtschaft und der absolute Herr. In: Philosophische Perspektiven IV (1972) 211-231.

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hat nämlich nicht um dieses oder jenes, noch für diesen oder jenen Augenblick Angst gehabt, sondern um sein ganzes Wesen; denn es hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden. Es ist darin innerlich aufgelöst worden, hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat in ihm gebebt" (PhdG 148). Darin geht der Knecht in die Bewegung des Selbstbewußtseins ein. Das Selbstbewußtsein löst ja den erstarrten Gegenstandsbezug auf und kümmert sich dadurch, daß es sich von allem Bestände der Dingwelt losreißt, um sein wahres Wesen, seine Freiheit und Selbständigkeit. Die Phänomenologie der Furcht entdeckt das Sein zum Tode als dasjenige Phänomen des Bewußtseins, in welchem die an die Dinge verknechtete Existenz zu freiem Leben kommt. Die Furcht löst die Erstarrung einer Existenz innerlich auf, deren Geist im besorgenden Vorstellen der gegenständlichen Welt abgestumpft und abgestorben ist. In solcher Stumpfheit existiert der Knecht. Er lebt in der Gewohnheit des Alltags und geht ganz darin auf, sein Leben zu fristen. Er stumpft selbst physisch ab, zumal im Vollzug einer unselbständigen Arbeit, in der das Werkzeug selbständig, d. h. Maschine geworden ist. Aus seinem Bewußtsein ist die Lebendigkeit verschwunden. „Der Mensch stirbt auch aus Gewohnheit, das heißt, wenn er sich ganz im Leben eingewohnt hat, geistig und physisch stumpf geworden, und der Gegensatz von subjektivem Bewußtseyn und geistiger Tätigkeit verschwunden ist" (PhdR, III. Teil, § 151; VII, 234). Solches Sterben aus Gewohnheit stirbt in Furcht und Zittern. Das Beben der Furcht ist die Unruhe einer Bewegung, die das verdinglichte, zertreute und abgestumpfte Bewußtsein aufschreckt und auf das wesenhafte Selbst, um das es eigentlich geht, zusammendrängt. Aber die doppelte Negation der Furcht vollbringt die Umwendung des Knechtbewußtseins aus der Unselbständigkeit zur Selbständigkeit nur halb. In der Kunstsprache der Dialektik gesprochen: Die absolute Negativität oder das reine Fürsichsein ist erst an diesem Bewußtsein. Der Knecht kommt in der Furcht des absoluten Herrn, in welcher die Macht der Dinge und die der Herren dieser Welt verblaßt, in einen selbständigen Stand, aber nicht zu klarem und deutlichem Bewußtsein seiner Selbständigkeit; denn der dialektische Umschlag des Todes vollzieht sich nur im Elemente einer inneren Empfindung oder des Gefühls. Die Empfindung aber ist innerhalb einer Theorie des subjektiven Geistes die schlechteste Form des Geistigen, welche den besten Inhalt verdirbt. „Die Empfindung ist die Form des dumpfen Webens des Geistes in seiner bewußt- und verstandlosen Individualität, in der alle Bestimmtheit

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noch unmittelbar ist, nach ihrem Inhalte wie nach dem Gegensatze eines objectiven gegen das Subjekt unentwickelt gesetzt, als seiner besondersten, natürlichen Eigenheit angehörig" (Enz. § 400; X , 122—23). Immer wieder hat Hegel drei Einwände gegen die Rede von den Offenbarungen des Gefühls, vor allem natürlich in seiner Polemik gegen das religiöse Gefühl als Quelle des Wissens von Gott, variiert. Das Gefühl ist undeutlich, konfuse Subjektivität. Es ist nicht mehr als ein dumpfes Weben des Geistes und bloß ein Widerklang des Vernünftigen in unserem Herzen. Es ist zufällige Subjektivität. Der Inhalt von Gefühlen ist zufällig und umspannt Wirkliches und Unwirkliches. Daher kann über die Wahrheit des Gefühlten nicht vom Gefühl als solchem her, etwa seiner Tiefe oder .Echtheit', entschieden werden. Und das Gefühl ist schlechte Subjektivität. Es bleibt Sache des je einzelnen Menschen und ist darum unfähig, das Allgemeine einer Sache ,objektiv' zu erfassen. Die Furcht als innere Empfindung, die sich auf ein Allgemeines (den Tod) bezieht, fällt unter diese Abschätzung. Das Individuum, das vor der Gewalt des Todes bebt, begreift den Geist des Todes nicht. Es steckt im Widerspruch zwischen Inhalt und Form. Der geistige Inhalt ist etwas Allgemeines, nämlich die Absolutheit des Todes, die Form dagegen schlechte, einzelne Subjektivität. Daher wird der Todesbefindlichkeit nicht konzediert, die Wirklichkeit umzuschaffen und die Existenz zu revolutionieren. Sie bleibt für den Knecht eine unbestimmt empfundene, allgemeine Auflösung seiner Weltgebundenheit. Die Furcht des Herrn verknüpft sich mit der Zucht des Dienens. Darin gewinnt das Bewußtsein des Knechtes einen wirklichen Abstand von den ihn verdinglichenden Dingen. „Es ist ferner nicht nur diese allgemeine Auflösung überhaupt, sondern im Dienen vollbringt es sie wirklich" (PhdG 148). „Ohne die Zucht des Dienstes und Gehorsams bleibt die Furcht beim Formellen stehen und verbreitet sich nicht über die bewußte Wirklichkeit des Daseins" (PhdG 149). Dienen besagt nichts anderes als den Vollzug des Knechtseins, und zwar im Habitus des Gehorsams und einer strengen Zucht. Zum Dienen gehören ,die Gewohnheit des Gehorsams' und die Zucht des Dienstes. Alle drei Grundworte des Dienens — Gewohnheit, Gehorsam, Zucht — sind zweideutig und von Hegel in ihrer Zweiseitigkeit dialektisch aufgearbeitet. Von Hegels umfänglicher Rehabilitierung der Gewohnheit ist hier nur das Resultat aufzunehmen. Einerseits macht die Gewohnheit den Menschen zum Sklaven, andererseits wird er durch Gewohnheit frei (vgl. Enz. § 4 1 0 , Zus.; X , 2 4 1 ) . Die Gewohnheit entfremdet und versklavt. Sie stumpft den Geist durch ihre Wiederholungen ab, zermürbt die Selbst-

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tätigkeit und kennt allein das aus der Wiederholung vieler Einzelheiten abstrahierte Allgemeine, nämlich das die äußerlichen Einzelheiten Bestimmende oder das Notwendige. Die positive und wesentliche Seite der Gewohnheit aber ist eine Befreiung des Menschen von Empfindungen; denn nur durch ungewohnte Empfindungen läßt sich der Mensch äußerlich beeindrucken, in der Gewöhnung verhält er sich gemäß einer ihm eigen gewordenen, allgemeinen Weise des Tuns. Das braucht hier nicht an den unterschiedlichen Formen der Befreiung durch Gewohnheit durchgeprüft zu werden, ζ. B. an der Gewohnheit der aufrechten Stellung, ,der absoluten Gebärde' des Menschen, an der Abhärtung, an der Polemik gegen die mönchische Askese im Plädoyer für die Gewohnheit der Befriedigung von Begierden usw. Hier gilt es, die Gewohnheit des Gehorsams als Mittel der Befreiung des Knechtes zu beachten. Die Gewohnheit einer alltäglich sich wiederholenden Einübung wird dem Knecht zur zweiten Natur. Und das ist keine schlechte Gewohnheit, der Gehorsam bildet die Kardinaltugend des Dienenden. Als Gesinnung eines knechtischen Bewußtseins gerät der Gehorsam ins Zwielicht der Doppeldeutigkeit. Gehorchen als blindes, unterwürfiges Ausführen herrischer Befehle ist die Manifestation einer unfreien Gesinnung und eines unselbständigen, unfertigen Willens. Andererseits bedeutet Gehorsam das Vermögen desjenigen Willens, der noch nicht das Wahre erkennt, auf den Zu- und Einspruch des vernünftigen Willens zu hören. Von ihm kann wie von der Furcht gesagt werden: „Der Gehorsam ist der Anfang aller Weisheit" (Enz. §396 Zus.; X, 102). Gehorsam als Hören auf die mit Autorität ausgestattete Vernunft konstituiert das rechte Verhalten des Kindes zum wahren Erzieher. Im Verhältnis des Knechtes zum Herrn wirkt der Gehorsam positiv dank seiner Funktion, die Negativität der Besonderheit, des Eigenwillens und der Selbstsucht zu negieren. Der dienende Gehorsam hindert, indem er auf einen anderen eingeht, ein ,Sicheinhausen in besonderes Belieben' und löst die Verstrickung in eigensüchtiges Interesse. Die Gewohnheit des Gehorsams schwächt den Eigenwillen des Knechtes, die Zucht bricht ihn. Die Zucht hebt die Anhänglichkeit an das natürliche Dasein rigoros auf. Offenkundig hat auch das Phänomen der Zucht zwei ineinander umschlagende Seiten. Zucht kommt von ,ziehen' (Hegel rekurriert auf diese Wortherkunft). Weil es bei der Zucht des Dienens nun ein anderer ist, der Herr, welcher den Knecht unter Androhung von Züchtigungen zum Arbeitsdienst zieht, darum bedeutet Zucht des Dienstes zunächst Negation an Selbständigkeit. Aber diese Zucht ist

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allemal auch Erziehung, sofern sie die Anhänglichkeit an das bloß Sinnliche ausrottet und die Eigenwilligkeit bricht. Was so hervorgezogen wird und ins Freie kommt, das ist der Habitus der Selbstbeherrschung. So gewinnt eine dialektische Betrachtung den Zwängen der Zucht eine gute Seite ab. Die rigorose Zucht der Unterwerfung unter einen Herrn wird zur Bedingung für die Fähigkeit zur Selbstregierung. Und wirklich taugt ja niemand zum Befehlen, der nie gelernt hat, seinen Eigenwillen und seine Selbstsucht in Zucht zu halten. Unter diesem Aspekt läßt sich weltgeschichtlich sogar die Tyrannis ,relativ' rechtfertigen. „Um frei zu werden, — um die Fähigkeit zur Selbstregierung zu erlangen, haben daher alle Völker erst durch die strenge Zucht der Unterwürfigkeit unter einen Herrn hindurchgehen müssen" (Enz. § 435, Zus.; X,288). Freilich zieht die Phänomenologie sogleich die Grenze für die befreiende Kraft von dienendem Gehorsam und unterwerfender Zucht. Diese Begrenztheit läßt sich in Rücksicht auf die Dinge und die anderen zeigen. In Bezug auf den anderen bleibt der Knecht trotz aller Selbstbeherrschung dem Einzelwillen eines anderen Subjekts und nicht einem allgemeinen, vernünftigen Willen hörig. In der Askese der Zucht nimmt der Dienende sich zwar mit sich selbst, aber nicht mit der Welt, die er ja zu entbehren gewöhnt ist, zusammen. Und so bleibt dem Knecht das Wissen versagt, im andern bei sich selbst zu sein, d. h. zum Bewußtsein seiner Selbständigkeit zu kommen. (Darum bringt es auch die eisernste Härte der Zucht nicht zu einem Fortschritt in der Geschichte, wenn diese doch ein Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit sein soll.) Zum Bewußtsein seiner Freiheit und Selbständigkeit kommt der Knecht erst im Bilden der Arbeit. Erst mit diesem dritten Schritt zeichnet sich die Verkehrung der Antithesis vollständig ab. Am Anfang setzt der Knecht sein Fürsichsein (die Wirklichkeit freien Selbständigseins) in ein anderes, den Herrn; in der Todesfurcht und in der Zucht des Dienstes ist das Fürsichsein an ihm selbst. Es gehört zu seiner Existenz, ohne daß er ein Bewußtsein seiner Unabhängigkeit gewinnt. Im Formieren der Arbeit wird das Fürsichsein für ihn selbst. Erst im Tun der Arbeit bringt es das Bewußtsein des Knechtes zur Einsicht in seine Selbständigkeit. „Durch die Arbeit kommt es aber zu sich selbst" (PhdG 148). Allerdings darf angesichts dieses Progresses der Fundierungszusammenhang zwischen der absoluten Furcht und der formierenden Arbeit nicht unterschlagen werden. Er besteht in einer wechselseitigen Bedingtheit. Die eine Seite ist deutlich proklamiert. In der Innerlichkeit der Furcht kommt die Selbständigkeit des Knechtes nicht zu gegenständlichem

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Ausdruck und bleibt daher unvermögend, seine subjektive Gewißheit im anderen objektiv zu bewahrheiten. „Ohne das Bilden bleibt die Furcht innerlich und stumm, und das Bewußtsein wird nicht für es selbst" (PhdG 149 —150). Der Fortschritt der Menschheit läuft über die Vermenschlichung der Arbeit. Aber die andere Seite der Korrelation muß, soll der Fortschritt nicht eitel werden, aufrechterhalten bleiben. Das Bewußtsein des Knechtes kommt im Formieren der Arbeit nur dann wahrhaft zu sich selbst, wenn es durch die absolute Furcht hindurchgegangen ist. „Formiert das Bewußtsein ohne die erste absolute Furcht, so ist es nur ein eitler eigner Sinn" (PhdG 150). Das ist eine erstaunliche Festlegung. Uber den dialektischen Ausschlag der Arbeit entscheidet sein Zusammenhang mit der Furcht. Ohne die existenzielle Erschütterung des Bewußtseins im Erbeben vor der absoluten Macht des Todes verfängt sich das Selbstverständnis des durch Arbeit geprägten Menschentums in der Eitelkeit des Eigensinns. Vorgreifend läßt sich die Dialektik der Arbeit als Umschlag aus fremdem in eigenen Sinn formulieren. Scheinbar ist das Bewußtsein des Knechtes in der Arbeit nur fremder Sinn; denn das Produkt seiner Arbeitskraft hat ja den Zweck, Genußmittel eines Fremden, des Herrn, zu sein. In Wahrheit findet es in der Arbeit seinen eigenen Sinn, sofem ihm im formierten Werk sein eigenes Wirken präsent wird. „Es wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigner Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien" (PhdG 149). Nun besagt die Einsicht der Phänomenologie: Die Möglichkeit einer menschlich bildenden, die Entfremdung aufhebenden Arbeit hängt an der Tiefe bzw. Untiefe der Furcht. Ein durch Arbeit gezeichnetes Menschentum, das im weiten Reiche des Gegenständlichen seinen eigenen (technisch arbeitenden) Geist wiederfindet und die Welt, Umwelt und Mitwelt, nach seinem Bilde formt, ist Eigensinn und Eitelkeit, die vanitas subjektiver Willkür, wenn sie nur Ängste aussteht, aber die Furcht verdrängt. „Hat es nicht die absolute Furcht, sondern nur einige Angst ausgestanden, so ist das negative Wesen ihm ein Äußerliches geblieben, seine Substanz ist von ihm nicht durch und durch angesteckt. Indem nicht alle Erfüllungen seines natürlichen Bewußtseins wankend geworden, gehört es an sich noch bestimmtem Sein an; der eigne Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt" (PhdG 150). Mithin hat sich angekündigt: Der Zusammenhang von Todesfurcht und Arbeit ist für die Befreiung des knechtischen Bewußtseins unlösbar. Ohne das Bilden der Arbeit bringt es die Furcht nicht zum Bewußtsein der

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Freiheit, ohne die Todesfurcht bringt es die Arbeit nicht zum Bewußtsein der Freiheit. Aus eben dieser Koinzidenz, in welcher das Zittern ums Leben mit dem Bilde der Dinge zusammenfällt, entspringt Sprache. Ohne das Bilden bliebe die Furcht, ohne die Furcht das Bilden und ohne beides bliebe der Mensch stumm. Unwiderleglich kommt mit dem intersubjektiven Selbstbewußtsein die Sprache auf 93 . Das Verhältnis zwischen zwei Menschen ist ja nur sprachlich existent. Alles Tun ist, sofern es sich um menschliche Praxis handelt, sprachliches Tun. Was sich auf der Stufe des Selbstbewußtseins in sprachlicher Gebärde differenziert, ist das Wissen, das um die Selbständigkeit des anderen Selbstbewußtseins auf eine unmittelbare Weise weiß. Und unaufhaltsam führt die Darstellung des zwischenmenschlichen Bewußtseins vom vorsprachlichen Zeichen zum Ausbruch der Sprache. Der Kampf auf Leben und Tod vollzieht sich noch untersprachlich. Er ist ein selbstbewußtes Zeigen, das es sich und den anderen .zeigen will'. Aber im wortlosen Kampf schimmert eine Ahnung davon durch, daß der Mensch nur durch Sprache, durch Aufforderung und anerkennenden Zuspruch des Anderen zum Ich werden kann. Diese Erfahrung verkommt im Herrn. Der Herr spricht nicht mit dem Knecht, und ihm werden die Dinge nicht sprechend. Er dringt nicht zur Welteröffnung der Sprache durch, weil er sie nicht in den Dingen finden kann. Um die Dinge wirklich bei ihrem Namen zu nennen und zu kennen, muß man, wie es der Knecht tut, unmittelbar mit ihnen umgehen. Und mit dem Knecht spricht der Herr so viel oder so wenig, wie man mit einem Werkzeug spricht. Werkzeug (όργανον) hieß der Knecht schon bei Aristoteles (vgl. Pol. A 4, 1253b 33). Erst recht fällt es dem Herrn nicht ein, auf den Knecht zu hören. Daher gehört Diderots Diener, der dem Herrn Geschichten erzählt, nicht zu dieser Stufe des Geistes94. Und darum erfährt sich der Herr auch nicht selber sprachlich. Der Knecht dagegen ist den Ursprüngen der Sprache näher. Seine Lippen erbeben in der Furcht des Todes, sie arti93

94

Die eindrucksvolle Paraphrase von Herrschaft und Knechtschaft bei B. Liebrucks (Sprache und Bewußtsein. Band 5. Die zweite Revolution der Denkungsart. Frankfurt a. M. 1970. S. 82-97) durchleuchtet die Genesis des Selbstbewußtseins auf den Ursprung der Sprache bis zur Mitte von Todesfurcht und geglücktem Bilden hin. „Es ist der immerwährende Ursprung der Sprache, an dem die Ränder des Lebens, die Todesfurcht und das Glück, in die Mitte gezogen werden" (S. 94). H . Mayers These, Diderots „Jacques der Fatalist und sein Herr" nehme Hegels Darstellung von Herrschaft und Knechtschaft vorweg, antizipiert selbst eine spätere Stufe der Phänomenologie des Geistes. Vgl. Hegels „Herr und Knecht" in der modernen Literatur. In: Hegel-Studien (1974) Beiheft 11.

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kulieren den Angstschrei als Bitte ums Leben und um das Verweilen bei den Dingen. Aber die Furcht bliebe innerlich und stumm, wäre nicht das Bilden der Dinge durch Arbeit. Erst in ihm geschieht ein ursprüngliches Herstellen und glückendes Namengeben. Dadurch, daß der Knecht die Dinge formiert, bringt er die Welt und sich selbst sprachlich ins Offene und erfährt so von fern die Sprachbezüge des spekulativen Satzes. Aber ohne die Todesfurcht würde die Sprache als Ausdruck eines Inneren nicht laut, sie bliebe äußerlich und stumm. Und so zeigt sich auch im Blick auf das Herausringen der Sprache die unlösbare Koinonie von Todesfurcht und Arbeit. Freilich zeichnet sich in diesem Zusammenhang eine Abstufung ab. Im Vorblick auf einen Rangstreit über die letzte Umformung der menschlichen Existenz bleibt für eine Phänomenologie des Selbstbewußtseins eine deutliche Abstufung bestehen. Das Sein zum Tode ist die erste, vorläufige, das Bilden der Arbeit die letzte und abschließende Stufe im Aufstieg des Knechtes. Erst in der Arbeit werden die substanzielle Selbständigkeit und die Unabhängigkeit vom eitlen, natürlichen Dasein, die in der Furcht des absoluten Herrn am Bewußtsein des Knechtes und noch im Modus der Möglichkeit ist, wirklich und für ihn selbst. Die Phänomenologie von Herr und Knecht führt die Arbeit als Grundbegriff der Soziodialektik ein. Die Geschichte des Wortes, die Genese ihres Begriffs, dessen physikalische, physiologische, wirtschaftswissenschaftliche, pädagogische Feststellung und Bewertung, schließlich seine Problemgeschichte können hier nicht ausgebreitet werden 95 . Eine vordialektische Betrachtung der Arbeit aber könnte im Blick auf Praxis und .Interaktion' eine Zwiespältigkeit herausstreichen. Arbeit bestimmt die Sinndeutung menschlichen Handelns und Lebens überhaupt mit der Schärfe eines Gegensatzes. Sie verhindert und sie erfüllt ein menschenwürdiges Leben. Hegels Phänomenologie des Knechtes hat die Zweiseitigkeit der Arbeit, die in aller vorphilosophischen Betrachtung durchschlägt, dialektisch in den Prozeß der Anerkennung aufgenommen. Die einfach negative Seite der Knechtsarbeit negiert die eigene Selbständigkeit ganz und gar. Sie fesselt den Arbeiter Tag für Tag an die zu bearbeitenden Dinge und hindert ihn daran, das Entgegenstehen der Dinge zu überwinden. „Der Knecht bezieht sich, als Selbstbewußtsein über95

Resultate dieser Forschungen sind z. B. vom M. Riedel im Artikel .Arbeit' des Handbuches philosophischer Grundbegriffe. München 1973. S. 125 — 141 zusammengetragen und philosophisch durchdrungen worden.

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haupt, auf das Ding auch negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich selbständig für ihn, und er kann darum durch sein Negieren nicht bis zur Vernichtung mit ihm fertig werden, oder er bearbeitet es nur" (PhdG 146). Auch für den Knecht als ichhaftes Wesen ist das Ding ein Nicht-Ich, das es zu negieren gilt. Aber der Knecht kann mit der Nichtigkeit der Dinge nicht fertig werden. Ihm ist ja das entgegengesetzte Sein Voraussetzung für sein Selbstsein und Mittel zum Leben. Weil das Ding für ihn eine selbständige Seite behält, bringt er es nicht dahin, es als sein Werk und sich darin in seinem Wirken zu sehen. Darum kommt er von sich her von der Kette der Dinge nicht los. Zudem wird er vom Herrn gezwungen, die Dinge zum Genuß eines anderen fertigzumachen. Und so erscheint Arbeit für den Knecht zunächst nicht als Selbstbildung, sondern als mühseliges Bearbeiten der Dinge. Die Bearbeitung ist Mühsal ohne Lohn, weil der Arbeiter um die Früchte seiner Arbeit kommt, die er dem Herrn zum Genuß überlassen muß. Sicherlich sehen solche ontologischen Feststellungen von konkretgeschichtlichen, politisch-ökonomischen Weisen der Produktion, also auch von der arbeitsteiligen, industriellen Maschinenarbeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, ab. Aber darum hat Hegel den entfremdenden Sinn der Arbeit nicht verkürzt oder als bloßes Phänomen des Bewußtseins zu leicht genommen. In der Analyse der Knechtschaft findet sich der LastCharakter der Arbeit, welcher den Menschen zum Tier herabdrückt, grundsätzlich in Anschlag gebracht, und es wird eine durchschlagende Einsicht in das konkrete Unwesen von Zwangsarbeit und Arbeits-Dienst gewonnen. In der Bindung des ganzen Daseins an die Bearbeitung der Dinge im Dienste und zugunsten eines anderen verdinglicht das Dasein selbst. In solcher Knechtsarbeit äußert sich der Mensch nicht in seinem freien Selbstbewußtsein, er entäußert es. Der zweite Sinn von Arbeit negiert diese Negation: das Bilden oder Formieren. Die formierende Arbeit wird von Hegel zweifach gekennzeichnet. Sie wird als .gehemmte Begierde' definiert, und ihre dialektische Position wird als ,negative Mitte' angegeben. Arbeit ist gehemmte Begierde. Die Begierde bringt den Gegenstand zum Verschwinden, indem sie ihn verzehrt und sich durch dieses Verschwindenmachen unersättlich zu befriedigen sucht. Die Arbeit dagegen hemmt das Verschwinden des Gegenstandes, und zwar dadurch, daß sie ihn formiert, d. h. in bleibende Form bringt. Ebendadurch löst sich der Arbeiter von der hemmungslosen Begierde und bildet, indem er durch sein Tun die Dinge bildet, sich selbst. Er überwindet seinen Lebenstrieb, der nichts als seine Selbstbefriedigung

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im Verzehr der Dinge betreibt. Die Dinge ausformen und sie für andere bereitstellen, heißt, den Instinkten entgegenarbeiten, sich nicht mehr den natürlichen Existenzbedingungen anpassen, sondern diese verändern durch Formung und unter dem Geleit der Idee, für andere zu leben und zu arbeiten. „Indem der Knecht für den Herrn, folglich nicht im ausschließlichen Interesse seiner eigenen Einzelnheit arbeitet, so erhält seine Begierde die Breite, nicht nur die Begierde eines Diesen zu seyn, sondern zugleich die eines Anderen in sich zu enthalten" (Enz. §435, Zus.; X, 287). So bedeutet die Arbeit des Knechtes die Hemmung der Begierde und eine Abarbeitung des Einzel- und Eigenwillens. Dadurch wird Arbeit zur ,negativen Mitte'. Sie vermittelt das einzelne mit dem allgemeinen Selbstbewußtsein, indem sie den Einzel- und Eigenwillen des Knechtes abarbeitet und dadurch die Bildung fremder Dinge zur Selbstbildung erhebt. Und sie vermittelt das arbeitende Subjekt mit dem bearbeiteten Objekt. Arbeit treibt ein in sich kreisendes Subjekt zur objektiven Wirklichkeit heraus 96 . Die Bewegung der Vermittlung verläuft negativ im Sinne einer doppelten oder absoluten Negation. Sie negiert die einfache Negation der Arbeit, d. h. den Prozeß der Entfremdung. Das Bilden oder Formieren der Arbeit hebt an der Wirklichkeit des Dinges die Verdinglichung des Knechtes auf. Das Sein des formierten Dinges nämlich ist nichts anderes als Ausdruck für das Wirken des Arbeiters: von ihm erwirkte Wirklichkeit. Es erscheint als sein eigenes Werk, in dem er seine Arbeit wiederfindet, und nicht als etwas Fremdes, an dem er sein Wesen, seine Selbsttätigkeit, verliert. Solche Auslegung bezieht offenbar ihr Recht aus der übergreifenden Ansicht von der .Arbeit des Begriffs', wonach der Geist im Ganzen unaufhaltsam das Anderssein der Natur wegarbeitet, um sich im Anderen als seinem Werk wiederzufinden. Die Arbeit des Knechtes muß sonach als ein Moment im großen Prozeß der Aneignung der Natur und als ein Akt des Geistes verstanden werden. Von daher leuchtet sie auch als ein Fortschritt im Bewußtsein des Fürsichseins und der Freiheit ein. Der Knecht bleibt im Bilden der Dinge nicht nur bei sich, er wird sich dessen auch bewußt; denn er sieht im Unterschied zur verschwindenmachenden Begierde im Objekt als Werk des Geistes wie im Spiegel sein eigenes Wirken wieder. Ihm kommt zum Bewußtsein, daß er im Anderssein des Gegenstandes bei sich selbst ist. Er ist nicht nur für sich, sondern er weiß es auch. Insofern ist der Knecht frei. 94

Daher kann Hegel Arbeit als Therapie für Irre empfehlen: „Durch die Arbeit werden sie aus ihrer kranken Subjectivität heraus gerissen und zu dem Wirklichen hingetrieben" (Enz. § 408, Zus.; X, 232).

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6. Kapitel: Der Wendepunkt der Arbeit und die dialektische Fortschrittlichkeit des Knechtes. (Zur Rolle des Proletariats im Befreiungskampf des Selbstbewußtseins) Die Gebärde des Knechtes hat sich verändert. Verharrte er anfangs gleichsam in orientalischer Unterwürfigkeit, in der sich der Knecht vor dem Herrn auf die Erde wirft, weil er, sähe er ihm ins Auge, sein Fürsichsein behaupten würde, so hat er sich jetzt aufgerichtet und sein Haupt erhoben. Es war die Arbeit, welche die vermeintliche Selbstlosigkeit und Abhängigkeit des Knechtes in den Stand einer freien Selbstbeherrschung erhob. Als Arbeiter formt der Knecht nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst und sein Bewußtsein. Also scheint doch, überblickt man den dialektischen Progreß des Anerkennens und den darin markierten Fortschritt in der Geschichte, die Arbeit des Proles diejenige Macht zu sein, welche die geschichtliche Entwicklung vorantreibt und die unfreie gesellschaftliche Welt verändert. Wird denn nicht das ungleiche Gesellschaftsund einseitige Anerkennungsverhältnis zwischen Herren und Knechten letztlich von der Produktivkraft menschlicher Arbeit umgewälzt? Tatsächlich halten die interessierten marxistischen Erläuterungen zu Hegel im großen Stile von Lukács und Bloch, aber auch die ,linke' Hegel-Deutung Alexandre Kojèves bei solchen Ergebnissen an. Als deren übereinstimmende Ansichten lassen sich in notwendig verkürzender Zusammenfassung drei Generalthesen herausheben97. 1. Der dialektische Prozeß des Selbstbewußtseins läuft über das Bewußtsein des Knechtes und nicht des müßigen Herrn. Der Herr bildet in der Entwicklung des Geistes eine folgenlose Episode. Er büßt, da er sich im arbeitslosen Genuß geistig und körperlich erschöpft, die Möglichkeit und Kraft der Entwicklung ein. Mit einer Formel Kojèves gesprochen: Die Herrschaft ist eine existenzielle Sackgasse. Die fruchtbaren und positiven Momente des Menschheitsfortschrittes liegen auf der Seite der Knechte. 2. Den Wendepunkt in der Entstehung eines freien menschlichen Selbstbewußtseins bildet die Rolle der Arbeit. Der weite Weg der Menschheitsentwicklung, das Gesellschaftlichwerden des menschlichen Naturzustandes, führt über sie. Nur durch Arbeit wird der Mensch zum Menschen. 97

Vgl. G . Lukács, Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft. Berlin 1954. S. 377ff., 546ff. E. Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Berlin 1957. S. 65ff. A. Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur PhdG, hrsg. von I. Fetscher. Stuttgart 1958, vorzüglich S.48ff.

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3. Daher entspringen diejenigen Gestalten des Bewußtseins, in denen sich im Rahmen der Phänomenologie die Auflösung der antiken Sklavenhaltergesellschaft verkörpert, also Stoizismus, Skeptizismus, unglückliches Bewußtsein, aus der phänomenologischen Dialektik des knechtischen Bewußtseins. Solche Akzentuierung der Arbeit und Bevorzugung des Knechtes steht in Einklang mit einem bewußt parteiischen Zukunftsglauben an das Proletariat. Sie sucht und findet innerhalb der Phänomenologie des Selbstbewußtseins Entsprechungen zur ökonomisch-politischen und historischmaterialistischen Interpretation des Klassenkampfes. Vorausgesetzt nämlich, die Analyse des Knechtes betrifft nicht nur den historisch vergangenen Stand des Sklaven innerhalb der antiken Sklavenhaltergesellschaft, sondern deckt generelle Strukturen der Auseinandersetzung von Herr und Knecht auf, dann scheinen der weltgeschichtliche Primat des Arbeiters und die dialektische Schlüsselposition der Arbeit sogar innerhalb einer auf dem Kopf stehenden Sozial-Dialektik des Geistes eine glänzende Bestätigung zu finden. Alle drei Thesen, die dafür sprechen, müssen kritisch, d. h. auf ihre Angemessenheit und Maßlosigkeit hin, überprüft werden, und zwar aus dem Gange der Sache innerhalb der Phänomenologie selbst. Wie also steht es mit der Superiorität des Knechtes und der Inferiorität des Herrn innerhalb des dialektischen Fortschritts des Selbstbewußtseins? Um darüber zu befinden, muß der Vorgang von Herr und Knecht in seiner dialektischen Struktur rückblickend herauspräpariert werden. In welchem Prozeß hatte sich der Dialog über Wesen und Unwesen von Herr und Knecht abgespielt? Ausgang war die vermittelte Aufstellung einer absoluten Wahrheit: Prinzip allen Seins, Werdens und Erkennens ist das soziale Urgesetz von Herr und Knecht. Es war gezeigt: Sobald der Mensch in soziale Bezüge miteinander und vermittels der zu bearbeitenden Welt tritt, konstituiert sich notwendigerweise das Verhältnis von Herr und Knecht. Im Kampf der Klassen ist der Kampf auf Leben und Tod »aufgehoben'. Um die Angel dieser Relation dreht sich alles Welt-, Selbstund Geschichtsverständnis. Das Bewußtsein beansprucht für diesen Grundsatz absolute Geltung. Dafür war der Herr mit der These eingetreten: Das Wesentliche in dieser substanziellen Relation ist der Herr und dessen von allem anderen unabhängige Selbständigkeit. Das Unwesentliche darin ist der abhängige und außer sich seiende Knecht. Die behauptete Selbständigkeit und das Fürsichsein des Herrn manifestieren sich in unterjochender Macht und verfeinertem Genuß. Indem der

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Herr aber den Beweis durch die Tat vollbringt, verkehrt sich seine Behauptung ins Gegenteil. Der Unabhängige zeigt sich als der vom Abhängigen Abhängige. Der Herr des Knechtes wird zum Knecht des Knechtes. In diesem Widerspruch kommt die Verkehrtheit der Thesis zutage. Folgerichtig tritt jetzt der Knecht als Substanz der ausgebreiteten Relation auf, und zwar mit der Antithese: Das Wesentliche im Welt-bewegenden Verhältnis zwischen Herren und Knechten ist der Knecht und dessen selbstloses Sein-für-andere; das Unwesentliche und Wesenlose darin ist, wie die Erfahrung ihrer absurden Konsequenz gelehrt hat, herrische Selbstsucht. Die prinzipielle Selbstlosigkeit des Knechtbewußtseins, das sein Selbst im anderen hat, manifestiert sich im Vollbringen von Todesfurcht, Zucht und Arbeit. Indem der Knecht nun seinerseits seinen Anspruch in solchem Vollbringen praktisch beweist, verkehrt sich eine Hypothesis ins Gegenteil. Der Knecht bleibt nicht bei seiner Selbstlosigkeit stehen, er entwickelt schrittweise die eigene Selbständigkeit. Sein Bewußtsein löst sich davon, sein Selbst in einem anderen zu suchen und darin ganz von der Vorstellung des Herrn beherrscht zu sein. Er kommt dazu, sich als Herr seiner selbst zu wissen. Das aber heißt: Auch der Knecht macht die Erfahrung, daß seine Position als Knecht dem Widerspruch verfällt. Beide Parteien also, die der Herren wie die der Knechte, verkehren sich, indem sie einen Beweis durch die Tat versuchen, in ihr Gegenteil. Darum versagen beide großen Gruppen des Welttheaters, Herren wie Knechte, als Anfangsgründe für das Bestehen wahrhaft menschlicher Verhältnisse. Beide müssen ihre absoluten Ansprüche aufgeben und von ihrer prinzipiellen Position zurücktreten. Sie verlieren ihr angemaßtes Wesen im lebendigen Feuer des Widerspruchs, der den Schein der absoluten Relation von Herrschaft und Knechtschaft auflöst und die These durchstreicht, der Klassenkampf, der mit dem Sieg des Proletariats endet, sei das alles beherrschende Prinzip der Menschheitsgeschichte — und sei es auch nur der ,Vorgeschichte' im Marxschen Sinne. Nun kommt aber doch unbestreitbar im Vergehen des unterwürfigen Sklaven das Selbstbewußtsein des Arbeiters zutage, und so scheint doch die Wahrheit des Selbstbewußtseins in der Selbständigkeit des Arbeiters zu liegen und dadurch der falsche Bezug von selbständigem Herrn und unselbständigem Knecht dialektisch aufgehoben. Von einer solch hervorragenden Position des Arbeiter gewordenen Knechtes aber weiß die Phänomenologie des Geistes nichts. Der Knecht vergeht, seinem ganzen Genus nach, an der Negation, wonach ein selbstbewußtes Wesen im

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Stande einseitiger Anerkennung sein Selbst nicht durch den anderen gewinnen kann. Dieser Widerspruch verzehrt auch das in Furcht, Zucht und Arbeit erstarkte Selbstbewußtsein des Arbeiters. Der Knecht verschwindet darin, unangesehen seines habituellen Wandels vom Sklaven zum Arbeiter. Der zum Bewußtsein seiner Macht gekommene Arbeiter bleibt eine widerspruchsvolle Figur, sie vermag die Substanz einer herrschaftsfreien Gesellschaft nicht zu bilden. Der Aufbruch vom Sklaven zum Arbeiter bleibt ebenso Episode wie der gegenläufige Verfall der Kriegerkaste zum Macht- und Genußmenschen. Beide, der Herr wie der Knecht, tragen etwas zum Aufbau eines vernunftbestimmten Selbstbewußtseins und menschlicher Anerkennungsverhältnisse bei. Die Aristie des Herrn ist die Uberwindung sklavischer Todesangst, die Aristie des Knechtes das Abarbeiten herrischer Selbstsucht und egozentrischer Begierde. Aber der dialektische Progreß des Geistes geht über beide hinweg und läßt sie gleichermaßen als ephemere Momente der Menschheitsentwicklung zurück. Die Dialektik belehrt darüber: Beide Klassen, absolut gesetzt und als unbeschränktes Prinzip vollbracht, widersprechen nicht nur einander, sondern auch sich selbst. Am Ende dieses Streitgesprächs sollte die Erfahrung durchgedrungen sein, daß die gesamte Relation von Herrschaft und Knechtschaft nicht Prinzip und keines ihrer Relate absoluter Führer ist. Schon im nächsten Schritt der Phänomenologie erscheinen beide, der Herr wie der Knecht, in der Wahrheit des Stoizismus aufgehoben. Markiert indessen nicht gerade doch die Arbeit den Wendepunkt in der Entstehung eines freien Selbstbewußtseins? Durch die Vollbringung der Arbeit baut doch der Knecht von seiner Seite den gesellschaftlichen Widerspruch, der zwischen der Identität der Iche und ihrer je eigenwilligen Differenz herrscht, ab. Der Knecht ist es, der seine Einzelheit abarbeitet. „Demnach erhebt sich der Knecht über die selbstische Einzelnheit seines natürlichen Willens und steht insofern, seinem Werthe nach, höher, als der in seiner Selbstsucht befangene, im Knechte nur seinen unmittelbaren Willen anschauende, von einem unfreien Bewußtseyn auf formelle Weise anerkannte Herr" (Enz. §435, Zus.; X,287—288). Sonach erhebt die Arbeit den Menschen zum Menschen und wendet das einseitige Anerkennungs- und Herrschaftssystem zu einem freien Gesellschaftszustand um? „Jene Unterwerfung der Selbstsucht des Knechtes bildet den Beginn der wahrhaften Freiheit des Menschen" (ibid.). Diese von der Enzyklopädie ausgezogene Perspektive scheint die Führungsrolle der Arbeit zu bestätigen. Sie schränkt sie, genau besehen, ein.

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Knechtsarbeit ist eine Tätigkeit des unfreien Selbstbewußtseins unter anderen. Sie spielt eine befreiende Rolle nur in Rücksicherung durch Todesfurcht und durch die Gewohnheit der Zucht. Ihr Hauptansehen besteht im Grunde darin, daß sie diszipliniert. Durch Mühsal und Entsagung bezwingt sie Begierde und Selbstsucht des natürlichen Daseins. Diese Ansicht, Arbeit als Plage und Zwang sei ein Mittel zur Tugend, ist stoischer Abkunft. Sie verlegt die Tugend der Knechtsarbeit in das Abarbeiten der Selbstsucht. So aber kommt Arbeit nicht als dasjenige Tun in den Blick, das über die Möglichkeit des Menschseins entscheidet. Die Phänomenologie des Geistes konzipiert den Menschen eben nicht als arbeitendes, sondern als denkendes Wesen. Darin, im Ich-denke, gewinnt der Mensch seine Auszeichnung. „Erst der Mensch ist der denkende Geist und dadurch und zwar allein dadurch wesentlich von der Natur unterschieden" (Enz. § 381, Zus.; X , 30). Von hier aus kann sich die These vom Primat des Arbeiters auf die Frage verlagern, ob es denn nicht gerade die Arbeit des Knechtes ist, die den Ubergang in die Freiheit des Denkens ermöglicht. Der Ubergang zur Freiheit des Stoizismus läuft über das knechtische Bewußtsein. Aus ihm und nicht aus dem Herrentum entspringen die höheren Gestalten des Selbstbewußtseins, in denen sich das Mißverhältnis von Herr und Sklave auflöst. Und so scheint sich doch wenigstens im Verschwinden der Vorrang des Arbeiters zu dokumentieren. Die Tatsache, daß die Phänomenologie den Ausgang der Soziodialektik durch die Erhebimg des knechtischen Bewußtseins zur Weisheit des Stoikers konstruiert, ist unbestreitbar. (Freilich hat die spätere Enzyklopädie diese Konstruktion nicht wiederholt.) Aber findet diese Verknüpfung einen zureichenden Anhalt an den Phänomenbeständen? Entspringt die stoische Freiheit des Denkens wirklich der Unruhe des selbständig gewordenen Knechtes? Und löst die Wahrheit des Stoizismus das soziale Problem des Arbeiters überhaupt auf? Oder bedeutet der fragliche Ubergang eine phänomenferne Konstruktion und die .Aufhebung' der Problematik der Arbeiterklasse im Stoizismus eine soziale Sackgasse? Woher, wohin und wodurch also verläuft der Fortgang von Herr und Knecht zu den höheren Stufen des Selbstbewußtseins? Die fragliche Bewegungsphase des dialektischen Prozesses kommt aus dem Bewußtsein des Knechtes als Arbeiter und führt zum denkenden Bewußtsein des Stoikers. Den Ausgang bildet das ,in sich zurückgedrängte* Bewußtsein des Arbeiter· Knechtes. Zwar war es durch die Bildung der Arbeit aus seiner Bedrücktheit zum Bewußtsein eigener Selbständigkeit gekommen, aber es

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kann sich nicht ausbreiten und wird in sich zurückgedrängt, solange der Arbeiter in praxi die dienende Existenzweise beibehält, d. h. vom anderen nicht als seinesgleichen anerkannt ist. In der Erfahrung dieser Hemmungen fällt das Bewußtsein des Knechtes auseinander. Ihm zerfallen die Momente des Selbstbewußtseins. Einerseits hat sich der Knecht in seinem beständig-bleibenden Ansichsein erfahren; im Prozeß der formierenden Arbeit hat er gesehen, daß er durch sich und unabhängig bestehen kann. Dagegen kann er das Fürsichsein, d. h. die Wirklichkeit einer freien Unabhängigkeit vom anderen nicht im Blick auf sich alleine finden. Diese zeigt sich erst im Blick auf den anderen, und sie ist ihm durch den Herrn im Verwehren der Anerkennung entzogen. So fallen für den Knecht Ansichsein und Fürsichsein, seine Möglichkeiten und seine Wirklichkeit, seine mögliche Unabhängigkeit und seine wirkliche Knechtschaft auseinander. Aus dem Auseinanderfall des knechtischen Bewußtseins erhebt sich ein höheres, das denkende Bewußtsein. Offenbar stellt das Denken die Einheit des zerspaltenen Ansich und Fürsich wieder her. Denken bedeutet ja an sich das Vermögen der Begriffe. Wirklich, also für sich, ist das Denken, wenn Gedachtes da ist, wenn der Gegenstand in der Form der Allgemeinheit ergriffen und zur Präsenz gebracht ist. Darin überwindet das Denken den Auseinanderfall von Ansich und Fürsich; denn Denken ist nur, wenn sein Ansich für sich geworden ist, d. h. wenn es sich sieht als die wirkliche Anwesenheit von Gedanken. Darum ist das Denken frei. In der Wirklichkeit des Gedachten ist das Denkende nicht außer sich und entfremdet, es bleibt in der Anwesenheit von Gedachtem als einem vom .Denkenden' erarbeiteten Sein bei sich selbst. Indessen — dieser Ubergang ist das Exemplar einer Bewegung, die das philosophierende Bewußtsein (und nicht das betroffene Bewußtsein von Herr und Knecht) vollzieht, weil es auf Grund theologischer Substruktionen sicher ist, daß jede Spaltung von Ansich und Fürsich, jeder Widerspruch von gegenständlichem Bewußtsein und Selbstbewußtsein, von Substanz und Subjekt, von Theorie und Praxis, von Identität und Differenz in der Versöhnung einer höheren und schließlich in der höchsten, der göttlichen Identität aufgeht. Der konkrete Phänomenbereich von Herrschaft und Knechtschaft und die spezifische Situation des Knechtes jedenfalls werden in dieser generellen Konstruktion überschlagen. Die künstliche Konstruktion schöpft nicht aus den Phänomenen der Soziodialektik. Der beschriebene Widerspruch und seine Aufhebung sind zu generell. Sie ließen sich unschwer auch auf die Situation des Herrn anwenden. Auch das auseinanderfallende Bewußtsein des Herrn kann in die Freiheit des

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Denkens aufsteigen; denn er erleidet und erfährt formal denselben Widerspruch wie der Knecht. An sich besitzt er Selbständigkeit, insofern er von den Dingen unabhängig geworden ist. Aber er kann darin nicht für sich werden, weil er de facto vom Knechte abhängt. Das ist formal derselbe Auseinanderfall, der sich in derselben Synthesis heilen ließe. Und tatsächlich rekrutiert sich der Stoizismus nicht ausschließlich aus dem sozialen Stande der Sklaven. Er beweist gerade dadurch die Stärke seiner Wahrheit, daß der stoische Geist auch die Machthaber dieser Welt ergreift. Gewiß, im Hintergrunde der Hegeischen Konstruktion steht eine historische Rücksichtnahme, die zur These verleitet, der Stoizismus könne als allgemeine Form des Weltgeistes nur in der Zeit einer allgemeinen Furcht und Knechtschaft auftreten. Aber die Steigerung zum Denken geht nicht ausschließlich über den Knecht, sondern ebenso über den Herrn. Das Bewußtsein hat unangesehen seiner sozialen Rolle in der Welt gelernt, „wie auf dem Throne so in den Fesseln, in aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseins frei zu sein" (PhdG 153). Und es läßt sich absehen, daß die Gedankenfreiheit des Denkenden und die stoische Weisheit die tatsächliche Unfreiheit des Knechtes und die faktische Machtstellung des Herrn nicht im mindesten beseitigen. In der Synthesis des Stoizismus werden die realen politischen und sozialen Gegensätze zwischen Herr und Knecht nicht versöhnt, sondern verdrängt, und sie werden in Skeptizismus und unglücklichem Bewußtsein noch tiefer in die Innerlichkeit einer mit sich ringenden Seele abgeschoben. Daraus ergibt sich: Der Ubergang zu den höheren Bewußtseinsgestalten des Selbstbewußtseins läuft über den Auseinanderfall und die Verzweiflung des knechtischen Bewußtseins; aber eine so verlaufende Aufhebung von Herrschaft und Knechtschaft im Stoizismus und dessen Folgen (dem Skeptizismus und unglücklichen Bewußtsein) bedeutet nicht einmal einen der berühmt-berüchtigten Umwege des Geistes, sondern schlechtweg eine dialektische Fehlkonstruktion und einen soziologischen Irrweg.

7. Kapitel: Die stoisch-skeptische Verdrängung des gesellschaftlichen Widerspruchs Die höhere Wahrheit, welche den vergangenen Antagonismus von Herrschaft und Knechtschaft aufhebt, heißt Stoizismus. Eine Untersuchung dieser Aufhebung hat drei Fragen zu verfolgen. Was ist der Inhalt stoischer Wahrheit? Inwiefern hebt sie die Ansprüche von Herr und

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Knecht im Dreisinne von negatio, conservado, elevado auf? Wohin vergehen, wenn auch diese Wahrheit vergeht, die in ihr aufgehobenen Momente von Herrschaft und Knechtschaft? Nach dem Untergange der Wahrheit des Knechtes ergreift der Stoiker im Dialog über die höchste Wahrheit das Wort und erklärt: Das einzig Wahre und höchste Gut ist das denkende Bewußtsein; das Falsche und Schlechte sind die Zwänge von Begierde und Leidenschaft, von Macht und Furcht. Das Denken bewältigt den Andrang der Welt und hebt über die Zwänge der anderen. Es stiftet Ubereinstimmung zwischen mir und der Welt, und es schenkt den Denkenden Freiheit. Das Denken als solches ist die Form der Allgemeinheit. Weil aber nun alles in der Form der Allgemeinheit erfaßt werden kann, kann die Welt als Denken gefaßt und Ubereinstimmung zwischen meinem Denken und allen Dingen hergestellt werden. Das denkende Bewußtsein bietet zudem ein unangreifbares Asyl der Freiheit. In ihm herrscht die von keinem Zwang und keinerlei Gewalt erreichbare Gedankenfreiheit. Unfreiheit besagt allgemein, abhängig sein durch den Bezug auf ein anderes, das ich nicht bin und das mich bestimmt. So war der Knecht unfrei, sofern und solange er sein wesenhaftes Selbstbewußtsein in einem anderen, dem Herrn, hatte. Der Denkende dagegen ist überhaupt nur denkend, wenn er bei Gedanken ist. Weil die Gedanken (das Seiende in der Form der Allgemeinheit) aber von ihm Gedachtes sind, so ist der Denkende im anderen bei sich selbst, und er bleibt mit sich selbst gleich und in Ubereinstimmung. Wie aber steht es auf der Höhe und innerhalb der Zwanglosigkeit reiner Gedankenfreiheit mit den höchst realen Zwängen von Herrschaft und Knechtschaft? Die Einlassung der Phänomenologie des Geistes lautet: „Dies Bewußtsein ist somit negativ gegen das Verhältnis der Herrschaft und Knechtschaft; sein Tun ist, in der Herrschaft nicht seine Wahrheit an dem Knechte zu haben, noch als Knecht seine Wahrheit an dem Willen des Herrn und an seinem Dienen, sondern wie auf dem Throne so in den Fesseln, in aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseins frei zu sein und die Leblosigkeit sich zu erhalten, welche sich beständig aus der Bewegung des Daseins, aus dem Wirken wie aus dem Leiden, in die einfache Wesenheit des Gedankens zurückzieht" (PhdG 153). Dieser Befund über die Aufhebung von Herrschaft und Knechtschaft durch das stoische Bewußtsein ist vielsagend. Er muß beim Wort genommen werden. Das einzelne Selbstbewußtsein auf der Stufe des Stoizismus ist negativ gegen das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft. Das besagt: Das

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Verhalten von Herr und Knecht ist ihm unwichtig und wesenlos geworden. Für den Stoiker sind soziale Rangverhältnisse und Machtstellungen in ihrer Einzelheit etwas Akzidentelles, Zufälliges, Unwahres. Darum verzichtet der stoische Weise darauf, in der Zufallsrolle des Herrn seine Wahrheit an dem Knecht zu haben. Er übt an ihm keine unterjochende Macht aus und stellt ihn nicht in den Dienst seiner Genußsucht. So hatte der Imperator Marc Aurel begriffen, daß wahre Herrschaft auf Selbstbeherrschung beruht, die sich von allem Sinnengenuß und allen Machtgelüsten abtrennt. Und in der Zufallsrolle des Knechtes stellt der stoische Weise sein Handeln und Denken nicht in den Willen und in den Dienst des Herrn. So war der Sklave Epiktet zur Einsicht gekommen, daß die einzige Sklaverei in der Unterwürfigkeit eines Geistes besteht, der sich von inneren Leidenschaften und äußeren Zwängen beherrschen läßt, anstatt sie durch die Souveränität einer Denkfreiheit abzuschütteln. Mithin erscheint der Stoiker auf dem Thron wie in Fesseln, als Imperator wie als Sklave, frei, nämlich innerlich los von Begierden und Leidenschaften und äußerlich los von der Furcht des weltlichen Herrn. Der Stoizismus verhält sich somit negativ gegen Herrschaft und Knechtschaft. Wie aber vollbringt sich diese Negation? Offenkundig nicht durch eine soziale Revolution. Stoiker stürzen die Welt in ihrem Gesellschaftsbau nicht um, etwa dadurch, daß sie das Eigentumsverhältnis abschaffen, die Knechtsarbeit vermenschlichen oder gar die Herrenklasse liquidieren. Der Status ihrer Freiheit basiert auf dem Gewinn und der Erhaltung einer gewissen , Leblosigkeit' (Apathie oder Ataraxie). Der Stoiker ist ,leblos', weil er auf all das Verzicht leistet, was den unmittelbaren Trieben, der lebendigen Empfindung angehört. Abgeschieden von den Umtrieben des Lebens, gewinnt er die Ruhe seiner Seele. Und der Stoiker erhält diese Leb- und Leidenslosigkeit in einem Prozeß des Abscheidens, im Rückzug aus der geschichtlich-konkreten Welt. Er zieht sich aus dem verteilten Wechselspiel von Wirken (des Herrn) und Leiden (des Knechtes) zurück und geht in die .einfache Wesenheit' des Gedankens ein. Der Gedanke nämlich ist einfach, d. h. nicht teilbar. Er bildet die unteilbare Einheit von Denkendem und Gedachtem, in welcher der Denkende als der Eine und Selbe ungeteilt in der Vielheit des Gedachten weilt. In der Welt des Denkens enden alle Verwirrung und aller Zwang. Hier haben Freiheit und lautere Abgeschiedenheit der Seele ihr Reich. Soweit ist der Satz aufgeklärt, das denkende Bewußtsein auf der Höhe des Stoizismus verhalte sich negativ gegen das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft. Aber was ist das für ein Verhalten, und von welcher

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Art ist die Negation, die Aufhebung der sozialen Ungleichheiten? Der stoische Weise ist ein abstraktes Subjekt. Indem er sich ganz auf sich selbst zurückstellt, steht er den Herrschaftsverhältnissen der Gesellschaft ebenso furcht- wie tatenlos — gleichsam mit gekreuzten Armen — gegenüber. In seiner Selbstgenügsamkeit hält er sich abstrakt, d. h. einseitig an die Sichselbst-Gleichheit des Denkens. Dem Denken des Denkers aber fehlt etwas, nämlich die gegenständliche Erfüllung. Der Endzweck des denkenden Bewußtseins ist das formale Zusammenstimmen des Geistes mit sich selbst — im Verschmähen der Existenz. Dieses negative Verhalten zur Welt und zur Gesellschaft bedeutet eine ausschließende, keine versöhnende Negation. Die Versöhnung von Herr und Knecht durch die Weisheit des Stoizismus hebt die Unterjochung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht auf. Sie leugnet zwar in Rede und Gesinnung die Willkür des einzelnen und die Urrealität der Gewalt, aber sie verändert die Wirklichkeit der zwischenmenschlichen Repressionen nicht. Sie löst den sozialen Antagonismus zwischen den Individuen nicht auf, sondern drängt ihn in die Innerlichkeit der vereinzelten Seele ab. Die Synthesis des sozialen Problems auf der Ebene des Selbstbewußtseins ist keine bewahrend-versöhnende Negation, sondern eine ausschließende Verdrängung. Die Momente realer Herrschaft und Knechtschaft sind nicht zu menschlicherer Gemeinsamkeit höhergehoben, sondern durch einen Rückzug aus der Welt zum Verschwinden gebracht. Was dem Individuum, sofern es weise genug ist, zu tun bleibt, ist, sich von der Weltverwirrung abzuwenden, um sich ins Innere, in die einfache Wesenheit des Gedankens, zurückzuziehen. Aber kann sich diese Wahrheit halten, oder endet ihr Absolutheitsanspruch ebenfalls im Widerspruch? Beansprucht der Stoiker, die absolute Wahrheit zu haben, dann muß er behaupten: Freiheit und Gleichheit des denkenden Bewußtseins ist schlechthin wahr; sie bildet die Freiheit, welche alle Wirklichkeit durchdringt und die Welt in einem System der Gedanken sublimiert. Dieser Anspruch des Stoikers auf Absolutheit wird von uns, dem philosophierenden Bewußtsein, befragt. Wie vollbringt und bewährt sich diese Wahrheit? Der Bescheid lautet: durch den Rückzug aus der materiellen Welt und deren oberflächlichen Verworrenheit in die ruhige Tiefe der denkenden Seele. Offenbar aber bleibt die so errungene Gedankenfreiheit formell und abstrakt. Sie bleibt formell, d. h. sie bringt es nur zur Form, nämlich der Ubereinstimmung des denkenden Subjekts mit sich selbst, ohne einen Inhalt zu gewinnen; denn sie verhält sich ja gleichgültig gegen das natürliche Dasein in der Welt. Und die Gedanken-

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freiheit bleibt abstrakt; denn sie erhebt einseitig das denkende Subjekt zum Prinzip — die sinnliche Weltfülle ist dem Stoiker das Negative, das er nicht negieren, sondern auf das er sich überhaupt nicht einlassen will. So aber scheitert der Stoizismus am Widerspruch zwischen Sagen und Tun. Er sagt, sein Prinzip sei das Wahre im Ausmaße des Absoluten. Er vollbringt diese Wahrheit, indem er sich aus der Welt der gemeinen Wirklichkeit zurückzieht. Dieser weitabgewandte Rückzug in die Innerlichkeit der vereinzelten Seele, die sich in sich konzentriert, ist die Stärke der stoischen Weisheit. Er ist aber zugleich ihre Schwäche und ihr Widerspruch. Der Stoiker, der seine Wahrheit im Rückzug aus der Welt durch die Tat beweist, ist eben darum unfähig, sie in der Welt auszubreiten und die gegebene Wirklichkeit mit seiner Freiheit zu durchdringen. Diese tatsächliche Abstraktheit seiner Position widerspricht dem konkreten Absolutheitsanspruch. Der Stoiker muß sich durch diesen Widerspruch geschlagen geben. Darum aber braucht die Position des denkenden Selbstbewußtseins nicht aufgegeben zu werden. An die Stelle des Stoikers tritt der Skeptiker. Er kommt der Generalthese von der Gedankenfreiheit im denkenden Bewußtsein durch seine Skepsis an die Realität der äußeren Welt zu Hilfe. Der Stoiker war darin halbherzig. Er hatte die Sinnenwelt nur als etwas für ihn Gleichgültiges negiert. Der Skeptiker dagegen läßt sie verschwinden. Er argumentiert alle Sicherheiten weg, welche die Realität der Außenwelt zu verbürgen schienen. Er erreicht dadurch eine äußerste Befestigung der Freiheit im Innenraum des Gedankens. Das denkende Bewußtsein bildet nunmehr ein unerschütterliches Fundament des Bei-sich-selbst-Seins; denn die Welt in ihrer sinnlichen Wirrnis und mit ihren gesellschaftlichen Umstürzen ist gar nicht real negativ, sondern nur wie ein verworrener Traum. Und so löst sich auch die Realität von Herrschaft und Knechtschaft in die Nichtigkeit eines Scheinverhältnisses und Traumspieles auf. Nun braucht diese Wahrheit des Skeptikers erst gar nicht in Frage gestellt zu werden. Ihr wird vom philosophierenden Bewußtsein keine Demonstration durch die Tat abverlangt, weil sie sich durch sich selbst in Frage stellt. Das skeptische Selbstbewußtsein demaskiert sich jeden Tag auf Schritt und Tritt durch den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Sagen und Tun. Theoretisch widerlegt der Skeptiker die Realität der Welt zugunsten eines unendlichen Ich, das nicht durch eine Welt außer ihm beschränkt ist. Praktisch läßt er die Welt - gleich dem natürlichen Bewußtsein — über sein empirisches Ich herrschen. Theoretisch bleibt er auf Grund seines unendlich-unwandelbaren Denkens von der nicht-

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existenten Sinnenwelt unberührt und rein, praktisch wird er doch von Begierden bedrängt und ist in dieser unausweichlichen Bedrängnis ein wandelbares Sinnenwesen. Dieser Widerspruch zwingt dem Bewußtsein eine leidvolle Erfahrung auf. Es lebt gar nicht, wie vermeint, in der Einfachheit des Gedankens, sondern es zeigt sich an ihm selbst doppelt und zerklüftet. Im Stoizismus wandte sich das Bewußtsein von der Welt und ihren Entzweiungen ab, um sich in die Tiefe der Seele zu versenken. Sie hat sich durch den Skeptizismus vor ihren zwiespältigen Abgrund gebracht. Das Bewußtsein erfährt, daß seine Seele in ein unwandelbares, reines Ich und in ein wandelbares, empirisches Ich zerrissen ist. Als das Unwandelbare bleibt es von allem Weltwandel unberührt und frei, als Wandelbares läßt es sich durch Begierden und Leidenschaften verwirren und in die Zufälle der Welt verstricken. An dieser Spaltung leidet das Ich, sobald es denkt. Das denkende Bewußtsein nun, das sich dieser Zerspaltung bewußt wird und daran leidet, heißt unglückliches Bewußtsein. Das unglückliche Bewußtsein bildet die letzte Erscheinung des Geistes auf der Stufe des Selbstbewußtseins und im Horizonte der Endlichkeit. Von diesem Endpunkte aus läßt sich die Verdrängung der weltlichen Entzweiung zwischen Herr und Knecht als eine Verinnerlichung des sozialen Gegensatzes überschauen. Herrschaft und Knechtschaft bildeten die einseitige Einheit und umschlagende Bewegung eines Wir im ungleichen Anerkennungsverhältnis entgegengesetzer Individuen. Die Entzweiung und Verdoppelung des Selbstbewußtseins verteilte sich hierbei auf einzelne, leibhaft leidende und wirkende Individuen. Sie wurde in der Einheit einer antagonistischen Korrelation zusammengehalten und bewegt. Der Stoizismus hat diese weltliche Entzweiung nicht versöhnt, sondern verdrängt. Sein Bewußtsein zieht sich in den unangreifbaren Innenraum der Gedankenfreiheit zurück. Es ist darin vom Skeptiker gestützt worden, der die Wirklichkeit der Welt grundsätzlich in die Klammer des Zweifels setzt. Aber die s o überwunden geglaubte Entzweiung bricht nur um so rückhaltloser im offenbaren Widerspruch wieder auf, dem aller Skeptizismus erliegt. Dabei ist die Verdoppelung und Entzweiung des Selbstbewußtseins innerlich geworden. Sie erscheint jetzt als die Gespaltenheit der Einzelseele. D i e skeptische Seele hat solche Verdoppelung an ihr selbst; sie ist an sich in den Kampf einer übersinnlichen und einer sinnlichen Gesinnung verwickelt. Freilich, der Skeptiker leidet nicht an diesem Zwiespalt, er verweigert darüber mit robustem Flachsinn die Rechenschaft. Das unglückliche Bewußtsein dagegen ist nichts anderes als das

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Fiirsichgewordensein, d. h. das Bewußtsein von und das Leiden an dieser Zerspaltenheit. So ist das Unglück in der Welt innerlich geworden. Das Ringen zwischen Herr und Knecht ist das Ringen zwischen der begierdehaften und der vernunfthaften Seele in mir selbst, zwischen einer diesseitig-sündigen und einer jenseitig-erhabenen Seele in jedem einzelnen Ich. Die Phänomenologie des Geistes von 1807 läßt das soziale Problem von Herr und Knecht ungelöst verschwinden. Aus ihrem Widerspruch entwickelt sich nicht — wie noch in den Jenaer Systementwürfen — geradlinig der Zustand des Rechts. Offenbar stiftet eben weder die Befreiung des Knechts von der Selbstunterwerfung unter den Herrn und die Dinge noch seine Erhebung ins denkende Bewußtsein einen freien gesellschaftlichen Zustand. Die dialektische Umkehr des Knechts vom Knecht des Herrn zum Herrn seiner selbst, das im Bewußtsein eigenen Könnens gestiegene Selbstbewußtsein, welches der Vernichtung durch das Nichts der Andersheit standhält, konstituieren keineswegs von sich aus den Geist eines herrschaftsfreien Gemeinwesens. Daher genügt es nicht, den Abbruch der sozialen Problematik als ein Fallenlassen von Problemfäden zu konstatieren, die später wieder aufgenommen werden. Man insinuiert doch die Beliebigkeit einer äußerlich reflektierenden Methode, welche die Sache nicht aus ihrer inneren Notwendigkeit, sondern nach der äußerlichen Übersichtlichkeit ihrer Darstellung fortgehen läßt, wenn man erklärt, Hegel wolle offenbar zuerst die Linie des einzelnen und insofern abstrakten Selbstbewußtseins weiterführen, bevor er auf die durch den Knecht markierte Phase der Anerkennung in der Entfaltung des Rechtszustandes zurückkomme 98 . Muß denn nicht demgegenüber bedacht werden, was es für den Aufstieg des Selbstbewußtseins bedeutet, daß die dem knechtischen Bewußtsein folgenden höheren Gestalten des Geistes die in ihrer Härte unvermittelten Widersprüche abdrängen und durch eine schrittweise Verinnerlichung der sozialen Konflikte auf eine radikale religiöse Entfremdung zusteuern, um durch den notwendigen Umschlag' des zutiefst unglücklich gewordenen Bewußtseins zur unendlichen Vernunft des religiös durchstimmten Bewußtseins aufzusteigen ? Heißt das nicht, das Heil in der Welt, die Befriedung der sozialen Kämpfe, sei erst zu erwarten, wenn das Bewußtsein gelernt habe, Umwelt und Mitwelt in einem neuen Lichte zu sehen? 98

So erklärt die Durchsicht N . Hartmanns in seiner großen Darstellung „Die Philosophie des Deutschen Idealismus". Berlin 1960. 2. Auflage. Band 2 S. 335ff. diese Problemzäsur. Entsprechend und eingehender neuerdings J . Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes". Bonn 1974. S. 190ff.

Die theologische Transposition des unglücklichen Bewußtseins

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Im Lichte der absoluten Vernunft soll das Ich eine neue Welt entdecken, nämlich die Gegenständlichkeit als realisierte Vernunft. Dann freilich wäre zur Gewißheit geworden, daß alles Wirkliche (alle Realität) vernünftig ist. Und dann würden alle Antagonismen in der Geschichte und alle Ungleichheiten der menschlichen Gesellschaft im Grunde versöhnt erscheinen, der endlichen Subjektivität entrissen und den Objektivationen des göttlichen Geistes anvertraut. Der Weg aus dem Selbstbewußtsein mit seinen Spannungen von Herrschaft und Knechtschaft zum Gemeinwesen göttlicher Vernunft aber führt vor den Abgrund des unglücklichen Bewußtseins.

8. Kapitel: Die theologische Transposition von Herr und Knecht in der Gottesknechtschaft des unglücklichen Bewußtseins Der fragwürdige Umschlag des Selbstbewußtseins zur Vernunft resultiert aus der dialektischen Bewegung des unglücklichen Bewußtseins. Dieser dunkel gärende Prozeß, der mit dem Aufleuchten der Vernunft endet, muß wenigstens in seinen Grundzügen ins Klare gebracht werden. Dafür sind wiederum drei Fragen zu bewältigen. Was ist das überhaupt für ein Phänomen des Selbstbewußtseins, das Hegel unglückliches Bewußtsein nennt? In welchem Tun sucht es seine Wahrheit zu vollbringen? Wodurch werden denn die Entzweiungen dieser letzten Gestalt des Selbstbewußtseins — und damit alle seine Antagonismen — geheilt? Die Hinsicht, die solches Fragen leitet, bildet die Uberprüfung des Selbstbewußtseins in seinem Ende, und das heißt zugleich die Auflösung und Aufhebung der für das Selbstbewußtsein konstitutiven Anerkennungsverhältnisse von ego und alter ego bzw. von Herr und Knecht. Diese Perspektive wird Hegels Leitlinie zu verfolgen haben, nämlich das endgültige Herausringen der Individualität und die Selbstaufopferung des Einzel-Ich. Und sie wird eine Übertragung transparent machen müssen: die Transformation der zwischenmenschlichen Verhältnisse von Herr und Knecht in das religiöse Verhältnis zwischen dem jeweiligen Selbstbewußtsein (als dem Bösen) und Gott. Die Umrisse des unglücklichen Bewußtseins werden in den Grundworten plastisch, die es prägen. Dabei fallen immer noch die Worte Kampf und Macht, Genuß, Begierde, Arbeit, und es kommen wiederum Bestimmungen der Anerkennung und Freiheit zum Zuge; denn die Bewegung des unglücklichen Bewußtseins ist ja immer noch in die Dialektik des Selbstbewußtseins und in den Prozeß des Anerkennens einbehalten. Neu und

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umprägend aber sind die Konzepte, in denen das unglückliche Bewußtsein sein Wesen in der Welt zu vollbringen sucht: Andacht oder das gestaltlose Sausen des Glockengeläuts, unendliche Sehnsucht oder der Kreuzzug zum Grabe, das Danken und das Arbeiten, das äußere Opfer, das Fasten und Kasteien, das Brüten über der Sünde, die Ergebung in den Rat des Mittlers zwischen Diesseits und Jenseits etc. Unüberhörbar kommt in diesen Grundbegriffen das christliche Bewußtsein des römisch-katholischen Mittelalters zur Sprache. Aber auch das ist nur wie die antike Sklavenhaltergesellschaft bei Herrschaft und Knechtschaft ein Beispiel, nicht die Sache des unglücklichen Bewußtseins überhaupt. Zur Erscheinung gebracht wird ein epochales Grundphänomen des Bewußtseins, welches die Existenz des Menschen weithin betrifft und tatsächlich elend macht. Das unglückliche Bewußtsein hat seine Wurzel in dem Gegensatz, der jetzt erst seine ganze Ausschließlichkeit zur Geltung bringt, in der Kluft zwischen dem Einzelnen, ,Wandelbaren' (αίσθητόν) und dem Allgemeinen, .Unwandelbaren' (νοητόν). Sieht man auf diese Dichotomie, dann erscheint das unglückliche Bewußtsein als die Gestalt des abendländischen, christlich-platonischen Menschentums vor der erlösenden Verkündigung der spekulativen Philosophie und ihrer Neuschöpfung der Welt. „Das unglückliche Bewußtsein ist das Bewußtsein seiner als des gedoppelten, nur widersprechenden Wesens" (PhdG 158). Es ist Bewußtsein einer Entzweiung. Es fühlt sich in ein wandelbares und in ein unwandelbares Bewußtsein gespalten, und es starrt derart fassungslos auf diesen Chorismos, daß es die Identität des Entgegengesetzen nicht faßt. Weil das unglückliche Bewußtsein diese entgegengesetzten Mächte in sich nicht zur Einheit der Selbigkeit zusammenbringt, deshalb erscheinen sie ihm zwangsläufig als getrennte, einander fremde Gegenmächte. Diesem Bewußtsein ist das Unglück der Gespaltenheit, unter der jede menschliche Seele leidet, die letzte Wahrheit. Dabei reserviert das unglückliche Bewußtsein das Wandelbare gleichsam für sich selbst; denn es sieht sich ja selber hin- und hergerissen und so wandelbar. Das entgegengesetzte Andere verleiht der Mensch dagegen einem jenseitigen Wesen, Gott. Das Unwandelbare, das sich nicht wandelt und bald so, bald anders zeigt wie alles Sinnliche, ist Attribut des Ubersinnlich-Jenseitigen. Somit findet sich das Selbstbewußtsein in die extreme Entzweiung zwischen dem wandelbaren, d. h. der Vergänglichkeit ausgesetzten Diesseits und einem erhabenen, wandellosen Jenseits eingelassen, und es setzt sich unmittelbar dem Gegensatz zwischen dem sinnlich Einzelnen, dem individuellen Ich, und dem unsinnlich Allgemeinen, Gott, aus. Es urteilt dabei so: Das

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Vergängliche und Unwesentliche in diesem Verhältnis bin ich, das Wesentliche ist das unwandelbare Jenseitige; ihm gilt meine ganze Hoffnung und Sehnsucht. Das in sich gedoppelte, zwiespältige Bewußtsein ist auch zwiespältig gestimmt. Es lebt in der Befindlichkeit von Schmerz und Hoffnung. Das Bewußtsein der Zerspaltenheit ist ein Schmerz über die empfundene Kluft zwischen dem nichtig-kreatiirlichen und erhaben-göttlichen Sein, der tiefer geht als Weltschmerz und romantische Zerrissenheit. Diese modernen Abarten des Schmerzes genießen die Entzweiung mehr, als daß sie daran leiden. Sie geben sich zu aufgeklärt, um wirkliche Höllenqualen und die Verworfenheit der Sünde zu empfinden. Andererseits fühlt sich das unglückliche Bewußtsein von der Hoffnung durchstimmt, das sinnliche Dasein zu überwinden und die ersehnte Einheit mit dem Göttlichen zu erringen. Dafür wendet das unglückliche Bewußtsein alle Kraft an, „sich von dem Unwesentlichen, d. h. sich von sich selbst zu befreien" (PhdG 159). Darin gipfelt das Freiheitsstreben allen Selbstbewußtseins. Seine Bewegung bildet die Klimax einer immer höher steigenden und verstiegenen Vernichtung der individuellen Einzelheit und des Eigenwillens. Der Herr sucht die Anhänglichkeit an sein natürliches, unmittelbares Dasein im Uberwinden der Angst ums Leben loszuwerden; der Knecht rottet seinen Eigenwillen im Gehorsam der Zucht und Bilden der Arbeit aus; der Stoiker setzt auf die Freiheit des denkenden Bewußtseins und erhebt sich so über die Umtriebe der Welt. Das unglückliche Bewußtsein steigert diesen Prozeß der Selbstbefreiung ins Äußerste. Es ist nichts anderes als „der Kampf der absoluten Befreiung des in sich entzweiten Bewußtseins" (PhdG 177). Jetzt dreht es sich nicht mehr bloß darum, durch Katharsis von Eigenwillen und Selbstsucht ein freies Anerkennungsverhältnis zwischen Menschen im Medium eines allgemeinen Selbstbewußtseins zu erringen. Es geht jetzt darum, daß das Selbstbewußtsein gänzlich von sich, seiner Endlichkeit und Nichtigkeit frei wird, um mit dem Wesenhaften, dem unwandelbar Göttlichen eins zu werden und zur Einsicht der Vernunft zu kommen. Der Dialog mit dem unglücklichen Bewußtsein beginnt in der Frage des philosophierenden Bewußtseins: Wie vollbringt dieses neue Absolute seine Wahrheit? Worauf stützt das unglückliche Bewußtsein die Unbedingtheit seines Hoffens? Die erste Antwort und die Thesis des unglücklichen Bewußtseins lautet: Alles beruht auf der Andacht eines ,reinen Bewußtseins'. Reines Bewußtsein meint dabei das fromme Gemüt, das

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sich von allem Irdischen ab- und andachtsvoll dem Göttlichen zuwendet. Andacht ist eine Erhebung über das Irdische. Der Andächtige vergißt seine besonderen Interessen. Er versenkt sich mit dem Herzen in seinen Gegenstand und sucht im Göttlichen aufzugehen, um darin zu sich selbst zu gelangen. So verhält sich das andächtige Bewußtsein zwar zum Absoluten, aber nicht in der Deudichkeit des Begriffs, sondern in der gestaltlosen Unbestimmtheit des Gefühls. Hegel hat die Andacht metaphorisch abschätzend als musikalisches Denken umschrieben, als warme Nebelerfüllung oder als das gestaltlose Sausen des Glockengeläutes. Andacht bringt es eben nicht zu klarem Denken, sie bleibt ein bloßes DaranhinDenken, das sich wie von selbst mit der Sehnsucht verbindet. Sehnsucht ist in wesenhafter Differenz zu Streben und Wollen ein Hinausgehen ins Weite und Unbestimmte. Der Andächtige, der das Göttliche nicht spekulativ begreift, sondern als ein Erhabenes sinnlich-undeutlich erfühlt, geht sehnsuchtsvoll aus sich heraus. Und er fühlt sich darin schon befriedigt, diese Sehnsucht in sich zu haben; denn alle Art Sehnsucht befriedigt sich im Sehnen selbst, nicht in der Erfüllung. Und so scheint das unglückliche Bewußtsein bereits seiner eigenen Nichtigkeit enthoben. Die Bewegung von Andacht und Sehnsucht bringt es zur Gewißheit, „daß sie von diesem Gegenstande ebendarum, weil er sich als Einzelheit denkt, erkannt und anerkannt wird" (PhdG 163 —64). Das Ich-Du-Verhältnis zwischen Menschen erhebt sich zu einem Ich und Du zwischen Mensch und Gott. Der einzelne existiert als der von Gott persönlich Erkannte und Anerkannte. Der jenseitige Gott wird dem andächtigen Gefühl, das ja nur sinnlich, d. h. Einzelnes vorstellen kann, als ein Einzelner gegenwärtig. Und dieser, der wahre Herr, anerkennt den unwürdigen Knecht als zu ihm gehörig. Der Andächtige ist gewiß, daß der Herr ihn zu den Seinigen zählt. Indem aber das unglückliche Bewußtsein seine Wahrheit in der Andacht bewährt, entwährt es sie; denn es „hat statt das Wesen ergriffen zu haben, nur die Unwesentlichkeit ergriffen" (PhdG 164). Solcher Rückfall gründet eben darin, daß der Gottesbezug des Subjekts sinnlich-fühlend ist. Dem Andächtigen erscheint daher das Jenseitige als ein sinnlich Einzelnes in räumlich-zeitlicher Wirklichkeit. Das Jenseitige aber läßt sich nicht als Einzelnes und Wirkliches in Raum und Zeit ergreifen. An diesem Widerspruch erfährt das unglückliche Bewußtsein die Tragödie einer Selbsttäuschung. Das germanisch-barbarische Dringen auf sinnliche Gewißheit, verknüpft mit der andachtsvollen Sehnsucht religiösen Gefühls, das ist der unselige Geist der Kreuzzüge. Ein Streben, welches das Jenseits mit

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Inbrunst als wirklich Gegenwärtiges sucht, findet nicht den lebendigen Gott, sondern nur das Grab seines Lebens. Statt des wahren, jenseitigen Lebens hat es nur ein diesseitiges Grab gefunden und wieder verloren. Statt sich mit dem Wesentlichen und Unwandelbaren zu vereinigen, hat das Bewußtsein nur sich selbst, seine sinnliche Einzelheit gefühlt und sich im eigenen Sehnen gesättigt. Die Verkehrung des andachtsvollen reinen Gemüts ruft eine entgegengesetzte Existenzweise des unglücklichen Bewußtseins herauf. Diese sucht die erstrebte Vereinigung mit Gott nicht nur durch Andacht und Sehnsucht, sondern durch Arbeit und Danken zu erreichen. Sie stellt als Imperativ nicht mehr das ,ora!', sondern das ,labora!' auf. Im Gefühl des religiösen Bewußtseins, das sich von den fremden Dingen dieser Welt reinigen will, kommen elementare Momente des Selbstbewußtseins wieder zutage, nämlich Begierde und Arbeit. Natürlich erscheint Begierde nicht mehr als die hemmungslose Negation und Einverleibung aller Realität aus Gier nach sich selbst und Arbeit nicht mehr als Selbst-Bildung des Knechtes. Es ist ja nunmehr ein gebrochenes, chrisdiches Bewußtsein, welches sich als Begierde und Arbeit gegen die Wirklichkeit verhält. Ihm ist die zu genießende Welt einerseits das nichtige, sinnlich-sündige Diesseits, andererseits aber eine geheiligte Schöpfungswelt, in welcher der unwandelbare Gott seine Gestalt preisgegeben hat und die dem Menschen zum Genuß, zur Betätigung und Meisterung überlassen worden ist. Und damit wandelt sich auch der Sinn von Genuß und Arbeit. Die bildende Arbeit kann nicht mehr als Vermögen verstanden werden, durch das der Mensch seine eigene Selbständigkeit und seinen Geist in der von ihm formierten Welt wiederfindet. Alle Kräfte und Fähigkeiten, mit denen sich der Mensch die Natur untenan macht, erscheinen dem religiösen Gemüt als Gaben, die er Gott schuldet. Die Substanz von Arbeit und Genuß wird das Danken. Das Danken konstituiert eine neue Variante der Anerkennung. Danken ist ja ein inneres Anerkennen des Anderen als eines Wohltäters. Im Danken versagt es sich das religiös gestimmte Ich, seine Selbständigkeit in der Leistung seiner Arbeit zu suchen. Es erkennt dankbar an, daß seine Fähigkeiten Gaben des Herrn sind. So scheint — auf der Basis einer gegenseitigen Anerkennung — eine Einheit, ein Pakt zwischen Mensch und Gott zu entstehen. Gott gibt die Welt dem menschlichen Tun und Genießen preis, der Mensch erkennt im Danken seine Kräfte als Gottesgaben an. In diesem .dankenden Anerkennen' scheint das Unglück des Bewußtseins, der Gegensatz seiner Einzelheit zur Absolutheit Gottes, überwunden.

