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German Pages 283 [285] Year 2001
Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editor:
HUBERT CANCIK SUSANNA ELM
CHRISTOPH MARKSCHIES
(Jena)
Beirat/Advisory Board (Tübingen) • G I O V A N N I C A S A D I O (Salerno) (Berkeley) • J O H A N N E S H A H N (Münster) J Ö R G R Ü P K E (Potsdam)
8
A R T I BUS
Barbara Conring
Hieronymus als Briefschreiber Ein Beitrag zur spätantiken Epistolographie
Mohr Siebeck
B A R B A R A C O N R I N G , geboren 1969; 1 9 8 9 - 1 9 9 6 Studium der e v a n g e l i s c h e n T h e o l o g i e und Germanistik in T ü b i n g e n , Wien und G ö t t i n g e n ; 2 0 0 0 P r o m o t i o n in ev. T h e o l o g i e in Jena.
Die Deutsche Bibliothek
-
CIP-Einheitsaufnahme
Conring, Barbara: Hieronymus als Briefschreiber : ein Beitrag zur spätantiken Epistolographie / Barbara Conring. - Tübingen : Mohr Siebeck, 2001 (Studien und Texte zu Antike und Christentum ; 8) ISBN 3-16-147502-X
978-3-16-158652-1 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019
© 2001 J . C . B . M o h r (Paul S i e b e c k ) T ü b i n g e n . Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung a u ß e r h a l b der e n g e n G r e n z e n des U r h e b e r r e c h t s g e s e t z e s ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrov e r f i l m u n g e n und die E i n s p e i c h e r u n g und Verarbeitung in elektronischen S y s t e m e n . Das Buch w u r d e von Druck Partner R ü b e l m a n n in H e m s b a c h auf a l t e r u n g s b e s t ä n d i g e s Werkd r u c k p a p i e r g e d r u c k t und g e b u n d e n . ISSN 1436-3003
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Juni 1999 als kirchengeschichtliche Dissertation von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen. Für die Veröffentlichung wurde die Untersuchung unter Berücksichtigung der seither erschienenen Literatur leicht überarbeitet. Ich danke meinem Doktorvater Prof. Christoph Markschies fur sein Interesse an meiner Arbeit und seine engagierte Betreuung. Ihm habe ich auch die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Studien und Texte zu Antike und Christentum zu verdanken. Die Untersuchung ist zum Teil im Rahmen des Jenaer Graduiertenkollegs „Leitbilder der Spätantike" entstanden. Die Veranstalter und Kollegiaten haben zum Entstehen meiner Arbeit beigetragen, der DFG danke ich für die finanzielle Unterstützung. Viele Menschen haben sich um kritische Diskussion meiner Überlegungen und Korrekturarbeiten verdient gemacht: Herzlich danke ich Ursula Heinemann, Henrike Müller, Dr. Christoph Schubert und vor allem meinem Mann, Pastor Justus Conring. Gewidmet sei diese Arbeit meiner Tochter Adline. Grohnde, im Juli 2000
Barbara Conring
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Einleitung
1
Kapitel 1: Der Brief
5
1. Antike Briefe 1.1. Technik und Publikation 1.2. Antike Brieftheorie
5 5 7
2. Was ist ein Brief? Forschungsgeschichtlicher Überblick 2.1. Die „Deißmann-Kontroverse" 2.1.1. Brief und Literatur 2.1.2. Brief und Individuum 2.2. Topik in antiken Briefen 2.3. Neuere epistolographische Ansätze
17 17 17 23 25 30
3. Zusammenfassung und A usblick
35
Kapitel 2: Leben und Briefwerk des Hieronymus
37
1. Biographischer Abriß
37
2. Einleitungsfragen zum Brief corpus
40
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
46
1. Einleitung
46
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief 2.1. Form 2.1.1. Einleitung des Schlusses 2.1.2. Strukturierung des Textes 2.1.3. Betonung der Relevanz eines Themas 2.1.4. Begrenzung des Inhaltes 2.1.5. Zusammenfassung 2.2. Stil 2.3. Inhalt 2.4. Wesen 2.4.1. Freundschaft 2.4.1.1. Grundlage von Freundschaft
48 48 48 49 51 57 61 62 64 70 71 71
VIII
Inhaltsverzeichnis 2.4.1.2. Knüpfen von Freundschaft 2.4.1.3. Bedingungen 2.4.1.4. Konsequenzen 2.4.2. Begegnung 2.4.2.1. Lose Verbindung 2.4.2.2. Vertreter für den Korrespondenzpartner 2.4.2.3. Abwesende werden zu Anwesenden 2.4.2.4. Herbeiführung der Begegnung 2.4.2.5. Wer kommt zu wem? 2.5. Funktion 2.6. Epistula als Textsorte
72 74 75 82 84 85 86 88 97 98 100
3. Die Briefsituation 3.1. Vorgang der Brieferstellung 3.2. Materialien 3.3. Technische Gestalt 3.4. Abfassungszeit 3.5. Zustellung 3.6. Adressatenkreis
105 106 109 110 111 118 120
4. Zusammenfassung und Ausblick
122
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
125
1. Methodische Vorüberlegungen 1.1. Methodische Beispiele 1.2. Methodik 1.3. Textauswahl
125 125 130 137
2. Exemplarische Analysen 2.1. Epistula 34 ad Marcellam 2.1.1. Marcella 2.1.2. Einleitungsfragen 2.1.3. Einzelanalyse 2.1.3.1. Kapitel 1 2.1.3.2. Kapitel 2 2.1.3.3. Kapitel 3 2.1.3.4. Kapitel 4 2.1.3.5. Kapitel 5 2.1.3.6. Kapitel 6 2.1.4. Zusammenfassung 2.2. Epistula 54 ad Furiam de uiduitate seruanda 2.2.1. Furia 2.2.2. Einleitungsfragen 2.2.3. Einzelanalyse
142 142 142 146 147 147 150 155 160 164 166 167 170 170 172 174
Inhaltsverzeichnis
2.2.3.1. Kapitel 1-3 2.2.3.2. Kapitel 4-13 2.2.3.3. Kapitel 14-18 2.2.4. Zusammenfassung 2.3. Epistula 15 ad Damasum 2.3.1. Damasus 2.3.2. Einleitungsfragen 2.3.3. Einzelanalyse 2.3.3.1. Kapitel 1 2.3.3.2. Kapitel 2-4 2.3.3.3. Kapitel 5 2.3.4. Zusammenfassung 2.4. Epistula 109 ad Riparium Presbyterum 2.4.1. Riparius 2.4.2. Einleitungsfragen 2.4.3. Einzelanalyse 2.4.3.1. Kapitel 1,1 2.4.3.2. Kapitel 1,2-3 2.4.3.3. Kapitel 4 2.4.4. Zusammenfassung 3. Vergleich und Zusammenfassung 3.1. Fragestellung 3.2. Ergebnisse 3.3. Charakteristika flir Hieronymus als Briefschreiber 3.3.1. Inhaltliche Orientierung 3.3.2. Adressatenorientierung und Rolleneinnahme 3.3.3. Topik 3.3.4. „Dekadenzlinie" 3.3.5. Gattungsfrage
IX
174 180 190 195 198 198 201 203 203 204 212 213 215 215 216 217 217 218 220 220 222 222 223 225 225 226 227 228 228
Kapitel 5: Hieronymus zwischen Christentum und paganer Bildung
230
1. Methodische Vorüberlegungen
230
2. Pagane Bildung
230
3. Christliche Elemente
241
4. Hieronymus als Briefschreiber - Zusammenfassung und Ausblick
248
Literaturverzeichnis 1.Quellen
253 253
X
Inhaltsverzeichnis
2. Hilfsmittel 3. Sekundärliteratur
254 255
Stellenregister
266
Personen- und Sachregister
269
Einleitung Diese Arbeit soll einen Beitrag zur Erforschung der lateinischen christlichen Briefliteratur der Spätantike liefern. Es soll der Versuch unternommen werden, einen Verfasser und seine Briefe exemplarisch für den Umgang mit literarischer Tradition in der Spätantike zu untersuchen. Ein solcher Versuch steht in der Tradition altphilologischer und kirchenhistorischer Forschung zur Epistolographie, wie sie, um einige einflußreiche Vertreter zu nennen, von Peter1, Sykutris2, Thraede3 und Koskenniemi4 betrieben worden ist. Durch die genannten Untersuchungen sind Grundzüge des antiken und spätantiken Briefschreibens herausgearbeitet worden. Ein einzelnes Briefcorpus aus der lateinischen christlichen Literatur ist jedoch nach meinem Kenntnisstand bis jetzt noch nicht unter literaturwissenschaftlichen und formgeschichtlichen Aspekten betrachtet worden. Ebenso ist die Struktur und Eigenart christlicher spätantiker Briefe bis jetzt nicht Gegenstand eigener Forschung gewesen. Für eine solche Untersuchung bieten sich zahlreiche Briefcorpora christlicher Verfasser an: Von Cyprian, Symmachus, Augustinus, Gregor von Nazianz und Basilius, um nur einige zu nennen, sind umfangreiche Briefcorpora überliefert. Für die meisten dieser Briefcorpora stehen literaturwissenschaftliche Analysen, die sich an der Gattung des Briefes orientieren, noch aus. Für diese Arbeit sind die Briefe des Hieronymus als Untersuchungsgegenstand gewählt worden5. Hiermit liegt ein besonders umfangreiches corpus vor, das sich besonders aus zwei Gründen für die Analyse empfiehlt. Zum einen ist Hieronymus ein Theologe, der eine fundierte Schulausbildung genossen hat und daher über die Bildungsvoraussetzungen verfugt, um die literarische und rhetorische Tradition zu rezipieren. Das macht seine Briefe zu einer Schnittstelle von paganer und christlicher Literatur.
1 Vgl. H. PETER, Der Brief in der römischen Litteratur. Literaturgeschichtliche Untersuchungen und Zusammenfassungen, AbhLeipzig XX, Leipzig 1901. 2 Vgl. J. SYKUTRIS., Art. Epistolographie, RE Suppl. 5, Stuttgart 1931, 186-220. 3 Vgl. K. THRAEDE, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik, Zet. 48, München 1970. 4 Vgl. H. KOSKENNIEMI, Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n. Chr., Helsinki 1956. 5 Hieronymus, Epistulae, hg. von I. Hilberg, Editio altera supplementis aucta, CSEL 54-56/1, Wien 1910 (Nachdruck 1996), Partes I-III.
2
Einleitung
Zum anderen liegt mit den Briefen des Hieronymus ein in inhaltlicher und formaler Hinsicht besonders vielfältiges Briefcorpus vor. Das ganze mögliche epistolographische Panorama breitet sich in seinen rund 130 Briefen aus: Wir finden Nekrologe, exegetische Abhandlungen, dogmatische Skizzen, kurze Notizen und Mitteilungen, Dankesbriefe und Freundschaftsbriefe. Besonders während seines Aufenthaltes in Bethlehem spielt der Kirchenvater mit der Gattung und zeigt unterschiedlichste Weisen der Verwendung auf. Der Brief dient der Seelsorge, dem Kampf um Orthodoxie und Ethik; er dient Hieronymus als unerläßliches Mittel der Kommunikation. Zwei grundlegende Charakteristika von Briefen, einerseits von antiken Briefen, andererseits von Briefen überhaupt, sind m.E. gattungsbestimmend und sollen auch die Struktur der Untersuchung prägen. Briefe sind, wie andere antike Gattungen auch, deutlich6 von formalen Vorgaben geprägt. Die Gattung des Briefes in der Spätantike orientiert sich in ganz entschiedener Weise an klassischen Formen. Wenn auch in rhetorischen Handbüchern der Antike die epistula lediglich als appendix auftaucht, so entspricht doch die rhetorische Gestaltung dem Regelwerk anderer Gattungen. Es gibt Normen und Konventionen, die dem antiken Briefschreiber präsent sind, nicht zuletzt durch seine schulische Bildung. Der Gattungsbezug erweist sich bei antiken Briefen vor allem in der Verwendung einer briefspezifischen Topik. Thraede7 hat mit seiner Untersuchung gezeigt, daß in spätantiker Zeit ein ganzes briefspezifisches topisches Arsenal vorlag, das beliebigen Texten Briefcharakter verleihen konnte. Der christliche spätantike Brief steht somit in einem festen Traditionszusammenhang. Um diese Briefe sachgerecht zu interpretieren, gilt es, die briefspezifische pagane Topik zu kennen, neue, möglicherweise christliche Elemente herauszukristallisieren, und die Topik auf ihre jeweilige Funktion im Kontext eines Briefes hin zu befragen. Die zweite grundsätzliche Annahme zum Brief ist die Verortung dieser Gattung in kommunikativen Zusammenhängen. Bereits in der griechischen Brieftheorie wird der Brief als Hälfte eines Gespräches bezeichnet und damit der Weg in die mündliche Kommunikation gewiesen8. Hier gilt es freilich zu bestimmen, inwiefern eine schriftliche Gattung Nähe zu mündlicher Kommunikation haben kann und zu prüfen, wo Unterschiede zu verzeichnen sind. Als Konsequenz für die Analyse von Briefen ist festzuhalten, daß die Mittel der Kommunikationstheorie anzuwenden sind. Die Kommunikationstheorie liefert das Instrumentarium, verbale und nonverbale Interaktion zu beschreiben und zu erklären. Auch wenn Kommunikationstheorie ein Ergebnis moderner psy6
Diese Prägung schwankt von Autor zu Autor und von Brief zu Brief, insgesamt ist sie aber stets erkennbar. 7 Vgl. THRAEDE, Grundzüge, passim. 8 Demetrios, nepi êpnr|veïaç 223 (Demetrios, FIEPI EPMHNEIAS/Démétrios, Du Style, Texte établi et traduit par P. Chiron, CUFr, Paris 1993, 63,1-66,5).
Einleitung
3
chologischer Forschung ist, so sind doch grundsätzliche Erkenntnisse zur zwischenmenschlichen Kommunikation auch auf die Kommunikation der Antike übertragbar und können somit für die Briefanalyse fruchtbar gemacht werden. Entsprechend den beiden Grundannahmen zur Gattung „ B r i e f ' soll in formgeschichtlicher Perspektive die Verwendung der briefspezifischen Topik und deren Funktionalisierang in den hieronymianischen Briefen untersucht werden. In literaturwissenschaftlicher Hinsicht sollen vor allem Struktur und Rhetorik der Briefe sowie deren kommunikative Funktion analysiert werden. Mittels dieser Untersuchungsschritte soll versucht werden, Gestalt und Funktion der Briefe zu beschreiben. Der erste Schritt wird die Annäherung an die Gattung sein. Hierbei gilt es zum einen, einen Überblick über die Praxis des antiken Briefschreibens, Technik und Publikation, über antike Brieftheorien und Briefsteller zu bekommen. Zum anderen soll aber die Annäherung an die Gattung mittels einer Darstellung der epistolographischen Forschung des ausgehenden letzten und dieses Jahrhunderts geschehen. Hierbei scheint mir besonders die neuere brieftheoretische Forschung, wie sie im Bereich der Germanistik vorliegt, beachtenswert. Der Hauptteil der Arbeit wird sich Hieronymus und seinen Briefen widmen. Unseren Grundannahmen vom Brief folgend, wird dieser Hauptteil aus zwei Teilen bestehen. Der erste Teil wird sich Hieronymus' Auffassung vom Brief widmen und seinen zentralen Punkt in der Untersuchung des „Wesens" des Briefes nach Hieronymus haben. Hierbei soll den expliziten Aussagen des Kirchenvaters nachgegangen und gewissermaßen seine Brieftheorie dargestellt werden. Dieser Untersuchungsschritt zielt darauf ab, die Elemente der briefspezifischen Tradition in den Briefen des Hieronymus zu ermitteln. Welche briefbezogene Topik taucht in den hieronymianischen Briefen auf? Wie wird sie verwendet und funktionalisiert? Lassen sich topische Elemente feststellen, die über die Traditionszusammenhänge hinausgehen? Danach sollen in einem zweiten Teil exemplarisch einzelne Briefe des Hieronymus analysiert werden. Die Kriterien für die Analyse von Briefen lassen sich entsprechend unserer zweiten Grundannahme mit Hilfe kommunikationstheoretischer Modelle erarbeiten. Bei der Analyse soll das Vorgehen des Kirchenvaters beschrieben, sollen seine Vorbilder bestimmt und seine jeweiligen Ziele ermittelt werden. Ein abschließender Teil wird sich mit der Bestimmung des Standortes von Hieronymus als Briefschreiber zwischen paganer Bildung und Christentum beschäftigen. Bewußt trägt diese Arbeit ihren Untertitel „Ein Beitrag zur spätantiken Epistolographie", denn sollte sich das intendierte Vorgehen als ertragreich erweisen, so wären ähnliche Fragen an andere spätantike christliche Autoren zu stellen, und die hier vorliegenden Ergebnisse könnten einen Baustein für das Bild spätantiker christlicher Epistolographie darstellen.
Kapitel 1
Der Brief 1. Antike Briefe 1.1. Technik und Publikation Griechische und lateinische Briefe wurden zunächst auf Holztäfelchen geschrieben, die innen mit Wachs überzogen waren (tabellae)'. Mit Aufkommen des Papyrus als Schreibmaterial wurde dieser auch für Briefe genutzt, beschrieben, gerollt bzw. gefaltet, zugebunden und versiegelt2. Spätestens in römischer Zeit wurden Briefe in der Regel diktiert und in mehreren Ausgaben angefertigt, so daß der Absender stets ein Exemplar seines Briefes bei sich behielt, um möglicherweise davon Kopien machen lassen zu können. Diese Abschriften wurden in Kopialbüchern der Hausarchive gesammelt3. Ein Brief begann normalerweise mit der Grußformel (xaipevv) und endete mit einem Gesundheitswunsch (epptoao)4. In der Grußformel war in der Regel der Name des Absenders dem des Adressaten vorangestellt5.
1
Vgl. H. BLANCK, Das Buch in der Antike, Beck's archäologische Bibliothek, München 1992, 48-51; K. DZIATZKO, Art. Brief, PRE III/l, München 1887 (Nachdruck 1991), (836-843) 837, und W. SCHUBART, Das Buch bei den Griechen und Römern, Leipzig 3 1961, 28-32. 2 Vgl. BLANCK, Buch, 56-58 (Papyrus), 75-85 (Rolle); Th. BIRT, Das Antike Buchwesen in seinem Verhältnis zur Litteratur. Mit Beiträgen zur Textgeschichte des Theokrit, Catull, Properz und anderer Autoren, Berlin 1882, 46-126; J. SCHNEIDER, Art. Brief, RAC 2, Stuttgart 1954, (564-585) 568; SCHUBART, Buch, 9-23 (Papyrus), 37-99 (Rolle), und M. ZELZER, Die Briefliteratur, NHL 4, Wiesbaden 1997, (321-353) 328. 3 Vgl. PETER, Brief, 32. 4 Vgl. DZIATZKO, Brief, 839; J.L. WHITE, New Testament Epistolary Literature in the Framework of Ancient Epistolography, ANRW 11/25.2, 1984, (1730-1756) 1734. Zur Differenzierung bzw. Erweiterung der Formeln nach unterschiedlichen Brieftypen und Bekanntheitsgrad der Korrespondenten vgl. ebd. 5 Vgl. DZIATZKO, Brief, 839; S.K. STOWERS, Letter Writing in Greco-Roman Antiquity, LEC 5, Philadelphia 1986, 20. Stowers weist auf die Notwendigkeit hin, sorgfältig auf mögliche Abwandlungen dieser Formeln zu achten, beispielsweise sei bei Paulus „a kind of Christian play on the standard formula" zu beobachten (vgl. a.a.O., 21). Zum Aufbau des Hauptteiles der Briefe („body") vgl. a.a.O., 23f.
6
Kapitel 1: Der Brief
Mit eigenhändiger Unterschrift am Ende des Textes beglaubigte der Verfasser den Brief als sein Werk6. Die Datierung erfolgte am Ende eines Briefes, die Adresse stand auf der Rückseite, also bei gerollten Papyri auf der Außenseite7. Nach ciceronischer Terminologie verstand man unter einem Uber einen einzelnen, eher umfangreichen, geschlossenen Brief, unter volumen mehrere zusammengefugte Briefe8. Wurden die libri mit einem Faden verrollt, so nannte man den Vorgang complicare, der Beutel, in den man die einzelnen Briefrollen tat, hieß fasciculus9. Die Zustellung von Briefen erfolgte via Boten10. Hinsichtlich der Edition ergibt sich ein disparates Bild. Amtliche Briefe haben naturgemäß öffentlichen Charakter, sind aber bis auf wenige Ausnahmen nicht ediert worden und daher ist von der großen Menge an Amtsbriefen heute nur ein kleiner Teil bekannt11. Die Ausnahme bilden hier kaiserliche Reskripte. Briefe, die in privaten Zusammenhängen verfaßt wurden, sind bis auf wenige Ausnahmen auch nicht ediert worden. Erste Beispiele für die Edition nicht amtlicher Briefe sind die Korrespondenzen Ciceros, Cäsars, des Antonius, des Plinius und des Symmachus12. Ursprünglich fand die Veröffentlichung von Briefen nach dem Tode des Verfassers statt, vereinzelt wurden jedoch ausgewählte Teilsammlungen von Verfassern selbst herausgegeben, so beispielsweise von Plinius und Fronto, später von Symmachus. Offensichtlich waren einzelne Verfasser der Verbreitung und Herausgabe ihrer Briefe nicht abgeneigt. Cicero hat zum Beispiel die Herausgabe zahlreicher seiner Briefe selbst veranlaßt13. Die Briefe wurden, bevor sie in eine Sammlung aufgenommen wurden, vermutlich überarbeitet. Es ist nicht auszuschließen, daß einige mitunter nur für die Veröffentlichung in einer Sammlung verfaßt wurden14. So hat bei6
Vgl. DZIATZKO, Brief, 8 3 9 , und ZELZER, Briefliteratur, 328.
7
Vgl. WHITE, New Testament, 1738f.
8
Vgl. PETER, Brief, 34.
9
Vgl. a.a.O., 34. Vgl. DZIATZKO, Brief, 839f.; H. REINCKE, Art. Nachrichtenwesen, PRE 16, Stuttgart 1935, (1496-1541) 1533-1535, und ZELZER, Briefliteratur, 331. 11 Das bekannteste Beispiel edierter amtlicher Korrespondenz ist wohl der Briefwechsel von Plinius und Trajan. Zum amtlichen Brief vgl. SYKUTRIS, Epistolographie, 195f. 12 Zur Entstehung von Briefsammlungen vgl. SYKUTRIS, Epistolographie, 198f., und ZELZER, Briefliteratur, 337-340, die auch einen Überblick über spätantike Briefsammlungen gibt. 10
13
14
V g l . PETER, B r i e f , 3 6 . 7 8 - 8 3 .
Bei Plinius' Sammlungen ist sein eigener redaktioneller Zugriff deutlich zu spüren. Die erste seiner drei Briefsammlungen (im Jahre 104 erschienen) zeichnet sich dadurch aus, daß die ursprünglich persönlicheren Inhalte zu verallgemeinern versucht wurden. Beim Abfassen der Briefe der zweiten Sammlung (Mitte 107 erschienen) hatte
1. Antike Briefe
7
spielsweise Plinius pro Untergattung seinen Sammlungen je einen Musterbrief beigegeben15. In eine Briefsammlung wurden häufig die voraufgegangenen oder folgenden Briefe mitaufgenommen, so konnte eine Sammlung zum Dokument eines Briefwechsels werden. Die Anordnung von Briefen innerhalb der Sammlungen folgte unterschiedlichen Kriterien, sie war nicht grundsätzlich chronologisch16. Die plinianische Formulierung, die zum geflügelten Wort in der Epistolographie geworden ist, ut quaeque in manus venerat11, wie sie ihm gerade in die Hände gefallen seien, habe er seine Briefe in die Sammlung aufgenommen, ist wohl, wenn man sich die sorgfältige Struktur seiner Sammlung vor Augen hält, eher als rhetorische Floskel zu betrachten18. In der Regel wurden die Sammlungen nach Empfängern geordnet, wobei die Briefe an die engeren Freunde am Anfang standen (vgl. Fronto und Symmachus). Chronologische Anordnung ist bei Libanius zu erkennen. Ciceros Briefe sind nach Gattungen sortiert, in seinen Epistulae ad familiares lassen sich Gruppen von Empfehlungsbriefen und Trostbriefen ausmachen. Plinius sortierte seine Briefe nach Empfängern, wobei er die Episteln an vornehme Adressaten voranstellte19, zudem nimmt innerhalb der Sammlung die Länge der Briefe ab, möglicherweise auch ein von ihm herangezogenes Ordnungskriterium20. 1.2. Antike Brieftheorie Eine Brieftheorie im Sinne eines umfassenden rhetorischen Systems ist in den antiken rhetorischen Handbüchern nicht enthalten. Gleichwohl finden wir zahlreiche verstreute Bemerkungen über die Gestaltung von Briefen und Hinweise
Plinius schon deutlich ein breiteres Publikum bzw. die Veröffentlichung im Blick. Die dritte Sammlung schließlich trägt bereits den Charakter einer Nachlese, hier sind auch die älteren Briefe, denen Plinius großen Wert beimaß, aufgenommen worden, vgl. dazu PETER, Brief, 107-109. 15
V g l . PETER, Brief, 104.
16
Zur Anordnung vgl. SYKUTRIS, Epistolographie, 1 9 9 . Plinius der Jüngere, ep. 1,1: Frequenter hortatus es ut epistulas, si quas paulo curatius scripsissem, colligerem publicaremque. Collegi non servato temporis ordine (neque enim historiam componebam), sed ut quaeque in manus venerat. (Plinius, Epistulae!Pline le jeune, Lettres, Livres I-III, Texte établi et traduit par A.-M. Guillemin, CUFr, Paris 1987, Bd. I, 2f.). 17
18
Vgl. SYKUTRIS, Epistolographie, 199, sowie Peter, Brief, 110: Es sei die „Nachahmung einer Bescheidenheit ausdrücken sollenden Redensart; denn in Wahrheit ist die Sammlung mit größter Sorgfalt redigiert; unter dem Schein 'anmutiger Nachlässigkeit' (Mommsen) sucht Plinius ängstlich die Klippe der Langeweile zu umgehen und macht es sich demnach zur Aufgabe, jeden Brief als ein kleines Ganzes zu gestalten." 19
Vgl. PETER, Brief, 106.
20
Vgl. a.a.O., 107.
8
Kapitel 1: Der Brief
zur Kategorisierung unterschiedlicher Briefarten21. Im folgenden sollen Grundlinien herausgestellt werden, die sich durchgängig als Konstituenten der Erwägungen über das Verfassen von Briefen erwiesen haben22. Eine grundlegende Äußerung über den Charakter eines Briefes findet man bei Demetrios 23 in der Schrift riepi 8p|^t|vsiaç 24 aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. Dieser paraphrasiert Artemon von Kassandreia, demzufolge ein Brief auf dieselbe Art und Weise verfaßt werden solle wie ein Dialog, da der Brief als eine Hälfte eines Dialoges zu betrachten sei: ... öxi ôel ÊV xc¡) cxo-Kp xpójiop SiáXoyóv xe ypátpEiv Kai enicxoXâç. etvai yàp TT|V Ë7tioxoXr|v oiov TÔ exspov népoç xoù SiaXóyou. 25
Demetrios selbst fugt dem präzisierend hinzu, daß der Brief überlegter ersonnen werden müsse als der Dialog, letzterer entstehe ja als spontaner Ausdruck in einer Situation, während ersterer aufgeschrieben und als Geschenk versandt werde 26 . Der Gesprächssituation entsprechend brächten die Kommunikationspartner ihre Persönlichkeit in den brieflichen Kontakt ein. Das Wesen eines Verfassers drücke sich unmittelbar im Brief aus, Demetrios bezeichnet in diesem Zusammenhang den Brief als elicóva v|/ux"nç27. Hinsichtlich der Form heißt es, daß der Umfang in vernünftigen Grenzen gehalten werden müsse28. Als adäquater Inhalt eines Briefes (7tpdyjaon:d emaxo^iKd) 29 werden wissenschaftliche Abhandlungen ausgeschlossen, es sollen vielmehr einfache Gegenstände in einfachen Worten vermittelt werden. Gleichsam als „Leitmotiv" erweist sich die geforderte
21
Diese sind in jüngster Zeit umfassend und übersichtlich zusammengestellt und übersetzt worden von A.J. MALHERBE, Ancient Epistolary Theorists, SBibSt 19, Atlanta 1988. 22
Einen immer noch informativen und ausgewogenen Überblick bietet SYKUTRIS in seinem Artikel „Epistolographie". Ausführliche Analysen von Demetrios, Cicero, Plinius und Seneca bei THRAEDE, Grundzüge, passim. MALHERBE hat seiner Ausgabe eine gute Einführung mit Ansätzen zur Quelleninterpretation und Hinweisen auf die neuere Literatur beigegeben, vgl. ders., Theorists, 1-14. 23
Zu Demetrios vgl. S. FORNARO, Art. Demetrios, DNP 3, Stuttgart/Weimar 1997,
441. 24 Zur Datierung, Endredaktion des Demetrios unter Verarbeitung älteren Materiales im 1. Jahrhundert n. Chr. vgl. CHIRON, a.a.O., I-CXXXVIII (Introduction), und THRAEDE, Grundzüge, 19f. sowie FORNARO, a.a.O. 441, der daraufhinweist, die Datierung sei sehr umstritten und reiche vom 3. Jh. vor bis zum 2. Jh. nach Chr. 25 Demetrios, Eloc. 223 (CUFr 63,1-66,5 Chiron). 26 Demetrios, Eloc. 224 (CUFr 63,1-4 Ch.). 27 Demetrios, Eloc. 227 (CUFr 64,2f. Ch.). 28 Demetrios, Eloc. 228 (CUFr 64,1-6 Ch.). 29 Demetrios, Eloc. 230 (CUFr 64,12 Ch.).