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In Wahrheit aber gibt das Bewußtsein seine wirkliche Einzelheit und Diesseitigkeit nicht auf. Es leistet zwar theoretisch auf seine Macht über die Dinge Verzicht, aber es gibt deren Besitz und seine Befriedigung im Genuß praktisch nicht preis. Diese betrübliche Diskrepanz zwischen Sagen und Tun greift auch das Danken selbst an. Im Danken als der inneren Anerkennung eines Höheren, des absoluten Herrn, durch Herz, Gesinnung, Mund wird das eigene Selbst erniedrigt. Weil aber doch der Dank mein Tun und gleichsam die freiwillige Gegengabe des Menschen ist, darum gibt sich der Eigenwille nicht auf. Der Mensch behält, obwohl er das Seinige für das Unwesentliche erklärt, seine äußere Eigenheit in Besitz und Genuß und seine innere Eigenheit im eigenwilligen Danken. Diese Erfahrung treibt das unglückliche Bewußtsein zu einer dritten Anstrengung, sich von sich selbst zu befreien, nun nicht mehr auf dem Wege sehnsuchtsvoller Andacht und leerer, unwahrhaftiger Danksagung, sondern durch wirkliche Aufopferung von Eigenwillen, Eigentum und weltlichem Genuß. Jetzt soll der Eigenwille in seiner Wurzel, d. h. in seinen animalischen Begierden ausgerottet werden. So spürt das unglückliche Bewußtsein in seinen tierisch-leiblichen Funktionen, vor allem natürlich im Geschlechtsleben, sein Unglück auf. Diese erscheinen ihm weder in der Unschuld des Tierhaften noch in der Überlegenheit des Geistes, für den die Leibesfunktionen das Gleichgültige sind. Sie bedrängen ihn als die Schuld eines gottabgewandten Bewußtseins, als Verunreinigung und Sünde. Darum sucht es Freiheit, indem es die teuflische Verführung des Leibes bekämpft und abtötet. Offenbar aber kommt das Bewußtsein dadurch niemals zu einem unbefangenen, sich frei und reich entfaltenden Selbstverhältnis. Es entsteht eine verkümmerte, „sich bebrütende, ebenso unglückliche als ärmliche Persönlichkeit" (PhdG 169). Das unglückliche Bewußtsein fühlt sich in dieser Erfahrung dem Unwandelbaren ganz entgegengesetzt und von ihm ausgeschlossen. Ein Zusammenschluß scheint nur noch durch einen Vermittler möglich, durch einen des Jenseitigen kundigen, ihm geweihten, reinen Diener. Dieser dient dem zerknirschten Bewußtsein „mit seinem Rate über das Rechte" (PhdG 169). Der Rat dieses Mittlers zwischen Diesseits und Jenseits rät zu Demut, Armut, Opfer und Abstinenz. In einer dadurch geprägten Existenzform lernt das unglückliche Bewußtsein, auf seinen Eigenwillen zu verzichten. Es legt den eigenen Willen ab, indem es sich demütig in das vom Mittler Geratene gibt. So läßt es vom äußerlichen Eigentum, indem es Opfer bringt, und es versagt sich den Genuß durch Fasten. Darin verschwindet der Betrug leerer Danksagung, welche Gott als den alles Geben-

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den halbherzig anerkennt, um sich kräftig und begierdehaft in der Welt auszubreiten. Nunmehr hat sich der Mensch als sündig-nichtiger Knecht Gottes ganz in den vorbehaltlos anerkannten, heiligen Willen ergeben. Und damit scheint der Kampf zwischen dem tierischen und dem götdichen Teil in uns zu Ende und das unglückliche Bewußtsein in freudiger Entsagung beseligt zu sein. Indessen ist die unglückliche Entzweiimg bloß einfach negiert und nicht vermittelt. Sie bricht deshalb nur um so härter wieder auf. Das zeigt sich vordringlich in der Negation des Eigenwillens. Der Wille des sündigen Knechtes opfert sich im Vollbringen der absoluten Demut und Obödienz auf, in Anerkennung des Herrn, dessen Wille geschehe. Aber dieser allgemeine Wille, in dem sich der Individualwille aufgibt, bleibt fremd und jenseitig, weil er durch eine fremde Macht, den Rat-Geber, vermittelt ist. Und solch einfach negative Bedeutung hat auch das Aufgeben von Besitz und Genuß. „Ebenso sein Aufgeben des Besitzes und Genusses hat nur dieselbe negative Bedeutung, und das Allgemeine, das für es dadurch wird, ist ihm nicht sein eignes Tun" (PhdG 171). So endet alle Mühsal des unglücklichen Bewußtseins in einem grandiosen Widerspruch. In einer dreifachen Anstrengung, durch Andacht, Dank und Aufopferung, sucht es Versöhnung mit Gott. Es treibt ebendadurch die Entzweiung ins Äußerste. Denn am Ende stellt sich das Wahre und Göttliche als ein fremdes Jenseits heraus, von dessen Position der sich erniedrigende und negierende Knecht Gottes ausgeschlossen bleibt. So ist das Bewußtsein .absolut auseinandergehalten'. Es zerfällt in äußerste Extreme, in ein nichtiges Diesseits und ein erhabenes Jenseits. Eben dieser extreme Auseinanderfall schlägt in die innigste Einheit, in die Wahrheit der Vernunft, um. Der Schritt, der in die Gewißheit der Vernunft hineinführt, besteht in der radikalen Negation des Individualwillens. Die Bewegung des unglücklichen Bewußtseins „hat dies an ihm vollbracht, die Einzelheit in ihrer vollständigen Entwicklung, oder die Einzelheit, die wirkliches Bewußtsein ist, als das Negative seiner selbst, nämlich als das gegenständliche Extrem gesetzt oder sein Fürsichsein aus sich hinausgerungen und es zum Sein gemacht zu haben" (PhdG 175). Notwendige Bedingung für den Aufgang der Vernunft ist der Untergang des Selbstbewußtseins in seiner Einzelheit. Und eben dieses Sein des Einzelnen ist jetzt vollständig entwickelt und destruiert. Es ist Schritt für Schritt in den Wirksamkeiten seines Eigenwillens negiert. Das Selbstbewußtsein hat im unglücklichen Bewußtsein den partikulären Willen endgültig außer sich gesetzt und entäußert. Dadurch ist das Fürsichsein des

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Einzelnen als eines solchen zum Sein gemacht; denn ein Selbstbewußtsein, dessen Sich-selber-WoUen entäußert ist, ist wie ein Ding oder Objekt. Darüber soll die Entwicklung des Selbstbewußtseins belehren: Nur dann lassen sich die Entzweiungen zwischen Menschen und das Unglück der Selbstzerspaltung überwinden, wenn die Einzelheit und Jeweiligkeit des Daseins in der Wurzel ausgerottet, d. h. zum Sein gemacht ist. Erst dann stehen das wahre Wesen und die Freiheit des Menschen nicht mehr in Gefahr, verdinglicht und entfremdet zu werden, wenn umgekehrt das unwahre Wesen, die Eigenmächtigkeit und Selbstsucht, entäußert und verdinglicht worden ist. Ineins damit ereignet sich die Versöhnung im Zuspruch der Vernunft. Diese sagt zum unwandelbaren Bewußtsein: Das Einzelne ist nicht mehr dein Gegner, es hat ja auf seine Einzelheit und Endlichkeit Verzicht getan. Und sie sagt zum Ich in seiner Unterschiedenheit: Das Unwandelbare fällt gar nicht außer dich, es ist in dir, und du bist darin aufgehoben. Das Unglück des Bewußtseins, seine Enttäuschung und sein Selbstbetrug beruhen doch darauf, daß es das Allgemeine und Wesentliche nicht in sich, sondern in einem Jenseits und einer Hinterwelt sucht. Im letzten Zuspruch geht dem Ich ein Licht darüber auf, daß Diesseits und Jenseits, Einzelnes und Allgemeines, Welt und Gott nicht Gegensätze sind. Dies inspiriert die ,zweite Schöpfung' der Welt. Das Selbstbewußtsein gewinnt ein gänzlich gewendetes Weltverhalten. „Es ist ihm, indem es sich so erfaßt, als ob die Welt erst jetzt ihm würde; vorher versteht es sie nicht; es begehrt und bearbeitet sie, zieht sich aus ihr in sich zurück und vertilgt sie für sich" (PhdG 176). Auf allen Stufen des Selbstbewußtseins galt dem Bewußtsein die Freiheit und Selbständigkeit des Ich als das Wesentliche, die Welt dagegen als das Unwesentliche und Nichtige, das Nicht-Ich. Für das Selbstbewußtsein der Begierde war die Umwelt das Reservoir des Verzehrs und die Mitwelt das Feindlich-Niederzuschlagende. Für das Bewußtsein des Knechtes wurden die Dinge der Welt zur Kette und zum Gegenstand der Bearbeitung. Für die Apathie des Stoikers bekam das Treiben der Welt den Charakter des Gleichgültigen, aus dem sich das denkende Bewußtsein in die Einfachheit des Gedankens zurückzog. Für das unglückliche Bewußtsein war die sündige Welt das Zu-Vertilgende: die Welthaftigkeit des Menschen in seiner gottabgewandten Gesinnung. Mit dem Lichte der Vernunft aber geht dem Bewußtsein ein neues Verständnis der Welt auf. „Es entdeckt sie als seine neue wirkliche Welt, die in ihrem Bleiben Interesse für es hat wie vorher nur in ihrem Verschwinden" (PhdG 176). Es ist nämlich im Herausringen der Einzelheit die Gewißheit

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errungen, daß die Welt in ihrem wahren, allgemeinen Bestände vernünftig und Vernunft im wahren Bestände der Welt wirklich ist. So hat das Bewußtsein erstmals die Schwelle der Endlichkeit überschritten, und zwar als religiös gestimmtes Selbstbewußtsein. Als solches dringt der endliche Geist bis zu der im Inneren der Dinge wirkenden, all-einigen Macht Gottes vor und hebt die scheinbar absolute Selbständigkeit der Welt auf. Soweit ist gezeigt: Das knechtische Bewußtsein findet sich in religiöser Transformation wieder. Es macht die Erfahrung tiefer Selbsterniedrigung und radikaler Selbstentäußerung vor Gott, dem Herrn, durch. Die Bewegung der unglücklichen Entzweiung aber schlägt in die konkrete Einheit der Vernunft um. Woher jedoch bezieht dieser Umschlag von äußerster Entzweiung in innerste Einheit eigentlich sein Recht? Seine Notwendigkeit leuchtet überhaupt nur unter der theologischen Voraussetzung ein, das Wesen und die Wahrheit sei die sich offenbarende göttliche Liebe. Die Versöhnung braucht die Entzweiung, damit ihre versöhnende Macht Wirklichkeit werde. Die einende Kraft steigert sich offenkundig mit dem Ausmaße der Entzweiung, welche sie eint. Und je hoffnungsloser das Bewußtsein der Spaltung wird, desto triumphaler und beseligender erscheint der Geist der Versöhnung. Das Selbstbewußtsein in der Deformation des unglücklichen Bewußtseins findet sich in eine extreme NichtIdentität getrieben. Es leidet ja an der Spaltung in Diesseits und Jenseits, zwischen seiner nichtigen Einzelheit und dem erhabenen Allgemeinen, seinem eigenen vergänglichen Menschentum und der wandellosen Gottheit. Das Bewußtsein stürzt aber nur in sein tiefstes Unglück, um zur höchsten Freudigkeit erhoben zu werden. Durch die Aufhebung dieser extremsten Bewußtseinsspaltung zeigt sich die Macht der Versöhnung, und es offenbart sich, um mit Schellings Schlüsselbegriff zu sprechen, der ,Wille der Liebe'. Das aber ist keine kritisch aufhellende Phänomenologie der Widersprüche des Bewußtseins selber, sondern eine begriffliche Ausformung von Vorstellungen-der Offenbarungstheologie. Letztlich gründen solche Aufhebung von Herrschaft und Knechtschaft und die Überwältigung der Endlichkeit durch die .zweite Schöpfung* der Welt in einer theologischen Überhöhung des Menschen. Der Mensch ist in Hegels Lehre vom Geist wesentlich Selbstbewußtsein, aber das Selbstbewußtsein ist nicht menschlich, sondern Moment der göttlichen Idee. Daher kommt es, daß die Beziehung des Selbstbewußtseins auf ein anderes Selbstbewußtsein und die Relation von Herr und Knecht keine substanziell humanen bzw. inhumanen Verhältnisse bilden. Sie stellen ephemere Phasen der Dialektik, die Dialektik im Ganzen aber den göttlichen Prozeß

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im Menschen dar. Das sich so entschränkende Selbstbewußtsein lebt in der Seinsweise des Geistes, der nur ist, indem er sich in Negation des Endlichen offenbart. Das ist die höchste Form der Offenbarung. Das Vertrauen auf solch dialektische Offenbarungen stützt sich auf die Vorstellungen theologischer Trinität. Danach offenbart sich der lebendige Gott so, daß er sich (im Sohne) unterscheidet und verendlicht, um sich im Unterschiedenen selbst anzuschauen und „durch diese Einheit mit dem Sohne, durch dieß Fürsichseyn im Anderen, absoluter Geist zu seyn" (Enz. § 383, Zus.;X,35). Im Grunde stellt Hegels Dialektik den verzweifelten Versuch dar, noch einmal und endgültig die Heilswahrheit christlicher Theologie mit dem Prinzip des modernen Europäischen Geistes zu vereinbaren. Das neuzeitliche Bewußtsein weiß sich als das Wollende. Den Grundzug des Willens hat Hegel in der sog. Jenaer Realphilosophie' definiert: „Das Wollende will, d. h. es will sich setzen, sich als sich zum Gegenstande machen" (JR, 194). Von daher erscheint das Bewußtsein vom ursprünglichen Willen getrieben, sich selbst als das Absolute zu behaupten. Somit hat das erscheinende Bewußtsein von Anfang an und unvermeidlich das Absolute in sich, nämlich als den Anspruch des Willens auf Absolutheit. Dieser absolute Anspruch vergeht im Widerspruch, wenn sich die jeweilige Gestalt des Europäischen, d. h. des Platonisch-metaphysischen Geistes als beschränkt und bloß relativ erweist. Er sucht sich dann sogleich in einer höheren und reicheren Gestalt des Geistes zu erfüllen; denn die relativen und daher unangemessenen Positionen sind nichts anderes als Stadien auf dem Lebenswege des sich verwirklichenden absoluten Willens, der sich noch nicht zur Wahrheit seiner Gewißheit durchgerungen hat. Das geschieht im Ubergange zur Vernunft. Mit diesem Schritt eröffnet die Dialektik den geschichdichen Tag des Europäischen Geistes. „Das Princip des europäischen Geistes ist daher die selbstbewußte Vernunft, die zu sich das Zutrauen hat, daß Nichts gegen sie eine unüberwindliche Schranke seyn kann, und die daher Alles antastet, um sich selber darin gegenwärtig zu werden" (Enz. § 393, Zus.; X, 77). Und dieses Selbstbewußtsein eignet sich die Welt, das ihm gegenüberstehende Andere, nicht nur theoretisch an, indem es in der Erkenntnis des Allgemeinen, der Gesetzlichkeit, ihre innere Vernünftigkeit anschaut. Der Europäische Geist ist der praktische Wille zur Weltherrschaft. „Er unterwirft die Außenwelt seinen Zwecken mit einer Energie, welche ihm die Herrschaft der Welt gesichert hat" (X, 78). Hegels System verbindet die Tendenz der Willensherrschaft neuzeitlichen Selbstbewußtseins mit einer theologischen Dialektik, welche

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versichert, daß sich in dem Ausgriff des Europäischen Geistes, der die Natur und die Geschichte bemeistern will, die göttliche Vernunft in der Welt verwirklicht. Diese weltgeschichtliche Konstruktion aber zersplittert an der Bruchstelle der Phänomenologie, der nicht gemeisterten Vermittlung des allgemeinen Selbstbewußtseins im weltgeschichtlichen Auseinanderfall von Herrschaft und Knechtschaft.

9. Kapitel: Das Schisma der Aufhebung von Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Lehre vom subjektiven Geist ,Man habe sich nun kritisch mit seiner Mutter, der Hegeischen Dialektik, auseinanderzusetzen'. Diese Maxime einer jeden Dialektikerörterung stammt von Marx (PM, 639). Seltsamerweise hat Marx eine direkte Kritik der dialektischen Phänomene von Herrschaft und Knechtschaft in der Dimension des Selbstbewußtseins nicht geliefert. Sie sollte hier auch nicht nachgeliefert werden, um eine wie auch immer geartete Umstülpung der Hegeischen Dialektik zu diskutieren oder zu rechtfertigen. Die erneuerte Auseinandersetzung will die dialektische Entwicklung des Selbstbewußtseins innerhalb der Phänomenologie in Frage stellen. Sie sucht zu zeigen, inwiefern die großmächtige Verschmelzung der Soziodialektik der Iche mit der Theodialektik des absoluten Geistes in den zwischenmenschlichen Verhältnissen von Herrschaft und Knechtschaft ihre Bruchstelle hat. Die klassische Fassung der Phänomenologie des Geistes von 1807 stellt an den Anfang der Phänomenentwicklung von Herrschaft und Knechtschaft die Logik des Selbstbewußtseins. Sie definiert vorab die Subjektivität des Ich durch die Intersubjektivität der Anerkennung. Aber sie kann ihr Projekt auf keiner Stufe des erscheinenden Geistes einholen. So kommt das Ich im Abschnitt Selbstbewußtsein' adäquat nur im projizierten Logos, nicht aber in einem sachgerechten Phänomen vor. Es weist vielmehr ständig über sich auf seine ihm immanente Vemünftigkeit hinaus. In dieser Bewegung sinkt der Prozeß von Herr und Knecht zu einem unscheinbaren Moment herab. Der entscheidende Umschwung zur Vernunft spielt sich in den Entzweiungen der Einzelseele, im religiösen Ringen des unglücklichen Bewußtseins ab, obwohl doch das Selbstbewußtsein aus dem sozialen Bezug zum alter ego definiert ist. Die Gesellschaftsdialektik wird vom großen Atem der Theodialektik aufgezehrt. Anders steht es in der Heidelberger Enzyklopädie und in den von Ludwig Boumann kompilierten Zusätzen aus den einschlägigen Vor-

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lesungen in der Berliner Fassung. Hier schiebt sich die Phänomenologie des Geistes in ihrer vielumrätselten Kurzfassung zwischen die Systemteile des subjektiven und objektiven Geistes. Sie konzentriert sich darauf, den Übergang zwischen beiden zu bewerkstelligen. Dabei gewinnt der Prozeß des Anerkennens im Rahmen von Herrschaft und Knechtschaft eine wahrhaft revolutionäre Schlüsselstellung. Im Verlaufe dieser Bewegung wird hier ein Logos des Selbstbewußtseins nicht vorausgesetzt, er entwickelt sich an den Phänomenen zum .allgemeinen Selbstbewußtsein', das sich als das Gemeinwesen der Vernunft enthüllen soll. Dieser Ubergang zur Vernunft läuft über die Selbsteinschränkung des Herrn und den Aufstand des Knechtes. Die Methode hält auf dem Wege der Dialektik mit einem Ausblick auf die revolutionäre Selbstbefreiung des Knechtes inne. Um dieser Abweichung auf die Spur zu kommen, muß der Ausgang der Soziodialektik und die Synthesis des Anerkennungsverhältnisses innerhalb der Enzyklopädie (§ 430—39) in den Blick gefaßt werden. Der Prozeß der Anerkennung verläuft auf dem Wege einer schrittweisen Befreiung des Ich von der Kategorie der Einzelheit und von der Hegemonie des natürlich-bedürftigen Daseins. Er führt zum gemeinen Wesen der Freiheit und nicht bloß zu einer Vereinigung durch Bedürfnis und Not. Die Not der Existenzgefährdung und das Bedürfnis nach befriedigtem Wohlleben sind Motive der Einheit, aber sie bringen es nur zu einer äußeren Vereinigung unter Zwängen. „Die Freiheit des Einen im Andern vereinigt die Menschen auf innerliche Weise; wogegen das Bedürfnis und die Noth dieselben nur äußerlich zusammenbringt" (Enz. § 431, Zus.; X , 282). Die wahre Freiheit im positiven Verstände hebt den Widerspruch zwischen Identität und Unterschied im Selbstbewußtsein in eine Identität von Identität und Unterschied auf. Dies geschieht, wenn die sich zueinander verhaltenden Selbstbewußtseine einander als freie Wesen anerkennen. Die einigende Kraft der unteilbaren Freiheit kommt im Wechselvollzug der Anerkennung zur Wirklichkeit. „Nur so kommt die wahre Freiheit zu Stande; denn da diese in der Identität meiner mit dem Anderen besteht, so bin ich wahrhaft frei nur dann, wenn auch der Andere frei ist und von mir als frei anerkannt wird" (Enz. § 431, Zus.; X,282). Von diesem Telos her ist nun die Endphase im Prozeß des Anerkennens, und zwar von beiden Seiten, des Knechtes wie des Herrn, zu betrachten. Wiederum erscheint der Knecht als Wegbereiter der Vernunft hervorzuragen. Von seiner Seite aus hat das Selbstbewußtsein durch die Gewohnheit des Gehorsams und durch Todesfurcht die Begierde und Selbstsucht entäußert. Der Knecht hat im Dienste des Herrn seinen

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Einzel- und Eigenwillen abgearbeitet. Indessen erringen die Arbeiten des Knechtes eine bloß negative und abstrakte Freiheit. Sie bleibt negativ, nämlich Freiheit von der Fremdherrschaft des Partikularwillens. Und sie bleibt abstrakt, nämlich einseitig auf Seiten des Knechtes. Der Knecht hat zwar die Herrschaft über sich selbst, aber eben nicht die Anerkennung durch den Anderen erreicht. Wodurch aber kommt der ausgleichende Wechsel der Anerkennung zustande? Offenkundig läßt die Entwicklung des Knechtes zum Arbeiter diese entscheidende Frage der Gesellschaftsdialektik noch offen. Die Lösung, welche Hegel in den Vorlesungen der Enzyklopädie vorgetragen hat, enthält Zweideutigkeiten. Die gleichsam offiziöse Auflösung proklamiert die Macht des Geistes und baut auf den Konsensus der Vernunft. „Die positive Seite der Freiheit erhält erst dann Wirklichkeit, wenn — einerseits das knechtische Selbstbewußtseyn, ebensowohl von der Einzelnheit des Herren wie von seiner eigenen Einzelnheit sich losmachend, das an-und-für-sich-Vernünftige in dessen von der Besonderheit der Subjecte unabhängigen Allgemeinheit erfaßt — und wenn andererseits das Selbstbewußtseyn des Herren durch die zwischen ihm und dem Knechte stattfindende Gemeinsamkeit des Bedürfnisses und der Sorge für die Befriedigung desselben, so wie durch die Anschauung der ihm im Knechte gegenständlichen Aufhebung des unmittelbaren einzelnen Willens dahin gebracht wird, diese Aufhebung auch in Bezug auf ihn selber, als das Wahrhafte zu erkennen und demnach seinen eigenen selbstischen Willen dem Gesetze des an-und-für-sich-seyenden Willens zu unterwerfen" (Enz. § 435, Zus.; X,289). Dieser vernunftgeleitete Weg der Aufhebung verlangt einen Konsens von beiden Seiten. Die Einrichtung wahrer Freiheit wäre nicht einseitig das Resultat der Selbstbefreiung des Knechtes. Der Vernunftglaube Hegels hält den Herrn für fähig, sein Verhältnis zum Knecht und zu den Dingen vernünftig zu regeln. Die Frage ist nur, ob die von Hegel nahegelegten Selbstüberwindungen praktikabel genug sind, um wahre Freiheit einzurichten. Von seiten des Knechtes her ist der Stand wahrer Freiheit erst erreicht, wenn der Knecht zum denkenden Subjekt erhoben wird. Aber wodurch kommt der Knecht in den Stand, das Allgemeine als das Wahre zu erfassen, d. h. die Sitte, das Gesetz, die Verfassung als den an und für sich seienden Willen anzuerkennen, ohne daß dieses Allgemeine schon das Herrschende ist? Darüber kann doch Hegels Phänomenologie belehren: Alle Anstrengung von seiten des Knechtes, die Auswirkungen von Gehorsam und Arbeit, führen nicht dazu, eine Vernunftherrschaft des Gesetzes

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einzurichten. Die Veränderung des knechtischen Selbstbewußtseins verändert die Verfassung der Herrschaft nicht. Darum müssen die Gesetze als Mittel erscheinen, die Unterworfenen in Abhängigkeit zu halten. Und die Aufhebung des Knechtseins im Stoizismus mußte eingestehen, daß die wahre Freiheit keine Wirklichkeit in der Welt gewinnt, selbst wenn das denkende Bewußtsein herrscht. Offenbar konzentriert sich die Konstituierung wahrer Freiheit auf den Wandel im Wesen des Herrn. Die Enzyklopädie legt zwei Wege nahe, auf denen das herrische Bewußtsein dazu gebracht wird, Vernunft anzunehmen: durch die Gemeinsamkeit, die in der Sorge um die Befriedigung der Bedürfnisse besteht, und durch Nacheiferung des knechtischen Vorbildes. Gewiß bilden der Erwerb und die Erhaltung der Lebensmittel eine gemeinsame Sorge und die Vorsorge und Sicherung der Zukunft ein dauerndes Mittel der Gemeinschaftsbildung, aber unter den Verhältnissen von Herrschaft und Knechtschaft sind die Lasten der Sorge eben ungleichmäßig verteilt. Und Hegels Enzyklopädie hat doch selber die Fürsorge des Herrn entlarvt. Sie ist von der Absicht geleitet, den Sklaven als Objekt und Mittel eigener Herrschaft am Leben zu erhalten (vgl. Enz. § 434). Auch wenn die Gemeinsamkeit der Sorge gleichlastig wäre, bildete sie immer noch eine bloß äußere Einheit. Hegel hat die letzte geschichtliche Gesellschaftsform solcher Einheit, die bürgerliche Gesellschaft, in seiner Rechtsphilosophie analysiert und gezeigt: Solches System negiert die wechselseitige Anerkennung und Freiheit in der Form einer allseitigen Abhängigkeit, in der jeder ausschließlich sich selber Zweck, alles andere dagegen nur Mittel zum Zweck ist. So weitet sich das individuelle Mißverhältnis von Herr und Knecht zum Antagonismus von Klassen aus, und in der ungleichen Besorgung der ökonomischen Produktion wächst die Verelendung der Knechte und die Entsittlichung des Herrn im gleichen Verhältnis zur Steigerung der Warenproduktion. Solche Gemeinsamkeit erscheint in der Form entfremdeter Sittlichkeit". So bleibt das andere spekulative Medium für die Umkehr des Herrn übrig, der Spiegel des Knechtes, in welchem der Herr die Aufhebung der Selbstsucht gegenständlich anschauen soll. Aber zur Nachfolge des Knechtes genügt eben nicht das Anschauen des Faktums, daß der Eigenwille des Knechtes aufgehoben ist. Notwendig ist auch die Übernahme der 99

Uber die Dialektik der sozialen Gebilde in Hegels Rechtsphilosophie und ihre Vorwegnahme Marxscher Aufschlüsse vgl. die Thesen von R. Heiß, Die großen Dialektiker des 19. Jahrhunderts. Hegel Kierkegaard Marx. Köln 1963.

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Gründe, wodurch die Aufhebung geschah, nämlich Zucht, Gehorsam, Arbeit. Wie aber soll der zuchtlose, arbeitslose, herumkommandierende Herr das leisten, ohne zum Knecht zu werden? Daß die pervertierte Herrenklasse in Anschauung der ethischen Vorzüglichkeit des Knechtes ihren privilegierten Stand aufgibt, ist Illusion. Die Herren geben ihr Vorrecht erst dann ,νοη selbst' auf, wenn sich die Dialektik schon an ihnen vollzieht und sie zu Sklaven und Opfern ihrer Knechte macht. Im Grunde sind es Erhebungen der Phänomenologie selbst, welche die von Hegel beschworenen Aufschwünge des Herrn lähmen. Was also bleibt übrig, wenn der Prozeß des Anerkennens durch die Einseitigkeit des anerkennenden Selbstbewußtseins zur Ausgeglichenheit des allgemeinen Selbstbewußtseins durchdringen soll? Nichts als die Emanzipation des Knechtes durch einen Kampf auf Leben und Tod. So nimmt Hegels Dialektik von Herr und Knecht gleichsam anmerkungsweise von der harmonisierenden Vernunft Abschied und rekurriert auf das Menschenrecht revolutionären Kampfes. „Denen, die Knechte bleiben, geschieht kein absolutes Unrecht; denn wer für die Erringung der Freiheit das Leben zu wagen den Muth nicht besitzt, — der verdient, Sclave zu sein; - und wenn dagegen ein Volk frei seyn zu wollen sich nicht bloß einbildet, sondern wirklich den energischen Willen der Freiheit hat, wird keine menschliche Gewalt dasselbe in der Knechtschaft des bloß leidenden Regiertwerdens zurückzuhalten vermögen" (Enz. § 4 3 5 , Zus.; X , 2 8 8 ) . Der zum Arbeiter gewordene Knecht braucht in der Tat nur noch einen einzigen Schritt zu tun, um die endgültige Befriedung der Menschheit zu erreichen und den geschichtlichen Antagonismus aufzulösen. Er braucht die Freiheit, die er für sich selbst errungen hat, nur noch dem Herrn aufzuzwingen. Freilich muß diese Bekehrung die Form eines tödlichen Kampfes annehmen, weil ja der müßige Herr unerziehbar ist. Folglich fordert das letzte Gefecht um die Anerkennung den Einsatz des Lebens. Und so, als Kämpfer um eines Ideellen, nämlich der allgemeinen Freiheit willen wandelt sich der Knecht vom Objekt der Zwangsarbeit zum Subjekt der Revolution. Die Konsequenz dieser Auflösung von Herrschaft und Knechtschaft trifft die Methode. Diese verläßt den Weg der Dialektik. Die Aufhebung der Position des Herrn in einem Endkampf, der auf Leben und Tod geht, ist nicht dialektisch. Sie hebt die Relation von Herr und Knecht weder konservativ noch elevativ auf, sie vernichtet und tötet. Der Sprung in die revolutionäre Tat überspringt den langen Prozeß der Vernunfterfahrung und springt in den Anfang des Naturzustandes, den Kampf auf Leben und

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Tod, zurück. Daher erhebt sich die Frage, ob das gewaltsame Abschneiden der Dialektik von Herr und Knecht nicht den Kreislauf eines Zirkels initiiert, in dem die Diktaturen von Herren und Knechten einander ablösen. Die Bekehrung des Herrn zur allgemeinen Freiheit durch Gewalt ist ein Widerspruch. Der Herr, der sich im Kampf zwingen läßt, wandelt sich nicht zum Menschen, sondern zum Knecht. So aber wäre nichts erreicht. Die Diktatur der Feudalherren würde in eine Diktatur der Arbeitsknechte umschlagen. In solcher Umwälzung würden die sich unterwerfenden Herren und die Masse der Knechte, die das Leben nicht an die Freiheit gewagt haben, zum Objekt der Macht und zum Werkzeug des Genusses der neuen Herrenelite, um nun ihrerseits in der Entwicklung zum arbeitenden, durch Zucht erzogenen Knecht das Subjekt erneuten Umsturzes zu werden. Die Bewegung der Revolution droht in dem Progreß einer schlechten Unendlichkeit leerzulaufen. Hegel hat das gewußt. Es ist wohl daran zu erinnern, daß am Ende von Hegels Philosophie der Geschichte die ungelöste Revolution und das Problem ihrer politischen Stabilisierung stehen und daß Hegels Schrift zur Reformbill mit der Warnung vor der Bewegung und Unruhe der Revolution schließt100. Überdies hat Hegel niemals den Tod als höchste Manifestation wahrer Freiheit gefeiert. Wie problematisch die Aufhebung der ungleichen Anerkennung in Hegels Lehre vom Selbstbewußtsein auch ist, in keinem Falle läßt sie sich durch das Nichts des Todes — durch Kampf, Todesbereitschaft, durch die , Kritik der Waffen' und Vernichtung dessen, was ist, — vermitteln. Mag das Sklavenbewußtsein auch im mangelnden Todesmut stecken, der Wille zum Töten und zum blutigen Kampf führt nicht die Freiheit aller in einer von Herrschaft und Herrentum, Knechtschaft und Knechtgesinnung befreiten Gesellschaft herauf. Die Negativität des Tötens verfährt zu einfach und zu abstrakt. Sie befreit unterschiedslos von allem, sie ist einfach negativ und im Grunde das zu Negierende. Der Wille zum Tode war für Hegel geschichtlich die Antwort Robespierres101. 100 Die Französische Revolution im Zusammenhang mit dem emanzipativen Arbeitsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. dazu J . Ritter, Hegel und die französische Revolution. Frankfurt a. M . 1965) und im Zusammenhang mit den Gestalten des sich entfremdenden Geistes der Bildung (vgl. dazu K . Nusser, Die Französische Revolution und Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Philos. J b . 77 (1970) 276 - 296) fällt außerhalb der phänomenologischen Zusammenhänge des Selbstbewußtseins. 1 0 1 Und nicht etwa notwendige Bedingung der Freiheit. Gegen Kojèves Brüskierung der dialektischen N e g a t i o n , die Trennung von Sein und Bewußtsein der Freiheit, gegen seine Todesmystik — der Mensch als inkarnierter T o d , die ganze Existenz gleichsam als Selbstmord — und gegen die These von der metaphysischen Unmöglichkeit einer Emanzipation

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In Hegels ,Wasteboek' findet sich der Aphorismus: „Die Antwort, die Robespierre auf alles gab . . ., war: la mort! Ihre Einförmigkeit ist höchst langweilig, aber sie paßt auf alles. . . . Ich kann alles töten, von allem abstrahieren. So ist der Eigensinn unüberwindlich und kann an ihm selbst alles überwinden. Aber das Höchste, was zu überwinden wäre, wäre gerade diese Freiheit, dieser Tod selbst" (Jenaer Schriften; Th. W. 2 S. 5 4 6 - 4 7 ) . Nichtsdestoweniger hat die eindringliche und erfolgreiche Interpretation von Kojève den Endkampf der Knechte gegen die Herren in die Französische Revolution hineingelegt. Dieser Endkampf zeuge von der Überwindung der Todesfurcht durch den Arbeitsknecht und bringe die Voraussetzungen für den Endstaat hervor. Die Geschichte gehe mit solchem Austrag der ,Lutte finale' zwischen Herren und Knechten zu Ende. Nun ist nach Kojève Hegels Phänomenologie eine geschichtliche Anthropologie, die Geschichte die Genese des Menschen und der Mensch ein sich selbst erschaffendes Wesen 102 . Diese wahre „anthropologie génétique ou historique" setzt sich aus Kampf, Tod, Arbeit zusammen. Das ist immer wieder nachgeredet und je nach Position kritisch beurteilt worden: Bei Marx sei dem Hegeischen Ansätze gegenüber das Thema des Todes, bei Heidegger das von Arbeit und Kampf vernachlässigt worden (und Kojève selbst entwerte die Bedeutung der Arbeit zu einem der

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ohne blutigen Kampf vgl. die Einwände von E. Kryger, Das System der Dialektik bei Hegel (laut Kojève und Popper). I n : Hegel-Jahrbuch 1972. S. 1 7 3 - 1 8 2 . Unter den vielen Auseinandersetzungen mit Kojève ist die von R . K. Maurer die vielleicht eindringlichste (Hegel und das Ende der Geschichte. Interpretationen zur „Phänomenologie des Geistes". Stuttgart 1965. S. 139, 156). Seine Bedenken gegen den Grundbegriff der Kojèveschen Konzeption, die Genese, lassen sich auf drei Einwände zusammenziehen. 1. Der PhdG geht es nicht — wie nach Kojève — um die Naturgenese des selbstbewußten Menschen aus der Désir conscient, sondern um Bewährung des vorausgesetzten Selbstbewußtseins. 2. Hegels Geschichtsphilosophie schwenkt nicht, wie Kojève glaubt, unter Verkennung ihres anthropologischen Charakters in die Tradition der antiken monistischen Ontologie ein, sie bildet vielmehr die teleologische Ontologie der Antike fort. 3. Bei Kojève fällt das Resultat entwicklungslos in den Anfang zurück, weil die Geschichte gegenüber dem natürlichen Sein bloßes Vernichten ist, bei Hegel dagegen erhält das Resultat das Werden samt dem scheinbar unmittelbaren Sein, von dem es ausging. Solcher Rettung Hegels vor der Kojèveschen Überlichtung ist beizustimmen. Aber sie deckt Probleme zu, die erst zu entfachen sind. Daß das Selbstbewußtsein 1. in der PhdG nicht entsteht, sondern als vorausgesetztes sich bewähren soll (und nicht kann), daß 2. die Geschichtsdialektik Hegels die (undialektische, analogische) Teleologie fortführt und daß 3. das Resultat des entwickelten Selbstbewußtseins zwischen dem Fortschleppen und dem Vernichten der miserablen Herrschafts- und Knechtsverhältnisse schwankt, dieser Sachverhalt salviert die spekulative Hypothese nicht, er stellt sie in Frage.

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Todesfurcht untergeordneten Moment). Dabei wird die Begierde, die sich auf die Begierde eines anderen richtet und sich um die Anerkennung des Rechts der Begierde durch den Gegner dreht, zum Motor der Geschichte. Sie treibt den Kampf um Anerkennung an. Und dieser erzeugt den geschichtlichen Menschen. Er verwandelt durch umschaffende Arbeit die natürliche Welt in eine geschichtliche und läßt die Kämpfenden Tod und Endlichkeit erfahren. Freilich hat diese Genesis des geschichtlichen Menschen die Endlichkeit dessen zur Voraussetzung, der in diesem Prozeß entsteht: die Todesbereitschaft des die Geschichte erschaffenden Menschen. So aber bildet für Kojève die Geschichtlichkeit konsequenterweise eine Transzendenz im Diesseits. Die dialektische Aufhebung geht nicht über die Endlichkeit hinaus. Sie negiert den Menschen als Gegebenes, bewahrt sein Wesen und schreitet zum Endzustand eines im Diesseits wahrhaft befriedigten Menschen fort. Recht besehen, kommt diese Dialektik aus der Begierde und fällt im Zustand vollendeter Befriedigung ins Glück der Tiere zurück. Kojèves atheistische Phänomenologie der Arbeit, des Kampfes und des Todes brüskiert Hegels Dialektik von Geist und Tod. Der Geist scheut sich wahrlich nicht vor dem Tode. Er erträgt ihn, und er erhält sich in ihm. Er begreift den Tod als ein notwendiges Glied im Leben des Absoluten. Den Tod so zu begreifen, bedeutet, das Sichbefreien des Endlichen von seiner Endlichkeit ernst zu nehmen. Die Unbedingtheit des Todes im Sinne Kojèves dagegen als letzte und authentische Manifestation des Todes zu verstehen, welche den Menschen zu seiner Endlichkeit frei macht, bedeutet, die spekulative Geistesdialektik zu beenden und mit der revolutionären Tat anzufangen. Also erwächst aus der Phänomenologie von Herrschaft und Knechtschaft das Schisma von Dialektik und Revolution. Diese Spaltung scheidet die Geister in der Frage, wie die Antithese aufgelöst und die Verhältnisse von Unterwerfung und Unterjochung vermenschlicht werden können. Die klassische Phänomenologie lehrt den langen Weg und die stoische Geduld einer dialektisch unausweichlichen Erhebung zur Vernunft. Auf ihm bleiben die Widersprüche des Selbstbewußtseins liegen. Sie werden religiös sublimiert, und das Drängen auf soziale Versöhnung wird auf die sittliche Substanz des Staates, das heilige Zeichen der Vernunft, vertröstet. Unvoreingenommen betrachtet, drängt dieser sublime Phänomenologieentwurf die zwischenmenschlichen Konflikte zugunsten stoischer Enthaltsamkeit und Monadizität ab. Weil im denkenden Bewußtsein die Unterschiedenheit von Denkendem und Gedachtem unmittelbar in ihre Ununterschiedenheit aufgehoben wird, ist und bleibt das stoische Bewußtsein ohne

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Bezug auf ein anderes Selbstbewußtsein. Es verschließt sich monadisch in sich. Wie souverän und weltüberlegen sich das auf sich vereinzelte Bewußtsein auch denkend entfaltet, faktisch bleibt es vereinzelt. Daher kann die Phänomenologie des Geistes die Entfremdungsverhältnisse zwischen zwei Selbstbewußtsein nur noch auf die Relation von Seele und Gott transponieren und die Versöhnung auf dem Wege einer doppelten Negation suchen, durch welche der ins Äußerste gekommene Eigenwille sich zuäußerst entäußert. Dieser dialektische Umschlag treibt das religiös durchstimmte Bewußtsein zur klaren Vernunfterkenntnis von der Alleinheit Gottes mit der Welt. Die Phänomenologie von Herrschaft und Knechtschaft innerhalb der Enzyklopädie verweist auf den abrupten Weg der Revolution. Sie legt den Befreiungskampf des Sklaven als die einzig zureichende Methode nahe, um den Machtwillen des Herrn zu brechen und die Stufe des allgemeinen Selbstbewußtseins zu erreichen. So hat Hegels Rechtsphilosophie — in Ausarbeitung der Antinomie zwischen den Thesen über das absolute Recht bzw. über das absolute Unrecht der Sklaverei — das Unrecht menschlicher Unterjochung zum Teil den Unterjochten angelastet. „Hält man diese Seite fest, daß der Mensch an und für sich frei ist, so verdammt man die Sklaverei. Aber daß jemand Sklave ist, liegt in seinem eigenen Willen, so wie es im Willen eines Volkes liegt, wenn es unterjocht wird. Es ist somit nicht bloß ein Unrecht derer, welche Sklaven machen oder welche unterjochen, sondern der Sklaven und Unterjochten selbst" (PhdR § 57, Zus.). Innerhalb der Antistrophik von Herr und Knecht gilt: Gibt es keine Herren mehr, dann auch keine Sklaven. Logisch ebenso stringent und bewußtseinsmäßig stringenter noch ist die umgekehrte Auflösung: Kein Sklave — kein Herr. Nun hört der Sklave auf, Sklave zu sein und ein knechtisches Bewußtsein zu haben, wenn er für die Freiheit den Tod auf sich nehmen will. Das illustrieren Hegels Hinweise auf die römischen Sklavenaufstände. So, durch den Kampf des Knechts um seine Freiheit auf Leben und Tod, kommt es zu einem allgemeinen, vernünftigen Bewußtsein, welches die Substanz der Sittlichkeit, den Grund eines freien Gemeinwesens und gerechten Staates bildet; denn auch in dieser Fassung wird der Staat als die Stätte der Vernunft gefeiert, welche Ausbeutung ausschließt und Anerkennung zusichert. „Im Staate erhält der Bürger seine Ehre durch sein Amt, das er bekleidet, durch das von ihm betriebene Gewerbe und durch seine sonstige arbeitende Tätigkeit" (Enz. § 234, Zus.; X , 284). So sucht die Phänomenologie im Systemrahmen der Heidelberger Enzyklopädie geradewegs in den Schranken der Endlichkeit des

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subjektiven Geistes die Substanz von Sittlichkeit und Staat — die gegenseitige Anerkennung als Element der Tugend, nämlich von Liebe, Freundschaft, Ehre, und als geistige Form des Staates — zu gründen. Und das soll geschehen durch Revolution der Grundverhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft, letztlich durch ein Zerbrechen des herrischen Eigenwillens zugunsten des allgemeinen Selbstbewußtseins, das nun nicht bloß ethisch die Möglichkeit geglückter mitmenschlicher Beziehungen und politisch die Aussicht auf eine repressionsfreie Gesellschaft eröffnet, sondern das sich in seiner Wahrheit als die Vernünftigkeit der Vernunft überhaupt herausstellt. Wie also steht es in beiden Fassungen mit der dialektischen Synthesis der Antithese von Herr und Knecht? Im ersten Falle wird der soziale Konflikt ins Innere, in den religiösen Zwiespalt der Einzelseele weitergetrieben, im zweiten Falle wird er zwar gelöst, aber allein dadurch, daß die Auseinandersetzung auf die elementare Stufe eines Kampfes auf Leben und Tod zurückgeworfen wird. Der eine Weg verinnerlicht den sozialen Gegensatz, der andere veräußerlicht ihn. Wird übersehen, daß die Position des Knechts sich innerlich aufhebt und in den Grund des denkenden Bewußtseins zugrunde geht, dann geraten die Bezüge von Herr und Knecht in den Sog einer äußeren Geschichte und äußerlichen Konfrontation, in welcher die Zukunft — obwohl Hegel das nirgendwo sagt - dem Knecht gehört 103 . Dann werden Stoizismus, Skeptizismus und unglückliches Bewußtsein zu Knechtsideologien, in denen der Knecht versucht, sich selbst und seine Knechtschaft zu rechtfertigen und das Ideal der Freiheit mit dem Faktum der Sklaverei in Einklang zu bringen104. So aber sind diese Bewußtseinsgestalten der Weltentsagung, welche doch die ganze Herr-Knecht-Spannung überformen, einseitig und äußerlich auf die Todesfurcht des Knechts zurückinterpretiert, die ihn hindert, das letzte Gefecht zu wagen. Rückblickend muß hier noch einmal an ein simples Faktum erinnert werden. Hegels Geschichte von Herr und Knecht liefert keine geschichtlich materiale, schon gar nicht historisch materialistische Genesis der 103

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Das ist der Einwand, den G . A. Kelly gegen Kojève erhebt (vgl. Bemerkungen zu Hegels „Herrschaft und Knechtschaft". I n : Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes'. F r a n k f u r t a . M . 1973. S. 191ff. Diese Kojève-These modifiziert I. Fetscher (Randglossen zu „Herrschaft und Knechtschaft" in Hegels Phänomenologie. In: Wirklichkeit und Reflexion. W . Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen 1973. S. 1 4 3 - 1 4 4 ) . Danach lassen sich die drei Bewußtseinsformen sowohl als historisch notwendige Vorbereitungen auf das freie bürgerliche Gemeinwesen wie auch als Ideologien im Sinne falschen, historisch bedingten Bewußtseins begreifen.

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Gesellschaftsentwicklung. Sie ist Soziodialektik des Geistes und hat es daher mit Idee und wesenhafter Entstehung der urgesellschaftlichen Relation zu schaffen. Deren Bewegungen und Resultate geschichtlich zu lokalisieren und ökonomisch-politisch zu kritisieren (als Naivität gegenüber den Produktionsverhältnissen, Eskamotierung der Arbeitsteilung usw. usw.), muß unangemessen und äußerlich erscheinen. Sicherlich drängen sich historische Erinnerungen auf: an den heroischen NurKrieger, den Oikodespoten Griechenlands und Sklavenhalter der antiken Welt, an den degenerierten Feudalherren, an den antiken Sklaven als όργανον und κτήμα εμψυχον, an den mittelalterlichen Lehnsknecht (,Knecht', nicht Sklave!), an den vorrevolutionären Lohnarbeiter und nicht zuletzt an den aufständischen Sklaven Roms. Gerade die Vielfalt der historischen Illustrierbarkeit aber beweist doch, daß die Phänomenologie wesenhafte, typische Züge der Herr-Knecht-Dialektik herausgeholt hat. Wird dagegen die ideale Genealogie der Herr-Knecht-Relation als Geschichte von den tausendjährigen Anstrengungen des Knechts gelesen, den Herrn zu stürzen, dann schreiben die bürgerliche und soziale Revolution der unterdrückten Klasse das letzte Kapitel der historia rerum gestarum. Beide Lösungen aber desavouieren die Methode der Soziodialektik und den Geist der phänomenologischen Dialektik überhaupt. Es sind die Phänomene religiösen Zwiespaltes und gesellschaftlicher Entfremdung, in denen die Dialektik der Neuzeit vergehen wird. Hegels Phänomenologie jedenfalls hat das Versprechen des allgemeinen Selbstbewußtseins, ein Reich wechselseitiger Anerkennung zu konstituieren, nicht eingelöst. Das Projekt scheitert am unversöhnten Phänomenbestand inhumaner Herrschaft und Knechtschaft. Es ist eben von einschneidender Bedeutung, daß die große Jenaer Phänomenologie zwischen dem Naturzustand und dessen vernunftgemäßen Aufhebungen die Bezüge von Herrschaft und Knechtschaft entfaltet. Diese Episode fördert das substanzielle Problem in der spekulativen Befriedung des langen, unergründlichen Kampfes um Anerkennung zutage. Die Philosophie des Geistes vertröstet die soziale Aussöhnung und die Verwirklichung ungebrochenen Selbstbewußtseins auf das Wirken der tätigen Vernunft, letztlich sogar auf die Lebendigkeit von Religion und absolutem Wissen. In den Gestalten der sittlichen Welt und des Rechtszustandes soll sich die Einzelheit des Bewußtseins mit vollem Wissen in den allgemeinen Willen ergeben. Im Staate als dem Vermittler der Freiheit durch Befreiung vom Eigensinn soll die wechselseitige Anerkennung konstitutiv werden. Endgültig aber werden sich Einzelheit und Allgemeinheit erst im überstaatlichen Leben von

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Religion und absolutem Wissen vereinigen. Hier weiß sich der Geist als ,an und für sich schon anerkanntes*. Ihm leuchtet ein, was er an sich schon geworden ist, nämlich Selbstbewußtsein im Medium der alles ausgleichenden Anerkennung. Im Medium der Anerkennung aber ist das Selbstbewußtsein nicht allgemein und gleich geworden. Weil die Dialektik des Selbstbewußtseins die gesellschaftlichen Antagonismen nicht vermittelt, kann sie eigentlich nicht mit ruhigem Gewissen in die Spekulation einer ihrer selbst gewissen Vernunft übergehen. Die methodische Maxime, der Fort- und Ubergang ergebe sich durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst, erfüllt sich nicht. Das Eingeständnis der zurückgelassenen Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft wird zum Stachel im Leben und in der Methode des Geistes. Die Geistesdialektik übertüncht die Misere der Wirklichkeit. Woran die ins Absolute ausgreifende menschliche Endlichkeit de facto strandet, ist zweierlei: die Existenz des Einzelnen unmittelbar vor Gott und das Faktum der entfremdeten Arbeit im System der Religion des Geldes. Die Analysen der Verzweiflung in Kierkegaards .Schriften der Volléndung' sind keineswegs bloß, wie J . Wahl behauptet, eine Reprise der Dialektik des unglücklichen Bewußtseins. Sie decken vielmehr das Phänomen eines unglücklichen Bewußtseins als die durchschnittliche Existenzweise des alltäglichen Daseins auf und zeigen, wie es aller Mediation und denkender Aufhebung spottet. Werden die Phänomene des verzweifelten religiösen Bewußtseins auf die Bedingungen existenzialen Selbstseins zurückgestellt, dann wird offenbar: Der spekulative Weg, das unglückliche Bewußtsein und die Verzweiflung der endlichen Subjektivität in ein Wissen der Allvernunft zu überführen, führt nicht aus der Krise heraus, sondern allererst in sie hinein. Gleichzeitig wird der .vollendete Humanismus' des frühen Marx die Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft auf die Bedingungen der entfremdeten Arbeit und des entfremdeten Menschen zurücklenken. Diese Reduktion nimmt die unversöhnte gesellschaftliche Wirklichkeit gegen die Konstruktionen der Hegeischen Anerkennungslehre in Anspruch. Und auch hier wird zugestanden werden müssen, daß die Negation solcher Entwirklichung und Entäußerung nicht mehr im Geiste der Dialektik geschehen kann. Die Dialektik des Selbstbewußtseins vergeht an den in Herrschaft und Knechtschaft ungehobenen Realitäten der Verzweiflung an Gott und der Entfremdung gegenüber den Menschen.

2. Abschnitt: Existenziale Dialektik Die satirische Dialektik der existierenden Subjektivität in den »Werken der Vollendung' 1. Kapitel: Vom Interesse des existierenden Selbst. Zur epigrammatischen Wesensbestimmung des Menschen Satirische Dialektik spricht epigrammatisch. Die zugeschliffene, resümierende Formel des Epigramms bringt eine verdeckte Wirklichkeit zur Sprache und formuliert sie abschließend wie die Aufschrift auf einem Grab. Als Pasquill, Facettie, Groteske, Parodie ist das Epigramm eine angemessene Kunstart der Satire. Satire meint dabei nicht selbst eine Art der redenden Künste, sondern Kunstform im Hegeischen Sinne: eine Gestalt des Ubergangs und Endes. Die Satire gestaltet den hervorbrechenden Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit, Innen und Außen, Geist und Dasein, Illusion und Existenz. In ihr verschwindet das Zeitalter des klassischen Ideals. Freilich geschieht dies niemals in der Form der .prosaischen Satire', jener tugendhaften Verdrießlichkeit über die umgebende Welt. Allein die .poetische Satire' übt die auflösende Kraft des Komischen aus, welche die Harmonie als Mißverhältnis, das Höchstmaß in seiner Anmaßung zeigt. Was nach Kierkegaard der spießigen und zugleich spekulativ überspannten Zeit nottut, das ist ,eine gottesfürchtige Satire' (Sch.üb. s., 13). Gottesfürchtige Satire reicht in ganz andere Dimensionen des Komischen als die seichte Satire eines ästhetisierenden Bildungsphilistertums. Diese probt den „weltlichen Aufstand der tiefst gesunkenen weltlichen Mächte" (Sch. üb. s., 14). Die Satire hat ihren Ort aber gerade nicht in den Bereichen des ästhetischen Witzes und einer gauklerischen Ausflucht des Zeitgeistes. „Wer sich aber auf das Komische versteht, sieht leicht, daß es an ganz anderer Stelle liegt, als die Gegenwart sich einbildet, und daß die Satire in unserer Zeit . . . eine folgerichtige und wohl gegründete ethische Lebensanschauung zum Bürgen haben muß" (Lit. Α., 78). Die ethische gründet sich wohl in der religiösen, gottesfürchtigen Existenz. Und die gottesfürchtige Satire sucht das schrecklich Komische in den Tendenzen

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der Zeit zu enthüllen, welche das Niedere auf den Platz des Höheren stellt und das Höhere zur Phantasterei macht. Sie entdeckt die Komik, daß gerade das Christentum die Christenheit abschafft und die Spekulation das Gottesverhältnis in die Entfremdung treibt; denn offenkundig verfällt die Christenheit dem Niederen, der Weltlichkeit, und die mediierende Dialektik meistert die Glaubenskrise nicht, sie schärft sie phantastisch zu. Die Heraufkunft einer gottesfürchtigen Satire und einer satirischen Dialektik besiegelt den Untergang der klassischen neuzeitlichen Dialektik der Mediation, der Abgeschlossenheit und Versöhnung. Ihren herausragenden Rang hat die satirische Dialektik der Neuzeit im epigrammatischen Denken Kierkegaards erhalten105. Kierkegaards Darstellung der Menge, des Anonymen, des Publikums in Konfrontation zur rehabilitierten Kategorie des Einzelnen hat epigrammatische Bedeutung'. Sie offenbart ihre satirische Kraft dem, der das Zeitalter verstanden hat, nämlich „daß es eine Zeit der Auflösung sei" (Sch. üb.s., 114). Letztlich wird die Vernunftdialektik der idealistischen Systeme in einer Dialektik des existierenden Einzelnen zersetzt, die sich satirisch formiert und epigrammatisch formuliert. Die Epigrammatik der existierenden Subjektivität liefert zusammenschließende Aufschriften für das Leben, wie es wirklich ist, nämlich unabschließbar und jeder Systematik feindlich. Ihre Formeln sind »Abbreviaturen des Daseins' (UN 1,103). Sie machen im entschlossenen Rückgang auf das Interesse der Existenz die Versöhnung aller geistigen Verhältnisse als Mißverständnis des Daseins sichtbar, und sie entdecken, daß die spekulativen Aufhebungen allen Zweifels Verzweiflung und Angst des Menschen nur übertünchen. Mit solchem Anspruch stellt Kierkegaard zum Schluß seiner „Meldung an die Geschichte" in indirekter Mitteilung seine eigene Existenz unter das Gesetz des Epigramms der Satire. Er läßt einen vorweggenommenen Dichter über dessen komischpathetisches Leiden als Genie in der Kleinstadt sagen: „Aber darum sehe ich, sein Dichter, auch das Epigramm, die Satire, nicht diese oder jene, die er geschrieben, sondern die, welche sein Leben als Ganzes gewesen" (Sch. üb.s.,93). Die Grundformel satirischer Dialektik ist eine Bestimmung des Menschen. Kierkegaard hat sie seiner ungeheuerlichsten Schrift, der „Krankheit zum Tode", vorangestellt. Sie will epigrammatisch, nämlich als Abbreviatur mühsamer und langer Analysen der menschlichen Existenz 105

Auf die Eigenart seines epigrammatischen Denkens hat W. Anz, Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Tübingen 1956. S. 6 ff. aufmerksam gemacht.

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gelesen und satirisch gehört werden. Sie spiegelt die Auflösung der spekulativen Dialektik des Selbstbewußtseins. Gegen die systematische Erhebung des menschlichen Selbstbewußtseins braucht sie die Macht der Komik. Die idealistische Ausgestaltung des menschlichen Selbst zum Absoluten hat das Allerwichtigste dabei vergessen, das Existieren. Sie fällt unter die urkomische menschliche Unangemessenheit, nämlich das wesenhaft sein zu wollen, was man in Wirklichkeit nicht ist. „Von dieser Seite aus muß vor allem anderen der Einwand gegen die moderne Spekulation erhoben werden, daß sie nicht eine irrige, sondern vielmehr eine komische Voraussetzung hat, die dadurch veranlaßt ist, daß sie in einer Art welthistorischer Distraktion vergessen hat, was es heißt, Mensch zu sein" ( U N I , 113). Die „Krankheit zum Tode" ist in den Monaten März und April des Jahres 1848 entstanden und sollte mit unter den Titel,Sämtliche Werke der Vollendung bzw. Vollbringung' gestellt werden. Sie beginnt mit einem Kurzdialog über den Menschen. „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis. Eine Synthesis ist ein Verhältnis zwischen Zweien. Auf die Art betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst. In dem Verhältnis zwischen Zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die zwei verhalten sich zu dem Verhältnis, und in dem Verhältnis zum Verhältnis; so ist ζ. B. unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis. Verhält dagegen das Verhältnis sich zu sich selbst, so ist das Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst" (K. z. T., 8). Kierkegaards Bestimmung des Menschen faßt mit epigrammatischer Prägnanz Ergebnisse zusammen, die im Zyklus der Climacus-Schriften erarbeitet waren. Sie löst Grundbestimmungen der klassischen Cartesischen Ich-Philosophie satirisch auf und macht eben dadurch Ernst mit der philosophischen Sorge, was der Mensch eigentlich ist und was ihn vor der extremen Gefährdung seiner Existenz rettet. Solch fragloser Rückgang auf das existierende Selbst sucht ein Fundament zu erbauen, von dem her der Mensch sich durchsichtig auf das versteht, was in Wahrheit wirklich ist. So gesehen, wäre Kierkegaard mehr als der einzige seiner Zeit gemäße

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religiöse Schriftsteller. Er wäre ein Denker, der mit theologischer Leidenschaft die Frage nach dem, was der letzte Grund für das Wirkliche ist, vom Abgrund der Existenz aus neu stellt und das alte fundamentum inconcussum umstürzt. Descartes' 2. Meditation (A.T. VII, 18—24) fragt dem Sein des Menschen auf dem Boden der Selbstgewißheit nach. Wer bin ich, der ich notwendig bin und existiere? Homo scilicet, sed quod est homo? Offenbar Geist und vorstellendes Bewußtsein (res cogitans). Quid est hoc? Geist ist Einheit des Selbstbewußtseins, identisches Selbstverhältnis in der Vielheit der Vorstellungsweisen von Welt. Ego idem sum, qui imaginor, dubito. Kierkegaards Epigramm folgt der Cartesischen Fragefolge. Der Mensch ist Geist. Geist ist Selbstbewußtsein. Was aber das Selbst des Selbstbewußtseins ist, darin scheiden sich die Geister. Seit dem Fragment „Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est" bis zu den „Philosophischen Brocken" hat Kierkegaard die zweifelsfreie Selbstgewißheit der res cogitans in Zweifel gezogen, indem er den Bedingungen der Möglichkeit metaphysischen Zweifeins nachging106. Die erste folgenreiche Einsicht war: Der wesenhafte Zweifel ist nur möglich, weil das zweifelnde Bewußtsein in sich zwiefältig ist. Das Bewußtsein selbst ist das Zweifelhafteste, weil es aus der Unruhe des Widerspruchs im Zwischensein (interesse) zwischen Realität und Idealität oder Denken und Sein lebt. „Die Möglichkeit des Zweifels liegt also im Bewußtsein, dessen Wesen ein Widerspruch ist, welcher durch eine Zwiefältigkeit erzeugt wird und selber eine Zwiefältigkeit erzeugt" (Ph. Β., 155). Emst wird es mit der Zwiefalt erst, wenn das Interesse zur Angelegenheit der Existenz wird und es nicht bloß wie in der Reflexionsphilosophie um die Gewißheit von Wissen geht. „Die Reflexion ist uninteressiert" (Ph. B., 157). Den Menschen geht der Zweifel erst dann an, wenn er sich die Sorge um das Existieren angelegen sein läßt; „denn laß die Idealität und die Realität in alle Ewigkeit miteinander streiten, so lange . . . kein Bewußtsein da ist, das Interesse an diesem Streite nimmt, so lange gibt es keinen Zweifel" (Ph. Β., 157—158). Die Möglichkeit eines radikalen Zweifels wurzelt demnach im Doppelsinn des inter-esse als Dazwischen- oder Zwiefältigsein 106

Das Climacus-Fragment „ D e omnibus dubitandum" löst den Zweifelsanfang, der zum positiven System, aber nicht zum Glauben übergeht, polemisch auf. Es ist im Zusammenhang mit der Dialektik des Anfangs durchinterpretiert bei Jann Holl, Kierkegaards Konzeption des Selbst. Meisenheim 1972. S. 13 — 28. J. Blaß, Die Endlichkeit der Freiheit. Diss. Köln 1962. S. 6ff. hat es für die Herausarbeitung der Ursprungsdimension der Freiheit der existierenden Subjektivität thematisch untersucht.

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und als An-der-Existenz-Gelegensein. Von ihm her ist die Formel des Selbstbewußtseins in Kierkegaards Epigramm des Menschen zu explizieren: Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Das erste herauszuhebende Aufbaumoment des Selbst ist das eines Verhältnisses zwischen Zweien. Der Mensch in seinem Dazwischensein ist ein Verhältnis zwischen zwei Entgegengesetzten. Die zwei Relate, die in der Relation des Selbst zueinander stehen, sind Antithesen einer Synthesis. Dabei bietet die Antithetik den vordringlichen Anblick des Menschen. Der Mensch ist da zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichem und Ewigem, Freiheit und Notwendigkeit, Leib und Seele. Es ist die Grundstruktur des Dazwischen-Liegens (,DiaIektisch-Seins'), welche sich in diesen vielfachen Gegensätzen artikuliert und die menschliche Existenz im Zwischenraum von Idealität und Realität, Denken und Sein, Möglichkeit und Wirklichkeit aufbaut. In dieser vorläufigen Kennzeichnung setzt sich die erste metaphysische Feststellung des Menschen durch, Piatos Rede vom dämonischen Geschlecht. Der Mensch sei ein Dämon und unheimliches Mittelwesen, weil er in seiner doppelten Herkunft aus dem Genos der Lebewesen und der Götter in keinem der beiden Bereiche heimisch werden könne. Sonst träte er eben ins Ansehen eines Tieres oder eines Gottes und wäre als Mensch unkenntlich. Kierkegaard hält am Ansatz des Menschen als eines „Zwischenwesens" ( U N I I , 3 2 ) fest und leidet die hyperbolischen Versuche nicht, ihn unter die Tiere zurückzustellen oder ins Göttliche aufzulösen. Zwar ist der Mensch fraglos als Geist und Selbstbewußtsein angesprochen, aber dieser Anspruch macht mit der Hypothesis, der endliche Geist sei ein dazwischen-liegender Widerspruch, bitteren Ernst. Hegels Gedanke, der menschliche Geist sei die Form des bewußten, sich tätig hervorbringenden und aus dem Widerspruch hervorringenden göttlichen Geistes selber, scheitert ebenso am Ernst des fundamentalen inter-esse dieses Zwischenwesens wie Nietzsches Umwertung der Hegeischen Theologisierung des Selbstbewußtseins. „Wir leiten den Menschen nicht mehr vom .Geist', von der ,Gottheit' ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt" (Nietzsche, Antichrist, Art. 14). Dagegen kommt alles darauf an, Geist und Selbst als Zwischensein im Vorgriff zu halten und nicht als Medium für den hindurchgehenden Gott bzw. als Folge der List des stärksten Thieres' zu vereinseitigen. Das dialektische Verhältnis des Dazwischenliegens ist tiefer zu entfalten. Als bloß vorhandenes, unmittelbares Dazwischensein ist der Mensch offenbar noch nicht in seinem Selbstbewußtsein zureichend ge-

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faßt. ,Auf diese Weise betrachtet, ist der Mensch noch kein Selbst'. Seine Existenzweise ist nicht die der Unmittelbarkeit. Zwar mag es dem Menschen eine Zeitlang glücken, in der Weise einer unvermittelten Unmittelbarkeit zu leben, etwa in der Unschuld und Einfalt eines jungen Mädchens, aber so verharrt sein Selbst doch nur im Modus des träumenden Geistes. Die paradiesische Unvermitteltheit zwischen Zweien, etwa im Verhältnis zwischen Leib und Seele, ist noch nicht zum Widerspruch erwacht. Damit es menschlich, d. h. ein Selbst-Verhältnis werde, braucht es die Ursprünglichkeit des Geistes. Jetzt erst kommt die lebendige, triplizitäre Verfassung menschlichen Selbstbewußtseins zur Sprache. Formal leuchtet ein, daß ein Drittes gesucht werden muß; denn die zwei Glieder des Verhältnisses, das der Mensch ist, schließen einander aus. Zwei Gegensätze müssen in einem Dritten geeint werden, anders können sie nicht zusammen bestehen. Eine Einheit von zwei einander ausschließenden Gliedern ist logisch nur möglich, wenn sie durch ein Drittes vermittelt wird. So müssen, inhaltlich gesehen, Leib und Seele mit einem Dritten, dem Geist, zusammengedacht werden. „Der Mensch ist eine Synthesis des Seelischen und des Leiblichen. Aber eine Synthesis ist nicht denkbar, wenn die Zwei nicht in einem Dritten vereinigt werden. Dies Dritte ist der Geist" (BA, 41). In solchem Ausblick auf die Triplizität des menschlichen Selbst erst beginnt sich die Vorgabe zu klären, der Mensch sei ursprünglich Geist. Wie aber ist die aus dem Geiste geborene Synthesis zu denken? Nicht als bloß negative Einheit. Negativ würden sich die Gegensätze schließlich so aufeinander beziehen, daß jeder der beiden nicht das andere ist, zugleich aber sich zu ihm als dem anderen seiner selbst verhält. Der Geist muß als positive Einheit, d. h. als die ursprüngliche Position lebendigen Selbstverhältnisses bedacht werden. Der erste Sprung des Geistes setzt das Entgegengesetzte allererst als Entgegengesetztes auseinander und in eine vom Gegensatz durchragte Einheit zusammen. Solches Erwachen des Bewußtseins erläutert der Fall von Seele und Leib, und unabweisbar wird hierbei der unerschöpfliche Sinn der biblischen Genesis-Erzählung sprechend. Vor dem Ur-sprung des Geistes lebt der Mensch unschuldsvoll, erkenntnislos und — nach Kierkegaards tiefblickender Einsicht — vom Aufblitzen der latenten Angst betroffen. Mit dem ersten Sprung des Geistes aber zerspaltet sich das vorbewußte Leib-Seele-Verhältnis. Wer vom Baume der Erkenntnis und des Lebens gekostet hat, dem gehen die Augen über das Dialektische in ihm auf. Das Leibliche enthüllt sich als das Geschlechtliche und Sinnlich-Sexuelle, das Seelische sublimiert sich

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zum rein Geistigen, und dem Menschen wird schamerfüllt bewußt, nie ewiges, reines, unendliches Geistwesen, sondern immer auch zeitgebundenes, endliches, leiblich-triebhaftes Geschlechtswesen zu sein. Ineins geht ihm auf, daß er sich nie umgekehrt in unmittelbarer Sinnlichkeit und Geschlechtlichkeit wird aufheben können. (Daher wird Faust, der sich vergeblich in die Unmittelbarkeit Gretchens zu retten sucht, zum ExistenzSymbol des über seine Zwiefältigkeit verzweifelnden Geistes.) Diese ursprüngliche Trennung und Vereinigung durch sich selbst ist Qualität und Qual des Geistes. Der Mensch als Selbst-Verhälmis konstituiert sich durch Auseinandersetzen und Zusammensetzen von Thesis und Antithesis in der Synthesis des Geistes, und zwar mit einem Schlage. Der erste Sprung des Bewußtseins hat nichts außer sich selbst zur Voraussetzung. „Das Bewußtsein setzt sich selbst voraus" (Ph. Β., 163). Sonach kommt der Geist nicht als dritte transzendierende Seinsschicht zur somatischen und vitalen Schicht des Menschen hinzu, er ist nichts als der einheitliche Vollzug des ursprünglichen Trenn ens und Verbindens. Er ist sowohl ,das Spatiierende, das auseinanderhält' (UNI, 111) als auch das Zusammenhaltend-Verbindende (vgl. U N 11,2). Vom Grundzug des inter-esse aber bekommt das Spatiieren ein Schwergewicht. Dafür ist die lateinische Bedeutung (etwa in Wendungen bei Livius) sprechend. ,Via interest' bedeutet: Ein Weg liegt dazwischen; ,triginta anni interfuere' heißt: Dreißig Jahre sind inzwischen verflossen. Das Dazwischensein, etwa von Raum und Zeit, besagt: EntFernung durch Trennen und Abstand-Schaffen. So ist der Geist das Abstand-Gebende, das den Zwischenraum eröffnet. Daher drängt sich dem Menschen, wenn er Klarheit über sich gewinnt, eben seine Zertrenntheit und Widersprüchlichkeit auf. Und von hier legt sich der andere Sinneinschlag des Interesses nahe. Von ihm her erst ermißt sich der Abstand von der cartesisch-idealistischen Bestimmung des Selbstbewußtseins. Interesse hat nämlich auch den Sinn: sich sein Existieren anliegen lassen. Und auch hier kann auf den vorphilosophischen, lateinischen Wortsinn gehört werden. ,Mihi interest (multum, tantum, nihil etc.)' besagt: Mir ist (alles — nichts) an etwas gelegen. In dieser Hinsicht ist das vielberedete .Anliegen* eine adäquate Ubersetzung von Interesse. Woran dem Menschen durchschnittlich-alltäglich liegt, ist vielerlei, der Abschluß eines Geschäfts, die Freundschaft eines Menschen, die Ausübung eines bestimmten Berufes. In jedem Falle geht es dabei um die Existenz dessen, woran mir liegt, etwa daß die Freundschaft wirklich, der Beruf erfüllt, das Geschäft abgeschlossen wird.