1. Antike Briefe
9
der freundschaftliche Grundton, der als praktischer Freundschaftserweis auf der Grenze von dem Aspekt des Inhalts zu dem des Stils liegt. Der Stil solle ungezwungen-familiär (A.aA.oövTi E O I K S V ) sein31 und dabei beide Charaktere, das Lieblich-Anmutige (%dpiev) wie das Schlicht-Trockene (ia%voq) nicht vernachlässigen32. Wichtig sei vor allem die Klarheit (croupriveia)33. Der Verfasser eines Briefes habe beim Schreiben stets den Adressaten im Blick zu behalten, dessen gesellschaftlichen Rang und Bildungsgrad34. In dieser ältesten Anweisung finden sich einige Gedanken, die sich im Blick auf brieftheoretische Erwägungen als äußerst zukunftsträchtig erweisen sollten: Vor allem die Vorstellung des „halben Dialogs" zur grundsätzlichen Charakteristik von Briefen und der damit implizierte Gedanke von der Begegnung im Brief sowie das Postulat des begrenzten Umfangs zur praktischen Gestaltung begegnen von nun an immer wieder. Von Cicero35 ist zwar keine eigene Schrift zur Epistolographie überliefert, wohl aber neben großen Mengen von Briefen zahlreiche Äußerungen, aus denen man Schlüsse auf seine brieftheoretischen Überzeugungen ziehen kann. In der Forschung hat man sich immer wieder die Frage gestellt, ob oder wie weit Cicero von der griechischen Brieftheorie abhängig ist36. Es läßt sich aus Ciceros Äußerungen jedenfalls keine geschlossene rhetorische Theorie zur Epistolographie entwickeln. Wie die Äußerungen zum Briefeschreiben in seinem Werk verstreut und in andere Kontexte eingebunden sind, so sind sie auch eher auf konkrete Anfragen oder Anlässe hin aufgeschrieben worden, in jedem Fall mehr Reflex eigener Korrespondenzerfahrungen denn festes System37.
cpiÄ.ocppövT|cnrev/tas-Gedanken, um einen Teil des Textes abzuschließen und den nächsten einzuleiten. Die Annahme des strukturierenden Momentes der brevitas-Formel wird gestützt durch inhaltliche Beobachtung: Die Kapitel 1-3 des 49. Briefes bilden die Einleitung. Die Formel zu Beginn des 4. Kapitels leitet die eigentliche Abhandlung ein, deren erster Teil (Kap. 4-16) der Erörterung des Verhältnisses vom Wert der Ehe zum virginitas-\&ea\. gewidmet ist und in der Feststellung gipfelt, des Hieronymus Position, nämlich der Jungfrauenstand sei höher zu schätzen als der Ehestand, sei keine andere als die des Paulus. In den Kapiteln 17-19 folgt eine Explikation der paulinischen Worte zu diesem Thema neben der Anfuhrung einschlägiger Stellen anderer Kirchenväter, dann in Kap. 20f. der Schluß der Schrift12 So leitet die brevitas-Formel jeweils einen neuen Teil der Schrift ein. Ahnlich ist die Verwendung im 57. Brief, der berühmten Schrift an Pammachius über die beste Art zu übersetzen. Zu Beginn des 8. Kapitels heißt es. Transeamus ad cetera - neque enim epistulae breuitas patitur diutius in singulis morari 13
Hier wird auch das Argument der durch die Gattung begrenzten Länge des Textes geltend gemacht, um das Voranschreiten im Ablauf der Themenfolge zu begründen. Ebenso dient diese Formel dem Überspielen eines thematischen Bruches. Bemüht sich der Kirchenvater oft um elegante Themenverbindungen, das Aufgreifen von Bildern oder biblischen Zitaten, so liegt hier ein echter Bruch vor. Das 7. Kapitel endet mit der Darstellung der Problematik des Ver-
11
Dieses Apologeticum ist eine umfangreiche Schrift, die in der CSEL-Ausgabe 37 Seiten umfaßt (54, 350,7-387.12 H.) und nichts von einer brevitas epistulae spüren läßt. 12 Die exegetischen Abhandlungen des Hieronymus sind nicht immer ganz eindeutig zu gliedern, es ließen sich auch andere inhaltliche Zäsuren setzen. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß Hieronymus gerne assoziativ unterschiedlichste Schriftstellen, Kirchenväterzitate und eigene dogmatische Erwägungen verbunden hat. Allein die Abfolge „Schriftstellen aus dem At - Schriftstellen aus dem NT" wird relativ konsequent durchgeführt. Gerade weil die inhaltliche Gliederung vieldeutig ist - wie die unterschiedlichsten Interpretationen in der Sekundärliteratur belegen - ist es weiterführend und hilfreich, formale Merkmale mit in das Textverständnis einzubeziehen. Insofern kann die Betrachtung des ¿rev/to-Postulates als strukturierendes Moment exegetischer Texte erkenntnisleitend sein. 13
Ep. 57,8 (54, 516,3f. H.).
51
2. Hieronymus 'Auffassung vom Brief
ständnisses von hebräischen Anspielungen in Jesajatexten für Übersetzer und des Hebräischen unkundige Leser, während das 8. Kapitel mit der Erläuterung von Stellen aus dem Matthäusevangelium einsetzt. Der abrupte Themenwechsel wird mittels der Verbindung durch den Gattungsrekurs sowohl begründet als auch überspielt. 2.1.3. Betonung der Relevanz eines Themas In vielen Fällen schreibt Hieronymus, er sei aufgrund der Relevanz eines Themas oder des angemessenen Umfanges eines Themas dazu gezwungen, seine Darlegungen über das einem Brief angemessene Maß hinauszufuhren. In solchen Fällen wird die brevitas, die ein Brief erfordert, mit einer vorgeblich großen Textlänge kontrastiert. Dieses geschieht unabhängig von der realen Länge des vorliegenden Textes; diese argumentative Figur kann auch bei vergleichsweise kurzen Texten auftreten. Diese beiden Befunde, die Irrelevanz der tatsächlichen Textlänge und die Betonung der Relevanz des traktierten Themas, lassen auf eine Funktionalisierung der brevitas-Figur schließen: Es geht Hieronymus darum, jeweils zu zeigen, wie wichtig ein Thema sei. Dies zeigt er, indem er auf den notwendigen Umfang einer adäquaten Behandlung eines Themas hinweist. Die implizite Voraussetzung lautet: Ein Thema ist dann wichtig, wenn es in einem langen Text verhandelt wird. Diese Verwendung scheint mir im abschließenden Kapitel des dritten Briefes vorzuliegen: Plura fortasse, quam epistulae breuitaspatiebatur,
longo sermoneprotraxerim,
,..14
Hieronymus habe nun mehr hervorgebracht, als die Kürze des Briefes erlaube, leitet er das letzte Kapitel des Briefes ein. Die Formel brevitas epistulae wird von ihm als bekannt und akzeptiert vorausgesetzt. Erfahren wir aus dieser Stelle etwas über die Konkretion dieser brevitas? Der Brief, dem das Zitat entnommen ist, besteht aus sechs Kapiteln, diese entsprechen etwa sieben Seiten in der CSEL-Ausgabe15. Ist hieraus der Schluß zu ziehen, dies überschreite eigentlich schon das rechte Maß eines Briefes, so müßten Briefe, ganz im Gegensatz zur Schreibpraxis des Kirchenvaters, ziemlich kurze Texte sein. Wenn an dieser Stelle also nicht einsichtig ist, daß tatsächlich das Maß eines Briefes überschritten wurde, dann muß die Passage im Kontext eine andere Funktion haben. Sehen wir uns die Fortsetzung des Satzes an. ... quod mihi Semper accidere consueuit, quando aliquid de Bonosi nostri laude dicendum est.16
14 15 16
Ep. 3,6 (54, 18,10f. H.). Vgl. ep. 3 (54, 12,8-18,18 H.). Ep. 3,6 (54, 18,1 If. H.).
52
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Zum Lobe des Freundes gibt es offensichtlich soviel zu sagen, daß das Maß des Briefes zwangsläufig überschritten werden muß. Nun hat er aber ein geringes Maß nicht überschritten und dennoch das Thema behandelt. Dann kann der Rekurs auf die brevitas nur der Unterstreichung der Relevanz des Themas dienen: Das Thema, nämlich das Lob des Bonosus, ist so wichtig und umfangreich, daß es eigentlich breiten Raum einnehmen müßte17. Eine Spielart dieser Verwendung ist auch dann zu erkennen, wenn Hieronymus mittels des Arev/tas-Rekurses nicht die Relevanz eines Themas, sondern die Stärke seiner auf das Thema bezogenen Gefühlsregungen zum Ausdruck bringen will. Eine solche Figur liegt in ep. 82 vor. Dieser an Theophilus gerichtete Brief ist von starken Emotionen geprägt, hat er doch die Streitigkeiten zwischen Johannes von Jerusalem und Hieronymus zum Gegenstand. Hieronymus bringt seine Erregung über den Streit und die nach seiner Ansicht verzerrte Darstellung der Fakten in einem vergleichsweise kurzen Brief zum Ausdruck18. Zu Beginn des 4. Kapitels heißt es: Epistula cogit me breuius loqui, dolor longius.19
Diese Sentenz zieht schon allein aufgrund der ausgefeilten sprachlichen Gestaltung Aufmerksamkeit auf sich. Der Parallelismus der beiden Substantive, die je mit einem Adverb im Komparativ verbunden sind, welche einander adversativ gegenübergestellt werden, zeigt bereits, daß der Satz ein Ziel hat, das über die Beschreibung eines Längenmaßes hinausgeht. Es stehen zwei Zwänge einander gegenüber, das Maß des Briefes drängt zu mehr Kürze, das Maß des Schmerzes zu größerem Umfang. Wieder funktionalisiert Hieronymus das Ärev/ias-Postulat, um die Relevanz eines Sachverhaltes zum Ausdruck zu bringen. Wenn der Schmerz derart ist, daß er sogar in Versuchung fuhrt, die Gattungsgrenzen zu sprengen, dann muß er - so die implizite Voraussetzung - sehr stark sein. Durch das adversative Verhältnis der beiden Satzteile wird Zerrissenheit suggeriert, ein Schwanken zwischen normativer Form und emotionalem Drang, dessen Ausgang noch nicht entschieden ist. Das brevitas-Postulat hat hier die Funktion eines ernstzunehmenden Gegenkonzeptes, dessen Realisierung durchaus im Bereich des Möglichen zu sein scheint. Dem Postulat wird hier größere Relevanz beigelegt als an vielen anderen Stellen: Es ist eine der beiden gleichgewichtigen konzeptionellen Alternativen. Auch im 133. Brief bringt der Kirchenvater sein Getriebensein durch starke Emotion, die zum Abfassen eines längeren Textes drängt, zum Ausdruck: 17 Dieses Herausstreichen der Relevanz des Gegenstandes hat freilich eine übergeordnete Intention: Hieronymus schmeichelt Bonosus, wenn er dessen Lob als relevanten Gegenstand stilisiert. 18 Vgl. ep. 82, die in der CSEL-Ausgabe knapp 12 Seiten umfaßt (55, 107,19119,11 H.). 19 Ep. 82,4 (55, 111,9 H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
53
feruet animus, non possum uerba cohibere. epistolaris angustia non patitur longi operis magnitudinem.20
Im Zuge der Auseinandersetzungen mit den dogmatischen Gegnern, die nach Darstellung des Hieronymus Willensfreiheit lehren, und der ambitionierten Richtigstellung seiner eigenen Positionen gerät der Kirchenvater in große Erregung. Er entflamme in Zorn und könne kaum seine Worte zurückhalten. Aus welchem Grund zügelt er seine Emotion? Er fuhrt als Argument die Gattungsnormen an: Die Kürze eines Briefes erlaube nicht den Umfang eines langen Werkes. Nun hat ihn dieses Maß in dem bis dahin immerhin schon 11 Kapitel zählenden21 und keine durch Emotionen geprägte Widerlegung und Auseinandersetzung scheuenden Text offensichtlich nicht in der Ausfuhrung beschränkt. Warum rekurriert er hier auf das durch die Gattung begrenzte Maß? Der Rekurs auf das ¿rev/tas-Postulat soll zum Ausdruck bringen: Es liege allein an der Umfangsbeschränkung durch die Gattung, daß er nicht ausführlicher geschrieben habe, es gäbe an sich noch viel zu sagen. So will Hieronymus suggerieren, daß sein Zorn sehr stark ist. Damit ist gleichzeitig eine Aussage über das Verhalten seiner Gegner getroffen. Dieses könne nur verurteilenswürdig und tadelnswert sein, wenn es in Hieronymus einen so besonders starken Zorn erregt. Der Rekurs auf das Armtes-Postulat unterstützt also die Aussage über das Fehlverhalten der Gegner, bietet jedoch keine Information darüber, wie lang oder kurz ein Brief sein dürfe. Die Relevanz eines Themas kann von Hieronymus auch mit Unterstützung durch die Verwendung des ¿rmtas-Postulates zum Ausdruck gebracht werden, ohne daß das Maß eines Briefes als Begründung für die Beendigung des Schreibens vorgebracht wird. Dieses Beispiel entstammt dem Brief an Julian, gleichzeitig ein Trostbrief angesichts schwerer Verluste und ein Mahnschreiben zum asketischen Leben: oblitus propositi et epistolaris breuitatis plura dictare cupiebam - ad materiae quippe dignitatem et ad meritum personae tuae parum est omne, quod dicitur - et ecce tibi noster Ausonius coepit scidulas ßagitare, urguere notarios et hinnitu feruentis equi ingenioli meifestinus arguere tarditatem.22
Hier werden sachliche Gründe explizit dafür geltend gemacht, daß Hieronymus eigentlich noch mehr hätte schreiben wollen: Sowohl um der Würde des Gegenstandes als auch um den Verdiensten der Person des Adressaten zu entsprechen, sei der Brief zu kurz. Den sachlichen Gründen wird nun der Rekurs auf das ¿vev/tas-Postulat an die Seite gestellt, um die Relevanz des Gegenstan20
Ep. 133,11 (56/1, 258,20-22 H.). Der Brief umfaßt insgesamt 13 Kapitel, die auf ca. 20 CSEL-Seiten entfaltet werden (vgl. 56/1, 241,15-260,20 H.). 22 Ep. 118,7 (55, 445,4-9 H.). 21
54
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
des herauszustreichen: trotz der brieflichen Kürze verlange es ihn [sc. Hieronymus] danach, mehr zu schreiben (epistolaris ... cupiebam). Wenn der Verfasser aber versucht ist, nicht nur sein ursprüngliches Vorhaben (propositum), sondern auch die Gattungsnorm zu übergehen, muß es sich um gewichtige Gründe, also um einen relevanten Gegenstand handeln. Diesen beiden Dingen, sachlichen Gründen und persönlicher Intention, die für einen längeren Brief sprechen, wird im letzten Teilsatz (et ecce ... tarditatem) ein Grund für die vorzeitige Beendigung des Briefes entgegengestellt. Hieronymus schildert plastisch die Abfassungssituation, der Bote Ausonius verlange die Briefbögen, dränge die Schreiber, sein wildes Pferd wiehere und Ausonius ärgere sich über den langsamen Verstand des Hieronymus. Nach den Worten des Kirchenvaters ist in dieser Abfassungssituation, namentlich im Drängen des Boten, der entscheidende Grund für die Beendigung des Briefes zu sehen. Diese Funktion, nämlich den Grund für das Briefende anzugeben, kann sonst in vielen Fällen auch der Arev/tav-Rekurs haben. Doch hier hat er diese Funktion gerade nicht, hier dient er der Betonung der Relevanz eines Themas, das eigentlich ausführlicherer Behandlung bedürfte, und steht somit vielmehr für die Fortsetzung des Briefes. Weniger um die Relevanz eines Gegenstandes als um die Menge der möglichen anzuführenden Belege geht es in einer Stelle im 133. Brief, der an Ctesiphon gerichtet ist. Hier bezieht Hieronymus entschieden Position gegen pelagianische und pelagianisierende Lehren und führt im zweiten Kapitel zur Unterstützung seiner Position Zitate, vor allem von Tertullian und Paulus, an, die die Sündhaftigkeit des Menschen voraussetzen. Dieses Kapitel endet mit folgenden Worten: multaque alia, quae si de scripturis sanctis uoluero congregare, non dicam epistulae, sed uoluminis quoque excedam modum.23
Der Sinn des ¿rmias-Rekurses liegt hier auf der Hand, wenngleich das Wort brevitas keine Verwendung findet. Hieronymus schreibt, er könne, wenn er Stellen aus den Heiligen Schriften anführen wolle, noch so vieles andere sagen, daß er nicht nur das Maß eines Briefes, sondern gar das eines ganzen Bandes überschritte. Hiermit will er zum Ausdruck bringen, daß ihm eine unendliche Menge an Argumenten für seine Position zur Verfügung steht. Die Größe der Menge wird damit illustriert, daß sie in Bezug zu einer anderen Textgattung als der, zu der der vorliegende Text gerechnet wird, gesetzt wird. Impliziert wird hier für das Verhältnis von epistula und uolumen, daß letzteres umfangreicher sei24. Wenn des Hieronymus Argumente nicht nur zahlreicher seien, als daß sie in einem Brief Erwähnung finden könnten, wobei ein Brief in der Regel schon 23
Ep. 133,2 (56/1, 244,16-18 H.). Vgl. zur Diskussion um die Aussagen zu Textlängen das Kapitel zu Epistula als Textsorte, 3.2.6. 24
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
55
über nicht geringen Umfang verfugt, wieviele müssen es dann erst sein, wenn sie noch nicht einmal in ein uolumen passen! Die Figur des Zvmtas-Postulates wird hier gesteigert, indem die Menge der aufzuführenden Dinge in Beziehung zu einer anderen Bezugsnorm, einer Gattung, die wesentlich längere Texte bezeichnet, gesetzt wird. Es gibt natürlich auch Fälle, in denen Hieronymus tatsächlich lange Texte verfaßt, das Arev/tos-Postulat verletzt und diese Verletzung auch zugesteht. Die Argumentation unterscheidet sich kaum von der soeben vorgeführten: Das Thema sei so relevant, daß es einer umfangreichen Erörterung bedürfe. Diese sei nun tatsächlich erfolgt und damit habe die Kürze eines Briefes überschritten werden müssen. Auch hier wird das Z>rev/tas-Postulat fünktionalisiert, um die Relevanz eines Themas herauszustreichen und die Textlänge zu legitimieren. Eine solche Verwendung liegt in ep. 53 vor, einem an den Presbyter Paulinus gerichteten Brief. Der Gegenstand dieses Briefes ist hier im Grunde die Heilige Schrift als ganze, die Theologie im allgemeinen, der relevanteste Gegenstand also, den Hieronymus sich vorstellen kann. Hieronymus will in diesem Brief Paulinus überzeugen, Exeget zu werden, warnt ihn aber gleichzeitig vor den immensen Anforderungen und Gefahren einer solchen Tätigkeit, wolle man sie ohne fachkundige Anleitung vollziehen, und präsentiert sich daher als geeigneten Leiter. Ist es sein Ziel, sich als exegetische Autorität für Paulinus zu etablieren, so wählt er als Weg die Betonung der Relevanz des Gegenstandes, der Heiligen Schrift nämlich. In den ersten Kapiteln umreißt er nach der Einleitung (Kap. 1-3), die darauf abzielt, berühmte Lehrer-Schüler-Verhältnisse vorzuführen, die Schwierigkeiten in der Schriftauslegung, namentlich bei johanneischen und apokalyptischen Texten (Kap. 4f). Schwierige Fragen und dunkle Sachverhalte werden nur grob umrissen und werfen mehr Fragen auf, als sie klären. So heißt es auch folgerichtig zu Beginn des 6. Kapitels: Haec a me perstricta patiebatur-, non posse
sunt breuiter - neque enim epistularis angustia euagari
ut intellegeres
te in scripturis sanctis siue praeuio et monstrante
longius semitam
ingredi.25
Der finale Konjunktionalsatz (ut... ingredi) erläutert explizit das argumentative Vorgehen des Kirchenvaters. Er habe sich deshalb so kurz gefaßt, damit sein Adressat einsehe, daß er beim Studium der Heiligen Schriften den rechten Weg nicht ohne Führer und Wegweiser zu finden in der Lage sei. Dieses Vorgehen des Hieronymus läßt sich nun aus dem Inhalt der Kapitel 4f. erkennen und aus dem Finalsatz erklären. Warum schiebt er noch in Parenthesen die Bemerkung über die Brieflänge ein (neque ... patiebatur)? Mit der Bemerkung, die Kürze eines Briefes dulde kein weiteres Ausschweifen, führt er ein weiteres Argument dafür an, daß er es im Blick auf die sich aus den johanneischen Schriften und der Apokalypse ergebenden Fragestellungen bei dem bloßen 25
Ep. 53,6 (54, 452,4-7 H.).
56
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Umreißen der Problemhorizonte beläßt. Nicht nur, weil er im Hinblick auf seine zukünftige Rolle gegenüber Paulinus ganz konkrete Vorstellungen hat, sondern auch, weil die Gattung ihm Begrenzungen auferlegt, verzichtet er auf weitere Erläuterungen. Hier ist der Hinweis auf die Länge offensichtlich nicht auf die Textlänge zu beziehen. Der Brief ist recht umfangreich26 und diesem Hinweis auf angustia epistularis folgen noch weitere 6 Kapitel, also kann der Kirchenvater seine eigene Mahnung zur brieflichen Kürze an der besagten Stelle nicht umgesetzt haben. Der Hinweis auf die briefliche Kürze ist also funktionalisiert als weiteres Argument, um des Kirchenvaters Vorgehen zu begründen. Es dient unmittelbar der Begründung inhaltlicher Begrenzung; weil ein bestimmtes Maß nicht überschritten werden dürfe, könnten die in Kap. 4f. angerissenen Fragehorizonte nicht weiter ausgeführt werden. Mittelbar dient der Hinweis aber der Betonung der Relevanz des Themas; die vorhergehenden Kapitel hätten gezeigt, daß die Themen zu wichtig und komplex seien, um sie ohne Hilfestellung zu ergründen. Damit steht der Hinweis wieder unmittelbar im Dienst des eigentlichen Anliegens des Hieronymus: Komplexität und Relevanz des Themas bedürften ausfuhrlicher Erläuterung, die im Brief aufgrund der Gattungsgrenzen, die bereits überschritten seien, nicht geliefert werden könnten, daher müßte Paulinus sich nach Bethlehem aufmachen, um in der persönlichen Begegnung von Hieronymus zu lernen27. Dieselbe argumentative Figur tritt in diesem Brief noch ein weiteres Mal auf. Im ausfuhrlichen 8. Kapitel umreißt Hieronymus die Charakteristika einzelner alttestamentlicher Schriften besonders im Hinblick auf allegorische Auslegung, Übersetzungsfragen und Vergleiche unterschiedlicher Handschriften. Auch dieses Kapitel ist darauf angelegt, Fragehorizonte zu eröffnen und Probleme vor Augen zu fuhren, jedoch nicht, Lösungsansätze zu liefern. Das 9. Kapitel wird eingeleitet mit den Worten: Cernis me scripturarum amore raptum excessisse modum epistulae et tarnen non inplesse, quod uolui. audiuimus tantum, quid nosse, quid cupere debeamus, ut et nos quoque possimus dicere: concupiuit anima mea desiderare iustificationes tuas in omni tempore.
Welches das eigentliche Ziel des voraufgehenden Kapitels ist, zeigt das zweite Satzgefüge mit den beiden Relativsätzen {audiuimus ... debeamus). Was es zu wissen und zu erlangen gelte, habe man im vorherigen Kapitel hören können. Auch das sich anschließende Psalmwort29 bringt zum Ausdruck, daß es das Ziel war, durch das Aufreißen von Fragen das Verlangen nach dem Schriftstu26
Die ep. 53 umfaßt 23 Seiten (54, 442,3-465,9 H ). Die ausführliche Einladung findet sich in ep. 53,11, die mit den Worten beginnt: Obuiis te manibus excipiam ... (54, 464,7 H.). 28 Ep. 53,9 (54, 462,5-9 H.). 29 Das eingefügte Psalmwort ist Ps *118,20 (119,20). 27
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
57
dium zu wecken, nicht jedoch, Antworten zu geben. Insofern ist die Bemerkung des Kirchenvaters, er habe das Maß eines Briefes überschritten und dennoch sein Vorhaben nicht erfüllt (excessisse ... inplesse), im Licht des folgenden deutenden Satzes zu verstehen: Wenn Hieronymus trotz seiner Begeisterung und trotz seines Überschreitens der brieflichen Grenzen die Gegenstände nicht klären konnte, müssen die Gegenstände sehr komplex und umfangreich sein, des Verlangens und der Kenntnis würdig. Gerade die Koppelung von der Liebe zur Sache und dem Überschreiten der Gattungsgrenzen streicht die immense Relevanz des Gegenstandes heraus. Nun will er aber die Gegenstände an diesem Ort gar nicht erläutern, sondern lediglich das Verlangen danach wecken, wie der folgende Satz belehrt. So bietet ihm das Maß des Briefes ein gutes Argument, um den Umfang und die Relevanz des Themas zu betonen und die Unmöglichkeit der Behandlung im Brief zu konstatieren. 2.1.4. Begrenzung des Inhaltes Papst Damasus prägt in einem seiner Briefe die Sentenz: ... ut nec proposita solutionem desiderent nec epistulae breuitatem.30 Es dürften also weder die Themen ihrer Erklärung noch die Briefe ihrer Knappheit entbehren. Bei der vierten Funktionsweise des ¿/•evzfas-Gedankens, die im folgenden zu untersuchen ist, mag man den Eindruck gewinnen, Hieronymus habe sich über die Sentenz seines großen Gönners hinweggesetzt und ersteres, die solutio, zugunsten des zweiten, der brevitas, vernachlässigt. Hieronymus kann das ¿rev/tas-Postulat einsetzen, um den Inhalt des entsprechenden Textes zu begründen oder aber sich für den Inhalt zu rechtfertigen. Im ersten Fall wird die durch die Gattung vorgegebene Begrenzung der Länge als Argument dafür geliefert, daß ein Inhalt nur auf eingeschränkte Weise dargestellt werden konnte und möglicherweise einige Aspekte unerörtert bleiben mußten; die Themenbeschränkung auf einzelne Aspekte eines umfangreichen Themenkomplexes wird also begründet. Dies läßt sich auch noch steigern, wenn nämlich keine Begründung der Themenbeschränkung, sondern eine regelrechte Apologie vorgeführt wird. Hier kann es eintreten, daß Hieronymus zugesteht, einzelne Komplexe nicht sachgerecht behandelt zu haben. Diese beiden Spielarten der vierten sind zugleich die häufigsten Verwendungsweisen des ¿»rmfos-Postulates bei Hieronymus. Im Schlußkapitel des 26. Briefes, der an Marcella gerichtet ist, liest sich das wie folgt: Vellern tibi aliquid et de diapsalmate scribere, quod apud Hebraeos dicitur sela, et de ephod et de eo, quod in cuiusdam psalmi titulo habetur pro 'aieleth', et ceteris istius modi, nisi et modum epistolici characteris excederem et tibi auiditatem magis dilatae
30
Epistula Damasi ad Hieronymum 35,2 (54, 266,7f. H.).
58
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus deberent facere quaestiones. ... unde et nos de industria dicenda reticemus, ut auidius uelis audire, quae tacita sunt.31
Hier dient das ¿vev/to-Postulat zunächst als Begründung für den Abbruch der Darstellung. Hieronymus sagt, er würde noch vieles schreiben, wenn er damit nicht das Maß des brieflichen Stiles überschritte (nisi et modum epistolici characteris excederem). Die vorgegebene Begrenzung von Briefen bestimmt also die Länge des Textes. In diesem Kontext geht es Hieronymus allerdings weniger um die Länge denn um die Dinge, die im Brief verhandelt werden, um den Inhalt. Er setzt die durch das Maß des Briefes vorgegebene Begrenzung des Textes in Beziehung zu den Themen, die er noch traktieren kann, und zählt auf, was alles in diesem Text nicht mehr besprochen werden wird. Diese Themenauswahl, oder besser Auslassung wichtiger Themenbereiche, wird nicht inhaltlich begründet, sondern allein durch das Maß des Briefes. Allein: Warum verhandelt Hieronymus diese Dinge tatsächlich nicht? Der Brief, um den es hier geht, ist ausgesprochen kurz32. Wieder ist es unwahrscheinlich, daß der Kirchenvater eine Verletzung der Gattungsnormen fürchtete. Der brevitasRekurs wird also funktionalisiert, um eine inhaltliche Auswahl zu begründen. Gerade an dieser Stelle liefert Hieronymus einen weiteren Hinweis, der als Grund für seine Beschränkung des Inhaltes geltend gemacht werden könnte: Er will nicht den ganzen umfangreichen Themenkomplex behandeln, um bei der Leserin nicht das Interesse zu ermüden. Vielmehr will er einige Fragen offen lassen, damit Marcellas Verlangen nach der Antwort umso mehr wächst. Die Lektüre der folgenden Briefe an Marcella setzt darüber in Kenntnis, daß es Hieronymus tatsächlich nicht darum ging, die Behandlung der genannten Fragen grundsätzlich auszusparen, sondern sie in anderen Zusammenhängen zu leisten und Marcella diese auch zukommen zu lassen. Also liegt hier eine Begründung des Inhaltes mit der Funktionalisierung des Z»rev/to-Postulates als Scheinargument und dem tatsächlichen pädagogischen Argument, durch Zurückhaltung von Informationen das Interesse wachzuhalten, vor. Diese inhaltliche Gestaltung wird durch Funktionalisierung des Ärev/tas-Postulates begründet. Eine ähnliche Funktionalisierung des ¿»/•ev/to-Postulates liegt im 29. Brief vor, der ebenfalls an Marcella gerichtet ist: Quam uellem nunc tibi omnem habitum sacerdotis
exponere et per singulas
species diuina ostendere sacramenta! uerum, quia et in hoc ipso breuitatem excessimus et Iosephus ac Philo, uiri doctissimi latissimepersecuti
uestium epistulae
Iudaeorum, multique de nostris id
sunt, coram uiua, ut aiunt, uoce audies me.33
31
Ep. 26,3 (54, 223,1-8 H.). Es sind 5 kurze Kapitel, die in der CSEL-Ausgabe knapp 4 Seiten füllen (54, 220,9-223,8 H.). 32
33
Ep. 29,7 (54, 241,14-19 H.).