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Grund und Einheit der mannigfachen Interessen aber ist das Interesse am eigenen Selbst. Darauf hatte Fichtes Hervorhebung des Interesses als Entscheidungsgrund zwischen grundsätzlichen Möglichkeiten menschlicher Selbst- und Weltanschauung hingedeutet. Auf die innerste Verknüpfung von Interesse und Existenz aber stößt erst Kierkegaards Analyse der existierenden Subjektivität. „Für den Existierenden ist das Existieren sein höchstes Interesse, und die Interessiertheit am Existieren die Wirklichkeit" ( U N II, 15). Das Existenzial des Interesses trennt das Existieren des Menschen vom überlieferten Begriff der Existenz. „Das ist nämlich nicht Sein in demselben Sinne, wie eine Kartoffel ist, aber auch nicht in demselben Sinne, wie die Idee ist" ( U N II, 33). Die thomasische Formel des ec-sistere (esse rei extra causas) hat sich in allem Wandel von causa und essentia bis zu Hegels Bestimmung durchgehalten: ,Hervor- und Heraustreten des inneren Wesens in die ihm angemessene Existenz' (Enz. § 123, Zus.). Schulmäßig existiert Seiendes also, wenn es aus seinen (äußeren) Ursachen heraus- und in sein inneres Wesen hervorgetreten ist. Ein Haus z. B. steht wirklich da, wenn die Bauleute den letzten Handschlag getan haben und die Idee des Hauses adäquat in Holz und Stein durchgefertigt worden ist. Selbstverständlich kommt im Horizonte der creatio-Metaphysik die Seinsbedeutung der existentia gleichermaßen allem Geschaffenen, auch der menschlichen Kreatur, zu. Im Sinne Kierkegaards dagegen existiert allein der Mensch. Das folgt nun nicht — wie etwa in Sartres populärer Thesendiskussion „L'Existencialisme est un Humanisme?" — aus einem konsequenten Atheismus, der die Vorstellung des Schöpfergottes vollständig zu Lasten eines sein Selbst schöpfenden Menschentums durchstreicht, so daß es wenigstens ein Seiendes gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorhergeht. Es resultiert vielmehr daraus, daß zum ersten Male das Interesse als Existenzial menschlichen Selbstbewußtseins hervorgeholt worden ist. Das idealistisch gedachte Selbstverhältnis bildet die Vollzugsform, in der Wissen hervorgebracht wird. Das Wissen aber kann die Wirklichkeit nur denkend als Wesensmöglichkeit fassen. Das aber heißt: Es muß, um etwas zu wissen zu bekommen, interesselos werden und von der Wirklichkeit abstrahieren. Dieser Forderung unterliegt auch das sich selbst wissende Wissen des Selbstbewußtseins. Solange sich das Ich interesselos im Medium des Wissens zu sich selbst verhält, muß es das Existieren vergessen. Allein das Interesse bringt das Selbstverhalten auf den Grund des Daseins zurück. „Jedes Wissen um Wirklichkeit ist Möglichkeit; die einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender mehr als wissend ist, ist

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seine eigene Wirklichkeit, daß er da ist; und diese Wirklichkeit ist sein absolutes Interesse" (UN II, 17). Das absolute Interesse ist der vom spekulativen Denker übersehene Angelpunkt der Reflexion. „Die Aufgabe des subjektiven Denkers besteht darin, sich selbst in Existenz zu verstehen" (UN II, 55). Sich in Existenz verstehen beißt, seiner Zwiefältigkeit so einsichtig werden, daß der Widerspruch entschieden in erschlossener Entschlossenheit ethisch-religiöser Existenz zum Austrag kommt. Wenn sich das existierende Selbst auf sein Existieren versteht, dann wird es das wirklich, zu dem es sich entscheidet. Nicht das Hervorbringen von Wissen, sondern der Vollzug, der das Existieren vollbringt, verändert das Selbstverhältnis. „Wenn ich etwas in der Möglichkeit verstehe, so bleibe ich wesentlich unverändert . . . ; wenn es Wirklichkeit wird, so bin ich es, der sich verändert" (TG. H . 387). Es ist das absolute Interesse, das die Auslegung des Menschen als Geist und Selbstbewußtsein im Gegenzug gegen die Reflexionsphilosophie dirigiert. Der Mensch kommt als das ursprünglich den Zwischenraum eröffnende Zwischenwesen zum Vorschein, dem entschieden an seinem Existieren gelegen ist. Zwischensein (Spatiieren) und Anliegen der Existenz bilden gegenüber den Möglichkeiten der Reflexion den wirklichen Doppelsinn von Bewußtsein und interesse. „Die Reflexion ist die Möglichkeit des Verhältnisses. Das kann man auch so ausdrücken: die Reflexion ist uninteressiert. Das Bewußtsein hingegen ist das Verhältnis und damit das Interesse, eine Doppelheit, welche vollständig mit prägnantem Doppelsinn ausgedrückt ist in dem Worte Interesse (interesse)" (De omn. dub., 157). Durch solche Erinnerung löst die epigrammatische Wesensbestimmung des Menschen satirisch das klassische Reflexionszeitalter auf und weist die Dialektik des Selbstverhältnisses in eine Dialektik der Existenz ein.

2. Kapitel: Der Einzelne und das Prinzip der Assoziation. (Suspension der Soziodialektik) „Sobald das Interesse zum Vorschein kommt, geht die Metaphysik beiseite . . .. In der Wirklichkeit kommt das ganze Interesse der Subjektivität zum Vorschein, und nun strandet die Metaphysik" (BA, 15 —16 Anm.). Wird Sein als interesse gedacht, dann enthüllt sich sogar die kritische Metaphysik als Logik des Scheins, welche die Wirklichkeit, an der einzig gelegen ist, abblendet. Die Metaphysik ist interesselos, „ebenso

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wie Kant das von der Ästhetik behauptet hat" (BA, 15 Anm.). Kants transzendentale Analytik des Geschmacks macht zur ersten Bedingung dafür, daß das Schöne frei erscheinen kann, die Verhaltenheit interesselosen Wohlgefallens. Erst wenn das willenhafte Interesse an Existenz und Wirklichkeit ausgehängt ist, wird der Blick für die genuine Seinsweise des Schönen frei: für das sinnliche Scheinen der ästhetischen Idee. Entsprechend fordert die Metaphysik, von der vereinzelten und zerstreuenden Wirklichkeit abzusehen, um die Vernunft für das Sein des Wahren (είδος und essentia, perceptio und Ich-denke, τό τί ήν είναι und Begriff) freizuhalten. So aber erzieht die Anstrengung des Begriffs seit Plato zur Interesselosigkeit. Sie verläßt die Wirklichkeit des menschlichen Selbst und das Existieren des je Einzelnen. „In Griechenland . . . bestand die Schwierigkeit darin, das Abstrakte zu gewinnen, die Existenz zu verlassen, die beständig das Einzelne an die Hand gibt; heute ist es umgekehrt schwierig, die Existenz zu erreichen" (UN 11,34). Von Piatos Hypothesis des Eidos bis zu Hegels Beweis der absoluten Idee sieht die Metaphysik von einer .wirklichen Existenz' ab. Indem sie Wirklichkeit begreift, konzipiert sie das Wirkliche in seinem Wesen. Was sie vom Dasein faßt, ist immer nur eine ideale ,Begriffsexistenz'. Sie ersieht das Wirkliche als solches und schaut darin ein allgemeines Wesen, aber sie verhält sich nicht zur Existenz; denn Existenz ist Dasein des Einzelnen. „Die Existenz ist beständig das Einzelne, das Abstrakte existiert nicht" ( U N 11,33). Gewiß postuliert Hegels Lehre vom Begriff die Einzelheit als das einzig Wirkliche, aber eben stets nur in einer Vermittlung mit dem Besonderen und Allgemeinen, welche gegen das Einzelne gleichgültig macht. (Letztlich läßt auch die Aristotelische Einbeziehung des τόδε τι-Charakters ins Wesen der σύσία den Primat des είδος unangetastet — den Begriff der Existenz kennt sie überhaupt nicht.) Aber schon Kierkegaards Erörterung des Begriffs der Ironie deckt die Ironie der Metaphysik auf: Sie lehre, daß die Wirklichkeit absolute Bedeutung habe, aber sie vermag nicht zu lehren, wie die Wirklichkeit wirklich zu machen sei. Weil ihr wesensmäßig nichts daran gelegen sei, daß ich bin, klammere sie alle Bestimmungen daseinsmäßiger Endlichkeit, Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit aus. So wird die Metaphysik zur menschlichen Komödie. Zumal die neuzeitliche Ich-Philosophie findet die wahre Wirklichkeit dort, wo sie niemals sein kann. „Man faßt die Ewigkeit metaphysisch. Man sagt ,Ich-Ich' so lange, bis man selbst das Lächerlichste von allem wird: das reine Ich, das ewige Selbstbewußtsein" (BA, 159). Ausdrücklich

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verwahrt sich der Anfang der vollendeten Metaphysik, die Darlegung von Sein, Nichts und Werden in Hegels , Großer Logik', gegen jegliche Einmischung endlicher Seinsverhältnisse und appelliert an das Ethos stoischchristlicher Interesselosigkeit. Eine so geläuterte philosophische Haltung fordere vom Menschen, daß „es ihm gleichgültig sei, ob er sei oder nicht, d. i. im endlichen Leben sei oder nicht (denn ein Zustand, bestimmtes Sein ist gemeint) usf. — selbst si fractus inlabitur orbis, impavidum ferient ruinae, hat ein Römer gesagt, und der Christ sollte sich noch mehr in dieser Gleichgültigkeit befinden" (Logik I; 74). Solch unerschütterliche, in den ,Römeroden' des Horaz (Carmina 111,3) gefeierte Gleichgültigkeit gegen das Existieren und den Einzelnen für das christliche Gedankengut auszugeben, ist für Kierkegaard von ungeheurer Komik. Denn beginnt nicht das Christliche mit der Existenzkategorie des Einzelnen? Von Anfang an hat die Metaphysik die Kategorie des Einzelnen abgestreift. Um ein entschiedenes Verhalten zur verfallenen Existenz einzurichten, ist es notwendig, diese zentrale Abbreviatur des Daseins wiederzugewinnen. „Der Einzelne ist die Kategorie, durch welche, in religiöser Hinsicht, die Zeit, die Geschichte, das Geschlecht hindurch muß" (Sch. üb. s., 112). Das religiös-ethische Existieren des Einzelnen wird zum kritisch-satirischen Wendepunkt für alle Dialektik des „Ich bin Ich". Letztlich bildet das Existieren des Einzelnen unmittelbar vor Gott das Korrektiv für die mediierende Zusammenfügung des endlichen Subjekts mit dem Absoluten. Zuerst und vordringlich aber suspendiert die Renaissance des Einzelnen die Soziodialektik des Selbstbewußtseins. Sie verfolgt deren Assoziationsprinzip, welches die Nivellierung des Einzelnen in der Menge und die Anerkennung völliger Gleichheit im bornierten Horizont der Weltlichkeit betreibt. Nirgendwo konzentriert sich der Angriff gegen die trostlose Dialektik von Einzelnem und Menge so kompakt wie in der ersten Note zu Kierkegaards Konfession „Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller", und nirgend wann vor Nietzsche ist das Zeitalter der Nivellierung grundsätzlicher erfaßt und satirischer attackiert als im Abschnitt ,Die Gegenwart' der „Literarischen Anzeige", die ja ausdrücklich beabsichtigt, „die Gegenwart zurückzuführen auf dialektische Bestimmungen kategorialer Art" (Lit. Α., 81). Beide Schriften gehören in den weiteren Umkreis der ,Werke der Vollendung*. Wie die satirische Dialektik der ,Krankheit zum Tode' und der .Einübung im Christentum II' die Spekulation am Ernst des absoluten Paradox zerschellen läßt, so lösen die ,Noten' und die ,Literarische Anzeige' die Soziodialektik des Selbst-

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bewußtseins im Durchgang durch die Kategorie des Einzelnen auf. Dieser Vorgang ist unter das Epigramm gestellt: Die Menge ist die Unwahrheit — der Einzelne ist die Wahrheit 107 . „Das Altertum ist dialektisch in Richtung auf das Hervorragende (der einzelne Große — und dann die Menge; ein einziger Freier — und dann Knechte) . . .; die Gegenwart ist dialektisch in Richtung auf die Gleichheit des Maßes, und deren in Verkehrtheit folgerichtigste Durchführung ist das Nivellierungswerk" (Lit. Α., 90). Alle Soziodialektik dreht sich um das verzerrte Anerkennungsverhältnis zwischen Herren und Knechten, zwischen Freien und Unfreien. Und von jeher arbeitet die Moderne in der Richtung, die Gegensätze als Widersprüche der Ungleichheit in die Gleichheit aller aufzuheben, beflügelt von der Reflexion auf die Gleichheit aller von Natur freien, sich selbst bestimmenden Iche. Aber von Anfang an ist die Kategorie des Einzelnen (und dessen Sein vor Gott) unterschlagen. Darum nimmt die Bewegung der Aufhebung von sozialen Ungleichheiten in der Welt zwangsläufig eine verkehrte Richtung. Indem sie die gesellschaftliche Verbindung, das Prinzip der Assoziation, vergöttert, wird die negative Einheit, nämlich das Bewußtsein, daß nicht ein einziger den anderen überragen darf, zum Götzen der Zeit. Daher will die Gegenwart in komischer Verzweiflung die Ungleichheiten auf dem Boden der Ungleichheit, d. i. der Weltlichkeit, wegschaffen. Folgerichtig treten die Existenzkategorien der Reflexion, des Neides, des Nivellements ihre Herrschaft an. Der Abschnitt , Gegenwart* der Literarischen Anzeige klärt deren Zusammenhang auf. Die Gegenwart ist das Zeitalter der interesselosen Reflexion. Das Selbstverhältnis seiner Menschen charakterisiert sich durch Unentschiedenheit, träges Beharren (vis inertiae), Leidenschaftslosigkeit. „Es fehlt an Spannkraft, sich zu sammeln in Innerlichkeit, um eins zu werden in Eintracht" (Lit. Α., 85). Eine starke, zutiefst gleichgültige 107

Diese Schriften sind trotz ihrer Brisanz weithin unbemerkt geblieben. Es ist das Verdienst von K. Löwith (In: Von Hegel bis Nietzsche), diese Kritik Kierkegaards am Zeitgeist der Hegeischen Philosophie, der kapitalistischen Welt, dem verweltlichten Christentum und der bürgerlichen Gesellschaft — in erregender Synopse mit seinem Antipoden Marx — angezeigt zu haben. Neuerdings hat H. Deuser (Sören Kierkegaard. Die paradoxe Dialektik des politischen Christen. München 1974) unter Einbeziehung der Literarischen Anzeige die Reden aus der Revolutionszeit thematisch untersucht und gezeigt, wie weit diese Aufrufe an den Einzelnen politisch sind: in der Polemik gegen das Politische, in der Parodie auf den bürgerlichen Ernst und das unmenschliche Profitsystem, in der Empörung gegen die Vergötterung der Gesellschaft, der Satire auf die Christenheit, letztlich im Kampf gegen die Reflektiertheit der Zeit, die aus der subjektiven Entscheidung heraushält — d. h. gegen den Ungeist des Dialektischen.

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Reflexion zerstört die Unmittelbarkeit und verfängt sich in Selbstbezogenheit. Das Selbst ist selbstisch, sein Wesen Neid. „Die Idee der Reflexion . . . ist Neid" (Lit. Α., 86). Neid ist der ontologische Titel für das selbstische Selbstverhältnis aus Mangel an Innerlichkeit. Eine Mißgunst, die das Außerordentliche (letztlich das Sein des Einzelnen unmittelbar vor Gott) nicht gönnt, durchstimmt bestimmend das Verhältnis des Selbst zu sich, der Mitwelt zum Selbst, des mitweltlichen Selbst zum Anderen. In jedem dieser Bezüge macht „der Neid das negativ-einigende Prinzip" (Lit. Α., 86). Als charakterloser Neid wird dieses soziale Prinzip zur Nivellierungssucht. Ein solcher Neid hat nicht genug Charakter, sich als eine Art Notwehr gegen das Ausgezeichnete zu verstehen. Dann würde es das, was es verneint, wenigstens mit der Verneinung anerkennen — so wie es der Neid im Falle des Scherbengerichtes gegen Aristides tat. „Der Neid der Charakterlosigkeit versteht sich nicht darin, daß selbst mit der Verneinung er es anerkennt, sondern er will es herunterhaben, will das Ausgezeichnete verkleinert haben, so daß es wirklich nicht mehr das Ausgezeichnete ist; und der Neid richtet sich wider das Ausgezeichnete, welches da ist und wider das, welches kommen will" (Lit. Α., 89). So verdichtet sich der Neid zur Sorge und Sucht, das einzelne Große auf den Durchschnitt der Menge herunterzudrücken, den Hervorragenden nach dem Maßstabe mathematischer Gleichheit herabzusetzen. Die Zeit des Neides würgt und hemmt. „Der sich fest einrichtende Neid ist die Nivellierung" (Lit. Α., 89). Die Rache des am Ubermaß würgenden Neides entspricht dem Schicksal, der Nemesis des Altertums. Die Daseinsabbreviatur des Nivellements hat vorzüglich drei existenziale Grundzüge: die Einebnung in die Menge, die Entlastung der Selbstverantwortung, das Verfallen in die Anonymität. So macht das unaufdringliche, .stille mathematische Geschäft' der Einebnung aus dem Menschen eine Nummer in der Menge. Dabei fungiert die Menge nicht als ein Klassenbegriff, der die Menschen irreligiös in die Vornehmen und die Masse, in Patriziat und Plebs usf. einteilt. Sein und Macht der Menge ist das existenzzerstörende Numerische und Zahlhafte. In diesem Sinne übermächtigt ,die Generation' das Dasein des großen Einzelnen, und zwar mit wachsender Radikalität. Dem Altertum noch bedeutete der Einzelne in der Menge nichts und der ausgezeichnete Einzelne alles, nämlich die Rechtfertigung der Vielen. In der Moderne zählt allein die Menge — dem ,in unserer Zeit vergötterten positiven Prinzip der gesellschaftlichen Verbindung' gemäß. Der Geist der ausgleichenden Assoziation ist ebenso blind

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wie gefühllos. Das Verbinden zur ,Menschheit' sieht vor lauter Wald die Bäume nicht, ergeht sich in einer ausschweifenden Verachtung der einzelnen Menschen und nährt den ,trostlosen Waldbrand der Abstraktion' (Lit. Α., 115). Was zählt, ist dieses: Als Teil des Allgemeinen nimmt der Einzelne an Gewicht zu, als Nummer in der Menge hat er die Vielzahl auf seiner Seite. Solche Firmung hat der Einzelne nötig, seit er seiner ewigen Selbstverantwortung christlich bewußt geworden ist. „Wenn hier das Entsetzen anhebt, sucht man Trost in Gesellschaft" (Lit. Α., 91). Die Bewegung der Einebnung in die Menge ist die Geschichte eines Verfalls, der Flucht des Einzelnen vor der zu verantwortenden Wahrheit in die Unwahrheit. Darin vor allem ist die nur dem Scheine nach tätige und mutige Menge die Unwahrheit : Sie entlastet den Einzelnen von der Bürde seiner unbedingten Verantwortung vor Gott. Als einer von Vielen fühlt sich keiner mehr für eine Untat voll verantwortlich und zu tieferer Reue gestimmt; denn eine Menge ist ein „Abstraktum, das keine Hände hat" (Sch. üb. s., 101). Daß man in der Menge existiert, „gewährt entweder völlige Reuelosigkeit und Unverantwortlichkeit, oder schwächt doch die Verantwortung für den Einzelnen dadurch, daß sie diese zur Größe eines Bruchs herabsetzt" (Sch. üb. s., 101). Und der Einzelne weiß sich gedeckt durch Anonymität. Die Menge hat keine Namen. Sie kann daher nicht vor Gericht zitiert werden und nicht gerichtet, allenfalls hingerichtet und abgeschlachtet werden. In der Anonymität der Menge gibt es nur den gemeinsamen Schiffbruch. In solchen Katastrophen kann jeder mit dem anderen sich entschuldigen und von sich selbst wie von einem Dritten sprechen. Was in der Zeit des Neides und Nivellements vorherrscht, ist solche Dialektik von Einzelnem und Menge. Die Gefahr, die der Kategorie des Einzelnen entspricht, ist die, sich der Menge, ,dem Publikum' preiszugeben. Die Gefahr der Einebnung, Entlastung und Anonymisierung im Zeitalter der Menge — des massenhaft verbreiteten Christentums, in dem nicht ein einziger die Nachfolge Christi auf sich nimmt, — wird durch drei Mächte potenziert: durch die Sophistik der Presse, das Disengagement des Publikums, die Religion des Geldes. Diese Potenzen des Zeitgeistes sind in ihrem Zusammenhang mit dem Nivellierungswerk und in der Absicht anzuzeigen, die Verkehrung der humanistischen Soziodialektik zu konkretisieren 108 . 108

Umfangreiche Materialien über die anonymen Mächte des Nivellements (das Offizielle, die Presse, das Publicum, das Geld) bei F. C . Fischer, Existenz und Innerlichkeit. München 1969. S. 146-180.

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Die Presse verführt zum Gerede (.Schwätzen*). Das Gerede beseitigt das Entweder/Oder zwischen wesentlichem Reden und wesentlichem Schweigen und verwischt den Unterschied zwischen dem privaten und öffentlichen Sprechen in einer privat-öffentlichen Geschwätzigkeit; denn sie züchtet Publikum und Öffentlichkeit, die sich für das intimste Private interessiert. Und die Presse schaltet gleich. Selbst anonym und ohne Verantwortung, kann sie „zehntausend mal tausend dahin bringen, das Gesagte nachzureden — und keiner hat die Verantwortung" (Sch. üb.s., 104). Das bringt sie zustande, weil sie der Fluchtbewegung des Einzelnen ins Man entgegenkommt. Sie vermittelt ja den Daherredenden die Sicherheit, daß eine gute Zahl mit ihnen ist, welche dieselbe Meinung hat. So bildet die Presse eine neue Spielart der alten ars sophistica aus, und zwar die gefährlichste. Sie ist „der verderblichste Sophismus, der aufgekommen ist" (Tg. H . ; 1,331). Der journalistische Alleswisser verbreitet sein Pseudowissen unter dem Deckmantel der Pluralität und Menge. Er teilt seine Meinungen so mit, als formulierte er die öffentliche Meinung. So aber bringt die Presse jenes Phantom Publikum zur Welt, „welches das eigentlich Nivellierende" ist (Lit. Α., 100). .Publikum' bedeutet die verbreitete, unfaßliche Seinsweise des zunichte gewordenen Einzelnen. Es läßt sich nicht definieren, etwa als Volk, Generation, Geschlecht, es bildet keine irgendwie greifbare Gesellschaft oder Gemeinde, es kennzeichnet keinerlei abgrenzbare Mitwelt. Das Publikum ist wie ein ungeheures Heer, das nicht gemustert werden kann. Es ist ein Abstraktum. Jeder Einzelne nämlich wird in dem Augenblick zum Publikum, in welchem er nichtig, nämlich nicht-engagiert ist. So bildet sich eine dumpfe Menge, die selber zwar nichts versteht, nichts tut, für nichts einsteht, wohl aber als ,Galeriepublikum' jederzeit auf Anlaß zu Gerede wartet und nach Zeitvertreib verlangt. Dies „abstrakte Öde und Leere, welches alle und niemand ist" (Lit. Α., 99), das Phantom, das keine persönliche Bindung eingeht, die Abstraktion ohne wirkliche Mitglieder, wirkliche Situation, Gefährdung und Verantwortung bildet die Signatur der Moderne. In der Antike war die Gesamtheit gerade die den Einzelnen stützende und bildende Konkretion. In der Moderne wird sie in der Gestalt des Publikums zum Tode jedes kräftigen Gemeinlebens. Als Publikum sind alle gleich, nämlich gleicherweise nichtig und disengagiert. Ein Engagement blüht freilich: das der sinnlich materiell daseienden Macht der Zahl. Es konkretisiert sich in der Religion des Geldes. Das Geld, die alles gleich und ungleich machende anonyme Weltmacht, wird der Moderne, eben weil sie dialektisch in Richtung auf die mathematische

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Gleichheit ist, zum Gott. (Gold, ,die sichtbare Gottheit', ist in Shakespeares „Timon von Athen" am Anfang der Moderne poetisch dargestellt lind am Ende in der glänzenden Auslegung des „Timon" durch den jungen Marx kritisch reflektiert worden.) Kierkegaard hat die Religion des Geldes satirisch notiert. Der neue Gott macht gleich und ungleich. Für den Geldgläubigen leben alle Menschen gleichermaßen in der Ebene des Kaufpreises. „Wer selbst überschätzt, was das Geld gewähren kann, wird die Menschen so überschätzen, daß er glaubt, jeder habe seinen Preis, für den er zu kaufen sei" (Tg. H. 11,248). Und vom Geldhaben her entsteht die Ungleichheit zwischen den Klassen der ,Geldmenschen' und der Habenichtse, der Armen und Réichen, Angesehenen und Verachteten, Mächtigen und Machtlosen. „Hat man kein Geld, so ist und bleibt man ausgeschlossen aus der Zahl der Patrizier, so ist und bleibt man eben ,plebs' " (Entweder/Oder 11,239). Die Zeit der Reflexion, des Neides, der Nivellierung zelebriert daher nur noch eine Religion: „Geld ist der Gott der Welt, und darum nimmt die Welt alles ernst, was mit Geld zu tun hat und eine Beziehung zum Geld hat" (Leben und Walten der Liebe; E. R. 111,323). Darin kommt eigendich die ganze Verkehrtheit der humanistischen Gesellschaftsdialektik zutage. Diese stellt sich wohl „dem Problem, das dem ganzen Geschlecht bevorsteht: Gleichheit zwischen Mensch und Mensch" (Tg. H . 11,22), aber ihre Aufhebungen schlagen die verkehrte Richtung ein, nämlich die der Weltlichkeit. Gegen die Erlösungsdialektik eines jeden ,vollendeten Humanismus' setzt Kierkegaard die zersetzende Kritik der Satire ein. Die zum ersten Prinzip gesteigerte Assoziation, das alles ausgleichende gesellschaftliche Sein, erregt sich ja nur am Engagement des materiellen Interesses innerhalb der Religion des Geldes. Weil dieses Prinzip aber nicht durch das wahre ,interesse' des Einzelnen hindurchgeht, kann es auch keine wahre Gleichheit ponieren. „Das Prinzip der gesellschaftlichen Verbindung (das zuhöchst in Beziehung auf die materiellen Interessen seine Gültigkeit hat), ist in unserer Zeit nicht bejahend sondern verneinend, ist eine Ausflucht, eine Zerstreuung, eine Sinnestäuschung, deren Dialektik folgende ist: indem es die Individuen stärkt, entnervt es sie, es stärkt durch das Numerische, den Zusammenhalt, dies aber ist ethisch eine Schwächung" (Lit. Α., 113). Das Vorwort der ,Noten' legt dar, warum es das politisch-ökonomische Prinzip der Gleichheit niemals dahin bringt, „daß Menschlichkeit Menschengleichheit ist" (Sch. üb. s., 97). Mit einer Art Besessenheit sucht es nämlich im Medium der Weltklugheit sein Ziel zu erreichen. Aber die

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Welt nimmt nur eines ernst, den Unterschied des Geldes, die Ungleichheit der Klassen. In den Augen der Welt sind und leben alle ungleich. In der Welt wird einer dem anderen vorgezogen, weil nur die Rolle und Verkleidung der Einzelnen in der Menge in Betracht kommt. Die Ungleichheit mit Kategorien der Weltlichkeit, die ja gerade Ungleichheit erzeugen, aus der Welt schaffen zu wollen, das ist eine unmögliche und komische Geschichte. „Vollkommene Gleichheit verwirklichen im Medium der Weltlichkeit, Weltgleichheit, d. h. in dem Medium, dessen Wesen Unterschiedlichkeit ist, und sie weltlich, weltgleich, d. h. Unterschied schaffend verwirklichen, das ist ewig unmöglich, das kann man aus den Kategorien ersehen" (Sch. üb. s., 97). Soziale Revolutionen schaffen, indem sie alte Gegensätze beseitigen, unausbleiblich neue. Wahre Gleichheit ist erst zu erhoffen, wenn das verabsolutierte gesellschaftliche Sein in die Krise getrieben wird. „Es ist also so weit als möglich davon, daß die Idee der Gesellschaft, der Gemeinde, die Rettung der Zeit werden wird, so weit nämlich, daß sie im Gegenteil die Skepsis ist, welche hervor muß, damit die Entwicklung der Individualität recht vor sich gehen möge, indem jedes Individuum entweder verloren geht oder, unter der Zucht der Abstraktion, religiös sich selbst gewinnt" (Lit. Α., 113). Kierkegaard suspendiert die weltliche Soziodialektik und lagert sie in eine Dialektik der Krise zurück. Es müssen Verzweiflung am Heil der Gesellschaft bewußt und Zweifel an der Wurzelhaftigkeit des gesellschaftlichen Seins eingestanden werden. In dieser Richtung arbeitet das Assoziationsprinzip dialektisch. Es führt, indem es die Illusion menschlicher Gleichheit rege hält, nur weiter von diesem Ziele fort und zugleich immer näher zu ihm hin; denn die steigende Verzweiflung, Gleichheit in der Welt verwirklichen zu wollen und nicht zu können, führt zur Krise und Entscheidung. Entweder flüchtet sich der Einzelne bewußt in die Menge, oder er existiert radikal. Jedenfalls gerät er unter die Zucht der Abstraktion. Diese schleift ihn zur Nummer in der Menge ab, aber sie kann auch sein Wesen zuschleifen, nämlich zum Selbst, das sich unmittelbar verantwortlich weiß vor Gott. Dazu aber muß die verkehrte Dialektik der Gesellschaftlichkeit durchsichtig sein. Es muß durchsichtig werden, wie das Assoziationsprinzip das Selbst numerisch stärkt, nämlich ihm als Masse Macht verschafft, aber ineins ethisch schwächt, nämlich gewissenlos endastet und über die religiöse Verwurzelung des Mitseins hinwegtäuscht. Erst eine radikale Vereinzelung kann das Problem der Gleichheit zwischen Mensch und Mensch wirklich lösen. Die Zurückgewinnung der

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Kategorie des Einzelnen stellt die Dialektik des Sozialen nicht in Abrede, sondern in ihren Grund zurück. Auch im Falle Kierkegaards zieht das Solipsismus-Argument nicht 109 . Die Rehabilitierung des Einzelnen proklamiert nicht einen chrisdichen Rückzug aus mitweltlicher Praxis in kontemplative Ich-Einsamkeit. Zwar wird sich zeigen, daß das Selbst in steigender Angst und Verzweiflung vereinsamt110 und der Gefahr der Verschlossenheit ausgesetzt ist, aber es wird darauf ankommen, dies als einen dialektischen Umschlagspunkt zu verstehen. Die religiöse Existenz war ja als der Durchgang annonciert, durch welchen die Zeit, die Geschichte, das Geschlecht hindurch müssen, soll nicht die verkehrte Bewegung des politischen Sozialismus eingeschlagen, sondern die wahre Gleichheit in die Welt gebracht werden. Das Christentum ist eben für Kierkegaard ,die praktische Religion'. Freilich hat sie für den Politiker und in Zeiten, in denen alles Politik ist, das höchste Maß des Unpraktischen an sich (vgl. Sch. üb. s., 96 - 97). Wahrhaft gleich sind Menschen niemals in ihren Rollen und Verkleidungen vor der Welt, sondern allein vor dem nichtweltlichen Gott. Nur unter dem Anspruch und Gericht Gottes ist jeder der einzig Eine und jeder andere der Nächste. Die soziale Kategorie der Rolle wird durch das Existenzial des Nächsten wesenlos. Zur Nächstenliebe gehört die Skepsis an der Weltlichkeit und ihrer vorgespiegelten Menschengleichheit. „Will man in Wahrheit den Nächsten lieben, so muß man jeden Augenblick sich bewußt bleiben, daß die Besonderheit eine Verkleidung ist" (Leben und Walten der Liebe; E. R. III, 93). Der Nächste wird erst transparent, wenn alle weltliche Ungleichheit zwischen Reichen und Armen, Königen und 109

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Natürlich ist das Gespenst des Solipsismus auch hier an die Wand gemalt worden. Repräsentativ dafür ist die Polemik von G. Lukács, Kierkegaard. In: Deutsche Zeitschr. f. Philosophie 1 (1953) Heft 2. Sie deutet Kierkegaard als denjenigen Versuch, die Religion philosophisch zu retten, der beim .künstlich isolierten Individuum' enden muß, weil seine Pseudodialektik die Rationalität der Außenwelt und die Geschichte preisgibt und so den Menschen entgesellschaftet. Aber solche Darstellungen verwechseln parteilich den Einzelnen mit dem von Kierkegaard präzise analysierten .Verschlossenen'. Im übrigen stellt der von A. Pieper vorgetragene Widerspruch (Geschichte und Ewigkeit bei S. Kierkegaard. Meisenheim 1968. S. 142ff. Anm.) solche Entstellungen richtig. K. Löwith (Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. 2. Aufl. Darmstadt 1969 § 44 S. 174—177) hebt in seiner Zusammenstellung Kierkegaardscher Leitgedanken über den Einzelnen die Verzweiflung als Prinzip der Vereinsamung heraus. Und er dringt darauf, deren existenziell-theologische Voraussetzungen anthropologisch nach dem Vorgange von Feuerbach und Nietzsche aufzuklären. Indessen käme solche Aufklärung zu spät und fiele hinter den Diskussionsstand bei Kierkegaard zurück. Solch anthropologische Reduktion der Religion fällt doch selbst unter die von Kierkegaard analysierten Phänomene: als potenzierte Gestalt der Verzweiflung.

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Bettlern, Bürgern und Proletariern als Rolle erscheint, die jedermann in und vor der Menge spielt. Und erst dadurch, daß jeder andere zum Nächsten wird, besteht Aussicht, die zwischenmenschliche Ungleichheit zu revolutionieren. „Der ,Nächste', das ist der schlechthin wahre Ausdruck für echt menschliche Gleichheit" (Sch.üb. s., 105). Der Weg zum Nächsten und die Revolution der Ungleichheit durch ästhetische Erziehung, Moralisierung der Denkungsart, Umsturz des Geldsystems bleiben oberflächlich. Radikal ist allein der Weg der Selbstfindung des je Einzelnen. Dazu aber verhelfen weder die Idee der Gattung noch der Geist der Zeit und schon gar nicht die ältere Generation. Der Mensch geht nicht darin auf, Mitglied seiner Generation, Geschöpf des Geschlechts, Kind seiner Zeit zu sein. Er kann nicht en masse, sondern nur als Einzelner ein Selbst werden. Wahrhaft Einzelner aber wird ein jeder nur dadurch, daß er sein Selbstverhältnis durchsichtig ins dialektisch-paradoxe Verhältnis zu Gott einläßt. Die dialektischen Bezüge des intersubjektiven und gesellschaftlichen Seins vermögen daher die Gleichheit des existierenden Selbst ebensowenig zu begründen wie die befreiende Leidenschaft revolutionärer Gewalt. (Uber die Selbstverlorenheit der politischen Revolution belehn die Französische Revolution 111 ). „Der Mensch, der nicht vor Gott ist, er ist auch nicht er selbst" (Ch. R.,41).

3. Kapitel: Der Einzelne unmittelbar vor Gott Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie. Feuerbachs religionspsychologische Aufklärung erklärt die Religion als Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein geheimes Wesen. Das genuine religiöse Organ, die Phantasie, entäußert das Gattungsverhältnis des Menschen zum Gottesverhältnis und

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Einerseits charakterisiert die Literarische Anzeige ( 6 4 - 7 1 : „Die Revolutionszeit") die Französische Revolution als Zeit der Leidenschaft, Innerlichkeit, Entscheidung und Befreiung gegenüber der unentschlossenen Zeit der Reflexion günstig. Andererseits deckt sie deren Zweideutigkeit auf. Die Revolution sei in sich Reaktion, weil sie im Gegenzug gegen einen versteinerten Formalismus die Naturverhältnisse wieder einzusetzen suche. Darum verliere die Revolution schnell die Ursprünglichkeit des Ethischen und nehme Züge der Gewaltsamkeit und Roheit an. Die Gewaltsamkeit entsteht, wenn sich die Individuen en masse zur Idee verhalten. Und Roheit kommt auf, wenn auch noch das Verhältnis wegfällt, in welchem die Masse zur Idee steht. Keine bloß politische Revolution kann ihre Leidenschaft und Innerlichkeit rein erhalten, und kein revolutionäres Pathos kann dauern.

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schaut im Gott-Menschen Christus die menschliche Existenz in Gott gegenständlich an. Was so der Mensch als selbständige göttliche Macht und Wirklichkeit außer sich einbildet, ist sein eigenes Wesen und Dasein. Der Gott der christlichen Offenbarung ist, kritisch entwickelt, der entfremdete Mensch. Seitdem lebt diese Tendenz, die Theologie in Anthropologie aufzulösen, aus Schlagworten der Entfremdungsdialektik. So hat Marx in seiner gewaltigen Einleitung „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" vom Ende 1843 — unter dem Eindruck von Feuerbachs ,Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie* — die Feuerbachsche Wende abschließend formuliert: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen" (Einl. 1,488). Kierkegaards Stellungnahme zur Feuerbach-Polemik ist ,dialektisch'. Feuerbach ist für ihn zugleich hostis und socius. Im Feind der modernen Christenheit — in welcher das Christentum durch Ausbreitung in Masse abgeschafft ist — sieht er den Bundesgenossen. Für die Wiederherstellung des Christentums ist die Negation ihrer Negation heilsam. So bemerkt eine Tagebuchnotiz: „Et ab hoste consilium: Angriff Feuerbachs auf eine Welt, die sich christlich nennt und eine Negation des Christentums ist" (Pap. Χ 2 A129). Für Kierkegaard ist Feuerbach, dessen „Wesen des Christentums" er 1844 erstanden hatte, ein maliziöser Dämon, der aber doch in seinem Angriff gegen die offizielle Christenheit recht hat (vgl. Tg. IV, 28). Im Simplifikateur der Theologie, der das Christentum abschaffen will (vgl. B.üb. Α., 5 und 58), aber sieht Kierkegaard den alten spekulativen Feind. Feuerbachs anthropologische Reduktion sei nichts anderes als die Konsequenz aus der Hegeischen Verwandlung der christlichen Existenzmitteilung in eine metaphysische Doktrin. Die anthropologische Entfremdungsdialektik zieht die Konsequenz aus einer verkehrten Ontotheologie, aus der Hegeischen Ineinssetzung des Göttlichen mit dem Menschlichen, aus der spekulativ pantheistischen Vergegenwärtigung und Realisierung des Jenseits im Diesseits. (So erklären ja Feuerbachs Eingangsthesen „zur Reformation der Philosophie" von 1843 den Pantheismus als notwendige Konsequenz der spekulativen Theologie und den Atheismus als konsequenten Pantheismus.) Das ist die Pointe der Kierkegaardschen Gegnerschaft gegen Feuerbach. Die Reduktion der Theologie auf Anthropologie folgt aus der spekulativen Reduktion der Anthropologie in Theologie. Hegels spekulativ-dialektischer Versuch, das Christentum aus der Glaubenskrise in eine lebendige Vernunftgewißheit über die Zeiten zu retten, schlägt in Nihilismus um. Das Hineinziehen des menschlichen Selbstbewußtseins in das Kreisen von Entäußerung und

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Wiederaneignung des göttlichen Geistes ermöglicht allererst die nihilistische Gegenbewegung: die Verrechnung von Gott und Religion in den Kreislauf des sich selbst entfremdenden und wiedergewinnenden menschlichen Selbst. Die anthropologische Verwindung der Theologie ist der dialektische Umbruch der wahrhaft fatalen Hegeischen „Entdeckung, daß es kein Jenseits gibt, daß ,droben', ,jenseits* und anderes Derartiges der dialektischen Borniertheit des endlichen Verstandes angehören" (U. N. 11,65). Um diese ganze falsche Dialektik aufzurollen, ist es offenkundig notwendig, auf eine zureichende Bestimmung des Menschen zurückzugehen. Dafür kann immer noch die epigrammatische Formel der .Krankheit zum Tode' zum Anhalt dienen; denn mit der Ausarbeitung des dreifachen Sinnes von Interesse und mit der Ortung des existenzialen Schwergewichts des Einzelnen ist die Explikation des menschlichen Selbstverhältnisses keineswegs zu Ende. Diese hat vielmehr erst für das alles entscheidende Entweder/Oder vorbereitet. „Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Andres gesetzt sein" (KzT, 9). Das Selbstwerden in nihilistischer Zeit ist der Schärfe einer geschichtlichen Entscheidung ausgesetzt. Anfänglich kommt der Selbstbehauptungswille der neuzeitlichen Subjektivität zum Ausdruck. Seit Descartes stützt sich der Mensch auf die Autonomie eines sich selbst wissenden und wollenden Ich — der göttlichen Allmacht zum Trotz. Kierkegaard läßt keinen Zweifel daran, daß Descartes' Einsetzung des autonomen Ich sich für den Grundsatz entschieden hat: Das Ich setzt sich selbst, und daß der Cartesianische Zweifel „des Menschen aufrührerische Stärke gegen Gott" (Pap. VIII, 1 A 125) und den Versuch ausdrückt, sich dem Gesetztsein durch Gott und damit der ethisch-religiösen Existenz zu entziehen. Aber spätestens seit dem bekannten Jacobischen Grundsatz (,Gott ist, und ist außer mir, ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder Ich bin Gott. Es gibt kein Drittes') stellt sich für die Verabsolutierung des Ich die Nihilismusfrage. Die anfängliche Verkündigung des sich selbst setzenden, absoluten Subjekts und die spätere Dialektik der Selbstvernichtung des Ich in Fichtes Wissenschaftslehre zeigen die Aporie des Versöhnung und Einheit suchenden Selbst in ihrer abgründigen Tiefe. „Dieß war eben die Schwierigkeit aller Philosophie, die nicht Dualismus sein wollte, sondern mit dem Suchen der Einheit Ernst machte, daß entweder wir zu Grunde gehen mußten oder Gott. Wir wollten nicht, Gott sollte nicht!" (WL 1804, 8. Vortr.; 76).

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Kierkegaards Refundierung des sich setzenden Selbst auf die Bedingungen menschlich-endlicher Existenz entscheidet das Entweder/Oder gegen die Autonomieerklärung des Ich. Im Grunde muß das Sich-Setzen (sich als seiend Vorstellen) des Ich als Existieren des Einzelnen im Zwischensein der Gegensätze bedacht werden. Dabei ist natürlich das (ethisch) existierende Selbst in seiner Selbstentscheidung und Selbstverantwortung in Anschlag zu bringen. Aber das (geworfene) Dasein kann sich nur innerhalb einer faktischen Synthesis setzen (entwerfen), es kann nicht setzen, daß die Synthesis eine Einheit dieser so bestimmten Gegensätze, nämlich von Leib und Seele, Denken und Sein, Endlichkeit und Unendlichkeit usw., ist. Und es steht in der Freiheit des sich unendlich wollenden Geistes auch nur, das Endliche im maßlosen Ausgriff seines Wollens ins Unendliche auszuweiten. „Denn was heißt Geist haben, ohne daß man Willen hat, und was heißt Willen haben, ohne daß man ihn über alle Maßen hat, sintemal der, welcher ihn nicht über alle Maßen hat, sondern nur in gewissem Maß, ihn gar nicht hat" (St. L., 261). So verfügt die sich selbst setzende Existenz über den willenhaften Ausgriff ins Unendliche, nicht aber über die Rückkehr in ihre Endlichkeit und schon gar nicht über die Versöhnung der Gegensätze. Uberläßt sich das Dasein der Maßlosigkeit seines Willenswesens, dann führt es ein Mißverhältnis zwischen Endlichkeit (Faktizität) und Unendlichkeit herbei, aus dem es sich aus eigener Kraft nicht befreien kann. Vielmehr verstrickt sich sogar die ethische Existenz in der befreienden Anstrengung ihres Willens immer tiefer ins Mißverhältnis, ohne am Mißverhältnis zu leiden, die Erfahrungen der Endlichkeit in den Gestimmtheiten von Angst und Verzweiflung zu gewinnen und an der autonomen Vernunft irre zu werden 112 . Das sich selbst bestimmende Ich ist eine experimentierende Existenz. Der auf seine Heautonomie pochende Mensch hängt einer bedrohlicheren Illusion nach, als es diejenige war, vor der Kants Logik des Scheins behüten 112

W. Schulz hat darin den Mangel in der Kategorie des Ethikers (von Selbstwählen und Freiheit) gesehen : Die Rückkehr steht nicht in des Menschen Macht. Hierzu bedarf es der Kraft des Glaubens an das Absurde; denn jeder kann wider Willen in das Geschick der Ausnahme gezwungen werden. Die Angst um diese Möglichkeit gehört zum Leben als solchem (Sören Kierkegaard. Existenz und System. Pfullingen 1967. S. 16-17). W. Anz (Philosophie und Glaube bei. Sören Kierkegaard. In: Sören Kierkegaard, Wege der Forschung. Darmstadt 1971. S. 173—239) zeigt, wie der Glaube vernunftkritisch wird, indem er das philosophierende Selbstbewußtsein, das vermöge seiner Vernunft die Welt immanent, d. h. aus sich selbst zu erklären sucht, auf seine Interesselosigkeit und Existenzverborgenheit aufmerksam macht und zur Selbstreflexion der Existenz zwingt. Diese vollzieht sich in Erfahrungen, welche die Cartesianische Souveränität von Grund auf in Frage stellen, im Verstehen von Schicksal, Tod, Schuld, Angst.

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wollte. „Kant meinte, der Mensch sei sich selbst sein Gesetz (Autonomie), d. h. er binde sich selbst unter das Gesetz, das er sich selbst gegeben habe. Dadurch ist eigentlich im tieferen Sinne: Gesetzlosigkeit oder Experimentieren gesetzt" (Tg. IV, 93). Solange das Bindende und das Gebundene dasselbe sind, nämlich Ich, kann es keinen Zwang und keinen Ernst in menschlichen Bindungen geben. Das ernstlich Bezwingende und Bindende kann nur ein Drittes außerhalb des Selbstverhältnisses sein. Im Verlassen der ethischen und im Eingehen auf die ethisch-religiöse Existenz entscheidet sich das geschichtliches Geschick gewordene Entweder/Oder. Der Mensch ist das Selbstverhältnis, das nicht durch sich selbst, sondern durch ein Anderes gesetzt ist. „Ein solches abgeleitetes Verhältnis ist des Menschen Selbst, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und, indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem Andren sich verhält" (KzT, 9). Der Andere ist nicht das ,alter ego' — das hat die Suspension der Soziodialektik abgewiesen —, der mich setzende Andere ist das ganz Andere meiner Selbst, Gott. Ausdrücklich stiftet das Gottesverhältnis nicht eine bloß zusätzliche Relation neben und auf dem Grunde des menschlichen Selbstverhältnisses. Ursprünglich, wenngleich zumeist verdeckt, existiert das Selbst vor Gott. Erst durch diesen Bezug kann es das erfüllen bzw. verfehlen, was es im Grunde ist. Darin, daß man vor Gott ist, gründet der Ernst menschlicher Existenz. Ein Selbst, das sich dem Gottesbezug zu entziehen sucht, findet niemals zu sich selbst. Ein Selbst aber, welches das sich setzende Ich denkend mit dem Absoluten zu vermitteln sucht, findet niemals zu Gott. In solcher Vermittlung aber besteht das Hegeische Programm. Es hat sich angesichts des Jacobischen Grundsatzes formuliert: „Jacobi sagt: ,Gott ist, und ist außer mir, ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder Ich bin Gott. Es giebt kein Drittes'. Es giebt ein Drittes, sagt dagegen die Philosophie, und es ist dadurch Philosophie, daß ein Drittes ist; — indem sie von Gott nicht bloß ein Seyn, sondern auch Denken, d. h. Ich prädiziert, und ihn als die absolute Identität von Beidem erkennt, kein Außer für Gott und darum ebenso wenig ihn als ein solches für sich bestehendes Wesen . . ., sondern außer Gott gar kein Bestehen und Nichts anerkennt: also das Entweder/Oder, was ein Princip aller formalen Logik und des der Vernunft entsagenden Verstandes ist, in der absoluten Mitte schlechthin vertilgt" (Glauben und Wissen; 1,410). Kierkegaards existenzielle Verankerung des Entweder/Oder entspringt dem leidenschaftlichen Protest gegen das bloß vernünftige Mediieren und gegen den spekulativ vollendeten Pantheismus. Dagegen führt er die

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Kategorie des Einzelnen ins Feld. Der Einzelne ist das Subjekt des geschichtlich (christlich geprägten) Selbstwerdens; dessen einzige Zwischenbestimmung ist Gott (und nicht die Allgemeinheit des objektiven Geistes). „ ,Der Einzelne', mit dieser Kategorie steht und fällt die Sache des Christentums, nachdem die Weltentwicklung so weit in Reflexion gelangt ist als sie ist. Ohne diese Kategorie hat der Pantheismus schlechthin gesiegt" (Sch. üb. s., 117). Das Existenzial des Einzelnen sperrt sich gegen den weltbeherrschenden Zeitgeist der Reflexion113. Als bloß subjektiver Geist erliegt der Einzelne den Gestalten des objektiven Geistes, die ihn in unendlicher Überlegenheit an sich teilhaben lassen. Vor der höheren Instanz des Allgemeinen (von Staat, Gesellschaft, Generation, von Kunst, Geschichte, Zeitgeist) verschwindet das existierende Selbst. Die anonyme Ubermacht des Allgemeinen paralysiert dessen innere Unendlichkeit, eigene Wahl, Entschlossenheit, daseinsmäßige Geschichtlichkeit. Wird so der Einzelne von sich selbst wegvermittelt, dann haben der Pantheismus und die absolute Mediation gesiegt. Nur der Einzelne in seiner absoluten Differenz und unvermittelten Relation zum Absoluten bildet ein Bollwerk gegen die pantheistische Allvermittlung. Der Bezug und Ubergang zwischen der Qualität des einzelnen Selbst und der Gottes ist ein abgründiges Problem. Es läßt sich nicht quantitativ auf dem Boden einer unterstellten Einheit des Geistes lösen. Darauf weist Kierkegaards Unterscheidung von quantitativer und qualitativer Dialektik unmißverständlich hin. Das wird genauer zu verfolgen sein. Die neu zu bedenkenden Kategorien des Ubergangs (Verzweiflung, Augenblick, Wiederholung, Ärgernis, Paradox) jedenfalls betreffen den qualitativ unendlich von Gott getrennten Einzelnen in seinem ganz und gar unvermittelten Sein vor Gott. Der Ernst des Sprunges tilgt den Schein der spekulativ quantitierenden Vermitdungsdialektik. „Nur der Sprung setzt die qualitative Dialektik" (Pap. VII, 2 Β 235). Erst der Sprung in den die Autonomie des Ich abwerfenden Glauben angesichts des geschicklichen Entweder/Oder hindert den Sieg des Pantheismus und

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Der Titel .Zeit der Reflexion' ist doppeldeutig. Kierkegaards Kritik an der pantheistischen Reflexion basiert auf der Einsicht, im Zeitalter der profanen Reflexion (der Weltlichkeit) zu leben. Diese aber ist gerade das Lösungsmittel, welches die Autoritäten des objektiven Geistes durch die Heraufkunft des Nivellements und der Menge zersetzt (vgl. W . Anz, Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Tübingen 1956. S. 33 — 42). In der Wurzel aber ist die Doppelgefahr der Zeit der Reflexion dieselbe : die Vernichtung der christlichen Primitivität durch Aufhebung des Einzelnen und dessen unmittelbaren Seins vor Gott.

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dessen Umschlag in die Anthropologie des Geschlechts oder in den Humanismus des Gattungswesens. Das Dringen auf den Primat des Einzelnen und der Existenz stoppt die Feuerbachsche Verkehrung des verkehrten Pantheismus. Die Kategorie des Einzelnen wird als ,der archimedische Punkt', die ,fodfaeste' und als der entscheidende Durchgang festgehalten. Das bedeutet: Nicht der Einzelne muß durch den Schluß des Allgemeinen (der Generation, des Zeitgeistes usw.), sondern die Zeit, Generation muß durch den Beschluß des Einzelnen hindurch. Für den Einzelnen gibt es nur eine einzige Zwischenbestimmung, in der sich das Selbst in seinem Verhältnis zu sich und zum anderen, dem Nächsten, durchsichtig wird, nämlich Gott. „Gott als der Zwischenbestimmung entspricht ,der Einzelne'. Soll ,das Geschlecht' die ,Instanz' sein oder auch nur die Zwischeninstanz, so ist das Christentum abgeschafft" (Sch. üb. s., 117). Darin eben vollbringt sich die Feuerbachsche Abschaffung des Christentums. Das Geschlecht, der Mensch als Gattungswesen, wird zur Instanz und zur Zwischeninstanz für die verborgene Vermitteltheit der Gottesvorstellung. Sie zieht fraglos die Konsequenz aus dem Hegeischen Pantheismus. Der pantheistische Gedanke, der Geist Gottes stelle sich in dem zu wahrem Leben erwachten Selbstbewußtsein selber vor, pervertiert zur Formel: Der Mensch als Gattungswesen stellt sich in der eingebildeten Gottesvorstellung selbst im Modus der Entfremdung vor. Das Korrektiv gegen solche Verwirrung bildet die Bestimmung des Menschen als des Einzelnen. „Als ,der Einzelne' ist er allein, allein in der ganzen Welt, allein — Gott gegenüber" (Sch. üb. s., 117). Dem Existieren vor Gott helfen keine Vermitdungsversuche. Das Verhältnis, in welchem sich das Selbstverhältnis zu Gott verhält, ist unvermittelt. Der Ubergang zu Gott ist anders zu denken als ein im Denken zu vermittelnder, nämlich als ein im Denken nicht zu denkender. Die Ubergangskategorie des Sprunges bleibt dem Begriff ewig unbegreiflich. Das Geheimnis der Anthropologie ist die Theologie.

4. Kapitel: Fundamentalontologische Analyse der Existenz. Das Kranksein zum Tode Die „Krankheit zum Tode von Anti-Climacus. Herausgegeben von S. Kierkegaard" gehört zu den halbpseudonymen Schriften. Diese Pseudonymität kündigt eine Gegenbewegung an. Anti-Climacus nennt die ent-

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gegengesetzte Position zu der, die Climacus einnimmt. Climacus, der Humorist, kämpft mit den Schwierigkeiten des Christwerdens im Aufsteigen der κλίμαξ του παραδείσου, eingenommen vom Bewußtsein totaler Schuld als Ausdruck der Freiheit und ihrer immanenten Dialektik. Anti-Climacus vertritt die Position eines Christen .außerordentlichen Grades'. (Daher bleibt die Form der indirekten Mitteilung nötig, weil Kierkegaard sich solcher Außerordentlichkeit nicht gewachsen fühlt.) Anti-Climacus versteht die Verzweiflung und Sünde als den Zustand, durch den die Existenz hindurch muß, um im qualitativen Sprung zum Glauben und zur Durchsichtigkeit ihres Selbst zu kommen. Diese AntiClimacus-Schrift lehrt, wie alle Reflexion, Spekulation, Willensethik der modernen Subjektivität das existierende Bewußtsein so wenig von der Angst erlöst, daß sie es vielmehr immer tiefer in Verzweiflung und Rebellion der Sünde hineintreibt. Sie beginnt damit, auf das zugleich Furchtbarste und Heilbringende aufmerksam zu machen. Das aber sind nicht N o t , körperliche Krankheit, Elend, Unterdrückung, schon gar nicht der leibliche Tod, sondern die Krankheit des Geistes zum Tode. Dieser verzweifelte Stand aber bringt das Heil. Nur indem der Mensch sich in seiner verzweifelten Existenz durchsichtig wird, geschieht der alles lösende dialektische Sprung. Methodischer Ausgang solch qualitativer Dialektik ist der Mensch, so wie er zumeist und durchschnittlich existiert. Und die erste Entdeckung liegt in der These: Zumeist und durchschnittlich lebt der Mensch in Verzweiflung. Das leuchtet dem gesunden Menschenverstand nicht ein. Daher ist ein sokratischer Dialog über die Frage zu entwickeln: Ist Verzweiflung eine Seltenheit oder das Allgemeine? Das gewöhnliche Bewußtsein vertritt die Ansicht, Verzweiflung sei ein seltenes Phänomen, ein Ausnahmezustand. In der Regel fühle sich der Mensch leidlich behaglich und kenne keine Verzweiflung. Nun muß aber doch jeder am besten wissen, ob er verzweifelt ist oder nicht. Daher stützt das durchschnitdiche Wissen von sich die Position des gesunden Bewußtseins. Das philosophierende Bewußtsein macht dagegen mit einer .uneigentlichen Verzweiflung' bekannt. In dieser ist der Existierende verzweifelt, ohne seiner Verzweiflung bewußt zu werden. Und er wird seiner Verzweiflung nicht bewußt, weil er nicht kundig genug ist. Muß man nicht wissen, was Verzweiflung ist, um beurteilen zu können, ob sie vorhanden ist? Die Vielen aber verwechseln sie mit allerlei vorübergehender Verstimmtheit und Zerrissenheit, etwa mit dem Weltschmerz, an dem das Selbst gar nicht leidet, weil es diesen Schmerz genießt und ,die Verzweiflung affektiert'. Die Menge hat

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keine Ahnung von dem, was Geist ist und was dem menschlichen Selbst geschehen kann. „Verzweiflung ist das Mißverhältnis im Verhältnis einer Synthesis, die sich zu sich selbst verhält" (KzT, 11). Verzweiflung ist eine Disharmonie und Krankheit, aber nicht eine Unstimmigkeit der Elemente etwa des Heißen und Kalten im Körper, sondern ein Mißverhältnis des Selbst. Verzweiflung ist eine Krankheit im Geiste. Erst dann also, wenn das komplizierte und vielfach gespannte Selbstverhältnis des existierenden Geistes in acht genommen wird, beginnt einzuleuchten, in welchen Überspanntheiten und Widersprüchen der Einzelne existiert. Zumeist also und weit verbreitet herrscht Verzweiflung ohne Bewußtsein von Verzweiflung. Aber sind Menschen nicht wenigstens die meiste Zeit ihres Lebens gesund und nur zu Zeiten krank und nur Augenblicke lang verzweifelt? Das natürliche Bewußtsein bleibt im Hinblick auf Zeit und Dauer an der Analogie zu Krankheiten des Leibes orientiert. Derjenige, der Fieber bekommt, ist doch nicht das ganze Leben hindurch fiebrig, sondern die längste Zeit von Fieber, Krankheit und Verzweiflung frei gewesen. Tiefere Einsicht belehrt dagegen über das dialektische Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit im Augenblick der Verzweiflung. „Wenn oder falls das geschieht, was ihn zur Verzweiflung bringt, so wird es im gleichen Augenblick offenbar, daß er sein ganzes vorhergehendes Leben hindurch verzweifelt gewesen ist" (KzT, 20). So steht es ζ. B. beim Herrschsüchtigen, dessen Losung lautet: ,aut Caesar aut nihil'. Die Verzweiflung bricht zu einem bestimmten Zeitpunkt aus, dann nämlich, wenn nicht er, sondern ein anderer die erstrebte Spitzenposition gewinnt. Im Augenblick wird ihm klar, daß er sein ganzes Leben darauf gesetzt hatte. Das quälende Bewußtsein, daran gescheitert zu sein, ist nur der offene Ausdruck für eine verzweifelte Lebenshaltung. Das käme auch, und zwar in der Qual enttäuschter Erfüllung, heraus, wenn der Wille nach caesarischem Rang sich erfüllte. „Und dies Dialektische, recht verstanden, stellt abermals Tausende unter die Bestimmung Verzweiflung" (KzT, 20). Aber gibt es nicht glaubwürdige Kriterien wie innere Ruhe, Frieden, Zufriedenheit, Sicherheit? Werden denn nicht anhand solcher Prüfsteine die meisten für nicht verzweifelt befunden? Auch diese Meinung verfällt der Dialektik. „Nicht verzweifelt sein kann nämlich gerade verzweifelt sein bedeuten, und es kann bedeuten erlöst sein aus dem Verzweifeltsein" (KzT 21). Nichtverzweiflung kann bedeuten, die Verzweiflung als Negation des Selbst negiert und den rechten Frieden gefunden zu haben. Aber es kann auch meinen, unempfindlich gegen den Zustand der Verzweiflung

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im Bewußtsein satter Zufriedenheit und falscher Ruhe zu leben. Und so existieren die meisten in trügerischer Sicherheit. Aber gibt es nicht Glück, etwa das junge anmutige Mädchen, das „eitel Friede, Harmonie und Freude" ist (KzT, 21)? Gerade in der Beurteilung des Glücks aber sticht die Oberflächlichkeit der Doxa hervor. Sie übersieht das gespannte Verhältnis von Glück und Angst. „Tief drinnen, zu allerinnerst in des Glückes heimlichster Verborgenheit, da wohnt auch hier die Angst, welche die Verzweiflung ist" (KzT, 21). Kierkegaards Begriff der Angst ist hier nicht zu entfalten, sondern lediglich im Zusammenhange mit der Verzweiflung zu kennzeichnen. Angst meint hier die unbewußte, uneigentliche Verzweiflung des träumenden Geistes. (Insofern Angst ein Grundbegriff des Unbewußten ist, sind Kierkegaards Darlegungen ein genialer Vorgriff auf die Tiefenpsychologie Freuds; insofern sie eine Kategorie der durchschnittlichen Existenz ist, arbeitet ihre Analyse der Fundamentalontologie Heideggers vor.) Angst, das unerklärliche Beengtsein durch ein Unbestimmtes, das Bangen vor Nichts scheidet sich von der Furcht. Furcht ist etwas durchaus Erklärliches, weil sie in ihrem Grunde als ein bewußtes Sich-Fürchten-vor-etwas (vor Gewitter, Bankrott, Krieg) klar ist. Darum ist das Ängstigende oft ,ein halbes Wort über ein Unbestimmtes'. Solche Angst — vor der Unbestimmtheit seiner selbst — durchstimmt die Unmittelbarkeit des noch träumenden Geistes. Die tief verborgene Angst ist im Grunde die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit. Daher rührt die wunderlich scheue Angst der Unschuld, deren Suchen und Fliehen in süßer Beängstigung. Nach Kierkegaards berühmter Formel ist Angst sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie. Sie zieht die Unmittelbarkeit an, da sie ihre Freiheit sucht, und schreckt sie ab, weil sie ihre Verschuldung ahnt. Solch latente, blitzhaft aufscheinende Verzweiflung ist das Beängstigende des Glücks. „Mithin sogar das Schönste und Liebenswürdigste von allem, jugendlicher weiblicher Sinn, ist dennoch Verzweiflung, ist Glück" (KzT, 22). Der Dialog über den Umfang der Verzweiflung hat ein bestürzendes Ergebnis. „Es ist darum so weit wie möglich davon, daß die gewöhnliche Betrachtung recht hätte, die annimmt, Verzweiflung sei eine Seltenheit, sie ist vielmehr durchaus das Allgemeine" (KzT, 22). Diese These scheint verzweifelt paradox und am ehesten biographisch erklärt werden zu können. Die Analyse der Verzweiflung spiegle die privaten Ängste eines begabten Neurotikers wider. Nun ist Kierkegaard sicherlich eine sein ganzes Selbst an die Verzweiflung wagende Ausnahmeexistenz, aber seine

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präzise Dialektik hat das Selbsterleben in eine sachliche Darlegung von Grundzügen der menschlichen Wirklichkeit umgesetzt. Daher bildet die Behauptung von der latenten Herrschaft der Verzweiflung „auch kein Paradox; sie ist vielmehr eine folgerichtig durchgeführte Grundanschauung" (KzT, 18). Aber bietet diese Theorie der Verzweiflung nicht eine zu düstere Anschauung vom Menschen? Berechtigt sie nicht zum Einwand, der Existenzialismus sei ein Quietismus der Verzweiflung, der die Lichtseiten der menschlichen Natur vernachlässige? Solch populäre Einreden verstummen auf dem fundamentalontologischen Niveau der Kierkegaardschen Frage: „Ist Verzweiflung ein Vorzug oder ein Mangel?" (KzT, 10). Die undialektische Ansicht faßt Verzweiflung als einen Mangel im Seinssinne der Privation so wie das Blindsein auf; dem Verzweifelten fehle das lebensbejahende Auge. Dialektisch, d. h. aus der Gegensätzlichkeit der Existenz gedacht, ist Verzweiflung beides, eine erhebende Position und zugleich eine abträgliche Negation des Selbst. Im Existenzmodus der Möglichkeit ist Verzweiflung ein unendlicher Vorzug, in dem der Wirklichkeit ein bestürzender Mangel. Die Fähigkeit, verzweifeln zu können, ist die Auszeichnung des Menschen und sein Vorzug vor dem Tier. Der Mensch ist das Wesen, das wirklich verzweifeln kann; denn nur das in sich widerspruchsvolle Selbstverhältnis kann sich aufrichten — nämlich auf seine Selbstverlorenheit vor Gott. „Dieser Vorzug zeichnet ihn auf ganz andre Weise aus als der aufrechte Gang" (KzT, 10). In Hinblick auf Wirklichkeit aber bedeutet es mehr als Unglück und Elend, in Verzweiflung zu sein. „Es ist nicht nur das größte Unglück und Elend es zu sein, nein, es ist Verlorenheit" (KzT, 10). Die mich bannende Verzweiflung raubt mir nicht wie ein zufällig eintreffendes Unglück irgendeine Habe, in ihr verliere ich mein wesentliches Selbst. Darum stürzt sie mich nicht in äußeres Elend, sondern in innere Selbst-Verlorenheit. „Dergestalt ist das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit sonst nicht" (KzT, 10). Dieses Korrektiv der Existenzialanalyse belehrt darüber, daß die sonst, nämlich in der metaphysischen Uberlieferung ausgearbeiteten und führenden Bedeutungen von Sein nicht auf die Seinsverhältnisse der Existenz zutreffen. Sie sind eben gewonnen am Seienden in seinem Vorliegen und versagen daher, wenn sie auf das Seiende angewendet werden, das nicht vorkommt, sondern existiert. Das Selbst existiert. Es wird nicht, was es immer schon war, es ist, was es geschichtlich wird. Die Unangemessenheit der traditionellen Kategorien drängt sich im Blick auf

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die universalste und wirkmächtigste Bedeutung von Sein auf, in Rücksicht auf die Analogie (bzw. Dialektik) von Möglichkeit und Wirklichkeit 114 . Der Tradition von Aristoteles bis Hegel zufolge verhält sich das Wirklichsein zum Möglichsein „wie ein Aufsteigen" (KzT, 10). Im Modus der Wirklichkeit (ένέργεια, actus) ist jegliches mehr als im Modus der Möglichkeit. Die Möglichkeit des möglichen Hauses ist das Nochnichtsein des wirklichen und die Wirklichkeit des wirklichen Hauses das ins Telos Aufgestiegensein des möglichen (die Nichtung des Nochnichtseins). Beim existierenden Selbst steht es fundamental anders. In der gemeinhin verzweifelten Existenz „verhält sich das Sein zum Seinkönnen wie ein Fall" (KzT, 10). Wirklich in Verzweiflung zu sein, bedeutet ja den Verfall der Selbstverlorenheit. Die Möglichkeit und Nichtwirklichkeit bildet hier das höhere und glücklichere Sein. Weil für das Existieren alles an der Möglichkeit und Wirklichkeit der Verzweiflung hängt, wird die Frage nach ihrer Herkunft dringlich: „Woher kommt dann also die Verzweiflung?" (KzT, 11). Ontologisch gefragt: Woher entspringt der Ubergang aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit? Der dialektische Bescheid lautet: Sie kommt nicht aus dem Menschen, und sie kommt aus dem Menschen selbst über ihn. Der Möglichkeit nach stammt die Verzweiflung aus dem synthetischen Verhältnis, der Wirklichkeit nach aus dem geistigen Selbstverhältnis, das der Mensch ist. „In der Synthesis liegt die Möglichkeit des Mißverhältnisses" (KzT, 11). Die Synthesis bildet ja eine aufs äußerste gespannte Einheit von Antithesen, die in vielfacher Artikulation eine Überspannung der zusammengehaltenen Gegensätze möglich und bedrohlich macht. Die Synthesisstruktur des 114

Natürlich richtet sich die fundamentalontologische Analyse der Verzweiflung nicht auf eine Ausarbeitung des Daseins im Vorblick auf dessen ontisch-ontologischen Vorrang für die Frage nach der Verstehbarkeit des Seins. Solche Zusammenhänge hat Heidegger selbst schroff abgewiesen. Kierkegaard denke gegen das System des Idealismus und bleibe darum in der Botmäßigkeit zum System gefangen; zu der entscheidenden Frage nach dem Wesen des Seins habe er nicht das geringste Verhältnis (vgl. Was heißt denken? 2. Aufl. Tübingen 1961. S. 129). Adorno hat die vehemente Absage, aus Kierkegaards Existenzialanalyse die ontologische Frage nach dem Sein von Dasein herauszulesen, zur Antithese übertrieben: Nur darum sei für Kierkegaard das einzelmenschliche Dasein Schauplatz von Ontologie, weil es nicht selber Ontologie, sondern mythischzweideutige Selbstbespiegelung sei (Kierkegaards Konstruktion des Ästhetischen. 2. Aufl. 1974. S. 128, 146 — 147). Dagegen muß auf einen fundamentalontologischen Grundzug von Kierkegaards Existenzanalyse aufmerksam gemacht werden: Im Rückgang auf das existierende Selbst und dessen Geschichtlichkeit scheidet sie die Kategorien der Metaphysik aus und entwickelt neue ,Existenz-Kategorien'. Solche Destruktion dient zur Grundlage, um die Seinsthese einsichtig zu machen, welche die metaphysische Urgleichung Denken = Sein methodisch übersteigt: Sein ist Glauben.

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Selbst zeichnet vielfältige Möglichkeiten verzweifelt überspannten Existierens vor. Aber sie ist nicht schon selber die Heraufkunft des Mißverhältnisses. Dann wäre Verzweiflung ein Erleidnis und Folge der gegensätzlichen Natur des Menschen und träfe ihn wie das Unglück einer Krankheit oder wie das allgemeine Los des natürlichen Todes. So aber wäre Verzweiflung keine Krankheit des Geistes. Als solche kann sie der Tat und Wirklichkeit nach nur aus dem Selbstverhältnis entspringen. Schuld und Verantwortung für die Verzweiflung der Existenz trägt der Geist, und zwar in jedem Augenblick. Die Frage nach dem Ursprung entscheidet die Frage nach der Zeitlichkeit der menschlichen (verzweifelten) Existenz: Sie wird fundamentalontologisch in der Fragestellung durchgesprochen: „Wenn nun das Mißverhältnis, die Verzweiflung, eingetreten ist, versteht es sich dann von selbst, daß es fortdauert?" (KzT, 12). Zunächst scheint es so, als hätte jedwede Krankheit vom Zeitpunkte ihres Auftretens bis zu dem ihres Verschwindens eine abmeßbare Dauer. Ich habe mir im Winter durch eigene Schuld eine Erkältung zugezogen und laboriere eine Zeitlang an den Folgen. Ebenso scheint es mit der Zeit der Verzweiflung zu stehen. Ich verzweifle jetzt im Herbst an einer unerfüllten Liebe und bin solange gemütskrank, bis der Schmerz dereinst vergangen sein wird. So aber steht es mit der Zeitlichkeit des Daseins nicht. Die Zeit des Selbst orientiert sich nicht am Werden, am Entstehen und Vergehen des Vorhandenen wie die physikalische Uhrzeit. Die existenziale Zeit hat zu ihrem Elemente nicht das Jetzt, den gleichgültigen, abstrakten Grenzpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft und den Meßpunkt für das Wielange der Dauer. Die ursprüngliche Zeit des Daseins ist die Zeitigung des Augenblicks, das Plötzliche, worin unvermutet Zeit und Ewigkeit einander berühren. Hier sind nicht die Ontologie des Platonischen Augenblicks (έξαίφνης) und ihre Destruktion durch Kierkegaard, schon gar nicht die vielfache Bedeutung, etwa als Moment erfüllten Genusses im ästhetischen Augenblick oder als die Fülle der Zeit in christologischer Hinsicht zu entfalten lls . Es kann lediglich der existenzielle Einschlag des Augenblicks in der Struktur des Selbst angezeigt werden. So gesehen, bildet er das vermittelnde Moment, in welchem das Selbst als Ewiges zur Entscheidung steht. Und das geschieht der Möglichkeit nach jederzeit. Nur das innerweltlich Vorhan115

Der vorzüglich im „Begriff Angst" entwickelte christliche Sinn des Augenblicks als Kategorie existenzialer Geschichtlichkeit ist bei A. Pieper, Geschichte und Ewigkeit bei S. Kierkegaard. Meisenheim 1968. S. 164 — 177, durch Abgrenzung gegen die abstrakte und spekulative Fassung des Augenblicks bei Piaton und Hegel dargelegt.

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dene unterliegt der physikalischen Zeit als dem Wielange einer Fortdauer zwischen einem vergangenen und einem zukünftigen Jetztpunkt. So steht es beim daseinsmäßig Seienden nicht. Dessen Sein und Kranksein dauert nicht eine Weile fort. Das Mißverhältnis steht in jedem Augenblick zur Entscheidung des Augenblicks. Daher zieht sich das existierende Selbst die Geisteskrankheit der Verzweiflung in jedem Augenblicke zu. Wenn aber die Zeitlichkeit des Daseins dialektisch von der Ewigkeit des Selbst unabtrennlich ist, wie kann dann die Verzweiflung eine Krankheit zum Tode heißen (vgl. KzT, 13 — 17)? Diese Frage eröffnet eine neue Dimension der Daseinsanalyse. Erstmals kommen Verzweiflung und Angst als Existenzial der Befindlichkeit im Zusammenhang mit dem Sein zum Tode zur Sprache. Im Gespräch mit dem natürlichen Bewußtsein löst sich das gestellte Problem dialektisch auf. Die Verzweiflung kann nicht und sie kann gleichwohl Krankheit zum Tode genannt werden. Bedeutet Tod den Ausgang einer leiblichen Erkrankung, so ist er das Ende der Krankheit, aber nicht das Ende menschlichen Lebens und Seins. Christlich-spekulativ betrachtet, ist der Tod gerade die Befreiung des Endlichen von seiner Endlichkeit, das Ersterben der endlichen Subjektivität und der Durchgang, der zur Versöhnung des menschlichen Subjekts mit dem Absoluten führt. „Insofern ist, christlich, keine irdische, leibliche Krankheit zum Tode" (KzT, 13). Und in solchem Sein zum Tode herrscht die Hoffnung und nicht verzweifelte Qual und Hoffnungslosigkeit. Anders steht es mit einer Krankheit zum Tode, die sensu stricto Verzweiflung und Qual bedeutet. Sie wird als der kalte Brand eines ohnmächtigen Sichselbstverzehrens beschrieben, verglichen mit dem Zustande eines Todkranken, der zum Tode darniederliegt, aber nicht sterben kann und das Sterben erlebt. Sie wird seinsmäßig gefaßt als der Widerspruch, zu sterben und nicht zu sterben. Wie aber ist dieser Widerspruch zu begreifen? Und in welcher Stimmung befindet sich das solchem Widerspruch ausgesetzte Dasein? Die Rede, die verzweifelte Existenz sterbe und sterbe nicht, begeht keinen nichtssagenden Widerspruch. Sie spricht vom Sterben in den verschiedenen Hinsichten des Wollens und des Könnens. Das verzweifelte Dasein will sterben, aber es kann nicht sterben. Es will sterben und sich selbst verzehren, indem es sein Selbst loswerden will — in letzter Konsequenz durch Selbstmord. Es kann nicht sterben. Der Verzweifelte kann sein ewiges Selbst nicht umbringen, „so wenig der Dolch Gedanken töten kann" (KzT, 14). Das Sichselbstverzehren ist ohnmächtig. Die Befindlichkeit dieses kalten Brandes — zu verbrennen, ohne zu verbrennen — ist die Qual der „Hoffnungslosigkeit, noch nicht einmal

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sterben zu können" (KzT, 14). Hoffnung, das ist die Freude einer sicheren Erwartung auf das Eintreten eines zukünftigen Gutes bzw. auf das Ausbleiben eines Übels. Ist nun der Tod das größte Übel, dann liegt die ganze Hoffnung in der Erwartung des ewigen Lebens. Ist dagegen das mißglückte Leben das Unerträglichste, dann hofft das Dasein auf den Tod. Der Verzweifelte aber ist diese Hoffnung los. Solch hoffnungslose Qual ohnmächtigen Selbstverzehrens veranschaulicht das Existenzsymbol der unglücklich Liebenden. Ihre Verzweiflung erscheint zunächst als Verzweiflung über etwas, über den Verlust (die Untreue, den Tod) des Geliebten. Aber das ist nicht der wahre Sachverhalt. Der nagende Schmerz ist Verzweiflung über das eigene Selbst, das nur im Anderen seine Erfüllung sucht. Das Unerträgliche ist das Bewußtsein des leeren, betrogenen Selbst. Und der Zustand der hoffnungslos Liebenden ist auch gar nicht der, daß sie sich selbst vor Gram verzehrt. Die Hoffnungslosigkeit besteht gerade darin, daß sie ihr Selbst loswerden will, es aber nicht kann. In solcherart Widerspruch zwischen Wollen und Können existiert das menschliche Selbstbewußtsein, gleichgültig, ob man sein Selbst verzweifelt loswerden oder ob man verzweifelt Selbst werden will. Alle Weisen menschlichen Existierens wurzeln tief verborgen in solchem Kranksein zum Tode. 5. Kapitel: Buchstabenrechnung des Dialektischen. (Der Phantast, die Weltlichkeit, Wünschen und Schwermut, der Fatalist, der Spießbürger) Das Zeitalter des Systeme ist vorbei. Einen tödlichen Angriff auf das Systemdenken hat Kierkegaards Analyse des Daseins geführt. „Ein logisches System kann es geben, aber ein System des Daseins kann es nicht geben" (UN 1,101). Wird das menschliche Dasein zum Fundament der Ontologie, dann ist es mit dem Zeitalter der Systeme zu Ende; denn ein logisches System darf nichts aufnehmen, was ein Verhältnis zum interessierten Dasein hat. Für einen existierenden Geist existiert kein System. „System und Abgeschlossenheit entsprechen einander. Dasein aber ist gerade das Entgegengesetzte" (UN 1,111). Das logische System baut auf die alles zusammenschließende Einheit von Denken und Sein, auf die Vernünftigkeit des Wirklichen, auf die Identität oder Indifferenz von Realität und Idealität. Die Wiedererinneruijg der Existenz aber bringt das interesse, das offene Dazwischensein und Spatiieren des Selbst vor Augen und sieht: Was das Dasein dazwischenliegend voneinander ent-fernt, sind gerade Denken und Sein, Realität und Idealität, Möglichkeit und Not-

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wendigkeit usw. Daher geht das Dasein niemals endgültig in der abschließenden Notwendigkeit, Ewigkeit, vermittelnden Identität auf. Es bleibt Selbstwerden im Werden und offen für Möglichkeit, Zukünftigkeit, Sprung und Freiheit. So schwebt die existierende Subjektivität wesenhaft unabgeschlossen und unentschieden zwischen Aufhebung und Nichtaufhebung ihrer Widersprüche. Wenn sich mithin die Dialektik des existierenden Selbst auch nicht in einem System zusammenschließt, so erschließt sie dennoch die Existenz in einer strengen Analyse, welche das durchschnittliche Dasein durch .algebraische' Herausrechnung ihrer Momente zergliedert. Solche ,Buchstabenrechnung' entdeckt die Formeln für die Wirklichkeiten menschlichen Lebens. Die methodische Zergliederung von Dasein und Verzweiflung verfährt zunächst abstrakt. Sie rechnet die Gegensatzmomente der Synthesis durch und sieht vorerst von den darin waltenden Bewußtseinsverhältnissen ab. Dabei beschränkt sich die Analyse auf die Gegensätze Endlichkeit — Unendlichkeit, Möglichkeit — Notwendigkeit. Es ist klar, daß die Existenzialdialektik auch die anderen Artikulationen der in sich widerspruchsvollen Existenz, etwa die Gegensätze Zeit — Ewigkeit, Leib — Seele, Idealität — Realität, verfolgen und in ihren prinzipiellen Mißverhältnissen herausrechnen kann. Daraus würde eine Fülle von Existenzformen resultieren, die auf der einen Seite gänzlich der Realität, dem Zeitgeiste, der Geschlechtlichkeit und in der anderen Kolonne überschwenglich der Ewigkeit, dem Idealen, dem rein Seelischen nachhängen. Das ergäbe eine reiche, unabschließbare Phänomenologie des Daseins. Um die Analytik der Verzweiflung als offene Dialektik des existierenden subjektiven Geistes freizulegen, genügt es, die Synthesisverhältnisse von Endlichkeit und Möglichkeit zu entschlüsseln. Gemeinhin ist sie von der Drei-Stadienlehre verdrängt. In dieser läßt sich offenbar der Dreischritt der Triadik des Hegeischen Musters in einem Ubergang von Unschuld, Sünde, Glaube wiederfinden und in den Stadien der ästhetischen, ethischen und religiösen Existenz auf die innere Geschichte des Selbstwerdens übertragen. Indessen bringt erst die Analyse der Verzweiflung die eigentümliche Leistung der negativen, satirischen Dialektik ans Licht. Sie erschließt Sein, Werden und Verirrung der durchschnittlichen Existenz. Das geschieht mit sicherer Abstraktionskraft und genialem Blick für die dialektischen Phänomene des existierenden Selbstbewußtseins. Für die Entgegensetzungen Endlichkeit — Unendlichkeit, Möglichkeit — Notwendigkeit ergibt die Buchstabenrechnung des Dialektischen vier Grundwerte der Existenz und Verzweiflung:

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1. die phantastische Existenz (überspannte Unendlichkeit aus Mangel an Endlichkeit), 2. die Existenz der Weltlichkeit (überspannte Endlichkeit aus Mangel an Unendlichkeit), 3. die wünschende bzw. schwermütige Existenz (überspannte Möglichkeit aus Mangel an Notwendigkeit), 4. die fatalistische und Spießbürger-Existenz (überspannte Notwendigkeit aus Mangel an Möglichkeit). Die vier Daseinsformen sollen nur soweit auseinandergelegt werden, um den dialektischen Schematismus deutlich zu machen. In keinem Falle sind sie aber geradezu zu fassen. Wohl gibt es direkte Beschreibungen, vor allem in dichterischen Vorstellungen, welche etwas vom Phänomen der Verzweiflung ahnen lassen, aber adäquat können sie nur dialektisch, also vom Nichtsein ihres Gegensatzes her bestimmt werden. Dialektisch vorgehen heißt danach bedenken, daß im synthetischen Dasein „das Eine stets das sich Entgegengesetzte ist" (KzT, 26). So definiert sich die phantastische Existenz aus dem Gegensatze von Endlichkeit und Unendlichkeit. Existenzial gedacht, bedeutet Endlichkeit das Einengende, die begrenzende Faktizität, Unendlichkeit dagegen das entgrenzend Ausweitende im Selbstwerden. Das Endliche grenzt das Unendliche ein, das Unendliche weitet das Endliche aus. Das Phantastische nun ist das Grenzenlose im Sinne einer abstrakten Verunendlichung des Daseins aus Mangel an Selbstbeschränkung. Der Phantast weitet sein Dasein ins Unendliche aus, ohne aus solcher Entäußerung zu seinem endlichen Selbst zurückzufinden. Das ist die Art der Selbstentfremdung, die dem menschlichen Geist am nächsten liegt. Das Phantastische nämlich überspannt die Phantasie, die Phantasie oder produktive Einbildungskraft aber bildet für Kierkegaard — unter Berufung auf den ,alten Fichte' — das unendlichmachende Medium, den Ursprung der Kategorien, den Grund aller Reflexion und Vermittlung. Das Phantastische löst die alles in eins bildende Phantasie ins Grenzenlose auf. Weil die produktive Einbildungskraft das menschliche Urvermögen ist, durchdringt und gefährdet das Phantastische alle Vermögen: Gefühl, Erkenntnis, Wille. So kann das Gefühl in der Existenz des abstrakt Empfindsamen phantastisch werden; dessen Gefühl und Mitgefühl weiten sich unendlich aus, indem sie sich an ein Abstraktum, etwa die verelendete Menschheit, hängen und vom konkreten Nächsten abkehren. (Hierher gehören nicht zuletzt die Täuschungen der Dichter-

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Existenz.) Ebenso unmenschlich wird das menschliche Dasein, wenn sich die Erkenntnis ins Phantastische ausweitet. So entwickelt sich die grenzenlose, enzyklopädische Aufklärung ,objektiver' wissenschaftlicher Erkenntnis aus den Antrieben einer ,unmenschlichen Neugier', die sich nicht an das Maß existenzialen Selbtverstehens zurückbindet. Das Ethos objektiver Wissenschaftlichkeit verschwendet im phantastischen Fortschritt unserer Erkenntnis die einzelnen forschenden Subjekte „ungefähr ebenso wie wenn Menschen verschwendet worden sind, um Pyramiden zu bauen" (KzT, 28). Vollends entfernt sich das Dasein von sich, wenn der Wille phantastisch wird. Dann entrückt der Mensch als das Lebewesen, das plant, in Plänen, Projekten, Utopien, Visionen so grenzenlos in die Zukunft, daß er nichts mehr für die beschränkte Gegenwart vollbringt. Die verzweifelte Existenz der Moderne bewegt sich von ihrem faktischen Dasein weg, sei es, daß sie sich ins Phantastische stürzt, sei es, daß sie sich vom Phantastischen fortreißen läßt. „Das Phantastische ist überhaupt dasjenige, was einen Menschen dergestalt ins Unendliche hinausführt, daß es ihn lediglich von ihm selber fortführt und ihn dadurch abhält, zu sich selbst zurückzukehren" (KzT, 27). Streng komplementär entwickelt sich die Dialektik der Weltlichkeit. Während der Phantast sein Selbst verliert, weil er aus Mangel an Endlichkeit ins Weite des Unendlichen schwärmt, verkümmert der ,Weltliche', weil er sich aus Mangel an ausweitendem Enthusiasmus der Welt verschreibt. Weltlichkeit meint das Wie eines Verhaltens, nämlich die bornierte Weise, wie sich das Selbst an die Welt nach Maßgabe ,der Anderen' hält. „Eben das was man die Weltlichkeit nennt, besteht aus lauter solchen Menschen, welche sich . . . der Welt verschreiben" (KzT, 31). Das Unendliche kommt dabei zum unendlichen Wert herunter, den man in der Welt auf die an sich gleichgültigen Unterschiede (an Ansehen, Reichtum usw.) legt. „Weltlichkeit ist eben, daß man dem Gleichgültigen unendlichen Wert beilegt" (KzT, 29). Die Weltlichkeit hat viele Gesichter. Sie erscheint als Geschäftigkeit, Zerstreuung, Zeitlichkeit, Verständigkeit. All das sind Weisen, in denen der Mensch beschäftigt ist, Geld zu sammeln, Umsätze zu machen, Amtsstellungen zu erhaschen, Kinder aufzuziehen, und in denen er ernsthaft zerstreut bei diesem und jenem verweilt, nur nicht bei sich selbst. Der Weltmann verliert dadurch sein Selbst, daß seine kantige Primitivität von der Welt abgeschliffen wird ,wie ein rollender Kiesel'. Das geschieht, indem er sich akkommodiert und nach Klugheitsregeln lebt so wie alle anderen. Damit bringt es die Weltlichkeit dahin, „daß man, anstatt ein Selbst zu sein,

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eine Zahl geworden ist, ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr dieses ewigen Einerlei" (KzT, 30). Dasselbe alltägliche Scheitern des Selbst läßt sich in der Hinsicht des Gegensatzes von Möglichkeit und Notwendigkeit kategorisieren. Die Dialektik des wünschenden und schwermütigen Daseins lebt aus den Verlockungen der Möglichkeit in Verschleierung der Notwendigkeiten. Gleichnishaft erschließt sich die Verzweiflung des Wünschens im Märchentypus des verirrten Ritters 116 . „Gleichwie in Märchen oder Volkssage öfters von einem Ritter erzählt wird, welcher plötzlich einen seltenen Vogel erblickt, dem er unablässig nachläuft, indem es nämlich zuerst so aussieht, als sei er dem Vogel ganz nahe — aber dann fliegt der wieder weiter, bis es dann Nacht geworden und er von seinen Leuten abgekommen ist, ohne den Weg in der Einöde finden zu können, in der er sich jetzt befindet: ebenso ist es mit der Möglichkeit des Wunsches" (KzT, 34). Der fahrende Ritter verkörpert die Existenzform des Wünschens im Drange nach Abenteuern. Er verläßt darum den Kreis des Alltäglichen und Gewohnten, um im Suchen unbestimmter Möglichkeiten sein Glück zu machen. Ihm ist der seltene Vogel glückverheißender, verlockender Zufall, und er scheint nahe, d. h. seine ihm zufallende Möglichkeit zu sein. Aber die Möglichkeit entzieht sich, und zwar so, daß sie immer verlockender erscheint, je unwirklicher sie wird. ,Bis es dann Nacht geworden ist': Die Möglichkeit ist nicht mehr deutlich zu sehen, weil sie dadurch, daß sie sich absolut ausweitet, keine bestimmte Möglichkeit des Einzelnen mehr ist. In der Leere totaler, unbestimmter Möglichkeit verfehlt der Wünschende seinen Lebensweg. Er findet nicht mehr in den vertrauten Kreis der Notwendigkeit faktischen Lebens zurück. „In der Schwermut geschieht das Entgegengesetzte auf die gleiche Weise" (KzT, 34). Der schwere Mut hat so wenig den leichten Sinn des Wünschens, daß er sich schwermütig liebend ganz in die Möglichkeit der 116

Märchenmotive wie das vom verlorenen Schatten, des Doppelgängers usw. erschließen die Not romantischer Existenz, eingesperrt zu sein mit der Sehnsucht, sich ins Allumfassende aufzulösen. Von hier hat Guardini (Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards. In: Hochland 24 (1927) Bd. 2 S. 62 , 66ff.) die Krankheit zum Tode als Auseinandersetzung mit der inneren Gefährdung des romantischen Selbst interpretiert. W. Anz (Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Tübingen 1956. S. 15 — 33) hat Nähe und Ferne Kierkegaards zur Romantik skizziert. Wie nahe Kierkegaard dem romantischen Sinn für die unendliche Innerlichkeit und für die Unersetzlichkeit der Individualität ist, so fern ist er der romantischen Ironie. Zwar macht er Hegels Angriff gegen die Ironie Friedrich Schlegels nicht mit, wohl aber setzt er der abstrakten, ironischen Unendlichkeit der Romantiker — in Rücksicht auf die Dichterexistenz Goethes — den Begriff der beherrschten Ironie entgegen.

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Angst einläßt. Daher kennt die Schwermut im Unterschied zu Leid und Kummer den Grund ihrer Verzweiflung nicht. Sie vermag nicht zu sagen, welche Last sie bedrückt. „Darin liegt die Unendlichkeit der Schwermut" (Entweder/Oder II, 201). Indem der Schwermütige von der unbestimmten Möglichkeit, die ihn ängstigt, der Freiheit, zugleich angezogen und abgestoßen wird, bleibt er untätig. Er verdrängt immer mehr reale Möglichkeiten, ein wirkliches geistiges Selbst zu werden. „Kommt die Bewegung zum Stehen, wird sie verdrängt, dann tritt Schwermut ein" (Entweder/ Oder II, 201). In der Verzweiflung abstrakter, nicht ergriffener Möglichkeiten, die er hätte sein können, kommt der Schwermütige um. Auch diese existenziale Doppelform des unglücklichen Bewußtseins hat viele Gesichter: die der Unmittelbarkeit, des Kindes und Jünglings, der in der Weise des Wunsches lebt, und wiederum des Dichters, d. i. des Wünschenden par excellence, sofern er im wehmütig Erträumten schwelgt. Das alles sind Gestalten des Daseins, denen die Kraft des Gehorsams mangelt, sich unter das Notwendige zu beugen. Das Notwendige aber ist der Ort, an dem die Möglichkeiten konkret werden müssen. „Läuft die Möglichkeit nun die Notwendigkeit über den Haufen, so daß das Selbst in der Möglichkeit sich selbst entläuft, so daß es nichts Notwendiges hat, zu dem es zurück soll: dann ist dies die Verzweiflung der Möglichkeit" (KzT, 32). Die entgegengesetzte Selbstverlorenheit des Fatalisten und des Spießbürgers kommt heraus, wenn sich das Dasein nicht in den Möglichkeiten seines Werdens verrennt, sondern auf die Notwendigkeit seines Seins versteift. Das Dogma des Fatalisten lautet: Alles geschieht unausweichlich — Gott ist Notwendigkeit. So aber stirbt sein Selbst ab. „Es geht ihm wie jenem Könige, der Hungers starb, weil alle Nahrung sich in Gold verwandelte" (KzT, 37). In seinem Hunger nach Selbsterfüllung braucht der Mensch Möglichkeiten. Menschliches Wollen nährt sich von der Zukunft in der Hoffnung auf Verwirklichung seiner Entwürfe und Vorsätze. Wie für Midas sich alle Nahrung in Gold verwandelte, so verwandelt sich für den Fatalisten alle Möglichkeit in Notwendigkeit. Vor ihr beugt er sich in stummer Ergebenheit. Darum erstirbt sogar das innere Leben der Sprache. Ist der Gott „bloß das Notwendige, so ist der Mensch wesentlich ebenso ohne Rede wie das Tier" (KzT, 38). Diese erstaunliche These erfaßt die Rede als sprachliche Auseinandersetzung der Existenz mit der Möglichkeit. Offenkundig ist Sprache desto wesentlicher, je ernsthafter diese Aussprache ist. Das Gerede und Geschwätz über die trivialen Möglichkeiten bildet nur die Oberfläche. Der Urquell der Sprache ist das

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Beten: das flehentliche Bitten (Anbeten, Fürbitten, Danken) um und für Möglichkeiten in der Zwiesprache des Verzweifelten mit Gott, bei dem alles, auch das menschlich Unmöglichste, möglich ist. Diese Quelle belebt das Dasein. Die Unterwerfung unter das Notwendige dagegen erfolgt stumm und macht sprachlos. Der Fatalist existiert in der sprachlosen Ergebenheit des Tieres. Ist' der Fatalist eine Gestalt der Geistesverzweiflung, so ist der Spießbürger eine Figur der Geistlosigkeit. Ihn trifft die ätzendste dialektische Satire. Der Spießbürger anerkennt keine absolute Wahrheit — sein Gott ist der Zeitgeist. Er beugt sich nicht unter das Unausweichliche — seine Notwendigkeit ist die Wahrscheinlichkeit. Darin, im Verrechnen aller Möglichkeiten ins Wahrscheinliche, verrät sich der Spießbürger. Der Spießbürger, ,möge er im übrigen Bierzapfer sein oder Staatsminister', glaubt, alle Möglichkeiten kalkulieren und sich gegen Unglück und Schicksal versichern zu können. Das ist ein Mann, der nur eine solche Schönheit heiratet, „die sich aller Wahrscheinlichkeit nach lange halten werde" und die so gebaut ist, „daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach gesunde und kräftige Kinder gebären werde" (UN I, 224). Und natürlich sucht er auch die Ungewißheit des Gewissesten, den eigenen Tod, nach Wahrscheinlichkeit zu berechnen und so zu neutralisieren. Was dem Spießbürger fehlt, ist jeder Funken Phantasie. Das Einbilden von außerordentlichen Möglichkeiten tut er als unwahrscheinliche Phantasterei ab. Er bewegt sich phantasielos im Trivialen, d. h. auf dem öffentlichen, von den meisten eingeschlagenen Wege der Wahrscheinlichkeit. So wie das Dasein durchschnittlich ist, entspricht es nicht dem Gesetze konkreten Selbstwerdens. „Die Entwicklung muß mithin darin bestehen, daß man unendlich von sich selber loskommt in Verunendlichung des Selbsts, und daß man unendlich zu sich selber zurückkehrt in der Verendlichung" (KzT, 26). Gemeinhin endet die Dialektik von Entäußerung und Rückkehr im verzweifelten Widerspruch. Das ist im Hinblick auf die Gegensätze Endlichkeit — Unendlichkeit, Möglichkeit — Notwendigkeit im Selbstwerden herausgegliedert worden. In einem Falle verflüchtet sich das Selbst phantastisch ins Unendliche, im anderen nivelliert es sich im Stande der Weltlichkeit. Im dritten verirrt sich das Dasein wünschend oder schwermütig in der bloßen Möglichkeit, im vierten beugt es sich fatalistisch vor dem Notwendigen bzw. arrangiert sich spießbürgerlich mit dem Wahrscheinlichen. In keinem Falle kommt es zu einer den Widerspruch aufhebenden Rückkehr. Das Werden des Selbst bleibt in den Kreis des Interesses und in die Krise der Verzweiflung gebannt. Ganz aber

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kommt der verzweifelte Zustand der Existenz erst heraus, wenn die Dialektik der menschlichen Synthesis unter der entscheidenden Hinsicht untersucht wird : dem aufsteigenden Bewußtsein.

6. Kapitel: Phänomenologie

des existierenden subjektiven

Geistes

Die Methode der Hegeischen Philosophie ist „der Weg des Zweifels . . . oder eigentlicher . . . der Weg der Verzweiflung" (PhdG 67). Der Weg des Zweifels ist der die Wahrheit der Gewißheit suchende Hin- und Hergang zwischen Bewußtsein und Gegenstand, der daran verzweifelt, in keiner der beiden Positionen die Wahrheit des Absoluten zu haben. So gelangt schon die sinnliche Gewißheit „nicht nur zum Zweifel an dem Sein der sinnlichen Dinge, sondern zur Verzweiflung an ihm" (PhdG 87). Die Tat der Verzweiflung ist die Vernichtung des für das Absolute gehaltenen Nichtigen. Darin, in die Verzweiflung des Sinnlichen, sind die Tiere eingeweiht: „Verzweifelnd an dieser Realität und in der völligen Gewißheit ihrer Nichtigkeit langen sie ohne weiteres zu und zehren sie auf" (PhdG 87). In den Vorarbeiten zu „Entweder/Oder" spielt Kierkegaard auf diese Hegeische Rede vom Wege des Zweifels und der Verzweiflung an und scheidet zwischen dem wissenschaftlichen Zweifel, in dem sich das Wissen bewegt, und dem persönlichen Zweifel als Element der Verzweiflung 117 . Hegels Phänomenologie ist ein Weg des Zweifels und der Verzweiflung ohne Ernst. Sie verfolgt die innere Bewegung des Gedankens, der von Anfang an im Absoluten ruht und der gleichen Notwendigkeit folgt, gemäß der er gezweifelt hat. Die Verzweiflung durchläuft so zwar Krisen eines Entweder/Oder, aber sie bringt es ernsthaft zu keiner Entscheidung. Auf der Krisenleiter persönlicher Verzweiflung dagegen steigt das Bewußtsein in einer Phänomenologie des existierenden Subjekts von der Unmittelbarkeit bis zum entschiedensten Selbstbewußtsein auf. „Das Maß des Bewußtseins ist in seinem Steigen, oder entsprechend dem wie es steigt, die ständig steigende Potenzierung in der Verzweiflung; je mehr Bewußtsein, um so intensivere Verzweiflung" (KzT, 39). Der Grad des Leidens am Mißverhältnis des Selbst hängt an der Stufe des Bewußtseins. Der uneigentlich Verzweifelte existiert in einem verzweifel-

117

Die umfassende Bestandsaufnahme von N . Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus. Stuttgart 1972. S. 182 hat diese Stelle (HIB 41, 22) unter die Vorarbeiten zu „Entweder/Oder" gestellt.

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ten Zustande, aber er leidet aus Geistlosigkeit nicht daran. Auf dieser Stufe des Bewußtseins haust das quantitativ weit verbreitete Spießbürgertum. Die quantitativ seltene dämonische Existenz dagegen leidet rasend an ihrem Verzweifeltsein. Ihr eignet eine zuhöchst gesteigerte Bewußtheit von dem, was ist. Ebenso aber leitet und bemißt auch umgekehrt die Steigerung der Verzweiflung eine Steigerung an Bewußtheit. Beides ist dialektisch unabtrennbar. Die steigende Bewußtheit intensiviert Leiden und Leidenschaft der Verzweiflung — die tiefer werdende Verzweiflung bewirkt eine deutlichere Erschließung des Selbstverhältnisses, „oder was das Gleiche und das Entscheidende ist, eine Steigerung des Bewußtseins vom Selbst" (KzT, 47). So zeichnet sich in Wirklichkeit die Methode einer neuen Phänomenologie des subjektiven Geistes als Weg der Verzweiflung ab. Das Aufsteigen des Bewußtseins von der Stufe unreflektierter Unmittelbarkeit, die Äußerlichkeit und Innerlichkeit ununterschieden läßt, bis zur Autonomie des Ich in seiner absoluten Immanenz verläuft keineswegs kontinuierlich, irreversibel, unausweichlich. Es sind die Krisen der Verzweiflung und die Sprünge der Freiheit im Wagnis eines Entweder/ Oder, die das oberflächliche, äußerliche Bewußtsein bewegen, reflektierend in die Tiefen der Innerlichkeit zurückzugehen. So rückt das Bewußtsein durch die Potenzierung der Verzweiflung der Wahrheit zugleich immer näher und immer ferner. Der höchste Stand des sich wissenden und sich wollenden Selbstbewußtseins ist zugleich seine tiefste Krise. In sie fällt die Möglichkeit hellster Durchsichtigkeit oder entschlossenster Verschlossenheit des Selbstbewußtseins. Die neue Phänomenologie des Geistes erzählt die Geschichte des einzelnen Selbst und der verzweifelten neuzeitlichen Sujektivität. „De te narratur fabula" (St. L., 508)118. (Es mag bedeutend verbindlich sein, daß das berühmte ,Quid rides? Mutato nomine de te fabula narratur' der Horazischen Satire an die Qualen des Tantalus anknüpft.) Die Klimax des Bewußtseins und der Verzweiflung steigt über drei Hauptstufen auf: 1. Unmittelbarkeit des Bewußtseins und die uneigentliche Verzweiflung (der Heide, der Ästhet, Ironiker usw.). 118

Kierkegaards Phänomenologie des Geistes und ihre kritische Absicht, die neuzeitliche Zweifels- und Gewißheitslehre von der Ichheit auf eine Existenz-Dialektik der Verzweiflung zu reduzieren, ist skizziert bei W. Janke, Verzweiflung. Kierkegaards Phänomenologie des subjektiven Geistes. In: Sein und Geschichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1974. S. 103-113.

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2. Äußeres Bewußtsein und die eigentliche Verzweiflung der Schwäche (der Kleiderwechsler, der Lebenskluge, der Verschlossene). 3. Selbstbewußtsein und die eigentliche Verzweiflung des Trotzes (das experimentierende Selbst, der leidende Stoiker, der Dämon). Diese Stufen sind dialektisch in ihrer Bewußtseinsposition, ihrem Verzweiflungsgrad und der Krise ihres Ubergangs umrißhaft zu skizzieren. Der Anfang von Bewußtsein und Existenz ist die Unmittelbarkeit. Sie prägt alle ästhetische, heidnische, ironische Existenz. „Der Unmittelbare ist nicht wesentlich Existierender, denn er ist als Unmittelbarer die glückliche Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit, welcher, wie gezeigt wurde, Glück und Unglück als von außen kommend entspricht" ( U N II, 162). Dem unmittelbaren Selbst fehlt die Unterscheidung und Vermittlung seiner Gegensätze. Es lebt unentschieden über die inneren Widersprüche hinweg und hängt unmittelbar mit der Welt und mit dem Anderen zusammen; denn ohne Inneres gibt es kein Äußeres, ohne Ich kein Du. Sein Glück - das widerspruchslose Ungeschiedensein von sich, dem Anderen, der Welt - schuldet der Unmittelbare dem bloß sinnlichen Sein und einem Habitus des fühlenden, reflexionslosen Insichaufgehens. Reflexion tötet die Unmittelbarkeit. Dasjenige, wodurch der Mensch unmittelbar ist, was er ist, ist das Ästhetische in ihm. Die ästhetische Existenz bewegt sich wünschend, begehrend, genießend in einer Dialektik des Angenehmen und Unangenehmen. Dabei bleibt sie in der Gewohnheit passiven Hinnehmens und Genießens gänzlich uneröffnete Innerlichkeit. Im Schatten solcher Selbstlosigkeit existieren der Heide und der natürliche Mensch' (der christliche Heide). Deren Weltlichkeit ist eben das von Gott abgekehrte, über sein eigenes ewiges Selbst ahnungslose ästhetische Existieren. Halbe Auflösung der Unmittelbarkeit heißt Ironie. Gelöst von reiner Naivität, erspielt der Ironiker einen Grad an Selbstüberlegenheit, auch und gerade im Gefühl, alles sei sinnlos und leer. Aber seine Existenz bleibt ästhetisch. Die Ironie genießt in den verfeinerten Formen des Selbstgenusses. Das Genießen eigener Überlegenheit bleibt dem Unvermögen verhaftet, sein eigenes Selbst und das des Anderen ernst zu nehmen. Die ästhetische, heidnische, ironische Existenz, die ganze Daseinsform der Unmittelbarkeit, ist nicht Glück, sondern Verzweiflung. Zwar sichert der Mangel an Selbstbewußtsein vor dem Leiden am Verzweifeltsein — und darin besteht die sinnliche Gewißheit und Geborgenheit des Daseins —, aber das Sich-Ausleben im Genuß ist eine verzweifelte Flucht vor der Leere

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des eigenen Selbst. Sie wird getrieben von den Betörungen der Sinne und von der latenten Angst, sein verrätseltes Selbst in den stets enttäuschenden Sättigungen des Genusses zu verfehlen. Das Existenz-Symbol solcher Qual der Zerstreuung ist Nero. „Das halbe Rom brennt er nieder, doch seine Qual bleibt die gleiche. Bald erfrischt ihn dergleichen nicht mehr. Es gibt eine noch höhere Lust: er will Menschen ängstigen. Er ist sich selber rätselhaft, und sein Wesen ist Angst; jetzt will er allen ein Rätsel sein und an ihrer Angst sich erquicken" (Entweder/Oder II, 199). Die sinnliche Gewißheit der ästhetischen Existenz zerbricht nicht an der Unruhe des inneren Widerspruchs; denn das um Wahrheit und Irrtum unbekümmerte Glück des Genießens hat eben keinerlei Bewußtsein von einem Widerspruch, schon gar nicht von der Dialektik seiner Gegensätze. „In der Unmittelbarkeit ist kein Widerspruch" (UN, II, 141). Die Unmittelbarkeit ist nicht in sich selbst dialektisch. Die Krise des Glücks bricht allein durch äußeres Unglück, den Umschwung des Angenehmen ins Unangenehme, aus. Weil der Unmittelbare den Widerspruch außer sich hat, kann er ihn nur als etwas erfahren, das ihm von außen zustößt. Und weil er das Äußere nicht vom Inneren unterscheidet, ist ihm das äußere Unglück zugleich innere Verlorenheit. Der Stoß des Unglücks treibt die Verzweiflung als die verborgene Wesenheit des unmittelbaren, ästhetischen Existierens hervor. „Wenn die Betörung der Sinnestäuschungen aufhört, wenn das Dasein zu schwanken beginnt, so zeigt sich allsogleich auch die Verzweiflung als das, was im Grunde gewohnt hat" (KzT, 41). Satirische Dialektik enthüllt das Komische in der pathetischen Verzweiflung des unmittelbaren Daseins. „Das dem Komischen und dem Pathetischen Zugrundeliegende ist das Mißverhältnis, der Widerspruch zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, dem Ewigen und dem Werdenden" (UN, I, 81 — 82). Die verzweifelte ästhetische Existenz meint, durch den Verlust eines Irdischen (einer Rangstellung, einer Geliebten, des Vermögens usw.) geschlagen zu sein. Sie ist in Wahrheit dadurch mit Blindheit geschlagen, daß sie am Verlust von Endlichem verzweifelt. Die eigentliche Trostlosigkeit im Jammer um den Verlust von Äußerem ist die innere Selbstverlorenheit dessen, der seine ganze Seele darein legt. Dennoch bringt solch komische Verzweiflung die ästhetische Existenz in eine Krise. Entweder heilt die Zeit die Wunden dadurch, daß die äußeren Verhältnisse sich wiederherstellen — dann richtet sich die unverwüstliche Unmittelbarkeit wieder auf, das Leben geht weiter. Oder aber die Hilfe von außen kommt nicht, und der Betroffene wird nie wieder der, der er

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war - dann erhebt sich das Dasein auf die erste Stufe des Selbstbewußtseins. Auf ihr freilich ist die Bewußtheit noch zu schwach, um mit der Unmittelbarkeit ganz zu brechen. Das Dasein verfällt daher auf eine Flucht ins Anderssein (ins ,Man'). Sein verborgenes Wesen ist eine Verzweiflung der Schwäche. Die erste Erscheinung dieser Bewußtseinsgestalt ist der , Kleiderwechsler'. Zu schwach, um sein Selbst zu ändern, will er ein Anderer werden, indem er gleichsam in andere Kleider schlüpft. Ein durch Äußerlichkeit bestimmtes Bewußtsein verwechselt eben auch das Anderswerden des Selbst mit dem Austauschen des äußerlichsten Habits und traut der Einbildung, „die Vertauschung könne so leicht vor sich gehen wie das Wechseln eines Rocks" (KzT, 52). Weil nun die Existenz, die nur ihre äußerliche Daseinsweise wechselt, nicht mit der Unmittelbarkeit bricht, gerät sie in die Qual des Widerspruchs, ihr eigenes Selbst loswerden zu wollen und nicht zu können. Ein Bewußtsein, das diese Erfahrung hinter sich hat, unterscheidet. Es hat den Unterschied zwischen dem wechselhaften Außen und dem bleibenden Inneren kennengelernt. Das Selbst ist auf seine wesentliche Unterschiedenheit von der Umwelt und Äußerlichkeit aufmerksam geworden. Aber es entwickelt erst ,bedingte Reflexion' und nicht unbedingte Entschiedenheit im Hinblick auf die inneren Widersprüche. Darum leidet es an der Schwierigkeit in der Zusammensetzung des Selbst' und reibt sich vor allem am Gegensatz zwischen der unendlichen Möglichkeit und den beengenden Notwendigkeiten, die sich hart im Dasein stoßen. Wächst sich das Bewußtsein dieser Unstimmigkeit zur Lebenskrise aus, dann kann sie durch Lebensklugheit gemeistert werden. Der ,Lebenskluge' wendet sich von der inneren Schwierigkeit nach außen, auf das wirkliche, tätige Leben hin und hebt den Widerspruch auf, indem er seine Möglichkeiten mit den gegebenen Notwendigkeiten arrangiert. So entwächst er den leidenschaftlichen Regungen verzweifelter Innerlichkeit und belächelt sie bald als Illusion einer schwärmerischen, in sich zerrissenen Jugend. So wird der Lebenskluge ein Anderer und steht doch sein eigenes Selbst durch, gerade dadurch, daß er die Äußerlichkeit nicht verschmäht, sondern sich der Welt verpflichtet. Satirische Dialektik deckt die Tragikomödie dieser Lebenshaltung auf. „Das Komische ist, daß er davon reden will, verzweifelt gewesen zu sein; das Schreckliche ist, daß sein Zustand, nachdem er, wie er meint, die Verzweiflung überwunden hat, gerade Verzweiflung ist" (KzT, 55). Immer liegt das Komische in einer sich selbst überschätzenden Selbstverkennung. Der Lebenskluge glaubt, das Lebensalter der Gespal-

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tenheit hinter sich gelassen zu haben und zu einer in sich geschlossenen Persönlichkeit gereift zu sein. In Wahrheit sinkt er durch all sein ernsthaftes Besorgen äußeren Glücks, an das er sein Selbst wendet, auf die trivialste Stufe der Selbstlosigkeit zurück. Im Banne der Lebensklugheit kann der Geist nicht vom Grunde her durchbrechen. Das aufsteigende Bewußtsein muß durch eine potenzierte Leidenschaft der Verzweiflung hindurch. Es ist die unendliche Leidenschaft der Phantasie, welche die Verzweiflung über etwas Irdisches zur Verzweiflung über das Irdische im Ganzen steigert. So macht etwa der Verlust der Geliebten dem Liebenden die Welt überhaupt wesenlos und das ganze Leben unerträglich. „Sobald aber dieser Unterschied (zwischen Verzweifeln über das Irdische und über etwas Irdisches) wesentlich geltend gemacht werden soll, ist auch ein wesentlicher Fortschritt gemacht im Bewußtsein vom Selbst" (KzT, 60). Jetzt kommt heraus, daß Verzweiflung über etwas nur die Oberfläche der Verzweiflung über sich selbst ist. Im Grunde leidet das Selbst in seiner Verzweiflung über das Irdische insgesamt daran, sich aus Schwäche nicht vom Irdischen losreißen zu können. So aber potenziert sich das Bewußtsein. Die Verzweiflung ist nicht mehr nur Verzweiflung der Schwäche, sondern Verzweiflung über die eigene Schwäche. Das bedeutet: Das Bewußtsein ist nicht einfach nur schwach, es ist sich seines Selbst als schwacher Existenz bewußt. Darin dämmert dem Dasein auf, daß das Ewige und damit das wahre Selbst verloren gehen kann. In einer so potenzierten Verzweiflung geht das reine Selbstbewußtsein auf; „denn am Ewigen verzweifeln ist da unmöglich, ohne eine Vorstellung vom Selbst zu haben, daß etwas Ewiges in ihm ist" (KzT, 61). Freilich ist damit die „Metamorphose, in welcher das Bewußtsein vom Ewigen im Selbst durchbricht" (KzT, 59), noch längst nicht geglückt. Auch wenn das Dasein die reine Äußerlichkeit verachtet, um sich der Sorge um sein ewiges, inneres Selbst zu widmen, kann es zu schwach bleiben, um das Selbst entschlossen zu übernehmen. Dann existiert das Selbst in der Verschlossenheit einer .verklemmten Innerlichkeit'. Der Verschlossene ist der Schweigsam-Einsame. Dadurch, daß er sich selber aus Schwäche vor den Verantwortlichkeiten des Selbstverhältnisses, über denen er brütet, verschließt, schließt er sich auch gegen Andere ab. Von den Angelegenheiten seines Inneren hält er alle Unbefugten, d. h. jedermann fern und dringt auf Einsamkeit. Und weil er die geschwätzige, durch keine Reflexion gezügelte Mitteilsamkeit des unmittelbaren Menschen unerträglich findet und den Lärm der Gesellschaft scheut, verfällt er

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ins Schweigen. Kierkegaard hat Einsamkeit und Schweigen mit satirischer Schärfe gegen die .Dauergeselligkeit' unserer Zeit rehabilitiert. Der Zeitgeist empfindet Schweigen und Einsamkeit als übel und verordnet sie dem Verbrecher als Strafe. Der Geist aber bedarf ihrer zum Selbstwerden. Dennoch hat Kierkegaard nicht einer prinzipiellen Ich-Einsamkeit das Wort geredet. Absolute Einsamkeit und verbissenes Schweigen sind ja Charaktere des Verschlossenen. Und die Verschlossenheit prägt die dritte Gestalt des sich nicht wollenden Selbst und einer Verzweiflung aus Schwäche. Kommt der Verschlossene nicht irgendwie mit sich weiter, weiß das Selbst nicht mehr aus noch ein, „so wird der Selbstmord die Gefahr sein, die ihm am nächsten liegt" (KzT, 66). Der verzweifelte Versuch, im Selbstmord sein Selbst loszuwerden, ist die spezifische Krise des in sich verschlossenen Geistes. Sie löst sich entweder in einem Durchbruch nach außen oder durch Potenzierung der Innerlichkeit. Entweder stürzt sich der Verzweifelte ins Leben, um sein Selbst in Ausschweifungen der Sinnlichkeit oder in der Zerstreuung großer Taten zu vergessen. Hier hat die Existenzgestalt des Goetheschen Faust innerhalb einer Phänomenologie des Geistes ihre Stelle. Der ,alte Magister des Zweifels', verschlossen in seinem Brüten über die ursprüngliche Geist-Natur, gerät in die Krise des Selbstmordes und sucht zuerst in der Unmittelbarkeit Heilung von Zweifel und Verzweiflung. Darum ängstigt er die unschuldige Einfalt Gretchens zu sich heran. Anstatt aber sein Selbst zu retten, muß er das Dasein Gretchens vernichten. Denn die Reflexion zerstört auch die glücklichste Unmittelbarkeit. Um diese Verzweiflungstat vergessen zu machen, sucht Faustens unruhiger Geist in den Zerstreuungen großer Unternehmungen Erfüllung. Er will Spuren in der Welt hinterlassen. Aber das ist nur die andere Verirrung des Verschlossenen in die falsche Richtung auf Äußerlichkeit. Der andere Ausweg führt tiefer in die Verzweiflung und Innerlichkeit hinein. Das ist die Alternative zu den Faustischen Ausbrüchen in die Welt. Potenziert sich die Verzweiflung, dann geht die Verzweiflung der Schwäche zugrunde, indem sie auf ihren Grund kommt: die Verzweiflung des Trotzes. In der Verzweiflung der Schwäche, nicht Selbst sein zu wollen, steckt ja der Trotz eines Willens. Im Nicht-selber-seinWollen drückt sich ein trotziger Wille aus. Mit der Verzweiflung des Trotzes aber erreicht die Phänomenologie des existierenden Geistes ihre dritte Stufe. „In dieser Form von Verzweiflung ist nun Steigerung im Bewußtsein vom Selbst" (KzT, 67). In ihr gerät der Geist in die Krise des sich auf sich selbst versteifenden Ich.

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Die gesamte dritte Stufe der neuen Phänomenologie trägt den Titel Stoizismus. Dabei ist nicht geschichtlich an ,jene Sekte', sondern phänomenologisch an eine bestimmte Gestalt des Selbstbewußtseins gedacht. Hegels Phänomenologie hat sie auf den Begriff gebracht. Der Stoiker bildet danach das Extrem des abstrakten Fürsichseins und lebt aus dem Willen des Subjekts, seine abstrakte Unabhängigkeit zu behaupten. Es ist bemerkenswert, daß für Schleiermacher Fichtes ethischer Idealismus Stoizismus war. Für Kierkegaard bedeutet Stoizismus die ,Selbstvergottung des Selbstbewußtseins', ,stoischer Vernarrtheit in sich selbst', ein Mißbrauch des Ewigen und eine Überspanntheit des negativen, nichtunendlichen Endlichen. Die ,unendliche Form des negativen Selbst' ist stoisches Selbst-sein-Wollen. „Vermöge dieser unendlichen Form will das Selbst über sich selbst verfügen, oder sich selbst erschaffen, sein Selbst zu dem Selbst machen, das er sein will" (KzT, 68). Solcher Stoizismus kennzeichnet durchgängig die Phänomene des neuzeitlichen Selbstbewußtseins von Descartes' Stiftung bis zu den romantischen Ausformungen der Fichteschen Ich-Philosophie. Kierkegaard hat diese stoische Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins destruiert. Sie bedeute die Heraufkunft tiefster dialektischer Verzweiflung. Der Stoizismus konkretisiert sich in den Gestalten des experimentierenden, des absurden und des dämonischen Selbst. Das bloß experimentierende Selbstbewußtsein ergeht sich in den großmächtigen Versuchen eines hypothetischen absoluten Subjekts. Dessen Hypothesis besteht in der Annahme: Gesetzt, das Ich wäre absolut und es gäbe keine Macht außer und über dem Einzelnen, dann könnte doch das sich selbst beherrschende Selbstbewußtsein experimentieren und menschliche Daseinsformen nach seinem Bilde herstellen — sei es durch Veredlung der Sinnlichkeit, Reform der Erziehung, Revolution der Denkungsart, Sozialisierung der Produktionsverhältnisse usw. Aber der experimentierende Humanismus bleibt auch ohne Ernst. Er vollbringt kein Selbstwerden unter den Augen Gottes, sondern ein Nichtigwerden des alles sein wollenden Ich. Darum endet das experimentierende Selbst im Widerspruch, Utopien verwirklichen zu wollen und niemals zu können. Was dem sich selbst konstituierenden Selbst zugrunde liegt, ist Nichts. Was im Experiment herauskommt, ist eine Fata Morgana, ein Luftschloß. Denn das hypothetische Selbst ist willenhaft unbegrenzte Möglichkeit und darum bloßes Werden, ohne Festes und Umgrenztes, das wird. Es ist darin ein König ohne Land, eine leere Selbstverdoppelung (Ich = Ich), ein ständiger Aufrührer gegen die eigenen, unfesten Entwürfe. Daher

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lösen sich die Systementwürfe des Ich „willkürlich in ein Nichts auf" (KzT, 70)119.

Das Bewußtsein des .handelnden Stoikers' oder der experimentierenden Existenz schlägt in stoisches Leiden und in die Gestimmtheit des Absurden um. Stößt das selbstbewußte Handeln auf einen Grundschaden, über den auch die größte Geschicklichkeit im Experimentieren und Abstrahieren nicht hinwegkommt, dann wird die Gebundenheit faktischen Daseins bewußt. Der leidende Stoiker ist wie der gefesselte Prometheus. Die Leideform des Selbstbewußtseins in der existenzialen Gestalt trotziger Verzweiflung ist stoisch. Das Selbst will seine Existenz sich selber schulden trotz des Pfahles im Fleische, von dem es nicht abstrahieren kann. In diesem Leiden am Mißverhältnis zwischen den selbstherrlichen Möglichkeiten des Menschentums und der mißgestalteten Wirklichkeit konkreten Daseins kommt die Komik des Absurden auf. Die satirische Dialektik schöpft in diesen Analysen die Macht des Komischen aus und nimmt die existenziale Revolte des Absurden vorweg. „Habe ich nicht das Ganze des Komischen ausgeschöpft, so habe ich auch nicht das Pathos der Unendlichkeit" (UN 1,82). Das Pathos des leidenden Stoikers besteht im Trotz, das Absurde als Siegel eigener unendlicher Freiheit zu wollen120. Der Trotz verschmäht die Hoffnung auf das Absurde. Er will nichts den Möglichkeiten Gottes, die menschlich unmöglich sind, schulden. „Hoffen auf die Möglichkeiten der Hilfe hin, besonders denn in kraft des Absurden, daß alles möglich ist bei Gott, nein, das will er nicht" (KzT, 71). Steigert sich der verzweifelte Trotz zu einem Selbstbewußtsein, welches die zernichtete Freiheit und die mißglückte Existenz als Einwand gegen die Güte des Daseins will, dann tritt das Dämonische des Daseins 119

120

Lehrreich ist die Parallele zu Fichtes Nihilismus-Kritik an der überspannten Autonomie des Ich. „Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir noch in mir" (B. d. M.; II, 245). In existenzialer Wiederholung: „Es gibt in der ganzen Dialektik . . . nichts Festes; was das Selbst ist, steht in keinem Augenblick fest" (KzT, 69). - „Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird" (B. d. M.; II, 245). In existenzialer Ubersetzung: „Das verzweifelte Selbst baut somit fort und fort nichts als Luftschlösser; und führt fort und fort bloße Lufthiebe" (KzT, 69 - 70). So hat ja Camus im Falle Kierkegaards von der verzweifelten Lust eines freiwillig Gekreuzigten gesprochen und das adäquate Existenz-Symbol des Sisyphus gefunden. Durch den Trotz gegen die Götter durchleidet Sisyphus seinen absurden Existenzentwurf, nämlich den Stein (die Last des Daseins) auf dem Gipfel (der Selbstverwirklichung) ins Gleichgewicht zu bringen. Camus deutet die Leiden des Sisyphus als dessen geheimes Glück, alles, auch das Unglück, der eigenen Kraft zu schulden und dadurch einen Zuwachs an Verfügungsgewalt gewonnen zu haben. (Vgl. Le Mythe de Sisyphe 1942).

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hervor 1 2 1 . Die dämonische Existenz erscheint in der vom Dichter beschworenen Gestalt Richard III. Er will seine (körperliche und seelische) Mißbildung aus Angst vor dem Guten als Auszeichnung und will so mehr sein als alle anderen: ein Einwand gegen das ganze Dasein. „Das Dämonische ist die Unfreiheit, welche sich in sich verschließen möchte . . . Das Dämonische ist Angst vor dem Guten" (BA, 127, 135). Das Gute stiftet den Zusammenhang zwischen den Gegensätzen des Selbst und zwischen der verzweifelten Existenz und der lösenden Macht Gottes. „Das Gute bedeutet hier den Zusammenhang" (BA, 135). Das Dämonische dagegen ist der Wille zum Bösen; er will als der zerschnittene Zusammenhang existieren, dessen Sein ein Einwand ist gegen die Güte des Seienden. So aber hängt das Selbstbewußtsein, indem es den Zusammenhang mit dem Absoluten verunglimpft, doch gerade wieder am Bezug zu Gott. „Ein boshafter Einwand muß ja auch vor allem darauf bedacht sein, sich an das zu heften, gegen welches er der Einwand ist" (KzT, 74). Tiefste dämonische Verzweiflung ist Rebellion des homo religiosus 122 . Darum ist Don Juan eine wahrhaft dämonische Existenz, weil er die sinnlich genießende Unmittelbarkeit als Widerpart gegen die christlichen Anstrengungen, Geist zu werden, mit entschlossener Bewußtheit auslebt. Der so Verzweifelte existiert in der klarsten Helle des Selbstbewußtseins. Der dämonisch Existierende ist sein eigener Dämon. Das Dasein weiß sich und will sich als Widerspruch gegen alle Aufhebung im göttlich Guten. Mit dieser verzweifelten Erscheinung menschlichen Geistes schließt Kierkegaards Phänomenologie des Selbstbewußtseins ab. 121

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Eine präzise Analyse der dämonischen Existenz und die Entwicklung des Begriffs im Werke Kierkegaards bietet A. Pieper, Geschichte und Ewigkeit bei Sören Kierkegaard. Meisenheim 1968. S. 177ff., basierend auf H . Krings, Das Phänomen des Dämonischen. In: Fragen der Ontologie 1954. S. 2 1 4 - 2 2 8 . Nach E . Hirsch ist die Stufe der dämonischen Verzweiflung die phänomenologische Erfassung einer Selbsterfahrung, Kierkegaards Jugendempörung wider Gott und Selbstverfluchung vor G o t t (Kierkegaard-Studien 1930/33. Bd. 1, 102ff.). Solche Zusammenhänge bestehen. Sie dürfen aber nicht dazu verleiten, die sachlichen Gehalte des Kierkegaardschen Werks überhaupt auf Neurosen (etwa Mutter-Vater-ÖdipusKomplexe) zu reduzieren. Das methodische Verfahren einer psychologisierenden Richtung — wie es in den Arbeiten von A. Künzli zur ideologiekritischen Maxime erhoben wurde (vgl. Die Angst als abendländische Krankheit. Dargestellt an Leben und Denken Sören Kierkegaards. Zürich 1948) — ist mit vollem Recht von M. Theunissen (Das Kierkegaard-Bild in der neueren Forschung und Deutung. In : Sören Kierkegaard, Wege der Forschung. Darmstadt 1971. S. 366ff.) scharf zurechtgewiesen worden. Eine behutsame, alle ungesicherten biographischen Hypothesen ausschließende Darstellung von Leben und Werk Kierkegaards bietet die Monographie von H . Gerdes, Sören Kierkegaard. Berlin 1966.

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Hegels Phänomenologie verläuft auf dem Wege des Zweifels oder ,eigentlicher der Verzweiflung'. Nun hat Kierkegaard in ,De omnibus dubitandum' dargelegt, warum man mit dem Zweifel nicht anfangen kann, und die .Unwissenschaftliche Nachschrift' hat den spekulativen Zweifelsweg zum gedanklichen Leerlauf gestempelt. Ohne das Interesse der existierenden Subjektivität kommt es zu keiner wirklichen Krise, zu keinem Leiden am Widerspruch, zu keiner freien Entscheidung. „Sobald man die Subjektivität fortnimmt, und von der Subjektivität die Leidenschaft und von der Leidenschaft das unendliche Interesse, so gibt es überhaupt gar keine Entscheidung" (UN 1,29). Bleibt der Prozeß des erscheinenden Geistes im Medium der Unentschiedenheit, dann „ist nichts unendlich entschieden, weil die Bewegung in sich selbst zurückkehrt, und wieder zurückkehrt, und die Bewegung selbst eine Schimäre . . . ist" (UN 1,29). Die .Krankheit zum Tode' arbeitet dagegen eine Phänomenologie des existierenden subjektiven Geistes aus, in welcher das Selbstwerden durch die Leidenschaft der Verzweiflung und die Entscheidungen des interesse konkret werden. Und sie führt die Dialektik des Selbstbewußtseins in ihre extremste Krise. Zwar fordert das unendliche Interesse des autonomen Selbst den Bruch mit der Unmittelbarkeit, aber es scheut den Durchbruch aus der selbstbezüglichen Immanenz zur selbstlosen Transzendenz. Der Geist des sich selber wollenden Willens will „nicht damit anheben, sich selbst zu verlieren, sondern will es selbst sein" (KzT, 67). Mit der Absolutheit des sich selber wollenden und wissenden Selbstbewußtseins aber räumt die negative Dialektik, die sich innerhalb des Zwischenseins und der Gegensätze der existierenden Subjektivität bewegt, auf. Sie nötigt das Bewußtsein zu einer bestürzenden Konzession. Existenzial nachgerechnet, ist das Selbstbewußtsein, das im Zeitalter der Neuzeit von Descartes bis Nietzsche aus dem Willen zur Selbstermächtigung lebt, von Verzweiflung umringt. Die Dialektik des selbstgewissen Selbstbewußtseins beginnt mit dem methodischen Zweifel, sie endet in auswegloser Verzweiflung.

7. Kapitel: Grundzüge der Antidialektik von Sünde und Glaube Kein Paradox scheint angreifbarer als die Rede von einer erbaulichen Wissenschaft. Und doch trägt die in Kierkegaards begrifflich strengster Schrift, der ,Krankheit zum Tode', vorgetragene Psychologie oder Wissenschaft vom subjektiven Geist den Untertitel: ,Eine christliche psycho-

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logische Erörterung zur Erbauung und Erweckung'. Die Forderung nach Erbauung protestiert gegen das unmenschliche Ethos Hegelscher Wissenschaftlichkeit, gegen ihre interesse- und leidenschaftslose Objektivität und unparteiische Sachlichkeit. Sie richtet sich gegen die Begriffsvergötzung, welche in der ,faden Erbaulichkeit* nicht mehr als ein den Begriff verabscheuendes Verlangen nach Gefühl und Anschauung der Wahrheit zu sehen vermag. Freilich dient eine christlich-psychologische Dissertation nicht einfach der Mehrung und Stärkung des Glaubens durch den Kult im neutestamentlichen Sinne von οικοδομή - aedificatio und schon gar nicht der sittlichen Besserung als moralische Folge der Andacht auf das Subjekt im Kantischen Verstände. Die Rede von der wissenschaftlichen Erbauung ist als Gegenwort gegen das große Unternehmen der Aufklärung zu hören, im Ich ein unerschütterliches Fundament gegen den methodisch geweckten metaphysischen Zweifel zu erbauen. Sie dringt darauf, ein fundamentum inconcussum gegen die Verzweiflung der existierenden Subjektivität zu gewinnen. Eine Erörterung dieser Gegenbewegung kann die Erbauung im Horizonte der ,Religiosität A' als Vorstufe übergehen. „Das Erbauliche in der Sphäre der Religiosität A ist das der Immanenz, ist die Vernichtung, in welcher das Individuum sich selbst beiseite schafft, um Gott zu finden" ( U N 11,271). Schuld und Reue - jene Leidenschaft, die Schuld festzuhalten — sind der entscheidende Ausdruck dieser humanen Religiosität. Das totale Schuldigsein gründet darin, daß mit dem Existieren ein verkehrter Anfang gemacht worden ist, wenn immer der Mensch seiner natürlichen Tendenz folgt, eigentlich absolut in den relativen Zwecken zu sein. Der verkehrte Anfang und das verabsolutierte Relative gehören zum sich selbst setzenden, endlichen Ich. Im Schuldbewußtsein gibt sich das endliche Selbst als absolutes Telos der Existenz auf. In ihm sinken die Momente der Endlichkeit zu etwas herab, das gegenüber dem Ewigen (der ewigen Seligkeit) aufgegeben werden muß. „Das Erbauliche ist hier also ganz richtig kenntlich am Negativen, an der Selbstvernichtung, die in sich das Gottesverhältnis findet, die es durchleidend im Gottesverhältnis sinkt, darin gründet, weil Gott in dem Grunde ist, wenn nur alles das, was im Wege ist, weggeräumt worden ist" ( U N 11,271 — 72). Aber diese negativerbauliche, außerchristliche Dialektik der Verinnerlichung in der Sphäre der Religiosität A spielt in der Immanenz. Die Negation der ethischen Selbstbehauptung durch die Vertiefung des Bewußtseins ins totale Schuldigsein und seine religiöse Wiedergewinnung eben durch den Verlust der Endlichkeit behalten das ungebrochene menschliche Selbst als Subjekt dieser

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Bewegung. Ihre ganze Dialektik bleibt in der Daseinssphäre der ethischreligiösen Existenz einbehalten. Ihre Bewegung verläuft immanent, weil ihr nur das Schuldbewußtsein und die Menschennatur im allgemeinen zugrunde liegen. Solcher Weg nach innen führt nicht zur bruchlosen Aufhebung und schrittweisen Versöhnung mit Gott. Er ist durch das Faktum der Sünde verbaut. „Das Schuldbewußtsein als wesentliches liegt doch noch in der Immanenz, und ist verschieden vom Sündenbewußtsein" ( U N II, 242). Mit dem Bewußtwerden der Sünde und mit dem Aufbruch der christlichen Religiosität rückt diejenige Gestalt der Verzweiflung in den Mittelpunkt einer thematischen Untersuchung, welche die Immanenz des Selbst zerbricht, die spekulative Dialektik des Geistes ad absurdum führt und zur positiven Erbauung in der fundamentalen Gleichung Sein = Glauben hinleitet. Kierkegaards Bestimmung der Sünde kann hier nur so weit verfolgt werden, um den Stand der Dialektik im Ubergang des endlichen Selbstbewußtseins in die Wahrheit der Vernunft, des subjektiven in den absoluten Geist überprüfen zu können. Dabei geht es nicht um die im .Begriff Angst' bedachte ideelle Möglichkeit der Sünde (um die Dialektik von Einzelnem und Geschlecht in der Gleichzeitigkeit und Wiederholung mit der Erbsünde Adams) und auch nicht um ihre reale Möglichkeit (um die Psychologie der Angst im Hinblick auf den qualitativen Sprung im Stande der Unschuld). Es kommt darauf an, die Sünde als innerste und verborgenste Wirklichkeit der neuzeitlichen Existenz im Krieg zwischen Mensch und Gott wieder zuentdecken. „Sünde ist, nachdem man durch eine Offenbarung von Gott her darüber aufgeklärt worden, was Sünde ist, vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder verzweifelt man selbst sein wollen" (KzT, 96). Das In-der-Sünde-Sein ist die schwerste Krankheit zum Tode und die unendlich potenzierte Verzweiflung des .theologischen Selbst', d. i. des Menschen als Einzelnen im Ansprüche Gottes. Die Existenz des Sünders markiert den Wendepunkt in der Dialektik der Existenzphänomenologie. „Diese ganze Betrachtung muß nun dialektisch auf eine neue Art gewendet werden. Die Sache ist folgende. Die Stufenfolge im Bewußtsein vom Selbst, mit der wir uns anher beschäftigt haben, liegt innerhalb der Bestimmung: das menschliche Selbst, oder das Selbst, dessen Maßstab der Mensch ist. Eine neue Qualität aber und Qualifizierung wird dem Selbst dadurch zuteil, daß es das Selbst Gott gegenüber ist" (KzT, 77). Stets ist Maßstab für das Selbst das, demgegenüber es ein Selbst ist. An ihm ermißt sich seine Qualität. Wird der Mensch das Maß allen Selbstseins, dann ver-

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sammeln sich die Einzelnen unter die große Idee der Selbstbestimmung und verzweifeln in ihrer Endlichkeit an der Freiheit. „Erst, wenn ein Selbst als dies bestimmte einzelne sich bewußt ist, da zu sein für Gott, erst dann ist es das unendliche Selbst; und dieses Selbst sündigt dann vor Gott" (KzT, 79) 123 . Solches Bewußtsein, vor Gott vereinzelt und sündig zu sein, kann die Verzweiflung nicht durch sich selbst bekommen; denn der natürliche Mensch existiert während der Zeit seiner Verzweiflung in der Unwahrheit und vermag daher nicht, sein verzweifeltes Dasein ganz zu ermessen. Lediglich das Bewußtsein einer Schuld kommt aus dem Menschen über ihn, weil es das Subjekt innerhalb des Subjekts verändert. Das Bewußtsein, in der Sünde zu existieren, ist dagegen eine Veränderung des Subjekts. Erst ein ,Gott in der Zeit', eine geschichtliche Offenbarung, kann ihn darüber aufklären (vgl. UN 11,297. KzT, 89, 94, 101). Natürlich folgt auch auf der neuen Stufe des theologischen Selbst die Phänomenologie des existierenden Geistes dem Gesetze der Konvertibilität von Bewußtsein und Verzweiflung weiter. Freilich steigt das Selbstbewußtsein jetzt nach dem Maße des Gottesbewußtseins. „Je mehr Gottesbewußtsein, desto mehr Selbst; je mehr Selbst, desto mehr Gottesvorstellung" (KzT, 79). Und folgerichtig geht der Aufstieg des Selbst zum Absoluten durch die religiöse Verzweiflung, die Krisen des Sündenbewußtseins, hindurch. Dabei wird der Zweifels- und Verzweiflungsweg des theologischen Selbst im Dreischritt der uneigentlichen Verzweiflung der Sünde, der Sünde der Schwäche und der Sünde des Trotzes oder des Ungehorsams hier nicht weiter verfolgt. Die kritische Prüfung konzentriert sich auf die Dialektik von subjektivem und absolutem Geist, von theologischem Selbst und offenbarem Gott, und zwar im Ausgange von der in der Sünde verzweifelten Existenz. Die These, welche die Dialektik der Neuzeit niederschlägt, lautet: „Die Dialektik der Sünde ist der der Spekulation schnurstracks entgegen" (KzT, 121)124. Spekulative Dialektik läuft darauf hinaus, die Differenz 123

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Fällt der Maßstab des ewigen Gottes für das zeithafte menschliche Selbst weg, dann ist es mit dem Menschen in Ewigkeit nichts. Der Nihilismus hat diese Konsequenz gezogen. „Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts weiter begeben haben" (Nietzsche, Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne; Werke III, 309, 1873). Hier präzisiert sich Kierkegaards Existenz-Dialektik als Gegenbewegung, die der Hegelschen Spekulation, der mediierenden Versöhnungsdialektik, entgegenarbeitet und ihr so verhaftet bleibt. Uber Forschungsstand und Forschungsgeschichte des Verhältnisses Kierkegaard-Hegel unterrichtet die profunde Studie von H. Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel. Stuttgart 1969. Thulstrup selbst dringt darauf, die totale In-

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zwischen menschlichem Selbst und göttlichem Geist denkend aufzuheben. Diese Vollendungsgestalt der natürlichen Theologie hat die Hypothesis einer absoluten Identität zu ihrer Voraussetzung. Menschlicher und göttlicher Geist können sich dialektisch zusammenschließen, weil sie im Ganzen dasselbe und nicht etwa zweierlei Vernunft und schlechthin voneinander verschieden sind. Indessen schafft der geistvolle Versuch, den in die Krise geratenen Glauben mit Hilfe der Vernunftdialektik zu retten, die Wahrheit des Christentums in der Christenheit ab; denn ihre Grundzüge sind heidnisch-pantheistisch bzw. romantisch-poetisch. „Das Grundunheil der Christenheit ist eigentlich . . . daß der Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch pantheistisch (zuerst vornehm auf spekulative Art, neuerdings pöbelhaft auf Straßen und Gassen) aufgehoben ist" (KzT, 118). Die Dialektik der Sünde ist radikale Antidialektik. Sie sorgt dafür, „daß die Tiefe der QualitätsVerschiedenheit zwischen ihnen befestigt werde, zwischen Gott und Mensch, daß Gott und Mensch nicht derart philosophisch, poetisch usw. in eins zusammenlaufe" (KzT, 99). Das hat Kierkegaard immer wieder eingehämmert. Als Sünder ist der Einzelne durch die gähnendste Tiefe der Qualität von Gott getrennt. Die abgründige Differenz der durchgängigen Sündhaftigkeit ignoriert die Theodialektik und alle natürliche Theologie. „Die Lehre von der Sünde, davon, daß du und ich Sünder sind (eine Lehre, welche unbedingt ,die Menge' auseinanderscheidet), befestigt nun den Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch so tief, wie er noch niemals befestigt worden ist" (KzT, 123). Sie sperrt den Weg einer begrifflichen Aufhebung via negationis absolutae. Die Kategorie der Sünde vertieft die Kategorie der Einzelheit. In der Verzweiflung der Sünde und im Aufruf des göttlichen Gerichts ist der Mensch allein und von der Gemeinschaftsbildung ausgeschlossen, ,so wenig wie die Toten auf dem Friedhof draußen eine Gesellschaft bilden'. Der Einzelne liegt unterhalb des Allgemeinen, unerreichbar nicht nur für den abstrakt-logischen, sondern auch für den konkret-spekulativen Begriff. Und die unbegreifliche Position der Sünde verlegt die Möglichkeit, menschliches und göttliches Sein identisch zu setzen. „Sünde ist . . . das Einzige, das auf keinerlei Weise, weder auf dem Wege der Verneinung (via negationis) noch auf dem Wege der

kommensurabilität zwischen dem spekulativen Mystiker Hegel, der die Kongruenz von göttlichem und menschlichem Geist behauptet, und dem Denker der menschlichen Existenz, der dem Menschen das Innehaben der Wahrheit abspricht, herauszustellen.