59
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
Wie in der oben diskutierten Stelle geht eine Aufzählung der Gegenstände, die in diesem Zusammenhang behandelt werden könnten, der Konstatierung dessen, daß diese Behandlung hier ausbleiben wird, voraus. Hier wird im Gegensatz zu ep. 26,5 die Eingrenzung der Inhalte nicht explizit zum Ausdruck gebracht, sie ergibt sich implizit aus der Vertröstung auf Schriften anderer Autoren und auf die zu erwartende Diskussion von Angesicht zu Angesicht. Wie in ep. 26,5 sollen die ausstehenden Themen Marcella nicht unterschlagen werden, sondern ihr an anderem Ort oder in anderem Modus zugänglich gemacht werden. Es ließe sich also in Analogie zu ep. 26,5 wieder eine pädagogische Motivation der Themeneinschränkung vermuten, die hier jedoch nicht am Textbefund verifiziert werden kann. Welche Rolle spielt nun in diesem Zusammenhang die Rede von der brevitas epistulae? Hier ist das Argument der bereits mit dem einen behandelten Thema überschrittenen Kürze eines Briefes zwei weiteren Argumenten gleichgeordnet: Erstens lägen bereits schriftliche Abhandlungen zu dem Thema vor und zweitens könne man das Thema auch von Angesicht zu Angesicht erörtern. Das brevitas-Argument ist hier also nicht so stark gemacht wie in ep. 26,5, um allein die thematische Gestaltung zu begründen, sondern wird beiläufig und verstärkend anderen Argumenten an die Seite gestellt. In dieser Argumentationsreihe jedoch wird es genau so funktionalisiert, wie wir es bei ep. 26,5 kennengelernt haben: Aufgrund der Tatsache, daß mit einem einzigen Thema die brevitas epistulae schon überschritten sei, könnten die anderen Themen nicht mehr behandelt werden. Das Maß des Briefes bestimmt die begrenzte Auswahl thematischer Aspekte. Auch hier ist wieder fraglich, ob der Rekurs auf die brevitas als ein funktionalisierter Topos verstanden werden soll oder ob er sich tatsächlich als Hinweis auf eine dem Brief angemessene Länge geltend machen läßt34. Ähnlich ist auch die Verwendung in ep. 36 an Damasus. Hier ist der Gedanke der brevitas eines Briefes in einen größeren argumentativen Kontext eingebunden, in dem Hieronymus diskutiert, welche der von Damasus in ep. 35 vorgebrachten Fragen er erläutern wird. Auch hier liegt, wie in ep. 29,7, eine Koppelung mehrerer Argumente vor: ... breuem responsionem ad ea desiderans, quae sirtgula magnorum uoluminum indigent, ... duabus tantum quaestiunculispraetermissis, respondere, sed quod ab eloquentissimis
non quo non potuerim et ad illas aliquid
uiris, Tertulliano nostro scilicet et Nouatiano,
Latino sermone sint editae et, si noua uoluerimus adferre, sit latius disputandum. expecto,
quid placeat:
singulorum libros
utrumne epistolari
breuitate
sententias
tibi uelis digeri
certe aut
conflci.35
34 Dieser Brief ist im Vergleich mit dem übrigen hieronymianischen Briefcorpus auch von geringerer Länge, die 7 Kapitel verteilen sich auf 11 Seiten in der CSELAusgabe (54, 232,6-242,9 H.). 35
Ep. 36,1 (54, 268,15-269,4 H ).
60
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Hieronymus nimmt hier augenscheinlich auf die von Damasus in ep. 35,2 vorgebrachte Sentenz Bezug36, in der der Papst gleichermaßen die Beantwortung der gestellten Fragen (solutio propositorum) wie die Kürze des Briefes (epistulae brevitas) einfordert37. Diese beiden Forderungen sucht Hieronymus in seinem Brief als einander widersprechend zu erweisen. Zunächst sagt er, die Antwort auf jede einzelne der gestellten Fragen erfordere bereits einen umfangreichen Band. Dies impliziert: Wolle man alle Fragen beantworten, so könne man der Forderung der Kürze nicht nachkommen, wolle man hingegen das Gebot der Kürze einhalten, so könne man nicht alle Fragen beantworten. Er fährt fort mit der Bemerkung, zwei der Fragen werde er außer Acht lassen. Der Leser zieht an dieser Stelle den Trugschluß, damit beuge sich Hieronymus der Zwangslage der Widersprüche und fälle notwendigerweise eine Entscheidung, und zwar zugunsten des ¿»revzfas-Postulats und gegen die inhaltliche Vollständigkeit. Doch dieser Argumentation schließt er eine zweite an, die überhaupt nicht mehr auf den Gedanken der Vollständigkeit der Antwort eingeht, sondern in ihrem Kern auf die Länge des zu erwartenden Textes abzielt, die den Inhalt des Textes bestimmt: Er lasse die Fragen nicht etwa deshalb aus, weil er nichts zu schreiben wüßte, sondern weil andere große Autoren, nämlich Tertullian und Novatian, bereits soviel zu den Fragen gesagt hätten, daß er, Hieronymus, eine sehr umfangreiche Abhandlung verfassen müßte, um dem noch etwas Neues hinzufugen zu können. Die Argumentation mit dem Widerspruch {breuem ... indigent) wird abgelöst von der nun sattsam bekannten Argumentation, brevitas bestimme den Inhalt (duabus... disputandum). Die zweite Argumentation expliziert und erweitert die erste und fuhrt deutlich vor, daß Hieronymus der päpstlichen Forderung nach brevitas Priorität vor deijenigen nach Vollständigkeit der Antworten einräumt. Dieser Eindruck von Priorität wird auch durch die folgende rhetorische Frage (certe ... conflci) nicht zerstört, belehrt doch der sich anschließende Brieftext, daß die Entscheidung längst gefallen ist. Was Hieronymus in den 17 Kapiteln dieses Briefes entfaltet, ist die Antwort auf die vom Papst gestellten Fragen - freilich mit Ausnahme derer, die er ausklammern wollte. Er wartet also nicht die Entscheidung des Papstes für eine epistula mit allen Antworten oder mehrere 36
Hier stellt sich freilich die Frage, ob es tatsächlich Damasus selbst ist, der die entsprechende Sentenz äußert. Der Bezug dieser beiden Briefe aufeinander ist so reibungslos, daß Zweifel angebracht erscheinen. Nicht nur mit dieser Sentenz setzt sich Hieronymus auseinander, auch die vom Papst gestellten Fragen passen so offensichtlich in das Antwortschema des Hieronymus und berühren Lieblingsthemen des Kirchenvaters, daß die Vermutung naheliegt, Hieronymus habe zumindest stark redaktionell in die Gestalt des Papstbriefes eingegriffen - wenn er ihn nicht sogar vollständig verfaßt hat. Dies soll jedoch an anderer Stelle intensiver diskutiert werden, vgl. dazu die Überlegungen im Zusammenhang der exemplarischen Analyse eines an Damasus gerichteten Briefes in Kap. 4.2.3. dieser Arbeit. 37
Vgl. ep. 35,2 (54, 266,7f. H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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libri, deren jedes sich einer Antwort widmet, ab, sondern setzt die erste Alternative um. Was ist die Funktion dieser rhetorischen Frage? Diese Frage zielt im Kern auf die Figur „Funktionalisierung des ¿>rmtas-Postulates zur Begrenzung des Inhaltes" ab. Mit der Frage bringt er zum Ausdruck, daß die Behandlung eines jeden angerissenen Themas eigentlich mindestens einen ganzen Uber erfordere, impliziert damit also, daß die Traktierung in Form einer epistula zwangsläufig defizitär sein müsse. Die Legitimation des Inhaltes bezieht sich hier also nicht, wie bei den Stellen aus den Briefen 26 und 29, auf die Begrenzung der zu diskutierenden Gegenstände, sondern zielt auf einen möglichen inhaltlichen Mangel ab38. 2.1.5. Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich nach den Beobachtungen zu expliziten Aussagen über die Länge von epistulae sagen, daß durchgängig gefordert wird, Briefe sollten kurz sein. Dies geschieht vor allem mit dem Terminus brevitas epistulae, aber auch Ausdrücke wie angustia epistulae oder adjektivische Verbindungen wie brevitas epistularis finden sich vereinzelt. Man sucht vergeblich konkrete Aussagen über die geforderte Länge von Briefen. Der Rückschluß von der Bezeichnung von Briefen als „das Maß übersteigend" auf das angemessene Maß erweist sich als nicht möglich, da fast durchgängig das angemessene Maß als überschritten bezeichnet wird. Zudem werden auch Briefe unterschiedlichster Länge als dem Maß entsprechend oder widersprechend bezeichnet. So ist also aus dem Zvev/to-Rekurs kein Rückschluß auf das rechte Maß eines Briefes zu ziehen. In formaler Hinsicht ist diese Terminologie also wenig hilfreich. Es stellte sich daher die Frage, welche Funktion diese ¿revztas-Rekurse haben, wenn sie doch offensichtlich nur sehr bedingt auf die tatsächliche Brieflänge abzielen. Aufgrund der Analyse zahlreicher ¿>rev/fas-Rekurse lassen sich vier Verwendungsweisen feststellen, die sich freilich in der Realität teilweise überschneiden: Erstens kann der Rekurs auf die brevitas epistulae die Beendigung eines Briefes motivieren, indem mit dieser Begrifflichkeit der Schlußteil eines Briefes eingeleitet und begründet wird. Die zweite Funktion liegt darin, daß mit dieser Formel die Struktur eines Briefes begründet werden kann, indem einzelne Teile innerhalb eines Briefes abgeschlossen oder neu begonnen werden. Die dritte Funktion ist inhaltlicher Natur: Mit der Formel kann die Relevanz eines The38 Eine Legitimation des Inhaltes liegt auch vor, wenn Hieronymus in ep. 32,1 begründet, warum er einen solch kurzen Brief geschrieben habe. Hier wird der Rekurs auf die brevitas entgegen dem üblichen ¿»rev/te-Postulat verwendet: Die tatsächliche Kürze ist nun gerade der Grund für die Entschuldigung. Als entschuldigende Gründe führt Hieronymus topisch den drängenden Boten und anderweitige Beschäftigungen an. Die Umkehrung des ¿»rev/to-Postulates bestätigt, daß wir es nicht mit einem wörtlich zu verstehenden Hinweis auf die Form zu tun haben, sondern mit einem funktionalisierten Topos.
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
mas herausgestrichen werden. Die vierte Funktion verknüpft inhaltliche und formal-strukturierende Aspekte: Hier dient die Formel der Legitimation des Inhaltes im Hinblick auf die Beschränkung der thematischen Aspekte sowie auf die Qualität des Inhaltes. 2.2. Stil Es ist auffällig, daß Hieronymus kaum Informationen über den rechten brieflichen Stil bietet. Eine konkrete Stilbeschreibung liegt in ep. 36,14 vor. Dort wird ausfuhrlich der Stil geschildert, der einem Text angemessen ist, welcher wissenschaftliche Gegenstände in brieflicher Form erörtert. Dieser Brief wird jedoch wiederholt als sermo bezeichnet. Es stellt sich die Frage: Erfahren wir in der Stilcharakteristik etwas über den Stil von epistulae oder von sermonesl Diese beiden Begriffe schließen sich jedoch nicht aus. Wenn Hieronymus in seinen Briefen vornehmlich wissenschaftliche Gegenstände erörtert und eine große Menge seiner epistulae als sermones bezeichnet39, dann liegt in folgender Charakteristik eine Stilbeschreibung vor, die immerhin auf eine große Anzahl der hieronymianischen Briefe zutrifft: pedestris et cotidianae similis et nullam lucubrationem redolens oratio necessaria est, quae rem explicet, sensum edisserat, obscura manifestet ... mihi sufficit sie loqui, ut intellegar et ut de scripturis disputans scripturarum imiter simplicitatem.40
Die Bestimmungen grenzen die Funktion der brieflichen Sprache ein: Das Ziel sei es, eine Sache zu erklären, den Sinn zu erörtern, das Dunkle zu erhellen. Diese Funktionsbestimmung wird ergänzt durch den letzten Satz: Hieronymus schreibt, ihm genüge es, wenn er verstanden werde (intellegi). Es ist also ein wissenschaftliches Anliegen, dem man auch eine pädagogische Komponente zuweisen darf. Die sprachlichen Mittel, dieses Ziel zu erlangen, sind festgelegt. Dem non decet, dem Verbot der Orientierung an Aristoteles, Cicero und Quintilian41, steht das necessarium est gegenüber. Somit setzt Hieronymus die angemessene Art sprachlicher Gestaltung normativ fest. 39
Vgl. dazu die Überlegungen zu epistula als Textsorte in Kap. 3.2.6. Ep. 36,14 (54, 280,17-281,3 H.). Dieser Abschnitt stellt im Duktus des Briefes ein apologetisches Moment dar. Der Verfasser gibt seiner Vermutung Ausdruck, der Leser könne sich angesichts der kleinteiligen Analyse langweilen und begründet darum die Notwendigkeit seines Vorgehens, das sich nach seiner eigenen Darstellung von dem eines Cicero oder Quintilian unterscheidet. Der Abschnitt wird also gerahmt von den klassischen Worten der Bildungspolemik. Insofern ist das rhetorische Konzept des Hieronymus in diesem Zusammenhang auch als Gegenkonzept zur antiken Rhetorik zu begreifen und hat hinsichtlich seiner Funktion an dieser Stelle auch noch seinen Ort in der Frage nach des Hieronymus Beziehung zur antiken Rhetorik (vgl. dazu Kap. 5.2.). 40
41
Vgl. ep. 36,14 (54, 280,14-16 H.).
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2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
Was heißt das nun konkret? Die rechte Sprache {oratio) solle der gewöhnlichen und alltäglichen gleichen. Pedester und cotidianus lauten die Adjektive, die der oratio zugeordnet sind. Es ist jedoch nicht gefordert, die oratio solle gewöhnlich und alltäglich sein, sondern sie solle einer solchen gleichen. Damit ist eine Orientierungs- und Bezugsnorm für die Sprache, die Hieronymus fordert, gegeben: die Alltagssprache. Dieser Bezugsnorm entspricht auch die Bestimmung ...et nullam lucubrationem redolens. Der Stil, der in intensiver und konzentrierter Nachtarbeit entsteht42, ist ein besonders ausgefeilter, überlanger. Gerade so soll der Briefstil nach Hieronymus nicht sein. Die Schlichtheit der auf rhetorischen Schmuck verzichtenden Sprache wird auf zweierlei Weise begründet: Zum einen ist es das Kriterium der Verständlichkeit - nur so werde die Sache erklärt, werde der Sinn erörtert, würden die dunklen Stellen erhellt. Zum anderen ist es die Orientierung am Gegenstand. Wenn Hieronymus über Schriften, gemeint sind damit natürlich die biblischen, handelt, dann will er deren Einfachheit {simplicitas) nachahmen; das decet aus dem Beginn des ersten Absatzes zieht sich als Kriterium der Angemessenheit, decorum, durch den ganzen Abschnitt. Dem an dieser Stelle geforderten Stil werden also zwei Bezugsnormen an die Seite gestellt: Zum einen gilt es, sich an der Schlichtheit der Alltagssprache zu orientieren, zum anderen ist der Orientierungspunkt die Sprache der Heiligen Schrift. Hiermit qualifiziert sich die Stilbestimmung als typisch christliche. Die Verknüpfung der genannten Stilvorschriften mit der Gattungsbezeichnung sermo ist einleuchtend. Die Forderung einer pedestris et cotidianae similis ... oratio zielt auf eine Sprache ab, die der alltäglich gesprochenen gleicht. Diese Art der Bezeichnung eines Stilniveaus ist aber durchaus eine der Bedeutungen des Wortes sermo. aus der Grundbedeutung von sermo als „Gespräch, Unterhaltung" hat sich die Bedeutung der „gewöhnlichen, kunstlosen Rede" oder auch „Umgangssprache" entwickelt43. Diese Art der Stilbestimmung ist keineswegs neu. Das Postulat des schlichten, sich der Alltagssprache annähernden Stiles zieht sich durch sämtliche brieftheoretischen Entwürfe von Beginn der theoretischen Reflexion über Briefe an. Namentlich das Adjektiv cotidianus taucht in allen Briefstellern auf44. Was bei Hieronymus in Erstaunen versetzt, sind zwei Dinge: Zum einen ist es verwunderlich, daß er an so wenigen Stellen auf den adäquaten Stil eingeht. Die eben analysierte Stelle ist nahezu singulär und, wie die Vorbemerkungen gezeigt haben, auch keineswegs ganz eindeutig als stilistische Charakteristik allein der Gattung Brief zuzuordnen. Das Alltäglichkeitspostulat spielt bei ihm in einem ganz anderen Zusammenhang eine tragende Rolle, nämlich bei 42
Vgl. GEORGES, Handwörterbuch II, 716.
43
Vgl. zu diesem Zusammenhang Vgl. dazu Kap. 1.1.2.
44
GEORGES,
Handwörterbuch
II, 2 6 2 4 .
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
der Auswahl der briefspezifischen Thematik45. Zum zweiten ist es erstaunlich, daß Hieronymus eine Begründung für die von ihm postulierte Stilhöhe anbringt. Das Moment der Verständlichkeit, die nur durch einen schlichten Stil gewährleistet sei, taucht sonst nur noch bei Julius Victor auf, der noch pragmatisch hinzufugt, beim Brief könne man schließlich nicht nachfragen, was gemeint sei46. Mit der Stilbestimmung bewegt sich Hieronymus in der Nähe der Bildungspolemik47. Zwischen den oben zitierten Sätzen aus dem 36. Brief heißt es: ... non quae uerborum conpositione frondescat sint alii diserti, laudentur, ut uolunt, et inßatis buccis spumantia uerba trutinentur:
...4S
Hieronymus stellt sich mit dem von ihm postulierten Stil in einen Gegensatz zu anderen, die als redegewandt gelten, Lob für ihre Reden empfangen und aus deren Mündern die Worte förmlich hervorsprudeln. Wenn er diesen Gegensatz aufbaut (sint alii...), setzt er voraus: Der eine Stil ist es, der das Ziel, die verständliche Vermittlung relevanter Inhalte nämlich, erreicht, der andere dagegen erreicht dieses Ziel nicht. Hieronymus läßt keinen Zweifel daran, daß es der von ihm postulierte Stil ist, der das Ziel erreicht. Als Adelsprädikat fugt er seinem Stil das krönende Argument an: Dieser sei es, der dem Stil der Heiligen Schriften gleiche. Dieses Argument enthebt, neben der bereits geleisteten Argumentation, das Urteil jeder Infragestellung, da es gleichsam durch eine übergeordnete, unanfechtbare Instanz sanktioniert ist. 2.3. Inhalt Auch zu den adäquaten Inhalten eines Briefes sagt Hieronymus nur wenig. Vor allem ist bei der Untersuchung eine Stelle aus dem 29. Brief heranzuziehen, der an Marcella gerichtet ist. Epistolare officium est de re familiari aut de cotidiana conuersatione aliquid scribere et quodammodo absentes inter se praesentes fieri, dum mutuo, quid aut uelint aut gestum sit, nuntiant, licet interdum confabulationis
tale conuiuium doctrinae
quoque
sale
condiatur.49
45
Vgl. zur Anwendung des Alltäglichkeitspostulates auf die dem Brief angemessenen Inhalte Kap. 3.2.3. 46 Vgl. Julius Victor, ars rhet. 27: Ceterum cum abscondito nihil opus est, cavenda obscuritas magis quam in oratione aut in sermonicando: potes enim parum plane loquentem rogare, ut id planius dicat, quod in absentium epistulis non datur. Et ideo nec historia occultior addenda nec proverbium ignotius aut verbum cariosius aut figura putidior. (448,10-14 Halm). Zu Julius Victor und seiner ars rhetorica vgl. Kap. 1.1.2. 47 48 49
Zur Bildungspolemik bei Hieronymus vgl. Kap. 5.2. Ep. 36,14 (54, 280,19-281,2 H.). Ep. 29,1 (54, 232,6-10 H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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Hier leitet Hieronymus seinen Brief an Marcella mit der Bemerkung ein, die eigentliche briefliche Aufgabe sei es, über Angelegenheiten zu schreiben, die den freundschaftlichen Kontakt (res familiares)50 und den alltäglichen Umgang (cotidiana conuersatio)51 betreffen. Nach diesen Worten ist der Gegenstand brieflicher Kommunikation also der Kontakt, die reale Kommunikation von Menschen. Danach thematisiert die eine Form von Kommunikation die andere, schriftliche Kommunikation expliziert mündliche. Es findet im Brief nicht nur Austausch über Kommunikation statt, also Metakommunikation, sondern der Brief ist selbst Vollzug von Gesprächssituationen. Dies wird vom nächsten Teilsatz bestätigt (quodammodo ... fieri). Wo sich die Abwesenden zu Anwesenden machen, ist eine Kommunikationssituation hergestellt52. Gegenstand dieser brieflichen Kommunikation ist das, was man zu tun beabsichtigt oder was geschehen ist (quid auf uelint auf gestum sit). Hieronymus beschreibt also als Briefinhalte das, was Gegenstand eines Alltagsgespräches ist, Geplauder über Vorhaben oder Geschehnisse. Die Adjektive wie cotidianus oder familiaris unterstreichen den Alltagscharakter der Gesprächsinhalte ebenso wie die banalen Vokabeln uelle und gerere. Bewußt wählt der Kirchenvater mit den letzten beiden Vokabeln Verben, die über einen extrem großen Anwendungsbereich verfugen und auf allgemeinstmögliche Art intendiertes oder realisiertes Handeln zum Ausdruck bringen, ohne die Kon50
Res familiares können natürlich ebenso familieninterne wie private Angelegenheiten oder auf freundschaftliche Verbindungen bezogene Inhalte sein. M.E. ist der Ausdruck de re familiari scribere eng an die Bezeichnungen epistulae familiares, wie sie Julius Victor verwendet, oder an die Rede vom genus familiare bei Cicero angelehnt. Dies sind nun Briefe, deren Bezeichnung im Deutschen in der Regel mit „Freundschaftsbrief' übersetzt wird. Der lateinische Begriff wie diese Übersetzung zielen auf das Wesen solcher Briefe ab: Es geht um das Pflegen freundschaftlichen oder bekanntschaftlichen Kontaktes via Brief. Die Konnotationen der Privatheit und der Freundschaft, die in dem Begriff res familiares angelegt sind, spielen in dieser Art der Briefe eine größere Rolle als die Konnotation des Innerfamiliären. Das Wesen des Freundschaftsbriefes besteht im Pflegen der Kommunikation. Der Ausdruck res familiares hat also, wird er im Zusammenhang eines Briefes gebraucht, stark kommunikative Konnotationen. Daher scheint mir als Übersetzung die etwas umständliche Fassung den gemeinten Sachverhalt am besten zu treffen: Sie integriert sowohl den Aspekt der Freundschaft als auch den Aspekt des kommunikativen Vorganges. Zur genauen Deutung dieses brieflichen Freundschaftscharakters vgl. Kap. 3.2.4.1. 51 Der den res familiares beigeordnete Ausdruck cotidiana conuersatio unterstützt noch einmal den Eindruck, daß es sich bei ersterem nicht in erster Linie um faktische Geschehnisse, sondern um kommunikative Zusammenhänge handelt. Der Begriff conuersatio bezeichnet den Umgang, den realen Kontakt von Personen oder Personengruppen, eben aktuelle Konversationsgegenstände. Hat der Ausdruck res familiares eher privaten Charakter, so steuert die Formulierung cotidiana conuersatio den Aspekt der Öffentlichkeit, freilich im Rahmen von Alltäglichkeiten, bei. 52
Vgl. zu diesem Komplex der Vergegenwärtigung im Brief die Überlegungen in Kap. 3.2.4.2.
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
notation eines Anwendungsbereiches wissenschaftlicher, dienstlicher oder anderer Art in das Bewußtsein der Leser zu tragen. Die Alltäglichkeit der Begriffe cotidianus und familiaris ist bereits in der Wortbedeutung angelegt. Die Leichtigkeit des Inhaltes wird durch den Ausdruck confabulationis cortuiuium illustriert. Als Festmahl53 des Plauderns bezeichnet Hieronymus hier die briefliche Kommunikation. Das deutet auf Gespräche hin, die im Zusammenhang eines Mahles geführt werden, vielleicht Geplauder bei Wein und Musik und anderen Darbietungen, Gespräche über Alltagsdinge, Pläne, Absichten Ereignisse, all das, was in den voraufgegangenen Sätzen umrissen wurde54. Es besteht keine Beliebigkeit in der Wahl der brieflichen Themen. Daß genau diese Gegenstände von Alltagskommunikation auch Gegenstände von Briefen sein müssen, impliziert die einleitende Formulierung. Epistolare officium est heißt es, es sei Pflicht des Briefes, von eben jenen Dingen zu berichten. Dieses scheinbar so konsistente Bild wird durch den letzten, mit licet eingeleiteten Teilsatz brüchig. Es sei zuweilen erlaubt, ein solches Festmahl des Plauderns mit dem Salz der Gelehrsamkeit zu würzen, setzt Hieronymus hinzu. Die Ausdrücke confabulationis conuiuium und doctrinae sal sind einander adversativ zugeordnet, das Mahl des Plauderns steht dem Salz der Gelehrsamkeit gegenüber. Der sprichwörtliche Charakter vom würzenden Salz, das ja seinen organischen Ort im Mahle hat, verknüpft die Elemente „Plaudern" und „Gelehrsamkeit" so, daß sie zwar als gegensätzliche, doch als einander ergänzende Elemente verstanden werden können. Es gibt also, die o. g. Beobachtung erweiternd, offensichtlich einen weiteren Gegenstand brieflicher Kommunikation, den der wissenschaftlichen Erörterung nämlich. Dessen Stellenwert steht nach diesem Zitat unter dem der Alltagsplauderei, gilt er doch lediglich als würzendes Element. Dennoch ist sein Rang nicht zu unterschätzen: Als ergänzendes Element einer Korrespondenz ist er unerläßlich; erst die Würze bereitet den wahren Geschmack, um im Metaphemfeld des Kirchenvaters zu bleiben. Die Fortsetzung des zitierten Briefbeginns zeigt, daß Hieronymus wissenschaftliche Texte in einer Korrespondenz zuweilen zuläßt und sich die oben 53 Daß hier in der Übersetzung weniger der Charakter der Zusammenkunft als tatsächlich der Charakter des gemeinsamen Speisens, des Mahles zu berücksichtigen ist, legt die folgende Terminologie (sale condiatur) nahe. Wenn vom „Würzen" die Rede ist, befinden wir uns zweifelsohne im Metaphernfeld „Speise/Mahlzeit". 54 Wird auf die Literaturform des convivium rekurriert, so sind als Tischgespräche freilich auch die erörternden Diskussionen wissenschaftlicher Gegenstände zu verstehen. Vgl. R. MAU, Art. convivium, PRE 4, Stuttgart 1901, (1201-1208) 1208: „Bei den Griechen war das Symposion seit Xenophon und Piaton eine beliebte Litteraturform, indem Philosophen und später auch Grammatiker irgend welche Fragen in der Form von Tischgesprächen behandelten."