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Steigerung (via eminentiae) von Gott ausgesagt werden kann" (KzT, 123). Per se notum. Der Gedanke, Gott sei menschliche Sündhaftigkeit in höchster Potenz, lästert Gott. Die Idee, Gott sei das Nichtsein der Sünde, verharmlost die Sünde. Sie macht, da dem seiendsten Sein ein Nichtsein nur als Negation eines Negativen zugedacht werden kann, die Sünde „zu etwas bloß Negativem, zu Schwachheit, Sinnlichkeit, Endlichkeit, Unwissenheit" (KzT, 96). Sünde aber ist die Position des sich selber wollenden Daseins im Trotz gegen das offenbarte Gebot Gottes. Ihre Dialektik läuft aller Spekulation und begrifflichen Vermittlung entschieden entgegen. Der Einzelne als Sünder vor Gott, dieser Komplex hat die dialektische Struktur eines auseinandergehaltenen Zusammenhalts. Der Widerspruch des theologischen Selbst, untrennbar getrennt vom Absoluten zu sein, löst sich in einer Bewegung geschichtlichen Selbstwerdens, welche durch Kategorien des christlichen Daseins (Paradox, Wiederholung, Gleichzeitigkeit, Ärgernis, Augenblick, Sprung usw.) konstituiert ist. Dabei dringt der Einzelne auf einen äußersten Punkt des Selbstbewußtseins und der Verzweiflung vor. „Die Potenzierung im Bewußtsein vom Selbst ist hier das Wissen von Christus, ein Selbst Christus gegenüber" (KzT, 113). So gesehen, ist die Christologie der Gipfel der Kierkegaardschen Phänomenologie des Geistes. Jeder Einzelne findet sich als geschichtlich existierendes Selbst vom absoluten Paradox betroffen: daß Gott für ihn menschliche Existenz geworden ist. Diese neue, ungeahnte Dimension des Bewußtseins stellt das Dasein unter den Anspruch und Zuspruch, ein absolutes Existieren zu wiederholen. Mithin gilt: „Je mehr Vorstellung von Christus, desto mehr Selbst" (KzT, 114). Im Kontext von Bewußtsein und Verzweiflung gilt aber auch: „Je mehr Selbst, um so intensivere Sünde" (KzT, 114). Darin spitzt sich die Glaubenskrise des Christentums, auf den Begriff der existierenden Subjektivität gebracht, zu: entweder Ärgernis nehmen am Paradox des Gott-Menschen in der Sünde des Trotzes oder existieren im Glauben. Es gibt kein vermittelndes Drittes. „Ärgernis ist die entscheidendste überhaupt mögliche Bestimmung der Subjektivität, des einzelnen Menschen" (KzT, 124). Seine Möglichkeit ist der Scheideweg, von dem die Subjektivität entweder in das Sichselberwollen oder in den Glauben einbiegt. Allein durch diese Möglichkeit kommt man wirklich zum Glauben (vgl. E. Chr. II, 76). Dieser Wendeund Umschlagspunkt in der Antidialektik der Sünde ist daher sorgsam zu erwägen. Dabei bleibt die Strukturanalyse des Ärgernisses durch Climacus (Ph. Br. 46, 51) außer Betracht. Die Explikation in der ,Einübung'

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(E. Chr. 11,67 — 140) dagegen wird herangezogen, ohne deren Einteilung zu berücksichtigen. Was also ist Ärgernis, seiner einfachen psychologischen Entwicklung nach? „Was im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch: Bewunderung — Neid ist, das ist im Verhältnis zwischen Gott und Mensch: Anbetung - Ärgernis" (KzT, 85). Ärgernis entspricht im durchschnittlichen Verhalten des Menschen dem Neid und der Mißgunst. Kierkegaard hat den Neid, der dem Anderen das Glück mißgönnt bzw. das Unglück gönnt, als Existenzial der Nivellierung, der Einebnung des Außerordentlichen, entdeckt und seine Dialektik gedeutet. Neid ist versteckte Bewunderung und in der Wurzel unglückliche Selbtbehauptung. Während aber fortan - von Marx bis Heidegger - der Neid und die ,Abständigkeit' als Kategorien des gesellschaftlichen Seins bzw. des Mitseins fundamental werden, bedenkt Kierkegaard vor allem den „Neid, der sich wider einen selbst kehrt" (KzT, 84). Das ist der Neid, in welchem der Mensch sich das Außerordentliche nicht gönnt. Im Selbstverhältnis zu Gott wird solche Mißgunst zum Ärgernis. Wer Ärgernis nimmt, nivelliert das, was über den Verstand geht, das Paradox oder die Absurdität des Gott-Menschen. Er mißgönnt sich aus unglücklicher Selbstbehauptung das außerordentliche Existenz-Angebot Gottes. Psychologisch nachgerechnet, hängen die Formen und Abstufungen des Ärgernis-Nehmens an der Fähigkeit zu bewundern, an Phantasie und Leidenschaft; denn diese reißen zum Unerwarteten hin und halten das Ungewöhnliche offen. Darin nimmt der Skeptiker die unterste Stufe ein. Er bewundert nichts und niemanden. Ihm ist die Atemlosigkeit, mit der andere bewundern, unverständlich. An allem, was über seinen Verstand geht, nimmt er Ärgernis, und zwar in der Form, daß er es einfach dahingestellt sein läßt. Die aggressive Form des Ärgernis-Nehmens dagegen verknüpft sich mit intensiver Phantasie und Leidenschaft. Sie läßt das Außerordentliche nicht auf sich beruhen, sie will es herabziehen und zunichte machen. Wird diese psychologische Explikation auf das theologische Selbst angewendet, dann zeigt sich die Möglichkeit des Ärgernisses in äußerster Konzentration. Sie liegt allein schon darin, daß der Mensch die Realität haben soll, als Einzelner vor Gott dazusein. Sie verdichtet sich in der Zumutung, Gott sei Mensch geworden, das Immerseiende in die Zeit getreten, das Unsterbliche für mich gestorben. Das Ärgernis konzentriert sich auf das absolute Paradox oder das Absurde des Gott-Menschen. Der Verstand kann das Absurde nicht denken, weil es dem Gesetz des Widerspruchs widerspricht, und die Vernunft kann es nicht begreifen, weil es

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der Bestimmung der Zeitlichkeit und Gleichzeitigkeit nicht entspricht 125 . Verständigkeit wie Spekulation können das absolute Paradox aber auch nicht in Nonsens auflösen, weil es geschichtliche Wirklichkeit ist. Es bleibt ein Rätsel und Zeichen, das, im Begriff aufgelöst, seine Zeigekraft verliert, für ein Verstehen aber, das sich auf das geschichtliche Existieren versteht, einzigartige Zeugniskraft gewinnt. Zeichen ist verneinte Unmittelbarkeit. Ein Seezeichen ζ. B. ist zwar unmittelbar nicht nichts, sondern Licht, Stange, Boje usw., aber als Zeichen hat es ein zweites, nicht unmittelbares Sein: das Bedeuten. Daher sind ein Licht oder eine Stange Seezeichen nur für den, der sich auf ihre Bedeutung versteht. Das absolute Paradox ist ein Zeichen. Gott versagt die unmittelbare Mitteilung, er fordert seine Annahme als ,Zeichen des Widerspruchs' (σημεϊον άντιλεγόμενον - Luc. II, 34) heraus. Darum zeigt sich Christus nicht geradezu in der Herrlichkeit Gottes, sondern in Knechtsgestalt. In ihm fallen die größtmöglichen, unendlichen qualitativen Gegensätze zwischen dem göttlichen und menschlichen Sein zusammen, aber so, daß sie nicht im Widerspruch vergehen, sondern als Zeichen des Widerspruchs sind. Die Gestalt des Knechtes ist das tiefste Inkognito Gottes, der eben nicht unmittelbar erkennbar, aber auch nicht im Widerspruch gänzlich verhüllt, sondern ein Zeichen ist. Das Zeichen offenbart sich dem ,Rat der Herzen' (βουλή των καρδιών - 1. Kor. 4,5). Rat meint Raten von Rätseln und Vorschlagen in der Wahl. Das Zeichen des Widerspruchs gibt dem Ratenden ein Zusammensetzungsrätsel auf, das sich nicht dem spekulativen Begriff, wohl aber dem gläubigen Herzen enträtselt. Das Herz rät, auf wen das Zeichen weist und was es bedeutet. Es weist auf jedwede Existenz; denn diese ist ja selbst eine rätselvolle Zusammensetzung von Zeit und Ewigkeit. Es bedeutet die Erfüllbarkeit des Selbstwerdens und Gleichzeitigkeit mit Christus, und überhaupt die Gleichzeitigkeit der ,heiligen Geschichte' Gottes mit der Heilsgeschichte des Einzelnen. Die spekulativ ,begriffene Geschichte' dagegen kann das Paradox des Gott-Menschen nicht verdauen. Die ,heilige Geschichte' außer der Geschichte in der Fülle der Zeit vollzieht sich gleichzeitig in jeder 125

Die Spekulation, welche die Einheit von Gott und Mensch sub specie aeternitatis denkt, meint nur, den Gott-Menschen begreifen zu können. In Wahrheit ist sie .tiefsinnige Augenblendung', weil sie einer trüglichen Voraussetzung folgt: Die Spekulation nimmt die Bestimmung der Zeitlichkeit, der Gleichzeitigkeit, der Wirklichkeit vom GottMenschen fort (E. Chr. II, 77-148). In der Tat drückt Hegels These, die Wahrheit Christi sei der Geist der Gemeinde, eine Verlegenheit der Spekulation gegenüber der geschichtlichen Existenz aus. In Kierkegaards Augen schafft sie so die Möglichkeit des Ärgernisses und damit den Glauben ab.

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Generation 1 2 6 . Sie eröffnet sich dem Rat als einer das Rätsel deutenden Stellungnahme. So bedeutet das Zeichen, das Christus ist, keine historische Begebenheit der Vergangenheit, sondern ein Kommendes, das unausweichlich auf mein Dasein zukommt. Im Raten oder Ver-raten des Zeichen-Rätsels wird offenbar, was das Dasein ist, Ärgernis nehmend oder wahrhaft glaubend. Die Abstufungen des Ärgernisses formieren die religiöse Existenz des Indifferenten, des Passiven und des Nihilisten, und zwar nach dem Grade von Leidenschaft, Phantasie und Mißgunst. Der Indifferente enthält sich skeptisch des Urteils. Er nimmt die Haltung dessen ein, der nicht glauben kann, weil ihm die Beglaubigungen des Wissens, die Prüfbarkeit der Autoritäten, die Rückversicherung der Gewißheit fehlen, der aber gleichwohl diejenigen achtet, welche glauben. Solche Enthaltsamkeit des Indifferenten macht den untersten Grad einer Mißgunst aus, die nicht bewundern und anbeten kann. Sie weicht gleichwohl vor der Gleichzeitigkeit des Paradoxen aus. Eine andere, mittlere Stellungnahme negiert, daß die Sache mit Christus zu ignorieren ist, aber sie starrt in unfruchtbarer Innerlichkeit untätig auf das Absurde. Das ,negative Ärgernis' verurteilt zur Haltung dessen, der sich unablässig mit dem Paradox des christlichen Gottes beschäftigt, ohne damit ins Reine und zu einem Entschluß zu kommen. Die dritte, positive Form des Ärgernisses stellt das Paradox des Gott-Menschen als Unsinnigkeit, Lüge und Unwahrheit vor. Das ist zunächst dogmatisch-christologisch gemeint. So hält der Doketismus Christus zwar für ein göttliches, aber doch nur dem Scheine nach existentes Wesen. Der Rationalismus erklärt ihn dagegen für eine wirkliche, aber nicht göttliche Existenz. Entsprechend entfernt der Ebionitismus die Bestimmung ,Gott', der Gnostizismus die Bestimmung ,Mensch' aus der 126

H . Schweppenhausen Kierkegaards Angriff auf die Spekulation. Eine Verteidigung. Frankfurt a. M. 1967 hat in seiner ebenso polemischen wie präzisen Konfrontation gegen Kierkegaard u. a. den Vorwurf der Geschichtsblindheit erhoben und dessen Position überhaupt auf undurchschaute geschichtliche Verhältnisse zurückgeführt. Ganz abgesehen von Kierkegaards wacher Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte und Zeitgeist, übersieht solche Korrektur Kierkegaards Fundierung der Geschichte in der Geschichtlichkeit des Einzelnen in seinem Selbstwerden und nimmt die doch unleugbar geschichtliche (christliche) Kategorie der heiligen Geschichte, der Gleichzeitigkeit und Wiederholung nicht ernst. Die Frage ist jedoch, ob die unbefragte neomarxistische Voraussetzung der Dialektik als reale gesellschaftliche Bewegung und als intersubjektives geschichtliches Geschehen einer existenzialontologischen Prüfung standhält. Uber Intention und Resultate der Untersuchung von Schweppenhäuser vgl. K. J . Schmidt, Hegelauffassungen — dargestellt von Kierkegaard-Interpreten. In: Hegel-Studien 7 (1972) 378-383.

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Rätsel-Zusammensetzung des Gott-Menschen. (Kierkegaard folgt hierbei Schleiermachers Lehre von den natürlichen christologischen Kategorien; vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube. 1821, §25; 1830, §22). Phänomenologisch und geistesgeschichtlich gedacht, organisiert diese Stufe des Ärgernis-Nehmens die Daseinshaltung des Nihilisten: den Angriffsund Vernichtungskrieg gegen die christliche Religion. Seit dem Ausfall Feuerbachs und bis zum dreifachen Angriff Nietzsches gegen Piatonismus, Christentum und Moral ist ein Ärgernis-Nehmen am Werk, das mit schärfster Bewußtheit, glühender Leidenschaft und beweglichster Phantasie betrieben wird. Kierkegaard hat den heraufkommenden Nihilismus gedeutet: als die Existenzweise des geballten Trotzes, die das Erlösungsangebot vernichtet und sich in den Zustand der Verzweiflung, in die Herrschaft der Angst, die Sisyphus-Situation des Absurden einpfählt. Der äußerste Gegensatz zur Verzweiflung der Sünde ist der Glaube nicht etwa die Tugend und das Wissen, wie Kierkegaard in seiner glänzenden Auseinandersetzung mit der ironisch-ernsten Arete-These des Sokrates herauskristallisiert. Das Existieren im Glauben (fides qua, non quae creditur) entscheidet sich im Verhalten zum absoluten Paradox. Dieses ist das Skandalon, das zum Glauben anstößt, es sei denn, man wähle das Ärgernis. Damit trennt sich das Sein des Glaubens entschieden vom klassischen Sinne der Pistis. Griechisch gedacht, bedeutet Glaube (πίστις) ein Zutrauen, das sich an das Bekannte und Vertraute, das Wie-zumeist hält und darum das Erstaunliche gerade niederhält. Christlich verstanden, bedeutet Glauben Existieren und Konkret-Werden im Wagnis des Absurden. Der Glaube braucht den demütigen Mut (humilitas fidei), gegen die Sicherung des Wissens in der Ungewißheit zu leben. Er durchstreicht die Seinsthese der Selbstgewißheit: „cogito ergo sum — denken ist sein" (KzT, 93). Radikal existieren heißt, auf das Paradox setzen. „Glauben ist sein" (ibid.). Darum ist Abraham der Vater des Glaubens, weil er in Suspension des Ethischen — am Maße der Tugend gemessen, ist Abraham ein Mörder — auf das Unwahrscheinliche setzt, den geopferten Sohn Isaak wiederzuerhalten. Der Weg in den Glauben führt durch die extremste Verzweiflung hindurch, und zwar durch einen Sprung vom Äußersten ins Äußerste. Glauben besagt ,nicht verzweifeln' als Negation der Negativität des verzweifelten Selbst. Die Verzweiflung weist dem Menschen den Weg, die Immanenz seines Selbst zu transzendieren. Das Selbstbewußtsein kann sich ja nur verzweifelt finden, wenn es schon über sich hinaus ist. Der Durchbruch aus Verzweiflung und Sünde in den Glauben aber spottet aller

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Mediation. Der qualitativ unendliche Ubergang ist ein Sprung und entschlossener Absprung aus der tiefsten Angst und Verzweiflung. Nach Hamanns Wort an Herder würde uns ohne die Angst kein Heimweh anwandeln. Durch sie nur gelangt der Mensch zu höchster Bewußtheit und klarster Durchsichtigkeit, ohne Verfälschung und Verkleidung, ohne Vorbehalt und Hinterhalt 127 . Kierkegaard hat die Einsicht auf den Weg gebracht: Die Grundbefindlichkeit der Angst und Verzweiflung birgt die Möglichkeit von Verschlossenheit und Erschlossenheit. Im Sprung des Glaubens macht sie den Grund des menschlichen Selbstverhältnisses durchsichtig und das absolute Paradox verstehbar. Das Selbst versteht die Menschwerdung Gottes als Zeichen dafür, daß das Ewige nicht im Jenseitigen verharrt, sondern im Zeitlichen, inmitten der geschichtlichen Wirklichkeit auf den Einzelnen zukommt und daß das Selbst sich nachfolgend in diese Macht zu schicken hat. So vollendet die Definition des Glaubens die Bestimmung des menschlichen Selbstverhältnisses als antidialektisches Korrektiv des Selbstbewußtseins. „Indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat. Eine Formel, die wiederum, woran des öfteren erinnert worden, die Definition ist für Glaube" (KzT, 134).

8. Kapitel: Die negative Dialektik des existierenden Subjekts Schon die Magisterarbeit ,Uber den Begriff der Ironie' fällt ein kritisches Urteil über Eigenart und Recht einer Dialektik des Geistes. „Während nämlich die eigentlich philosophische, die spekulative Dialektik vereinend ist, ist die negative Dialektik, weil sie der Idee den Abschied gibt, ein Makler, der ständig in einer niederen Sphäre Umsätze macht,

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Die Bedeutung der Wahrheit als .Durchsichtigkeit' bei Kierkegaard hat R . Guardini hervorgehoben und mit der christlichen Einfalt zusammengestellt (Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards. In: Hochland (1927) Bd. 2). Gegen solche Aufhebung in die Einfalt der Wahrheit hat Adorno polemisiert (1. c. S. 131 ff.): Die Idee der Wahrheit als Durchsichtigkeit bleibe zweideutiges Sich-selbst-Erkennen und Sichselber-Wählen. So ströme die Bewegung einzelmenschlichen Bewußtseins nicht in den Seinszustand der Durchsichtigkeit ein, dieser werde selbst in diese Bewegung hineingerissen. — Aber in diesem Streit ist nicht hinreichend geklärt, worin das Durchsichtigsein vor Gott, das Ent-decken des vor sich und den Anderen verdeckten Selbst gründet: im Sichverstehen auf das gläubige Existieren und im Sichbefinden in der aufgehobenen Angst.

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d. h. sie ist trennend" (Β. I., 155). Diese Scheidung von negativer und spekulativer Dialektik kann polemisch auf Hegels Zusammenschluß von abstrakter, negativer und spekulativer Form des Logischen als des Dialektischen-iiberhaupt bezogen werden. „Das Logische hat der Form nach drey Seiten α) die abstracte oder verständige, ß) die dialektische oder negatiwernünftige, γ) die spekulative oder positiwernünftige" (Enz. § 13; VI, 34). Dialektik im Hegeischen Sinne ist natürlich diejenige Selbstbewegung des Begriffs, die alle drei Seiten des Logischen durchläuft und zusammengreift. Darin negiert die negatiwernünftige Dialektik die Form des Verstandes, die feste Bestimmtheit und Unterschiedenheit des Beschränkt· Abstrakten gegen anderes. Sie läßt die endlichen Bestimmungen in ihr Gegenteil übergehen. Aber erst in der spekulativen Form kommt die dialektische Bewegung der Logik zu ihrem Abschluß. Sie faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf. N u n tilgt die Dialektik der Existenz nicht einfach die dritte, spekulative Seite aus der dialektischen Logik, um die beiden anderen Seiten unter Herausstreichen des Negatiwernünftigen als wahre Dialektik bestehen zu lassen. Sie ist negative, trennende Dialektik auf dem Boden der Endlichkeit. Aber ihre Form gewinnt durch ihren Inhalt, das Selbstwerden des existierenden Subjekts, ein neues, die Triadik der Aufhebung auslöschendes Gepräge. Das neu erwogene Schwergewicht von Interesse und Existenz versagt einen konkreten, trilogischen Zusammenschluß. „Die Wirklichkeit, die Existenz ist das dialektische Moment in einer Trilogie, deren Anfang und deren Schluß für einen Existierenden, der sich als Existierender in dem dialektischen Moment befindet, nicht dasein können. Die Abstraktion schließt die Trilogie zusammen" ( U N II, 16). Das dialektische System gaukelt ein Schattenspiel der Abstraktion vor. Es ergeht sich in den ewigen Bezügen der reinen Subjektivität unter Ausschluß des existierenden Subjekts. Es erhebt sich zur reinen Menschheit unter Absehung vom Einzelnen. Es vollzieht absolutes Denken ohne Denkenden. Kierkegaard hat den verwegenen Tiefsinn des reinen Ich und den Hochmut der ,Gedankenexistenz' stets satirisch behandelt. Das ganze abstrakte Denken sei in Bezug auf alle Existenzprobleme eine Studie im Komischen ( U N II, 4). Komisch ist das Prinzip, welches dialektische Geschlossenheit vorspiegelt, Fichtes Ich-Ich (in der Hegeischen Auffassung der absoluten Identität von Denken und Sein!). In ihm abstrahiert die Abstraktion vom Abstrahierenden. Das hat Kierkegaard immer wieder herausgehoben. Könnte der Existierende wirklich außerhalb seiner selbst sein, so würde

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die Wahrheit allerdings dialektisch zu Abschluß und Ende kommen. Das unabschließbare Dasein bliebe ja außerhalb des trilogischen Zusammenschlusses, und die Wahrheit als Ubereinstimmung von Subjekt und Objekt könnte in einem Punkte, dem Subjekt-Objekt, zusammenfallen. Aber ist das Einheit versprechende Ich-Ich mehr als ein mathematischer Punkt, der gar nicht da ist? Vom ontologischen Maßstabe des Existierens aus kommt dem reinen Ich in der Tat die Seinsart des Mathematischen zu, ideelles Abstraktsein. Die allreale Fülle schrumpft zum .mathematischen Punkt', und geschichtliches Dasein wie zeithaftes Selbstwerden verschwinden, abstrakt und sub specie aeternitatis gedacht, notwendigerweise aus dem Gesichtskreis. Die ,negative Dialektik' des menschlichen Seins wird verschleiert. Der Mensch ist Synthesis. Aber diese Zusammenspannung von Endlichkeit-Unendlichkeit, Leib-Seele, Realität-Idealität im existierenden Selbst kommt durch sich niemals aus dem Element des Widerspruchs, der Krise, Entscheidung und Wiederholung heraus. Weil das Dasein dialektisch im Zwischensein zwischen Gegensätzen lebt und ohnmächtig ist, die Gegensätze von sich her aufzuheben, kann sein offenes Dazwischenliegen nicht abschließend vermittelt werden. Das dialektische Moment der Wirklichkeit ist unabschließbare Synthesis. Und die Mediation läßt sich auch nicht durch Abstraktion erschleichen, solange der Abstrahierende existiert. „ D e r Abstrahierende ist ja ein Existierender, und als Existierender also in dem dialektischen Moment, das er, solange er existiert, nicht mediieren oder zusammenschließen kann, am allerwenigsten absolut" (UN II, 16). So kann sich das Dialektische als solches nicht bewähren. Es kommt zu keiner trilogischen Aufhebung der verstandesmäßigen Unterschiede durch die Kraft des Negativen im spekulativen Gedanken einer alles abschließenden Synthesis. Die Wahrheit solcher Dialektik bringt es in der Wirklichkeit, um die es geht, nicht zur Anschauung. Natürlich weiß Kierkegaard vom Hegeischen reinen Gedanken der Existenz und dessen Ubergang in die Existenzen. Aber mit hartnäckiger Einfalt bestreitet er die Evidenz solcher Bewegung. Wie in aller Welt kommt denn die abstrakte Bestimmung der Existenz, die unmittelbare Einheit der Reflexion-in-sich und der Reflexion-in-anderes, dazu, sich in eine unbestimmte Menge von Existierenden aufzusplittern? Die ,Logik' geht am Menschen als dem anschaulich Einzelnen vorbei. Sie überfliegt das offene Entweder/Oder, das auf jeden Einzelnen in seinem persönlichen Sein und Werden zukommt. „Das Dialektische als solches begründet keine Anschauung, die in einem wesentlichen Verhältnis zur Persönlichkeit steht" (Β. I., 47).

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Während das Dialektische als solches mit der Notwendigkeit in allem Werden spekuliert, geht die negative Dialektik des existierenden Selbst auf die Freiheit im geschichtlichen Selbstwerden der Persönlichkeit ein. Das Selbst ist kein Sein, sondern ein Werden. Das ist gemeinsame Grundanschauung. Adäquat aber ist die Struktur des Selbstwerdens nur dann zu fassen, wenn aus ihr die überlieferten Bestimmungen der Metaphysik — Zeit und Dauer, Möglichkeit und Wirklichkeit, Materie, Idee und Telos herausgehalten werden. Diese sind in der ,Physik' des Aristoteles in einer Fragestellung erworben worden, deren primär Befragtes das Naturhafte Vorhandenes und Wachsendes von nicht daseinsmäßigem Charakter — war. Das Selbstwerden des Daseins dagegen ist nicht naturhaft, sondern geschichtlich. Ist das Werden im Lichte der Natur ein solches Aufbrechen und Hervortreten der Möglichkeit in die Wirklichkeit, das von der Wirklichkeit (dem είδος als τέλος) anfänglich und stetig geleitet wird, so ist das Selbstwerden durch die augenblickliche Möglichkeit des Anderswerdens im Werden bestimmt. Das Selbstwerden ist ein Werden im Werden. „Das eigentliche geschichtliche Werden liegt doch innerhalb eines Werdens, das muß beständig festgehalten werden" (Ph. Β., 73). Für das Dasein besteht die geschichtliche Möglichkeit des Werdens innerhalb seines eigenen naturhaften Werdens in der Freiheit. Was dabei weiterhin beständig ferngehalten werden muß, ist das spekulative Zusammendenken von Freiheit und Notwendigkeit. Für Hegels Lehre von der absoluten Notwendigkeit sind wahre Wirklichkeit und Werden notwendig - im unausweichlichen Prozeß des Sich-selberFindens des Geistes. Das aber sei der Gang der Freiheit. Unentwegt hat Kierkegaard gegen den kategorialen Vorrang der Notwendigkeit, gegen ihre Aufstellung als Synthesis von Möglichkeit und Wirklichkeit, gegen ihre Einmischung ins Werden polemisiert. „Kein Werden ist notwendig — weder ehe es wurde, denn alsdann kann es nicht werden; noch nachdem es geworden ist, denn alsdann ist es geworden" (Ph. Β., 71). Solch antizenonische Dialektik argumentiert gegen das Notwendigsein und für den Primat von Existenz und Freiheit im Werden. Und ist die kategoriale Uberspannung der Notwendigkeit im Hinblick auf das Werden-überhaupt fragwürdig, so kommt sie fraglos im Hinblick auf das geschichtliche Werden des Selbst heraus 128 . 128

Die verschiedenen Hinblicke der Notwendigkeitsdiskussion sind zu beachten. H. Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik. Frankfurt a. M. 1968. S. 43—45 hat klargemacht: Im .Zwischenspiel' der .Philosophischen Brocken' geht es um den Ausschluß der ontologischen Notwendigkeit aus dem Bereich des Werdens überhaupt, in der

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Hier bedeutet Notwendigkeit schon gar nicht das Gesetz des Selbstwerdens, sondern ein Moment im Selbstwerden. Innerhalb der endlichen Synthesis des Selbst zieht die Notwendigkeit dem Einzelnen die Grenze seiner Möglichkeiten. Sie ist die Faktizität, die jeder anerkennen und einhalten muß, will er selbst nicht eine phantastische oder verirrte Existenz werden. Das Existenzial faktischer Notwendigkeit hat eben zum Gegensatz die Möglichkeit als das Grenzenlose, das dem Selbst zu werden freisteht. Es ist das dialektische Problem des geschichtlichen Selbstwerdens, beides in der Wirklichkeit und Existenz aus Freiheit angemessen zu vereinigen. „Das Selbst ist Freiheit. Freiheit aber ist das Dialektische in den Bestimmungen Möglichkeit und Notwendigkeit" ( K z T , 25). Im freien Zusammennehmen von Möglichkeiten und Notwendigkeiten gründet die Geschichtlichkeit des Werdens im Werden. Sie hält den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Menschengeschlecht offen. In seinem Selbstwerden ist der Einzelne durch die Geschichte des Geschlechts bestimmt und ineins diese selbst wieder bestimmend. Diese Dialektik ist in , D e r Begriff Angst' thematisiert. Aber auch hier ist die antiteleologische Eigentümlichkeit festzuhalten. Die geschichtliche Bewegung weist den Begriff einer kontinuierlichen, zielgerichteten, abgeschlossenen Fortschrittsgeschichte ab. In jedem Augenblick bricht das Entweder/Oder der das Werden konstituierenden Gegensätze neu auf. Sie stehen als Zukünftiges bevor und zur Entscheidung. In einem geschichtlichen Werden, dessen dialektisches Element die von der absoluten Notwendigkeit absolvierte Freiheit des Einzelnen ist, bleiben die Aufgabe konkreten Zusammenhaltens unabschließbar, die Gefahr des Zerfalls bedrohlich und die N o t der Verzweiflung unentrinnbar. Das Selbst ist nicht Sein, sondern Werden als der freie, diskontinuierliche Versuch, in ständiger Bedrohung durch die Selbstverlorenheit im Widerspruch zu sich selbst zu finden. Das sind Bestimmung und Aufgabe des Menschen 1 2 9 . Daran, Dialektik ständig in Charakter

129

am Selbstwerden des Menschen, orientiert sich die negative der Existenz. Kierkegaard personifiziert sie als Makler, der einer niederen Sphäre Umsätze macht. Ihr hervorstechender sei das Trennende. Die niedere Sphäre im Gebiete des Geistes

, Krankheit zum Tode' um den Einschluß der existenzialen Notwendigkeit als Moment in die Geschichtlichkeit des Selbst Werdens. Den Zusammenhang von Widerspruch (Gegensatz) — Aufgabe — Bewegung — Werden im Selbstsein als Selbstwerden und Geschichtlichkeit hat H . Fahrenbach innerhalb seiner beziehungsreichen Rekonstruktion einer existenz-dialektischen Ethik präzise angezeigt (Kierkegaards existenzdialektische Ethik. Frankfurt a. M. 1968. S. 38ff.).

Die negative Dialektik des existierenden Subjekts

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ist die Stufe des subjektiven Geistes. In ihr aber darf der existierende subjektive Geist nicht mehr vom Standpunkt des Absoluten, d. h. von der abstrakten Einheit des Ich-Ich gedacht werden, sonst kommt die Not des Existierenden nicht zu Gesicht. „Eben weil das abstrakte Denken vom Standpunkt der Ewigkeit her (sub specie aeterni) betrachtet, sieht es ab vom Konkreten, von der Zeitlichkeit, vom Werden der Existenz, von der Not des Existierenden" (UN II, 1). Die Not des Existierenden ist ihre unabgeschlossene Vermitteltheit. Gewiß bildet das existierende Selbstbewußtsein ein ,Medium' ( U N II, 52) und lebt als Vermittlung, aber sein auseinanderhaltendes Zusammenhalten ist vom negativ-dialektischen Grundzug des Trennens durchdrungen. So aber stellt Kierkegaard die Hegeische Logik und Spekulation nicht etwa durch einen Rückfall in den unterscheidenden Verstand von der Basis der formalen Logik aus in Frage. Er geht auf das Fundament der existierenden Subjektivität zurück und zieht von deren Endlichkeit her Trennstriche zwischen Zeit und Ewigkeit, Werden und Sein, Realität und Idealität. Er widersetzt sich dadurch von Grund auf dem spekulativen Versuch, Inkommensurables, nämlich menschliches Dasein und göttliches Sein, denkend kommensurabel zu machen, daß er die Gegensätze im Dasein selbst als unversöhnlich und inkommensurabel austrägt. Negative Dialektik vermittelt als ein Makler, der vom Umsetzen des einen Moments in das andere, von der Bewegung eines Umschlages lebt, in welcher das ineinander Umschlagende nie in Einheit und Gleichmaß zur Ruhe kommt. Auf die niedere Sphäre des existierenden subjektiven Geistes beschränkt, bedeutet, dialektisch zu sein: Werden in den Umschlägen getrennter Gegensätze. Dialektisch sehen heißt dann: jeweils das eine aus seinem Gegensatz zum anderen verstehen lernen. Dialektisch reden besagt: den Sachverhalt in indirekter Mitteilung zur Sprache bringen. Und dialektisch existieren erfordert: den Widerspruch der inneren Gegensätze und das Bewußtwerden der Verzweiflung auszutragen. Der Ubergang ins Absolute liegt außerhalb der Sphäre des Daseins qua Selbstverhältnis und Ichheit. Die negative Dialektik trägt das Epigramm eines verzweifelten, unerlösten Daseins: „Solange ich in der Zeit lebe, ist der IdentitätsGrundsatz nur eine Abstraktion . . ., denn in der Identität bin ich außer der Zeit. . . . Solange ich lebe, lebe ich im Widerspruch, denn das Leben selbst ist Widerspruch" (Tg. 1 , 3 3 6 - 3 7 ) .

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Existenziale Dialektik

9. Kapitel: Quantitative und qualitative

Dialektik

„Alles dreht sich darum, den Unterschied absolut zu machen zwischen der quantitativen und der qualitativen Dialektik. Die ganze Logik ist quantitative Dialektik oder modale Dialektik, denn alles ist, und das Ganze ist beständig eines und das gleiche. Im Dasein ist die qualitative Dialektik zu Hause" (Tg. II, 42). Die terminologische Trennung von quantitativer und qualitativer Dialektik scheidet spekulativen Logos und dialektische Existenz. Sie bezeichnet den Dreh- und Angelpunkt, an welchem die Dialektik aus der Dimension des Logos und Selbstbewußtseins heraustritt und vergeht. U m die spekulative als eine quantitative Dialektik zu verstehen, ist an den Anfang der Hegeischen Logik zu erinnern. Viel mehr als solche Namenserläuterung soll diese Erinnerung hier nicht leisten. Der Anfang der Großen Logik ist das reine, bestimmungslose Sein. Weil in der Unmittelbarkeit des Anfangs nichts als das von allen Bezügen des Einen zum Anderen absolvierte Sein zu denken ist, herrscht anfänglich die Bestimmungslosigkeit vor aller Bestimmtheit. Der reine Gedanke des absoluten Seins steht in keinerlei Beziehung zu anderen und hat keinen Inhalt. So aber gerät das ,reine Wissen' ins Odium der Leere, des Undenkbaren und Unsäglichen. In ihm ist nichts anzuschauen und ebensowenig etwas zu denken. Sofern Wissen eine Relation (Wissen von etwas) ist, hört das reine Wissen mit seinem ersten Gedanken auf, Wissen zu sein. Und insofern Sagen ein Prädizieren im Satz (das Bestimmen eines vorbestimmten Subjekts) ist, ist das Sein unsäglich. Nun meldet sich aber doch gerade auf der H ö h e des absoluten Logos unmißverständlich die Endlichkeit unseres Denkens und Sagens. Die Ontotheologik Hegels ist von Anfang an nicht mehr als Darstellung Gottes. Sie expliziert Gott, wie er in seinem ewigen Wesen ist, in den endlichen Formen des Satzes, der Sprache, des Denkens. So aber gibt die Logik das zu denken, von dem offenbar ist, daß in ihm nichts zu denken ist. Sie sieht sich gedrungen, das in Sätzen auszusprechen, was ausdrücklich nur ein leeres Wort (,Sein') ist. Das Sein gibt sich nicht als Aussagesubjekt her und weist alle Prädikatsnomina ab. Wie wäre es aussagbar, da es doch in keine Form des Satzes - und auch der spekulative Satz ist ein Satz - eingeht? Die Logik muß gestehen, daß sie ein Subjekt unterstellt, das kein rechtes Zugrundeliegendes (ύποκείμενον) ist. Für das transzendental-kritische Denken gibt es nur eine Konsequenz. Das absolute, gegensatzlose Wissen, das der Gegenstand des Wissens selbst ist, ist nicht der Anfang, sondern die Grenze unseres Wissens vom

Quantitative und qualitative Dialektik

439

Wissen. Es ist eben nur als Unbegreifliches zu begreifen und als Unsägliches auszusagen. Was im Hinblick auf Sein zu erklären ist, ist seine Unerklärlichkeit. Für Hegel dagegen bildet das reine, bestimmungslose Sein den adäquaten Anfang, der sich unausweichlich in seine Bestimmungen entwickelt. Das Sein bewegt sich fort, indem es ins Nichts umschlägt. Von allen möglichen Inhalten und Relationen her gedacht, ist der .Gedanke' des Seins in der Tat Nichts. Diese zweite .Kategorie' stellt nichts anderes heraus als die Abwesenheit aller Bestimmung. Sie stärkt das Sein in seiner Qualitätslosigkeit, in der Unbestimmbarkeit und Unsäglichkeit für ein endliches Subjekt. Energisch weist der spekulative Anfang die Einmischung von Dasein und Qualität, also von bestimmtem, endlichem Sein ab. Diese Zurückweisung formuliert die erste theoretische und praktische Forderung einer quantitativen Dialektik. Sie kommt in Hegels Metakritik des ontologischen Gottesbeweises und in der Absage an das existenziale Interesse zur Sprache. Kierkegaards Unterscheidung von quantitativer und qualitativer Dialektik erinnert an beides 130 . Bekanntlich versteift sich Kants Kritik der Ontotheologie darauf, daß Inhaltsbestimmung und Sein (Existenz, Dasein) voneinander verschieden sind. Sein ist kein reales Prädikat. Konsequenterweise sei auch der Begriff Gottes von seinem Sein verschieden, und folglich könne aus dem Begriff Gottes seine Existenz ebensowenig herausgeklaubt werden wie aus der Möglichkeit und inhaltlichen Bestimmtheit von hundert Talern ihre Wirklichkeit. Für eine spekulative Logik wird die Vorstellung vom Herausklauben der Existenz Gottes aus einem Begriff ebenso schwer erträglich wie die Gleichsetzung von Sein und Dasein (Existenz). Den eigentlichen Mangel der Kantischen Kritik aber sieht sie in der Unterscheidung von Begriff und Sein. Beides trennt sich erst in den endlichen Dingen, denn erst in ihnen gibt es Bestimmtheit, Realität, Prädikation. Im Hinblick auf Gott als dem reinen Sein aber sind derartige Bestimmtheiten fernzuhalten und die Untrennbarkeit von Begriff und Sein zu bewahren. Dem Erkennen zu verwehren, die Verhältnisse des Endlichen auf Gott anzuwenden, darin vollendet sich das Geschäft einer Kritik der reinen theoretischen Vernunft.

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Eine ausgezeichnete Studie über die Probleme der Unterscheidung von quantitativer und qualitativer Dialektik im Zusammenhange mit dem Anfange der Logik und dem ontologischen Gottesbeweis gibt V. Guarda, Kierkegaardstudien. In: Beihefte zur Zeitschrift für Philosophische Forschung. Heft 34 (1975), insbesondere S. 5ff., 27 — 35.

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Existenziale Dialektik

Die entsprechende Kritik der praktischen Vernunft weist auf ihre Weise eine unangemessene Einmischung des bestimmten Seins und Daseins ab. Quantitative Dialektik fordert von Anfang an, sich gleichgültig gegen das besondere Daßsein endlichen Lebens zu verhalten. „Die Zurückweisung vom besonderen endlichen Sein zum Sein als solchem in seiner ganz abstrakten Allgemeinheit ist wie als die allererste theoretische so auch sogar praktische Forderung anzusehen" (Logik I, 1; 74). Der kategorische Imperativ für das menschliche Verhalten zum Walten Gottes lautet: Sei gleichgültig gegen deine Existenz! Das Gebot spricht der interesselosen Metaphysik aus der Seele. Es formuliert das stoisch-christliche Ethos im Denkkreis einer quantitativen Logik; denn diese erklärt alles für gleichgültig, was sich nicht quantitativ dialektisch entwickeln läßt. Und das ist eben der Einzelne unmittelbar vor Gott. Die dringliche und von früh an kritisch gestellte Frage ist, ob und wie das unbestimmte reine Sein zur Qualität des Daseins kommt. Die Ansicht Kierkegaards antwortet: auf dem problematischen Wege einer quanti tierenden Fortbewegung. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, ob die Übergänge in sich zwingend sind. Es kann offen bleiben, ob das Ubergegangensein des Seins ins Nichts und des Nichts ins Sein — denn das einzige, das dem Nichts zukommt, ist das Sein — in der ersten Wahrheit des Absoluten, dem Werden, aufbewahrt ist und ob daraus eine zugrunde liegende dialektische Einheit von Sein und Nichts resultiert. Es bleibt auch ungeprüft, ob die Explikate des Werdens (Entstehen — Vergehen) einander so vollständig durchdringen, daß ihr Unterschied und damit auch das Werden verschwinden. Aufmerksamkeit aber verdient die Frage: Wohin verschwindet das Werden? Für die Kierkegaardsche Kritik ist das eine rhetorische Frage. Eine quantitative Dialektik hat über den Bescheid im vorhinein schon entschieden. Ein Verschwinden ins Nichts ist ebenso unmöglich wie ein Zurückgehen in die unbestimmte Einheit von Sein und Nichts. Das wäre ein Rückfall in schon aufgehobene Teilgedanken des Ganzen. Das Verschwinden des Werdens muß im Sog eines reicher werdenden Fortschreitens geschehen, sofern der ganze Prozeß nichts anderes als die schrittweise Entfaltung der vorausgesetzten Einheit des (göttlichen) Begriffs darstellt. Daher kann das untergehende Werden nurmehr in eine Einheit übergehen, die nicht mehr Einheit des Werdens ist und doch Sein und Nichtsein in sich aufbewahrt. Das ist die ruhende Einheit des Vorliegens von Realität und Negation. (Es kommt nicht von ungefähr, daß Hegel just an dieser Stelle seiner quantitativen Dialektik den Sinn des dialektischen Grundwortes, die Bedeutung von „Aufhebung", zur

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Sprache bringt.) Die einfache, ruhende Einheit heißt Dasein. Dessen Gepräge ist seiende Bestimmtheit, So-und-nicht-anders-Sein, Qualität. Aus der Wahrheit des Ganzen gedacht, geht das unbestimmbare Sein in bestimmtes Dasein und Qualität über. Aber die Fortbewegung durchbricht niemals den Bannkreis einer quantitativen Dialektik. Die ganze Logik stellt nichts anderes dar als das reine Wissen im vollen Umfange seiner immanenten Entwicklung. Nun resultiert das reine Wissen aber doch aus der phänomenologischen Uberwindung des Gegensatzes von Denken und Sein und bildet daher von Anfang an den Gedanken, der immer zugleich die Sache selber ist. Insofern ist der Gedanke des Seins stets bei sich und nie unendlich qualitativ von sich unterschieden. Natürlich treten Unterschiede hervor. Aber zwischen ihnen als quantitative Entfaltungen des Einen und Selben klafft nirgends eine Kluft auf. Ein wahrhaft qualitativer Unterschied zwischen Dasein und Sein existiert nicht. Die Dialektik der Existenz zieht gegen solche Identitätsthese eine scharfe Trennlinie. Sie trennt die Logik des Seins von der Dialektik des Daseins und der Qualität. In einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1843/1844 heißt es: „Ist nun ,Sein' eine Kategorie? Keineswegs ist es das, was Qualität ist, nämlich bestimmtes Sein, bestimmt durch sich selbst; der Ton liegt auf .bestimmt', nicht auf ,Sein'. ,Sein' ist weder vorausgesetzt noch ausgesagt. In diesem Sinne hat Hegel recht damit, daß ,Sein' Nichts ist. Wofern es hingegen eine Qualität wäre, so wäre wohl zu wünschen, daß man erklärte, wie es mit dem ,Nichts' identisch werde. Die ganze Lehre vom ,Sein' ist ein nichtssagendes Vorspiel der Lehre von der Qualität" (Tg. 1,351). Und Hegels Lehre von der Qualität ist ein logisches Präludium zur Dialektik des durch sich selbst bestimmten Seins, des Daseins qua menschlicher Existenz. Das Dasein unmittelbar vor Gott — das ist der Anfang und die Unruhe einer qualitativen Dialektik. Diese konzentriert sich auf den absoluten Gegensatz, auf die unendlich qualitative Differenz zwischen dem Dasein, das der bestimmte, endliche Mensch ist, und Gott. In ihr spaltet sich der verzweifelt-sündige und der götdiche Geist, und diese Kluft läßt sich durch keine vermittelnden Ubergänge und quantitierenden Approximationen schließen. Nur in einer quantitativen Dialektik, wo die Gegensätze nicht für absolut und unendlich, sondern für Gradunterschiede des einen und selben Geistes gehalten werden, erlauben sie ihre Mediation oder, geistreicher gesprochen, die Versöhnung. Wo dagegen die unendliche qualitative Differenz feststeht, da zerschellt die Bewegung quantitierenden Zusammenschließens. Da wird die prunkende Vermittlung lächerlich.

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Existenziale Dialektik

Die Welt der unendlich qualitativen Differenz ist die Wirklichkeit. Sie erfordert von sich her eine Revision der dialektischen Logik. „Es wäre im übrigen sicherlich erwünscht, daß einmal ein nüchterner Denker Aufklärung gäbe, inwieweit das rein Logische . . . in der Welt der Wirklichkeit Giltigkeit hat, in der Welt der Qualitäten ; ob nicht überhaupt die Dialektik der Qualitäten eine andre ist; ob nicht ,der Ubergang' hier eine andre Rolle spielt" (KzT, 97). Der Ubergang zwischen den unendlich getrennten, untrennlichen Qualitäten ist der unendliche qualitative Sprung. „ N u r der Sprung setzt die qualitative Dialektik" (Pap. VII, 2Β 235). Ein Sprung ist auch der Ubergang aus der sinnlichen Unmittelbarkeit und Unschuld in die Sünde. Das hat ,Der Begriff Angst' dargelegt. Die Qualität des existierenden Selbst läßt sich nicht quantitativ entwickeln; daß die Sinnlichkeit Sünde wird, das ist „des Individuums qualitativer Sprung" (BA, 63). Im Sprung aus der Sünde und verzweifelten Selbstgewißheit in die Durchsichtigkeit des Glaubens aber liegt das ganze Leben. Dieser Sprung gibt Hoffnung, die Widersprüche des in sich verschlossenen Selbst aufzulösen. „Kann der Ubergang von einer quantitativen Bestimmung zu einer qualitativen außer durch einen Sprung geschehen ? Und liegt nicht das ganze Leben darin?" (Tg. 1,353). Der existenziale qualitative Sprung gehört einer anderen Welt zu als das aus der Hegeischen Seinslogik herausgebrochene .dialektische Naturgesetz' des Umschlagens von Quantität in Qualität. Der seinslogische Sprung ist durch sich steigernde quantitative Veränderungen stetig zum kritischen Punkt getrieben und unausweichlich in die neue Qualität gebracht. Auf solchem Wege der Approximation sich in die Qualität des Glaubens hineinquantitieren wollen, ist ein Mißverständnis. Der existenziale Sprung ist ein Bruch in der Kontinuität des Geistes und ein Durchbruch aus der Immanenz des in sich verschlossenen Selbst. Freilich hindert seine verschlossene Endlichkeit das Selbstbewußtsein daran, von sich aus dialektisch über sich hinaus zu gehen. Die reine Transzendenz muß sich von sich her für den Sprung des Selbst geöffnet und dem existierenden Selbst kommensurabel gemacht haben. Also erschien Gott in Endlichkeit und Zeit, ohne sich seiner Absolutheit zu begeben. Und dieses Geschehnis kommt als Zeichen des Widerspruchs so auf den Einzelnen zu, daß es ihn zur Entscheidung herausfordert. Der Sprung ist der angemessene Ausdruck für die Transzendenz als „ die Kategorie der Entscheidung" ( U N 1,91). Die Entscheidung des Glaubens fällt für das Unwahrscheinliche, das absolute Paradox. Darum erklärt Kierkegaard im ,Buch über Adler' jeden Versuch, das Christentum wahrscheinlich zu machen, als einen Mangel

Quantitative und qualitative Dialektik

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an qualitativer Dialektik. „Jede Verteidigung des Christentums, welche versteht, was sie will, muß gerade umgekehrt aus äußersten Kräften mit qualitativer Dialektik die Unwahrscheinlichkeit des Christentums geltend machen" (B üb. A, 52). Das ,Verjüngungsfest' einer Dialektik des Unwahrscheinlichen braucht die Ubergangskategorie des Sprunges. Sie macht den Unterschied zur quantitativen Dialektik absolut. Nun sind schon immer, vor allem in Untersuchungen zur DreiStadien-Lehre, zwei Arten von Dialektik unterschieden worden, eine sphärenimmanente und eine Dialektik zwischen den Sphären. Mit Hilfe dieser Unterscheidung hat man die Existenzdialektik von Hegel abgerückt. Demnach entspricht das spekulative Schema der sphärenimmanenten Dialektik. Die Vermittlung zwischen den Sphären dagegen ist Dialektik des Sprunges. Sie beseitigt die Hegeische Mediation. Indessen lehren die Phänomenologie des verzweifelten Geistes und die qualitative Dialektik des Glaubens etwas anderes. Durchgängig ist die Dialektik der Existenz Dialektik der Krise, des Sprunges, der Entscheidung. Freilich zeichnen sich in ihr zwei dialektische Figuren ab. Innerhalb des Selbstverhältnisses herrscht die negative Dialektik des Trennens. Diese bricht zwar die Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins, aber in ihr bricht die existierende Subjektivität nicht durch ihre Verschlossenheit und Immanenz durch. Sie bleibt im ungehobenen Widerspruch des interesse befangen. Im Verhältnis zur Transzendenz dagegen herrscht das paradox Dialektische. Es vertilgt den Schein der Identität in der Wirklichkeit unendlich qualitativer Differenzen und ermöglicht den Durchbruch des Sprunges. Der aber ist in keinem Bewußtseinsakt, sondern allein im Vollzug des Existierens nachweisbar. So leistet die Dialektik des Sprunges beides, einen Existenzbeweis für das Transzendieren und gegen das spekulative tollere des .daseienden' Widerspruchs. Beide Grundfiguren der Kierkegaardschen Existenzanalyse sind antidialektisch. Sie suspendieren jede Art einer Versöhnungssystematik und stellen das Zeitalter vor die Entscheidung, entweder den Sprung des Glaubens zu wagen oder in der negativen Dialektik der Verzweiflung auszuharren. Das Zeitalter des Nihilismus glaubt, sich endgültig entschieden zu haben.

3. Abschnitt: Dialektik der Entfremdung Entfremdung und Reintegrierung von Arbeit und Mensch im vollendeten Humanismus 1. Kapitel: Religiöse Entfremdung „Euch, ihr spekulativen Theologen und Philosophen rate ich: Macht Euch frei von den Begriffen und Vorurteilen der bisherigen spekulativen Philosophie, wenn ihr anders zu den Dingen, wie sie sind, d. h. zur Wahrheit kommen wollt. Und es gibt keinen anderen Weg für Euch zur Wahrheit und Freiheit als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatonum der Gegenwart" (Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach; Feuerbach Werke III, 246/MEW I, 27). Es ist mehr als Zufall oder Schicksal eines Libellum, daß dieser Aufruf sowohl Marx wie auch Feuerbach selbst zugeschrieben wurde 131 . Deren programmatische Thesen über den Zusammenhang von Religion, Theologie und spekulativer Philosophie decken sich. Ihre Kritik entsetzt die alte Philosophie und Dialektik und verkündet das neue Testament einer , neuen Philosophie'. Sie will den Wendepunkt der Weltgeschichte markieren: die Umkehrung des Deus homini homo in das homo homini Deus. Das Uberschreiten des Feuer-bachs ist von der Marxschen Übernahme der Religions- und Dialektikkritik her zu verfolgen. Durch sie gewinnt vor allem die Entfremdungsdiskussion eine neue Dimension. Hier sind das Proömium der .Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie' und das 3. Pariser Manuskript von besonderem Gewicht. Ihre Hegelkritischen Grundzüge schulden sie dabei weniger, wie zumeist behauptet, Feuerbachs ,Wesen des Christentums' von 1841 als vielmehr den ,Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie'. Auf diesen Entwurf, der von Arnold Ruge 1843 im Sammelband ,Anekdota' in der Schweiz heraus131

Die Untersuchung von H . - M . Saß, Feuerbach statt Marx. In: International Review of Social History, Vol. 13 (1967) P a n i , 108ff. macht die Verfasserschaft Feuerbachs wahrscheinlich.

Religiöse Entfremdung

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gegeben worden ist, berufen sich die .Pariser Manuskripte' ausdrücklich (PM, 507). Er zeichnet der Marxschen Auseinandersetzung mit Religion, Entfremdung und Spekulation die Leitlinien vor. Das gilt schon für das Begründungsverhältnis von Religion, Theologie und Dialektik. Die ,Vorläufigen Thesen' konstatieren: „Die Hegeische Philosophie ist der letzte Zufluchtsort, die letzte rationelle Stütze der Theologie" (111,238). Das nimmt Marx unbefragt auf. Feuerbach habe gezeigt, daß die ,alte Philosophie' nichts anderes sei als die in Gedanken gebrachte Religion, der faule Fleck der Philosophie aber sei jederzeit die Theologie und die letzte Stütze der Theologie die spekulative Dialektik gewesen. Angesichts dieser Fundierung leuchtet die durchschlagende Bedeutung der Religionskritik ein. Fällt die Religion dahin, dann verlieren mit demselben Schlag Theologie und Dialektik ihren Sinn. Sie wären Stützen, die nichts mehr tragen. Daher kann Marx festlegen: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik" (Einl. z. H. R.; MEW I, 378). Und von da attestiert er Feuerbach, er habe die Kritik der Religion vollendet, „indem er zugleich zur Kritik der Hegeischen Spekulation und daher aller Metaphysik die großen und meisterhaften Grundzüge entwarf" (Hl. F . ; M E W I I , 147). Feuerbachs Religionskritik bahnt den Weg der Marxschen Dialektikkritik. Das erklären jedenfalls die Pariser Manuskripte. Mit seiner Kritik der Religion habe Feuerbach zugleich „die alte Dialektik und Philosophie dem Keime nach umgeworfen" (PM, 638). Die Kritik der Religion als solche, d. h. die Aufklärung der Gottesvorstellung in ihrer Genesis, ist für Marx kein Thema mehr. Für Deutschland sei das Geschäft einer Kritik der reinen religiösen Vernunft (durch Feuerbach, aber auch durch Bruno Bauer, David Friedrich Strauß oder Friedrich Koeppen) im wesentlichen beendet. Daß diese Erörterung die Gottesfrage lediglich als theoretisches Problem der Entstehung unsinnlicher Vorstellungen unter dem Kriterium der Handgreiflichkeit diskutiert und für die existenziale Dimension von verzweifeltem Leben und Glauben im Sinne Kierkegaards kein Organ besitzt, bleibt auch Marx verborgen. Für ihn stellt sich von Anfang an die Aufgabe, die vorausgesetzte Religionskritik auf ihre wirklichen Voraussetzungen zurückzuführen und die Grundzüge der religiösen Antidialektik ontologisch zu konkretisieren. Hat Feuerbach die religiöse Welt in ihre weltlichen Grundlagen aufgelöst, so ist nun der verborgen gebliebene Widerspruch der zugrunde liegenden Welt aufzudecken. Hat Feuerbach die Grundzüge der religiösen Entfremdung herausgehoben, so ist jetzt die Entfremdung im Subjekt der verkehrten Welt zu thematisieren. Die religiöse Entfremdung ist nicht mehr

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Dialektik der Entfremdung

Sache der Marxschen Kritik. Wohl aber bietet sie ihr einen Leitfaden in der Form aufschließender Analogie. Daher arbeitet die Emanzipationsdebatte aus Anlaß der Judenfrage ebenso mit der Analogie der religiösen Entfremdung (vgl. M E W 1,376) wie die Analyse der entfremdeten Arbeit in den Pariser Manuskripten und das Fetischismuskapitel des ,Kapitals'. „ U m daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten" (Kap. I ; MEW X X I I I , 8 6 ) . Feuerbach liefert das auslösende Stichwort: Entfremdung 132 . Mit diesem Leitbegriff operiert die Marxsche Dialektikkritik von Anfang an. Religion sei „eine Form und Daseinsweise der Entfremdung des menschlichen Wesens" (PM,639). Für Marx erscheint die Bewegung, welche die Religion als Entfremdung des Menschen desillusioniert, irreversibel. Sie löst unwiederbringlich das religiöse Wesen in das menschliche auf, indem sie nachweist: Die Religion ist Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Mittels des genuinen religiösen Organs, der Phantasie, vergegenständlicht der Mensch in der Vorstellung Gottes sein geheimes Wesen. Undurchschaut ist er selbst Subjekt und Objekt der Religion in der Weise eines seine eigene Entäußerung als fremde Macht und übernatürliches Objekt anbetenden Subjekts. Daher findet der Mensch in Gott nur den Widerschein seiner selbst und statt der wahren Wirklichkeit nur Schein und Selbsttäuschung. In grotesker Weise vertauschen sich Schöpfer und Geschöpf, Subjekt und Prädikat. Ernüchtert gesehen, schafft der Mensch die Religion und nicht die Religion den Menschen. Solange aber der Mensch sein eigenes Setzen Gottes in den Schöpfer-Gott setzt, bleibt er in sich als Geschöpf seines Geschöpfes gefangen. Theo-logisch gesprochen: Der Mensch macht sich im Stande religiöser Entfremdung zu einem Prädikat seines Prädikats. Nach theologischer Logik gilt das daseiende und bestimmte Seiende ,Mensch' als Prädikat Gottes, des zugrunde liegenden unendlichen Seins. In Wirklichkeit und dem Dasein nach aber ist der Mensch der Grund und Boden des Absoluten. Er ist das Subjekt, das alle Prädikate setzt, die Gott zu einem wirklichen Wesen machen, etwa Macht, Weisheit, Güte, Liebe. Die Theologie aber hängt am Subjektcharakter der Idee. Sie degradiert das wirkliche Subjekt zum Prädikat. Das Argument dieser Vertauschung hat Marx den .Vorläufigen Thesen' entnommen. Er hat es polemisch gegen die Hegeische Theologie variiert. 132 Welch bedeutende Rolle Moses Heß als Vermittler der Entfremdungsproblematik gespielt habe, dazu vgl. das thesenhafte Schema von Auguste Cornu, L'Idée d'Aliénation chez Hegel, Feuerbach et Karl Marx. In: Pensée 16 (1948) 6 5 - 7 5 .

Religiöse Entfremdung

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Und auch die Analogie der religiösen Pauperisierung konnte Marx aus der ,neuen Philosophie' gewinnen. Religiöse Entfremdung zieht eine eigenartige Verarmung nach sich. Schon Feuerbachs .Wesen des Christentums' erklärt die Entleerung der wirklichen Welt und die Erfüllung der Gottheit für einen und denselben Akt. Nur der arme Mann habe einen reichen Gott. Er verarme in dem Maße, in welchem er seine besten Prädikate Gott zukommen läßt. Dieses Gesetz kehrt als Analogat der entfremdeten Arbeit in den Pariser Manuskripten wieder. „Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst" (PM, 562). So schließt die Kritik der Religion mit der apodiktischen Verkündigung, „daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei" (Einl. z. H. R.; MEW 1,385). Für Marx hat erst Feuerbachs Entfremdungslehre die Galileische Wende der Neuzeit wirklich vollzogen. „Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt" (ibid.; MEW 1,379). Die Freilegung des religiösen Entfremdungsschematismus eröffnet die Möglichkeit, die philosophische Theologie und ihre Dialektik umzustürzen. Die Pariser Manuskripte haben die Konsequenzen dieser Entdeckung gesehen. „Feuerbach ist der einzige, der ein emsthaftes, ein kñtisches Verhältnis zur Hegeischen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat, überhaupt der wahre Uberwinder der alten Philosophie ist" (PM,639). Das 3. Manuskript stellt Feuerbachs Auflösung der spekulativen Dialektik schematisch dar (PM, 639 — 640) und schließt mit dem Resultat: „Feuerbach faßt also die Negation der Negation nur als Widerspruch der Philosophie mit sich selbst auf, als die Philosophie, welche die Theologie (Transzendenz etc.) bejaht, nachdem sie dieselbe verneint hat, also im Gegensatz zu sich selbst bejaht" (PM, 640). So widerlegt sich die Theodialektik selbst. Da die konzentrierte Marxsche Wiederholung die Vorläufigen Thesen' exzerpiert, kann sie legitimerweise mit Rücksicht auf den Feuerbach-Text erläutert werden. Der Angriff zielt auf den Lebensnerv der Dialektik, die Negation der Negation. Die Spekulation versteht die absolute Negation als Selbstbejahung, die Kritik enthüllt sie als Selbstwiderspruch der theologischen Philosophie. Alles hängt am Anfang und Ausgang. Hegels ,Große Logik' geht vom Unendlichen aus. In einer ersten Negation hebt sie das Unendliche auf, indem sie das Wirkliche, Sinnliche, Reale, kurz: das Endliche setzt. Die absolute Negation aber negiert diese Negation. Sie stellt das Unendliche, das Sein des ,reinen Wissens', wieder her. Warum aber bejaht

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sich auf diesem Wege das Prinzip der Ontotheologik nicht, inwiefern widerspricht es sich? „Hegel geht aus von der Entfremdung" (PM, 639). Das Kriterium der Entfremdung bringt das Verkehrte im ersten Gedanken der spekulativen Logik zum Vorschein. Das unendliche, unbestimmte, unmittelbare Sein ist Resultat einer Entfremdung, Entäußerung der endlichen Bestimmtheit, Mystifizierung des Daseins. Das haben die ,Vorläufigen Thesen' herausgehoben: „Das Unendliche der Religion und Philosophie ist und war nie etwas anderes als irgendein Endliches, irgendein Bestimmtes, aber mystifiziert" (Th. z. R.; III, 230). Das unbestimmte Sein der Großen Logik ist in seiner Wahrheit das Endliche und Bestimmte unter der Maßgabe, nichts Endliches, nichts Bestimmtes zu sein. Die Mystifizierung des göttlichen Seins liegt im kategorialen Gedanken, Nichts (an Bestimmtheit) und dennoch lebendiges Subjekt aller Bestimmungen und Prädikate zu sein — „das vorweltliche Nichts, gesetzt als Akt" (Th. z. R.; 111,225). Und von hier läßt sich der Selbstwiderspruch des theologischen Prinzips fassen. Das eine und selbe Sein soll zugleich als ein von allem Bestimmten unterschiedenes und mit ihm identisches Wesen gedacht werden. „Das Absolute oder Unendliche der spekulativen Philosophie ist, psychologisch betrachtet, nichts anderes als das nicht Determinierte, Unbestimmte — die Abstraktion von allem Bestimmten, gesetzt als ein von dieser Abstraktion unterschiedenes, zugleich aber wieder mit derselben identifiziertes Wesen" (Th. z. R.; III, 225). Aus dieser entfremdeten und darum sich selbst widersprechenden Position fließt der verirrte Fluß der Dialektik. Der Prozeß einer Negation der Negation widerspricht sich, sofern zuerst das Endliche das Unendliche, sodann aber das negierte Unendliche das es negierende Endliche negiert. Im ersten Schritt verliert das Unendliche seine Unbestimmtheit an das Endliche. Weil das Endliche die Realität des Unendlichen ausmacht, agiert es als dessen Negation. Im Grunde kommt hier Feuerbachs ontologisches Axiom zum Zuge: Nur bestimmtes Sein ist Sein. Im zweiten Schritt aber spielt sich das Unendliche doch wieder ungerührt als Negation des Endlichen auf. Spekulativer Logik zuliebe bleibt das Unwesen des Absoluten Subjekt der dialektischen Umschläge. Es hebt daher das Endliche wieder auf. Deshalb kann Feuerbach kritisch resümieren: „Das Endliche ist die Negation des Unendlichen und wieder das Unendliche die Negation des Endlichen. Die.Philosophie des Absoluten ist ein Widerspruch" (Th. z. R. ; III, 229). Dieses Resultat nimmt Marx auf. Die Entfremdungskritik zeige, was die Negation der Negation in Wahrheit ist, nämlich der Widerspruch der alten Philosophie und spekulativen Dialektik mit sich selber.

Religiöse Entfremdung

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Die Dialektik bleibt in den Selbstwiderspruch gebannt, solange nicht die Verhältnisse von Subjekt und Prädikat ins Lot gebracht sind. Das hat die Reduktion der Theologie auf Anthropologie zum Ziel. Die auferstandene Philosophie und Dialektik im Stile Feuerbachs verlegt ihre Grundlagen in die Verhältnisse des Menschen zum Menschen, des Individuums zur Gattung, des Ich zum Du. Im praktischen Bemühen um Aufhebungen ins reine menschliche Gemeinwesen sollen aus Candidaten des Jenseits Studenten des Diesseits werden. Daher gilt es, die Gattung an die Stelle der Gottheit zu setzen und den Primat des Du zu pflegen. Nur der Gedanke der unbeschränkten Gattung erlöst das Individuum vom Gefühl der Beschränktheit, und erst dessen Verwirklichung ersetzt die Religion. Verwirklicht findet sich das Gattungswesen im Verhältnis zum Du. In der ursprünglichen, unableitbaren Relation von Ich und Du glaubt die neue Philosophie endlich den realen Grund und Boden für eine in sich stimmige Dialektik entdeckt zu haben. Sie will den großen, monotonen Monolog des einsamen Ich, das unwirkliche Selbstgespräch des absoluten Geistes, durch den lebendigen, zwischenmenschlichen Dialog ersetzen. „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du" (PhdZ; III, 321). Angesichts der differenziert ausgebreiteten Soziodialektik des Deutschen Idealismus wirkt Feuerbachs Anspruch einer neuen, bahnbrechenden Dialogisierung naiv (und Bubers Rühmung, nach der Ich-Entdeckung des Idealismus sei die Du-Entdeckung Feuerbachs die zweite Kopernikanische Tat des modernen Denkens, überschwenglich). Immerhin gewinnt das Mitsein andere Prioritäten. Das Du als der sinnlich gegebene Andere wird zum Ausgang und die Sinnlichkeit des Gefühls zum Inhalt des Wechselbezuges zwischen Menschen. In einer Praxis des Herzens bilden die dialektischen Urphänomene von Liebe und Freundschaft die Basis der Mitwelt. Aus ihnen erwächst die Einheit eines reinen, auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du gestützten Gemeinwesens. Solch dialogische Gemeinschaftlichkeit ist das neue Absolute. „Der Mensch mit Mensch — die Einheit von Ich und Du - ist Gott" (PhdZ § 62; 111,321). Für Marx und Hegel aber ist solcher Tuismus ein doch wieder religiös verklärtes Herzensverhältnis und solches Gattungswesen ein gleichsam außer der Welt hockendes Wesen. In den Konsequenzen, nicht in den Grundsätzen der Religions- und Dialektikkritik kollidieren die neuen Philosophien der Entfremdung. Der Grundsatz von der Negativität der Religion als religiöse Selbstentfremdung und als Selbstverlust des Menschen ist gemeinsamer Boden.

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Dialektik der Entfremdung

Das berühmt-berüchtigte Diktum, die Religion „ist das Opium des Volks" (Einl. z. H . R. ; MEW 1,378), zeugt von der Einheit des antitheologischen Geistes. Seit Heinrich Heines Bemerkung, es sei mehr Verwandtschaft zwischen Opium und Religion, als sich die meisten Menschen träumen lassen, ist dieser Vergleich unisono zur Kritik einer Welt herangezogen worden, deren geistiges Aroma die Religion ist 133 . So formuliert Bruno Bauer in den Halleschen Jahrbüchern (1841), das Opium der Theologie lasse alle Triebe der freien Menschheit einschlafen. Moses Heß verwendet in den von Marx gerühmten Einundzwanzig Bogen* (1843) das Betäuben von Schmerz als tertium comparationis : Wie das Opium den Schmerz, so mache die Religion das unglückliche Bewußtsein der Knechtschaft erträglich. Für Marx spielt der Opiumvergleich weniger auf das Lähmende oder Betäubende als vielmehr auf das illusorisch Beglückende dieser Heilmittel an. Die Religion verhilft wie das Opium zur Flucht in das Glück einer eingebildeten Welt und täuscht dadurch über das Elend der wirklichen hinweg. So attackiert Marx in den Debatten über die Preßfreiheit im Mai 1842 die ,Herren aus dem christlichen Ritterstande' mit Feuerbachschen Begriffen: „Weil sie in einer Welt leben, die jenseits der wirklichen liegt, weil also die Einbildungskraft ihr Kopf und ihr Herz ist, so greifen sie, in der Praxis unbefriedigt, notwendig zur Theorie, aber zur Theorie des Jenseits, zur Religion" (D. üb. P.; MEW I, 47). Gott dient im Feuerbachschen und Marxschen Verstände dem Volk als Ersatz der verlorenen Welt. Die Tendenzen der Religionskritik aber kollidieren, und zwar schon früh 134 . Freilich betrifft die Kollision, wie Marx am 20. März 1842 an Arnold Ruge schreibt, nur die Fassung, nicht das Prinzip (MEW XXVII, 401). Marx will den Ursprung der religiösen Entfremdung und ihre Aufhebung gründlicher fassen. Religion ist Flucht aus der Misere der irdischen Welt. Das sagt Feuerbach auch. Aber für ihn nährt sich die Religion substanziell aus der Erfahrung von Tod und Sterblichkeit und aus dem Verlangen nach Liebe, sie resultiert nur akzidentell aus dem Druck bürgerlichen und politischen Lebens. Marx dagegen führt die Kritik der Religion wesenhaft und ursprünglich auf eine Kritik der politischen Zustände zurück, „da die Religion, an sich inhaltslos, nicht vom Himmel, sondern von der Erde lebt, und mit der Auflösung der verkehrten Realität, 133 Vgl. den Exkurs zu dem Ausdruck ,Opium des Volks' in der Auseinandersetzung von H . Gollwitzer, Die Marxistische Religionskritik und der christliche Glaube. In: Marxismusstudien 4 (1962) 1 4 - 1 9 . 134 Vgl. die sorgfältige Dokumentation von J. Kadenbach, Das Religionsverständnis von Karl Marx. München 1970. S. 64ff.

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deren Theorie sie ist, von selbst stürzt" (an Arnold Ruge, 30. Noy. 1842; MEW XXVII, 412). Solange das menschliche Gattungswesen in Staat und Sozietät keine wahre Wirklichkeit findet, sucht es in der Religion eine phantastische Verwirklichung. Und das ist in der verkehrten Waren weit und in den Widersprüchen des pervertierten Geldsystems der Fall. Die 4. Feuerbach-These formuliert diesen Sachverhalt grundsätzlich: „Daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären" (Th. üb. F.; MEW 111,6). Soll die religiöse Selbstentfremdung beseitigt, nicht bloß begriffen werden, dann sind alle Verhältnisse aufzulösen, in denen der Mensch unter Menschen ein entfremdetes und geknechtetes Wesen ist. Mit der Richtigstellung der verkehrten Welt verschwindet die Verkehrung der Religion. Die Tendenz der Marxschen Religionskritik hat die Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie richtungsweisend angegeben: „Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind (MEW 1,378). Die humanistische Kritik gewinnt einen neuen Ausgang. Das Faktum der religiösen Selbstentfremdung, mit dem Feuerbach beginnt, weist zurück auf das Faktum einer politisch-ökonomischen Entfremdung. Die religiöse Entzweiung und Verdoppelung der Welt in eine religiöse und weltliche Sphäre verlagert sich auf die Widersprüche und Entzweiungen der irdischen Welt. Die Kritik des Himmels verwandelt sich in eine Kritik der Erde.

2. Kapitel: Religiöse, politische und menschliche Emanzipation Emanzipation ist ein Begriff aus der Gerichtssprache. Im römischen Recht bedeutet emancipatio die förmliche Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt (bis zur Emancipatio Anastasiana) durch mancipatio (Scheinverkauf) und manumissio, im weiteren Sinne auch die Freilassung des Sklaven durch den Herrn. Emanzipation hat von daher die Grundbedeutung des Selbständigwerdens von Unmündigen, der Befreiung von Abhängigen, der Gleichberechtigung von Ungleichen in sich. Im Horizonte neuzeitlicher Toleranzbewegung, bürgerlicher Revolution und Anerkennungsdialektik steigert sich der Begriff zum Leitwort für Aufhebung und Umwälzung politisch-sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit überhaupt. Die Bewegung der emancipatio wächst dadurch über den Bereich

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Dialektik der Entfremdung

privatrechtlicher, ökonomischer Verhältnisse zwischen Vater und Sohn, Oikodespoten und Sklaven, Herrn und Knecht hinaus, daß die seit Aristoteles von der Politik getrennte Ökonomie politisch wird. So erfaßt sie Gruppen und Klassen und wird zur politischen Frage als Emanzipation der Leibeigenen, der Bürger, der Proletarier, der Frauen, der Juden. Es sind Marx' Beiträge zur Judenfrage, welche die Arten der Emanzipation in ihrem Fundierungsverhältnis freigelegt haben. Anlaß dazu gaben Bruno Bauers religionskritische Überlegungen zur Judenemanzipation von 1843 („Die Judenfrage", „Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden"). Dabei lassen sich die Darlegungen vom generellen Vorverständnis leiten, die durchgeführte Emanzipation sei die radikale Aufhebung der Spaltungen, Ungleichheiten, Entzweiungen, also der Widersprüche zwischen Menschen. Speziell aber kommt es für Marx darauf an, die Strukturen und Bedingungsverhältnisse zu untersuchen: die Instanz, welche emanzipiert, das Subjekt, das emanzipiert wird, vor allem aber die Art der Emanzipation und die Bedingungen ihrer Verwirklichung. Dabei zeichnen sich drei Stufen der Emanzipation ab, die religiöse, politische und menschliche. Deren Begründungszusammenhang wird zur Grundfrage der Marxschen Entfremdungsdialektik. Schon Bauer hat der Judenfrage eine grundsätzliche Wendung gegeben. Die Emanzipation der Juden habe die religiöse Emanzipation, d. h. die Aufhebung der Religion überhaupt, zur notwendigen Voraussetzung. Im Sog seiner Religionskritik reduziert Marx nun die religiöse auf Bedingungen der politischen und diese auf den Akt der menschlichen Emanzipation. Die Krise der Emanzipation ist die absolute politische Revolution. Sie vermag die Entzweiungen der Religion so wenig aufzuheben, daß sie vielmehr die Widersprüche, von denen sie befreien soll, in der politischen Wirklichkeit installiert. „Die politische Emanzipation von der Religion ist nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Emanzipation von der Religion, weil die politische Emanzipation nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Weise der menschlichen Emanzipation ist" (Jf. A; MEW I, 353). Das ist der Marasche Vorbehalt. Politische Emanzipation ohne menschliche Emanzipation pervertiert die Aufhebung der religiösen Entfremdung. Soll dieser Grundschaden vermieden werden, dann ist die religiöse über die politische auf eine menschliche Emanzipation zurückzuleiten. Der Widerspruch, der die Judenfrage hervortreibt, ist die Absonderung der unterprivilegierten Juden im christlichen Staat aufgrund ihres starren religiösen Gegensatzes zur herrschenden Religion. „Wie löst man einen Gegensatz? Dadurch, daß man ihn unmöglich macht. Wie macht man

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einen religiösen Gegensatz unmöglich? Dadurch, daß man die Religion außebt" (Jf. A; MEW 1,348). Natürlich denkt Marx das Aufzuhebende in Kategorien der Entfremdung. Die Diskussion der Judenfrage wendet die Feuerbach-Formel an: „Der Mensch weiß, solange er religiös befangen ist, sein Wesen nur zu vergegenständlichen, indem er es zu einem fremden, phantastischen Wesen macht" (Jf. B; MEW I, 376). Aber Marx lenkt die religiöse Befangenheit eben auf die weltliche Beschränktheit in Staat und Sozietät zurück und verlagert die Befreiung von der Religion auf die Ebene der politischen Emanzipation. Sicherlich bewegt sich Marx im polemischen Trend eines Macchiavelli oder Rousseau, welche die mit dem Christentum gleichgesetzte Religion als antirevolutionäre Resignation und Flucht aus dem Elend der Welt angreifen. Und bekanntermaßen hat Marx Pierre Bayle nicht nur als skeptischen Gegner der Metaphysik, sondern als den Verkünder einer atheistischen Gesellschaft gerühmt. Bayle suchte ja zu zeigen, daß nur eine Gemeinschaft von lauter Atheisten den guten Staat bilden könne, und er bewies, „daß sich der Mensch nicht durch den Atheismus, sondern durch den Aberglauben und den Götzendienst herabwürdige" (Hl. F.; MEW II, 135). Aber die Position von Marx ist nicht die eines kämpferischen Atheismus. Er will nicht im Kampf gegen die Religion die Voraussetzung für Veränderungen der politisch-sozialen Welt schaffen, für ihn liegen die Bedingungsverhältnisse umgekehrt. Die Religion stirbt ab, wennn Staat und Herrschaft in der Gesellschaft absterben. Seine ebenso konsequente wie fragwürdige Prophetie über das Absterben von Staat und Religion hat einen sozialistischen, keinen atheistischen Tenor135. Dadurch streicht Marx die atheistische Komponente der Feuerbachschen Entfremdungsdialektik. Die .Vorläufigen Thesen' haben erklärt, die Rückkehr des entfremdeten Menschen zu sich kann nicht auf positivem Wege, sonden allein als Negation der Religion und ihrer theologischspekulativen Positionen geschehen. Die Identifikation des Menschen mit dem Menschen braucht die Negation Gottes. Der Atheismus widerruft, indem er das fremde, übernatürliche und übermenschliche Wesen Gottes 13S

Vgl. die These von E. Weil: Marx mache aus der Religion keine irrige Ideologie im Sinne des Vulgärmarxismus. Er glaube nicht, daß die Reduktion des Uberbaus auf den Unterbau eine politisch und historisch entscheidende Wirkung haben könne. Religion bilde vielmehr die Wahrheit einer Welt, die ihrerseits in Wahrheit falsch ist. Daher lasse die Richtigstellung der Welt die falsche Wahrheit der Religion von selbst verschwinden (Die Säkularisierung der Politik und des politischen Denkens in der Neuzeit. In: Marxismusstudien 4 (1962) 1 4 4 - 6 2 ) .