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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gemachte Einschränkung auf eine zu starke Dominanz von solch wissenschaftsorientierten Texten bezieht. uerum tute in tractatibus occuparis, nihil mihi scribis, nisi quod me torqueat et scripturas legere conpellat. denique heri famosissima quaestione proposita postulasti, ut, quid sentirem, statim rescriberem; quasi uero pharisaeorum teneam cathedram, ut, quotienscumque de uerbis Hebraicis iurgium est, ego arbiter et litis Sequester exposcar.55
Aus diesen Sätzen geht hervor, daß Marcella dem Hieronymus eine Reihe von Fragen vorgelegt hat, die wissenschaftliche Gegenstände betreffen, insbesondere scheint es sich um Fragen zu hebräischen Wörtern und ihren Bedeutungen gehandelt zu haben. Des Kirchenvaters Klage leitet unmittelbar über in die bereits bekannte apologetische Figur, die knappe Zeit erlaube keine angemessene Beantwortung56, dem folgt die ausfuhrliche Behandlung der offensichtlich von Marcella vorgebrachten (uns nicht überlieferten) Fragen. Diese Fragen werden einzeln und systematisch abgehandelt und keineswegs nur würzend eingestreut57. Zudem fugt Hieronymus einzelne Erläuterungen, die ihm wichtig zu sein scheinen, ein, ohne daß Marcella deren Erläuterung verlangt hätte58 und strukturiert den Brief an inhaltlich-wissenschaftlichen Gesichtspunkten orientiert59. Dieser Brief, dem die Ausfuhrungen über den adäquaten Inhalt vorangestellt sind, ist ganz wissenschaftlich-erklärender Natur. Damit bildet dieser Brief allerdings keinen Sonderfall im Rahmen des hieronymianischen Briefcorpus, ganz im Gegenteil, mit wenigen Ausnahmen erörtern alle Briefe exegetische und dogmatische Fragen. Welche Funktion kann dann also das vorangestellte inhaltliche Konzept und der an Marcella gerichtete Tadel, sie quäle und dränge den Kirchenvater unentwegt mit Fragen, die nicht Gegenstand von Briefen sein sollten, haben? Mehrere Erklärungsmodelle sind vorstellbar. Es könnte hier von Hieronymus eine topisch legitimierte Einleitungsformel vorgelegt worden sein. Die Charakteristik der zum Brief gehörenden „Alltäglichkeit" ist schließlich fester
55
Ep. 29,1 (54, 232,10-15 H.). Vgl. ep. 29,1 (54, 232,18-233,5 H.). 57 Vgl. ep. 29,2: In fronte epistulae tuae posueras, quid sibi uelit, quod in Regnorum libro primo scriptum est ... (54, 233,6f. H.); ep. 29,4: Teraphim quid sit, si spatium dictandi fuerit, prosequemur. (54, 237,6f. H.). 58 Vgl. ep. 29,5. Zu Beginn dieses Kapitels unterstellt Hieronymus Marcella eine Frage, die sich aus seiner zusätzlichen Erläuterung erst ergibt: Quaeras forsitan, si ephod sacerdotale sit pallium, quare in quibusdam locis addatur 'bar'? (54, 239, 6f. H.). 56
59
Vgl. ep. 29,3: Non me teneo, quin problematis ... (54, 234,13f. H.).
ordinem responsione
praeueniam
68
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Bestand der briefspezifischen Topik60. Blickt man jedoch auf die einschlägigen Stellen bei Demetrios, Cicero, Seneca und Julius Victor, so stellt man fest: Diese beziehen sich in ihren Darstellungen jeweils zunächst auf die Art der brieflichen Sprache, den Stil. Erst in zweiter Linie kommt, gleichsam daraus gefolgert, der briefliche Inhalt zur Sprache. So folgert Cicero aus dem Plauderton jener Briefe, die dem genus familiare et iocosum angehören, daß die Inhalte dem iocari entsprechen sollen, es also um Plauderei ohne allzu großen Informationswert gehen solle. Hieronymus äußert sich nun in dieser zur Diskussion stehenden Stelle nur implizit zum angemessenen Stil, sondern zieht aus der Tradition lediglich die sekundäre Seite, die den Inhalt eines Briefes betrifft, hinzu. Mit dem Aufgreifen einer traditionellen briefbezogenen Aussage stellt er sich in die Tradition allgemein akzeptierter Literaten und stellt damit seine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe von Briefautoren unter Beweis. Zudem findet er eine Einleitungsformel, die nicht nur als briefbezogener Topos über allgemeine Akzeptanz verfugt, sondern auch seiner Vorliebe gerecht wird, seine Briefe mit inhaltsbezogenen Zitaten beginnen zu lassen. Ein weiteres Erklärungsmodell bezieht nicht nur die Formel im einleitenden Satz, sondern den ganzen oben zitierten Abschnitt aus ep. 29 sowie die Struktur des genannten Briefes, soweit bis hier zur Sprache gekommen, mit ein. Der Rekurs auf dieses /ocan-Postulat, wie es hier in Anlehnung an Cicero genannt werden soll, kann auch als Spielart der Bescheidenheitstopik begriffen werden. Hieronymus versucht mittels der oben analysierten Passage den Eindruck zu erwecken, er sei durch die Anfragen nicht nur Marcellas, sondern auch anderer Korrespondenzpartner (quasi uero ... exposcar) gezwungen, den Briefen wissenschaftlichen Charakter zu verleihen. Diesen Zwangscharakter illustriert er mit dem Satz: me torqueat et scripturas legere conpellat. Aus dem gesamten Zusammenhang, daraus, daß er selbst nur allzu gern auf jene Anfragen eingeht, daß nahezu alle seine Briefe derart wissenschaftlich gestaltet sind, ist ersichtlich, daß er dem vorgeblichen Zwang bereitwillig nachkommt. So fuhrt er also den Zwangscharakter intensiv vor, um sein dem Briefideal widersprechendes Vorgehen rechtfertigen und berichten zu können, wie begehrt er als brieflicher Lehrer in wissenschaftlichen Fragen sei. Der Bescheidenheitstopos „Ich kenne die Vorschrift des Plauderns für den Brief und werde leider gehindert, mich daran zu halten" wird funktionalisiert, um seine Bedeutung als Wissenschaftler und die Relevanz des vorliegenden wissenschaftlichen Werkes vor Augen zu führen. Implizit vorausgesetzt ist bei diesem Erklärungsmodell, daß Hieronymus dem Plaudern via Brief geringeren Wert beimißt als der wissenschaftlichen Erörterung. 60 Vgl. die Darstellung in Kap. 1.1.2. sowie in Kap. 1.2.2., dabei besonders die Rede vom ungezwungen-familiären Stil bei Demetrios; die Rede vom genus familiare et iocosum mit dem Plauderton und das iocari über nicht informationshaltige Dinge bei Cicero, schließlich die Bestimmungen ambulare, inlaboratus, facilis bei Seneca.
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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Ein drittes Erkärungsmodell betrifft die Tatsache, daß Hieronymus diesen Brief an eine Frau schickt. Ohne auf die in der neueren Sekundärliteratur vielfach behandelte Frage nach dem Verhältnis des Kirchenvaters 2x1 Frauen eingehen zu wollen, bleibt doch zu konstatieren, daß er zu Frauenkontakten ein ambivalentes Verhältnis hatte. Das läßt sich an den brieflichen Befunden leicht verifizieren 61 . Wiewohl eine große Menge seiner Briefe an Frauen gerichtet ist und er offensichtlich zu einigen der Frauen ein enges freundschaftliches Verhältnis hatte, tauchen Sätze auf wie: „Wenn Männer meine Ausfuhrungen hören wollten, schickte ich sie nicht an Frauen." 62 , zudem ist einer seiner Hauptvorwürfe gegenüber Jovinian dessen intensiver wissenschaftlicher Kontakt zu Frauen 63 . So können die Worte zu Beginn des vorliegenden Briefes auch der Rechtfertigung des brieflichen Kontaktes mit Marcella dienen. Sie dränge ihn mit stets neuen Fragen, so bleibe ihm nichts anderes übrig, als ihr zu antworten. Das in diesem Kontext zu ergänzende Argument, es sei unhöflich, Briefe unbeantwortet zu lassen, taucht zwar nicht an dieser Stelle, aber doch in vielen anderen Briefen des Kirchenvaters auf 64 . Es muß also die oben gestellte Frage aufgreifend festgehalten werden, daß auch hier wieder ein Topos verwendet wird, den Hieronymus funktionalisiert. Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, daß die erstgenannte Verwendungsweise, eine topisch legitimierte Einleitungsformel vorliegt. Das schließt jedoch Konnotationen der beiden anderen Erklärungsmodelle, Bescheidenheitstopik und Rechtfertigung eines Frauenbriefes, nicht aus. Genaue inhaltliche Bestimmungen liefert Hieronymus dort, w o er von seinem Korrespondenzpartner Informationen einfordert. An Riparius richtet er die Bitte: ... ut mihi super omni conuersatione et statu tuo uel, ubi disponas uiuere, familiaria scripta transmittas.65 Hieronymus wünscht also über das Ergehen, die Verfassung und den Aufenthaltsort seines Freundes informiert zu werden. Hier bewegen wir uns wieder 61
Vgl. zu diesem Zusammenhang die exemplarischen Analysen der an Frauen gerichteten Briefe in Kap. 4.2.1. und 4.2.2. 62 Vgl. ep. 65,1 (54, 616,7 H.): si uiri de scripturis quaererent, mulieribus non loquerer. 63 Vgl. ep. 50,1 (54, 388,14-389,2 H.): ... non legisse quidem Karnyopiac; Aristotelis ... sed per inperitorum circulos muliercularumque auurcoaia syllogismos dauXXoyiaTout; texere et quasi acxpianaxa nostra callida argumentatione dissoluere. 64 Nicht zu antworten, ist ein Zeichen von Arroganz, vgl. ep. 42,3 (54, 317,17f. H.): ... et tibi non statim respondere admodum uisum est adrogantis ...; zudem ist es für denjenigen, der die Anwortpflicht vernachlässigt hat, beschämend, vgl. ep. 129,8 (56/1, 175,1 lf. H.): ... ut aut tacendum fuerit aut incompto eloquio respondendum, quorum alterum pudoris, alterum caritatis est. Vgl. dazu Kap. 3.2.4.1.4. 65
Ep. 151,3 (56/1, 364,1 lf. H.).
70
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
im Bereich der alltäglichen Informationen, des Gegenstandes des Alltagsgespräches. Eine weitere inhaltliche Bestimmung erinnert wieder an Cicero66. An einigen wenigen Stellen greift Hieronymus dessen Wort auf, welcher der Gegenstand eines Briefes sei, sei irrelevant. Ja, es gehe nicht einmal darum, irgendeinen Gegenstand zu haben. Der eigentliche Sinn des Briefes sei, daß er überhaupt geschrieben und versendet werde. So endet der 9. Brief: nisi forte
neglegentiae
Semper excusatione
socia
adseras
te non habuisse,
scriberes, cum hoc ipsum debueris scribere, aliud te non habuisse, quod
quod
scriberes.67
Dieser Satz bringt auf feine Art zum Ausdruck, daß der Adressat, wenn er schon meint, nichts zum Schreiben zu wissen, doch wenigstens eben dieses schreiben könne. Dieses Zitat bildet den Übergang zum nächsten Gegenstand der Betrachtung, dem Wesen des Briefes. Es markiert die Grenze der Bestimmbarkeit der adäquaten Briefinhalte zum eigentlichen Wesen eines Briefes. Hier deutet sich bereits an, daß sich die Relevanz der Inhalte im Hinblick auf das Wesen des Briefes auflöst. 2.4. Wesen Kommen wir nun nach Form, Stil und Inhalt zum Eigentlichen: Was ist nach der Auffassung des Hieronymus das Wesen eines Briefes? Zwei hervorragende Charakteristika gehören nach Hieronymus zum Wesen eines Briefes. Es sind die Momente der Freundschaft und der Begegnung. Beide sind eng miteinander verknüpft. Freundschaft konkretisiert und realisiert sich in Begegnung. Begegnung wiederum ist einerseits dann erfüllend, wenn es sich um eine Begegnung im Rahmen von Freundschaft handelt, andererseits ist es die Begegnung, die Freundschaft entstehen lassen kann. Um diese beiden Elemente und deren Relationen gruppieren sich die Äußerungen, die Hieronymus in seinen Briefen zum Wesen des Briefes trifft. Gleichwohl stehen diese beiden Elemente in den Briefen des Hieronymus nicht gleichrangig nebeneinander. Die Freundschaft ist stets das Übergeordnete. Sie ist gleichermaßen Ausgangspunkt und Motivation wie Ziel von Begegnung 68 . Darum beginnen wir hier auch mit der Betrachtung der auf den Brief bezogenen Aussagen über Freundschaft.
66 67 68
Vgl. Kap. 1.1.2. Ep. 9 (54, 34, 14-17 H.).
So läßt sich Thraedes These vom vorrangig philophronetischen Brief nach dem Befund bei Hieronymus bestätigen, vgl. dazu Kap. 1.2.2.
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
71
2.4.1. Freundschaft?9 2.4.1.1. Grundlage von Freundschaft Die Grundlage von Freundschaft ist nach den Aussagen in den Briefen des Hieronymus die gegenseitige Zuneigung, die Liebe zweier Menschen. Aber nicht nur das: Freundschaft ist eng verknüpft mit christlicher Motivik. Hieronymus bringt mehrfach zum Ausdruck, daß es Christus war, der das Band gegenseitiger Zuneigung zweier Menschen geknüpft hat, daß die Freundschaft zweier Christen ihr zentrales verbindendes Moment im gemeinsamen Glauben, ja, in Christus selbst hat: ... nascentes amicitias, quae Christi glutino
cohaeserunt...70
Hieronymus spricht an dieser Stelle von der entstehenden Freundschaft, die sich durch Christus verbunden habe. Dabei handelt es sich gerade um den zweiten Brief (nach ep. 4), den er an Florentinus richtet; einen Antwortbrief wird er von Florentinus in der Zwischenzeit bekommen haben. Wir wissen kaum, worin genau Hieronymus diese Verbundenheit in Christus sah. Beide sind Christen, fratres. Hieronymus begründet seine Zuneigung zu dem ihm zu dem Zeitpunkt noch nicht persönlich bekannten Bruder mit der vorbildlichen nächstenliebenden Haltung des Florentinus, namentlich im Bereich der Armenfursorge, wovon ihm berichtet worden sei71. Eine Passage aus dem 53. Brief streicht die Grundlage echter Freundschaft im Gegensatz zu einer solchen, die keinen wahren Grund hat, heraus: uera enim illa necessitudo est, Christi glutino copulata, quam non utilitas rei familiaris, non praesentia corporum tantum, non subdola et palpans adulatio, sed timor domini et diuinarum scripturarum studio
conciliant.72
Wahre und mit Christi Band verknüpfte Freundschaft zeichnet sich nach dieser Stelle durch zwei Merkmale aus: Sie ist durch die Furcht Gottes und das Studium der Heiligen Schriften verbunden {sed timor ... conciliant). Furcht Gottes und Schriftstudien sind aber nach Hieronymus die Konstituenten, in denen sich die Existenz als Christ erweist und konkretisiert. So ist es also das Christsein als solches, das Christen so miteinander verbindet, daß sie zu Freunden werden. Als für eine Freundschaft nicht konstitutiv erachtet der Kirchenvater Er-
69
Zu den antiken Topoi, die sich auf die Freundschaft im Brief beziehen, vgl. THRAEDE, Grundzüge, 125-146. 70 Ep. 5,1 (54, 21,8f. H.). 71
Vgl. ep. 4,1 (45, 19,3-10 H.).
72
Ep. 53,1 (54, 442,5-443,4 H.).
72
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
fordernisse alltäglicher Art wie den persönlichen Kontakt oder gar unwürdige und schmeichelnde Liebedienerei73. Wenn der Grund der Freundschaft in Christus liegt, dann ist es konsequent, daß die Bewahrung der Freundschaft, ihre Stabilität, göttlicher Fürsorge anbefohlen wird: ... nascentem amicitiam ut dominus foederare dignetur, precor.74
So lautet die Bitte, die Hieronymus am Ende des ersten Kapitels in einem Brief an Florentinus äußert. Der Ausdruck dessen, daß die Freundschaft ihren Grund in Christus hat, kann sich auch formelhaft knapp verdichten. Besonders in den späteren Briefen ist dies der Fall. So heißt es zum Beispiel in ep. 151: ... sedcoeptas in Christo amicitias mutuis epistulis
frequentemus:...75
Der knappe Rekurs auf die in Christus begonnene Freundschaft {amicitia coepta in Christo) hat selbständigen Charakter und kann als Formel ohne Erläuterung der Begleitumstände des Freundschaftsbeginns eingesetzt werden. Doch auch unabhängig von christlicher Grundlage wird die Freundschaft beschworen, die auch als gegenseitige Liebe bezeichnet wird. So häufen sich Stellen, in denen Hieronymus mit Rekurs auf verbindenden amor an Erfüllung der Freundschaftspflicht appelliert76. 2.4.1.2. Knüpfen von Freundschaft Nach Hieronymus ist es nicht so, daß dem brieflichen Kontakt stets eine bereits geschlossene Freundschaft zugrunde liegen muß. Nein, ganz im Gegenteil kann auch mit der Aufnahme des Briefwechsels eine Freundschaft geknüpft werden. Dies sehen wir im Falle des bereits erwähnten Florentinus. Hieronymus und er sind sich noch nicht begegnet, als Hieronymus ihm einen Brief zukommen läßt, der mit folgenden Worten beginnt: 73 Interessant ist hier vor allem die Tatsache, daß Hieronymus zu den irrelevanten Dingen die praesentia corporum zählt. Gerade die Freundschaft, die in Form brieflichen Kontaktes geführt wird, zeichnet sich dadurch aus, daß die Freunde nicht beieinander sind. Diese Art der Freundschaft ist durch absentia corporum geprägt. Im folgenden wird ausgeführt werden, daß Hieronymus die briefliche Form der Freundschaft derjenigen, die sich im persönlichen Kontakt konkretisiert, gleichordnet, ja, die briefliche nicht als eine zweitrangige Freundschaft betrachtet wissen will. Nach der oben zitierten Stelle könnte man den Eindruck gewinnen, daß er die briefliche der „normalen" Freundschaft sogar vorzieht (vgl. Kap. 3.2.4.1.4.). 74
Ep. 4,1 (54, 19,16f. H.). Ep. 151,2 (56/1, 364,3f. H.). 76 Vgl. dazu beispielsweise ep. 3,1 (54, 13,1 lf. H.): copula amoris; ep. 5,1 (54, 21,8 H.): amore uenio; ep. 7,2 (54, 28,2f. H.): facilius enim neglegentia emendari potest, quam amor nasci. 75
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
73
Quantus beatitudinis tuae rumor diuersa populorum ora conpleuerit, hinc poteris aestimare, quod ego te ante incipio amare, quam nosse. ... tuae dilectionis fama dispergitur, ut non tantum laudandus Sit ille, qui te amat, quam scelus putetur facere ille, qui non amat. praetermitto innumerabiles, in quibus Christum sustentasti, pauisti, uestisti, uisitasti...77
Hieronymus schreibt hier, er beginne bereits, Florentinus zu lieben, bevor er ihn kennengelernt habe. Was ist das für eine Liebe, die nicht auf persönlicher Bekanntschaft beruht, worin gründet sie? Hieronymus hat gute Dinge von Florentinus gehört, die Nachricht von dessen segensreichem Wirken (rumor beatitudinis)78 hat in ihm die Liebe zu der ihm noch unbekannten Person erweckt. Ausführlich zählt Hieronymus die Verdienste des Florentinus auf: Jener übe Nächstenliebe, unterstütze, ernähre, kleide und besuche Christus in vielen Menschen79. Florentinus ist also ein vorbildlicher Christ, der die Anweisungen Jesu erfüllt. Hieraus erwächst bewundernde Hochschätzung, ja, Liebe. Das ganze erste Kapitel dieses Briefes ist dem Lobe des Adressaten gewidmet. Der Kirchenvater schildert begeistert dessen Wirken und setzt mit der übertreibenden Bemerkung ein, der Mund zahlreicher Völker sei gefüllt mit dem Ruhm des Wirkens von Florentinus. Diese einleitenden Worte tragen den Charakter einer captatio benevolentiae. In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage zu begreifen, daß weniger jener Lob verdiene, der Florentinus liebe, als vielmehr deijenige Tadel, der ihn nicht liebe (qui te amat... qui non amat). Dieser Satz relativiert die erste Liebesbekundung aus dem Munde des Hieronymus. Es scheint nun keine außergewöhnliche Sympathie, keine nennenswerte persönliche Bindung, kein individuelles Angerührtsein einer bestimmten Person mehr vorzuliegen, sondern die einzig angemessene Reaktion auf eine eindrückliche Gestalt wie die des geschilderten Florentinus. Hieronymus ist also beeindruckt von des Florentinus Wirken und möchte mit ihm in ein freundschaftliches Verhältnis treten. Der Weg, den er dazu wählt, ist der des Briefes. Die Aufnahme der Brieffreundschaft ist dabei Indiz für die Aufnahme der echten Freundschaft. Es handelt sich nicht nur um einen symbolartigen Ausdruck des Wunsches einer Freundschaft: mit der Aufnahme des Briefkontaktes
77
Ep. 4,1 (54, 19,3-10 H.). Vgl. auch ep. 79,1. Die Übersetzung, die den Effekt des Gesegnetseins, nämlich das „Segen auf andere bringen" in den Vordergrund rückt, hat ihren Grund in den folgenden Konkretionen des Begriffes beatitudo. Diese zeigt sich in diesem Fall in vorbildlichem nächstenliebendem Handeln. 79 Hier bezieht sich Hieronymus auf die Verse Mt 25,34-40, die in der Aussage gipfeln: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Hier erweist Hieronymus seinen Adressaten als einen Mann, der wortwörtlich die ethischen Anweisungen Jesu erfüllt. 78
74
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
ist die Freundschaft tatsächlich da. Schließlich kann Hieronymus in seinem zweiten Brief an Florentinus auf die bereits existierende amicitia rekurrieren80. Die Kausalkette von Liebe, die Freundschaft schafft und sich dann im Briefwechsel konkretisiert, kann auch modifiziert auftreten. An einigen Stellen verkürzt Hieronymus diese Kausalkette dergestalt, daß das Element Freundschaft ausgespart wird und nur noch die Elemente pietas und Briefkontakt kausal miteinander verbunden werden81. 2.4.1.3. Bedingungen Die Freundschaft, die sich im brieflichen Kontakt realisiert, verfugt über einige spezifische Rahmenbedingungen. Hier wäre zunächst der räumliche Abstand, die Entfernung, zu nennen. Die Freunde sind getrennt, darum müssen sie sich schreiben und können nicht von Angesicht zu Angesicht miteinander kommunizieren. Die plausible, von Hieronymus explizierte Bedingung gilt in der Regel, muß jedoch für einige Teile der hieronymianischen Korrespondenz eingeschränkt werden82. Mit der räumlichen Entfernung geht auch ein zeitlicher Abstand der einzelnen Punkte des Kontaktes einher. Zwischen Frage und Antwort, zwischen den kommunikativen Akten verstreicht einige Zeit. Die briefliche Kommunikation läßt sich nicht als simultane, sondern als konsekutive kennzeichnen83. Dies ist nicht immer ganz unproblematisch. Hieronymus schildert uns mehrere Probleme, die aus diesen spezifischen Bedingungen erwachsen können. Zum ersten ist die Möglichkeit der spontanen Rückfrage ausgeschlossen, so daß die Gefahr von Mißverständnissen und sich daraus ergebenden Uneinigkeiten größer ist als in direkter Kommunikation. Zum zweiten kann eine Verzögerung des Erhaltes von Antworten zu Inaktualität der ensprechenden Texte infolge möglicherweise veränderter Sachlage fuhren. Zum dritten können aufgrund problematischer Beförderungsbedingungen die Briefe überhaupt ganz ausbleiben oder in falscher Reihenfolge eintreffen, so daß es zu endgültiger Verwirrung und zu Zerwürfnissen kommen kann84.
80
Vgl. ep. 5,1 (54, 21,9 H.). Zu dieser Spielart der Christianisierung von paganer Topik vgl. aber Kap. 5.3. 82 Die Briefe an Damasus sind beispielsweise mit großer Wahrscheinlichkeit zu der Zeit in Rom entstanden, als Hieronymus gerade dort ansässig war (vgl. hierzu die Einleitungsfragen zu der an Damasus gerichteten ep. 15 in Kap. 4.2.3.). Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, sich seinem „Arbeitgeber" zu nähern und die ausstehenden Fragen in mündlicher Kommunikation zu klären. 81
83 In den neueren brieftheoretischen Ansätzen wird dieser Sachverhalt als brieftypischer Phasenverzug beschrieben (vgl. dazu Kap. 1.2.3.). 84 Vgl. hierzu besonders den Briefwechsel zwischen Augustinus und Hieronymus und dessen Analyse durch HENNINGS, Briefwechsel, passim. Der Briefwechsel von Hieronymus und Ausgustinus ist auch Gegenstand der Habilitationsschrift von A. FÜRST,
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
75
Hieronymus ist sich dessen bewußt, daß beide Momente, der zeitliche wie der räumliche Aspekt, eine Gefahr für die Freundschaft im Brief darstellen können. So bringt er im 5. Brief seine Befürchtung zum Ausdruck, daß Sorge zu tragen sei, daß weder die Größe des zeitlichen Abstandes noch die der räumlichen Entfernung die Freundschaft auseinanderreiße: ... ne nascentes amicitias, quae Christi glutino cohaeserunt, aut temporis aut locorum magnitudo
diuellat.85
Eine weitere Gefahr, die in der räumlichen Entfernung ihren Grund hat, liegt in dem bekannten Sachverhalt, daß mit verringertem Kontakt das Interesse an der befreundeten Person sinken kann. Dies Erfahrung verdichtet sich in dem alten Sprichwort „aus den Augen - aus dem Sinn", das Hieronymus mehrfach zitiert. Diese Folge zu verhindern, macht sich Hieronymus in mehreren Briefen zum Ziel: ... obsecro te, ne ... pariter cum oculis mens
amittat.86
Der Rekurs auf das Sprichwort ist unverkennbar, ebenso die Koppelung an die Bitte, eben diesen Fall möge der Freund doch verhindern. 2.4.1.4. Konsequenzen Die auf diese Art entstandene Freundschaft, eine Freundschaft, die die Existenzform der Schriftlichkeit hat, ist keine geringerwertige Form der Freundschaft. Der räumliche Abstand mindert keineswegs die Qualität der Freundschaft87. Sie ist in ihrer Relevanz und Tragfähigkeit der Freundschaft, die sich in persönlichem Kontakt realisiert, gleichgeordnet. Das zeigt eine Stelle aus dem 5. Brief: non multum perditura erit Caritas, si tali secum sermone
fabuletur.88
Es wird die Liebe, die sich auf eine solche Art und Weise unterhält, nicht verloren sein, bemerkt der Kirchenvater, und macht damit deutlich, daß es sich
Augustins Briefwechsel mit Hieronymus, JAC.E 29, Münster 1999. Fürst bietet eine sorgfältige Analyse der Texte und geht besonders auf Rhetorik und Topik ein. 85
Ep. 5,1 (54, 21,8-10 H.).
86
Ep. 3,6 (54, 18,13f. H ). Vgl. dazu auch 3.2.4.2.4. Vgl. beispielsweise ep. 71,1. Zu den paganen Wurzeln dieses Topos (die Freundschaft bedarf nicht der Anwesenheit, da sie mit den Augen der Liebe sieht) vgl. THRAEDE, Grundzüge, 130. Auch an anderer Stelle bringt Hieronymus zum Ausdruck, daß die praesentia corporum für die Freundschaft nicht grundsätzlich relevant sei, vgl. ep. 53,1 sowie Kap. 3.2.4.1.1. 87
88
Ep. 5,1 (54, 21,12f. H.).
76
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
seiner Ansicht nach beim Brief um eine gleichwertige Ausdrucksmöglichkeit für freundschaftliche Zuneigung handelt 89 . Die Freundschaft via Brief ist also eine andere Art der Freundschaft. Sie hat aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen bestimmte Erfordernisse. Wenn der briefliche Kontakt die Existenz von Freundschaft darstellt, dann kann er auch als Indiz für das Aufrechterhalten, für die Pflege der Freundschaft gelten. Genau dies ist die Schlußfolgerung, die Hieronymus zieht. Freundschaft wird gelebt, gepflegt und konkretisiert sich im Austausch von Briefen. Das zeigt sich im einleitenden Satz zum 7. Brief: Non debet Charta diuidere, quos amor mutuus copulauit ...90 Es dürfe also das Papier nicht trennen, was die gegenseitige Liebe verbunden habe. Charta steht hier pars pro toto für den Brief als solchen. An dem Brief liegt es, ob die gegenseitige Liebe Bestand hat, oder ob sie auseinandergerissen wird. Anders gesagt, der Brief vermag den Bestand der Freundschaft zu gewährleisten.
89
Es gibt eine Stelle in den Briefen des Hieronymus, die dieser durchgängigen Beobachtung nicht ganz entspricht und die Freundschaft via Brief als keineswegs unumstritten gleichwertige Form kennzeichnet. So heißt es in ep. 62,1: Maiora spiritus uincula esse quam corporum si olim ambigebas, nunc probauimus ... (54, 583,4 H.). Hier mußte Hieronymus seinem Korrespondenzpartner Tranquillinus offensichtlich erst beweisen, von welcher Dauerhaftigkeit geistige Bande, die trotz körperlicher Entfernung bestehen, sein können. Eine weitere Stelle, ep. 29,7, fällt ebenso aus dem Gesamtbefund bei Hieronymus zu diesem Fragekomplex heraus: ... coram uiua, ut aiunt, uoce audies me. [aeque], quae de cetero uelis, praesens percontato praesentem, ut, si quid forte nescimus, sine teste, sine iudice in fida aure moriatur. (54, 241,18-242,1 H.). Diese Formulierung bringt die Vorzüge des Diskurses von Angesicht zu Angesicht, die Diskretion nämlich, zum Ausdruck. Damit schränkt sie die zahlreichen Belege, die eine Gleichordnung der Diskussion via Brief und coram viva postulieren, leicht ein. Diese Stelle ist sprachlich auffallig: Der dreigliedrigen Alliteration (praesens percontato praesentem) folgt ein Parallelismus (sine teste, sine iudice). Diese besondere stilistische Form weist darauf hin, daß es sich um einen literarischen Einschub handeln könnte. Tatsächlich stammt die Formulierung nicht von Hieronymus selbst. Der Kirchenvater bedient sich hier eines Zitates von Vergil (vgl. 54, 242 Anm. 1 H.). Möglicherweise relativiert die Tatsache, daß es sich hier nicht um einen hieronymianischen Satz handelt, die Relevanz des Beleges für eine Zeichnung der diesbezüglichen Auffassung des Kirchenvaters. Vermutlich hat er einen Satz aufgegriffen, der zum Fundus der Brieftopik gehört und aufgrund des Situationsbezuges gut in den Kontext paßte und somit in seiner Bedeutung für des Hieronymus Einschätzung des Verhältnisses von mündlichem zu schriftlichem wissenschaftlichen Diskurs nicht überschätzt werden darf. Daß ein solcher Satz allerdings Eingang in die Topik finden konnte, gibt Hinweise auf die Situation des Briefverkehrs in der Antike, die noch kein Briefgeheimnis kannte (vgl. ZELZER, Briefliteratur, 331). 90
Ep. 7,1 (54, 26,3f. H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
77
Wenn sich die gegenseitige Liebe oder Freundschaft im Briefkontakt konkretisiert, so kann auch folgerichtig der Brief als Charta caritatis91, als „Papier der Liebe" apostrophiert werden: Dieses Blatt ist es, das Träger der Freundschaft ist. Pflege der Freundschaft via Brief wird bei Hieronymus an bestimmte Normen gekoppelt, zu denen Gegenseitigkeit und Regelmäßigkeit gehören. So heißt es wieder im 5. Brief: quin potius foederemus
eas [sc. amicitias]
illae se obuient, illae nobiscum
reciprocis epistulis; illae inter nos currant,
loquantur.92
Hieronymus fordert in dieser Stelle dazu auf, die Freundschaft durch gegenseitige Briefe zu festigen. Wie er sich den idealen brieflichen Kontakt vorstellt, macht der nächste Satz deutlich: Die Briefe sollen zwischen den Korrespondenten hin und her eilen, sich kreuzen und sich mit den Korrespondenten unterhalten. Hier wird der reziproke Charakter des Briefkontaktes deutlich: Lebendige Brieffreundschaft ist eine solche, die nicht nur von einem, sondern von beiden Korrespondenzpartnern gleichermaßen getragen wird. Neben Gegenseitigkeit der Korrespondenz fordert Hieronymus auch ein, daß die Briefe nicht allzu kurz sein sollen, ja hin und wieder sagt er sogar, man solle ihm lange Briefe schreiben93. Nicht selten fuhrt er ernsthaft Klage darüber, daß erhaltene Briefe so kurz gewesen seien. quibus hoc primum queror, cur tot interiacentibus paruam epistulam miseritis
spatiis maris atque terrarum tarn
,..94
Er erwägt verschiedene Erklärungsmodelle für die Kürze des Briefes, so den impliziten Tadel dafür, daß er selbst noch nicht geschrieben habe, Papiermangel, drängende Boten, Abfassung in der Nacht oder dringende anderweitige Beschäftigungen, und kommt zu dem Schluß, daß die Absender entweder keine Lust zum Schreiben hatten oder aber sie Hieronymus eines langen Briefes nicht für würdig erachtet haben. Das letzte Argument lehnt er ab, und bringt seine Hoffnung auf Besserung der Nachlässigkeit der anderen zum Ausdruck. Dies alles entfaltet er auf immerhin 15 Zeilen95 - warum ist ihm die Dis91
Ep. 8 (54, 32,15 H.). Zu dieser Formel vgl. die Begriffsbestimmung von Caritas in Kap. 5.3. 92
Ep. 5,1 (54, 21,10-12 H.).
93
Hier könnte man einen Widerspruch zu dem oben beschriebenen Arev/to-Postulat sehen: Lautete dort das unverbindliche und unklare Charakteristikum für Briefe, sie sollten eher kurz sein, kann Hieronymus hier unbekümmert möglichst lange Briefe fordern. Allerdings bezieht sich das Arev/7as-Postulat auf die Länge der Texte im Verhältnis zu anderen Gattungen, innerhalb der Gattung Brief bevorzugt Hieronymus freilich die längeren. 94
Ep. 7,2 (54, 27,10f. H.).
95
Vgl. ep. 7,2 (54, 27,10-28,3 H.).
78
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
kussion um die Länge oder Kürze von Briefen so wichtig? Offensichtlich besteht für ihn eine Verbindung von der Länge der Briefe zur freundschaftlichen Zuneigung der Korrespondenten, nach seiner Ansicht läßt sich das Maß der Zuneigung aus der Länge der Briefe erkennen. Diese Verknüpfung wird deutlich aus dem Schlußsatz des 2. Kapitels. Müßte er annehmen, der Grund für den kurzen Brief sei, daß die Absender ihn dessen für unwürdig hielten, so sei dies für ihn entmutigend, eher wollte er den kurzen Brief ihrer Unlust zuschreiben, denn: facilius enim neglegentia emendari potest, quam amor
nasci.96
Hier ist nun nicht mehr die Rede von Würdigkeit97, sondern Hieronymus verwendet die Bezeichnung amor. Das Erklärungsmodell der mangelnden Liebe als Begründung für den kurzen Brief lehnt er zwar in diesem Kontext aus persönlichen Gründen ab, aber er zeigt uns die Möglichkeit auf, folgende Relation zu sehen: Ist ein Brief recht kurz, so kann dies daran liegen, daß der Absender den Adressaten nicht besonders schätzt. Auf unsere Thematik, den Freundschaftstopos bezogen heißt dies: Soll eine Freundschaft gepflegt werden, so reicht es nicht, überhaupt Briefe zu schreiben, es müssen lange Briefe sein98. Hin und wieder lesen wir auch apologetische Sätze des Kirchenvaters, in denen er sich für seine eigenen allzu kurzen Briefe rechtfertigt. So heißt es im 32. Brief: Ut tarn paruam epistulam scriberem, causae duplicis fuit: quod et tabellarius
festinabat
et ego alio opere detentus hoc quasi parergio me occupare nolui. quaeras, quidnam illud Sit tarn grande, tarn necessarium, quo epistolicae confabulationis munus exclusum
sit."
Hier werden von Hieronymus zwei Gründe zur Rechtfertigung angeführt. Der erste ist der aus dem Zusammenhang der Abfassungssituation sattsam bekannte Rekurs auf den drängenden Boten. Der zweite ist der wenig schmeichelhafte Hinweis, er habe gerade Wichtigeres zu tun, als sich mit solchen Nebensächlichkeiten (parergon) wie Briefen zu beschäftigen100. 96
Ep. 7,2 (54, 28,2f. H.).
97
Vgl. ep. 7,2 (54, 27,20-28,1 H.): ... aut ego non meruerim. Im Zusammenhang der Bestimmung brieflicher Inhalte (vgl. Kap. 3.2.3.) sahen wir jedoch, daß es Hieronymus nur darauf ankam, überhaupt einen Brief von seinem Korrespondenzpartner zu erhalten, unabhängig von der Länge des Briefes oder seinem Inhalt. 98
99
Ep. 32,1 (54, 252,3-7 H.). Freilich ist der Hinweis hier funktionalisiert und die Rede vom parergon nicht ganz wörtlich zu nehmen: Hieronymus ist daran gelegen, auf seine aktuelle exegetische Arbeit, den Vergleich der Fassungen des Alten Testamentes bei Aquila und im hebräischen Text, hinzuweisen. Dennoch darf man aus dieser Stelle sicher schließen, daß die exegetische Tätigkeit den wichtigsten Gegenstand des Verfassens von Texten für Hieronymus darstellt. Jedoch läßt sich diese Verfassertätigkeit nicht gegen das Abfassen von 100
79
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
Es ist also besser, kurze Briefe zu schreiben, als auf die Antwort warten zu lassen, allerdings sind kurze Briefe durchaus Grund für eine Rechtfertigung. Nach der Darstellung des Hieronymus gehört unverzichtbar zur brieflichen Freundschaft der rege Kontakt, die zuverlässig eintreffende, ja, sogar unverzüglich zu schreibende und abzuschickende Antwort. Antwortpflicht ist nicht nur die Brieffreundschaft konstituierendes Faktum, sondern auch Gebot der Höflichkeit. Völlig undenkbar scheint es zu sein, daß sich eine Antwort nicht nur verzögern, sondern, daß sie ganz ausbleiben könnte. So schließt Hieronymus seine Erwägungen über die Wahl zwischen dem Abfassen eines schlechten Briefes oder dem Verzicht auf eine Antwort: ... ut aut tacendum fuerit aut incompto eioquio respondendum, quorum alterum pudoris, alterum caritatis est.101
Gar nicht zu schreiben wäre demnach eine Schmach. Andererseits könnte das Schweigen auch als Hochmut ausgelegt werden, so heißt es in ep. 42: ... tibi non statim respondere admodum uisum est adrogantis
,..102
Auf eine zügige Antwort zu verzichten ist also keinesfalls eine adäquate Reaktionsweise. Noch häufiger als die Beschreibung dieses Sachverhaltes lesen wir in den Briefen des Hieronymus Rekurse auf den Umkehrschluß aus dieser Überlegung. Bleiben Briefe aus, so scheint dem Kirchenvater dies gleichbedeutend mit der Vernachlässigung der Freundschaft zu sein. Selten entschuldigt er sich für die Nachlässigkeit im Beantworten von Briefen, wesentlich häufiger beklagt er, keine Briefe bekommen zu haben und mutmaßt hinter dem Fehlverhalten seiner Korrespondenzpartner Geringschätzung der Freundschaft, die beide verbindet. Auch hier ist wieder deutlich: Die Brieffreundschaft entspricht einer echten Freundschaft. Konkretisiert sich diese Art der Freundschaft aber im brieflichen Kontakt, so ist der Abbruch oder der vermeintliche Abbruch dieses Kontaktes gleichbedeutend mit der Beendigung der Freundschaft. Im 8. Brief, der an Nicaeas gerichtet ist, verbindet Hieronymus den Vorwurf der Zerstörung der Freundschaft mit dem Vorwurf des Ausbleibens von Briefen103. Diese beiden Momente werden nicht in eine Kausalbeziehung miteinander gesetzt: Es ist für Hieronymus selbstverständlich, daß das eine das Briefen ausspielen, schließlich sind weitaus die meisten der von Hieronymus überlieferten Briefe exegetischer Natur. 101 Ep. 129,8 (56/1, 175,1 lf.H.). 102 Ep. 42,3 (54, 317,17f. H.). 103 Zur Interpretation des 8. Briefes vgl. Ch. SCHÄUBLIN, Christliche humanitas christliche Toleranz, MH 32, 1975, (209-220) 209-213. Schäublin sieht in dem Ruf nach kultivierter Freundschaft, der in dieser Epistel zum Ausdruck komme, ciceronische humanitas (vgl. a.a.O., 211), Hieronymus übernehme den Begriff humanitas allerdings von Varro (vgl. a.a.O., 213).
80
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Zeichen für das andere ist - wenn keine Briefe geschrieben werden, existiert keine Freundschaft mehr. tu modo a nobis abiens recentem amicitiam scindis potius, quam dissuis ... nisi forte ita tibi exosus est oriens, ut litteras quoque tuas huc uenire formides.104 Im ersten Satz bezichtigt Hieronymus seinen Adressaten, nach seiner Abreise die Freundschaft aufgelöst oder vielmehr zerrissen zu haben. Worin Hieronymus dieses Auflösen zu erkennen glaubt, impliziert die folgende rhetorische Frage: Ihm sei doch wohl der Orient nicht so verhaßt, daß er sogar fürchtete, seine Briefe könnten dorthin gelangen. Dies zeigt an, daß das Indiz für den Freundschaftsabbruch das Ausbleiben von Briefen ist. Auch im 9. Brief läßt sich erkennen, daß Hieronymus das Ausbleiben von Briefen mit dem Abbruch der Freundschaft gleichsetzt: tu necdum satiatus e nobis cur flnem iungis exordio? cur amittis, antequam teneas? nisi forte neglegentiae
Semper excusatione socia adseras te non habuisse, quod
cum hoc ipsum debueris scribere, aliud te non habuisse, quod
scriberes,
scriberes.105
Die einleitende Frage nach dem Grund der Beendigung des Anfanges, der Aufgabe des noch nicht Festgehaltenen versteht sich aus dem Kontext dieses in literarischen Anspielungen und Metaphern schwelgenden Briefes als auf die Freundschaft bezogene Aussage. Daß der vorgeblich vollzogene Bruch mit dem Ausbleiben von Briefen zusammenhängt, zeigt der folgende Satz, in dem Hieronymus seinen Adressaten vor dem Anbringen der gegenstandslosen Entschuldigung, man wüßte nichts zu schreiben, warnt. Nicht immer zieht Hieronymus aus dem Ausbleiben von Briefen gleich die rigideste Schlußfolgerung, nämlich die, daß das Gegenüber die Freundschaft abgebrochen habe. Im 12. Brief bringt er gegenüber dem Mönch Antonius im ironischen Ton zum Ausdruck, daß er dessen briefliche Zurückhaltung als höchste Verachtung empfinde106. Freilich muß sich auch Hieronymus selbst den Vorwurf gefallen lassen, er sei bei der Beantwortung von Briefen säumig gewesen. Im 6. Brief, der an Julian gerichtet ist, erwähnt er, daß jener ihn de silentio litterarum107 getadelt habe. Das bekannte Modell, der Zusammenhang von Korrespondenzabbruch und Freundschaftsabbruch, kommt hier nun interessanterweise nicht zum Tragen, denn Hieronymus gesteht nicht zu, nicht geschrieben zu haben. Er erörtert ausfuhrlich die Gründe, die er für das Nichteintreffen seiner Briefe geltend machen könnte. So diskutiert er die mögliche
104
Ep. 8 (54, 32,11-14 H.).
105
Ep. 9 (54, 34,13-17 H.).
106
Vgl. dazu ep. 12 (54, 41,1-42,14 H.). Ep. 6,1 (54, 24,4 H.).
107
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
81
Nachlässigkeit der Überbringer und den Mangel an Boten108. Mit keinem Wort geht er auf eine mögliche Verbindung jenes Vorkommnisses zu beider freundschaftlicher Beziehung ein. Ein implizites Schuldeingeständnis, den Hinweis also, daß Julianus mit seinen Vorwürfen Recht hat, liefert Hieronymus im nächsten Satz. Auch der ironische Ton kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er hier selbst seinen briefbezogenen Forderungen zuwider gehandelt hat: ... ita te deinceps fascibus obruam litterarum, ut e contrario incipias rogare, ne scribam.109
Hieronymus droht hier seinem Gegenüber an, er werde ihn mit Bündeln von Briefen überschütten, so daß jener ihn, ganz im Gegensatz zu seiner aktuellen Intention, bitten werde, nicht mehr zu schreiben. Auch im einleitenden Kapitel des 76. Briefes muß sich Hieronymus gegenüber seinem Korrespondenzpartner Abigaus dafür rechtfertigen, daß jener keine Briefe von ihm bekommen habe. Wieder weist er die Möglichkeit, es könne an ihm gelegen haben, weit von sich: itaque obsecro te, ne me putes sumptis litteris tuis ante tacuisse et aliorum uel infidelitatem uel neglegentiam in me referas.110
Er bittet sein Gegenüber, doch nicht etwa anzunehmen, er habe erst Post von jenem erhalten, dann aber geschwiegen. Die Schuld für das Ausbleiben von hieronymianischen Briefen rechnet der Kirchenvater der Untreue und Nachlässigkeit anderer zu. Hier ist wohl auf das Versagen von Briefboten angespielt. Die Konsequenzen des Ausbleibens von Briefen auf die Freundschaft verdeutlicht der folgende Satz: quid enim proderat, ut prouocatus officio tacerem et amicitias tuas meo silentio repellerem, qui ultro soleo bonorum appetere necessitudinem et me eorum ingerere caritati?"1
Hieronymus stellt die Frage, was ihn wohl zu einem solchen Verhalten hätte verleiten sollen, daß er die Freundschaft des anderen mit Stille hätte beantworten sollen. Die Tatsache, daß Abigaus dem Kirchenvater Briefe geschickt hat, wird mit den Worten officium und amicitia interpretiert. Briefe sind offenbar ein Ausdruck von Gefälligkeit und Freundschaft. Hieronymus fugt eine Erklärung an, wie sehr es ihn nach Freundschaft mit Menschen dränge: „Ge108 Hieronymus vermeidet es, in diesem Brief zu sagen, daß er tatsächlich Briefe geschrieben habe. Zudem fügt er Rechtfertigungen an: seine körperliche Erkrankung und seinen seelischen Kummer, vgl. dazu ep. 6,1 (54, 24,3-15 H ). So scheint mir der Vorwurf des Julianus nicht ganz aus der Luft gegriffen zu sein, zumal uns auch keine weiteren Briefe an ihn überliefert sind. 109 110 111
Ep. 6,2 (54, 25,6f. H.). Ep. 76,1 (55, 35,8f. H.). Ep. 76,1 (55, 35,10-12 H.).
82
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
rade ich selbst pflege die enge Verbindung mit guten Menschen zu erstreben und mich ihrer Zuneigung zu versichern." Wenn dieser relativisch angeschlossene Satz, die Aussage, daß es Hieronymus sehr an freundschaftlichen Kontakten gelegen sei, als Argument dafür geltend gemacht wird, daß Hieronymus den brieflichen freundschaftlichen Kontakt des Abigaus nicht unbeantwortet gelassen habe, dann heißt dies: Das Schweigen aus dem ersten Satzteil hätte wenn er denn geschwiegen hätte - als Absage an die Freundschaft interpretiert werden müssen. Hier sehen wir wieder die negative Koppelung „keine Briefe - keine Freundschaft", die implizit vorausgesetzt wird. Allerdings ist bei den Stellen, die Hieronymus selbst als den säumigen Briefschreiber entlarven, stets festzustellen, daß er diese Koppelung zwar voraussetzt, jedoch zu erweisen sucht, daß sie in seinem Fall nicht zum Tragen komme, da er sehr wohl geschrieben habe und lediglich aufgrund äußerer Umstände die Briefe nicht eingetroffen seien. Diese äußeren Umstände hält er hingegen säumigen Korrespondenzpartnern nie zugute 112 .
2.4.2. Begegnung113 Ein weiteres Charakteristikum für das Wesen eines Briefes ist das Moment der Begegnung. Nach der Darstellung des Hieronymus geschieht im Brief die Begegnung der beiden Korrespondenzpartner. Wie die Freundschaft, die sich im Briefwechsel konkretisiert, eine echte Freundschaft ist und nicht nur das Symbol für eine solche, so hat auch die Begegnung realen Charakter. Diese Begegnung im Brief ist der Begegnung von Angesicht zu Angesicht so gleichgeordnet, daß Hieronymus, wenn er auf ein Zusammensein rekurriert, erklären muß, ob er das briefliche oder das körperliche meint. So heißt es im 26. Brief: Nuper, cum pariter essemus, non per epistulam, ... sed
praesens...114
112 Auf der Grundlage der in diesem Kapitel zum Thema „Freundschaft im Brief zur Sprache gekommenen Stellen läßt sich die „Freundschaftskonzeption" des Hieronymus entfalten: Hieronymus sieht die Grundlage von Freundschaft in der Verbindung durch den gemeinsamen Glauben an Christus gegeben. So bezeichnet er die Freundschaft stets auch als von Christus geknüpft. Diese Grundlage macht die Beständigkeit der Freundschaft aus. Dennoch muß eine Freundschaft durch regelmäßigen Kontakt gepflegt werden. Aufgrund des stark theologischen Freundschaftsbegriffes wundert es nicht, daß theologische Entfremdung den Bruch von Freundschaft nach sich ziehen kann, wie dies im Fall der Beziehung von Hieronymus und Rufin geschah (vgl. zu dieser Überlegung auch K. TREU, Art. Freundschaft, RAC 8, Stuttgart 1972, [418-434] 431). 113
Zu den antiken Topoi, die sich auf die Begegnung im Brief beziehen, vgl.
THRAEDE, G r u n d z ü g e , 1 4 6 - 1 7 9 . 114
Ep. 26,1 (54, 220,9f. H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
83
Die Grundlage der Begegnung, die Motivation, warum es die Korrespondenzpartner zur Überwindung der Trennung drängt, ist eine der Grundlage der Freundschaft vergleichbare. Hieronymus differenziert nicht zwischen Liebe als Grund der Freundschaft oder als Grund der Begegnung, sie motiviert beides. Weil sich die Korrespondenten zugetan sind, realisieren sie ihre Freundschaft im Briefverkehr, deshalb suchen sie im brieflichen Kontakt die Begegnung. Explizite Verknüpfungen von Liebe und Begegnung via Brief finden sich vor allem an zwei Stellen in den Briefen des Hieronymus: ... quae [sc. litterae] te copula amoris innexum adme
usqueperducant.1,5
Diese Stelle aus dem 3. Brief verbindet zwar die Überwindung der Trennung der Korrespondenten mit dem Rekurs auf die gegenseitige Liebe (copula amoris), faßt die Bande der Liebe jedoch eher als Instrument der Überwindung der Trennung auf und charakterisiert sie noch nicht eindeutig als Motivation der Begegnung. Klarere Worte wählt der Kirchenvater hingegen im 5. Brief. Dort heißt es: etsi corpore absens, amore et spiritu uenio.116
Das Kommen im Geiste, das die Überwindung körperlicher Abwesenheit bewirkt, hat eine klare Motivation: Durch die Liebe getrieben macht sich der Absender auf den Weg. Grund der Herbeiführung der Begegnung ist die Liebe (iamor).
Hieronymus verwendet unterschiedliche rhetorische Figuren und topische Elemente, um die Art der Begegnung via Brief auszudrücken. Es wird in der Regel kein Grund angegeben, warum man für die Begegnung bei räumlicher Trennung ausgerechnet den Brief wählen sollte. Freilich: Es gab in der Spätantike keine Alternative, von aufwendigen und gefährlichen Reisen, zu denen der Kirchenvater ja häufig genug auffordert, einmal abgesehen. Dennoch soll ein Traditionshinweis, den Hieronymus liefert und mit einem Appell an die Kulturträger koppelt, hier nicht vorenthalten werden: Schon die unzivilisierten Vorfahren hätten sich, wenn auch noch in Unkenntnis von Papier und Pergament, Nachrichten zugeschickt, um sich zu begegnen. Wieviel mehr sei es da Kulturmenschen angemessen, diese Sitte zu pflegen117!
115
Ep. 3,1 (54, 13,1 If. H.). Ep. 5,1 (54, 21,7f. H.). 117 Vgl. dazu ep. 8 (54, 31,12-32,9 H.): nam et rudes illi Italiae homines, quos cascos Ennius appellat, qui sibi, ut in Rhetoricis Cicero ait, uictu fero uitam requirebant, ante chartae et membranarum usum aut in dedolatis ex ligno codicellis aut in corticibus arborum mutua epistularum adloquia missitabant; unde et portitores earum tabellarios et scriptores a libris arborum librarios uocauere. quanto igitur nos expolito iam artibus mundo id non debemus omittere, quod sibi praestiterunt, apud quos erat cruda rusticitas et qui humanitatem quodammodo nesciebant! 116
84
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
2.4.2.1. Lose
Verbindung
Der Kontakt, der im BriefVerkehr stattfindet, kann den Charakter einer nur losen Begegnung tragen. Eine solche lose Verbindung über brieflichen Kontakt bezeugt Hieronymus nur an wenigen Stellen 118 . Vor allem zwei Zitate sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Das erste entstammt dem 3. Brief, der an Rufin gerichtet ist: ego enim, qui audacia satis uota credebam, si uicissitudine litterarum imaginem nobis praesentiae mentiremur, audio te Aegypti secreta penetrare, monachorum inuisere choros et caelestem in terris circuire familiam.119 „Ich hielte es für einen recht kühnen Wunsch, wenn wir uns durch die Wechselseitigkeit der Briefe das Bild von Gegenwärtigkeit vortäuschen wollten ...", schreibt Hieronymus hier. Deutlich lehnt er hier das Schaffen von praesentia als Funktion des Briefwechsels ab 120 . Die zweite Stelle bietet eine in unserem Kontext ungewohnte Deutung der Trennungssituation. Wie wir später sehen werden, leistet nach der Darstellung des Kirchenvaters in der Regel der Briefwechsel durch die Begegnung gerade die Aufhebung der Trennung. Hier jedoch kann das nur sehr eingeschränkt wiedererkannt werden: scribe igitur audacter et absentiam corporum crebro uince sermone.121 „Schreibe also mutig und überwinde 122 durch häufige Texte die leibliche Abwesenheit." Hier ist nicht die Rede davon, daß unter der Voraussetzung leibli118 Die Studien, die sich mit der Topik im spätantiken Brief beschäftigen, lassen diese Teile des Befundes in der Regel aus, weil er die Verwendung der Topik nicht weiter erhellt. Dennoch sollte diese ganz andere Auffassung des Kirchenvaters von der Begegnung im Brief nicht übergangen werden. Sie zeigt immerhin, daß Hieronymus kein festes, unverbrüchliches Deutungssystem verfocht. Wie in vielen Bereichen wissenschaftlicher, theologischer und gattungstheoretischer Natur vertrat er auch hier voneinander abweichende Definitionen und Überzeugungen. 119 Ep. 3,1 (54, 13,1-5 H.). 120 Wird hier nicht nur das Evozieren echter praesentia, sondern selbst das Evozieren ihres Bildes als nicht real zurückgewiesen und als vorgetäuscht entlarvt? Dies scheint mir fraglich zu sein, gilt es doch zu prüfen, ob die Rede von der imago praesentiae tatsächlich eine gesteigerte Zurückweisung von praesentia bedeuten soll. Es wäre immerhin zu vermuten, daß die Formulierung in Anspielung auf die topische Rede von der imago animae gewählt ist, von dem Brief als Bild der Seele. Dann wäre lediglich imago praesentiae mit imago animae zu parallelisieren. Die Aussage des Satzes wäre dann die Ablehnung der Deutung des Briefes als imago praesentiaeIanimae, ohne daß der Gedanke der Steigerung der Ablehnung von praesentia eine Rolle spielte. Dies scheint mir die wahrscheinlichere Lösung zu sein. Vgl. zu dem Topos imago animae MÜLLER, Brief, passim, und THRAEDE, Grundzüge, 148f. 121
Ep. 76,1 (55, 35,15f. H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
85
eher Abwesenheit eine neue Form der Begegnung entsteht. Vielmehr bleibt die Trennung bestehen und wird lediglich punktuell in ihren Folgen aufgehoben, also „überwunden" durch den Briefaustausch. 2.4.2.2. Vertreter für den Korrespondenzpartner Der zweite Schritt nähert sich schon stärker dem realen Begegnungsgedanken an. Hier setzt Hieronymus weiterhin voraus, daß die Freunde getrennt sind und dies auch bleiben. Um diese Trennung erträglicher zu machen, ist nun die Rede davon, daß ein Vertreter zugesandt wird. Dieser Vertreter ist der jeweilige Brief. Der Brief erhält hier bereits eine herausragende Funktion. In diesen Zusammenhängen gilt er zwar noch nicht als Personifikation des Absenders, aber er hat dennoch eine aktive Rolle im Prozeß der Begegnung inne. Der Brief ist es, der dem einen Freund den anderen ersetzt und so in gewisser Weise für diesen Freund steht. Er ist das Symbol für den abwesenden Freund. Wenn er aber als Symbol für den abwesenden Freund zu dem anderen gelangt, so ist er es, der eine Begegnung herbeiführt. Im 3. Brief liest sich das folgendermaßen: ... has [sc. litteras] mei uicarias et tibi obuias mitto ...I23
Hieronymus bestimmt die Funktionen der von ihm geschickten Briefe mittels der Adjektive. Die Briefe sollen stellvertretende Funktion haben (uicarias) und dem Korrespondenzpartner begegnen (obuias). Hier wird deutlich: Wenn die Briefe bei Rufinus eintreffen, ist es nicht Hieronymus, der dort erscheint. Gleichsam als Abgesandte oder Vertreter stehen sie nun vor Rufinus. Wie in jedem Abgesandten aber der Absender mindestens repräsentiert ist, so ist auch hier Hieronymus in den Briefen repräsentiert. Die Briefe sind ein Symbol für seine Präsenz. Was dort geschieht, wenn die Briefe zu ihrem Adressaten gelangen, ist Begegnung. Das Symbol für den Absender begegnet dem Adressaten. Wohlgemerkt: Es ist noch nicht die Rede von echter Begegnung, aber der Schritt zu einer solchen ist nicht mehr weit. Ahnlich deutet Hieronymus die Funktion des Briefes im 5. Brief: nunc igitur, quomodo ualeo, pro me tibi litteras
repraesento.124
Hier ist die Funktion der Briefe noch unmißverständlicher expliziert als in der oben zitierten parallelen Stelle aus dem 3. Brief. Das Verb repraesento, das wir oben noch folgern mußten, hat Hieronymus hier selbst verwendet. Der Brief soll Hieronymus vergegenwärtigen. Hieronymus gelangt nicht selbst zu Florentinus, aber in dem Brief ist er symbolhaft zugegen. Der Brief hat Anteil an Hieronymus und nimmt diesen Teil mit zum Adressaten. 122 Der Imperativ von vinco ist hier wohl besser mit „überwinden" als mit „besiegen" zu übersetzen. 123 Ep. 3,1 (54, 13,11 H.). 124 Ep. 5,1 (54, 21,6f. H.).
86
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
2.4.2.3. Abwesende werden zu Anwesenden Die Auffassung von der Funktion des Briefes als Vergegenwärtigung oder Repräsentation des Absenders wird gesteigert und radikalisiert durch die Vorstellung, daß mit dem Austausch von Briefen die Trennung von Freunden aufgehoben ist. Blieb beim Stellvertretergedanken die Trennung klar bestehen und bekam lediglich der Brief Anteil an der Person, die er repräsentierte, so wird nun die Trennung an sich in Frage gestellt. Im Rekurs auf den Komödiendichter Turpilius zitiert Hieronymus, daß ein Briefwechsel das einzige Mittel sei, das abwesende Menschen zu anwesenden mache: Turpilius comicus tractans de uicissitudine homines absentes praesentes
litterarum:
'sola', inquit,
'res est, quae
faciat'.125
Die adversativen Adjektive, absens und praesens, sind es eigentlich, die die Bedingungen einer Freundschaft in Form brieflichen Kontaktes ausmachen. Gerade weil man auf die praesentia verzichten muß und der absentia unterworfen ist, muß man sich Briefe schreiben. Nun setzt nach dem Zitat aber die Konsequenz die Ausgangsbedingungen außer Kraft: Wenn man auf die Trennungssituation reagiert und den brieflichen Kontakt sucht, dann ist durch die Situation der Begegnung die Trennung aufgehoben. Es geht nach den Worten des Turpilius, die Hieronymus sich zu eigen gemacht hat, nicht mehr um ein Vergegenwärtigen (repraesentare), sondern um die faktische Anwesenheit (praesentare). Derselbe Sachverhalt findet weiter in einer ähnlich lautenden Formulierung im 29. Brief Ausdruck: ... quodammodo absentes inter se praesentesfleri
,..126
Die beiden zentralen Adjektive, die die Tatsache der Überwindung der Trennung zum Gegenstand haben, absens und praesens, sind auch hier das Zentrum der Formulierung. Die Spannung von absentia und praesentia wird bei Hieronymus durch die Unterscheidung von Leib und Seele gelöst. Es wird die Möglichkeit aufgezeigt, daß trotz leiblicher Abwesenheit die Seele am Ort des Adressaten anwesend sein kann. Dies ist bei Hieronymus kein neues Modell, es ist der Rekurs auf den paganen a7iräv/7iapc6v-Komplex127.