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Dialektik der Entfremdung

leugnet, das Geständnis menschlicher Unwesentlichkeit. Dagegen wenden sich die ,Pariser Manuskripte'. Der Sozialismus bedürfe solcher Vermittlung nicht mehr. Die Tendenz der sozialistischen Emanzipation ist nicht antireligiös, sondern areligiös. Das taugliche Mittel, die unvernünftige Negativität der Religion aus der Welt zu schaffen, scheint die politische Umwälzung des widervernünftigen Staates zu sein. N u n aber zeigt die Emanzipationsanalyse der „Judenfrage": Politische Emanzipation und bürgerliche Revolution haben die religiöse Entzweiung des Menschen nicht aufgehoben, sondern durch Verweltlichung verwirklicht. Solche Säkularisierung der religiösen Illusion transportiert den Chorismos von Himmel und Erde, den großen Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit aus dem Medium religiösen Bewußtseins in die Wirklichkeiten von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. „ D e r vollendete politische Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben" (Jf. A ; M E W I, 354). D i e weltliche Spaltung trennt politischen Staat und bürgerliche Gesellschaft, sie zerteilt den Menschen in citoyen und bourgeois, sie unterscheidet zwischen dem egoistischen Leben des Privatmenschen und dem öffentlichen Leben des menschlichen Gemeinwesens. Hier bricht der durch Hegels Analyse der bürgerlichen Gesellschaft konturierte Gegensatz von N o t - und Vernunftstaat und die durch Kant ethisierte Scheidung der Person (als achtenswerter Selbstzweck) von der Sache (als auszunützendes Mittel) in voller Schroffheit auf. Innerhalb der Entfremdungs- und Emanzipationsfolge aber bekommt die Herleitung dieser Spaltung eine neue Pointe. Der politisierte Gegensatz wiederholt die Entzweiung des religiösen Bewußtseins auf dem Boden irdischer Tatsachen. „ D e r politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde. Er steht in demselben Gegensatz zu ihr" (Jf. A ; M E W I, 355). D a s ideale Sein des Staates konstituiert die Sphäre von Gattungsleben und Allgemeininteresse. Es ist jenseits seiner materiellen Voraussetzungen, getrennt von den Elementen des Privatinteresses, Privateigentums, der privaten Bildung und privaten Religion der bürgerlichen Gesellschaft. Der vollendete Staat ist das himmlische Projekt des Bürgersinnes und der Vorschein profaner Beschränktheit. Die Vollendung des Staates, der Mensch als politisches Gemeinwesen bleiben daher imaginär. Die Predigt der politischen Vernunft über Menschenrecht und Menschengleichheit verbreitet das neue Opium des Volks. Schuld an dieser verweltlichten Entzweiung hat die politische Emanzipation. Marx desillusioniert das Pathos der bürgerlichen Emanzipation,

Religiöse, politische und menschliche Emanzipation

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zumal den Heroismus der Französischen Revolution 136 . Diese setzen die Menschenrechte ins Werk. Aber sie operieren mit der bornierten Voraussetzung, daß der Mensch Bürger, der Bürger Repräsentant des Menschengeschlechts ist. Aus der Fehlgleichung l'homme = bourgeois folgt die Verbürgerlichung der Menschenrechte. Die droits de l'homme konstituieren die bürgerliche Gesellschaft. Liberté sinkt herab zur Freiheit der individuellen Willkür, égalité zur Gleichheit aller, sich individuell abzusondern, sûreté zur Sicherheit der Eigentumssphäre durch Polizeimacht. Die Nutzanwendung der drei revolutionskräftigen Menschenrechte zielt mithin darauf ab, das Privateigentum, das Mein und Dein, zu konservieren. In schrecklicher Konsequenz und Vereinfachung wird in dieser bürgerlichen die religiöse Entfremdung des Menschen wiedergefunden. Die Religion ist wirklich als Geist der bürgerlichen Gesellschaft. Diese These hat Marx vom 2. Aufsatz zur Judenfrage bis zum ,Kapital' variiert: Im Privategoismus des bourgeois wirkt sich der ,christliche Seligkeitsegoismus' (Jf. B; MEW I, 377) aus. Das Prinzip des Eigennutzes, das Geld, ist der zur Weltmacht gewordene .hebräische Schachergott'. Die Waren produzierende bürgerliche Gesellschaft ist Ausdruck des Protestantismus. „Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten . . . ist das Christentum mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus, Deismus usw., die entsprechende Religionsform" (Kap. I; MEW XXIII, 93). Die das Zeitalter bewegende politische Emanzipation weist also die religiöse Entzweiung in ihre irdischen Entsprechungen ein. „Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum,

136

Bekanntlich hat Marx den liberalen Mythos der Revolution von 1789 durch die Unterscheidung von Idee und Interesse zersetzt. Die Ideen der Revolution mußten sich blamieren, weil sie sich nur mit dem Interesse der Bourgeoisie, aber nicht mit dem der Masse deckten. Für Marx machte die Julirevolution von 1830 die Ideen von 1789 endgültig zur Phrase — so wie das Debacle von 1848 seine Prophetie der sozialen Revolution als der Revolution der Zukunft erschütterte (vgl. R. Nürnberger, Die Französische Revolution im revolutionären Selbstverständnis des Marxismus. In: Marxismusstudien 2 (1957) 61 — 76). Freilich ist das von Marx analysierte Verhältnis von politischer Emanzipation und dem politischen Drama' der Französischen Revolution, von politischer Theorie und der revolutionären Praxis der Guillotine, von sozialer Blindheit und politischem Willen bei den ,Heroen der französischen Revolution' — ,der klassischen Periode des politischen Verstandes' — in seiner Kompliziertheit noch immer nicht dargelegt (vgl. Jf. A; MEW I, 357, 367. Krit. Randglossen; MEW I, 402 u. ö.).

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Dialektik der Entfremdung

andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person" Qf. A; MEW I, 370)137. So aber scheiden sich Wesen und Wirklichkeit, Wahrheit und Schein des Menschen. In seiner Wirklichkeit ist der Mensch unwahr, in seiner Wahrheit unwirklich. Seine nächste Wirklichkeit ist die bürgerliche Gesellschaft. In ihr lebt er das individuelle Leben der Privatperson, absolviert von Wahrheit und Wesen seiner selbst, dem Gattungswesen. Im vollendeten Staat dagegen weiß sich der Mensch als Gattungswesen verpflichtet und anerkannt, in ihm aber ist er nichts als das imaginäre Glied einer eingebildeten Souveränität. Das Mitglied des Staatswesens ist zwar moralische Person, nämlich Zweck seiner selbst, sofern das Gemeinwesen eben seinen Zweck in sich selber hat. Aber es ist ,allegorisch'. Die Erscheinung seiner Wahrheit ist unwirklich und abstrakt. Als Bürger und Glied der bürgerlichen Gesellschaft dagegen lebt der Mensch in seiner sinnlichen, nächsten Existenz. Aber so ist er wahrheitslos. Die Erscheinung seiner Wirklichkeit ist das sich vom allgemeinen Wesen lossagende egoistische Individuum. So droht die Emanzipation, sich in ihr Unwesen zu verkehren. Die gewaltige Bewegung der politischen Emanzipation und bürgerlichen Revolution treibt die Entzweiung des Menschen ins Äußerste. Aber sie fordert gerade dadurch eine radikale emanzipatorische Aufhebung heraus. Die Emanzipation wird radikal, wenn sie auf die Wurzel aller Weltspaltungen zurückgeht, den Menschen. Es liegt daran, die reduktive Herkunft der menschlichen Emanzipation in Erinnerung zu behalten. Nur so sind deren Stufe und Ziel adäquat zu erfassen. Sie hat zum Ziel, die Welt des Menschen von der Spaltung in unwahre Wirklichkeit und unwirkliche Wahrheit und den Menschen aus seiner Entzweiung in sinnlich-gewisses Individuum und allegorisch-abstraktes Gattungswesen zu befreien. Die Marxsche Theorie der menschlichen Emanzipation bewegt sich auf dem Niveau der Feuerbachschen Entfremdungslehre. Und das ist ontologisch und dialektisch. Emanzipatorische Anthropologie arbeitet mit den Kategorien von Identität und Differenz, Widerspruch und Leben, materiellem

137

Der 1. Aufsatz zur Judenfrage führt die faktische Verkehrung der politischen Emanzipation auf eine geschichtliche Tatsachenwahrheit zurück. Die Auflösung des Feudalismus — d. i. der unmittelbaren Einheit von bürgerlichem und politischem Leben in der Form partikulärer Absonderung und Privilegierung — entbindet den politischen Geist aus seiner partikulären Verflechtung mit dem bürgerlichen Leben. Seitdem gilt die politische selbstbewußte Tätigkeit als allgemeine Volksangelegenheit. Zugleich aber löst sie auch den bürgerlichen Geist aus seinen besonderen politischen Verflechtungen heraus und entfesselt das egoistische Leben singulärer Individuen.

Das factum praesens historicum der verkehrten Welt

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Sein und Selbstbewußtsein, Wirklichkeit und Schein, Wahrheit und Wesen 138 . Dabei dringt die neue Phase der Vermittlung über die Phänomene des religiösen und politischen bis zu den Elementen des bürgerlichen Lebens durch. Die radikale Emanzipation ist nicht mehr religiös und politisch, sondern sozialistisch; denn die politische (bürgerliche) Revolution hat die Gesellschaft in ihre Bestandteile (Arbeit, Eigentum, Familie, Individuum, Interesse, Ware, Wert, Geld usw.) atomisiert, ohne diese zu revolutionieren. Erst die menschliche Emanzipation soll von der Religion des Geldes, von der Macht des Privateigentums, vom Seinssinn des Habens, von der Entfremdung der Arbeit befreien. Diese komplexe, alle Entfremdung reintegrierende Bewegung kündigt sich im Leitwort Emanzipation an, als .Emanzipation vom Schacher, vom Geld' (Jf. B; MEW I, 372), als ,Emanzipation der Gesellschaft von Privateigentum etc., von der Knechtschaft' (PM, 573), als »vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften' (PM, 599). Und sie formiert sich als humanistische Kritik. Die Entdeckung der menschlichen Entfremdung in der Wirklichkeit der Warenwelt und die Reintegrierung des Menschen in sein Wesen als Arbeiter ist das dialektische Grundproblem aller Emanzipation. „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst" (Jf. A; MEW I, 370).

3. Kapitel: Das factum praesens historicum der verkehrten

Welt

„Wir gehen von einem nationalökonomischen, gegenwärtigen Faktum aus. . . . Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu" (PM, 560—561). Die Gedankensammlung über Nationalökonomie und Philosophie, die Marx 1844 im Pariser Exil zusammengestellt hat 139 , nimmt beim geschichtlichen Faktum 138

139

Durch das ontologische Niveau der Emanzipationsproblematik unterscheidet sich die Marasche Reduktion der politischen auf die soziale Revolution von zeitgenössischen Beobachtungen und Forderungen. So hatte ja Lorenz von Stein (Der Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreich. Leipzig 1842) das Ende der rein politischen Bewegung in Frankreich konstatiert und die nächste Revolution als eine soziale angekündigt. Und so hatte Marx in den Pariser Jahren (1843 — 45) die Forderungen Babeufs kennengelernt, die politische sei durch wissenschaftliche Gleichheit, die politische Emanzipation durch eine menschliche zu ergänzen. Die erst 1932 wiederentdeckten sogenannten Pariser Manuskripte gelten als neue Bibel für die ursprüngliche und unverfälschte Gestalt des Kommunismus. Zweifellos haben sie

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Dialektik der Entfremdung

einer verkehrten Welt ihren Anfang. Um dieser Anfangstatsache des gegenwärtigen Zeitalters auf den Grund zu kommen, sind vorerst die Vorgriffe zu klären, in denen sie erfaßt worden ist: der hermeneutische Zugang zu Welt und Mensch, Sache und Wert, Ökonomie und Verwertung. „Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät" (Einl. z. H. R. ; MEW 1,378). Dieser Schlüsselsatz formuliert die kategoriale Untrennbarkeit von Mensch und Welt. Immer dann wird das Wesen des Menschen verfehlt, wenn man es abstrakt, geschichts- und weltlos zu definieren sucht. Der Mensch ist eben kein außer der Welt hockendes Wesen. Das Sein des Menschen ist geschichtliches In-der-Welt-sein, und das In-der-Welt-sein des Menschen ist das Sein der Welt. Feuerbach führt die Theologie, Marx die Kosmologie auf Anthropologie zurück. Welt kommt sonach nicht mehr zuerst und fraglos als theoretisch zu fassende, mathematisierbare Körperwelt und die kritische Weltidee nicht mehr als regulatives Prinzip für die Erforschung der Natur in den Sinn. Die Umwelt der Natur geht als Sachenwelt in der Menschenwelt und diese in der Mitwelt von Staat und Gesellschaft auf. Welt kommt als ein Ganzes wesentlicher Zusammenhänge zwischen den Sachen und Menschen unter dem Primat der mitmenschlichen Bezüge in den Vorblick. Worin aber ist dieser Verweisungszusammenhang festgemacht, und was ist das Leitende und Erschließende dieser Bezüge? Der Sinn von Welt und Mensch erschließt sich von dem her, was als Sein vorverstanden ist. Im Verstehen von Sein folgt Marx fraglos im Anfange gefallenen Entscheidungen der Metaphysik. Für Marx bedeutet Sein (Anwesen) unbefragt Leben und Leben Tätigsein; „denn was ist Leben (anderes) als Tätigkeit" (PM, 565). Das den Menschen und die Welt des Menschen prägende Leben ist das Tätigsein der Arbeit. Der Mensch ist wesenhaft Arbeiter und seine Welt Arbeitswelt. Daß die menschliche Welt vorzügdie Frage nach dem anfänglichen Sinn des Marxismus neu belebt und in eine fruchtbare Unruhe gestürzt. Sie sind zum Nährboden für eine existenzialistische Philosophie der Revolution, zum Anstoß für eine Revision der Spätschriften durch philosophische Anthropologie (und damit zum Ärgernis f ü r den rechtgläubigen historischen Materialismus), zum Zeugnis für die Ubersteigerung der neuzeitlichen Subjektivität, schließlich und endlich zum Anlaß für die Liquidierung der prima philosophia und .Ursprungsphilosophie' durch eine kritische Soziologie geworden (vgl. J. Habermas, Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus. In: Philos. Rundschau 5 (1957) Heft 3/4 S. 165ff.). Vielleicht aber ist ihr Programm, die Vollendung des Humanismus unter Kritik der ,alten Philosophie und Dialektik', immer noch nicht ernst genug genommen worden.

Das (actum praesens historicum der verkehrten Welt

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lieh Arbeitswelt und die verkehrte Welt ,Warenwelt' bedeutet, folgt nicht, wie man oft einwendet, daraus, daß der Marxismus einseitig und willkürlich das ökonomische verabsolutiert. Die Bedeutung von Mensch und Welt folgt dem Sinn und der Geschichtlichkeit von Sein. Versteht der Mensch sein Sein als Leben und Tätigsein und seine ,Lebenstätigkeit' als Arbeit, dann zeigen sich Natur und Mitwelt als ein Ganzes aufeinander verweisender Zusammenhänge menschlicher Arbeit. Damit rechnet auf ihre oberflächliche Weise schon die Nationalökonomie. Daher kann Marx Buret zitieren: „Le travail c'est la vie" (PM, 524) und den Satz Pecqueurs heranziehen: „Le travail est l'homme" - Die Arbeit ist der Mensch (PM, 537). Jedenfalls zeichnet sich in dieser Hinsicht der Anfangsgrund ab, in welchem die Bezüge der Welt zusammenlaufen: der Sinn der Arbeit. Daher begegnet innerweltlich Seiendes primär als mögliches oder wirkliches Produkt der Arbeit (und erst sekundär als zuhandenes Zeug oder theoretisch zugänglich Vorhandenes). Und jegliches Innerweltliche verweist auf anderes und andere in einem Geflecht von Herstellung, Gebrauch, Tausch und Verbrauch. Aus solchem Bezug zu anderem ergibt sich die Bedeutung eines jeglichen als Wert. Der ,Wert' einer Sache in der Welt ermißt sich daran, wozu sie brauchbar ist, wogegen sie getauscht werden kann, wieviel Arbeit in ihr steckt. Seiendes begegnet von einer ökonomisch ausgelegten Welt her. Es ist verstanden, wenn es nach Wert und Verwertbarkeit abgeschätzt ist. So aber rückt alles Welthafte, rückhaltloser denn je, in das Licht eines Gutseins für andere. Jegliches entsteht, ist und wird abschätzbar in Bezug auf anderes, um dessen willen es entsteht, ist und geschätzt wird. Was aber ist, soll der ganze Sinnbezug nicht leerlaufen und Leben oder Tätigsein nicht eitel werden, das letzte Worumwillen dieser fortwährenden Verweisungen? Von der Praxisanalyse der ,Nikomachischen Ethik' bis zur Phänomenologie des In-der-Weltseins von ,Sein und Zeit' gibt es nur eine Antwort: Die fortlaufende Verweisung kommt bei einem Seienden ins Ziel, das nicht um eines anderen, sondern um seiner selbst willen existiert, das nicht bloß gut für anderes, sondern jederzeit auch Zweck seiner selbst ist. Das ist der Mensch, die ,Person', das ,Dasein'. Dem Menschen eignet ein Sein und Tätigsein, durch das er nichts anderes, sondern sein eigenes Wesen und Dasein besorgt. Das Werk, das dem Menschen als Menschen aufgegeben ist und das seiner Welt Sinn gibt, besteht offenbar darin, menschlich zu leben. Menschliches Leben aber erfüllt sich im Arbeiten. Das letzte Worumwillen menschlichen Tuns und Lebens ist arbeitendes Tätigsein als solches, sofern Arbeit menschliche Lebenstätigkeit sein kann. Dieser erstaunliche Be-

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Dialektik der Entfremdung

scheid hat die gegenwärtige Welt und ihre leitenden Bezüge ins Zwielicht gebracht. Wie steht es nämlich mit dem Menschen und seiner Welt, wenn ihm die sinngebende Lebenstätigkeit, die Arbeit, fremd geworden und entfremdet ist? Eine positive Kritik der nationalökonomisch ausgelegten Welt fordert die Aufhebung der entfremdeten Arbeit. Es darf nicht vergessen werden, daß diese menschliche Emanzipation der Entfremdungsdialektik Feuerbachs einen konkreten Gehalt gibt. Unmißverständlich hat ja die Vorrede der ,Pariser Manuskripte' festgestellt, die positive Kritik der Nationalökonomie verdanke ihre wahre Begründung den Entdeckungen Feuerbachs. Positive Kritik ist ein ent-deckendes Weltverstehen. Die frühe Marasche Kritik der bloßen ökonomischen Vernunft sucht die wesentlichen Zusammenhänge der Sachen- und Menschenwelt als système monétaire und dieses als Entfremdung des Menschen und Entäußerung der wesenhaften Lebenstätigkeit zu durchschauen. „Wir haben also jetzt den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Privateigentum, der Habsucht, der Trennung von Arbeit, Kapital und Grundeigentum, von Austausch und Konkurrenz, von Wen und Entwertung des Menschen, von Monopol und Konkurrenz etc., dieser ganzen Entfremdung mit dem Geldsystem zu begreifen" (PM, 560). Nun hat der Marx der ,Pariser Manuskripte' den Springpunkt der ökonomischen Weltauslegung, den Doppelcharakter der Waren produzierenden Arbeit, noch nicht getroffen. Jedenfalls hat er das ,dialektische' Verhältnis von Gebrauchswert, Wert und Tauschwert und die Fetischisierung der abstrakten Arbeit nicht in der Form einer in sich geschlossenen Kritik der politischen Ökonomie entfaltet. Immerhin muß eingeräumt werden, daß die Differenzen der bestimmten Arbeit zur Arbeit in ihrer vollständigen Absolutheit und Abstraktheit — etwa in Auseinandersetzung mit den Physiokraten — schon herausgehoben und daß in den Exzerptionen von 1844 — zumal in den Reflexionen zu James Mill — Grundzüge für eine Theorie des Waren-Geld- und Kapitalfetischismus entwickelt worden sind 1 4 0 . Geradezu zum Antrieb der kritischen ökonomischen Untersuchungen aber wird die Erkenntnis, die Dominanz von Tausch, Ware und Geld verwandle alles — die Erde, die brauchbaren Dinge, selbst den Menschen und dessen wesentliches Vermögen, die Arbeitskraft, — zur 140 Vgl. die instruktiven Quellenstudien von W. Tuchscheerer, Bevor ,Das Kapital' entstand. Die Entstehung der ökonomischen Theorie von Karl Marx. Köln 1968. S. 113, 215ff., 372.

Das factum praesens historicum der verkehrten Welt

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Ware. Die politisch-ökonomische Kritik stößt sich am factum brutum der Warenwelt als Geldsystem. Sprechend aber wird die frühe Kritik an den Kategorien von Austausch, Ware, Erwerbstätigkeit, Kapital, Privateigentum im Zuge einer Entfremdungsdialektik. Sie dient dazu, durch Negation der entfremdeten Arbeit die verkehrte Welt wieder einzurichten. Im Zusammenhange von Wert, Austausch, Geld auf der Basis von Privateigentum und Habsucht verwandeln Sache und Person ihr Wesen. Sie werden zur Ware als einer solchen. In einer auf ethische Praxis abzielenden, von Aristoteles bis Kant ungebrochenen Weltauslegung bedeutet Sache das vernunftlose Ding, dessen Dasein auf der Natur beruht. Das Sein der Sache geht gänzlich darin auf, Mittel und Gut für anderes zu sein. Daher besitzt jedwede Sache einen relativen Wert und einen bestimmten Preis. Von der Sache hebt sich die Person ab. Person bezeichnet der ethischen Uberlieferung nach ein vernünftiges Wesen, dessen Natur es als Zweck an sich selbst auszeichnet. Darum kommt jeder einzelnen Person stets ein innerer und absoluter Wert zu, der über allen Preis erhaben ist. Ein Wert, welcher ein Äquivalent in Geld abweist, heißt Würde. Würde ist der Wert, der in der Menschenwelt herrschen soll. Weil Marx in den Wertbezügen von Sache und Person zu denken gelernt hat, kann er die Verdinglichung der Person und die Entdinglichung der Sache als Faktum der verkehrten Warenwelt bedenken. Die Aufhebung der Sache in eine Ware verwandelt die Menschenwelt. Sachen oder Dinge sind Schuh oder Rock, Tisch oder Hammer, Wasser, Erde oder urwüchsiges Holz. Sie stammen aus konkreter Arbeit und sind Werke des herstellenden Tuns von Schuster oder Weber, oder sie liefern die Materie, den Rohstoff, dazu. Geleitet wird solche Poiesis vom Zwecke des Gebrauchs oder Verbrauchs. Es ist demnach der Gebrauchswert, der natürlicherweise die Beziehungen der Sachenwelt stiftet und reguliert. So zeigt sich Innerweltliches in seinem eigenschaftlichen Bestand und verweist in seiner Brauchbarkeit auf anderes, für das es gut ist. Und wie selbstverständlich zielen solche Zweck-Mittel-Relationen auf ein Seiendes ab, das Zweck seiner selbst und das letzte Worumwillen allen Gebrauchs und Verbrauchs ist, das menschenwürdige Leben der Person. Unter den Bedingungen gegenwärtigen Lebens und Tätigseins (des Privateigentums, des Schachers, der geteilten Arbeit, des Lohns) werden alle Sachen zur Ware. Selbst die Erde bekommt als Grundeigentum und Objekt des Schachers Warencharakter (vgl. PM, 553ff.). Dadurch nimmt die Verwertung und Verweisung der Sachenwelt einen inhumanen, unpersönlichen Grundzug an. Die Wertform der Ware ist ihre Austausch-

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barkeit. Durch den Primat des Tauschwertes tritt der eigenschaftliche Bestand der Dinge zurück. Das Ding und seine Eigenschaften kommen nicht mehr von Seiten ihrer natürlichen Sachqualitäten zu Gesicht, weil die Ware als Ware aus dem Bezug zur konkreten Arbeit herausfällt und den unmittelbaren Wertbezügen des Gebrauchs entgleitet. Als Tauschwerte enthalten die Sachen ,kein Atom Gebrauchswert' mehr. Als Ware verweisen sie nicht mehr in ihrem Wozu bestimmter Tauglichkeit auf ein bestimmtes anderes, sie vergleichen sich in einem Womit universaler Austauschbarkeit mit allem und jedem. So schwindet die Unvergleichlichkeit der Dinge. Das qualitativ Unvergleichlichste wird als Ware kommensurabel. Es läßt sich im Verhältnis der Wertgröße quantitativ vergleichen und austauschen. Wertgröße meint die quantitative Bestimmung des Warenwerts durch die Zeit als dem Wieviel der in der Ware enthaltenen Dauer an abstrakter, gesellschaftlich notwendiger Arbeit. In einer als Arbeitswelt verstandenen Welt wird die Arbeitszeit das Maß aller Dinge. Sie bringt das Dasein endgültig unter das Joch der .physikalischen Zeit'. Die ökonomisierung des überlieferten Zeitwesens — der Zeit als Maß der Bewegung, άριθμός κινήσεως κατά το πρότερον καί ύστερον; Aristoteles, Phys. 11, 219 b 1—2 — orientiert sich nicht mehr an der Bewegung des Himmelsumschwunges, wohl aber an der Bewegung der Herstellung und des Umschlags der Ware. Das Wielange der Dauer, die Spanne der Uhrzeit, bemißt sich nicht mehr an Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, wohl aber am Maß des ,Tagwerks'. Die Zeit des Lebens und die Dauer der Arbeit werden zu kalkulierbaren Größen, welche den Wert der Ware bestimmen. Als Werte sind alle Waren in der Sprache des ,Kapitals* nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit. Die in der Phänomenologie von ,Sein und Zeit' aufgedeckte ursprüngliche Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit menschlichen Daseins bleibt in der verkehrten Welt verborgen. Aber auch die humanistische Kritik hat durch ihre Bindung an das, was sie kritisiert, grundsätzlich an dieser Verdeckung nichts geändert. Zeit seines Lebens hat Marx das Problem der Zeit von Maß und Messung der Arbeitsdauer und von der Maßlosigkeit des Kapitals her unter der Hinsicht von Größe, Erhöhung und Verkürzung der Arbeitsdauer her gesehen. Noch für das zukünftige Aufblühen des wahren Reichs der Freiheit auf der Basis des Reichs der Notwendigkeit bildet bekanntlich ,die Verkürzung des Arbeitstages' die Grundbedingung. Von der durch die Zeit quantifizierten Ware her ergibt sich ein Beziehungszusammenhang universaler Austauschbarkeit. Welt (series actúa-

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liura finitorum) erscheint als „Reihe von wechselseitigen échanges" — Tauschakten; vgl. De Tracy — Ausz. M. ; MEW Erg. 1,451). Wie aber steht es mit dem Angelpunkt dieses ganzen Tausch- und Verweisungszusammenhanges, mit der menschlichen Arbeit? In den Exzerptheften stellt Marx fest: „Das Verhältnis des Tausches vorausgesetzt, wird die Arbeit zur unmittelbaren Erwerbsarbeit" (Ausz. M.; MEW Erg. 1,454). Das Produzieren von Gegenständen als Ware und Äquivalent wechselseitigen Austausches geschieht um des Erwerbs von Reichtum willen. Als Erwerbstätigkeit hat sich das Ansehen der Arbeit vom defizienten Modus des Menschen zu seiner ihn auszeichnenden Tätigkeit erhoben. Der Mensch findet seinen Wert nun nicht mehr wie in der Antike außerhalb der Arbeit, er sucht ihn in der Arbeit selbst. Das ist so, seitdem Arbeit unter die .Kategorie der Erwerbstätigkeit' fällt. Bekanntlich hat Locke Arbeit (und nicht mehr Erbschaft und Bemächtigung) als Quelle des Eigentums herausgestellt. Und Adam Smith hat ihr als Quelle der Produktivität und des Reichtums Ansehen verschafft. In der Kategorie des Erwerbs bleibt die Lebenstätigkeit der Arbeit befangen, solange sie als Herstellung von Waren zum Zweck des profitbringenden Austausches betrachtet wird. Unter der Herrschaft des Erwerbs wird das Vermögen der Arbeit selbst zu einer Sache und Ware. „Die Nationalökonomie betrachtet die Arbeit abstrakt als eine Sache. Le travail est une marchandise" (PM, 523). Das steht als nationalökonomisches, gegenwärtiges Faktum vor Augen. Das wesenhafte Vermögen des Menschen, seine Arbeitskraft, wird vermarktet. „Der Arbeiter ist zu einer Ware geworden, und es ist ein Glück für ihn, wenn er sich an den Mann bringen kann" (PM, 511). Zwar sind die Bedingungen der Möglichkeit für die historische Tatsache, daß der Arbeiter nicht die Produkte seiner Arbeit, sondern die produzierende Arbeitskraft auf dem Markt anbietet, zur Zeit der ,Pariser Manuskripte' noch nicht geklärt, und auch die Besonderheit dieser Ware — eines Gebrauchswertes, der durch Vergegenständlichung von Arbeit selbst Quelle von Wert und Mehrwert ist, — liegt noch im Dunkel, aber die erste Bestandsaufnahme der verkehrten Welt erfaßt schon den Widerspruch der Lohnarbeit. Diese ist die Freiheit einer Selbstbestimmung, in welcher der Mensch sich selbst zur Ware bestimmen muß. In der Sprache der Nationalökonomie formuliert: „Louer son travail, c'est commencer son esclavage" (Pecquer - PM, 537). Die Weltsphäre, innerhalb derer sich Kauf und Verkauf der Arbeitskraft bewegt, ist eben durch eine politische Emanzipation konstituiert, der die menschliche Reintegration fehlt. Sie ist die verdrehte Konstitution der

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zu Bürgerrechten denaturierten droits de l'homme — „ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was hier allein herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham" (Kap. I; MEW XXIII, 189). Was sich hier ausbreitet, ist „Gleichgültigkeit gegen die Menschen" (PM, 542). Der Mensch, die Maschine zum Produzieren und Konsumieren, unterliegt den Gesetzen der Warenproduktion, der ,Zufuhr' und der Nachfrage. „Die Existenz des Arbeiters ist also auf die Bedingung der Existenz jeder anderen Ware reduziert" (PM, 511). Die Warenproduktion produziert selbstbewußte und selbsttätige Ware, also den Menschen als ein „ebenso geistig wie körperlich entmenschtes Wesen" (PM, 577). Nun ist die Nationalökonomie bereit, die Negation der menschlichen Lebenstätigkeit und die Position des entfremdeten Produkts als objektives Faktum in Rechnung zu stellen. „Für Ricardo sind die Menschen nichts, das Produkt alles" (PM, 539). In der Warenwelt hat der Mensch seinen absoluten Wert, seine Würde, verloren. Und er mindert sogar selbst seinen relativen Wert als Ware in dem Maße, in welchem er den Sachen Wert verleiht. Das ist das gegenwärtige, von Marx immer wieder herausgestrichene nationalökonomische Faktum der verkehrten Welt. Anstatt daß die Arbeit durch ihre Verwertung der Sachen das Wesen des Menschen fördert, entwertet sie es, solange Arbeit als Warenproduktion zum Zuge kommt. Das Unheimliche der Waren produzierenden Arbeit liegt eben darin, daß sie sich selbst als Ware produziert, die um so wertloser wird, je produktiver sie tätig ist. „Die Arbeit produziert nicht nur Waren, sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert" (PM, 561). Mithin werden Wert und Würde des Menschen unter den Bedingungen der Lohnarbeit zu käuflicher Ware, deren Wert sinkt, je mehr Sachen der Arbeiter verwertet. „Je mehr Werte er schafft, um so wertloser, um so unwürdiger wird er" (PM, 563). Was aber ist, wenn nicht der Mensch in seinem menschlichen Leben und Treiben, das letzte Worumwillen solcher Welt? Gibt es im Kategoriensystem der Warenwelt einen außer- und übermenschlichen Wert, der Zweck seiner selbst ist und sich gleichsam selbst verwertet? Was wäre das absolute Subjekt einer Bewegung, in welcher die Verwertung der Sachenwelt und die Entwertung der Menschenwelt direkt proportional verlaufen? Anders gefragt: Worin tritt die alle Herr-Knecht-Verhältnisse überbietende Herrschaft der zur Ware entfremdeten Sache über die Person in Erscheinung? Was ist der sinnlich erscheinende, wirkliche Gott der Warenwelt?

Zur Entfremdung des Geldes in der Warenwelt

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Die eine Antwort auf alle Fragen lautet: Geld und Kapital. Die Verabsolutierung des Geldes steckt im hintergründigsten Sprichwort der Moderne, l'argent n'a pas de maître, „worin die ganze Herrschaft der totgeschlagenen Materie über die Menschen ausgesprochen ist" (PM, 555). „Im Geld . . . ist die vollständige Herrschaft der entfremdeten Sache über den Menschen in die Erscheinung getreten. Was als Herrschaft der Person über die Person, ist nun die allgemeine Herrschaft der Sache über die Person" (Ausz. M.; MEW Erg. 1,455).

4. Kapitel: ,Fremder Mittler', sichtbare Gottheit' — zur Entfremdung des Geldes in der Warenwelt Die Marxsche Entfremdungslehre verkündet eine Götzendämmerung. Sie sucht mit neutestamentlichem Abscheu vor dem Götzen Mammon — dem ,blutsaugenden Vampir' des Jakobusbriefes (Jak. 2,7) — und mit alttestamentarischem Zorn gegen den ,hebräischen Schachergott' den Weltgott der Warenwelt (,den illusorischen Wechsel') zu vernichten. Geld, ,die sichtbare Gottheit' (PM, 634), wird als die letzte Epiphanie einer entgötterten Welt demaskiert. Geld erscheint als der .wirkliche Gott' (Erg. 1,446) einer würdelosen Wirklichkeit. Folgerichtig operiert der kritische Angriff gegen die ,Weltmacht' des Geldgottes mit Analogien der religiösen Entfremdung. Geld ist für die Warenwelt der christusgleiche .fremde Mittler' geworden (Erg. 1,446). Die Dialektik von Vergegenständlichung und Entwirklichung entlarvt diese Gottheit. Sie ist der höchste praktische Ausdruck menschlicher Selbstentfremdung. „Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an" (Jf. B; MEW I, 375)141. Dieser Interpretationsansatz hebt das Geld über den Sinn einer regionalen ökonomischen Kategorie hinaus und läßt die Diskussion zwischen geldtheoretischem Realismus und Nominalismus und über die Wertformen

141

F. Delekat, Vom Wesen des Geldes. Theologische Analyse eines Grundbegriffs in Karl Marx: ,Das Kapital'. In: Marxismusstudien 1 (1954) 54 — 76, sucht den ökonomisch nicht auflösbaren, theologischen Rest der marxistischen Geldlehre im Begriff der abstrakten menschlichen Arbeit. Er sei für Marx das Absolute, der säkularisierte Gott. Indessen ist die abstrakte Arbeit zwar absolut, keineswegs aber das Absolute im Sinne des verweltlichten absoluten Geistes. Gott ist nicht die Arbeit — die Arbeit ist der Mensch. Die religiösen Bezüge der Marxschen Geldlehre sind nicht deren unauflösbare theologische Substanz, sie bilden Analogien der Entfremdung.

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des Geldes hinter sich. Das Wesen des Geldes wird nicht getroffen, wenn es bloß als diejenige Ware betrachtet wird, welche als Wertmaßstab und daher — leiblich oder durch Stellvertreter — als Zirkulationsmittel, Preismaß, umlaufendes Zahlungsgut funktioniert. Geld muß vielmehr als der falsche Gott und maliziöse Dämon der entfremdeten Arbeits- und Warenwelt durchschaut werden. Was Kierkegaard existenzialanalytisch als ,Religion des Geldes' im Prozeß des Nivellierungswerkes aufdeckt, das kommt bei Marx in Kategorien der politischen Ökonomie zur Sprache. (Vgl. die Bestimmung des Geldes als des ,radikalen Levellers', der alle Unterschiede auslöscht; Kap. 1; MEW XXIII, 146). Der Schematismus der Entfremdung bringt das Wesen des Geldes und das Unwesen des Zeitgeistes ins Offene. Solch bahnbrechende Konzeption der ,Selbstemanzipation unserer Zeit' als ,Emanzipation vom Schacher und vom Geld' (MEW 1,372) und Befreiung vom Götzen des Kapitalismus haben vor allem der 2. Aufsatz zur Judenfrage (MEW 1,371 — 77), die Reflexionen zum Exzerpt aus James Mill's ,Elemens d'économie politique' (MEW Erg. 1,443 — 63) und der Abschnitt ,Geld' aus dem 3. Pariser Manuskript (PM, 6 3 1 - 3 6 ) vorgetragen. Sie liegen zeitlich vor der Systemkritik des ,Kapitals'. Sicherlich haben diese frühen, tastenden Versuche die Zirkulationsformen von Ware und Geld und die Subjektivität' des Kapitals — den Wert als Subjekt einer Bewegung, deren Extreme das Geld ist — noch nicht hinreichend klar konzipiert und systematisch aufgebaut. Dafür ist die Emanzipationsabsicht ursprünglicher und die Tendenz, das sich als Kapital entpuppende Geld zu entdämonisieren, vehementer. Was im Zentrum der frühen Entfremdungslehre des Geldes steht, rückt im .Kapital' in die Anmerkungen (ζ. B. die Apotheose des Goldes in Shakespeares ,Timon von Athen'). Die Götzendämmerung des Geldes im Prozeß der Entfremdungsdialektik findet nurmehr im Fetischismuskapitel des ,Kapitals' ihren Niederschlag. Der Geldfetisch wird als das blendende Rätsel des Warenfetischs enträtselt. Freilich ist er durch diese späte Kristallisation der geheime Mittelpunkt auch der ausgereiften Geld- und Kapitalismuskritik des Marxismus geblieben 142 . 142

In Rücksicht auf die weltanschaulich brisante Frage nach der Einheit des Marxschen Werkes und nach dem roten Faden der Entfremdung sei lediglich auf zwei (scheinbar) kontroverse Positionen verwiesen. I. Fetscher (Karl Marx: Das Verhältnis von Frühwerk und .Kapital', In: Karl Marx und der Marxismus. München 1967. S. 13 — 32) behauptet — analog zur These von I. Y . Calvez, das Lebenswerk von Marx sei Theorie der Entfremdung (Karl Marx. Dt. Ubers. Ölten und Freiburg 1964) - , die kritischen Kategorien

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„Das Wesen des Geldes ist, . . . daß die vermittelnde Tätigkeit oder Bewegung, der menschliche, gesellschaftliche Akt, wodurch sich die Produkte des Menschen wechselseitig ergänzen, entfremdet wird" (Ausz. M. ; M E W Erg. 1,446). Geld ist seinem Wesen nach ein fremder Mittler. Sein Sein ist vermittelndes Tätigsein und läßt sich daher nicht als vorliegendes Ding, als »sinnlicher, handgreiflicher, augenfälliger Geldsack' ansehen. Die Wesenssicht muß dem sinnlichen Aberglauben an das edle Metall, aber auch dem raffinierten Aberglauben an eine Geldseele in allen Dingen abschwören. U m Subjekt und Substanz des Geldes zu ersehen, hat sie die Bewegung des Austausches, die Zirkulation der Ware und deren Extreme zu bedenken. Nur so kann deutlicher werden: Das Geld als Subjekt dieser Bewegung entfremdet den menschlichen Akt wechselseitigen Warenaustausches. Dieser vollzieht sich natürlicherweise als gesellschaftliche Tätigkeit aufgrund der Geselligkeit des Menschen zum Zwecke einer wechselweisen Ergänzung ihrer Produkte. Im Verkaufen einer Ware an einen anderen, um andere Waren von anderen zu kaufen, ergänzt der Mensch seine Gebrauchsgüter und seinen Umgang. In solchem Kreislauf kommt das Geld nur akzidentell vor. Es wird ausgegeben, nicht ,vorgeschossen'. Es verschwindet im Resultat der Bewegung, in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse durch Aneignung von Gebrauchswerten vermittels eines Verkaufs für den Kauf. In der strikten Sprache des .Kapitals' ausgedrückt: in den Arbeiten von 1844, nämlich Entfremdung und Verdinglichung, halten sich in den .Grundrissen' von 1857/58 durch und liegen noch der Fetischanalyse des .Kapitals' zugrunde. — F. Tomberg (Basis und Überbau. 2. Aufl. Darmstadt und Neuwied 1974) stellt seine Untersuchungen über den Begriff der Entfremdung in den .Grundrissen' (S. 147 — 204) gleichsam unter das Motto W . S. Wygodskis, Marx habe 40 Jahre am Kapital gearbeitet, von 1843 bis zum letzten Tage seines Lebens (Die Geschichte einer großen Entdeckung. Über die Entstehung des Werkes .Das Kapital' von Karl Marx. Berlin 1967. S. 147). Nach Tomberg besteht diese Lebensarbeit im Hindurcharbeiten durch die Kritik des Uberbaus bis zur Erkenntnis des realen Baus, der ökonomischen Struktur der Gesellschaft. Dabei falle der zentrale Begriff des Jugendwerkes, die Entfremdung, fast ganz weg. Wo er noch auftaucht, bezeichne er ein in der ökonomischen Basis angesiedeltes Phänomen. In solch eingeschränkter und präzisierter Bedeutung lasse er sich in den ,Grundrissen' nachweisen, ohne daß von einer Theorie der Entfremdung die Rede sein könne. — Unbestreitbar aber bauen auch die ökonomischen Vorstudien der .Grundrisse' noch auf die Struktur der auf die bürgerliche Gesellschaft reduzierten menschlichen Entfremdung. Das zeigen die Bestimmung der entfremdeten Arbeit („In der bürgerlichen Ökonomie . . . erscheint diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung". „Dieser Verwirklichungsprozeß ist ebenso der Entwirklichungsprozeß der Arbeit"; G K Ö , 387, 358 u. ö.) wie die Auffassung des Geldes als Entäußerung eines Verhängnisses (vgl. „Die Individuen sind unter die gesellschaftliche Produktion subsumiert, die als ein Verhängnis außer ihnen existiert"; G K Ö , 76). Die ontologische Basis der ökonomischen Basisanalyse bleibt die Dialektik der Entfremdung.

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Solcher Umlauf des Geldes, in dem es sich ständig von seinem Ausgangspunkt entfernt, ist es die Folge, nicht die Ursache der Kreisbewegung. In dieser Um- und Beiläufigkeit aber ist das Geld harmlos und nicht in seinem Wesen. An ihm selbst ist Geld die Entfremdung dieses Aktes menschlicher Lebensergänzung. Es verdreht den ganzen Kreislauf der Sachen über beliebige Umtauschmittel zwischen Menschen um der Ergänzung zum befriedigten Menschen willen. Wo das Geld in seinem Wesen frei waltet, da tritt es als der selbstmächtige, alles entfremdende Mittler auf. Hat das Geld primitiverweise nur dadurch Wert, daß es Sachen repräsentiert, so kehrt sich dieses Verhältnis um, wo das Geld substanziell und das Subjekt der Tauschbewegung geworden ist. Da hat die Sache nur Wert, soweit sie Geld repräsentiert. Getrennt vom Mittler, ist sie wertlos, sofern der Austausch von Arbeitsprodukten als Waren durch das Geld und um des Geldes willen betrieben wird. Da hat sich die menschliche Vermittlung zur Vermittlung eines fremden Mittlers, des Geldes, entäußert. „Die Beziehung selbst der Sachen, die menschliche Operation mit denselben, wird zur Operation eines Wesens außer dem Menschen und über dem Menschen" (Ausz. M.; MEW Erg. 1,446). Das entfremdete Geld erscheint als außermenschliches Wesen mit übermenschlichen Eigenschaften. Die Analyse der Entfremdung zielt auf die Entfetischisierung der Welt und greift dem Kapitel über ,den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis' vor 143 . Geld ist — wie ein Fetisch — ein toter sinnlicher Gegenstand, dem magische Kräfte und übersinnliche Eigenschaften angedichtet werden, die in Wahrheit aus der Lebenstätigkeit dessen stammen, der an den Fetisch glaubt. Die Ubertragung von Kräften und geheimnisvollen Eigenschaften auf den Fetisch Geld aber ist der Prozeß einer Entäußerung, in welcher die menschliche Vermittlung und die Gattungstätigkeit des Menschen überhaupt entfremdet sind. „Alle Eigenschaften, welche dieser (Vf. der Vermittlung) in der Produktion dieser Tätigkeit (Vf. der Austauschtätigkeit) zukommen, werden daher auf diesen Mittler übertragen" (Ausz. M.; MEW Erg. 1,446). So erscheint die Fähigkeit, sich tauschen und vergleichen zu können, als 143

Auf die Tendenz marxistischer Theoretiker, den Begriff der Entfremdung durch den der Verdinglichung wegen dessen größerer Präzision, Objektivität und moralischen Indifferenz abzulösen, soll hier nicht eingegangen werden. Es sei lediglich auf die Gegenströmung verwiesen (H. Lefèbvre, M. Rosner u. a.), welche in Verdinglichung und Fetischismus keinen Ersatz für den Begriff der Entfremdung, sondern vielmehr eine Manifestation des letzteren sieht, und zwar die radikalste (vgl. M. Rosner, Aliénation, Fétichisme, Anomie. In: L'Homme et la Société 11 (1969) 81-108.

Zur Entfremdung des Geldes in der Warenwelt

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eine Qualität und vis occulta des Geldes. Durch die Entfremdung des Geldes stellen sich die Vermittlungen der Gattungstätigkeit als Macht und Ubermacht eines fremden Mittlers dar. „Durch diesen fremden Mittler — statt daß der Mensch selbst der Mittler für den Menschen sein sollte — schaut der Mensch seinen Willen, seine Tätigkeit, sein Verhältnis zu anderen als eine von ihm und ihnen unabhängige Macht an" (Ausz. M; MEW Erg. 1,446). So erhebt sich das Geld zum Herrn der Welt. Weil es existierender Wert ist, verflüchtigt es sich nicht zum eingebildeten jenseitigen göttlichen Dasein. Es ist der wirkliche Gott, ein allvermögender Herr und Mittler. Geld, ,das keinen Herrn hat', wird zum wirklichen .absoluten Herrn'. Daß sich im entwickelten Austauschsystem und Geldverhältnis die HerrKnecht-Relation entpersönlicht, haben die ,Grundrisse' noch einmal herausgehoben. Die Bande der persönlichen Abhängigkeit sind durch die Heraufkunft des neuen Herrn gesprengt. Die persönliche Beschränkung eines Individuums durch ein anderes, etwa im Verhältnis zwischen Feudalherrn und Vasall, Grundherrn und Leibeigner, existiert nicht mehr. Aber die Unabhängigkeit — richtiger: Gleichgültigkeit — gegeneinander ist durch eine Abhängigkeit aller von den Sachen erkauft. Die Herrschaft des Geldes und Kapitals unterwirft alle den Zwängen ihrer Produktions- und Austauschverhältnisse, so daß „die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen" (GKÖ,

81-82). Und der wirkliche Gott wirkt sich als der bösartige Demiurg und allmächtige Kuppler aus, der die natürliche Ordnung der menschlichen Weltbezüge entstellt. „Daß dieser Mittler nun zum wirklichen Gott wird, ist klar, denn der Mittler ist die wirkliche Macht über das, womit er mich vermittelt" (Ausz. M.; MEW Erg. 1,446). Die verkehrende Macht des Geldes über die Welt legt der Marx der ,Pariser Manuskripte' in einer Deutung dar, welche sich an Erfahrungen der Dichter (Goethe, Shakespeare) hält. Sichtbare Gottheit, Die Du Unmöglichkeiten eng verbrüderst, Zum Kuß sie zwingst, du sprichst in jeder Sprache, Zu jedem Zweck . . . usw. Timon von Athen, IV. Aufz. 3. Scene (PM, 632 — 33). Im Wirken des Goldes wird eine Gottheit sichtbar. Die übersinnliche Kraft des sinnlich sichtbaren Edelmetalls hat göttliches Ubermaß; denn

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ihre alles vermittelnde Gewalt setzt das natürliche Seinsverhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit außer Kraft, verkehrt wirkliches Sein ins Gegenteil und bringt sogar solches, was einander von sich her widerspricht, zusammen. Das Vermögen des Geldes verwandelt menschliches Unvermögen in Allvermögen. Im .Kapital' zitiert Marx den Brief des Columbus aus Jamaica von 1503: „Gold ist ein wunderbares Ding! Wer dasselbe besitzt, ist Herr von allem, was er wünscht. Durch Gold kann man sogar Seelen in das Paradies gelangen lassen" (Kap. I; MEW XXIII, 145). Entsprechend verwandelt Besitzlosigkeit Vermögen in Unvermögen. Die bloße Abwesenheit von Geld läßt Talente verkümmern. So verzerrt das Geldvermögen die natürlichen Beziehungen von Möglichkeiten zur Wirklichkeit. Und das Gold vermag sogar, schon wirkliche, natürliche Eigenschaften zu verwandeln, z. B. Häßlichsein in Schönsein. Es überglänzt einfach die abstoßende Wirkung physischer oder seelischer Häßlichkeit und macht den reichen Häßlichen schön, nämlich attraktiv, fesselnd, von Gott begünstigt. So verdreht das Geldvermögen Wirklichkeiten. Und es vermag das Unmöglichste, nämlich einander Widersprechendes und Widerstrebendes zu vereinigen. Was von Natur einander flieht, etwa die schöne Frau den häßlichen Mann, bindet die Macht des ,allgemeinen Kupplers' zusammen, und was von Natur zusammengehört, kann seine Tauschkraft scheiden. „Es zwingt das sich Widersprechende zum Kuß" (PM, 633). Solch übernatürliche .Scheidemünze und Bindungsmittel' denaturiert alle menschlichen Beziehungen. Liebe tauscht sich nicht mehr gegen Liebe oder Vertrauen gegen Vertrauen, alles veräußert sich gegen Geld. Dessen alles vertauschende Dynamis ist Subjekt sowohl wie Substanz der verkehrten Welt. „Da das Geld als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt" (PM, 636). In der verkehrten Welt wird der Gottesdienst zum Kultus des angebeteten Geldes ad maiorem gloriam pecuniae. „Sein Kultus wird zum Selbstzweck" (Ausz. M.; MEW Erg. 1,446). Die Förderung und Pflege des Geldes relativiert sich nicht mehr durch den Gebrauch und Verbrauch für den Menschen. Nicht der Mensch, das Geld nimmt die Rolle des Selbstzwecks und des letzten, sinngebenden Worumwillen menschlicher Praxis ein. Ungebrochenem menschlichen Ethos erscheint das Geld als Mittel, das den Menschen instand setzt, sich fremde Gegenstände zu verschaffen. Der Kultus des Geldes erhöht das bloße Mittel zum puren

Gegenständliches Gattungsleben = Arbeit

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Selbstzweck. „Das Geld, das als Mittel erscheint, (ist) die wahre Macht und der einzige Zweck, . . . das Mittel, das mich zum Wesen macht, das mir das fremde gegenständliche Wesen aneignet, (ist) Selbstzweck" (PM, 619). Konsequentermaßen beruht die Tugend des Geldmenschen darin, den Menschen als Selbstzweck zu verachten und alles, selbst das Gattungsverhältnis, zum Handelsgegenstand zu machen. Solches Ethos setzt ihn in den Stand, selbst sein Weib zu verschachern (Jf. B; MEW I, 375). Alles ,Handeln' geschieht um der Vermehrung des Geldes willen. Sie ist der sich selbst genügende Wert und göttliche Zweck, der auch Menschenopfer rechtfertigt. „Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge" (Jf. B ; MEW I, 375). So fesselt das Geld als der maßlos ins Unermeßliche sich steigernde Götze die Welt. Sein wahres Maß nämlich ist seine Maßlosigkeit und Unmäßigkeit (PM, 609). Es schlingt alles in seine aufs Quantitative reduzierte Bewegung hinein, deren Telos nurmehr das Mehrwerden sein kann. Sein Wert, der die Welt in dieser Form des Kreislaufs bewegt (,Kaufen, um teurer zu verkaufen'), ist die letzte wirkliche Gottheit. Die spätere politische Ökonomie begreift solchen Ersten Beweger als Kapital. Die frühe Dialektik der Entfremdung durchschaut ihn als fremden Mittler. Die geschichtliche Dämmerung des Götzen Mammon und des Kapitalismus beginnt mit der positiven humanistischen Kritik, welche ihn als den negierten Menschen zu negieren sucht.

5. Kapitel: = Arbeit.

Homo est animal labor ans — gegenständliches Gattungsleben Die Grundlegung der ,humanistisch en und naturalistischen Kritik' in der Wesensbestimmung des Menschen

Die verkehrte Welt ist ein geschlossener Zusammenhang von Widersprüchen. Der faktische, gegenwärtige Widerspruch zwischen Begriff und Realität, Vernunft und Wirklichkeit, Theorie und Praxis in den weltbildenden Bezügen von Mensch, Natur und Mitmensch liegt schon vom Standpunkt der Nationalökonomie aus unverhohlen vor Augen. Marx akzeptiert im ersten Schritt seiner Kritik ausdrücklich Sprache und Gesetze der Nationalökonomie (PM, 559), aber nur, um sie von ihren eigenen Voraussetzungen her zu zwingen, die Widersprüchlichkeit und Inhumanität ihrer Weltauslegung selbst einzugestehen. Zwar baut der frühe Entwurf eines ,vollendeten Humanismus' auf Ansätzen einer Kritik auf, welche die bürgerliche Ökonomie in ihrer heroischen Frühphase selbst geliefert hat.

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Dialektik der Entfremdung

Die Dialogik einer apagogischen Demonstration aber bringt zutage, warum die Nationalökonomie nicht dazu kommt, trotz der eingesehenen Widersprüche die Hypothesis der Identität von Wirklichkeit und Vernünftigkeit aufzugeben und die ewigen Wahrheiten des système monétaire für das Unvernünftige zu erklären. Um die Unmenschlichkeit der herrschenden Produktionsweise beurteilen und verurteilen zu können, fehlt ihr der kritische Maßstab, nämlich Einsicht in den prinzipiellen Zusammenhang von Arbeit, Gesellschaft, Geschichte. Sie ist blind für die wahre Bestimmung des Menschen. Die von Marx im ersten Pariser Manuskript zusammengestellten Exzerpte aus Klassikern der Nationalökonomie legen es nahe, den inneren Widerspruch der kapitalistischen Arbeitswelt unter dem Hinblick von vier ökonomischen Kategorien, von Besitz, Macht, Reichtum und Interesse, auszufalten. Es genügt, die aufgebrochenen Widersprüche thesenhaft anzuzeigen. Dem ökonomischen Begriffe nach kommt das Produkt ganz dem Arbeiter zu, weil Arbeit als Quelle von Eigentum und Besitz konzipiert und akzeptiert ist. In Wirklichkeit erhält der Arbeiter nur den kleinsten und unumgänglichsten Teil der Produktion, „der mit der simple humanité, nämlich einer viehischen Existenz, verträglich ist" (Adam Smith — PM, 511). Entsprechend hat der Arbeiter theoretisch die Macht, nämlich die unwiderstehliche Gewalt der Kaufkraft; denn der Nationalökonom erklärt, alles werde mit Arbeit gekauft und Kapital bedeute nichts als aufgehäufte Arbeit, une certaine quantité de travail amassé (PM, 526 u. ö.). Im Blick auf die gesellschaftliche Praxis dagegen „sagt er uns zugleich, daß der Arbeiter, weit entfernt, alles kaufen zu können, sich selbst und seine Menschheit verkaufen muß" (PM 516). Durch Verkauf seiner menschlichen Wesenheit, der Arbeitskraft, begibt er sich zwangsläufig seiner Macht und gerät in die Abhängigkeit eines Herrn, dessen einzige Legitimierung die Gesetze des Geldes und dessen einzige Macht die Kaufkraft des Kapitals sind. Auch für den inneren und äußeren Reichtum erkennt die bürgerliche Ökonomie die Arbeit und deren arbeitsteilige Produktivität als Ursache an. Dem Begriffe nach bedeutet Arbeit nicht mehr wie in Antike und Mittelalter ein Zeichen der Armut, sondern Quelle des Reichtums. In der Realität der Arbeitswelt aber verarmt sie den Arbeiter, indem sie ihn zur Maschine herabwürdigt und verelendet. Das gesteht die Nationalökonomie ebenso ein wie den Widerspruch zwischen Begriff und Wirklichkeit des ökonomischen Interesses. Während nämlich theoretisch das Interesse des Arbeiters niemals der Gesellschaft gegenübersteht, sondern der berühmten Metapher der .invisible hand' zufolge auf

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ein einziges organisches Ganzes zusteuert, steckt in praxi hinter der Rede vom Interesse an der Wohlfahrt aller ein verschleiertes System der Gesellschaft des Privat-Interesses' (PM, 515). Nun macht das von Marx zum Ausgange seiner Kritik angenommene Marktgesetz der Verdinglichung klar: Dieser vierfache Widerspruch wird durch den Arbeiter selbst ins Äußerste getrieben. Je mehr der Arbeiter produziert, desto weniger hat er zu konsumieren. Je mächtiger die Arbeit wird, desto ohnmächtiger wird der Arbeitsknecht. Je geistreicher die Arbeitsteilung gelingt, desto geistloser wird die Arbeitsverrichtung. Je enger sich der Arbeiter in das System der Privatinteressen integriert, desto unkritischer erliegt er den Interessen der Ausbeuter. Der ökonomische Widerspruch gewinnt daher seine realste Gestalt im Antagonismus zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Arbeitsherren und Arbeitsknechten, Gebildeten und Ungebildeten, Exploiteuren und Exploitierten. Solcher Antagonismus treibt das Mißverhältnis zwischen der wirklichen Unmenschlichkeit der im Geldsystem herrschenden Produktionsweise und der historisch möglich gewordenen menschlichen Gesellschaft ins Absurde, wenn es nicht gelingt, den Widerspruch der Dinge an der Wurzel zu fassen. Die Wurzel aller Dinge aber ist in der anthropologischen Reduktion der spekulativen Theologie der Mensch. Zur radikalen Beseitigung der Weltwidersprüche können die Erklärungen und Rezepte der bürgerlichen Ökonomie nicht verhelfen. Das hat Marx in seiner Aufklärung der aufgeklärten Nationalökonomie gezeigt. Die ökonomischen Aufklärer von Adam Smith bis Ricardo und James Mill haben den Widerspruch vor Augen und bejahen ihn zynisch. Sie können mit ihren Prinzipien die zerrissene Wirklichkeit auch gar nicht aufheben, weil ihr eigenes Prinzip das Prinzip dieser Zerrissenheit ist. „Indem sie das Privateigentum in seiner tätigen Gestalt zum Subjekt machen, also zugleich den Menschen zum Wesen und zugleich den Menschen als ein Unwesen zum Wesen machen, so entspricht der Widerspruch der Wirklichkeit vollständig dem widerspruchsvollen Wesen, das sie als Prinzip erkannt haben" (PM, 587). Die aufgeklärte Ökonomie fragt nach Wesen und Grund des Privateigentums. Sie sucht das Geheimnis des Privateigentums aus dem Bezug zu Wesen und Tätigsein des Menschen zu lösen. Sie begreift, daß die Grundlage oder das Subjektum von Eigentum, Reichtum und Besitz nicht etwas Objektives ist, etwa edles Metall oder Erde und Agrikultur, und verdammt Merkantilisten wie Physiokraten als ,Fetischdiener und Katholiken' (PM, 585). Die ökonomische Reformation durch Adam Smith, den ,nationalökonomischen Luther' (PM, 585), stellt

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das Privateigentum überhaupt nicht mehr als einen Zustand außer dem Menschen vor, sie erfaßt seine Form als getätigte Tätigkeit menschlicher Arbeit. Damit ist zugleich der Mensch zum Subjekt aller erwerbbaren Dinge gemacht. Und dessen Wesen kommt als die Selbständigkeit der Arbeit zum Vorschein, die sich in ihren Produkten bestätigt. Also scheint der arbeitende Mensch anerkannt und ein ökonomisch begründeter Humanismus geboren zu sein. Zugleich aber ist der Mensch in seinem Unwesen Subjekt der Dinge geworden. Die ökonomische Aufklärung verquickt sich mit Ursachen der Entmenschung. Sie stellt menschliche Arbeit und das Leben des Arbeiters eben nur abstrakt und einseitig in Rechnung. „Die Arbeit kommt nur unter der Gestalt der Erwerbstätigkeit in der Nationalökonomie vor" (PM, 518). Arbeit wird als Kostenfaktor verrechnet, um exklusiven Besitz zu verschaffen und zu vermehren. So fällt die Substanzialität des Menschen unter die Kategorie des Erwerbs und Habens. Der Wille des Selbstbewußtseins pervertiert zur Habsucht des Egoismus. Entsprechend verkehren sich Selbstzweck und Mittel, physisches und menschliches Sein des Arbeiters. Die , Gesetze' der Nationalökonomie degradieren den Arbeiter zum Mittel, um im Interesse des Privateigentums mehr Besitz, Reichtum, Macht zu erwerben. Sie veranschlagen den Menschen als Arbeitstier, das sich allein in seiner physischen und arthaften Existenz zu erhalten lohnt. „Die Nationalökonomie kennt den Arbeiter nur als Arbeitstier, als ein auf die striktesten Leibesbedürfnisse reduziertes Vieh" (PM, 520). Somit ist der Mensch zugleich in seinem Unwesen (in der Lebenstätigkeit als Erwerbstätigkeit) zum Wesen (zum Subjekt des Privateigentums) gemacht. Und darum kann auch eine aufgeklärte Nationalökonomie die widerspruchsvolle Zerrissenheit der Menschenwelt nicht aufklären. Sie macht ja selber einen Widerspruch zum Prinzip. Der Widerspruch der Wirklichkeit zwischen theoretischem Wesen und praktischem Unwesen entspricht genau einer Grundlegung, die das menschliche Wesen in seinem Unwesen zum Anfangsgrund erhebt. Marx entdeckt den nationalökonomischen Humanismus als die konsequente Durchführung der Verleugnung des Menschen unter dem Scheine der Anerkennung (PM, 586). „Erheben wir uns nun über das Niveau der Nationalökonomie" (PM, 518). Die frühe Grundlegung des Kommunismus bewegt sich nicht in der Dimension der bürgerlichen Ökonomie weiter fort. Angesichts dieser Tatsache wird die These, Marx sei ein Erbe der klassischen Ökonomie und vollende sie auf dem Niveau ihrer Prinzipien und Methoden, fraglich. Sie übersieht, daß jedenfalls die Pariser Manuskripte Sprache und Gesetzlich-

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keit der Ökonomie nur annehmen, um ihre Insuffizienz indirekt zu beweisen. Sicherlich kann Marx als der brillante Vollender der Arbeitswertlehre durch die Entdeckung des Mehrwertes angesehen und ihm ein fester Platz innerhalb der Geschichte der Nationalökonomie eingeräumt werden, aber der Marasche Anspruch auf Vollendung des Humanismus geht weiter. Die Kritik der politischen Ökonomie erhebt sich über die Stufe des bloß ökonomischen. Sie erkennt, daß die Nationalökonomie unkritisch, unpolitisch und undialektisch verfährt. Bürgerliche Ökonomie unterläßt die Frage, was die ökonomischen Kategorien aus dem Menschen und seiner Welt gemacht haben. Ihr ist es gleichgültig, ob und in welchem Ausmaße das ökonomische System Herrschaftsverhältnisse ausbildet. Sie kümmert sich nicht um das dialektische Motiv einer Aufhebung und Negation des Negativen; denn die Verhältnisse der Waren weit werden als objektive Tatbestände und ewige Gesetze angesehen und nicht als Entäußerungen der Arbeit und Entwirklichungen des Menschen. Demnach verharren die gängigen Kritikformeln, Marx überführe die klassische in eine politische Ökonomie, er wende die Dialektik auf Gegenstände der Nationalökonomie an, er historisiere spätestens seit dem ,Elend der Philosophie' deren ahistorische = metaphysische Konzeption, noch auf der Ebene der Ökonomie. Die Marxsche Grundeinsicht, die vorgeblich objektiven Weltbestände der Nationalökonomie seien in Wahrheit Äußerungen und Entäußerungen des politisch-gesellschaftlichen, geschichtlichen Subjekts, erschließen sich erst auf der Höhe einer neuen Humanismuskonzeption der neuen Philosophie. Und indem die positive humanistische Kritik im Prinzip der aufgeklärten Ökonomie den Widerspruch zwischen Verleugnung und Anerkennung des Menschen durchschaut, ist sie ja schon entschieden der philosophischen Grundfrage zugewandt: Was ist der Mensch? Die Antwort der ,neuen Philosophie' ist definitiv. Der Mensch ist gegenständliches Gattungswesen — homo est animal laborans. Dieser Bescheid ist sorgfältig zu bedenken. Überall da, wo die Marxschen Wendungen vom menschlichen Gattungswesen, von Vergegenständlichung und Entwirklichung, von der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit usw. nur nachgeredet werden, verflacht auch die Rede von der Dialektik der Entfremdung zu einem gedankenlosen und darum sich unbedenklich ausbreitenden Gerede. Der Mensch ist gegenständliches Wesen. Gegenständlich heißt jegliches Seiende, zu dessen Wesen es gehört, sich zu vergegenständlichen. Dazu zählt der Mensch, wenn er in seiner Unmittelbarkeit aufgenommen wird.

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„Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen" (PM, 650). Der Marxsche Humanismus als ein .durchgeführter Naturalismus' geht auf die Natur als den nächsten Herkunftsbereich des Menschen zurück und stellt den Menschen als ein Naturwesen neben Pflanze und Tier. In solchem Rückgang auf das genus proximum folgt er der Feuerbachschen anticartesianischen Berufung auf das, was unmittelbar gewiß ist. Das schlechthin Unzweifelhafte ist die leibhafte Sinnlichkeit. Was sonnenklar existiert, ist das sinnliche physische Naturleben. Unter dem Ansprüche der Gewißheit läßt sich der Mensch daher nur als Naturwesen unmittelbar feststellen. „Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe" (PM, 650). Die Aristotelische Tradition denkt Seele und Leben bekanntlich von der Beseeltheit und Lebendigkeit der Natur her und umgrenzt das naturhafte Leben als erste Entelechie, d. h. als wirkliches Lebenkönnen eines mit Organen ausgerüsteten Körpers. Es ist Leibniz, der die entelechia prima als vis primitiva denkt — als Kraft und Energie, die vermögend ist, von sich her als aus sich drängender Drang (appetitus) das wirkliche Lebenkönnen zu betätigen. Wie selbstverständlich kommen von daher bei Marx natürliche Lebendigkeit und Beseeltheit als Lebenskraft im Sinne von Trieb zur Sprache. Solcher Ansatz des Lebens als Kraft beseitigt die herkömmliche Auslegung allen Werdens durch die Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit und eröffnet die dialektischen Bezüge von Äußerung, Veräußerung und Wiederaneignung. „Lebenskraft" bedeutet mehr als bloße Möglichkeit. In Leibnizscher Sprache: vis activa primitiva meint mehr als nuda facultas. Kraft ist an ihr selbst und von ihr selbst Äußerung und Verwirklichung. Sie ist überhaupt nur da und wirklich-wirksam als ihre eigene Äußerung. Das muß im Vorblick auf die , Dialektik' der Arbeitskraft von Anfang an festgehalten werden. Wird der Mensch unmittelbar von seiner Lebendigkeit und diese vom Tätigsein der Kraft her gedacht, dann besteht in der Entäußerung menschlicher Lebenstätigkeit das wirkliche Dasein. Alle natürliche Äußerung der Lebenskraft ist Verwirklichung, nicht etwa Entwirklichung oder Veräußerung des Wesens. In diesem Sinne ist der Mensch .tätiges Naturwesen'. Seine ihm wesenhafte Kraft geht energisch in die Wirksamkeit ihrer Lebensvollzüge über, um darin wirklich präsent zu sein. Freilich macht das nur einen Teil der unmittelbaren Bestimmtheit des Menschen aus. Der Mensch ist ja nicht unbeschränkte Tätigkeit, actus purus, absolute Tathandlung. Zum erheblichen Teil ist er leibliches, be-

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schränktes Wesen, ,,d. h. die Gegenstände seiner Triebe existieren außer ihm, als von ihm unabhängige Gegenstände" (PM, 650). Die menschliche Kraft stellt sich als Bedürfnis heraus. Sie bedarf eines Worin ihrer Äußerung. Weil sie das Medium, worin sie sich verwirklichen kann, nicht von sich her aufbringt, ist sie auf etwas unabhängig Entgegenstehendes angewiesen. Der Trieb braucht einen Gegenstand, in dem er sich vergegenständlicht und befriedigt. Und ein lebendiges, sinnliches Wesen bedarf zu seiner Vergegenständlichung offenbar wirklicher, sinnlicher Gegenstände. Nun muß auch im Hinblick auf die Unabhängigkeit der .Außenwelt' von Anfang an die Marxsche Präzisierung mitgehört werden. „Aber diese Gegenstände sind Gegenstände seines Bedürfnisses, zur Betätigung und Bestätigung seiner Lebenskräfte unentbehrliche, wesentliche Gegenstände" (PM, 650). Das vom Subjekt der Lebenstätigkeit unabhängige Objekt, die Natur, ist seinsmäßig nichts als entgegenstehendes Möglichsein, worin sich die Wesenskräfte des Menschen wirklich betätigen und bestätigen können. In diesem Sinne bestimmt sich auch bei Marx die Objektivität der Welt aus dem Bezug zur Subjektivität. Freilich stellt sich die Wahrheit des gegenständlichen Seins von Anbeginn in eine Bewährung zurück, die in der Verwirklichung oder Entwirklichung der „Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte" (PM, 649) fällt. So aber scheint der Mensch schon in seiner unmittelbaren Nahrhaftigkeit zweigeteilt. Das .gegenständliche Wesen' nämlich ist teils tätig, teils leidend. Offenbar muß diese aller Endlichkeit anhängende Zwiespältigkeit naturalistisch, sie darf nicht idealistisch verstanden werden. Auch der Idealismus konzipiert ja die endliche Gegenständlichkeit des menschlichen Subjekts als ein Wechsel-Tun-und-Leiden. Aber der Idealismus versichert den Primat des Tätigseins. So führt die Deduktion der Substanzialität in Fichtes Wissenschaftslehre zum Resultat: Leiden ist nichts als geminderte Tätigkeit. Der Marxsche Naturalismus dagegen behauptet den Primat des Leidens. Er definiert den Menschen förmlich als .leidenschaftliches Wesen' (PM, 651). Das ist ausdrücklich ontologisch, nicht psychologisch gemeint. „Die Leidenschaft, die Passion ist die • nach dem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen" (PM, 652). Die Tätigkeit ist nichts als aufgebrochenes Leiden. Die Lebenskraft des Menschen bedarf des Ausbruchs in ein gegenständliches Medium, das Lebensmittel, damit sich ihr Wesen verwirklicht. „Die Herrschaft des gegenständlichen Wesens in mir, der sinnliche Ausbruch meiner Wesenstätigkeit ist die Leidenschaft, welche hier damit die Tätigkeit meines Wesens wird" (PM, 605).