125
Ep. 8 (54, 31,8f. H.). Vgl. dazu
126
Ep. 29,1 (54, 232,7f. H.).
127
HILBERGS
Hinweis auf Turpilius, CSEL 54, 31.
Vgl. zu diesem Topos Kap. 1 . 2 . 2 . und THRAEDE, Grundzüge, 5 2 - 5 5 . Zur Diskussion, ob man eine Christianisierung des Topos bei Hieronymus im Sinne eines Rekurses auf den paulinischen Geist-Fleisch-Gegensatz annehmen darf, vgl. Kap. 5 . 3 . THRAEDE, Grundzüge, 113 Anm. 171, weist m.E. zu Recht darauf hin, daß die Annahme der
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
87
Ein Text, der nur die eine Seite, die leibliche Abwesenheit, zum Ausdruck bringt, findet sich im 76. Brief. Dort spricht Hieronymus von der absentia corporuml2%, die die Situation der Korrespondenten präge. Nicht die Aufhebung der Situation ist hier angedeutet, wohl aber die in jenen Kontext spielende Terminologie verwendet. Eine Stelle aus dem 5. Brief bringt nun den Zusammenhang von körperlicher Abwesenheit und geistiger Anwesenheit ganz explizit auf den Punkt: etsi corpore absens, amore et spiritu uenio
...I29
„Wenn ich auch körperlich abwesend bin, so komme ich doch durch die Liebe getrieben im Geiste ...", schreibt Hieronymus hier. Das Gegensatzpaar, das hier aufgebaut ist, lautet corpus und spiritus. Der Seite des Körperlichen wird der Zustand der Abwesenheit (absens) attribuiert. Anwesenheit hingegen wird der Seite des Geistes zugeordnet, wobei der Terminus praesentia zwar nicht fällt, der Vorgang des Kommens {venire) zum Adressaten aber die Aufhebung der Trennung durch das Kommen im Brief hinreichend zum Ausdruck bringt. Das Gewicht liegt auf der geistigen Seite, die zwei Glieder amor und spiritus stehen dem einen Glied corpus gegenüber. Auch dies betont die Überwindung der Trennung130. Der Schlußsatz aus dem 71. Brief ist in seiner Zuordnung nicht so eindeutig: ... quaeso, ut, quos Caritas iungit, terrarum longitudo non separet et absentem nostrum Semper praesentem litterarum uicissitudine
Lucinum
sentiamus.131
Hier kommen die klassischen Bedingungen der Freundschaft im Brief zum Ausdruck: Trennung durch lokale Entfernung und Verbindung durch Liebe. Der Wunsch, den Hieronymus zum Ausdruck bringt, um diese Trennung zu überwinden, lautet: „Mögen wir doch stets die Anwesenheit unseres lieben Lucinus durch den Briefwechsel spüren." Der Terminus, der die Überwindung der Trennung impliziert, praesens, fällt in diesem Kontext. Allerdings wird er nicht als Faktum impliziert, sondern als Wunsch mit einer konjunktivischen Verbform verbunden. Die Bedeutung des entsprechenden Verbes (sentire) verstärkt ebenfalls den Eindruck, daß wir uns im Bereich des Potentialen, nicht jedoch des Realen befinden. Die praesentia kann gefühlt, erahnt, nicht jedoch als Faktum erkannt werden. Die Formulierungen, die in diesem Abschnitt ver-
Christianisierung wenigstens durch den Rekurs auf ein paulinisches Zitat gestützt sein müßte; das ist hier nicht der Fall. 128 129
Ep. 76,1 (55, 35,15f. H.). Ep. 5,1 (54, 21,7f. H.).
130
Vgl. mit ähnlicher Struktur auch ep. 75,1.
131
Ep. 71,7 (55, 7,17-20 H.).
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Kapitel 3: Der Brief bei
Hieronymus
wendet werden, sind im Hinblick auf das Postulat der Überwindung der Trennung vorsichtiger und zurückhaltender als die im 5. Brief. 2.4.2.4. Herbeiführung der Begegnung Wir haben nun gesehen, daß im Briefwechsel die Trennung der Freunde überwunden wird. Dies hatten wir unter drei verschiedenen Aspekten betrachtet: Es kann im Briefkontakt eine lose, nicht weiter explizierte Verbindung der Korrespondenten stattfinden; der Brief kann einen intensiveren Kontakt evozieren, indem er als Vertreter für die schreibende Person gilt; die Begegnung kann als reale beschrieben werden, dann findet sie unter bleibender Trennung der Körper im Geiste statt. Doch es blieb bisher die Frage offen, wie man sich konkret das Zustandekommen der Begegnung vorzustellen hat. Wie gelangt der eine zum anderen, auf welche Art und Weise wird konkret die Trennung aufgehoben? Hieronymus beschreibt mehrere Modi des Zustandekommens von Begegnung im Brief. Die am häufigsten auftretende Variante ist die der Personifikation des Briefes. Diese Art des Kontaktes ist eine Weiterentwicklung und Intensivierung des Vertretergedankens, den wir oben als nicht reale Form des Kontaktes beschrieben hatten. Das Modell des Vertreters wird insofern aufgegriffen, als auch hier der Brief anstelle des Korrespondenzpartners erscheint. Doch ist es nicht nur wie oben ein symbolhaftes Erscheinen, bei dem der Brief lediglich die Person, die ihn verfaßt hat, „bedeutet". Oben bleibt der Brief ein Brief, eine Sache. Damit bleiben die Korrespondenzpartner getrennt und führen sich gewissermaßen die Erinnerung aneinander, das Bild voneinander intensiv vor Augen. Hier jedoch wird die Trennung aufgehoben. Der Brief wird metaphorisch in einer spezifischen Form der Allegorie, in Form der Personifikation gedeutet. Er wird vermenschlicht, als redende und handelnde Person dargestellt. Doch liegt hier keine klassische Personifikation in Form einer mythischen Gestalt oder Tugend, keine Allegorie vor. Nein, das, was den Brief gleichsam „beseelt", ist sein Absender. Der Brief „ist" die Personifikation seines Verfassers. Der Unterschied von der oben analysierten Funktion des Vertreters zu der hier analysierten Funktion der Personifikation ist also der Unterschied von Symbol und Allegorie, von „Bedeuten" und „Sein". Dies heißt nun konkret für die Deutung der Begegnungssituation: Wenn der Brief zu seinem Adressaten gelangt, stellt er die Personifikation des Absenders dar. Der Brief wird zu dem, der ihn verfaßt hat. Somit gelangt der Verfasser zum Adressaten. Die Begegnung, die herbeigeführt wird, ist damit eine reale Begegnung. Für diese Art der Herbeiführung von Begegnung lassen sich vor allem drei Stellen aus den frühen Briefen des Hieronymus geltend machen:
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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quin potius foederemus eas reciprocis epistulis; illae inter nos currant, illae se obuient, illae nobiscum loquantur J32
So schreibt der Kirchenvater zu Beginn des 5. Briefes. Diese Passage ist bereits mehrfach zur Sprache gekommen; Hieronymus bringt hier seinen Wunsch zum Ausdruck, die neu entstandene Freundschaft zwischen ihm selbst und Florentinus möge sich in regem Briefkontakt konkretisieren. Die Wünsche, die er konkret in Bezug auf die zwischen beiden wechselnden Briefe hegt, deren Sprechen, Entgegenkommen und Laufen nämlich, sind rein personhafte Tätigkeiten. Diese Tätigkeiten können normalerweise nicht von Gegenständen ausgeführt werden. Es liegt hier also eine uneigentliche, eine metaphorische Rede vor. Die Metapher, die einem konkreten Gegenstand personhaftes Handeln attribuiert, ist die Personifikation. Die Briefe werden hier personifiziert. Der Schritt der Deutung auf die Begegnungssituation ergibt sich nicht so unmittelbar aus dem Textbefund wie die Analyse der rhetorischen Figur. Hier ist der Brief eine Person, die Freundschaft in Form eines kommunikativen Aktes realisiert. In welchem Verhältnis der personifizierte Brief zur Person des Absenders und der des Adressaten steht, können wir an diesem Punkte nur ahnen. Die zweite Stelle, die in diesem Zusammenhang erhellend ist, entstammt dem 7. Brief: Nunc cum uestris litteris fabulor, illas amplexor, illae mecum loquuntur, illae hic tantum Latine
sciunt.133
Wieder wird der Brief deutlich personifiziert. Der Brief ist nicht nur Gesprächspartner (Nunc ... fabulor) und spricht mit dem Empfänger (illae ... loquuntur), ihm werden zusätzlich zwei Eigenschaften attribuiert, die eindeutig auf personhafte Züge schließen lassen. Der Empfänger umarmt den Brief (illas amplexor), übt also eine Tätigkeit aus, die ihren eigentlichen Ort im zwischenmenschlichen Kontakt hat. Zudem heißt es, der Brief allein verstehe Latein (illae ... sciunt). Hier wird dem Brief wieder eine originär menschliche Eigenschaft, das Verstehen im Allgemeinen, insbesondere die Kenntnis der lateinischen Sprache attribuiert. Alle vier Satzglieder weisen auf die Personifikation des Briefes hin. Hier wird die Funktion der Personifikation im Rahmen der brieflichen Begegnung deutlich: Der Brief gelangt zum Adressaten, dabei ist er eine „Person". Diese „Person" übernimmt die Funktionen einer realen Person, die mit dem Empfänger in freundschaftlichem Kontakt steht. Dazu gehören das wechselseitige Gespräch, die freundschaftliche Umarmung und die Kenntnis derselben Sprache. Es liegt die Vermutung nahe, daß der Brief nicht irgendeine Person darstellt, sondern die Person, die den Brief abgefaßt hat. Wenn zwischen den beiden Korrespondenten ein freundschaftliches Verhältnis
132
Ep. 5,1 (54, 21,10-12 H.).
133
Ep. 7,2 (54, 27,4f. H.).
90
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
herrscht und der Brief nun die Funktionen einer befreundeten Person wahrnimmt, dann doch aller Wahrscheinlichkeit nach die deijenigen, die durch Abwesenheit daran gehindert ist, diese Funktionen selbst zu erfüllen. Das ist allerdings die Person, die den Brief verfaßt hat. Der Brief ersetzt also nicht nur den Absender; er „ist" der Absender. Im Brief gelangt der Absender zum Adressaten. Absender und Adressat begegnen so einander und können ihre gegenseitige Freundschaft realisieren. Liegt bei beiden Stellen auf der Hand, daß der Brief personifiziert wird, so kann doch der Schluß darauf, welche Person sich jeweils in einem Brief konkretisiert, nicht aus dem unmittelbaren Textbefund gewonnen werden. Dies ist jedoch bei einer Stelle aus dem 9. Brief der Fall: uerum tu, quod natura lynces insitum habent, ne postergum
respicientes
meminerint
priorum et mens perdat, quod oculi uidere desierint, ita nostrae necessitudinis
penitus
oblitus illam epistulam, quam in corde Christianorum scriptam apostolus refert, non praepeti litura, sed imis, quod aiunt, ceris
erasisti.134
In diesem kurzen 9. Brief ist es das Anliegen des Kirchenvaters, den Mönch Chrysocomas aus Aquileia zu bewegen, ihm doch Briefe zukommen zu lassen und damit ihrer Freundschaft zu gedenken und diese zu pflegen. Hieronymus Vorwurf, der in der zitierten Stelle zum Ausdruck kommt, lautet: Das Verhalten des Mönches gleiche dem angeborenen Verhalten der Luchse, die sich, wenn sie sich umdrehten, nicht an das Vorherige erinnerten und aus dem Sinn verlören, was sie nicht mehr sähen. So habe auch der Adressat deren beider innige Verbindung vergessen und jenen Brief, der, wie es der Apostel überliefere, in das Herz der Christen geschrieben sei, nicht nur durch ein flüchtiges Ausstreichen, sondern indem er das Wachs völlig auskratzte, getilgt. Das Zentrum des Vorwurfes ist also das sprichwörtliche „aus den Augen - aus dem Sinn"135. Dieses wird durch die allegorische Deutung einer naturwissenschaftlichen Beobachtung 136 entfaltet und auf den Adressaten bezogen. Wie der Luchs alles zuvor Gewesene vergißt, so auch Chrysocomas. Das tertium comparationis ist das Vergessen des zuvor Gewesenen. Worin sich dieses äußert, ist der eigentliche Punkt der Kritik von Seiten des Hieronymus gegenüber dem Mönch: Er schreibe ihm keine Briefe. Das zweite Beispiel, das angeführt wird, um die Nachlässigkeit des Mönches zu tadeln, ist paulinischer Provenienz. Es geht um den Brief, der nach
134
Ep. 9 (54, 33,12-34,5 H.).
135
Dieses Sprichwort dient Hieronymus auch noch an anderen Stellen dazu, den Vorwurf des Abbrechens eines Kontaktes zu untermauern. In der Regel leitet er es nicht aus allegorischen Darlegungen her, sondern führt es asyndetisch an. Vgl. dazu ep. 3,6 (54, 18,14f. H.) und Kap. 3.2.4.1.3. 136
Dieses Beispiel entstammt Plinius, Hist. nat. VIII 22,84.
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
91
Paulus den Christen ins Herz geschrieben ist137. Hieronymus läßt die Deutungsvielfalt der paulinischen Aussage, ja, den gesamten Kontext der Legitimation des Apostolates, außer Acht und greift lediglich das eine Bild auf: in die Herzen der Christen ist ein Brief geschrieben. Bei Paulus liest sich dieser Sachverhalt zunächst radikaler als bei Hieronymus. Dort heißt es „Ihr seid ein Brief Christi."138 Paulus faßt also die Tatsache, daß Christus in die Herzen der Christen einen Brief geschrieben hat, als Synekdoche auf, pars pro toto kann er von den Christen deshalb „Brief' sagen, wenn ihre Herzen als Brief gestaltet sind. Genau diesen paulinischen Schluß zieht implizit nun auch Hieronymus: Er beklagt sich, daß sein Korrespondenzpartner den Brief gelöscht hat. Wir wissen aus dem Kontext, worauf diese Kritik abzielt. Dieses Beispiel ist dem Luchs-Beispiel direkt nachgeordnet und auf dieselbe Schlußfolgerung am Ende des Briefes ausgerichtet, nämlich auf den grundsätzlichen Tadel, daß der Mönch seine Freundschaft zu Hieronymus darin vergessen hat, daß er ihm keine Briefe geschrieben hat. Somit wird die mit diesem Beispiel intendierte Kritik dieselbe sein, wie die des voraufgehenden Beispiels. „Aus den Augen aus dem Sinn", so hat der Mönch Hieronymus vergessen. Dieses Vergessen wird illustriert mit der uneigentlichen Rede von der Löschung des Briefes. In dem vorliegenden Zusammenhang hat dieses Bild keinen Sinn, wenn damit die Löschung eines Briefes Christi in den Herzen der Christen gemeint ist. Weder die Konnotation der allgemeinen Christenheit (in corde Christianorum) noch die Konnotation einer Botschaft Christi ist hier erhellend. Nein, sinnvoll wird der Rekurs auf den paulinischen Kontext erst, wenn man unterstellt, daß Hieronymus, wie Paulus selbst, mit dem Brief die Person eines Christen, speziell seine eigene meint. Wenn die Aussage heißt, der Mönch habe Hieronymus 137 Hier bezieht sich Hieronymus auf eine Stelle aus dem 2. Korintherbrief (II Kor 3,2f.): „Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen! Ist doch offenbar geworden, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen." Diese Stelle steht bei Paulus im Zusammenhang der Rechtfertigung seines Apostolates, er spricht von Briefen als Legitimationsnachweis: Die korinthische Gemeinde dient durch ihre Bekanntheit und Qualität dem Paulus gleichsam als Empfehlungsschreiben, eines weiteren bedarf er nicht. Dieser Empfehlungsbrief ist freilich kein Schriftstück, er ist nicht auf (Wachs-) Tafeln, sondern ins Herz geschrieben. Der Autor dieses Schreibens ist Christus. Hier ist nicht der Ort, um auf Brüche in der Metaphorik, Wechsel des Vergleichspunktes und die Funktionalisierung der Briefmetapher im Kontext der Begründung des Apostolates einzugehen. Dazu vgl. die einschlägigen neutestamentlichen Kommentare, beispielsweise H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief, hg. von G. Strecker, KEK, Göttingen 9 1924, Nachdruck 1970, 95-107; besonders immer noch H.D. WENDLAND, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen 4 1946, 115f. 138
Vgl. II Kor 3,3.
92
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
aus seiner Erinnerung gelöscht, bleibt Hieronymus streng im Duktus seiner Argumentation. Hieronymus „ist" der Brief, von dem er hier spricht. Wenn wir dies annehmen dürfen, „ist" zwar wieder einer der Korrespondenzpartner, in diesem Fall der Kirchenvater selbst, ein Brief, aber es liegt nicht strictu sensu eine Personifikation vor. Es geht nicht um die Verlebendigung einer Sache. Nein, wenn wir zur Deutung des Befundes von Paulus ausgehen, ist der Brief ein Teil des Menschen. Wenn Hieronymus nun einen Teil des Menschen für das Ganze setzt, liegt ein pars pro toto vor. Damit vollzieht Hieronymus den Wechsel von den sonst vorrangig von ihm verwendeten Sprungtropen, namentlich der Personifikation, zu den Grenzverschiebungstropen, in diesem Fall mit der Verwendung einer Form der Synekdoche139. An den Konsequenzen für die Art der Begegnung ändert diese Analyse freilich nichts. Personifikation wie Synekdoche „sind" real das Bezeichnete. Wenn die Anwesenheit eines Korrespondenzpartners in Form einer solchen Figur beschrieben wird, wird damit eine Form realer Begegnung postuliert. Im Hinblick auf die zuletzt angeführte Stelle ist freilich genau das Gegenteil der Fall: Der eine Korrespondenzpartner verweigert die Begegnung im Brief. Neben der metaphorischen und der synekdochischen Deutung des Briefes steht eine weitere Form, mittels derer Hieronymus die Begegnung im Briefkontakt beschreibt. Im schon mehrfach zitierten 3. Brief, der an Rufinus gerichtet ist, liegt eine Instrumentalisierung des Briefes vor: ... has [sc. litteras] mei uicarias et tibi obuias mitto, quae te copula amoris innexum ad me usque
perducant.140
Hier steht der Brief wieder im Dienste der Herbeiführung einer Begegnung der beiden Korrespondenzpartner. Der Adressat gelangt zum Absender. Der Urheber dieses Ortswechsels ist der Brief, wie die Syntax verdeutlicht; das den Brief bezeichnende Relativpronomen ist das Subjekt. Der Brief leitet also denjenigen, der den Brief empfängt, zu demjenigen, der den Brief geschrieben
139 Nach meiner Einschätzung ist dies ein singulärer Fall. Des Hieronymus Verwendung rhetorischer Figuren ist begrenzt. In der Regel greift er zu den spektakuläreren Figuren aus dem Bereich der Sprungtropen, namentlich Metaphern jeder Art zieren seine Texte. Ich halte es für keinen Zufall, daß die hier vorliegende Verwendung einer Grenzverschiebungstrope an die Funktionalisierung eines Zitates aus biblischem Zusammenhang gekoppelt ist. Diese rhetorische Figur ist keine originär von Hieronymus gestaltete, sie ergibt sich vielmehr wie von selbst durch die Verwendung des biblischen Rekurses. So muß Hieronymus anders argumentieren als bei den von ihm eigenständig konstruierten Bildern, um zu der von ihm intendierten Aussage zu kommen. Dieser Zusammenhang, die Abhängigkeit der rhetorischen Figuren von den verwendeten Fremdzitaten, scheint mir eine intensivere Betrachtung zu lohnen. 140
Ep. 3,1 (54, 13,1 lf. H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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hat. An welchem Zeitpunkt genau der Ortswechsel stattfindet, erfahren wir nicht141. Fest steht jedoch: Der Brief leitet gewissermaßen als Transportmittel den einen Korrespondenten zum anderen. Der Brief bleibt dabei, was er ist, wird nicht zu einem der Korrespondenzpartner, sondern ist mit Kräften versehen, deren objektive Trennung zu verringern. Ein weiterer Modus, die Trennung aufzuheben, wird von Hieronymus weitaus konkreter beschrieben: die imaginative Kraft, die Abwesenden in der Vorstellung herbeizuholen. Dies geschieht nicht aus freier Erinnerung heraus, sondern der Erinnerungsprozeß ist ebenfalls an den Brief gekoppelt. In ep. 7 ist das Element des Briefes, das bei der Aufhebung der Trennung wirksam wird, konkretisiert, der Erinnerungsprozeß wird ausgelöst durch das Schriftbild: quotienscumque carissimos mihi uultus notae manus referunt inpressa uestigia, totiens aut ego hic non sum aut uos hic estis. credite amori uera dicenti: et cum has scriberem, uos uidebam.142
Das Subjekt des ersten Satzes sind die uestigia inpressa, die in das Wachs eingedrückten Spuren, die man wohl als „Schriftzüge" übersetzen darf. Daß es sich nicht um irgendeine Schrift handelt, sondern um die einer bekannten Person und damit auch um eine bekannte Handschrift, macht der Genitivus possessivus notae manus deutlich. So läßt sich das Subjekt dieses Satzes wohl als „bekannte Handschrift" übersetzen. Diese Handschrift ruft nun nach den Worten des Hieronymus dem Leser eines Briefes die Gesichter der Absender ins Gedächtnis143. Hier wird die Trennung nicht durch Ortswechsel eines der Korrespondenzpartner überwunden. Es bleibt die objektive lokale Trennung bestehen, aufgehoben wird sie hingegen im Geiste, in der Erinnerung an den fernen Freund. Dieses Modell der Überwindung der Trennung zielt also auf die Rede von der geistigen Anwesenheit im Brief trotz leiblicher Abwesenheit ab, die wir als drittes der Begegnungsmodelle analysiert hatten144. Wie hat man sich die Überwindung der Trennung konkret vorzustellen? Der Leser sieht die bekannte Handschrift und erinnert sich an die Person, die zu dieser Handschrift gehört. Diese Erinnerung ist so stark, daß die Person, beziehungsweise ihre Gesichtszüge, dem Leser des Briefes im Gedächtnis erscheinen. Der Zusammenhang von Brief oder Schrift zu der Person, die ins Gedächtnis gerufen 141
Vgl. zu diesem Zusammenhang, der Frage, welcher der Korrespondenzpartner die Trennung überwindet, die Überlegungen in Kap. 3.2.4.2.5. 142 Ep. 7,2 (54, 27,6-10 H.). 143 Hier handelt es sich allerdings wohl um einen „Topos im Topos", denn in vielen Fällen wird ja nicht die Handschrift des Absenders, sondern die von seinem Schreiber zu lesen sein. 144 Vgl. oben Kap. 3.2.4.2.3.
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
wird, ist lose, kein unmittelbarer mehr, der sich gar in Form einer rhetorischen Figur fassen ließe. Die Schrift könnte zwar als Teil der Person verstanden werden, doch nicht so, daß mit der Schrift die ganze Person in das Gedächtnis des Lesers geholt würde: Es gelangt schließlich nicht die Person zum Leser, sondern die Gesichtszüge der Person kommen aus der Erinnerung des Lesers in dessen Gedächtnis. Die Schrift ist also nur das auslösende Moment für Assoziation, Erinnerung an Bekanntes. Der zweite zitierte Satz {et cum ... uidebam) macht deutlich, daß der Vorgang des Sehens, des Erinnerns, nicht an die Lektüre bekannter Handschrift gebunden ist. Hier „sieht" Hieronymus auch dann, wenn er an die Freunde einen Brief schreibt. Offensichtlich kann der Erinnerungsprozeß nicht nur durch einen optischen Reiz ausgelöst werden, sondern auch durch die gedankliche Beschäftigung mit den entfernten Personen. Denn dieses wird beim Schreiben an jene das auslösende Moment für den Erinnerungsprozeß gewesen sein. In beiden Fällen erinnert sich der Leser der entfernten, ihm verbundenen Personen. Es handelt sich jeweils um einen Erinnerungsprozeß, der im Geist stattfindet. Dort werden die getrennten Korrespondenten zusammengeführt, die lokal voneinander getrennt sind und bleiben. Der Modus der Zusammenführung, das Erinnern, wird jeweils ausgelöst durch einen konkreten Reiz. Im ersten Fall ist dies das Lesen der bekannten Handschrift, im zweiten Fall die geistige Beschäftigung mit der bekannten Person. Der Modus der Überwindung der Trennung wird im 8. Brief mit einem Modell erklärt, das in den Briefen des Hieronymus erstaunlicherweise höchst selten ist, wiewohl es zum Standardrepertoire der antiken Brieftheorie gehört145: quid enim est, ut ita dicam, tarn praesens inter absentes, quam per epistulas et adloqui et audire quos diligas?146
Hier stellt Hieronymus die rhetorische Frage, ob nicht diejenigen, die man liebe, während ihrer Abwesenheit zu Anwesenden würden, wenn man sie mittels des Briefes anrede und höre. Die einander gleichgeordneten Begriffe adloqui und audire kennzeichnen eine Situation, die der des Dialoges entspricht. Der Dialog besteht aus Rede und Gegenrede, das heißt aus der Sicht des einen Dialogpartners stellt sich diese Form der Kommunikation als ein Wechsel aus Reden und Zuhören dar. Charakteristikum des Dialoges ist es aber, daß er nicht allein geführt werden kann, sondern aus zwei aktiven Teilnehmern besteht, die immerhin so nahe beieinander sein müssen, daß ein kommunikativer Akt zwischen beiden möglich ist. Wenn nun die Situation, auf die Hieronymus mit der Verwendung der beiden Verben anspielen will, die des 145 Bereits in der ältesten Brieftheorie bei Demetrios wird der Brief als eine Hälfte des Dialoges bezeichnet, vgl. dazu die Darstellung in Kap. 1.1.2. und Kap. 1.2.2. 146 Ep. 8 ( 5 4 , 31,10-12 H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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realisierten Dialoges ist, kann man davon ausgehen, daß die Trennung zwischen den Dialogpartnern aufgehoben ist147. Unmittelbar erschließt sich nun die Grundlage der Überlegung, daß Abwesende zu Anwesenden werden. Der Gegensatz praesens - absens wird dadurch aufgehoben, daß beide Personen, daß Absender und Adressat miteinander dialogisch kommunizieren. Der Brief ist hier das Medium, in dem sich der Dialog konkretisiert und damit dasjenige, in dem Begegnung stattfindet. Wie in der Stelle aus dem 7. Brief, die zwei Deutungsvarianten eröffnete, ist auch hier der Brief rein instrumental zu verstehen. Er hat keine über das rein Dingliche überhöhte Funktion, etwa in der Art, daß in ihm der eine Korrespondent präsent wäre. Begegnung geschieht in den Köpfen und Herzen der Korrespondenten. Der Brief ist lediglich das auslösende, das ermöglichende Moment. Eine solche Art der Instrumentalisierung von Briefen wird von Hieronymus üblicherweise als Modus der Begegnungsherbeifuhrung beschrieben. So heißt es z.B. im 29. Brief: Epistolare officium est de re familiari aut de cotidiana conuersatione aliquid scribere et quodammodo absentes inter se praesentes fieri, dum mutuo, quid aut uelint aut gestum sit, nuntiant, licet interdum confabulationis tale conuiuium doctrinae quoque sale condiatur.148
Dieses Zitat ist bereits im Zusammenhang der Stilbestimmung eines Briefes zur Sprache gekommen, nun soll es noch einmal unter einem anderen Aspekt betrachtet werden. Die Abwesenden werden hier durch den Prozeß der Kommunikation zu Anwesenden. Wenn man sich gegenseitig kundtut, was man will oder was geschehen ist (dum ... nuntiant), dann ist eine solche Begegnungssituation hergestellt. Hieronymus zielt hier weniger auf eine dialogische Situation wie in ep. 8 als auf eine freie kommunikative Situation ab. Was er wirklich meint, illustriert der folgende Satzteil. Dort spricht er vom conuiuium confabulationis, von einem Festmahl des Plauderns. Die Situation, auf die er abzielt, ist zweifelsohne eine solche, die durch Kommunikation geprägt ist. Das zweite Element, das nicht weniger konstitutiv für die Situation ist, ist aber das des Zusammenseins. Die Situation des conuiuiums ist ja gerade gekennzeichnet durch das Beisammensein, das Zusammenleben von Freunden. Im conuiuium 147 Damit setzt sich Hieronymus in deutlichen und m.E. auch bewußten Gegensatz zur antiken Brieftheorie, die im Brief ja gerade die eine Hälfte eines Dialoges sah. Dort war die Trennung der Dialogpartner gerade nicht aufgehoben, der Dialog mußte defizitär bleiben. Der Rekurs auf den partiell dialogischen Charakter eines Briefes diente nicht der Beschreibung der Begegnung von Korrespondenzpartnern, sondern zielte auf die dem Brief angemessene Sprache ab. So wie der Dialog von Alltagssprache geprägt war, so sollte dies auch der Brief sein (vgl. Kap. 1.1.2.). Solcherlei stilistische Erwägungen spielen für Hieronymus in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle. 148
Ep. 29,1 (54, 232,6-10 H.).
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
ist per definitionem die Trennung der Freunde aufgehoben, werden eo ipso die absentes zu praesentes. Wenn im Briefwechsel das conuiuium stattfindet, dann ist es auch der Briefwechsel, der die Überwindung der Trennung ermöglicht, der der Ort der Überwindung der Trennung ist. Wieder erhält der Brief keine über das rein Dingliche hinausgehende Funktion. Der Brief ist das Instrument, mittels dessen sich Kommunikation realisiert. Welcher Art diese Kommunikation konkret ist {conuiuium confabulationis), hängt nicht an dem Modus der Kommunikation, in diesem Fall also eben nicht am Briefverkehr. Der Briefwechsel bietet lediglich Instrument und Rahmen für die spezifische Ausgestaltung der Kommunikation, wie sie sich aus der freundschaftlichen Beziehung der Korrespondenten ergibt. Festzuhalten ist: Mittels des Instrumentes des Briefwechsels ist es möglich, daß Freundschaft sich in kommunikativen Zusammenhängen konkretisiert. Diese Konkretion hängt maßgeblich daran, daß die Überwindung der Trennung der Korrespondenten realisiert wird. Dazu bietet der BriefVerkehr die Möglichkeit und den Rahmen. Neben diesen zwei Kategorien von Stellen, die die Überwindung der Trennung im Briefwechsel recht konkret fassen lassen, sei es durch Personifikation oder durch Instrumentalisierung des Briefes, stehen zahlreiche andere Stellen, die allgemeinerer Natur sind. Hier attribuiert Hieronymus jeweils dem Briefwechsel die Funktion, die Trennung der Freunde aufzuheben, ohne daß der genaue Modus, die konkrete Rolle des Briefes dabei greifbar wäre. So lautet beispielsweise eine Formulierung aus dem 71. Brief: ... absentem Lucinum nostrum Semperpraesentem
litterarum uicissitudine
sentiamus.149
Daß es sich hier um eine Begegnung der Korrespondenten handelt, ist eindeutig der Terminologie zu entnehmen, der Abwesende wird zum Anwesenden (absens/praesens). Die Aufhebung der Trennung geschieht durch den Briefwechsel. Der Ausdruck, der den Briefwechsel bezeichnet (litterarum uicissitudo) steht im Ablativus instrumentalis. Welche Rolle konkret der Briefwechsel einnimmt, ist der Aussage ebensowenig zu entnehmen wie die konkrete Gestaltung der Begegnung. Von ihr erfahren wir lediglich, daß sie im Gefühl stattfindet {sentiamus). Zahlreiche Stellen, die dieser ähneln, finden sich im Briefcorpus des Kirchenvaters. Da daneben auch sehr präzise Beschreibungen über den Modus der Herbeiführung der Begegnung und die konkrete Rolle des Briefes dabei auftreten, steht zu vermuten, daß es sich bei diesen kryptischen Aussagen um verkürzte Darstellungen handelt. Hieronymus setzt die komplexen Strukturen des Modus der Begegnung voraus und bescheidet sich mit Anspielungen. Es ist anzunehmen, daß er damit auf einen allgemeinen Topos zurückgreifen konnte etwa in der Art: „Im Brief begegnen sich die Korrespondenten" - der nicht 149
Ep. 71,7 (55,7,18-20 H.).
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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weiter hinterfragt wurde oder erklärt werden mußte, weil er den Charakter eines Allgemeinplatzes hatte. 2.4.2.5. Wer kommt zu wem ? Auf unterschiedliche Art und Weise bringen alle diese zur Sprache gekommenen Texte zum Ausdruck, daß im brieflichen Kontakt eine Begegnung dergestalt geschieht, daß die Trennung der beiden Korrespondenten aufgehoben wird. Die dargestellten Texte konnten den Eindruck erwecken, daß es meistens der Absender ist, der sich zum Adressaten begibt. Es geht in diesen Stellen, die auf die Begegnung der Korrespondenzpartner abzielen, stets um die Überwindung der Trennung. In welche Richtung diese Trennung überwunden wird, ob der Absender zum Adressaten gelangt oder umgekehrt, ist dabei allerdings noch nicht ausgesagt. Im 3. Brief bringt Hieronymus zum Ausdruck, daß die Trennung dadurch überwunden wird, daß der Adressat zu ihm, dem Absender, geleitet wird: ... quae [sc. litterae] te copula amoris innexum ad me usque perducant.150
Nach dieser Darstellung leitet der Brief mittels des Bandes der Liebe den Adressaten Rufinus zu Hieronymus. Der Brief, um den es hier geht, ist nicht einer aus der Feder des Rufinus, sondern Hieronymus spricht von seinem eigenen Brief, der Rufinus zu ihm bringt. Eine Heimholung der Adressaten zum Absender im Moment des Verfassens eines Briefes kommt im zweiten Kapitel des 7. Briefes zum Ausdruck. Dort schreibt der Kirchenvater: et cum has scriberem, uos uidebam.151
150 Ep. 3,1 (54, 13,1 lf. H ). Das innere Subjekt dieses Vorganges bleibt allerdings unklar. Es bleibt offen, ob die Überwindung der Trennung der Korrespondenzpartner im Verfassen des Briefes geschieht, dann wäre der Absender das innere Subjekt. Für den Absender als inneres Subjekt spricht die Tatsache, daß er der Verfasser des Briefes ist. Allerdings wird lediglich auf den Vorgang des Abschickens (mitto), nicht jedoch auf den des Schreibens rekurriert. Möglicherweise wird die Trennung in der Lektüre von Seiten des Empfängers überwunden, dann wäre der Adressat das innere Subjekt. Allerdings spricht Hieronymus überhaupt nicht von der Lektüre des Briefes, sondern nur davon, jener begegne dem Adressaten und führe ihn fort. Vorstellbar wäre auch eine Verschränkung beider Prozesse, die Begegnung fände in dem Fall für den einen Partner beim Schreiben, für den anderen beim Lesen statt. Dieses halte ich für die wahrscheinlichste Lösung. Schließlich werden - in unterschiedlichen Zusammenhängen - sowohl die Situation des Schreibens eines Briefes, als auch die des Lesens eines empfangenen Briefes von Hieronymus im Sinne der Überwindung der Trennung von Korrespondenzpartnern gedeutet. 151
Ep. 7,2 (54, 27,9f. H.).
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Wie bei der eben zitierten Stelle gelangen die Adressaten zum Absender, sie werden von diesem gesehen. Nun findet sich aber in demselben Brief eine ganz andere Beschreibung: quotienscumque carissimos mihi uultus notae manus referunt inpressa uestigia, totiens aut ego hic non sum aut uos hic estis.152
„Immer wenn die Schriftzüge einer bekannten Hand mir geliebte Gesichter ins Gedächtnis rufen, dann bin entweder ich nicht hier, oder aber ihr seid hier." Hier wird deutlich die Mehrdeutigkeit der Überwindung der Trennung zum Ausdruck gebracht. Die beiden Möglichkeiten, das Kommen der Adressaten zum Absender oder umgekehrt, das sich Entfernen des Absenders in Richtung auf den Adressaten hin, sind gleichwertig nebeneinander gestellte Möglichkeiten. Das Entscheidende scheint dem Kirchenvater zu sein, daß die Trennung überwunden wird. Wer dabei gewissermaßen seinen Ort verläßt und zum Korrespondenzpartner gelangt, ist irrelevant. 2.5. Funktion Als Funktion des Briefwechsels nach Hieronymus könnte man eine Kompilation der Elemente „Freundschaft" und „Begegnung" begreifen. Die Trennungssituation ist eine Situation, die durch die Sehnsucht nach einer neuerlichen Begegnung geprägt ist. Die Sehnsucht hat ihren Grund in der Freundschaft. Menschen, die sich am Herzen liegen, sehnen sich nacheinander, wenn sie getrennt sind. Im Briefwechsel nun wird diese Sehnsucht gestillt. Die Trennung wird aufgehoben und das Verlangen gegenstandslos153. Dieses Moment des Stillens der Sehnsucht hat tröstlichen Charakter. Nicht nur das durch die Trennung verursachte Leiden wird verringert, auch schwierige oder entbehrungsreiche Situationen scheinen zu bewältigen zu sein, wenn im brieflichen Kontakt die Nähe zu einem Freund hergestellt ist. So hat der Brief eo ipso konsolatorische und stabilisierende Funktion. Die Verknüpfung aller dieser Elemente, Sehnsucht, Stillen der Sehnsucht und damit Trost, bietet eine Stelle aus dem 8. Brief: ... praesta unam chartae scedulam caritati inter delicias patriae et communis, quam habuimus, peregrinationis aliquando suspiria. si amas, rescribe; si irasceris, iratus licet scribe. magnum et hoc desiderii habebo solamen, si amici litteras uel indignantis • • 154 accipiam. 152
Ep. 7,2 (54, 27,6-9 H.). Was wir als Funktion des Briefwechsels beschreiben, das Stillen der Sehnsucht, faßt Thraede auch unter den Toposgedanken. Er spricht in diesem Zusammenhang von noQoq-Motiv (vgl. Thraede, Grundzüge, 165-173). Er streicht als zentrale Momente auch das Stillen der Sehnsucht im Brief und die Trostfunktion des Briefes heraus. 153
154 Ep. 8 (54, 32,15-33,4 H ). Das Stillen der Sehnsucht kommt ebenso in ep. 7,6 zum Ausdruck; zur tröstenden Funktion vgl. epp. 44,1 und 76,1.
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2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
Hieronymus ist geprägt durch Sehnsucht (desiderium). Es ist ein Stillen dieser Sehnsucht, ein Trost (solamen) möglich. Dieser wird dem Kirchenvater dann zuteil, wenn er einen Brief von einem Freund bekommt (amici litteras). Was bei den Überlegungen zur Freundschaft das konstitutive Moment war, das Vorhandensein von gegenseitiger Liebe, spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. Völlig unabhängig von der gegenwärtigen Haltung des Korrespondenzpartners gegenüber Hieronymus geht es letzterem nur darum, ersteren zum Schreiben zu bewegen (si amas ... licet scribe). An dieser Stelle hat Hieronymus die schon im Zusammenhang des Freundschaftsabbruches angesprochene Koppelung von realisierter Freundschaft und Austausch von Briefen konsequent durchgeführt. Wenn ein Brief geschrieben wird, kann er die Funktion des Trostes unabhängig von seinem Inhalt erfüllen. Nach Hieronymus wird im ankommenden Brief der Beweis für die Freundschaft geleistet, damit liegt der Trost in der Gewißheit der grundsätzlich freundschaftlichen Gesinnung dessen, der da schreibt. Daß die Erfüllung der Funktion eines Briefes nicht mit den Inhalten des Textes zusammenhängt, zeigt eine schon mehrfach zitierte Stelle aus dem 9. Brief, die hier nur noch verkürzt wiedergegeben werden soll: nisi forte
neglegentiae
Semper excusatione socia adseras te non habuisse,
scriberes, cum hoc ipsum debueris scribere, aliud te non habuisse, quod
quod
scriberes.155
In diesem Brief tadelt Hieronymus sein Gegenüber, keine Briefe geschrieben zu haben. Der Tadel gipfelt in dem Rat, wenn jener schon nichts zu schreiben wüßte, solle er doch wenigstens schreiben, daß er nichts zu schreiben wüßte. Das Schreiben und Schicken von Briefen allein reicht hin, um der Funktion gerecht werden zu können. Wenn wir als Ziel eines Briefes nach den oben ausgeführten Überlegungen die Freundschaftsbekundung allein durch das Schicken eines Briefes annehmen dürfen, dann ist dieses Ziel selbst mit dem Hinweis, man wisse leider gerade nichts mitzuteilen, erreicht. Ebenfalls unabhängig vom Inhalt evoziert ein Brief beim Empfänger Freude. Dies mag auch im Zusammenhang mit der Freundschaftsfunktion des Briefes stehen: Die Gewißheit darüber, daß der Freund die Begegnung im Brief sucht, macht froh. An zahlreichen Stelle kommt die durch den Empfang eines Briefes ausgelöste Freude zum Ausdruck. Diese Freude über einen Brief ist so selbstverständlich, daß sie ganz beiläufig erwähnt wird und keiner weiteren Erläuterung bedarf: ... qui litterarum tuarum mihi gratiam
155
duplicauit...156
Ep. 9 (54, 34,14-17 H.). Ep. 53,11 (54, 464,10 H.). M.E. ist gratia hier als „Freude" zu übersetzen, nicht als „Dank". Das scheint mir nicht nur deshalb nahe zu liegen, weil es in diesem Fall 156
100
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Die Freude über den Erhalt von Briefen wird umso größer, wenn diese unerwartet eintreffen. Necopinanti mihi subito litterae tuae redditae sunt, quae quanto insperatae tanto gaudiorumplenae quiescentem animam suscitarunt, ...1S? Der Brief, der den ahnungslosen Hieronymus überraschend trifft, löst bei ihm, weil er wider Erwarten kommt, große Freude aus 158 . Es läßt sich festhalten: Briefe machen Freude, motivieren, geben Mut und Kraft. All diese Äußerungen über die Funktionen von Briefen sind jeweils ohne Bezug auf die entsprechenden Inhalte getroffen. Es handelt sich also um Äußerungen, die ihren Grund im Empfang des Briefes als solchem haben 159 . 2.6. Epistula als
Textsorte160
Nachdem Form, Stil, Inhalt und Wesen von Briefen nach der Darstellung des Hieronymus bestimmt worden sind, soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und wie sich epistula als eigene Textsorte bei Hieronymus profilieren läßt. Häufig setzt Hieronymus den Terminus epistula in Beziehung zu anderen Textsortenbezeichnungen, die er ebenfalls seinen Briefen beilegt. Ein kompader Kontext nicht anders erlaubt, sondern auch deshalb, weil Hieronymus den Dank gerne mittels einer verbalen Form abstattet. 157 Ep. 71,1 (55, l,3f. H.). 158 Grammatikalisch ist es freilich der von Freuden volle Brief (quae ... gaudiorum plenae); in der Übersetzung darf man wohl das Resultat der Lektüre berücksichtigen. 159 Gelegentlich ist die Freude über einen Brief allerdings auch an die darin sich vermittelnden Inhalte gekoppelt. So heißt es in ep. 53,11: ... Eusebium, qui litterarum tuarum mihi gratiam duplicauit referens honestatem morum tuorum, contemptum saeculi, fidem amicitiae, amorem Christi, nam prudentiam et eloquii uenustatem etiam absque illo ipsa epistula praeferebat. (54, 464,9-13 H.). Hieronymus geht zwar sichtlich von seiner Freude über den empfangenen Brief aus, doch nicht allein der Empfang des Briefes wird als Freudengrund gekennzeichnet. Nein, die Klugheit (prudentia) und Schönheit von Sprache und Stil (uenustas eloquentii), die in dem Brief ihren Ausdruck finden, tragen dazu bei, die Freude beim Empfänger, bei Hieronymus zu evozieren. Er freut sich also nicht nur über den freundschaftlichen Kontakt, sondern auch über die guten Anlagen des vielversprechenden jungen Mannes. 160 Angesichts der Tatsache, daß der Gattungscharakter von Briefen noch nicht geklärt sondern vielmehr umstritten ist, begreife ich hier Briefe als „Textsorte", einem neutralen, aus der Linguistik stammenden Begriff, der es ermöglicht, diese schriftlichen Produkte zunächst ohne traditionelle Vorgaben zu betrachten und eigene Bestimmungskriterien zu entwickeln. Für eine erste Orientierung über die Textsortentheorie vgl. W. HEINEMANN/D. VIEHWEGER, Textlinguistik. Eine Einführung, Reihe germanistische Linguistik 115, Tübingen 1991, 129-175 (Kap. III, Textsorte, Texttyp), sowie Textsorten und Literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979, hg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten, Berlin 1983.
2. Hieronymus ' Auffassung vom Brief
101
ratives Vorgehen, der Vergleich mit Äußerungen über andere Textsorten, folgt damit der bei Hieronymus angelegten Struktur. Häufig bezeichnet Hieronymus seine Briefe als commentariola161. Wie lassen sich diese Briefe von anderen abgrenzen? Einige Stellen lassen vermuten, daß eine inhaltliche Konnotation nicht auszuschließen ist. So leitet Hieronymus die Erläuterung der hebräischen Buchstaben für Paula mit der Bemerkung ein, sie habe ein commentariolum verlangt, um, sollte sie etwas davon vergessen, ein Nachschlagewerk zur Hand zu haben162. Doch scheint die Textsortenbezeichnung eher im Zusammenhang mit dem Umfang des entsprechenden Textes als mit der inhaltlichen Füllung zu stehen: Die Texte, die als commentariolum bezeichnet werden, gehören zu den kürzeren Briefen. Das Verhältnis des Umfanges von der epistula zum commentariolum kommt in der Schlußformulierung des 42. Briefes an Marcella zum Ausdruck: ... latam disputationem breui sermone comprehendimus, ut non tarn epistulam quam commentariolum dictaremus.163
Wie hier verweist Hieronymus häufig darauf, er habe weder Zeit noch Gelegenheit zu einem richtigen Brief gehabt, daher sei lediglich ein commentariolum abgefaßt worden. Bei der hier zitierten Stelle liegt der Grund dafür, daß der Text keine epistula, sondern ein commentariolum sei, in der Tatsache, daß eine breite Diskusssion in einem kurzen Text zusammengefaßt worden sei. 53 Abhandlungen in Briefform bezeichnet Hieronymus als libelliiM. Nicht an allen Stellen, an denen beide Begriffe, libellus und epistula, auftreten, synonymisiert der Kirchenvater diese Termini. Einer Verhältnisbestimmung kann man mittels einer Stelle aus ep. 112 an Augustinus auf die Spur kommen: 161
Wie bei fast allen Textsortenbezeichnungen verwendet der Kirchenvater meistens den Diminutiv des entsprechenden Substantives. 162 Vgl. ep. 30,2 (54, 244,12-14 H.). 163 Ep. 42,3 (54, 317,18-20 H.). 164 Vgl. CAVALLERA, Saint Jérôme I, VI Anm. 3. Es stellt sich die Frage, ob man aus der Verwendung des Diminutivs von liber auf den Umfang der entsprechenden Texte schließen kann. Mir scheint dies eher fraglich zu sein, werden doch beispielsweise Texte wie ep. 22 an Eustochium, das Buch über das jungfräuliche Leben, als libelium bezeichnet, ein Text der immerhin in der CSEL-Ausgabe 68 Seiten umfaßt (vgl. 54, 143,1-211,4 H.) und damit einer der längsten Briefe ist. Auch Äußerungen wie paruus/paruulus libellus oder die Verbindung von libellus und der Forderung von brevitas geben keinen Hinweis auf die tatsächliche oder intendierte Länge der Texte, denn die èrev/'ias-Forderungen sind nicht durch tatsächliche Kürze der Texte gedeckt. Beispielsweise wird ep. 66, der Brief an Pammachius über den Tod Paulas (54, 647,3665,19 H.) mit seinen knapp 20 CSEL-Seiten als paruus libellus bezeichnet (vgl. ep. 108,4 [55, 310,2 H.]). Vgl. zu den verschiedenen Funktionsmöglichkeiten der Rede von der brevitas Kap. 3.2.1.
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Tres simul epistulas, immo libellos, per diaconum Cyprianum tuae dignationis accepi diuersas, uttunominas, quaestiones... continentes.165
Hieronymus leitet seinen Antwortbrief an Augustinus mit der Feststellung ein, er habe von jenem drei epistulae bekommen und verbessert sich dann: Diese seien doch eher libelli gewesen. Was veranlaßt Hieronymus zu dieser Charakterisierung? Man könnte auf einen Umfang schließen, der über den eines Briefes hinausgeht. Allerdings umfaßt keiner der Augustinus-Briefe in der CSELAusgabe mehr als zwanzig Seiten, ein Umfang also, der Hieronymus sonst nicht dazu nötigt, von libellus zu reden. Möglicherweise wird Hieronymus auch durch das inhaltliche Gewicht der Texte dazu gebracht, diese terminologische Verbesserung durchzuführen. Das ist anzunehmen, fühlt er sich doch durch die Ausführungen des Augustinus stark kritisiert166, so daß eine angemessene Beantwortung ein Werk vom Umfang eines Buches erforderte (libri magnitudine opus161). Dieser Umfang wird zwar nicht explizit, aber doch sachlich dem Umfang eines Briefes gegenübergestellt. So läßt sich der Schluß ziehen, daß eine gewichtigere Sache einer ausführlicheren Darlegung bedarf; eine Darlegung, die in ihrer Ausführlichkeit über die eines Briefes hinausgeht, ist aber die in Form eines libellus. Ein libellus ist also ein schriftlicher Text, der über den Umfang von Briefen hinausgeht. Bei diesem Terminus halten sich die ideelle und die materielle Bedeutungskonnotation die Waage. Als inhaltliches Charakteristikum ergibt sich bei sermo als Textsortenbezeichnung die Behandlung eines wissenschaftlichen Themas, das entweder exegetischer oder dogmatisch-ethischer Natur sein kann168. Hieronymus bezeichnet vor allem exegetische Briefe als sermones, aber auch solche, die zur Askese mahnen und damit in den ethischen Bereich fallen. Sermo ist diejenige von den Textsortenbezeichnungen, die am häufigsten mit dem Begriff epistula synonymisiert wird169. Das zeigt, daß die meisten der hieronymianischen Briefe sermones sind: wissenschaftliche Texte.
165
Ep. 112,1 (55, 367,13-15 H.). Vgl. ep. 112,1 (55, 367,14f. H.): ... quaestiones, ut ego sentio, reprehensiones meorum opusculorum ... 167 Vgl. ep. 112,1 (55, 367,16 H.). 168 Vgl. ep. 36,14. Dort wird ein sermo als ein Text qualifiziert, der eine Sache erklärt, deren Sinn herausarbeitet und Dunkelheit lichtet; es geht also um wissenschaftliche Texte. 169 Aufgrund der Synonymisierung hatten wir in Kap. 3.2.2. die Möglichkeit gesehen, die Stilbestimmung eines sermo nach Hieronymus auch auf seine Episteln übertragen zu dürfen. 166
2. Hieronymus' Auffassung vom Brief
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Es läßt sich jedoch nicht feststellen, daß Hieronymus ausschließlich Briefe bestimmter Inhalte sermones nennt170. Knappe persönliche Notizen, private Mitteilungen wie die Mahnung, doch endlich auf erhaltene Briefe zu antworten etc., tragen in der Regel allerdings nicht die Bezeichnung sermo. Eine unspezifische Bedeutung kann sermo haben, wenn dieser Terminus von Hieronymus verwendet wird, um ganz allgemein von einem Text zu sprechen. Deutlich wird dies im 42. Brief: ... latam disputationem breui sermone comprehendimus, ut non tarn epistulam quam commentariolum dictaremus.171
Hier lauten die spezifischen Textsortenbezeichnungen epistula und commentariolum, während sermo lediglich den Text als solchen als Ergebnis des Schreibens meint. Auch das Verhältnis von uolumen und epistula wird von Hieronymus im Hinblick auf den Umfang bestimmt172. Ein Brief, der sein Längenmaß überschritten hat, wird nicht nur, wie wir bereits gesehen haben, als Uber, sondern kann auch als uolumen bezeichnet werden. Hier basiert die Argumentation auf der impliziten Voraussetzung, daß ein uolumen umfangreicher sei als eine
epistula173:
multaque alia, quae si de scripturis sanctis uoluero congregare, non dicam epistulae, sed uoluminis quoque excedam modum.174
Eine inhaltliche oder stilistische Bestimmung zur Textsortenbezeichnung commentariolum bietet Hieronymus in seinen Briefen nicht. Es fällt auf, daß die meisten Textsortenbezeichnungen im Diminutiv verwendet werden oder Epitheta wie parvus oder breuis bei sich tragen175. Wie die voraufgegangene Analyse gezeigt hat, besteht nicht unbedingt ein Zusammenhang zwischen dieser Diminutiwerwendung und der tatsächlichen einer Textsorte zugemessenen Länge; Textsorten, die als sehr umfangreich beschrieben werden, können trotzdem ein solches Epitheton bei sich tragen. So muß dieser Sprachgebrauch eine andere Funktion als die der Beschreibung des Umfanges haben. 170
Mit der relativen inhaltlichen Offenheit bewegt sich Hieronymus in der Tradition der Begriffsbestimmung, vgl. dazu M. SACHOT, Art. Homilie, RAC 16, Stuttgart 1994, (148-175) 171, sowie THRAEDE, Gebrauchstext, 182. 171 Ep. 42,3 (54, 317,18-20 H.). 172 Uolumen ist ursprünglich auch keine Textsortenbezeichnung, sondern ein Längenmaß. 173 Vgl. zur Deutung der Stelle (Funktionalisierung des ¿>rev/fcw-Postulates) Kap. 3.2.1.3. 174 Ep. 133,2 (56/1, 244,16-18 H.). Vgl. als Belege auch epp. 36,1 und 108,7. 175 Mit der Diminutiwerwendung liegt freilich ein typisch spätantikes Phänomen vor.
104
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
In einigen Fällen liegt hier wohl Bescheidenheitstopik vor. Hieronymus beschreibt namentlich die von ihm verfaßten Texte als klein oder gering, bzw. spricht von „Textchen". Dies muß auf der Ebene von Inhalt und Wertung verstanden werden: Er spricht also von geringen, unbedeutenden Texten. Damit beabsichtigt er, Widerspruch bei den Lesern hervorzurufen und diese dazu zu bewegen, umso deutlicher die Bedeutsamkeit der Werke des Kirchenvaters zu unterstreichen. Zudem ist das Längenmotiv variabel einsetzbar, um den Schluß von Texten einzuleiten oder Texte zu strukturieren176. Was kann man nun über Hieronymus Verständnis von epistula als Textsorte sagen? Der Vergleich mit anderen Textsortenbezeichnungen hat gezeigt, daß Hieronymus die Begriffe vornehmlich dann in Beziehung setzt, wenn er sich über die Längen der Texte äußern will. Hieraus ließe sich durchaus ein System unterschiedlicher Textsorten im Hinblick auf ihre Länge erheben177. Zusammenfassend zeigt sich: Epistula scheint im Vergleich zu den anderen Gattungen eine Textsorte mittlerer Länge zu bezeichnen. Sie ist länger als ein commentarius oder commentariolum, jedoch kürzer als ein libellus oder ein uolumen. Wiewohl libellus und epistula hin und wieder synonym verwendet werden können, scheint dem libellus größeres Gewicht im Hinblick auf den Umfang und die sachliche Relevanz zugemessen zu werden. Sermo ist eine Textsortenbezeichnung, die synonym mit epistula verwendet wird und daher auf stilistische und inhaltliche Übereinstimmung sowie gleichen Umfang schließen lassen kann. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Aussagekraft diese Aussagen zu den Textlängen haben können, wenn wir in Betracht ziehen, daß Hieronymus wenigstens im Hinblick auf Briefe die Textlänge als Topos aufgreift und funktionalisiert. Im Hinblick auf die anderen Äußerungen zur Textsorte epistula, die im Verlaufe des III. Kapitels zur Sprache gekommen sind (Form, Stil, Inhalt, Wesen und Funktion), läßt sich ein ähnlicher Befund festhalten: Hieronymus formuliert viele Postulate zur Gestaltung von Briefen, mithilfe derer sich seine Brieftheorie erheben läßt. Allein die stereotype und fiinktionalisierende Verwendung dieser Postulate zeigt, wie er sein Regelwerk als Topos verwendet, mit seinen Gattungsrichtlinien spielt. Wie weit er sein Gattungsverständnis
176
Vgl. dazu Kap. 3.2.1. Einschränkend ist freilich zu sagen, daß der bekannte Theorierahmen sich in der Regel nicht unmittelbar in den Äußerungen über die Werke niederschlägt. Dieses Phänomen ist nicht nur bei Hieronymus zu beobachten. Es lassen sich die Textsortenbezeichnungen von einzelnen so bezeichneten Werken also nur mit größter Vorsicht generalisieren. 177
3. Die
Briefsituation
105
faßt, zeigt der Blick auf die unterschiedlichen unter der Gattung „Brief' subsumierten Texte 178 . Warum sind diese Texte als Briefe verfaßt? Hierfür kommen einige Gründe in Frage. So schien es vielleicht attraktiv zu sein, daß der briefliche Kontakt den Anschein einer engen Bindung zwischen den Korrespondenzpartnern erweckte, daß das Medium Brief privateren Charakter hatte als andere Textsorten und so eine gewisse „Narrenfreiheit" für Äußerungen jeder Art bot und daß die Textsorte Brief auch formal große Freiräume eröffnete 179 .
3. Die
Briefsituation180
Die Werke des Hieronymus sind eine nahezu unerschöpfliche Quelle für alle Fragen, die sich auf die Realienkunde zur Texterstellung und Textverbreitung beziehen. Aus seinen Texten erfahren wir, welche Materialien zum Schreiben verwendet wurden, welches Personal eingesetzt wurde und unter welchen Umständen der Transport von Schriften vonstatten ging. Nicht nur die Briefe des Kirchenvaters sind mit technischen Informationen angereichert, auch einige Kommentare erweisen sich, namentlich im Bereich der praefationes, als ergie178 Die Bestimmung der Textsorte muß sich also bei Hieronymus nicht an der Theorie, sondern an der Praxis orientieren. Welche Arten von Texten gelten ihm als Briefe? Zur Praxis des Briefschreibens vgl. aber genauer die Einzelanalysen in Kap. 4. Die Gattung „Brief, die bei Hieronymus Raum für Abhandlungen unterschiedlichster Art bietet, läßt sich so vielleicht als eine Art übergeordnete Textsorte verstehen. 179 Zur Abfassung von Texten unterschiedlichster Gattungen, die auch an der Gattung Brief zu partiziperen suchen, vgl. M. ASPER, ZU Struktur und Funktion eisagogischer Texte, in: Kullmann, W./Althoff, J./Asper, M. (Hgg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, ScriptOralia 95, Tübingen 1998, (309-340) 319.325. Asper bemerkt, daß eisagogische Texte häufig in Brieffrom abgefaßt waren. 180 Der Terminus Briefsituation leitet sich von Koskenniemi her. Der Verfasser bestimmt als Briefsituation jene Bedingungen, die den Abfassungsbedingungen des „echten Privatbriefes" entsprechen (vgl. dazu KOSKENNIEMI, Studien, 53). Das entscheidende Charakteristikum ist seiner Darstellung nach die räumliche Trennung der Korrespondenten (vgl. a.a.O., 169). Thraede erweitert und präzisiert diese Bestimmung nach den Maßgaben seiner Topostheorie und fügt als konstitutives Element die die räumliche Trennung überwindende Schriftlichkeit hinzu (vgl. THRAEDE, Grundzüge, 3f. Anm. 7). Ich hingegen möchte den Begriff noch einmal erweitert verstanden wissen. Er soll sich nicht nur auf die räumliche Trennung der Abwesenden beziehen, sondern auch auf das Gefüge der Bedingungen für die Trennung und die Überwindung der Trennung via Brief. Damit ist die erweiterte Bestimmung Thraedes übernommen und die situative Bedingtheit integriert. Die Briefsituation bezeichnet nach meiner Auffassung die Gesamtheit der Faktoren, die die Entstehung eines Briefes motivieren, bedingen und beeinflussen. Es gehören dazu die Situation des Absenders und die des Empfangers, die Sachebene sowie die Beziehungsebene des Briefinhaltes, die materiellen und temporalen Bedingungen der Abfassungs- sowie der Transportsituation.