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Leiden und Vergegenständlichung des gegenständlichen Wesens erläutert Marx am Beispiel des natürlichen Lebenstriebes, des Hungers. „Der Hunger ist das gegenständliche Bedürfnis eines Leibes nach einem außer ihm seienden, zu seiner Integrierung und Wesensäußerung unentbehrlichen Gegenstande" (PM, 651). Hunger kommt als mangelnde Erfüllung zum Bewußtsein und wird dadurch zum Leiden. Dieses Leiden mobilisiert den Lebenstrieb, der danach drängt, sich Gegenstände außer ihm einzuverleiben. Es ist das Innesein des Mangels, das zum energischen Streben nach etwas sinnlich Wirklichem außer mir führt. Der Lebenstrieb befriedigt sich nicht durch die Vorstellung ihn erfüllender Gegenstände. Er ist ganz darauf angewiesen, seine Kraft in wirklichen Gegenständen zu äußern und sich durch sie erhalten und bestätigen zu lassen. Kommt die Lebenskraft nicht aus sich heraus, so geht das Naturleben ein. Damit aber ist das gegenständliche Wesen immer noch nicht hinreichend festgestellt. Gegenständlichsein heißt nicht bloß, Gegenstände außer sich haben, sondern zugleich, selbst Gegenstand für anderes zu sein. „Gegenständlich sein und . . . Gegenstand . . . außer sich haben oder selbst Gegenstand . . . für ein drittes sein ist identisch" (PM, 650). Diese folgenreiche ontologische Konstellation bildet die unmittelbarste Bedingung dafür, daß sich Subjekte der Lebenstätigkeit aufeinander beziehen. Das gegenständliche Wesen wird eben dadurch, daß es sich in einem zweiten, dem Gegenstande außer ihm, verwirklicht, selbst Gegenstand für ein drittes. Indem sich die Lebenskraft in einem erwirkten Gegenstande bestätigt, wird sie mögliches Medium für die Betätigung und Bestätigung eines anderen gegenständlichen Wesens. So kreist die Vergegenständlichung des gegenständlichen Wesens zwischen dem eigenen Selbstsein, der Natur außer ihm und dem anderen Subjekt als einem dritten, für das es Gegenstand der Verwirklichung wird. Diese Verknüpfung erläutert Marx am naturhaften Wechselbezug von Pflanze und Sonne (PM, 651). Die Lebenskraft der Pflanze ist Trieb des Aufwuchses, des Blühens, des Früchtetragens. Sie bedarf, um wirklich gedeihen zu können, einer ihr gemäßen Umwelt, letztlich des Lichts und der Wärme der Sonne. Die Sonne als Medium, worin sich die Pflanze vergegenständlicht, ist in dieser Beziehung das zweite. N u n ist die vergegenständlichte Pflanze auch ihrerseits Gegenstand für ein drittes. Sie fungiert als fremdes Medium, worin sich eine andere Lebenskraft verwirklicht. Das bezeugt sich unmittelbar am Beispiel der Sonne. Wird die Sonne nicht mehr als Medium und Lebensmittel, sondern ihrerseits als Subjekt von Lebenskräften in Betracht gezogen, dann nimmt sie die Rolle des

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dritten ein, für das die sich vergegenständlichende Pflanze Gegenstand der Vergegenständlichung wird. Offenkundig bedarf auch das Wesen der Sonne, d. i. die lebenserwirkende Kraft überhaupt, zur Äußerung eines wirklichen Gegenstandes außer sich. Die Kraft der Sonne ist gegenwärtig im Gedeihen der Pflanze. Marx sichert diese genushafte Feststellung des Menschen als eines gegenständlichen Wesens durch einen indirekten Beweis. „Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen" (PM,651). Der Beweisgang erfolgt in zwei Schritten. Gesetzt, es gäbe ein ungegenständliches Wesen absoluter, vom Leidensbezug absolvierter Tätigkeit, dann wäre es das einzige Wesen; „es existierte einsam und allein" (PM, 651). Es hat ja keinen Gegenstand außer (extra/praeter) sich und kann nicht Gegenstand für ein anderes sein. Aus der Einzigkeit folgt sodann die Unwirklichkeit. Ein ungegenständliches Wesen kann sich nicht äußern und verwirklichen, weil ihm aller Bezug auf etwas außer ihm fehlt. Der Gedanke der Selbstäußerung eines wie auch immer gedachten einzig-einen Wesens (etwa der Spinozistischen substantia unica) führt sich selbst ad absurdum. Das Wesen des absoluten Denkens bleibt ein „nur gedachtes Wesen" (PM, 651). Das ungegenständliche Wesen ist ein leerer Begriff ohne Gegenstand — ens rationis im genauen Kantischen Verstände. Der „wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch" (PM, 649) dagegen ist gegenständlichen Wesens. „Aber der Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern er ist menschliches Naturwesen; d. h. für sich selbst seiendes Wesen, darum Gattungswesen, als welches er sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und betätigen muß" (PM, 652). Die spezifische Differenz, welche den Menschen von anderen Naturwesen abhebt, besteht darin, Gattungswesen zu sein. Nun hat Gattungswesen bei Marx eine vielfache und vom simplen Feuerbachschen Terminus unterschiedene Bedeutung. Bei ihrer Erörterung kommt es darauf an, durch Distinktion Klarheit zu verschaffen. Wichtiger aber ist noch die Aufgabe, den Zusammenhang der gesonderten, ineinander fundierten vierfachen Bedeutung von Gattung in der Marxschen Bestimmung des Menschen zu entwickeln. Physisch betrachtet, teilt der in Leben und Tod mit dem Naturlauf verwachsene Mensch das Gattungsleben mit dem Tier. Dabei meint Gattung das arthaft Allgemeine in Relation zum individuell Einzelnen, Leben die Entzweiung und Auflösung des Allgemeinen im besonderen Einzelnen und Tod die Wiederherstellung der Gattung durch Nichtung des Einzelnen im Absterben seiner Besonderheit. „Der Tod scheint als ein

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harter Sieg der Gattung über das bestimmte Individuum und ihrer Einheit zu widersprechen; aber das bestimmte Individuum ist nur ein bestimmtes Gattungswesen, als solches sterblich" (PM, 598). Marx rettet die Einheit von Individuum und Gattung angesichts der Sterblichkeit der Individuen nach Hegelschem Muster. Das Individuum ist seinem Wesen nach Gattungswesen und der Tod nur ein Moment im einheitlichen Prozeß der Erzeugung des Allgemeinen im Einzelnen und der Auflösung des Einzelnen im Allgemeinen. Paradoxerweise kommt der Tod im Denken von Karl Marx allein in solcher Dialektik des physischen Gattungslebens vor. Die phänomenologisch naheliegende Differenz zum tierischen Verenden, das menschliche Sterben als Sein zum Tode, verschwindet in einer Perspektive, welche Leben als Tätigsein und Zukünftigkeit als geplante Weltbemächtigung versteht. Daher versetzt Marx den eigentümlichen Unterschied des menschlichen naturhaften Gattungslebens in das Ausmaß, in welchem sich Leben von der Natur nährt. Während das Gattungsleben des Tieres auf einen je bestimmten Lebensbereich eingegrenzt bleibt, eignet dem Menschengeschlecht Universalität. Es hat das Ganze der Natur, Pflanzen, Tiere, Steine, Luft, Licht usw. zum Gegenstande seiner theoretischen und praktischen Lebenstätigkeit. Das Tier produziert nur sich selbst, der Mensch reproduziert die ganze Natur, weil er sich „die Gattung, sowohl seine eigene als die der übrigen Dinge zu seinem Gegenstande macht" (PM, 566). Wird dieser Sachverhalt in Rücksicht auf das Selbstverhältnis thematisiert, dann kommt die Bedeutung des Gattungswesens als Selbstbewußtsein zur Sprache. Der Mensch ist für sich, indem er sich als Allgemeines weiß und im bewußten Unterschied von individuellem und gattungshaftem Sein lebt. Er ist ja nicht mit seiner individuellen Lebenstätigkeit identisch, so daß er sie einfachhin auslebt. Er unterscheidet sich von ihr und wird, sofern er sich als Individuum zu sich als Gemeinwesen verhält, selbstbewußte Lebenstätigkeit. „Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen" (PM, 567). Marx bindet Selbstbewußtsein, Fürsichsein und Freiheit an ein Gattungsleben, in welchem das Individuum sich als Allgemeines und zugleich von diesem unterschieden weiß. Aufgrund dieses Unterschiedes ist der Mensch nicht einfach tätig und seiend, sondern seines Seins und Tätigseins bewußt. „Er ist nur ein bewußtes Wesen, d. h. sein eigenes Leben ist ihm Gegenstand, eben weil er ein Gattungswesen ist" (PM, 567). Und nur aufgrund dieser bewußten Selbstunterscheidung kann er sich frei zu sich

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als einem zu verwirklichenden Allgemeinen verhalten. „Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit" (PM, 567). Wie und worin aber kann sich die selbstbewußte und freie Lebenstätigkeit des Menschen vergegenständlichen? Eine tiefer dringende Frage nach der Bedeutung von Gattung bei Marx fragt nach der Wirklichkeit und Verwirklichung freier und selbstbewußter Lebenstätigkeit. Unter dem Geleit dieser Frage bestimmt sich das Gattungswesen zum gesellschaftlichen Subjekt durch. „Wenn der Mensch sich selbst gegenübersteht, so steht ihm der andere Mensch gegenüber" (PM, 569). Das ist die Neuauflage des idealistischen Satzes, der Mensch sei nur Mensch unter Menschen. Aber Gesellschaftlichkeit wird nun nicht mehr als notwendige Bedingung für die Möglichkeit der zuhöchst gewissen Einheit des Selbstbewußtseins deduziert. Die Feststellung des Menschen als eines sozialen Wesens bei Marx leuchtet nur ein, wenn das Selbst- und Gattungsbewußtsein in der spezifischen Wirklichkeit eines gegenständlichen Wesens beansprucht und der naturalistische Eigensinn der Vergegenständlichung beachtet wird. Im Fürsichsein weiß und will sich das Einzelwesen als Gemeinwesen und das Gemeinwesen als Einzelwesen. Die angespannte Kraft dieses sich wissenden und wollenden Selbstverhältnisses ist wirklich, wenn sie sich entäußert und vergegenständlicht. Sie kann aber nur gegenständlich werden, wenn sie sich in einem Gegenstande auswirkt, der nicht nur ein anderes Wesen außer dem Selbstbewußtsein, sondern zugleich dasselbe ist, nämlich sich wissende und wollende Einheit von Individuum und Gattung. Das ist der andere Mensch. „Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst (ist) ihm erst gegenständlich, wirklich durch sein Verhältnis zu dem anderen Menschen" (PM, 570). Das Gattungsbewußtsein betätigt und bestätigt sich im gesellschaftlichen Sein. Und weil jegliche Vergegenständlichung im anderen zugleich bedeutet, Gegenstand für ein anderes zu sein, ist der Mensch nur Mensch unter Menschen. Von der Korrelation der Vergegenständlichung kann Marx konstatieren: Das Gattungsbewußtsein verwirklicht sich im reellen Gesellschaftsleben, und das Gattungssein bestätigt sich im Selbstbewußtsein; es ist wirklich, wenn der Mensch als Gemeinwesen zu sich selbst gekommen ist. Uber die Art aber, in welcher das menschliche Gattungswesen geschichtlich real wird, entscheiden die Wirklichkeiten der gesellschaftlichen Realität. Gattungswesen meint mithin alles andere als ein den einzelnen Individuen innewohnendes Abstraktem. Gegen die Feuerbachsche formallogische Vorstellung des Gattungswesens als einer inneren, stummen, die vielen Individuen natürlich verbindenden Allgemeinheit formuliert die 6.

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Feuerbachthese: „In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (MEW 111,6). Nun findet sich aber das Gattungswesen des Menschen keineswegs unmittelbar adäquat verwirklicht. Weil es nicht wirklich ist, sondern erst verwirklicht werden soll, ergibt sich für die Bedeutung des Gattungsseins ein vierter, abschließender Sinn, die Geschichtlichkeit des Menschen. „Weder die Natur — objektiv — noch die Natur subjektiv ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden" (PM, 652). Objektive Natur umfaßt alles, was außer uns von sich her vorliegt, subjektive Natur alles, was dem Menschen von Natur aus mitgegeben ist, nämlich seine Sinne und naturhaften Triebe. Deren Wirklichkeit stimmt nicht mit dem gesellschaftlichen Wesen des Menschen überein. Unmittelbar entspricht die objektive wie subjektive Natur dem Eigensinn des Habens, und die geschichtliche Wirklichkeit hat die unmittelbare Inadäquatheit zum offenen Widerspruch gesteigert. Macht nun die Ubereinstimmung von vorgestelltem Wesen und wirklicher Sache (adaequatio intellectus et rei) den Sinn der Wahrheit aus, so kommt die Anfangsthese der humanistischen Kritik neu zur Sprache: Die gegenwärtige Welt ist die unwahre Welt als geschichtlich zu verändernde. Der Mensch lebt sein Werden und seine Naturgeschichte nicht geradehin. Er übernimmt es als geschichtliche Aufgabe. Geschichte ist für den Menschen im Grunde sein „mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt" (PM, 562). Geschichtlichkeit ist eine fundamentale Bestimmung menschlicher Lebenskraft. Sie bedeutet den lebendigen Trieb (appetitus), Menschlichkeit dadurch zu erzeugen, daß die unmittelbare Inadäquatheit und die entstandenen Widersprüche von menschlichem Wesen und unmenschlicher Wirklichkeit aufgehoben werden. Aus der Geschichtlichkeit erwächst die weltgeschichtliche Aufgabe, die Wahrheit ins Werk zu setzen, d. h. die Ubereinstimmung des gesellschaftlichen Gattungswesens mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch Negation der historischen Unwahrheit bewußt entstehen zu lassen. Der Sinn von Geschichte prägt die Bestimmung des Menschen: die Selbsterzeugung von Menschheit und Wahrheit als weltgeschichtliche Aufgabe. So klärt sich der Marxsche Begriff des Gattungswesens in einer vierfachen Bedeutung von Gattung auf: 1. physisch als Gattungsleben in der Dialektik des Entstehens und Vergehens, des Todes und Lebens von Individuum und Gattung, 2. geistig als Selbstbewußtsein in der sich wissenden und wollenden Unterscheidung von Einzelnem und Allgemeinem,

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3. sozial als Gesellschaftlichkeit in der Verwirklichung der gegenständlichen Lebenskraft des Menschen unter Menschen, 4. geschichtlich als Selbsterzeugung des Menschen in seiner Wahrheit im Sinne der Ubereinstimmung von sozialem Wesen und sozialer Wirklichkeit. Und die rechte Aufklärung summiert nicht einfach die gesonderten vier Bedeutungen zum Wesen des Menschen, sie gründet Gattungsleben, Selbstbewußtsein, Gesellschaftlichkeit aufeinander und in ihre Wurzel, die Geschichtlichkeit menschlicher Lebenstätigkeit, zurück. Die Spitze der Marxschen Explikationen aber zielt auf die Feststellung des Menschen als eines arbeitenden Wesens. Der einheitliche Vollzug von gegenständlichem Wirken und Gattungsleben ist die Arbeit. Sie avanciert jetzt ausgewiesenermaßen zur spezifischen Lebenstätigkeit des Menschen. Sinngemäß liegt solche Wesensbestimmung aller Unterteilung in produktive und unproduktive, körperliche und geistige, gelernte und ungelernte Arbeit zuvor und zugrunde. Ihre Erörterung erhebt sich auch über das Niveau der nationalökonomischen Arbeitstheorie und parteilicher Klassenund Klassenkampfbegriffe. Die grundlegende Darlegung der Arbeit entspricht der Wesensbestimmung des Menschen durch Einigung aller ihrer Momente. Darum kann Marx die Namen ,Mensch' und .Arbeiter' synonym gebrauchen, um von dieser Gleichsinnigkeit her den Proletarier als entfremdeten Arbeiter herauszuheben. Zunächst und vor allem erfüllt die Lebenstätigkeit der Arbeit den Grundzug der Vergegenständlichung und Entäußerung einer Kraft. „Die Arbeit (ist) nur ein Ausdruck der menschlichen Tätigkeit innerhalb der Entäußerung, der Lebensäußerung als Lebensäußerung" (PM, 623). Das menschliche Grundvermögen ist Arbeitskraft. Sie vor allem bedarf, um in ihrer Äußerung dazusein, eines Gegenstandes außer ihr als Lebensmittel und Medium ihrer Vergegenständlichung. Erst im getätigten Werk bestätigt sie sich selbst. Arbeiten heißt sonach Am-Werke-sein des Menschen als eines solchen. Als gegenständliches Wesen heißt der Mensch Werktätiger im strengen Sinne. Als menschliches Tun ist Arbeit .werktätiges Gattungsleben' und erfüllt den vollen vierfachen Sinn des Gattungswesens. Physisch betrachtet, vollbringt Arbeit in universaler, freier Lebenstätigkeit die Reproduktion der Natur. Unter dem Geleit des Gattungsbewußtseins wirkt sie als bewußtes, die Zukunft planendes Handeln. Der Wirklichkeit nach ist sie gesellschaftliche Tätigkeit. Durch Arbeit erzeugt der Mensch nämlich nicht nur das Verhältnis zum Gegenstand als seinem Werk, im gesellschaftlichen

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Tun erzeugt der Arbeiter den Zusammenhang der Mitwelt. Unter dem Hinblick der Geschichtlichkeit schließlich bedeutet Arbeit den Prozeß der Selbsterzeugung. Dabei sollte klar sein, daß diese berühmte Formel nicht etwa ontisch in der Manier von Engels mit Rücksicht auf biologische Evolutionstheorien, sondern ontologisch in kritischer Rücksicht auf Hegels Konzept der Arbeit als dialektischem Prozeß der Selbsterzeugung des Menschen entworfen ist. In dieser Hinsicht ist sie jedenfalls von Marx in den ,Pariser Manuskripten' angesetzt worden. Arbeit als geschichtliche Lebenstätigkeit des Gattungswesens Mensch gedacht, bedeutet wesentlich und radikal das Wegarbeiten des entfremdeten Menschseins in einer unwahren Welt.

6. Kapitel: Entfremdete Arbeit. Bedeutung und Struktur Seit dem griechischen Anfang überragt das Denken das Arbeiten. Die Theorie steht über der Praxis, die Philosophie über der Politik, die vita contemplativa über der vita activa. Bei den Griechen gilt Arbeit nichts. Sie ist die verachtetste von allen menschlichen Tätigkeiten, und der Arbeiter gehört zum niedrigsten sozialen Stand. Das Denken dagegen gibt sich das Ansehen, die freieste und würdigste aller menschlichen Verrichtungen zu sein. Kein Zweifel, Marx hat dieses vor ihm kaum angetastete Rangverhältnis aufgelöst. Die Marxsche Theorie stellt — in einer der Durchblick verschaffenden Formeln Hannah Arendts gesprochen 144 — nicht so sehr Hegel auf die Füße als die traditionelle Hierarchie von Denken und Handeln, Kontemplation und Arbeit, Philosophie und Politik auf den Kopf. Genauer erwogen, findet indessen auch hier keine bloße Umstülpung statt, welche das Unterste einfach zuoberst kehrt. Die Marxsche Analyse hilft nicht der verachteten Arbeit auf, indem sie diese als die produktivste und schöpferischste aller menschlichen Tätigkeiten verherrlicht. Marx bricht mit der ihm wohl vertrauten griechischen und aristotelischen Tradition des Praxisbegriffs. Dadurch, daß der Marxsche Ansatz der Arbeit die Aristotelische Unterscheidung von Poiesis und Praxis im engeren Sinne unterläuft, wird die überlieferte Hierarchie von Kontemplation und Arbeit, Denken und Tun, Theorie und Praxis wesenlos. 144 Vgl. Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Frankfurt a. M . , o. J . , Tradition und Neuzeit S. 9 — 45.

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Praxis hat die allgemeine Struktur: etwas verrichten im Hinblick auf etwas. Im Verhältnis zu dem zu Verrichtenden, dem Telos, heben sich zwei Gestalten der Praxis ab, Praxis im engeren Sinne und Poiesis. Das eine ist ein Tätigsein wie das Flötenspielen, das gerechte Handeln oder das Denken, das andere wie das Bauen eines Hauses oder das Herstellen einer Silberschale. Das Tätigsein des Bauens ist eine Bewegung und Handlung, deren Telos aus der Bewegung herausfällt. Das Worumwillen der Bautätigkeit ist das Haus und nicht das Bauen selbst. Das erstellte Werk steht am Ende der Tätigkeit neben ihr und ist ein anderes als sie selbst. In der Poiesis fallen das Am-Werke-sein (ένέργεια) und dessen Telos, das Werk (έργον), auseinander. Das ist bei der Praxis im engeren Sinne, dem Spielen, ethischen Handeln, kontemplativen Verhalten, anders. In dieser Art Bewegung und Handlung liegt das Telos in der Bewegung selbst. Beim Flötenspielen ist der Vollzug des Spielens schon das Werk. Das ergon ist offenkundig hier nicht ein anderes Seiendes neben und außer der Tätigkeit, die Handlung hat Sinn, Maß und Ziel in ihr selbst. Praxis im strengen Sinne meint also diejenigen Tätigkeiten des Menschen, die nicht bloßer Weg und Mittel für anderes, sondern selbst schon Zweck, Anwesenheit und Vollendung sind. Sie haben deshalb den höheren Seinscharakter. Zumal die energeia des Denkens und die Vollzüge der Theorie stehen im Ansehen von Lebenstätigkeiten, in denen der Mensch sein Menschsein vollbringt. Das Arbeiten dagegen ist diejenige Dienstleistung und Werktätigkeit, welche den Menschen in seiner Versklavung an die Notwendigkeit hindert, sein Werk als Mensch zu tun. Die griechische, von Aristoteles ontologisch befestigte Architektonik der Uberordnung und Unterordnung menschlicher Tätigkeiten hat sich trotz mannigfacher Ubermalungen bis Hegel durchgehalten. Auch die stoische Sinngebung der Arbeit, Pein und Mühsal (πόνος) bilde den Weg zur Tugend, beläßt die Arbeit in ihrer Dienststellung, und die mittelalterliche Scheidung von Tun (agere) und Arbeiten (facere) verweigert dem Arbeitenden eine eigene perfectio: non est perfectio facientis, sed facti. Selbst die .bürgerliche', nationalökonomische Aufwertung der Arbeit als produktive Tätigkeit und die Abschätzung aller praxeis im engeren Sinne (Spiel, ethisches Handeln, Betrachten und Denken) als unproduktives Tun verläßt die Ordnung der Hierarchie nicht, sie kehrt sie einfach um. Hegel erst stellt und löst die Aporie von Arbeit und Handeln: Das Tätigsein im Stile der Praxis hat seine Erfüllung in sich selbst, aber es vergegenständlicht sich nicht; die Tätigkeit der Poiesis vergegenständlicht sich, aber sie erfüllt sich nicht für den Tätigen, sondern im Werk, in

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welchem die Tätigkeit erlischt. Hegel löst dieses Dilemma dialektisch auf 145 . Arbeit ist beides, Vergegenständlichung und Selbsterfüllung, und zwar darum, weil sich das Tätige im Werk entäußert, aber eben durch diese Entäußerung zu sich selber kommt. Der den Gegenstand Formierende schaut im Formierten sein eigenes Formieren an. Die spekulative Lösung faßt den Begriff der Arbeit offenbar als eine der Arbeiten des Begriffs. Sie operiert mit der dialektischen Vermittlung der SubjektObjektbezüge, und sie versteht die menschliche, leibliche, gesellschaftliche Arbeit als ein Moment in der alles aufhebenden Versöhnungsarbeit des Geistes. Marx ist Erbe Hegels auch in dieser Sache. Aber er stellt die geistvolle Spekulation der Arbeit auf die faktische Vergegenständlichung der Arbeitskraft in der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit der verkehrten Welt und auf die Lebenstätigkeit des gegenständlichen Gattungswesens Mensch zurück. Er gibt der Dialektik der Arbeit eine neue Dimension, die der Entfremdung. Arbeit bei Marx ist nicht, wie selbst Adam Smith noch glaubt, Jehovas Fluch und Adams Plage, in welcher der Mensch seine Ruhe, Freiheit und sein Glück zum Opfer bringt. Die späteren G r u n d risse' kritisieren diese philosophische Arbeitshypothese von Adam Smith. Sie erinnern an das Bedürfnis des Menschen als eines gegenständlichen Wesens nach Vergegenständlichung durch Arbeit. Sie verstehen das Formieren des Gegenstandes als Bestätigung der Freiheit, und sie fassen das Telos, den Zweck der Arbeit, als einen selbstgesetzten Zweck auf, in dem sich das Tun verwirklicht. „Ferner die äußren Zwecke . . . Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts, daher reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit, ahnt A. Smith ebensowenig" (GKÖ, 505). Marx folgt also nicht einem bei Adam Smith aufgelesenen Begriff der produktiven Arbeit. Und seine neue Fassung der Vergegenständlichung läßt auch nicht den Hegeischen Vermittlungsversuch verfallen, indem sie die Aristotelische Ordnung einfach dadurch umkehrt, daß sie die Arbeit als wahrhaft menschliche Lebenstätigkeit behauptet. Arbeit ist die Praxis und Poiesis, facere und agere, Spiel und Lohnarbeit in sich verschmelzende mensch145

Das haben die Arbeiten von M. Riedel immer wieder herausgestellt. Vgl. Objektiver Geist u n d praktische Philosophie. In: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankf. a. M. 1969 S. 29ff. Artikel .Arbeit'. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. München 1973. Bd. I, S. 130-135. Die hier angefügte These, Marx radikalisiere den von Adam Smith eingeführten Begriff der Produktivität und ersetze den Hegeischen Vermittlungsversuch durch eine einfache Umkehrung des traditionell-aristotelischen Schemas, vereinfacht das Verhältnis von Marx zu Adam Smith (vgl. G K Ö , 505 ff.) und die Marasche Antidialektik von Vergegenständlichung und Entfremdung.

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liehe Lebenstätigkeit und ineins extrem entmenschtes Leben. Dem Begriffe nach äußert die Arbeit ihre Kraft und vergegenständlicht sich die menschliche Wesenheit in der Wirklichkeit des Werkes. Sie vermittelt energeia und ergon, indem das Tun Mittel für das getane Werk und das Werk Mittel für die Betätigung des Tuns ist. Der Tat und geschichtlichen Wirklichkeit nach aber ist solche Verwirklichung Entwirklichung der Arbeit und des Menschen. Was Marx entdeckt, ist der dialektisch untilgbare Widerspruch in dieser Vermittlung. Die Arbeit entgegenständlicht sich in ihrer Vergegenständlichung. Die menschliche Lebenstätigkeit entwirklicht durch ihre Verwirklichung den Menschen. Der Schein einer dialektischen Versöhnung weicht der Realität der Entfremdung. Die Marasche Untersuchung der Arbeit ist eine Analyse der menschlichen Selbstentfremdung. Diese hebt deutlich vier Strukturmomente der entfremdeten Arbeit heraus: 1. 2. 3. 4.

die die die die

Entfremdung Entfremdung Entfremdung Entfremdung

des Arbeitenden vom Produkt, der produzierenden Tätigkeit selbst, von der menschlichen Gattung, des Menschen vom Menschen.

Das ist oft genug nacherzählt worden. Der Versuch aber, diese Explikation zu rechtfertigen, steht noch aus, obwohl die Fundierungsverhältnisse vor Augen liegen. Ist die entfremdete Arbeit nichts anderes als der Vollzug menschlicher Selbstentfremdung, dann hat ihre Analyse der Struktur der menschlichen Wesensbestimmung zu folgen. Und offensichtlich stammen die Momente der entfremdeten Arbeit aus der herausgefundenen Wesensbestimmung des Menschen als eines gegenständlichen Gattungswesens (PM, 561 - 5 6 9 ) : 1. Die Arbeit entfremdet sich im Produkt, in welchem sich das gegenständliche Wesen vergegenständlicht. 2. Entfremdet ist das Produzieren selbst als gegenständliche Lebenstätigkeit des Menschen. 3. Die Entwirklichung der Arbeit als universaler und freier Lebenstätigkeit betrifft den Menschen als allgemeines und selbstbewußtes Gattungswesen. 4. Die Entfremdung des Menschen vom Menschen negiert den Menschen als ein soziales und geschichtliches Gattungswesen.

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Folgerichtig entwickelt der naturalistische Humanismus die entfremdete Arbeit von dem her, dessen Entfremdung und Entwirklichung sie ist, vom Wesen den Menschen. Am handgreiflichsten zeigt sich die entfremdete Arbeit als Veräußerung des Menschen im Sinne des gegenständlichen Wesens. Jegliches gegenständliche Wesen bestätigt sich im Gegenstande als dem Worin seiner Lebenstätigkeit. Der Mensch als Arbeiter hat so im Verhältnis zu seinem Produkt das wesentliche gegenständliche Verhältnis. Darum drängt sich im Entzug des Arbeitsprodukts die menschliche Entfremdung zuerst auf. Der Mensch verwirklicht sich selbst, indem er seine produktive Kraft vergegenständlicht und im Produkt bestätigt und aneignet. „Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Aneignung als Entfremdung" (PM, 561). Die im Produkt verwirklichte Arbeit kommt als Ware in den Besitz des Nichtarbeiters und gerät in die eigenmächtige Zirkulation des Geldsystems. Daher tritt der Gegenstand der sich in ihm vergegenständlichenden Arbeit als eine fremde Macht entgegen. „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber" (PM, 561). Die fremde Macht verhält sich feindlich, sofern eben in einem ungehemmten Geldsystem die Vermehrung der Produkte die Existenz des Produzierenden bedroht. „Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. Je größer also diese Tätigkeit, um so gegenstandsloser der Arbeiter" (PM, 562). Somit gerät der Arbeiter in eine doppelte Abhängigkeit. Er hängt als gegenständliches Naturwesen von der feindlichen Macht der Gegenstände ab, ohne die er weder existieren noch sein Wesen betätigen kann. Die Entwirklichung bedroht Existenz und Essenz gleichermaßen. Sie entwirklicht den Menschen „bis zum Hungertod" und entzieht ihm die Möglichkeit, sein Wesen ins Werk zu setzen. Wird der Verlust der Gegenständlichkeit näher, d. h. im Blick auf das gegenständliche Ganze der Natur betrachtet, so zeigt sich der Tatbestand eines umfassenden Entzugs. Die Natur entzieht sich dem Arbeiter im doppelten Sinne von Lebensmittel: als Mittel physischer Subsistenz und als Medium der Wesensverwirklichung. Sie hört auf, dem Menschen zum Erhalt des Daseins und zum Stoff zu dienen, an welchem sich die Arbeit verwirklicht. Der von Descartes ausgerufene Bemeisterer der Natur wird zum ,Naturknecht' (PM, 563). In diesem Zuge der Entwirklichung steckt bereits die Entfremdung der Lebenstätigkeit als einer solchen. Von der Entfremdung des Arbeits-

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produkts ist solche Selbstentfremdung nicht zu trennen. Die Arbeit hat eben ihr Telos nicht im äußeren Werk, so daß ihre Tätigkeit gleichgültiges Mittel wäre. Sie hat ihren Sinn und Zweck wie das Spiel in sich selbst, und das Werk ist nichts als der Spiegel ihres Eigenlebens. Das Verhältnis zum Werk (έργον) resümiert das Verhältnis, in welchem der Werktätige zum Vollzug (ένέργεια) seines Tuns steht. „In der Entfremdung des Gegenstandes resümiert sich nur die Entfremdung, die Entäußerung in der Tätigkeit der Arbeit selbst" (PM, 564). Deshalb muß die Entwirklichung tiefer in der produzierenden Tätigkeit selbst gesucht werden. Ihrem Wesen nach soll Arbeit freies und universales Tun oder menschenwürdiger Lebensvollzug sein. Im nationalökonomischen Zustande dagegen stellt sich Arbeit als Dienstleistung der Erwerbstätigkeit dar, und die ist dem Arbeiter ganz äußerlich. Während der Arbeit ist der Arbeiter nicht bei sich, sondern außer sich, und zwar so, daß er sein Leben selbst entäußert. Das entäußerte Arbeiten weist die drei Charaktere der Zwangsarbeit, der Hilfsarbeit und der Fremdarbeit auf. Es ist Plage, bloßes Mittel und fremder Befehl. Das zerstückte Arbeiten entwickelt so wenig physische und geistige Energie, daß es vielmehr den Leib kasteit und den Geist ruiniert. Es ist Mühe und Plage in außerbiblischem Sinne. Und solche Zwangsarbeit stammt keineswegs, wie die antike Uberlieferung lehrt, aus der Versklavung des Menschen an die Notwendigkeit und macht schon gar nicht das Wesen menschlicher Arbeit aus. Daß der Mensch die Arbeit meidet wie die Pest, ist Indiz ihrer Entfremdung und Ausdruck ihres Unwesens. Darum trägt die Arbeit auch nicht den Lohn in sich selbst. Sie ist zur Lohnarbeit in dem Sinne geworden, daß man sie um des Lohnes als eines Mittels willen auf sich nimmt, durch das Bedürfnisse, wie Essen, Trinken, Wohnen außer der Arbeit befriedigt werden können. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern fungiert als Mittel für ein Mittel, das Lohngeld. Und schließlich ist die entwirklichte Arbeit keine Selbsttätigkeit. Weil sie zur Ware geworden und verkauft ist, wirkt die eigene Tätigkeit als eine fremde auf den Arbeitenden ein. Diese dreifache Entartung indiziert, wie der Arbeitsprozeß, in welchem der Mensch seine Arbeitskraft äußert, eben diese seine Wesensmöglichkeit entäußert. Die Tätigkeit der Entäußerung ist die Entäußerung der Tätigkeit (PM, 564). Soweit ist die Zergliederung der entfremdeten Arbeit dem .gegenständlichen Wesen' im Zuge seiner Entgegenständlichung gefolgt. Der Mensch ist entgegenständlicht, wenn das Produkt seiner Tätigkeit zu einem ihm fremden Gegenstand und die gegenständliche Natur zu einer ihm feindlichen Warenwelt geworden sind. Er verliert seine gegenständliche

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Lebenskraft, wenn der Vollzug des Arbeitens seinen eigenen Sinn verliert. Dabei ist zu beachten: Der Arbeiter wird nicht etwa bloß durch Entzug des Produktes seinem gegenständlichen Wesen entfremdet, er produziert diese Entfremdung selbst. Zugleich bringt eine Analyse der Entfremdung an den Tag, in welchem Maße der Mensch als Gattungswesen verkümmert. „Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1) die Natur entfremdet, 2) sich selbst, seine eigene tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung" (PM, 566—67). Die Entwirklichung des menschlichen Gattungswesens folgt aus den bisher aufgedeckten Entfremdungsverhältnissen. Dabei ist zunächst das Gattungsleben in seiner physischen und geistigen Bedeutung, mithin als universale und bewußte Tätigkeit, in Betracht zu ziehen. Der Mensch lebt sein Gattungssein bewußt, insofern er sich als Individuum entschieden zu seinem eigenen allgemeinen Wesen verhält. Er bewährt sein Gattungswesen, indem er frei vom physischen Bedürfnis und universal, die ganze Natur reproduzierend, produziert. Wirkliches Gattungsleben vergegenständlicht sich im Ganzen einer von ihm formierten Welt. Es findet seine Erfüllung in einer Bewegung, in welcher sich der Mensch „werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut" (PM, 568). In entfremdeter Arbeit aber löst sich die Einheit von Individuum und Gattung auf. Solche Entfremdung versperrt eine wirkliche und werktätige, d. i. nicht bloß intellektuelle .spekulative' Aneignung des in die Welt gelegten Gattungslebens. Erscheint somit das produktive Leben nurmehr als Mittel zur Befriedigung physischer Existenz, dann wird das abstrakte, vom Gattungssein abgezogene individuelle Leben der Zweck und die vom Individuum gelöste, abstrakte Gattungstätigkeit zum bewußten Mittel menschlichen Daseins. Damit stellt sich heraus: Die Entfremdung des Gegenstandes und der gegenständlichen Natur hat Konsequenzen für das universale Gattungswesen. Der Mensch kann die Natur nicht nach dem inhärenten Maß des Gegenstandes, schon gar nicht nach Gesetzen innerer Schönheit, durchgestalten. Sein Produzieren folgt dem Diktat der Ausbeutung einer ihm fremd gewordenen Natur. Und die Selbstentfremdung des Arbeitsaktes schlägt auf die gattungshafte Werktätigkeit durch. Die geistige, selbstbewußte Lebenstätigkeit verödet und degeneriert zum Organ und Mittel für physisches, individuelles Uberleben. „Die entfremdete Arbeit macht also: 3) das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz" (PM, 568).

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„Eine unmittelbare Konsequenz davon, daß der Mensch dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen" (PM, 569). Das leuchtet ein, sofern der Sinn von Gattung und Gesellschaftlichkeit bedacht bleibt. Das Gattungswesen gewinnt ja seine Wirklichkeit primär dadurch, daß es sich im Verhältnis zu anderen Menschen vergegenständlicht. N u n drückt sich jede Art gattungshaften Selbstverhältnisses im Modus gesellschaftlicher Verhältnisse aus. Folglich findet auch und vor allem das gebrochene Selbstverhältnis im Zustande entfremdeter Arbeit seinen realen Bestand in einem verzerrten Gemeinwesen. „Es ist daher ein identischer Satz, daß der Mensch sich selbst entfremdet, und daß die Gesellschaft dieses entfremdeten Menschen die Karikatur seines wirklichen Gemeinwesens, seines wahren Gattungslebens sei" (Exz.M.; MEW Erg. 1,451). Erst in der Entfremdung des Menschen vom Menschen erfährt der Begriff der entfremdeten Arbeit die ganze Härte seiner Wirklichkeit. Die Realität des entwirklichten Gattungswesens besteht aktual im Ausbeutungsverhältnis von Arbeitsherr und Arbeitsknecht. Diese Einsicht zieht aus der ökonomischen Entfremdung die Konsequenzen für die politische Realität und schafft für die kategoriale Relation von Herr und Knecht und für das brisante Gebiet der Soziodialektik eine neue Grundlage. Die Fundamentalthese lautet: „Alle Knechtschaftsverhältnisse (sind) nur Modifikationen und Konsequenzen dieses Verhältnisses" (PM, 573), nämlich der Arbeit zur Produktion. Das fremde Wesen, in dessen Dienst, Macht und Ausbeutung der Arbeitsknecht gerät, ist der Mensch, nicht die Natur oder die Götter. Durch die Entwirklichung seines gegenständlichen Lebens ist der Mensch Naturknecht geworden, durch die Entfremdung des Gattungslebens wird er Menschenknecht. Und die Macht des Menschen über den Menschen relativiert und nivelliert sich nicht mehr durch die Macht der Götter über Herren und Knechte. Auch die Entmachtung der Götter beruht bei Marx auf einem geschichtlichen Faktum. Die Wunder der Götter sind durch die Wunder der Industrie überflüssig geworden. Mithin bleibt der andere Mensch als ein Herr übrig, der über Arbeitsknechte Macht hat und daraus Genuß zieht. Als Privateigentümer des Gegenstandes, der für den Proletarier zur fremden und feindlichen Macht wird, gewinnt der Herr indirekt Macht über den Knecht. Und er zieht für sich Genuß aus einem Arbeitsverhältnis, in welchem der Knecht sich mit einer Produktion abquält, deren Gewinn dem Herrn überlassen bleibt. So ist der Herr derjenige, „in dessen Dienst die Arbeit und zu

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dessen Genuß das Produkt der Arbeit steht" (PM, 570). Unzweifelhaft unterliegt auch der Arbeitsherr der Dialektik solcher Herrschaft. Im bloß passiven Genießen fällt der Nichtarbeitende in die Abhängigkeit der von ihm Abhängigen zurück. Auch er ist im Grunde Knecht des Knechtes. Er am allerwenigsten kann sich im Werk bestätigen. Und wie der Knecht gerät auch er unter die Macht der Sachen und die Gesetze des Marktes. So läßt sich die von Hegel ermittelte Dialektik von Herrschaft, Macht und Genuß auf ihre ökonomischen Quellen zurückleiten. Aber keine ökonomische Theorie schöpft aus ihnen selber politische Konsequenzen. Eine politische Ökonomie, die sich um ihre Prinzipien kümmert, muß in die philosophischen Grundlagen der Entfremdungsdialektik zurückreichen. So vertieft Marx die klassische .Hauswirtschaft' zur politischen Ökonomie durch Kategorien der philosophisch-humanistisch durchdrungenen Arbeit. Und er erhebt die Aufhebung der entfremdeten Arbeit zum Programm eines vollendeten Humanismus = Naturalismus. Dessen Durchführung wird zeigen : Mit der Hierarchie von Denken und Arbeiten, Theorie und Praxis, Philosophie und Politik stürzt auch die ,alte Dialektik' des Selbstbewußtseins zusammen.

7. Kapitel: Rückkehr zum neuen Menschen — ,Emanzipation Privateigentum etc., und Knechtschaft'

vom

Umgangssprachlich meint der Name .Entfremdung' das Fremdwerden vormals vertrauter Verhältnisse. Die Redewendung ,Wir sind uns fremd geworden' resümiert den Vorgang, in welchem eine frühere Einheit verlorengegangen ist. Er betrifft das Verhältnis zwischen befreundeten Menschen und überhaupt das Heimischsein in der Welt. Die Aufhebung der Entfremdung vollzieht sich als Rückkehr zu neu gewonnener Ubereinstimmung. Dieser Bewegung entspricht der philosophische Sinn der Entfremdung. Er bedeutet Emigration und Rückkehr. In der entfremdeten Arbeit ist der Mensch dem Menschen und der Natur fremd geworden. In der Aufhebung der Entfremdung kehrt er zu sich, zum neuen, gesellschaftlichen Menschen zurück. Solche Reintegrierung bedarf der menschlichen Emanzipation als ,Emanzipation der Gesellschaft vom Privateigentum etc., von der Knechtschaft' (PM, 573); denn die Entfremdung stellt sich sinnlich umfassend in der Gestalt des Privateigentums dar. Privateigentum (an Produktionsmitteln) institutionalisiert den Prozeß der menschlichen Entfremdung.

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Daher wird die Abschaffung des Privateigentums durch Sozialisierung von Produktionsmitteln zum vordringlichen Programmpunkt eines kommunistischen Humanismus. Wortgetreu besagt Kommunismus die Position des commune in Negation des privatum als Prinzip für die Reintegrierung des Menschen. ,Privatum* bezeichnet das je Eigene, das man nur hat, indem man es nicht mit anderen teilt, sondern diese davon ausschließt. Das commune dagegen kennzeichnet ein Gemeinsames, das man nur dadurch hat, daß man andere daran teilhaben läßt. So definiert Moses Heß im Abschnitt ,Socialismus und Communismus' der Einundzwanzig Bogen': „Nur dasjenige ist wahrhaft mein eigenes, unverletzliches Eigenthum, welches zugleich ein allgemeines Gut ist. Ein besonderer, individueller Besitz . . . kann mir selbst nur durch Beraubung aller Anderen eigenthümlich sein" (Phil, und soz. Sch., 202). Privation von Wesensmöglichkeiten der anderen, das ist der Grundzug des Privateigentums, den Proudhons Parole ,1a propriété, c'est le vol' trifft. Indessen, die Rede von der Vergesellschaftung des Privateigentums ist eine vorläufige, wenngleich geläufige Nominalerklärung des Kommunismus. Eine bloß ökonomisch verstandene Sozialisierung von Produktionsmitteln wird ihrem Anspruch erst gerecht, wenn durch sie die Rückkehr des entfremdeten zum gesellschaftlichen Menschen glückt. Die simple Abschaffung des Privateigentums, die ,Enteignung der Enteigner', kann nicht Selbstzweck, sie muß Mittel für die Aufhebung der Entfremdung sein. Ihr dialektischer Erfolg' hängt davon ab, ob die sozialisierten Produktionsmittel für die Betätigung und Bestätigung einer freien menschlichen Lebenstätigkeit bereitgestellt werden oder in eine neue Form der Verfügungs- und Herrschaftsgewalt übergehen. Daher sind die Position des Privateigentums von der entfremdeten Arbeit und ihre Negation von der »Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen' (PM, 593) unabtrennlich. Prima facie scheint das Privateigentum, also derjenige exklusive Besitz des nichtarbeitenden Arbeitsherrn, welcher den Arbeitenden seiner Lebensmittel beraubt und vom Genuß seiner Produkte und der Freiheit seines Produzierens ausschließt, Grund und Ursache der entfremdeten Arbeit zu sein. „Aber es zeigt sich bei Analyse dieses Begriffs, daß, wenn das Privateigentum als Grund, als Ursache der entäußerten Arbeit erscheint, es vielmehr eine Konsequenz derselben ist, wie auch die Götter ursprünglich nicht die Ursache, sondern die Wirkung der menschlichen Verstandesverwirrung sind" (PM, 572). Der Ursprung menschlicher Entfremdung wird nochmals in Analogie zur religiösen Entfremdung bedacht. Wie die

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Götter nicht G r u n d , sondern Folge der religiösen Selbstentfremdung sind, so ist auch das Privateigentum nicht Grund, sondern Folge einer gesellschaftlichen Verwirrung. Worin aber besteht die Sinnesverwirrung, in welcher das Privateigentum als Macht und Wesen erscheint, von dem der es produzierende Mensch besessen ist? Die Antwort des Marxschen Humanismus besitzt kategoriale Tragweite. „Der Mensch — dies ist die Grundvoraussetzung des Privateigentums — produziert nur, um zu haben. Der Zweck der Produktion ist das Haben. . . . Der Mensch produziert nur, um für sich zu haben" (Exz. M.; Erg. I, 459). Das Privateigentum wurzelt mithin darin, daß der Mensch wesenhaft durch das Haben bestimmt ist. Die Kategorie des Habens betrifft eigendich dasjenige Seiende, das der Mensch ist. Sie ist von allen Kategorien am meisten .anthropologisch'. Daher erstaunt es nicht, daß in einer sich auf Anthropologie reduzierenden Philosophie das Haben kategorial vordringlich wird. Freilich konzentriert sich dabei die vielfache Bedeutung des Habens auf eine Grundbedeutung: Haben bedeutet Eigentum und Besitz haben. Es trennt sich vom überkommenen Sinn des Tugend-Habens und des Wissen-Habens als demjenigen ausgezeichneten Verhalten (εξις, habitus), in welchem der Mensch Halt und Bestand gewinnt. Was das entfremdete Dasein auszeichnet, ist sein persönliches Eigentum. Das Privateigentum macht sein ihn persönlich auszeichnendes, darum sein wesentliches Dasein aus. Die Substanz des entfremdeten Menschen ist das, was er hat. In der Verkehrung von Substanz und Haben verkehren sich Mensch und Menschenwelt. Daß Marx den Sinn von Haben und den Habensinn kategorial und nicht psychologisch oder ökonomisch denkt, zeigt der Verweis auf Moses H e ß : „Uber die Kategorie des Habens siehe Heß in den Einundzwanzig Bogen'" (PM, 599). In den 1843 von Georg Herwegh herausgegebenen Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz' proklamiert Moses Heß eine Philosophie der Tat als geschichtlich fällige Synthesis der Fichteschen atheistischen Autonomie des Geistes und der Babeufschen kommunistischen Autonomie der Gesellschaft in radikaler Negation von Religion, Staat und Politik. Solche Vereinigung von persönlicher Freiheit und sozialer Gleichheit im wirklichen Leben erhebt den neuzeitlich gedachten ,tätigen Geist' zum Prinzip. Dessen Wesen und Arbeit ist das Wirken, nicht das Werk. Seine Maxime lautet: Keine Beschränkung, in welcher sich der Geist entäußert, darf fixiert und als Eigentum materialisiert und aufgespeichert werden; alle äußerlichen Schranken sind in Selbstbeschränkungen umzuschaffen. Dieser Grundsatz läßt das materielle Eigentum als

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äußere Schranke erscheinen und stellt es auf die Stufe der Reflexion zurück, in welcher das Subjekt das Objekt seiner Tätigkeit nur als das wirklich Andere hat und es festhält, um sich nicht ins Endlose zu verlieren. So aber wandeln sich Tat und Freiheit zu Sein und Haben. Sein, das Bestehen und Fortbestehen in äußerlicher Beschränktheit, und Haben, das Bestandgewinnen im materiellen Eigentum, werden zu Hauptwörtern des Lebens. Die Hilfszeitwörter ,ist' und ,hat' zeigen an, was äußerlich da ist und was wir vorübergehend und am Rande haben. Als Hauptwörter sprechen das Sein und das Haben aus, was wahrhaft und substanziell ist. Es ist der Wille zum Sein, der sich zur Habsucht steigert, und es ist die Verkehrung von Lebenstätigkeit und Sein, von Tathandlung und Haben, welche die verkehrte Welt einrichtet. „Es ist eben die Seinsucht, die Sucht nämlich, fortzubestehen als bestimmte Individualität, als beschränktes Ich, als endliches Wesen — die zur Habsucht führt. . . . So wurden aus den //¿7/izeitwörtern //¿«/«Zeitwörter, . . . und so wurde, was zur wandelnden Peripherie gehört, zum bleibenden Mittelpunkt gemacht; ja, so wurde die Welt auf den Kopf gestellt!" (Philos, und soz. Schriften, 225). Dieser von Moses Heß herausgestellte kategoriale Wandel des akzidentellen Sinnes von Haben zum substanziellen Habensinn ist für Marx der Ursprung des Privateigentums. Zwar blieb der geschichtliche Tiefgang des ontologischen Bedeutungswandels vom Ich-bin der Tathandlung zum Ich-habe der Sein- und Habsucht ungedacht, wohl aber hat die radikale ,Emanzipation von Privateigentum und Knechtschaft* mit dem Faktum dieser kategorialen Verschiebung gerechnet. „An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten" (PM, 599). Die ursprünglich einigende Einheit ist nicht mehr das Welt erschließende Ich-stelle-vor, sondern das besitzanzeigende Ich-habe-etwas. Der ganze Reichtum des innerweltlich Begegnenden kommt nurmehr als mögliches und wirkliches Besitzstück in Betracht. Das andere ist das Meine, alles Gut wird zum Hab und Gut, der vorherrschende Sinn von Sein ist Haben. Die Sucht des Habens erstreckt sich mit allen Sinnen auf alles. Sie ist Anhaben und Einverleiben, Bewohnen und Besitzen, in Gebrauch Nehmen und Aufspeichern von Welt. Der ,gesunde' Sinn für das Haben verwandelt den endlos ausgreifenden Willen des Ich in ein Mehrund-Mehr-Habenwollen. So bringt diese Pleonexie die reiche Allsinnigkeit des Menschen zum Verschwinden. In der neuen Philosophie meint ,Sinn' nicht ausschließlich die physischen Sinne, also die fünf äußeren Sinne und den inneren Sinn der Selbstwahrnehmung im Unterschied zu den ,oberen

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Erkenntnisvermögen'. Der Terminus umfaßt gleichermaßen die geistigen und praktischen Sinne wie Liebe, Wille usw. . . . Er benennt das menschliche Vermögen überhaupt, sich zur Wirklichkeit zu verhalten. Ist die Basis der Wirklichkeit Sinnlichkeit, dann kann das Grundvermögen alles wirklichen Weltverhaltens mit Recht Sinn genannt werden. Der herrschende Sinn des Habens aber verarmt Mensch und Menschenwelt, indem er an die Stelle aller physischen und geistigen Sinne tritt. Der Habensinn des possessiven Subjekts entfremdet die unbefangene äußere Wahrnehmung der Natur, das interesselose ästhetische Schauen der Kunst, das Freilassen der Liebe, den verbindenden Sinn der Sprache. Er läßt alles Innerweltliche als potentielles Eigentum begegnen, selbst Werke der Kunst oder Mitglieder der Familie. Steht es so, daß die Macht des Privateigentums das Haben zu ihrer Grundvoraussetzung hat, dann setzt die Aufhebung des Privateigentums im Grunde die Negation des Habensinns voraus. Dieser Konsequenz weicht die Marxsche Kritik nicht aus. „Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften" (PM, 599). Solcher Ansatz erklärt, warum die Negation der Entfremdung nicht auf dem Wege des ökonomischen und politischen Kommunismus ans Ziel kommen kann. Faktische Abschaffung des Privateigentums ohne Emanzipation des Habensinns bildet nur einen halben Weg der Reintegration des Menschen. Der Einwand bestimmt vor allem die von Proudhon eingeleitete Polemik gegen den ,rohen Kommunismus'. Dieser hebt zwar das Privateigentum tatsächlich auf, aber er überführt lediglich den exklusiven in einen allgemeinen Besitzstand und besiegelt die Herrschaft des Privateigentums dadurch, daß er den Habensinn universalisiert. Was der rohe Kommunismus negiert, ist alles, was nicht alle haben können, etwa natürliche Begabung, erlesenen Geschmack, individuelle Liebe, elitäre Bildung — Güter des Glücks und der privaten Bildung. Solch abstrakte Negation ,der ganzen Welt der Bildung und Zivilisation' vernichtet die Eigentümlichkeit des ausgezeichneten Individuums, und zwar „auf gewaltsame Weise" (PM, 591), etwa durch den Zwang von Uniformierung, Gleichschaltung, Kollektivierung. Mit der gewalttätigen Einrichtung solchen Nivellierungswerkes ist der rohe Kommunismus zweifellos eine der durchgreifendsten Verwirklichungen des von Kierkegaard enthüllten Zeitgeistes. Was dieser Kommunismus poniert, ist das allgemeine Eigentum anstelle des privaten und den totalitären Habensinn anstelle des singulären. Er bricht die Exklusivität des Habens, indem er die Habsucht verallgemeinert. Diesen Prozeß erläutert Marx am Beispiel des natürlichsten und

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verletzlichsten aller Gattungsverhältnisse, am Verhältnis von Mann und Frau. Der rohe Kommunismus hebt die bürgerliche Ehe auf. Unter der Kategorie des Habens erscheint sie ihm als ein Verhältnis ausschließenden Eigentums und privater Prostitution. Er will das exklusive Besitzverhältnis aufheben, indem er die Weibergemeinschaft proklamiert. In ihr aber wird aus dem Privatbesitz des Weibes ein gemeinschaftlicher Besitz, sofern nicht der Sinn des Habens aufgehoben ist. Im Grunde bedeutet die Gesinnung des rohen Kommunismus für Marx einen Triumph des Neides. Mit dieser These nähert sich die Dialektik der Entfremdung den Entdeckungen der existenzialen Phänomenologie. Sie stößt auf die Verdeckungen des Daseins durch Nivellierung, Abständigkeit, Einebnung in der Existenzweise des Man. Und sie lehrt, den Neid als mitweltliche Kategorie der Warenwelt zu denken und die verkehrte Welt des Kapitalsystems im Daseinssinn des Habens festzumachen. Der Neid ist die nivellierende Grundform, in welcher die Habsucht sich befriedigt. Sie ist zufrieden, wenn keiner mehr hat und dadurch mehr ist als alle anderen. „Der rohe Kommunismus ist nur die Vollendung dieses Neides" (PM, 591). In dieser Phase folgt die kommunistische Gewalt der Diktatur des Neides. Sie unterdrückt die sinnliche Erscheinungsform, aber sie beseitigt nicht die Grundvoraussetzung des Privateigentums. Sie negiert nicht das Entfremdende des Eigentums, sie versetzt es lediglich aus der Form des Privaten in die des Kommunen. „Die erste positive Aufhebung des Privateigentums, der rohe Kommunismus, ist also nur eine Erscheinungsform von der Niedertracht des Privateigentums, das sich als das positive Gemeinwesen setzen will" (PM, 593). Auch die weiterführende politische Umwälzung hebt die Entfremdung nicht vollständig auf: „der Kommunismus α) noch politischer Natur, demokratisch oder despotisch; ß) mit Aufhebung des Staates, aber zugleich noch unvollendetem und immer noch mit dem Privateigentum, d. h. der Entfremdung . . . affiziertem Wesen" (PM, 593). Diese erstaunliche Einschränkung gilt für einen politischen Kommunismus im engeren Sinne — sei es in der Gestalt einer Demokratie, die den Willen des ganzen Proletariats ausdrückt, oder einer Parteidiktatur von Berufsrevolutionären, antizipierend gesprochen: sei es im Kommunismusverständnis von Rosa Luxemburg oder von Lenin — wie für die Aufhebung des Staates, die jede Art von Klassenherrschaft zunichte macht. Bemerkenswert an dieser prognostischen Analyse ist die Einsicht: Die Bewegung der Reintegration oder Rückkehr des Menschen in ein menschliches, d. h. gesellschaftliches Dasein kommt allein durch politische Umwälzungen, ja selbst durch die

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Aufhebung des Staates nicht ins Ziel. Zwar verlangt Marx für eine Rückkehr aus der Entfremdung ausdrücklich, daß sich der Mensch aus den falschen Bindungen von Religion, Familie und Staat löst, aber eine bloß politische Ablösung überkommener Verfassungs- und Herrschaftsstrukturen negiert den Sinn des Privateigentums nicht gründlich genug. Diese These wiederholt konsequent die anfängliche Emanzipationstheorie. Weder die rein ökonomische noch die politische Emanzipation können ohne menschliche Emanzipation die Widersprüche der Warengesellschaft und der entfremdeten Arbeitswelt aufheben. Dieser Grundsatz gilt für die ökonomische Kommunisierung der Sachenwelt, d. h. für die äußerliche Abschaffung von Privateigentum, Geldkapital, Lohnarbeit, Arbeitsteilung und eine gleichmäßige Verteilung der Arbeitsprodukte ebenso wie für die politische Kommunisierung der Mitwelt, d. h. für das Zerbrechen der »bürokratisch-militärischen Maschinerie', das Absterben des ,Schmarotzerauswuchses Staat', das Ausgleichen der Klassenunterschiede, die Uberleitung der Ehe in den rechtsfreien Raum der Freundschaft usw. „Der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung — die Gestalt der menschlichen Gesellschaft" (PM, 608). Das Ziel der Reintegration ist die Rückkehr aus der Entfremdung in eine neue Form der Assoziation, welche alle im Sinn des Privateigentums wurzelnde Dissoziation auflöst. Auch das Werk einer radikalen Aufhebung des Antagonismus zwischen fortschreitender Industrie und wachsendem Elend, Produktivkräften und sozialen Verhältnissen, allgemeiner gesprochen: zwischen Individuum und Gattung, Mensch und Natur, Mensch und Mensch ist Vergegenständlichung menschlicher Kräfte. Es bedarf also, streng gedacht, zu seiner Verwirklichung der freien Auswirkung eines erneuerten Vermögens gesellschaftlicher Lebenstätigkeit. Ein radikales Denken, das auf den Menschen als den Wurzelgrund aller Dissoziation und Assoziation zurückgeht, muß für die Rückkehr aus dem entfremdeten in einen neuen gesellschaftlichen Zustand den neuen Menschen postulieren. „Wir wissen, daß die neuen Kräfte der Gesellschaft, um gutes Werk zu verrichten, nur neue Menschen brauchen" (Die Revolution von 1848 und das Proletariat. In: Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär. Berlin 1928 S. 41). Die neue Welt ist nur durch eine Umschaffung des Menschen zu erschaffen. Offenkundig bewegt sich die Marasche Rede vom ,neuen Menschen' in Bahnen der Uberlieferung. Sie folgt dem Humanismus des Selbstbewußtseins, sofern dieser auf eine Revolution der menschlichen Gesinnung herausläuft. Der .vollendete Humanismus' des frühen Marx scheint die

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humanistische Idee zu verwirklichen, wie sie in Kants Hoffnung auf eine Wiedergeburt des Menschen durch eine Revolution der Denkungsart oder in Schillers Rückzug auf die Erziehung zur Kunst als ,unsre zweyte Schöpferin' ethisch und ästhetisch angelegt war. Auf diesem Wege zielt auch die von Moses Heß proklamierte Umkehrung der Krämer- und Schacherwelt als der praktischen Schein- und Lügenwelt (vgl. Uber das Geldwesen; Philos, und soz. Schriften, 329—348) auf eine neue Verbindung von Sittlichkeit und Gemeinschaft (Einundzwanzig Bogen; 1. c., 225). Die kommunistische Rückkehr zum neuen Menschen hängt an einer Revolution der Sinnesart. Eine dauerhafte Emanzipation von Privateigentum und Knechtschaft im Reiche der Freiheit braucht vor allem eine Emanzipation vom Sinn des Habens und die Befreiung zum allsinnigen Menschen. „Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften; aber sie ist diese Emanzipation gerade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv, geworden sind" (PM, 599). Menschliche Emanzipation ist Befreiung von der Diktatur des Habensinns und Entfaltung aller Sinne in Bezug auf das Objekt sowohl wie das Subjekt menschlicher Lebenstätigkeit. Der Sinn ist objektiv menschlich geworden, wenn er das Objekt freistellt und nicht mehr a priori als Besitzstück deklariert. Dadurch verhält sich die Sache menschlich zum Menschen. Die Sachenwelt steht einer allsinnigen Aneignung frei und eröffnet sich einem neuen Sinn des Selbstgenusses, weil ihre Gegenstände die sich in ihnen entäußernden Wesenskräfte widerspiegeln. Ist der Sinn in Rücksicht auf das Objekt menschlich geworden, dann weilt das Auge beim farbigen Abglanz des Lebens, dann gewinnt sich die Liebe durch das Sichverlieren im Geliebten wieder, dann verwindet die Sprache den entwürdigenden Dialog von Angebot und Nachfrage 146 . Die Welt erhält den reichen Sinn menschlicher Selbstbejahung zurück. 144

Die Entfremdung der Sprache im Zusammenhange mit der Emanzipation von Privateigentum und Knechtschaft verdiente eine besondere Untersuchung (vgl. „Die einzig verständliche Sprache, die wir zueinander reden, sind unsere Gegenstände in ihrer Beziehung aufeinander. Eine menschliche Sprache verständen wir nicht, und sie bliebe effektlos; sie würde von der einen Seite als Bitte, als Flehen und darum als eine Demütigung gewußt, empfunden und daher mit Scham, mit dem Gefühl der Wegwerfung vorgebracht, von der andren Seite als Unverschämtheit oder Wahnwitz aufgenommen und zurückgewiesen werden. So sehr sind wir wechselseitig dem menschlichen Wesen entfremdet, daß die unmittelbare Sprache dieses Wesens uns als eine Verletzung der menschlichen Würde, dagegen die entfremdete Sprache der sachlichen

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Subjektiv gefaßt, ist der Sinn menschlich geworden, wenn das Subjekt der Lebenstätigkeit ausdrücklich gesellschafdich agiert. Der neue Mensch hat einen anderen Sinn als der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft im System des Egoismus. „Die Sinne des gesellschaftlichen Menschen (sind) andere Sinne wie die des ungesellschaftlichen" (PM, 601). Der ungesellschaftliche Sinn ist bei allem Reichtum des Habens im Grunde arm. Er engt sich auf den kümmerlichen Genuß des Besitzens und Verzehrens ein. Der gesellschaftliche Sinn dagegen ist reich und allsinnig. Solchen Sinneswandel erläutert Marx am Beispiel des ästhetischen Sehens. In diesem Zusammenhange kommt beim frühen Marx die gesellschaftliche Bedingtheit des ästhetischen Zustandes zur Anzeige. Das interesselose Wohlgefallen und freie Spiel ästhetischen Verhaltens ist ein gesellschaftlicher Sinn. Frei wird der Sinn für das Schöne erst, wenn er vom Sinn des Habens erlöst wird. Ästhetische Freiheit ist zuerst Unabhängigkeit von den Trieben der Habsucht. Das gilt für das Seinlassen des autonomen Kunstwerkes im Betrachten wie für das Reproduzieren der Natur überhaupt nach ihren inneren, ästhetischen Gesetzen. Der Habensinn kennt nur Gebrauchs- und Tauschgüter, der Krämergeist hat nur einen Warensinn. Erst der gesellschaftlich gewordene Sinn stellt das Schöne sorglos in seinem Scheinen frei. So ist es nicht allein die planmäßige, vorherbestimmende Kontrolle der Gesellschaft über die Produktion, die Trennung von Arbeit und Beruf, also von einer festgesetzten sozialen Tätigkeit, oder die Bemächtigung der Natur durch assoziierte Produzenten, welche die polybukolische Lebensführung erlaubt, .morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, oder auch das Essen zu kritisieren, ohne Jäger, Fischer, oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe'. Erst die Aufhebung des menschlichen Habensinns im .reichen und tief allsinnigen Menschen' ermöglicht die radikale Aufhebung des Privateigentums und eröffnet den versöhnten gesellschaftlichen Zustand im Reiche der Freiheit. Der gesellschaftliche Zustand befreit von den Antithesen, in denen der Mensch als ein gegenständliches Wesen verstrickt ist. Er hebt die Gegensätze von Subjekt und Objekt, Tätigkeit und Leiden nicht nur bewußtseinsmäßig, sondern dem Dasein nach auf. Dann nämlich steht der Gegenstand als das Worin der Vergegenständlichung nicht mehr feindlich dem Subjekt entgegen. Im gesellschaftlichen Zustand gibt das Objekt den Reichtum der Werte als die gerechtfertigte, selbstvertrauende und sichselbstanerkennende menschliche Würde erscheint" (Exz. M . ; Erg. I, 461)).

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menschlichen Sinne ungebrochen wieder. Und die Subjektivität der Lebenskräfte bemächtigt sich nicht mehr des Objekts als bloßen Mittels der Produktionssteigerung. Im gesellschaftlichen Zustand formiert das Subjekt das Objekt nach dessen inhärenten Gesetzen. Entsprechend löst sich der Widerstreit zwischen dem Prinzip des Spiritualismus, dem selbstbewußten Tätigsein, und dem des Materialismus, dem sinnlich-leiblichen Leiden; denn gesellschaftliches Tun und Leiden werden nicht mehr durch Entwirklichung bedroht. Nur unter der Herrschaft des Privateigentums entzieht sich die zweifache Bedeutung von Lebensmittel der Energie des .leidenschaftlichen Wesens', und nur der Habensinn entstellt Tätigkeit zum Erwerb und Leiden zum Verlust von Hab und Gut. „Man sieht, wie Subjektivismus und Objektivismus, Spiritualismus und Materialismus, Tätigkeit und Leiden erst im gesellschaftlichen Zustand ihren Gegensatz und damit ihr Dasein als solche Gegensätze verlieren" (PM, 602). Die zirkelhafte Rede von der Rückkehr zum neuen, allsinnigen Menschen durch den neuen Menschen ist, sobald man sie herausgestellt hat, auch schon in Frage gestellt worden. Die Forderung, durch Reintegration des Menschen die entfremdete Welt richtigzustellen, habe zwar geschichtliche Wirklichkeiten der Entfremdung, nicht aber die notwendigen Bedingungen für die Möglichkeit ihrer Aufhebung vor Augen. Marx sei gegenüber den menschlichen, moralischen und religiösen Voraussetzungen der menschlichen Wiedergeburt blind, und der vollendete Humanismus sei von der abstrakten Formel des gesellschaftlichen Gattungswesens als Sinn des neuen Menschen befriedigt147. Nun hat aber doch die Marasche Reintegrationslehre gerade die religiösen und politisch-ökonomischen Bedingungen für die Heraufkunft des neuen Menschen klargemacht. Sie sind geschichtlich notwendige, wenngleich nicht hinreichende Phasen für die Rückkehr des Menschen zu sich. Der neue Mensch und seine Welt brauchen die Abschaffung des Himmels, die Durchstreichung der religiösen Selbstentfremdung, die Loslösung von Familie und Staat, die Beseitigung des Privateigentums und der ihm anhängenden Herrschaftsstrukturen. Letztlich aber braucht es eine Sinnesänderung, die das possessive, produzierende Subjekt radikal in ein anderes Subjekt verwandelt. Erst wenn die Bedeutung des Habens in ihre akzidentelle Stellung zurückgeht und der Substanzialität freier Lebenstätigkeit wieder Raum gibt — neuzeitlich formuliert: wenn das Willenswesen sich von der Habsucht befreit —, kann 147

Vgl. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen (II. Marx). 5. Aufl. Stuttgart 1967. S. 40ff.

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der neue Mensch die .guten Werke' der reintegrierten Gesellschaft tragen. Sonst bleibt eben das Privateigentum in seiner Grundvoraussetzung, der daseinsbeherrschenden Kategorie des Habens, in Kraft. Auf solche Bedingungen der Rückkehr pochen die .Pariser Manuskripte', auch wenn sie den geforderten Wandel von Wesen und Wahrheit nicht überdenken, weil er sich unbedacht im Marxistischen Humanismus vollzieht. Die .Grundrisse' von 1857—58 werden eine letzte Bedingung proponieren, welche das ,neue Subjekt' ermöglicht: die „Aufhebung des Gegensatzes zwischen freier Zeit und Arbeitszeit" (GKÖ, 599). Ausgang dieses Entwurfes ist der abstrakte Gegensatz von unmittelbarer Arbeitszeit und freier Zeit, „wie sie vom Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie aus erscheint" (ibid.). Diesen Gegensatz hebt eine .wirkliche Ökonomie', d. i. die Ersparung von Arbeitszeit, auf. Und dieser Vorgang wahrt den dialektischen Charakter einer doppelten Negation. Zunächst vermehrt die ersparte Arbeitszeit die freie Zeit und vernichtet dadurch ein Quantum Zwangs- und Lohnarbeit. Weil aber die freie Zeit die Entwicklung des Individuums in seinem Wesen als Produktionskraft fördert, wirkt sie sodann befreiend auf den unmittelbaren Produktionsprozeß zurück. Am Ende verschwindet der gravierende Unterschied zwischen freier Zeit und entfremdeter Arbeitszeit in der vollen Spanne freier Lebenstätigkeit. Worauf es hier ankommt, ist die Metamorphose des .Trägers' der Arbeit. Die freie Zeit verwandelt den Zeit-Besitzer in ein anderes Subjekt. „Die freie Zeit — die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit ist — hat ihren Besitzer in ein andres Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß" (GKÖ, 599). Tiefer ist die Marxsche politische Ökonomie und Anthropologie nicht mehr gedrungen. Trotz ihrer emanzipatorischen Reduktionen bleibt sie dem Cartesianischen Vorverständnis von Welt, Zeit und Sein verhaftet. Auch die ,menschliche Emanzipation' trägt die Kantische Hypothek, die auf der neuzeitlichen Dialektik lastet, nicht ab. Gewiß hat die Zurückfiihrung der theoretisch-mathematisch erschlossenen Körperwelt auf die Verweisungszusammenhänge der Warenwelt die Existenz des Menschen in seiner Welthaftigkeit mitthematisch gemacht, dennoch ist wie bei Kant ein Cartesianischer Weltbegriff leitend geblieben. Welt (naturhafte Körperwelt wie geschichdiche Menschenwelt) wird als theoretisch zugängliches und praktisch manipulierbares Ganzes von Produktionsverhältnissen in die Berechnung des Willens genommen. Entsprechend bietet sich die Zeit dar. Es ist immer noch der Vorschein der physikalischen Jetzt-Zeit, welcher die

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aufgedeckten Einzelzüge existenzialer Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit überlagert. Das liegt nicht zuletzt an der ökonomischen Verklammerung menschlicher Zeit. In dieser Rücksicht läßt sich der Zeitablauf des Daseins quantitativ von entfremdender Erfüllung frei machen und die Zukunft durch Planung und Terminierung von Produktionsabläufen steuern. So wird Zeit immer noch, obzwar jetzt als Wielange einer von belastender Arbeit erlösten Dauer, abgemessen und in eine Verplanung der Zukünftigkeit eingewiesen, welche durch ökonomisierung des Tag- und Nachtwerkes das menschliche Subjekt in eine absolute Freiheit seiner Lebenstätigkeit setzen will. Solche Emanzipation trägt den Sinn von Sein als Vorhanden- und Gegenständlichsein für ein setzendes Subjekt aus, gerade dann, wenn die Subjekt-Objekt-Relation des Habens das Bedenkliche ist. Sie beharrt auf einem Vorverständnis des Daseins als Subjekt einer Tätigkeit, welches in zeitgebundener Äußerung und Rückkunft seines Tuns das wird, was es in Vermögen und Möglichkeit immer schon war. Daher bleibt die Entfremdungslehre des frühen Marx in den Schematismus der Dialektik gebannt, verlockt durch die Aussicht auf ihre große Lösungen. Die soziale Rückkehr des Menschen aus der ökonomischen Entfremdung ist eine der machtvollen Bewegungen, in denen sich die Dialektik des neuzeitlichen Willenswesens zwielichtig zu Ende bringt.

8. Kapitel:

Das Ende des spiritualistischen Götzendienstes und der Sprung in die Geschichte

Die Vollendung des Humanismus ist eine Götzendämmerung. Durch sie verschwindet der „spiritualistische Götzendienst des .Selbstbewußtseins' und des ,Geistes'" (PM, 509), und mit der Dialektik im Hegeischen Gepränge vollendeter .Wissenschaft' geht es zu Ende. Solche Ansicht leidet nun nicht, wie man schützend einwendet, an einem unzureichenden Hegelverständnis, so daß alle humanistisch-naturalistischen Fortschritte gegenüber den spekulativen Resultaten zu spät kommen. Wohl aber führt der Untergang des von der Neuzeit in den Himmel gehobenen Selbstbewußtseins in neue Ausweglosigkeit. Die ,neue Philosophie und Dialektik' wird mit den Resultaten ihrer Kritik nicht fertig. Sie befreit sich daher von der Dialektik des Selbstbewußtseins nur, um dessen Geist in der Dimension der Weltgeschichte wieder zu verfallen.

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Der Spiritualismus des Selbstbewußtseins und Geistes verkennt die generelle Bestimmung des Menschen. Das ist der Beweisnerv der Marxschen Hegelkritik. Die Systembildung des absoluten Wissens klammert von Anfang an die naturalistische und gegenständliche Herkunft aus der Entwicklung des Geistes aus. „Der Mensch gilt als nicht-gegenständliches, spiritualistisches Wesen" (PM, 647). Im Lichte einer spekulativen Dialektik erscheint der Mensch zwar wesentlich als Selbstbewußtsein, das Selbstbewußtsein aber nicht als Wesen und Menschheit. Das hat die naturalistische Kritik erwiesen: Anstatt als Strukturmoment des gegenständlichen Gattungswesens auf die Lebenstätigkeit der Arbeit zurückgegründet zu werden, wird das Selbstbewußtsein im spiritualistischen Götzendienst als Moment des .Geistes' ins Leben des Absoluten erhoben. Das absolute, nicht-gegenständliche Wesen aber ist ein Unwesen. Solcher Einwand räumt ein, daß das Ich = Ich auf der Höhe des absoluten Wissens mehr als ein einseitig-abstraktes, bloß sich selber denkendes Denken ist. Dennoch entgeht auch der konkrete Geist, der den Bestand des Seienden an sich denkt und sich als die an und für sich seiende Einheit weiß, nicht dem Urteil, abstrakt zu sein. Hegels Richterspruch, alle Theorie des endlichen Selbstbewußtseins bleibe abstrakt und unwirklich, fällt auf seine eigene Position zurück. Ein Naturalismus insistiert darauf, daß den dialektischen Gängen der Phänomenologie des Geistes die Natur als das Worin wirklicher Vergegenständlichung äußerlich bleibt. In der Phänomenologie kommt das gegenständliche Sein nur als aufzuhebende Unwahrheit vor. Es ist als Prinzip nur aufgestellt, um als antithetisches Moment in der Synthesis des Selbstbewußtseins zu verschmelzen. Darum äußern sich in den Erscheinungen des erscheinenden Geistes Lebenskraft und Bewußtsein niemals wirklich, sondern nur dem Scheine nach. Der Vergegenständlichung fehlt der Charakter wesenhafter Verwirklichung. Die Bewegung von Entäußerung, Veräußerung und Wiederaneignung überspringt die Dimension konkreter Wirklichkeit. Konkret betrachtet, beginnt die Geschichte der Entfremdung des Menschen gar nicht damit, daß sich sein Wesen im gegenständlichen Sein entwirklicht. Allein für das Selbstbewußtsein bedeutet die unvermittelte Äußerung zugleich Veräußerung seiner Reflektiertheit. Indem es sich nach außen und nach dem Gegenstande richtet, kommt das Ich außer sich. Sobald der Vorstellende etwas vorstellt, was er nicht selber ist, ist das Subjekt fremdbestimmt und nicht bei sich selbst. Die erste Phase der Bewußtseinsdialektik bildet daher einen unumgänglichen Selbstverlust im gegenständlichen Bewußtsein. Dieser Ansatz einer notwendigen Entwirk-

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lichung aber sieht von den konkreten Verhältnissen menschlicher Vergegenständlichung ab. Für den Menschen als ein gegenständliches Wesen bedeutet unmittelbare Äußerung und Vergegenständlichung die Verwirklichung seiner Lebenskraft. Die Entäußerung im Gegenstande außer ihr betätigt und bestätigt die Lebenstätigkeit. Aktuale Realität gewinnt der Prozeß der Entäußerung eben erst, wenn er vom Menschen als dem arbeitenden Wesen her gedacht wird. Arbeitskraft verwirklicht sich durch Äußerung. Was sie zu sein vermag, das wird sie im Außersichsein wirklich. Mithin ist ihr unmittelbar gerade ihre Verwirklichung und nicht ihre Entwirklichung wesenhaft. Das hat einschneidende Folgen. Die Entfremdung ist keine wesensnotwendige Äußerung. Vom Menschen und seiner Konkretisierung als gegenständliches Selbstbewußtsein her gedacht, bilden Entfremdung, Verdinglichung, Veräußerung oder Entwirklichung kontingente Tatsachen. Als factum praesens historicum entzieht sich die Entfremdung einer geistreichen Deduktion. Sie kann nicht deduziert, sondern allenfalls historisch-soziologisch konstatiert, politisch-ökonomisch kritisiert und philosophisch als Negation einer Verwirklichung verstanden werden. Wird Entfremdung dagegen als notwendige Stufe im Erscheinen des zu sich zurückkehrenden Geistes entwickelt, dann bleibt das konkrete Faktum der entwirklichten Arbeit und verkehrten Welt außerhalb der dialektischen Bewegung. Es wäre sonach der Grundzug der Abstraktion, der alle Stufen der Phänomenologie durchherrscht. Der Geist der Abstraktion macht alle Aufhebungen von Widersprüchen, die zwischen dem gegenständlichen Bewußtsein und dem Ich spielen, zur großen Illusion. Anstatt die entfremdete Vergegenständlichung in der konkreten, gegenwärtigen Warenwelt zu negieren, erhebt der Fortschritt des Geistes das Bewußtsein gegenständlicher Entfremdung in die Selbst- und Vernunftgewißheiten des Ich. So aber verliert die Dialektik den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen. Der erscheinende Geist abstrahiert vom Menschen und dessen Welt. Er übergeht die kontingenten Tatsachen der Entfremdung und ignoriert die wirklichen Bedingungen von Herrschaft und Knechtschaft. Eine Phänomenologie des Geistes nimmt eben Äußerungen des Selbstbewußtseins schon für Veräußerungen menschlicher Lebenstätigkeit. So aber überfliegt der phänomenologische Transzensus des gegenständlichen Bewußtseins zum „selbstbewußten, sich selbst erfassenden philosophischen oder absoluten, d. i. übermenschlichen abstrakten Geist" (PM, 642) die konkrete Entfremdung.

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Die Hohlheit des absoluten Wissens bestätigt sich für Marx in der Ontologie der Hegeischen Logik und vor allem im Übergang zur Naturphilosophie. Weil sich das absolute Wissen .logischerweise' in die formellen, gegen jeglichen Inhalt gleichgültigen Kategorien des Absoluten entfaltet, gilt auch von diesem höchsten Leben des Gedankens: „Sein wirkliches Dasein ist die Abstraktion" (PM, 642). Und weil die absolute Idee am Ende der Logik ihren ganzen Abstraktionsakt in tödlicher Langeweile von vorn mit dem Resultat durchlaufen müßte, daß sich eine als Abstraktion erfassende Abstraktion als nichts weiß, darum entschließt sie sich — der berühmt-berüchtigten Wendung zufolge —, sich als Natur frei aus sich zu entlassen. Dieser Ubergang ist bekanntlich die crux der systematisch durchgeführten Geistesdialektik. Marx hat diese barocke Idee als Beweis dafür genommen, daß die absolute Idee für sich nichts ist. Um zu Wirklichkeit, Bestimmtheit, Besonderheit zu gelangen, muß sie sich in ihr Gegenteil außer ihr werfen. Nun kommt aber auch die Natur im Spiritualismus nur abstrakt vor, und eine den , Geist' anbetende Naturphilosophie findet in der Naturanschauung doch wieder bloß die Abstraktionen der Logik bestätigt, z. B. die absolute Negation in der Naturform der Zeit. Darum bleibt der ganze Kreislauf des in sich selbst umschwingenden göttlichen Lebens unwirklich. Er transzendiert die entfremdete Arbeit und sanktioniert die Trennung vom Menschen. Das ist kein Zufall. Da ja die kontingente menschliche Entfremdung im notwendigen Prozeß von Entäußerung und Rückkehr des Geistes weder gesetzt noch aufgehoben werden kann, sieht die alte Dialektik einfach von ihr ab. Die neue Philosophie verabschiedet zwar die alte Dialektik des Selbstbewußtseins, aber sie gibt deren Ansprüche nicht auf. Ein durchgeführter Humanismus behauptet, eben diejenigen Widersprüche, welche die alte Dialektik nur im Hin und Her des Bewußtseins bewegte, in Wahrheit und Tat aufzulösen. Die wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen wäre „vollendeter Humanismus = Naturalismus. Er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streites zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung" (PM, 594). Dieser ungeheure Anspruch der Entfremdungsdialektik erstreckt sich auf den alten Gegensatz zwischen substantia cogitans und substantia extensa ebenso wie auf die Fremdheit zwischen ego und alter ego und zwischen individuum und genus.

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Danach müßte sich der Widerspruch zwischen Mensch und Natur im gesellschaftlichen Zustand lösen. Dieser negiert den Entzugscharakter der entfremdeten Natur und läßt Natur als Daseinsmöglichkeit und Medium menschlicher Vergegenständlichung so auferstehen, daß Mensch und Natur einheidich in ihrem Eigenwesen heraustreten. „Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur — die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur" (PM, 596). Ineins fiele der Widerstreit des Menschen mit dem Menschen versöhnt zusammen. Die Reintegration des entfremdeten zum gesellschaftlichen Menschen löst Kampf und Konkurrenz, Zwang und Herrschaft, Fremdheit und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen daseinsmäßig auf; denn nun vergegenständlicht sich der Mensch als Gattungswesen. Er betätigt und bestätigt seine Freiheit in der Freiheit des Anderen. In dem Moment also, in welchem die Entgegenständlichung des Menschen vollends negiert ist, breitet sich ein zwischenmenschlicher Zustand aus, durch den jeder für jeden Medium freier Lebenstätigkeit sein kann. Zugleich wäre die Kluft zwischen Individuum und Gattung, 1. und 2. Substanz, Einzelnem und Menge, Privatperson und Gesellschaft überwunden. Die Abschaffung des Privateigentums negiert im Grunde den individuellen Habensinn und damit die Privation der Gattung. Und sie durchstreicht die Position der Gesellschaft als eines Allgemeinen außer und über dem Einzelnen. Die Gesellschaft darf nicht zum neuen Götzen werden, dem alles Individuelle zu opfern sei. Gattung und Gesellschaft sind das wesenhafte Sein des Individuums selber und nicht ein Seiendes außer ihm. Der durchgeführte Humanismus verkündet die Synthesis von Individuum und Gattung und warnt vor abermaligen Abstraktionen und dem neuen Götzen des hypostasierten gesellschaftlichen Seins. „Es ist vor allem zu vermeiden, die .Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen" (PM, 597). Dieses Monitum untersagt einseitige Auslegungen. Weder liegt ein .individualistischer Zug' in den Interessen der Marxschen Theorie, noch erliegt sie einer Verdinglichung ,der Gesellschaft'148. Der 14ΐ

Philosophische Interpretationen der Marxschen Theorie neigen zumeist zu einer Gewichtsverlagerung zugunsten des Individuellen und Einzelnen. Nach H. Marcuse (Vernunft und Revolution. Darmstadt und Neuwied 1972. S. 250ff.) ist das Individuum Ziel und Richtmaß für die Abschaffung des Privateigentums. Ein individualistischer Zug sei für die Reintegration des Menschen grundlegend; denn die konkreten Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die Konflikte der individuellen Interessen hätten aus dem

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neue Humanismus beansprucht, die restlose Aufhebung dieser abgründigen Widersprüche durchzuführen und die Antithesen zu vereinigen, mit denen die alte Dialektik nicht fertig werden konnte. Dieses Programm kulminiert im Anspruch, grundsätzlich die einseitigen Positionen des bisherigen Denkens überhaupt zu vereinigen. Der vollendete Humanismus kennzeichnet sein Werk als Synthesis von Idealismus und Materialismus. Seine Kritik zielt also nicht nur auf einen abstrakten Spiritualismus, sondern gleichermaßen auf einen bornierten Materialismus. Zieht man die Summe der Marxschen Feuerbach-Kritik, dann übersieht der Materialismus ein Vierfaches: die Wirklichkeit des sinnlichen Gegenstandes als Verwirklichung menschlicher Sinne, das menschliche Tun als Praxis der Arbeit, das Gattungswesen als ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, das materielle als gesellschaftliches Sein. Konkrete Einigungen müssen daher über die abstrakten Positionen von Idealismus und Materialismus hinausdringen. Der Humanismus = Naturalismus ist weder spiritualistisch noch materialistisch. Er stellt sich aber auch nicht diesseits von Materialismus und Idealismus, so daß Seinsbedeutung und Gegensatz von Materie und Idee uninteressant würden. Das wäre freilich der Fall, wenn die Marasche Theorie sich auf dem Niveau einer ökonomischen Kritik und nicht auf dem der Ersten Philosophie bewegte. Ausdrücklich will die Dialektik der Entfremdung auch den erstarrten Prinzipienstreit der Metaphysik bereinigen. „Wir sehen hier, wie der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist. Wir sehen zugleich, wie nur der Naturalismus fähig ist, den Akt der Weltgeschichte zu begreifen" (PM, 650). Wie aber kann solch dialektisches Versprechen eingelöst werden, wenn doch der Weg einer Dialektik des Selbstbewußtseins und des Geistes verlassen werden muß? Offenbar stockt der dialektische Gedanke vor einer Aporie. Die ,alte Dialektik' bewegt sich im adäquaten Modus der Notwendigkeit und im Medium lebendiger, unaufhaltsamer Selbstentfaltung, aber sie kann dem kontingenten Faktum wirklicher menschlicher Entfremdung nicht entsprechen. Die ,neue Dialektik' dagegen läßt sich durch das nationalökonomische, gegenwärtige Faktum' der entfremdeten Welt und ihrer universellen Wesen des Menschen ein Gespött gemacht. — K. Hartmann (Die Marasche Theorie. Berlin 1970. S. 170ff.) sieht das Problem der kommunistischen Sozialkonzeption darin, daß sich Marx im Insistieren auf den wirklichen, einzelnen Menschen einer nominalistischen Reduktion des Geistigen verschrieben habe und gleichwohl ein im Grunde pränumerisches Einzelnes proklamiere, das zugleich Gemeinwesen sein soll.

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Widersprüche bewegen, aber sie kann nicht im Elemente der Notwendigkeit fortschreiten. Dieser aporetische Stand markiert das Ende der Dialektik. Er ist daher noch schärfer zu umreißen. Gewiß entsteht der große Bruch dadurch, daß Marx die Arbeit des Geistes auf die Arbeit des Menschen zurücknimmt149. Der Akzent in dieser Formel aber liegt auf der auseinanderbrechenden Dialektik des Arbeitsprozesses. Die Entfremdungsanalyse verkürzt nicht nur den dialektischen Prozeß der Arbeit des (göttlichen) Begriffs auf die Lebenstätigkeit des Menschen, sie enthebt ihn überhaupt der Notwendigkeit. Schon die Entdeckung der religiösen Entfremdung klammert den Widerspruch von Endlichkeit und Unendlichkeit als religiöse Selbstverhexung des Menschen aus. Und bereits Feuerbach behandelt die religiöse Entzweiung des Gattungswesens als ein geschichdiches Vorkommnis und nicht als etwas methodisch Notwendiges. Allein die metaphysische Grundstellung der Subjektivität rechtfertigt die prozessuale Unaufhaltsamkeit von Leben und Methode. Nur das Ich muß sich im Gegenstande verlieren, um durch Negation dieser Fremdbestimmung zum Bewußtsein seiner Freiheit zu kommen. Nur im Hindurcharbeiten durch das Anderssein offenbart der göttliche Geist die Kraft seiner Versöhnung und wird das für sich, was er an sich und der Möglichkeit nach immer schon war. Wird die Dialektik von Selbstbewußtsein und Geist fallen gelassen, dann verlieren Entäußerung und Wiederaneignung den Modus der Notwendigkeit. Faktizität und Kontingenz menschlicher Entwirklichung und entfremdeter Arbeit entkräften den grandiosen apodiktischen Abstraktionsprozeß des Selbstbewußtseins ausdrücklich. Unausdrücklich entzieht die Entfetischisierung des Götzen .Selbstbewußtsein' aller möglichen Dialektik den Boden. Die Unangemessenheit von Dialektik und Naturalismus ist oft vermerkt, aber meistens auf die ebenso viel- wie nichtssagende Formel gebracht worden, Marx habe die idealistische Dialektik Hegels übernommen, obwohl das der Prätention einer materialistischen Kritik widerstreite. Es kommt aber in dieser ontologischen Frage letztlich darauf an, zu klären, inwiefern der neu vorgetragene Sinn von Sein undialektisch ist. 149

Die weitblickende Deutung von L. Landgrebe (Hegel und Marx. In: Marxismus-Studien 1 (1954) 38 — 53) versteht die Lehre von Marx als Philosophie, d . i . als Weg der Befreiung des Menschen nicht bloß im Denken durch eine neue Theodizee, sondern in der tätigen Herstellung eines Zustandes, der diese abstrakte Befreiung überflüssig macht. Sie legt die radikale Umkehr der Arbeit des absoluten Geistes in die Arbeit des Menschen als eine Selbstbemächtigung aus, welche die Grenzen menschlicher Emanzipation sichtbar macht und das idealistische, selbstbewußte Sich-selber-Setzen übersteigert.

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Sein bedeutet für Marx Leben und Leben Tätigsein. Dessen Zurückfiihrung auf die gegenständliche Lebenstätigkeit menschlicher Arbeit raubt der Dialektik das ureigenste Element, ohne eine Dialektik der ökonomischen Entfremdung im strengen Sinne neu etablieren zu können. Nur solange Sein als Tathandlung des Selbstbewußtseins und Arbeit des Geistes gedeutet werden kann, verlaufen Leben und Methode dialektisch im unausweichlichen Fortgange von Entäußerung, Veräußerung und Rückkehr zu sich durch Wegarbeiten der Entfremdungen. Folgen dagegen Veräußerung und Entfremdung nicht mehr aus dem Wesen der Lebenstätigkeit selbst, dann verschwindet der ganze Spuk der unaufhaltsamen Kreisläufe des Geistes. Das ist im Rückgang auf die faktische und kontingente Basis der entfremdeten Arbeit der Fall. Nunmehr vermag die philosophische Methode das Faktum der verkehrten Welt als geschichtlich vorhandene Entwirklichung zu verstehen und als Entfremdung des Lebens rückgängig zu machen. Sie vermag nicht mehr, an die Notwendigkeit der aufbrechenden Widersprüche und deren unausweichliche Versöhnungen durch die Arbeit des Geistes zu glauben. Also scheint die Aporie der Dialektik unübersteigbar. Um dennoch den notwendigen Rhythmus von Widerspruch und Aufhebung und die Unabtrennbarkeit von Thesis, Antithesis und Synthesis zu wahren, rettet sich die Dialektik der Entfremdung durch einen Sprung in die Geschichte. Die geläufige Scheidung zwischen einer idealistischen, von Hegels Dialektik beeinflußten Schaffensperiode des jungen Marx und der Zeit nach Ausbildung der materialistischen Geschichtsauffassung ist großflächig oberflächlich. Sie übersieht die einschneidende Kritik und die dadurch eröffnete Aporie der frühen Dialektik-Auseinandersetzung. Der Naturalismus der ,Pariser Manuskripte' setzt die Dialektik des Geistes ab und macht die Methode übergreifender Aufhebung fragwürdig, weil er sich auf das Faktische geschichtlicher Widersprüche beruft. Der anbrechende historische Materialismus bietet in dieser Lage einen Ersatz für die fehlende Logik des Dialektischen. Er findet in der enträtselten Geschichte das Medium, welches die isolierten Fakten der Entfremdung zu einem notwendigen Prozeß vermittelt. Der historische Materialismus ist Surrogat der alten Dialektik. Die dialektische Neufassung der Geschichte modifiziert die Hegeische Verzerrung des teleologischen zum dialektischen Mythos der Weltgeschichte. Sie zeichnet sich in den ,Pariser Manuskripten' ab. Freilich hat sie hier noch ihre verschwiegene Zweideutigkeit an sich, faktische Geschichtlichkeit des Gattungswesens Mensch und Gesetzlichkeit einer

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begriffenen Geschichte zu sein. Geschichtlichkeit bedeutet zunächst eine fundamentale Seinsbestimmung des menschlichen Gattungswesens. Das Werden des Menschen ist geschichtlich, nicht weil es in den Zeitlauf der Geschichte fällt, sondern weil menschliches Gattungswesen an ihm selbst geschichtlich ist. Seine Geschichte ist „der mit Bewußtsein sich aufhebende Entstehungsakt" (PM, 652). Der Mensch kommt nicht als Gattungswesen von Natur aus adäquat vor, er wird und entwickelt sich zur Ubereinstimmung mit sich selbst. Und er lebt diese seine Entstehung und ,Naturgeschichte' nicht geradehin, er übernimmt sie in einer die Inadäquatheit von Wesen und Wirklichkeit reflektierenden Entschlossenheit. So ist jeder Mensch Ziel (τέλος), indem er es aus Freiheit zustande bringen kann. Dieser Entstehungsakt hat die Negation des je einzelnen Gattungswesens zum Ausgang und kommt durch Negation dieser Negation ins Ziel. Was das geschichtliche Werden des Menschen — zumeist latent — bewegt, ist der Widerspruch seines gegenständlichen Wesens mit seiner Arbeitswelt. Was ihn — zumeist verdeckt oder verdrängt — leitet, ist die zu verwirklichende Wahrheit als vollkommene Ubereinstimmung seiner Kräfte mit seinen Werken 150 . Mit der Geschichtlichkeit des Gattungswesens scheint die Dialektik der Weltgeschichte zu kongruieren. Der vollendete Humanismus, der sich als das aufgelöste Rätsel der Geschichte weiß, erklärt Wesen, Gang und Ziel der Weltgeschichte aus Prinzipien einer durch Produktionsverhältnisse sich konstitutierenden Arbeitswelt. Daher fassen die .Pariser Manuskripte' das Wesen der Weltgeschichte als Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit. Sie formulieren das Ziel der Geschichte als Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur in einer die Negation der Entfremdung negierenden Gesellschaft. Sie verfolgen den Gang der Weltgeschichte als schrittweise Aufhebung der entäußerten Arbeit. Im Uberdenken solchen Fortschrittes in der wirklichen Aufhebung der Entfremdung und Knechtschaft kommen die herkömmlichen pseudodialektischen Kategorien der Entwicklung, des Fortschritts, der List der Vernunft, des Telos wieder zum Zuge. Mit ihnen gelangt auch die schon 150

Nach Darlegungen von E. Metzke (Mensch und Geschichte. In: Marxismus-Studien 2 (1954) 1—25) vollendet sich in der Konzeption der vollkommenen Zukunftsgesellschaft der Prozeß, der von Bacons Programm der Weltbemächtigung und Descartes' methodischer Ausräumung alles Vorgegebenen über Rousseaus Konzeption des reinen Menschen und Fichtes Titanismus bis zu den gegenwärtigen Formen der modernen Subjektivität reicht. Der Mensch der Neuzeit, der als deus in terris das regnum hominis in der Welt aufrichten will, folgt dabei durchgängig dem Prinzip des reinen, sich selber wollenden Willens.

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Dialektik der Entfremdung

restringierte Modalkategorie der Notwendigkeit abermals zu göttlichen Ehren. Der materialisierte Motor der Weltgeschichte ist der ökonomische Widerspruch. So bildet vor allem der im Fabriksystem kulminierende Widersinn des Privateigentums „ein energisches, zur Auflösung treibendes Verhältnis" (PM, 590). Der dialektische Wendepunkt ist ein qualitativer Sprung vom Äußersten ins Äußerste. Erst die bis auf den Nullpunkt gesteigerte Armut (aller menschlichen Sinne) kann in den Reichtum der Allsinnigkeit umschlagen. „Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen inneren Reichtum aus sich herausgebäre" (PM, 599). Das ist die ökonomische Transformation der theologischen Dialektik von unglücklichem Bewußtsein und beglückter Vernunft. In der Heilung äußerster Widersprüche manifestiert die Weltgeschichte ihre heilbringende Macht. Ihre theodizeeische Dialektik nimmt den geschichdichen Begebenheiten das Odium des bloß Zufälligen und Sinnlosen. Sie erklärt sogar alles Zukünftige für notwendig; denn sie prophezeit rückwärts vom erblickten Ziel aus. Teleologisch begriffene Weltgeschichte prägt allen kontingenten Begebenheiten — vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen — den Stempel der Notwendigkeit auf. Darum kann der Marx der ,Pariser Manuskripte' die Heraufkunft des Kommunismus als notwendige Phase der Weltgeschichte dialektisch-apodiktisch vorhersagen. „Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft" (PM, 608). Diese letzte Gestalt der abendländischen Dialektik resultiert aus der Aporie der Entfremdung. Sie erliegt der Illusion, dem natürlichen Scheine der Vernunft. Mit ihr kehrt die vorkritische Form einer Heilsgeschichte und Eschatologie wieder. Wenn auch durch ökonomische Begriffe wie Privateigentum, Arbeitsteilung, Entfremdung, Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit verschleiert, zeichnet sich doch unter der Haut eines historischen Materialismus das theologische Schema von Urzustand, Sündenfall, Resurrektion, Endzustand (qua restitutio in integrum) ab. Die areligiöse Dialektikkritik fällt in eine politisch-ökonomisch übertünchte, theologische Teleologie zurück. Der Marxismus beginnt mit einer vehementen Befreiung von allen Vorurteilen der Spekulation, Theologie und Religion, er endet mit einer spekulativen, heilsgeschichtlichen Konzeption. Das gehört zur Ironie der Geschichte, nicht zur List der Vernunft.

Der Sprung in die Geschichte

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Folgerichtig setzt der Marxistische Rückfall in die dialektische Illusion diejenige Antinomie wieder auf die Tagesordnung der Weltanschauungsdiskussion, welche durch den ersten Zugriff der neuzeitlichen Dialektik, durch Kants Logik des Scheins, behoben zu sein schien. Im zweifachen Ansatz der Geschichte, einer Geschichtlichkeit des menschlichen Gattungswesens und der Teleologie des historischen Materialismus, treten die Prinzipien von Freiheit und Notwendigkeit erneut antithetisch gegeneinander auf. Der dialektische Materialismus setzt auf die Notwendigkeit: Er sucht den notwendigen Gang der Weltgeschichte in ein offenbartes Ziel zu beweisen. Die Dialektik der Daseinsgeschichte führt zur Freiheit: Sie endet im Sprung aus der Theorie in die Praxis revolutionärer Tat. Der Schein einer pseudodialektischen Teleologie, der die Wissenschaft des menschlichen Daseins und der Weltgeschichte beirrt, läßt sich erst vermeiden, wenn die Geschichtlichkeit der Existenz in seiner undurchdringlichen und nicht zu vermittelnden Transzendenz zum Ausgang einer neuen Besinnung auf das gemacht wird, was ist, war und sein wird. Kierkegaard hat damit einen polemischen Anfang gemacht. In einer Tagebuch-Aufzeichnung aus dem Jahre 1843/44 heißt es: „Wie verhält es sich mit der jetzt so viel benützten weltgeschichtlichen Entwicklung? . . . Es gibt zwei Ziele: Jeder Mensch ist Ziel (τέλος), und die weltgeschichtliche Entwicklung ist Ziel (τέλος), aber dieses Ziel (τέλος) können wir nicht durchdringen" (Tg. 1,353).

I. Quellen Verzeichnis 1. Schriften von Kant Akad.-Ausg.

Gesammelte Schriften. Bd. 1 — 23. Hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910—1955 Bd. 24. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1961 Werke Werke. Hrsg. von W. Weischedel. Bd. 1 - 6 . Frankfurt a. M. 1 9 5 6 1964 Allgemeine NaturAllgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Leipzig 1755. geschichte Akad.-Ausg. Bd. 1 De mundi De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Königsberg 1770. Werke Bd. 3 Kritik der reinen Vernunft. 1. Ausgabe Riga 1781. 2. Ausgabe Riga Κ. d. r. V. 1787. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe neu herausgegeben von R. Schmidt. 2. Aufl. Leipzig 1930 Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als WissenProleg. schaft wird auftreten können. Riga 1783. Werke Bd. 3 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785. Akad.-Ausg. GMS Bd. 4 Kritik der praktischen Vernunft. Riga 1788. Akad.-Ausg. Bd. 5 K. d. pr. V. K. d. U . Kritik der Urteilskraft. 1790. Akad.-Ausg. Bd. 5 Anthrop. Anthropologie in pragmatischer Absicht. Königsberg 1798. Werke Bd. 6 I. Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Königsberg 1800. Logik Jäsche Werke Bd. 3 Metaphysik — Pölitz I. Kant's Vorlesungen über die Metaphysik. Erfurt 1821. Nachdruck der Originalausgabe Darmstadt 1964 Vorlesungen über philosophische Enzyklopädie. Akad.-Ausg. Bd. 24 Logik Philippi Reflexion zur Metaphysik. Kant, handschriftlicher Nachlaß Bd. 5. Refi. Akad.-Ausg. Bd. 18 Opus postumum Kants Opus postumum. Hrsg. von E. Adickes. Berlin 1920

2. Schriften von Fichte N W I —III SW I—VIII AW I —IV Gesamtausgabe

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3. Schriften von Schiller Jonas NA NA X X - X X I Werke I—III Philos. Briefe Antrittsvorl. Aus den ästhet. Vorl. AuW

Schillers Briefe. Hrsg. von F. Jonas. Kritische Gesamtausgabe. 7 Bde. Stuttgart 1892-1896 Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von J. Petersen. Hrsg. von L. Blumenthal u. Benno von Wiese. Weimar 1943 ff. Schillers Werke. Nationalausgabe. Philosophische Schriften Erster und Zweiter Teil. Hrsg. unter Mitwirkung von H. Koopmann von B. von Wiese. Weimar 1962-1963 F. Schiller. Werke in 3 Bänden. Unter Mitwirkung von G. Fricke hrsg. von G. Göpfert. München 1966 Philosophische Briefe. Leipzig 1784. NA Bd. 20 Was heißt und zu welchem Ende studiert man Philsophiegeschichte? Jena 1789. Werke Bd. 2 Fragmente aus Schillers ästhetischen Vorlesungen vom Winterhalbjahr 1792-1793. Leipzig 1806. NA Bd. 21 Ueber Anmuth und Würde. Leipzig 1793. NA Bd. 20

516 ÜdP ÄEM NuSD UdE Gedanken über den Gebrauch Philos, d. Physiol.

Quellenverzeichnis Ueber das Pathetische. Leipzig 1793. NA Bd. 20 Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Tübingen 1795. NA Bd. 20 Ueber Naive und Sentimentalische Dichtung. Tübingen 1795 — 1796. NA Bd. 20 Ueber das Erhabene. Leipzig 1801. NA Bd. 21 Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst. Leipzig 1802. N A Bd. 20 Philosophie der Physiologie. Stuttgart/Tübingen 1841. Hrsg. von K. Helfmeister. NA Bd. 20

4. Schriften von Hegel Jub. I—XX Th. W. I - X X JR PhdG Logik I—II Propäd. PhdR Enz.

G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden. Hrsg. von H. Glockner. 3. Aufl. Stuttgart 1958ff. G. W. F. Hegel, Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe. Hrsg. von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel. Frankfurt a. M. 1971 Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805-1806. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 1969 Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von J. Hoffmeister. 5. Aufl. Leipzig 1949 Wissenschaft der Logik. Erster und Zweiter Teil. Hrsg. von G. Lasson. 2. Aufl. Hamburg 1951 Philosophische Propädeutik. Jub. III Grundlinien der Philosophie des Rechts. Jub. VII Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Dritter Teil. Die Phänomenologie des Geistes. Jub. X

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Gesammelte Werke, übersetzt und kommentiert von E. Hirsch, H . Gerdes, H. M. Junghans. Düsseldorf/Köln 1950-1966 Die Tagebücher, übersetzt und kommentiert von H. Gerdes. Düsseldorf/Köln 1962-1974 Die Tagebücher, in zwei Bänden ausgewählt und übersetzt von Th. Hacker. Innsbruck 1923 Papirer. Hrsg. von P. A. Heiberg, V. Kühr und E. Tortung. Kopenhagen 1909-1948 Jenaer Ausgabe. Ubersetzt von H.Gottsched und Chr. Schrempf. Jena 1909-1922 Erbauliche Reden. Hrsg. von Chr. Schrempf. Jena 1929 Entweder/Oder, Erster Teil. GW 1. Abt. Entweder/Oder, Zweiter Teil. GW 2./3. Abt. Furcht und Zittern. GW 4. Abt. Philosophische Brocken. GW 10. Abt. Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum. GW 10. Abt. Der Begriff Angst. GW 11./12. Abt.

Quellenverzeichnis St. L. U N I—II Lit. Α. Ch. R. KzT E. Ch. I—III Bdl Sch. üb. S. Β üb. A

517

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Karl Marx Friedrich Engels Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus/ Leninismus. Berlin 1964ff. Ergänzungsband 1. und 2. Teil. Berlin 1973 Zur Kritik der Nationalökonomie — ökonomisch-philosophische Manuskripte (.Pariser Manuskripte'). Hrsg. von H.-J. Lieber und P.Furth. Karl Marx Frühe Schriften I. 2. Aufl. Darmstadt 1962 Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Hrsg. vom MarxLenin-Institut Moskau. 2. Aufl. Berlin 1974 Debatten über die Preßfreiheit. MEW I, 2 8 - 7 7 Zur Judenfrage. Bruno Bauer: ,Die Judenfrage' Braunschweig 1843. MEW I, 3 4 7 - 3 7 0 Zur Judenfrage II. ,Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden'. Von Bruno Bauer. MEW I, 371 — 377 Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW I, 378-391 Kritische Randglossen zu dem Artikel ,Der König von Preußen und die Sozialreform'. Von einem Preußen. MEW I, 392-409 Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. MEW II, 7-223 Thesen über Feuerbach. MEW III, 5 - 7 F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (,Anti-Dühring'). MEW XX, 1 - 3 0 3 F.Engels, Dialektik. In: Dialektik der Natur. MEW XX, 3 0 7 - 5 6 8 Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. MEW XXIII-XXV Auszüge aus James Mills Buch ,Eleméns d'économie politique'. Erg. I, 443-463

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III. Namenverzeichnis Adorno, Th. 402 Anm. 114, 432 Anm. 127 Aenesidemus 114 Anm. 31 Albert, H. 6 Anm. 2 Anaxagoras 62 Anz, W. 374 Anm. 105, 396 Anm. 113, 409 Anm. 116 Arendt, H. 484 Aristoteles 13-16, 42, 62, 130, 299, 322, 334, 382, 402, 435, 462, 485 Babeuf 457 Anm. 138 Bacon 511 Anm. 150 Bayle 54 Anm. 21, 453 Berkeley 68 Blaß, J. 376 Anm. 106 Bloch, E. 338 Anm. 97 Boumann, L. 361 Bröcker, W. 15 Anm. 5 Buber, M. 449 Bubner, R. 6 Anm. 3 Buret, E. 459 Burke 258 Calvez, I. Y. 466 Anm. 142 Camus 420 Anm. 120 Cassirer, E. 232 Anm. 66, 264 Anm. 76 Cicero 37, 39 Claesges, U. 114 Anm. 31 Columbus 470 Cornu, A. 446 Anm. 132 Darjes 42 Delekat, F. 62 Anm. 24, 465 Anm. 141 Descartes 3, 68, 96, 100, 151, 179, 375-376, 393, 422, 502, 511 Anm. 150 Deuser, H. 384 Anm. 107 Diderot 334 Anm. 94 Düsing, Κ. 128 Anm. 37 Düsing, W. 289 Anm. 86 Ebbinghaus, J. 214 Anm. 56 Emrich, W. 220 Anm. 60 Engels 8 - 1 8

Epiktet 346 Epikur 62 Anm. 23 Euklides von Megara 40 Fahrenbach, H. 435 Anm. 128, 436 Anm. 129 Fetscher, I. 224 Anm. 63, 307 Anm. 89, 370 Anm. 104, 466 Anm. 142 Feuerbach, A. 198 Feuerbach 207, 391-392, 444-451, 476, 481-482, 508 Fichte 32, 46, 101-209, 252-253, 268, 393, 407, 420 Anm. 119, 433, 511 Anm. 150 Fischer, F. C. 386 Anm. 108 Freud 400 Fricke, G. 289 Anm. 86 Gadamer, H.-G. 27 Anm. 11,263 Anm. 75, 273, 274 Anm. 80, 303 Anm. 88 Garve 49 Gerdes, H. 421 Anm. 122 Goclenius 50 Goerdt, W. 245 Anm. 71 Goethe 210-211, 211 Anm. 54, 230 Anm. 65, 234 Anm. 68, 418, 469 Gogarten, F. 161 Anm. 44 Gollwitzer, H. 450 Anm. 133 Griesebach, E. 161 Anm. 44 Grujic, P. M. 17 Anm. 6 Guarda, V. 439 Anm. 130 Guardini, R. 409 Anm. 116, 432 Anm. 127 Habermas, J. 458 Anm. 139 Hamburger, K. 232 Anm. 67, 259 Anm. 73, 273 Hartmann, E. von 133 Anm. 39 Hartmann, K. 508 Anm. 148 Hartmann, N. 7, 350 Anm. 98 Hegel 1, 10, 11, 13, 19-34, 56, 68, 94, 128-129, 145-148, 162-163, 168, 173, 183 Anm. 51, 192-194, 209, 210, 213 -214, 219, 222, 295 -372, 377, 380, 382, 383, 392 -393, 409 Anm. 116, 412,

Namenverzeichnis 423, 429 Anm. 125, 433 - 4 3 5 , 438-443, 4 4 7 - 4 4 8 , 4 8 5 - 4 8 6 , 492, 5 0 4 - 506 Heidegger 2, 25 Anm. 10, 72 Anm. 25, 96, 367, 400, 402 Anm. 114, 428 Heine 450 Heimsoeth, H. 49 Anm. 18, 52 Anm. 20, 62 Anm. 24 Heinrichs, J . 350 Anm. 98 Heiß, R . 86 Anm. 27, 364 Anm. 99, 499 Heß, M. 446 Anm. 132, 450, 493, 4 9 4 - 4 9 5 , 499 Hinske, N. 49 Anm. 18, 50 Anm. 19 Hirsch, E . 421 Anm. 122 Hobbes 164, 165, 170 Anm. 47, 312-314 Holz, H . H. 31 Anm. 12, 321 Anm. 91 Homer 322 Horaz 383, 413 Humboldt, W. von 275 Anm. 82 Husserl 155 Anm. 42, 235 Jacobi 1 8 2 - 1 8 3 , 183 Anm. 51, 395 Janz, R.-P. 273 Kadenbach, J . 450 Anm. 134 Kaiser, G . 241 Anm. 70, 274 Anm. 81, 284 Anm. 85 Kant 1, 32, 3 7 - 9 9 , 101, 103, 115, 130-131, 164, 186, 195-196, 213 - 2 1 4 , 216, 2 2 9 - 2 3 0 , 246, 256, 275 - 2 7 6 , 302 Anm. 87, 382, 3 9 4 - 3 9 5 , 423, 499, 502 Kelly, G . A. 370 Anm. 103 Kierkegaard 34, 94, 183,372, 373 - 4 4 3 , 4 4 5 , 466, 496, 513 Koeppen, F. 445 Kojève, Α. 307 Anm. 89, 338 Anm. 97, 3 6 6 - 3 6 8 , Anm. 101, Anm. 102 Krings, H . 421 Anm. 121 Kroner, R . 123 Anm. 33, 126 Anm. 35, 129 Anm. 38 Krüger, G . 24 Anm. 10 Kryger, E . 367 Anm. 101 Künzli, A. 421 Anm. 122 Landgrebe, L. 509 Anm. 149 Lask, E. 33 Lefèbvre, Η. 468 Anm. 143 Lehmann, G. 49 Anm. 18 Leibniz 31 Anm. 12, 58, 61, 75, 321 Anm. 91, 164, 476 Lenin 246, 497 Liebrucks, B. 334 Anm. 93 Locke 164, 463

525

Löwith, K. 23 Anm. 9, 384 Anm. 107, 390 Anm. 110, 501 Anm. 147 Lukács, G. 18 Anm. 7, 211 Anm. 55, 214 Anm. 57, 338 Anm. 97, 390 Anm. 109 Luxemburg, R. 497 Lykurg 219 Macchiavelli 453 Marcus Aurelius 346 Marcuse, H. 20 Anm. 8, 214 Anm. 56, 303 Anm. 88, 507 Anm. 148 Marx 8, 22, 23, 24, 162-163, 214, 223, 223 Anm. 62, 246, 260, 295, 322, 325, 340, 361, 367, 372, 388, 392, 428, 444 - 5 1 3 Maurer, R. K. 367 Anm. 102 Mayer, H. 334 Anm. 94 Melanchthon 37 Menze, C. 275 Anm. 82 Metzke, E. 511 Anm. 150 Mill, J . 460, 466 Mirabeau 222 Moritz, K. Ph. 226 Anm. 64 Müller, A. 39 Anm. 14 Nero 415 Nietzsche 1, 100 Anm. 29, 377, 383, 422, 425 Anm. 123, 431 Novalis 222 Nusser, K. 366 Anm. 100 Oisermann, T. 129 Anm. 38 Pascal 261 Pecqueur, C. 459, 463 Petrus Ramus 37 Pieper, A. 390 Anm. 109, 403 Anm. 115, 421 Anm. 121 Plato 2 5 - 2 6 , 48 Anm. 17, 62, 251-252, 278, 322, 377, 382, 403 Popitz, H. 214 Anm. 57, 218 Anm. 58 Popper, K. R. 5, 6 Anm. 1, 18 Proudhon 493, 496 Quintilian 37 Radermacher, H. 123 Anm. 32, 125 Anm. 34 Reinhard, K. F. 215 Reinhold 114 Anm. 31 Ricardo, D. 464, 473 Riedel, M. 335 Anm. 95, 486 Anm. 145 Ritter, J . 366 Anm. 100

526

Namenverzeichnis

Robespierre 366—367 Rod, W. 122 Anm. 32 Röttgers, Κ. 126 Anm. 35 Rosner, M. 468 Anm. 143 Rousseau 169, 175 Anm. 49, 213, 223-224, 275, 453, 511 Anm. 150 Ruge, A. 444 Sartre 380 Saß, H.-M. 444 Anm. 131 Schäfer, D. 139 Anm. 40 Scheler, M. 154 Anm. 41, 235 Schelling 68, 245, 359 Schiller 32, 173, 210-291, 499 Schleiermacher 32 Anm. 13, 419 Schlegel, F. 210, 409 Anm. 116 Schmidt, A. 18 Anm. 7 Schopenhauer 71 Schulz, W. 128 Anm. 37, 180 Anm. 50, 394 Anm. 112 Schurr, J. 162 Anm. 45 Schweppenhausen H . 430 Anm. 126 Shakespeare 388, 466, 469 Siep, L. 128 Anm. 37, 312 Anm. 90 Smith, A. 463, 472-474, 486,486 Anm. 145 Sokrates 39 Solon 219 Spickhoff, M. 114 Anm. 31 Spinoza 118, 121 Staiger, E. 284 Anm. 85 Stalin 9

Stein, L. von 457 Anm. 138 Stirner 316 Strauß, D. F. 445 Strauß, L. 312 Anm. 90 Theunissen, M. 421 Anm. 122 Thulstrup, N . 412 Anm. 117, 425 Anm. 124 Tielkes, M. 268 Anm. 77 Tocqueville 219 Anm. 59 Tomberg, F. 467 Anm. 142 Tonelli, G. 42 Anm. 16, 55 Anm. 21 Trendelenburg, A. 234 Anm. 69 Tuchscheerer, W. 460 Anm. 140 Volkmann-Schluck, K.-H. 92 Anm. 28, 279 Anm. 84 Wagner, F. 32 Anm. 13 Wahl, J. 372 Weil, E. 453 Anm. 135 Weischedel, W. 107 Anm. 30, 123 Anm. 33, 154 Anm. 41, 161 Anm. 44, 204 Anm. 53 Wieland 221 Wiese, Β. von 211-212 Anm. 55,221 Anm. 61, 241 Anm. 70, 270 Anm. 78 Willms, B. 164 Anm. 46, 172 Anm. 48 Wilpert, P. 42 Anm. 16 Wolzogen, W. von 214 Zenon 12-13, 42, 47, 54 Anm. 21

IV. Sachverzeichnis A = A 102-103, reflektiert auf Ich = Ich 103-104 non A nicht = A 108, reflektiert auf Ich = nicht Nicht-Ich 108-110 A = non A 112, reflektiert auf Teilbarkeit des Ich 112-114 Absolutes 28-30, 186-187, 190, 199-200, 360, 448, 504, A. und absolutes Ich 118121, 150, 183 , 207, 236, 295-296, 425, Bild des A. 202 abstrakt 192-194 (bei Hegel), 196 (bei Fichte), 504-506 (bei Marx) Abstraktion (άφαίρεσις, abstractio) 202— 203, 434, absolute A. 186, 188, 192-203, 314-315, separierende A. 194-198, logische/mathematische A. 194, A. in Hegels System 505-506 Achilles (aller dialektischen Schlüsse) 47 Achtung 230, 302 Anm. 87 Ärgernis 34, 396, 427-431 Analytik 43, dialektische A. 127-137, A. des Geschmacks 382 Andacht 354 Anerkennung 162-168, 300-302, 311, 362- 372, 474 Kampf um A. 312-314, A. des Herrn 325-326, A. des Knechtes 341-343, dankende A. 355-356 Angst 34, 328-329, 400 Anschauung (Ding — A.) 38—40, sinnliche A. 69-71, intellektuelle A. (bei Kant) 71, (bei Fichte) 105, A. des Einzelnen 434 Ansich 67-73, 98, 192, 297, 299 Anstoß 124, 141-142, 181, 205 Antagonismus 245—246, tragischer A. 247— 251, psychologischer A. 249 Anthropologie 22, 97, 391-S93, 397, 458 Antinomie 49-64, 80, 94-95, 178-179, 515, mathematische/dynamische A. 56, 82—84, kosmologische A. und Zeit 57, 60, 63 Antithetik transzendentale A. 49—50 Antithesis 117-127, 130-131, Haupt-A. (der W. L.) 127, 144-148

Apodeiktik 42 a priori / a posteriori (a parte ante) 58, 71 Arbeit 169, 260, 355-356, 458-459, 463, 472, 474, 483 -486, (πόνος) 458, 509, Dialektik der A. 322-344, entfremdete A. 484-492 Arbeitskraft (bei Fichte) 169, (bei Hegel) 325, (bei Marx) 463, 476, 504-505 Arbeitsteilung 212 Anm. 55, 215, 336, 473 Atheismus 453-454 Atheismusstreit 118 Atom 52, 74, Bahnabweichung (clinamen) der A. 62 Anm. 23 Aufforderung 151-162 Aufheben 4, 265 -266, 440-441, 475 Aufklärung 212 Anm. 55, 212-213, 220221 Augenblick (έξαίφνης - das Plötzliche) 187, 396, 403-404, ästhetischer A. 261, 271 Autonomie ethische A. 393—395, ästhetische A. 207, 272 -273, 276-279 Barbar 220-222 Basis / Uberbau 466 Anm. 142 Begierde 305-309, 368, Dialektik der B. 223 -224, gehemmte B. 336-337 Begreifen (Nachkonstruieren) 187-188, B. des Unbegreiflichen 188 Begriff göttlicher B. 26—27, notio completa 75, empirischer B. 194, B. als Durch 190-191, 199-200, Urbegriff 189-191, Selbstvernichtung des B. 185-192, B. und Leben 191, 199-200, Arbeit des B. 486, Begriffsexistenz 382 Bewegung 14-15, 299, B. und Materie 10, B. und Widerspruch 12-15, B. und Selbstbewußtsein 299-300 Beweis ostensiver / apagogischer B. 58 Bewußtsein Satz des B. 114 Anm. 31, B. und Leben 117-127, 303-305, Tatsache des B. 102-104, Fünffachheit des B. 101-102, gegenständliches B. 106-107, 298 -299, 303, unglückliches B. 311, 349,

528

Sachverzeichnis

351-361, 512, Β. der Verzweiflung 412422 Bild 179-180, B. des Absoluten 202 Charakter (character) 88, empirischer/intelügibler Ch. (bei Kant) 80-92, physischer/ moralischer/edler Ch. (bei Schiller) 215— 216, 221, 225, 227-228 Christentum 360, 392-393, 396, 426-427, 442-443, 453, Ch. und der Einzelne 3% Christus 427-431 Dialektik 25-26, 37-42, 295-296, historische D. 1 - 3 , D. der Natur 8-19, D. der Geschichte 19-25, D. der Logik 2 5 30, 444, 447-449, D. des Selbstbewußtseins 30-34, 100-115, 236-240, 295372, 376-381, 480-484, pyrrhonische D. 54, transzendentale D. 32, 37-99, limitative D . 32 - 3 3 , 100-209, antagonistische D. 32, 210-291, Soziodialektik 32-34, 153-178, 295-372, existenziale D. 3 2 34, 373 - 4 4 3 , D. der Entfremdung 3 2 34, 391-392, 444-513, natürliche D. der praktischen Vernunft 48 Anm. 17, 55 Anm. 22, D. der Anerkennung 162-168, 312-314, 325-343, quantitative/qualitative D . 396, 438-443, D. von Sünde und Glaube 422, 432, D. von Leben und Tod 479 - 4 8 0 , D. der Arbeitskraft 476, 504505 Deduktion (der Kategorien) 127—137, metaphysische/transzendentale D. 130-131 Ding (ens) D. an sich (noumenon) 67—73, 141, 196-198, Gedankending (ens rationis) 60, 479, ens possibile 67, Verdinglichung 468 Anm. 143 Disjunktion absolute D. 186—191 Disziplinierung 275—276 Dogmatismus 123-124, 152, 196-198 Doketismus 430 Du 160-161, Anm. 44, 354, 449 Durch (bei Fichte) 125, 190-191, 199-200 Durchsichtigkeit (bei Kierkegaard) 432 Anm. 127 Ebionitismus 430 edel 280, e. Charakter 227, e. Betragen 280-281, Dialektik der Veredlung 226229 Eigentum 164-165, 169, 213, 316, 455, Privateigentum (propriété) 473-474, 492-503

Einbildungskraft schaffende, zeitbildende E. 137-143, Schweben der E. 125, 183-184, 200, E. und Anstoß 142, idealbildende E. 149-150, E. und absolutes Wissen 182-185, E. (Phantasie bei Kierkegaard) 407-408, E. und Religion 391, 466, E. und Ärgernis 428 Einheit absolute E. 118-120, 185-192, Größen-E. 243 - 2 4 4 , Ideen-E. 245, E. menschlicher Zweiheit 251, 265 Einschränkung 82-87, 113, 253-254 Einzelne 305-306, 314-320, 372, Kategorie des E. 381-391, E. - Menge 386, E. unmittelbar vor Gott 391-397, 426-427, Dialektik von E. und Gesellschaft 507— 508, Anm. 128 Emanzipation 451—452, religiöse E. 452— 454, politische E. 454—457, menschliche E. 457, 492-503 Empfindung 242-243, 266, 275, 329-330 empirisch 102 Empirismus 124—125 Endlichkeit 71, 236-237, 437, E. - Unendlichkeit 146-147,298,406-407,447-448, E. und Streben 148, E. und Leben 191, 199-200 Entfremdung (aliénation, Entäußerung, Entwirklichung) 99, 223-224, 476, 492, religiöse E. 391-392, 444-457, 493-494, 509, E. von Mensch und Arbeit 487-492, dialektische Struktur der E. 504-505, 509-510 Entsagung 211 Entweder/Oder 182-183, 207, 393-395, 413, 436 Entwicklung 2 1 - 2 2 Epikureismus 61—62, 62 Anm. 23, 66 Erbauung (οίκοδομή, aedificatio) 422—424 Erhabenes 241 Anm. 70, 283-291, praktisch/theoretisch E. 287, mathematisch/ dynamisch E. 287 Eristik 4 0 - 4 1 Erkenntnis 69—71, historische E. (cognitio ex datis) 1, dogmatische E. 50, phantastische E. 408 Emst 260-261 erotematisch 39 Erscheinung (phaenomenon) 67-73, E. Gottes 185, E. des erscheinenden Geistes 295-296

Sachverzeichnis Erziehung 222, 275 -276, 331-332, E. und Aufforderung 162, ästhetische E. 211, 271-282 Existenz (Dasein) 99, 260-261, 288, 380, 382, 402 Anm. 114, 433 - 4 3 4 , 440-441, E. und Interesse 380—381, ethische E. 394, ethisch-religiöse E. 395, phantastische E. 407-408, ästhetische E. 414416, verschlossene E. 417—418, experimentierende E. 419—420, dämonische E. 420-421 Familie 313, 457, 497-498 Fatalismus 64, 410-412 Fetischismus 460, 466—469 Feudalismus 456 Anm. 137 Form (είδος, forma) 238, F. der Anschauung — des Denkens 69—71, F. der Grundsätze 100, 109, 114, Formtrieb 242-251 Fortschritt 2 0 - 2 1 , 286 Freiheit 57-58, 237, 298, 313, 435-436, 480-481, kosmologische F. 60, 62, 81, 85, 92, psychologische F. 63, moralischpraktische F. 82, 92, Wahl-F. (arbitrium liberam/sensitivum brutum) 90, F. und Schranke 151—152, absolute F. und Schrecken 219—220, F. und Anerkennung 362-372, ästhetische F. 500, Reich der F. 500 Fremderfahrung 151-162, 155 Anm. 42 Gattungswesen 454, 456, 479-483, G. (bei Feuerbach) 482, Entfremdung des G. 491-492 Gefühl 329-330, religiöses G. 32 Anm. 13, 330 Gegenstand (Objekt) 68-69, 72, G. als Nicht-Ich 109-110, G. der Lebenskraft 477, 478 Gehorsam 330—331 Geist 300, 305, 375 -379, 5 0 3 - 504, absoluter G. 360, 505 —506, europäischer G. 360- 361, subjektiver G. 361-372, 437, objektiver G. 396 Geld 387-388, 455, 465-471 Genuß 306, G. des Herrn 324-325, 491492 Geschmack 230, 241, 281 Geschichte 8 - 1 0 , 22-25, 482-484, begriffene G. 19, 508-513, heilige G. 429430, Heilsgeschichte 512 Geschichtlichkeit 1 - 2 , 482, 510-511

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Gesellschaft 154-155, 167, 170-172, 4 8 1 482, 491-492, bürgerliche G. 170, 2 1 3 214, 454-457, vollkommene G. 176-178, 507 Gesellschaftsvertrag (contrat social) 170, 172, 223 Gesetz G. des Umschlagens von Quantität in Qualität / der Durchdringung der Gegensätze / der Negation der Negation 10-12, 31 Anm. 12, G. der Selbstvernichtung des Begriffs 185—192, Sittengesetz 211 Gewohnheit 329-331 Glaube 181-182,431-432 Gleichheit 219-220, 281, Menschengleichheit 388-391, 455 Gnostizismus 430 Gott (ens realissimum / causa sui) 74, 118— 120, 410, (primus motor) 62 Anm. 24, 85, 471, G. und Selbstbewußtsein 118-123, 182-185, 188, 311, 372, 423-424, 4 3 8 439, G. und das unglückliche Bewußtsein 352-358, G. und der Einzelne 391-397, Verzweiflung vor G. 424—432, G. — der entfremdete Mensch 446-447, 449 Gottesbeweis, ontologischer 439—440 Gott-Mensch 391-392, 428-430, 428 Anm. 125 Grenze 46, 115, 146-147 Grund 119, 195, Satz vom zureichenden G. 61, 67, 75, 119 Haben (Ιξις, habitus) 474, 494-496, 501503 Harmonie, prästabilisierte 31 Anm. 12, 75 Herr 169, Dialektik des H . 322-326, 3 3 9 344, 364-365 Herrschaft 33, 99, 168-178, 312-372, 469, 491-492, Despotismus 174, 176 Historismus 1 Hoffnung 405 Humanismus 233, 264, ästhetischer H. 223, 228 - 2 3 1 , 272, 282-283, vollendeter H . 34, 444-513 Ich 72 - 73,93 - 9 4 , empirisches I. 69, Widerspruch von theoretischem und absolutem I. 144, anderes I. (alter ego) 151, 160161, 181, 300, 395 Ich = Ich 118-123, 149-151, 310, 383,419, 433 - 4 3 4 , 504

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Ich-Einsamkeit (Solipsismus) 153, 161, 280, 390, 417-418 Idealismus 31, 73, 124-125, 249-250, problematischer I. 68, materialer/formaler I. 68 - 70, abstrakter I. 128, 145, unvollständiger I. 130,1. im Widerstreit zum Realismus 188-192, 200-202 Ideal 149-150, 270, I.-Schönes 280-290 Idee 2 5 - 2 6 , 77, 232, 297, 382 Identität absolute I. 406, 426, I. von Denken und Sein 26, 188 Anm. 52, I. des Selbstbewußtseins 104, 109, I. des Lebens 303, Satz der I. 102-104, 437 Idylle 282-291 Illusion (illusio) 48—49, positivistische I. 96 Imperativ, kategorischer 90, 440 Imputabilität 63 - 6 4 , 88 Individuum (als Wechselbegriff) 163—165, 315-316, I. und Gattung 479-480, 5 0 7 508 Intelligenz an sich 196—197 Interesse 173-174, 197-198, 381-382, 440, I. der Vernunft 65—67, architektonisches I. 66, I. der Popularität 66, I. der existierenden Subjektivität 377-378, 380-381, gesellschaftliches I. 472-473 Ironie 414 Judenfrage 452—453 Kapital 466, Anm. 142, 472 Katechese 39 Kategorien 127-137, einfache K. 129, Zirkel der K. 138-139, K. der Existenz 401-402, K. des Einzelnen 397, K. des Seins 441 Kampf/Krieg 162, bellum omnium contra omnes 165, 170 Anm. 47, 313, Unterjochungs-, Vernichtungskrieg (bellum subiugatorium / internecinum) 318—320, K. auf Leben und Tod 209, 311, 312-320, K. um Anerkennung 365—366 Kausalität K. aus Freiheit 57-58, 91, K. aus Natur 59-60, Kategorie der K. 134-136, K. und Dogmatismus 198 Kosmologie (cosmologia rationalis) 52, 61, 64 Knecht 169, 213, 371, Dialektik des K. 326-337, Naturknecht 488 Knechtschaft 33, 99, 168-178, 312-372 Komische, das (bei Kierkegaard) 373, 375, 382-383, 415, 416, 433-434

Kommunismus 493, 512, roher K. 496-497, politischer K. 497-498 Kraft (vis activa primitiva) 476, 504—505 Kultivierung 275—276 Kultur 174-175, 175 Anm. 49, K. zur Freiheit 174-176, 210, theoretische/praktische K. 228-229, ästhetische K. 274275, physische/moralische K. 286-287 Kunst 222, 227-229, 264, 273 , 283, Immunität der K. 229, K. und Mensch 250, Anm. 65, 283 Leben 191-192, 200-201, 208-209, 299300, 458, Lebenstrieb 258 Leiden 134-136, 477-478, 501 Leidenschaft 477 Liebe (amour propre) 224-225, 264, Dialektik der Gottes-L. 207, Geschlechtsliebe 307 Licht (Existenzialform der Vernunft) 189— 190 Limitation Kategorie der L. 131-132, 252254, Dialektik der L. 8 6 - 87, 125-127, Krise der L. 178-185 List (der Vernunft) 24, 511-512 Logik L. des Scheins 37-43, 92-99, formale/transzendentale L. 102—104, spekulative L. 25-30, 77, 438-441, Wahrscheinlichkeitslogik (Logica probabilium) 37, 4 2 - 4 3 Macht M. des Negativen 4, M. des Herrn 323-325, 491, M. des Kapitals 472 Materie 10, 18, 198, 238-239, M. und Bewegung 10, M. des Satzes 100-115, M. der Grundsätze 100, 109, 114 Materialismus 196—198, historischer/dialektischer M. 8 - 1 9 , 510-513, M. und Spiritualismus 501, 508, Kritik des Feuerbachschen M. 508 Mediation 395 - 3 9 6 , 432, 434, 443 Mensch Bestimmung des M. 170 Anm. 47, 178-182, 239 -241, 373 -381, 475 -484, (animal sociale / ζφσν πολιτικόν) 153, 316, M. und Schönheit 229-232, 272273, der neue M. 264, 498-499, 501-503 Menschenrechte 171, 212-216, 281, 455 Merkantilismus 473 Metaphysik 195, Verstandesmetaphysik (metaphysica generalis/specialis) 45—46, 61, dogmatische M. 74—75, M. und Interesse 381-382, 440

Sachverzeichnis Methode 3—8, trial-and-error M. 5, katechetische/erotematische M. 39, skeptische M. 53 —55, synthetische M. (drei Arten) 127 Anm. 36, 185—192, der transzendentale Weg (bei Schiller) 229-233, M. und Leben (bei Hegel) 7, 2 5 - 3 0 Mimesis 277-279 Möglichkeit (δΰναμις, potentia) logische/ reale M. 67, M. und Wirklichkeit 200, 401-402, M. und Wesen 237-238, M. und Notwendigkeit 406, 409-412, M. des Wünschens 409, Geld-Vermögen 470 Moralisierung 276 Nationalökonomie 463—464, 471—473, aufgeklärte N . 473-475 Natur (als sinnliches Objekt) 102, 205, (1. Schöpferin) 270, (Gegenstand der Lebenstätigkeit) 488, subjektive/objektive N . 482, (bei Hegel) 506, Resurrektion der N . 507 Naturalismus (bei Kant) 58, 62, 67, 85, (bei Marx) 476, 504, 506-509 Negation 108-109, 113, Kategorie der N. (bei Fichte) 131-132, Negation der N. 10-12, 447-448, 512 Neid 384-385, 428, 497 Nicht-Ich 109-110, 141, 152, 205 Nicht-Ich-Ich 166, 167, 205 Nichts (nihil negativum) 60, (Kategorie der Logik) 439, 441, N. und Verzweiflung 419-420, 431 Nihilismus 24, 377, 393, 425 Anm. 123, 430-431, (bei Jacobi/Fichte) 152, 178185, 206 Nivellierung 384-386, 497 Notwendigkeit 406, 409-412, 435-436, N . und Freiheit 57-65, 82, 8 5 - 86, 178-179, blinde N . (fatum) 64, Ν. der Dialektik 508-509 Opposition analytische/dialektische O . 7 8 79, 111 Pantheismus 118, 396-397 Paradox 274, 282, 3%, absolutes P. (das Absurde) 35, 428-429, 442 Person 233—241, psychologische/transzendentale/moralische P. 234-235, P. und Sache 459-461, 464-465 Phänomenologie Ph. des Geistes 26-29, 295-296, 311, 361-362, Ph. des existierenden subjektiven Geistes 412—422

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Physiokratie (bei Kant) 57, 62, 85, (in der Nationalökonomie) 473 Poesie 283 Praxis 485-486 Presse 386-387 Prinzip (άρχή) 195, P. des Widerspruchs / des ausgeschlossenen Dritten / des zureichenden Grundes 61, 67, 75, 119, regulatives P. 76, 79 Publikum 387-388 Qualität 10-11, 424, 426, 439-442, (Kategorie der Logik) 440—441 Quantität 10-11, 440-442 Quantitabilität 113-114, 124 Realität objektive R. 68 - 70, 98, Kategorie der R. 131-132, Allrealität 118-120, Urrealität 190-192 Realismus 70—72, R. im Widerstreit zum Idealismus 188-192, 200-202, 249-250 Recht 102, 153-154, R. auf alles (ius in omnia) 165, veräußerliches/unveräußerliches R. 170-173 Reflexion abstrahierende R. 102-105, R. und Interesse 381, 384-385, Zeit der R. 396 Anm. 113, bedingte R. 416 Religion 102, 330, 445-447, Religiosität 423 - 4 2 4 , R. (Opium des Volkes) 450, R. des Geldes 372, 386-388, 466-471 Reue 423 Revolution 172-174,368-370, Französische R. (bei Fichte) 172-179, (bei Hegel) 210211, (bei Schiller) 210-223, (bei Marx) 223 Anm. 62, 455 Anm. 136, (bei Kierkegaard) 391 Anm. 111, heilige R. 222, bürgerliche R. 454—455, R. der Denkungsart 499, R. der Empfindungsweise 275 Rezeptivität 70-71 Rhetorik 4 0 - 4 1 Rigorismus 252 Sache (res corporalis) 234, S. und Person 459-461, 464-465 Satire 373 —375, prosaische/poetische/gottesfürchtige S. 373, satirische Dialektik 373— 381 Schein natürlicher S. 43—49, einseitiger/zweiseitiger S. 44, 51, empirischer S. 44, künstlicher S. 46—47, S. der Sprache 101 Anm. 29, S. des Schönen 277-279, aufrichtiger/ selbständiger S. 288

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Sachverzeichnis

Schluß hypothetischer S. 74 Anm. 26, prosyllogistischer S. (rariocinatio prosyllogistica) 76, 77, Trugschluß (fallacia) 47, Fangschluß (captatio dialéctica) 39, Rückschluß (regressus in infinitum) 59 Schönheit 229-233, 281, 490, S. und politische Freiheit 211-212, 228 -229, (Symbol des Sittlich-Guten) 256, (lebende Gestalt) 258-260, (2. Schöpferin) 264-271, schmelzende/energische S. 288, Ideal-S. 288-290 Schranke 46, 115, transzendentale S. 144— 151, 195-196, (in der W. L.) 178-185, 205-207, (Kategorie der Logik) 145-147 Schwermut 409-410 Sein reines S. 2 8 - 2 9 , (W. L. 1801) 184-185, (W. L. 1804) 202-203, (Anfang der Logik) 438-440, S. ohne - mit Prädikat 103-104, S. ist kein reales Prädikat 439, S. und Sprache 29, 202, Unbegreiflichkeit des S. 29, 30, Gegenständlichsein 98, 188 Anm. 52, 503, (esse = percipi) 69, S. als Sollen 121, S. als Tätigsein und Leben 458,510 Selbstanfang (Spontaneität) 59, 60 Selbstbewußtsein (Apperzeption) 28,30—34, 130, 308-309, (Phänomen des Geistes) 295 - 3 7 2 , S. Gottes 118-123, Anfang des S. 156-160, Ursprung des S. 303-311, allgemeines S. 309-311, 362-372, S. und Welt 358-359, S. der existierenden Subjektivität 373-381, theologisches S. 424425, S. und Gattungswesen (bei Marx) 480-481 Sinne 495-496, 499-500 Skeptizismus 53—54, 311, Dialektik des S. 348-349 Sklave 169, 171, 234, Sklaverei 344, 369, 371 Sollen 121, S. und Schranke 144-151 Sophisma 47, sophisma figurae dictionis 75 Sophistik (ars sophistica) 37, 39—42 Spiel 260, S. und Ernst 260-261, S. der Kunst 263, S. und Arbeit 260,285-286 Spießbürger 411, (triviale Existenz) 413 Spiritualismus 501, 504, 508 Sprache 334-335, 410-411, Gerede 387, S. und Schweigen 417—418, entfremdete S. 499 Anm. 146 Sprung 396—397, qualitativer S. (Kategorie der Entscheidung) 442 —443, qualitativer S. (in Naturdialektik) 8 - 1 9 , 442 Stadienlehre 406, 443

Staat 171-172, 215, 313-314, 453, S. und Gesellschaft 176-178, Notstaat, äußerer S. 213-225, 454, Vernunftstaat, ethischer S. 215-225, ästhetischer S. 271-282, Aufhebung des S. 497-498, Staatsformen 21 Stoizismus 311, 341—344, Dialektik des S. 344—348, konsequenter S. 123, S. der Existenz 419-421 Streben 148-150 Subjekt transzendentales S. 69, 72,106,298299, absolutes S. 106, 236, 240-241, S.Objekt 107, 125, 500-501, Subjekt-Prädikat 446 Subjektivismus, individueller 155 Anm. 42 Subordination 251-253, 270 Subreption 77 Substanz (ούσία, substantia) (bei Aristoteles) 16—17, 297, 382, substantia cogitans / extensa 106, 151, 506, (bei Fichte) 136-139, (ύπόστασις) 233, substantia unica 479, substantia prima/secunda 507 Sünde 424-425, Dialektik der S. 425-427 Synthesis 4, 117-127, 130-131, S. der theoretischen Vernunft 137—143 Symbol 255-262, 281-283 System 405—406, système monétaire 460,472 Tätigkeit 134-136, 477, 500-501, 510, (agere/facere) 485 Tathandlung 105-108, 130, 476 Teleologie 22-25, 511-513 Theodizee 22, 23 - 2 4 , 286, 509 Anm. 149, 512 Thesis 117-127, 130-131, 510 Tod 192,208-209,313-314, Krankheit zum T. 209,397-405, Kampf auf Leben und T. 209, 311, 312-320, T. und Vergöttlichung 241 Anm. 70, 285-291, (absoluter Beweis der Freiheit) 313, 366—367, (Sieg des Gattungslebens) 479-480, Dialektik der Todesfurcht 327—330, (der absolute Herr) 328, T. und Arbeit 333-334 transzendent/transzendental 44—45 Triadik 4, 406 Trichotomie 101 Trieb (appetitus) 242, 476, 482, Stofftrieb 242-251, Formtrieb 242-251, Spieltrieb 257-263, Priorität des sinnlichen T. 266, ästhetischer T. 268 Trinität 233 Triplizität 21, 100-101, 378

Sachverzeichnis Trilogie 433 Tuismus 449 Unendlichkeit 146-147, 298 , 406-407, 447-448, schlechte U. 147, 306, spekulative U. 448 Unmittelbarkeit 414-415, verneinte U. 429 Unsterblichkeit 45, 209 Urteil spekulatives U. 101 Anm. 29, thetisches/anaiytisches/synthetisches U. 122 Vernunft Sophistikation der V. 48, praktische V. 48 Anm. 17, 55 Anm. 22, Interesse der V. 6 5 - 6 7 , V. und Verstand 80, Primat der praktischen V. 120,144-151, theoretische/ praktische V. (bei Fichte) 133-134, Synthesis der theoretischen V. 137—143, List der V. 24, 511-512, V. und Sinnlichkeit 251 -252,265-266,289 -290, Versöhnung der V. 358 Verzweiflung 34, 396, 398-405, Analytik der V. 406-412, V. und Bewußtsein 412422, uneigentliche/eigentliche V. 398, 413-416, V. der Schwäche 416-418, V. des Trotzes 418-421

Wahrheit (adaequatio) 80-81, 482, (certitudo) 201, 298, 431, (άλήθεια) 201-203, 278, koinzidentelle W. 204, W. und Irrtum 44, abstrakte W. 192-193 Wahrscheinlichkeit 42-43, 411, Dialektik der Unwahrscheinlichkeit 442 —443 Ware 460-463, Warenwelt 458-465, Zirkulation der W. 467-468, Fetischcharakter der W. 468-469 Wechselwirkung (Relation) 134, 242-253, W. der Triebe (bei Schiller) 251-263 Welt 74, (mathematisches/dynamisches Ganze aller Erscheinungen) 82 - 8 3 , 96-99, W.-Größe / -Beschaffenheit / -Ordnung / -Grund 52-53, 74-75, moralische W. 97, Menschenwelt 97, (formloser Inhalt der Zeit) 238-239, historische W. 286, verkehrte W. 451, 457-465, 470-471, W.Geschichte 511-513, Waren-W. 458-465, Weltlichkeit (des Daseins) 408-409, 414

533

Werden 299-300, W. Entstehen/Vergehen 440, W. des Selbstbewußtseins 156-160, Selbst-W. 435-436 Werk (έργον) 485-487, 489 Wert, Würde 250, 459-461, W.-Größe 462, Gebrauchs-, Tauschwert 460—462 Widerspruch 61, 67, daseiender W. 12—15, W. und Leben 15-17, W./Widerstreit 7 8 79, Genesis des W. 110-122, W. der Subjekte 308-309, W. und Unmittelbarkeit 414-415, W. der Ökonomie 471-475 Wiederholung 396 Wilder 218 -219, 275 - 2 7 6 Wille 90, 98, 120, 144-151, 285-288, W. und Zukünftigkeit 59—60, Eigenwille 356-357, W. der Liebe 359, Generalwille (volonté générale) 224, absoluter W. 360, phantastischer W. 408 Wissen, absolutes 178-203, 187, 296 Wirklichkeit (ένεργεια, actus) 68-70, 485487, W. und Traum 6 0 , 6 4 , 6 8 - 70, W. und Ideal 149-150, 277, W. und Materie 238, W. und Möglichkeit 200, 237-238, 402, W. und Schein 277-278, W. und Begriff 402, Wesensverwirklichung234—241, Verwirklichung/Entwirklichung 488 Zeichen 429 Zeit (Maß der Bewegung) 462, Z. und Selbstanfang 59, Jetzt-Z. und Antinomie 57, 60, 63, stehendes Jetzt (nunc stans) 26, Zeitigung der Z. 137-143, 158-160, Z. und Werden des Ich 156—160, Z. und Zustand 237, Z. erschaffen/aufheben 239-240, Schranke der Z. 243, freie-, Arbeitszeit 502-503, Zeitvergessenheit 97-99 Zerstreuung (divertissement) 261 zetetisch 50 Zirkel (logischer/transzendentaler Grundsätze) 104, (von Kausalität und Substantialität) 138-139, (im Anfange des Selbstbewußtseins) 156—157, (der Veredlung) 227-229 Zivilisierung 275 Zucht 330-332 Zustand 233—241, mittlerer (ästhetischer Z.) 264-271, 276-277, Naturzustand (status naturalis) 213, 218, 312 Zweifel 178-179, Z. und interesse 376-377, Ζ. und Verzweiflung 412-413, 422

w DE

G

Wolfgang Janke

Walter de Gruyter Berlin · N e w a r k Fichte Sein und Reflexion — Grundlagen der kritischen Vernunft Groß-Oktav. XVI, 428 Seiten. 1970. Ganzleinen D M 58, — ISBN 3 11 006436 7

Johann Gottlieb Fichte

Nachgelassene Werke Herausgegeben von Immanuel Heinrich Fichte 3 Bände. Oktav. 1834/1835. (M. & H . Marcus) Nachdruck 1962. Ganzleinen DM 1 3 5 , ISBN 3 11005101 X Band 1 : Johann Gottlieb Fichtes Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre, die transzendentale Logik, und die Thatsachen des Bewußtseins; Vorgetragen an der Universität zu Berlin in den Jahren 1812 und 1813. VIII, 575 Seiten. 1843. Thatsachen des Bewußtseins; vorgetragen an der Universität zu Berlin in den Jahren 1812 und 1813. VIII, 575 Seiten. 1834. Band 2: Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre und das System der Rechtslehre; vorgetragen an der Universität zu Berlin in den Jahren 1804, 1812 und 1813. IV, 652 Seiten. 1834. Band 3: Johann Gottlieb Fichtes System der Sittenlehre, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten und vermischte Aufsätze. VIII, 453 Seiten. 1835.

Johann Gottlieb Fichte

Sämmtliche Werke Herausgegeben von Immanuel Heinrich Fichte 8 Bände. Oktav. 1945-1946 (Veit & Comp.) Nachdruck 1965/1966. Ganzleinen DM 4 2 0 , ISBN 3 11005147 8

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