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
bige Quellen für diese Fragestellung. Die Überblicksdarstellungen zu Brief und Buch in der Antike verweisen, so sie den spätantiken Bereich mit einbeziehen, durchgängig auf einschlägige Stellen bei Hieronymus. Es gibt eine eigene Untersuchung zur „Buchtechnik" in der Antike, die die Schriften des Hieronymus zugrundelegt181. 3.1. Vorgang der Brieferstellung Wie hat man sich konkret die Erstellung eines Briefes bei Hieronymus vorzustellen? 181
ARNS, Technique, will in seiner Untersuchung Informationen zu Materialien, Texterstellung, Herausgabe, Verbreitung und Aufbewahrung von Texten in der Antike zusammentragen. Es werden die auf den Fragehorizont bezogenen Äußerungen aus ihrem Kontext gezogen und gemäß der Fragestellung systematisierend zusammengestellt und definiert. Dabei scheint er klarere Abgrenzungen vor Augen zu haben als Hieronymus selbst. Nicht immer beschränkt sich der Verfasser auf die Analyse von Begriffsverwendungen, sondern erliegt der Versuchung, sich - m.E. nicht immer ganz sachgerecht - über Hieronymus' Auffassung vom Wesen des Briefes zu äußern. Arns behandelt Zitate aus allen Textgattungen auf gleiche Art und Weise, ohne bei der Analyse auf gattungsspezifische Unterschiede einzugehen. Dieses Vorgehen wirft einige Fragen auf: Zum einen stellt sich die Frage nach der Ausrichtung von Texten auf bestimmte Personen. So hätte man nach dem Verhältnis von Textwidmungen zu Briefadressen fragen können. Zum zweiten stellt sich die Frage nach der Textverbreitung. Gerade hier ist die Gattung eines Textes von Relevanz; die Verbreitung exegetischer Abhandlungen (Abschriften aus Bibliotheken) vollzieht sich anders als die direkte Zustellung eines Briefes ad personam. Hier wäre eine differenziertere Beschreibung wünschenswert, die Analyse der Übereinstimmungen (Kopien von Briefieilen) interessant gewesen. Die mangelnde Differenzierung nach Gattungen verunklart das Bild und nivelliert Unterschiede in der Texterstellung und Verbreitung, die man in dem sonst sehr differenziert gezeichneten Bild erwartet hätte. Mit der Gattungsspezifik hängt auch ein weiterer Kritikpunkt zusammen: Arns wertet alle buchbezogenen Termini in gleicher Weise als realienkundliche bzw. sozialhistorische Informationen aus, ohne in Betracht zu ziehen, daß es sich möglicherweise um Metaphern und Topoi handeln könnte. Diese Nichtbeachtung gattungsspezifischen Formelwerks führt mitunter zu problematischen Schlußfolgerungen. So interpretiert Arns z.B. Devotionsformeln am Briefbeginn nicht als Teil zeitgenössischer Rhetorik, sondern wertet sie als Hinweise auf bestimmte Charakterzüge des Kirchenvaters (vgl. a.a.O., 94). Ebenso versucht er aus dem Auftreten des Begriffes brevitas das Normalmaß eines Briefes festzustellen (vgl. a.a.O., 98). Aus der Kritik sollte deutlich geworden sein, daß die Arbeit zwar ein farbiges Bild der Buchtechnik im ausgehenden vierten Jahrhundert bietet, aber im Horizont unserer Fragestellung nicht nur viele Fragen unbeantwortet läßt, sondern auch einige Befunde fehldeutet. So ist für unsere Untersuchung von Arns insofern zu profitieren, als er ein Frageschema für Terminologie und Technik entwickelt, das in Bezug auf die Briefe durchdekliniert und mit Befunden aus dem Bereich der „Buchproduktion" ergänzt werden kann. Dennoch scheint es mir unerläßlich zu sein, im Hinblick auf Gattungsspezifika und rhetorische Konventionen Arns Ergebnisse in Frage zu stellen oder wenigstens zu ergänzen.
3. Die Briefsituation
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Hieronymus beschreibt unterschiedliche Modi des Vorganges der Brieferstellung. In den meisten Fällen diktiert er seine Briefe 182 . So heißt es: uelox notarii manus me dictante signaret.183 Nach dieser Stelle diktiert Hieronymus, während der notarius, der Schreiber oder Schnellschreiber, aufschreibt. Notarius ist, wie diese Stelle und viele andere deutlich machen, bei Hieronymus nicht, wie sonst häufig in der Antike, der Terminus für den Abschreiber, sondern bezeichnet die Person, die das Diktat aufnimmt 184 . Ein weiterer von Hieronymus für den Schreiber verwendeter Begriff ist scriba uelox1*5. Die Tätigkeit des Schreibers wird mit dem Wort excipere186, aufnehmen, umschrieben. Die Diktatsituation ist zweigeteilt, Instrument des Schreibers ist der articulus, der Finger, das des Hieronymus ist die lingua, die Zunge 187 . D o c h es wäre falsch, hier das ergänzende Zusammenarbeiten zweier Personen an einer Arbeit sehen zu wollen: Der notarius wird von Hieronymus als Werkzeug betrachtet. Wenn der notarius die Worte aufnimmt, so kann Hieronymus trotzdem sagen, er selbst sei es, der schreibe. Deutlich wird dieser Gedanke aus einer Formulierung im 130. Brief: Inter omnes materias, quas ab adulescentia usque ad harte aetatem uel mea uel notariorum scripsi manu ...!8S
182 Daß Hieronymus im Zusammenhang der Brieferstellung als Diktierender erscheint, heißt allerdings nicht, daß er nicht auch eigenhändig schreibt. In seiner frühen Zeit hat er seine Briefe mit der Hand geschrieben, wohl in Ermangelung der finanziellen Möglichkeiten, einen Schreiber zu entlohnen. Oft berichtet er auch in den Bethlehemer Jahren, daß er codices abschreibt. Dies hat wohl vor allem den Grund der Sprachkenntnis. Ep. 36 an Damasus berichtet davon, daß mitten im Briefdiktat ein ihm bekannter Hebräer in den Raum stürzt, um ihm aus der Synagoge entliehene uolumina zu bringen, nach denen Hieronymus verlangt hatte und die, da sie dringend zurückverlangt werden, so schnell als möglich kopiert werden müssen. Also eilt Hieronymus sofort zum Abschreiben der zweifelsohne hebräischen Schriften: ad scribendum transuolarem (ep. 36,1 [54, 268,12 H.]). Im 130. Brief an Demetrias spricht er von Stoffen, die er schriftlich behandelt habe, sei es mit eigener Hand oder mit der des notarius: Inter omnes materias, quas ab adulescentia usque ad hanc aetatem uel mea uel notariorum scripsi manu ... (56/1, 175,15f. H.). Das heißt also, Hieronymus greift nicht nur zum stilus, wenn er Handschriften kopiert, sondern auch, wenn er selbst Texte verfaßt. 183
Ep. 34,6 (54, 264,19 H.). Zahlreiche Stellen illustrieren eben diese Funktion der notarii, vgl. dazu beispielsweise ep. 36,1: confestim accito notario, ut expiceret, imperavi. (54, 268,4f. H.). 185 Vgl. ep. 65,7 (54, 623,21 H.). 186 Vgl. ep. 36,1 (54, 268,5 H.). 187 Vgl. ep. 36,1 (54, 268,7 H.). 188 Ep. 130,1 (56/1, 175,15f. H.). 184
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Das scripsi in der ersten Person Singular bringt zum Ausdruck, daß Hieronymus, unabhängig von der Hand, die den Griffel fuhrt, sei es nun seine oder aber die eines anderen, sich als eigentlicher Schreiber - das meint Verfasser - des Textes sieht. Der Vorgang des Diktierens wird von Hieronymus als identisch mit dem des Briefschreibens betrachtet, so stellt er in ep. 133 Ctesiphon die rhetorische Frage, ob dieser etwa bereits wisse, was er, Hieronymus, im folgenden zu diktieren gedächte. Das heißt: was er schreiben wird und was damit der Inhalt des folgenden Briefes sein wird: unde nostis, quid dicturi simus, ut responsionem paretis?189
Diese Gleichsetzung der Begriffe scribere und dictare hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Urheberschaft des Textes zeigt sich auch im folgenden Satz, wenn nämlich der Schreibstift als Instrument des Geistes apostrophiert wird190. Gleichgültig, wer den stilus in seiner Hand hält, der Geist des Diktierenden schreibt den Brief. Am deutlichsten wird jedoch dieser Zusammenhang, wenn Hieronymus die Begriffe synonym verwendet und in einem Satz und auf ein und denselben Vorgang bezieht: Haec quare scripserim et ad pauperis lucernae igniculum cito, sed non cauto sermone dictauerim ,..191
So deutlich auch aus den meisten Stellen wird, daß Hieronymus sich als geistiger Urheber auch des von fremder Hand auf ein Diktat hin Geschriebenen versteht, so macht er doch auch geltend, daß in bestimmter Hinsicht für ihn ein Unterschied zwischen der Autorschaft eines diktierten oder aber eines mit eigener Hand geschriebenen Textes besteht. Die Schlüsselstelle hierfür ist ep. 112,1: ... respondere sermone non maturitate scribentis, sed dictantis temeritate, plerumque non in doctrinam, sed in casum uertitur, ,..192
quae
Dem Vorgang des Schreibens und dem des Diktierens (bzw. hier in ihrer personalisierten, substantivierten Form, also dem Schreibenden und dem Diktierenden) werden unterschiedliche Charakteristika zugeordnet. Das wohlabge189
Ep. 133,11 (56/1, 258,6f. H.). Vgl. ep. 133,11: ... et frustra ingenii uestri acuitis stilum. (56/1, 258,Ii. H.). 191 Ep. 33,6 (54, 259,13f. H.). Ich übersetze hier: „Warum ich dies schrieb und beim Flämmchen einer armseligen Ölleuchte schnell, aber ohne Rücksicht auf die Ausdrucksweise diktierte ...". Die Begriffe cito und cauto sind auf mehrfache Weise miteinander verknüpft. Zum einen handelt es sich um eine Alliteration, zum anderen um Beiordnung gleichartiger Satzglieder, die durch die adversative Konjunktion sed eng miteinander verbunden sind. 190
192
Ep. 112,1 (55, 368,3f. H.).
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3. Die Briefsituation
wogene Urteil (maturitas) eignet dem Schreiben, während das Diktieren durch unüberlegtes Urteil (temeritas), das keine Zeit zur abwägenden Überlegung hat, sondern sich auf Zufallsentscheidungen stützen muß, geprägt ist. Die beiden Vorgänge wie die ihnen zugeordneten Eigenschaften sind einander adversativ gegenübergestellt. Wenn man hier unter scribere etwas anderes als dictare verstehen muß, also scribere in diesem Kontext das Schreiben mit eigener Hand bedeutet, dann versieht offenbar Hieronymus hin und wieder die beiden besagten Begriffe mit unterschiedlichen Konnotationen. Beim eigenhändigen Schreiben kann man in Ruhe den Text konzipieren und überlegen, was gesagt werden soll. Beim Diktat leidet das Urteilsvermögen unter der Situation, vieles wird unbedacht dahingesagt und findet dennoch Aufnahme in den Text. Die Abhängigkeit von Zufallsentscheidungen ist das entscheidende Charakteristikum dieser Art der Texterstellung. Eine Stelle aus dem 70. Brief belegt als Beispiel aus der Praxis, nicht als theoretische Reflexion über die Diktatsituation, das Auftreten der temeritas/maturitas-Figar. quamquam ego illudmagis rear, quod dictanti uenit in mentem
...,93
Hier zeigt sich, daß Hieronymus einen Gedanken, der ihm beim Diktieren spontan kommt, aufgreift, und daran die Fortfuhrung des Textes orientiert. Um das abgewogene Urteil in einem Text zum Ausdruck bringen zu können, bedarf es nach Hieronymus wenigstens der Bearbeitung des diktierten Textes mit eigener Hand: ... excoli non posse sermonem, nisi quem proprio manus
limauerit.194
Diese negativen Konsequenzen des Diktates mögen der Grund dafür sein, daß der Kirchenvater hin und wieder beklagt, daß er aufgrund seines Gesundheitszustandes zur Erstellung von Briefen auf das Diktat angewiesen ist: itaque ignosce dolentibus oculis, id est ignosce dictanti ...19S
3.2. Materialien Aus den Briefen lassen sich zahlreiche Informationen über die Materialien, die zur Brieferstellung benötigt werden und aus denen der Brief besteht, entnehmen. Hier vermischen sich allerdings diese Informationen mit denen über die Materialien zur Erstellung von Handschriften im allgemeinen196. 193
Ep. 70,6 (54, 708,8f. H.). Ep. 21,42 (54, 142,lOf. H.). 195 Ep. 21,42 (54, 142,llf. H.). Ein weiteres Problem, das sich möglicherweise auch beim Abfassen der Korrespondenz gestellt haben mag, ist, zumindest in der Bethlehemer Zeit, der Mangel an lateinischsprachigen Schreibern gewesen, vgl. ep. 75,4 (55, 33,12-20 H.). 194
196
Vgl. z.B. ep. 22,32: inficitur membrana colore purpureo, aurum liquescit in litteras, gemmis codices uestiuntur ... (54, 193,13f. H.). Hier lesen wir ein plastisches
110
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Das Gerät, mit dem geschrieben wird, ist der stilus197, der Schreibgriffel, der die Buchstaben in Wachstafeln eindrückt. Hieronymus kennt auch den Begriff calamus, Schreibrohr; bei der ihm vorliegenden Fassung des 44. Psalmes verbessert er aber die Übersetzung in das von ihm verwendete Wort stilus19*. Werden beim schnellen Diktat offensichtlich Wachstafel und stilus verwendet, so ist der endgültige Brief häufig auf Papyrus geschrieben. Ein Brief besteht oft aus mehreren schedulae199, aus mehreren Papierseiten. Hieronymus gebraucht scheda und das Diminutivum schedula nebeneinander, ohne daß sich daraus ein konkreter Hinweis auf einen Größenunterschied ableiten ließe. Möglicherweise werden so die Briefe zunächst als Konzept auf die Wachstafeln notiert, dann aber auf schedulae übertragen. Unter Umständen birgt dieses Vorgehen auch Gefahren in sich: An anderer Stelle beklagt sich Hieronymus über differierende Lesarten in codices und führt diese auf die Irrtümer und Fehler der Abschreiber zurück200. 3.3. Technische Gestalt Die einzelnen Briefbögen wurden gerollt, so daß der Brief die Form einer Schriftrolle hatte201. Die Wendungen, die Hieronymus verwendet, um die Lektüre von libri, also Schriftrollen, zum Ausdruck zu bringen, tauchen auch bei der Rede von Brieflektüre auf. So verweist er in einem Brief an Pammachius auf das, was er oben in demselben Brief geschrieben hat, mit den Worten: reuolue omnium, quos supra memoraui, commentarios
,.202
Das Verbum reuoluere bezeichnet aber den Vorgang des Aufrollens einer Buchrolle.
Pergament geschrieben, Gold fließt in die Buchstaben und Edelsteine schmücken die Handschriften ...". Dieser Prunk wird hier freilich vom Kirchenvater scharf kritisiert. 197 Vgl. ep. 50,5: flgat stilum (54, 393,11 H.). 198 Vgl. ep. 65,7: Lingua mea calamus scribae uelociter scribentis. pro quo nos interpretati sumus: lingua mea stilus scribae uelocis. (54, 623,19-21 H ). 199 Vgl. ep. 59,5: extrema schedula (54, 545,17 H.). 200 Vgl. ep. 65,9: error scriptorum (54, 625,21 H.) und ep. 65,11: uitio librarii (54, 628,23 H.). An dieser Stelle liegt, nebenbei bemerkt, auch eines der vielen Beispiele für das Bemühen des Kirchenvaters um abwechslungsreiche Ausdrucksweise vor: Derselbe Sachverhalt wird mit unterschiedlichen Worten beschrieben, variatio delectat\ 201 202
Vgl. zu diesem Vorgehen auch DZIATZKO, Brief, 837. Ep. 48,3 (54, 349,4f. H.).
3. Die Briefsituation 3.4.
111
Abfassungszeit
Als Zeitspanne des Abfassens benennt Hieronymus fast durchgängig die Nacht: später Abend oder frühe Morgenstunden, jedoch fast nie die Arbeit am Tage werden erwähnt. So ist einer der häufigsten Termini, die den Zeitpunkt des Schreibens bezeichnen, lucubratiuncula, die Zeit der Nacht, in der gearbeitet wird, eine „Nachtwache" 203 : Cum haec furtiuis, ut aiunt, operis ad lucubratiunculam uelox notarii manus me dictante signaret et plura dicere cogitarem, iam ferme quarta noctis hora excesserat ...204 Hinweise auf das Abfassen von Briefen zu nächtlicher Stunde tauchen im Briefwerk des Hieronymus mit großer Häufigkeit auf. Stereotyp werden dieselben Termini und Wendungen benutzt. In sehr vielen Fällen läßt sich erkennen, aus welchem Grund Hieronymus diese Formeln jeweils einfugt. Der Hinweis auf die nächtliche Stunde ist häufig gekoppelt mit der Bemerkung, aufgrund der Abfassungszeit sei Hieronymus in Eile. Diese Situation der Eile wiederum gilt ihm als begründendes Moment für die spezifische Gestalt der Texte, wie im folgenden an einzelnen Beispielen zu illustrieren sein wird. Die Hinweise auf die Abfassungszeit sind also nur bedingt als reale Information über die Briefsituation zu werten. Vielmehr liegt hier ein Topos vor, den Hieronymus auf unterschiedliche Weise fiinktionalisiert205.
203
Vgl. auch ähnliche Begriffe, die deutlich den Rekurs auf Arbeit in nächtlichen Stunden darstellen, wie z.B. ep. 129,8: breui lucubratione dictaui (56/1, 175,8f. H.). Die Verbindung von nächtlicher Stunde und heimlichem, verborgenem Charakter des Werkes (furtiuis - operis z.B. in ep. 34,6 [54, 264,18 H.]) tritt ebenfalls mehrfach in den Briefen auf. Sie wird wohl deshalb von ihm so gerne verwendet, weil sie das Stimmungsbild, das der Verfasser von der Abfassungssituation durchgängig zeichnet, auf passende Weise unterstützt. Der Gedanke des furtivus, das ursprünglich „gestohlen" bedeutet und erst in zweiter Linie den übertragenen Sinn von „verstohlen", „heimlich" bekommt, kennzeichnet so eine Situation mit bedrohlichem, unsicherem Charakter. Der Nacht, die eigentlich nicht die Zeit des Arbeitens wäre, wird ein Werk abgetrotzt, ihr wird ein opus gestohlen. Zur Übersetzung von lucubratiuncula und lucubrans als Bezeichnung für die Arbeit, die in der Nacht geschieht, ist Theodor Haeckers Rede von den „Schreibenächten" eine gute Anregung: „Alles in allem sind doch die einsamen Schreibenächte das schönste, was mir Gott geschenkt hat." (Th. HAECKER, Tag- und Nachtbücher 1939-1945, München 31959, 134, Eintrag vom 10. Juli 1940). 204 Ep. 34,6 (54, 264,18-20 H.). An dieser Stelle liefert Hieronymus sogar eine konkrete Zeitangabe: die vierte Stunde der Nacht sei beinahe vorbei. 205 Die Rede von der Arbeit als lucubratiuncula oder in der partizipialen Form lucubrans erfreute sich in der Spätantike großer Beliebtheit. Possidius schreibt beispielsweise in Vita S. Augustini 24: Et id agebat in die laborans et in nocte lucubrans.
112
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Wenn die Eile als konstitutives Element der Schreibsituation dargestellt wird, liest sich das wie etwa in ep. 36 an Damasus206: 206 Ob die Begriffspaare epistularis angustia (vgl. ep. 53,6 [54, 452,4f. H.]) oder dictandi angustia (vgl. ep. 26,2 [54, 221,5 H.]) in diesen Kontext der Eile gehören, scheint mir fraglich zu sein. Die französische Übersetzung von Labourt deutet zumindest die zweite Stelle in diesem temporalen Sinne und spricht von der knapp bemessenen Zeit zum Diktat. So heißt es bei LABOURT, Saint Jérôme II, 15: „Voici notre réponse, courte parce que nous sommes gêné par la difficulté de dicter." Die auf diese Übersetzung bezogene Anmerkung lautet: „Gêné par le peu de temps dont il dispose pour dicter." (a.a.O., 15 Anm. 2). M.E. ist die Begrifflichkeit dictandi angustia deutlich an der Formel epistularis angustia orientiert, sowohl in sprachlich-formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht. Dann zielt sie allerdings nicht auf den Mangel an Zeit ab, der Ursache der angustia ist, sondern auf ein im brieflichen Charakter (epistolaris) liegendes Moment. Dies ist aber, wie im Zusammenhang der Wesensbestimmung des Briefes diskutiert worden ist (vgl. Kap. 3.2.1.), die dem Brief eignende Kürze. Bei Hieronymus wird epistularis angustia synonym mit brevitas epistolaris verwendet. Diese brevitas, sei sie nun lediglich gefordert oder auch umgesetzt, hat jedoch ihren Grund nicht in mangelnder Zeit, sondern in den Konventionen der Gattung. Ein anderer Fall liegt m.E. bei der Formulierung spatium dictandi vor. Die grammatikalische Struktur entspricht zwar der von dictandi angustia, aber das Wort spatium ist nicht durch einen formelhaften Ausdruck festgelegt wie angustia. Ein Deutungsproblem liegt hier dennoch vor: Ist spatium in räumlicher oder in zeitlicher Hinsicht zu verstehen? ARNS (ders., Technique, 13-35) will den Begriff räumlich verstehen. Seiner Ansicht nach handelt es sich dabei um den auf einer Seite (schedula) noch zum Diktat zur Verfügung stehenden Platz. So analysiert er diese Stelle auch im Zusammenhang seiner Ausführungen zu den Schreibmaterialien. M.E. ist diese Deutung nicht gerechtfertigt. Hieronymus äußert sich, wenn es um die Begrenzung von Texten geht, selten zum Mangel an Materialien. Hierfür dient ihm in der Regel das èrevzïas-Postulat (vgl. dazu Kap. 3.2.1.). Er räumt der Relevanz von Materialfragen einen geringen Stellenwert ein, wenn er in einem Brief erläutert, Pergamentmangel sei kein hinreichender Grund, nicht zu schreiben, man könne immer an Material gelangen, selbst in seiner Einsiedelei in der Wüste sei ihm dies gelungen (vgl. ep. 11 [54, 39,3-9 H.]).
So ist es aufgrund des intertextuellen Vergleiches höchst unwahrscheinlich, daß Hieronymus hier die Behandlung der Gegenstände im Brief von dem noch auf der Pergamentseite verbleibenden Platz abhängig macht. Es wird hingegen die Menge der Briefgegenstände oder der Umfang ihrer Behandlung sehr oft von zeitlichen Begrenzungen bestimmt - so stellt es der Kirchenvater jedenfalls dar. Deshalb scheint mir die Deutung des Wortes spatium auf einen (Zwischen-) Raum zeitlicher Art wahrscheinlicher zu sein als die Deutung auf einen räumlicher Art. Wenn spatium dictandi dementsprechend als „Zeit zum Diktat" übersetzt werden kann, dann gehört diese Stelle in den Kontext dieses Kapitels, in dem (u.a.) der Frage nach der Eile als konstitutiv die Abfassungssituation prägendes Moment nachgegangen wird. Diese zuletzt vorgetragene Deutung wird von zwei Stellen aus ep. 29 an Marcella unterstützt. In ep. 29,4 verspricht Hieronymus die Erläuterung einer Fragestellung si spatium dictandi fuerit (54, 237,6 H.). In ep. 29,6 wird nun der Begriff spatium eindeutig als zeitliche Determinante qualifiziert: Verum, quia supra promiseram me, si
3. Die Briefsituation
113
Postquam epistulam tuae sanctitatis accepi, confestim accito notario, ut exciperet, imperavi; quo ad officium praeparato, quod eram uoce prompturus, ante mihi cogitationepingebam. interim iam et ego linguam et ille articulum mouebamus ,..207
Während die Situation zum Diktat hergestellt wird, also der notarius sich und sein Material bereitet, das Diktat aufzunehmen, sammelt der Kirchenvater seine Gedanken und konzipiert beiläufig - so will er es jedenfalls glauben machen den zu diktierenden Text. Hieronymus erstellt offensichtlich kein schriftliches Konzept, was ja auch denkbar wäre, sondern legt sich den Brief in Gedanken (cogitatione) zurecht. Die Geschwindigkeit des Schreibens und Diktierens bringen die Eile und Gehetztheit der Situation zum Ausdruck. Beschreibungen wie uelox manus notarifios tauchen ebenfalls in zahlreichen Briefen auf. Hieronymus versucht, ein objektives Faktum vorzuführen, das die Eile bedingt und Beeilung erforderlich macht; so spricht er an vielen Stellen von drängenden Boten. Im 112. Brief an Augustin heißt es: tarnen conabor... festinanti fratri moram non facere, qui ante triduum, quam profecturus erat, a me epistulas flagitauit, ut paene in procinctu haec, qualiacumque sunt, effutire compellar ,..209
Dem Bruder, der in Eile ist, will Hieronymus keine Verzögerung zumuten. Hier lesen wir von einem konkreten zeitlichen Rahmen, den der Bote gesteckt hat. Drei Tage vor seiner Abreise habe der Bruder die zu transportierenden Briefe eingefordert. Der zur Verfügung stehende Zeitraum von drei Tagen gilt offenbar bei Hieronymus als knapp, um die entsprechenden Briefe zu verfassen. Die Situation gleicht einer Aufbruchstimmung, der Bote ist paene in procinctu, also schon fast im Aufbruch begriffen. Häufig verknüpft Hieronymus in der Situationsbeschreibung die Momente von Eile und nächtlicher Stunde dergestalt, daß der Zeitpunkt des Abfassens als Begründung für die Eile, diese wiederum als Begründung für die inhaltliche spatium dictandi fuisset, de teraphim quoque breuiter disserturum nec quisquam interim interpellator aduenit ... (54, 240,5-7 H.). Daß spatium zum Diktieren bleibe, wird hier damit begründet, daß in der Zwischenzeit niemand gekommen sei, der Hieronymus unterbrochen habe. Also bezieht sich hier spatium auf das Moment der Zeit und des Ungestörtseins, jedoch keinesfalls auf etwaigen Platzmangel auf der Seite. Weiter wird diese Überlegung unterstützt von der Tatsache, daß sich bei Hieronymus einige Stellen finden, in denen er die Behandlung eines Gegenstandes explizit von der ihm noch zur Verfügung stehenden Zeit abhängig macht. Vgl. ep. 64,21 (54, 612, 20f. H.): si esset tempus, discuterem singulorumque naturas et causas tibi exponerem 207
Ep. 36,1 (54, 268,4-8 H.). Ep. 34,6 (54, 264,19 H.). 209 Ep. 112,1 (55, 367,16-368,2 H.). Hier ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anfügen, vgl. z.B. ep. 118,7 (55, 445,4-9 H.). 208
114
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Gestaltung des Textes dient. Dieser Bezug auf den Inhalt ist in der Regel apologetischer Natur. Hieronymus begründet mögliche Mängel in inhaltlicher Ausgestaltung der Texte mit der durch Eile geprägten Abfassungssituation. Er baut also eine doppelte Kausalkette auf, mit dem Ziel, möglichen Vorwürfen hinsichtlich inhaltlicher Mängel zuvorzukommen. Dies läßt sich beispielsweise mit einer Stelle aus einem Brief an Paula belegen, in der die erwähnte Kausalkette auf knappem Raum durchgeführt ist: Haec quare scripserim et ad pauperis lucernae igniculum cito, sed non cauto sermone dictauerim, potestis intellegere, si Epicuros etAristippos cogitetis.210
Der nächtliche Zeitpunkt wird mit der Schilderung des Schreibens bei dem Flämmchen einer armseligen Öllampe suggeriert. Diese erschwerten Abfassungsbedingungen sind der Grund fiir das schnelle Vorgehen (cito). Aufgrund der Eile fühlt sich der Verfasser an einer sorgfältigen Gestaltung der Diktion gehindert (cito, sed non cauto sermone dictauerim). Die Eile ist hier in Sachzwängen begründet, die die baldige Übermittlung der in dem Brief enthaltenen Informationen nach Ansicht des Hieronymus unbedingt erforderlich machen211. Die wohl bekannteste Situationsschilderung findet sich im 64. Brief, der an Fabiola gerichtet ist: haec ad unam lucubratiunculam, cum iam funis solueretur e litore et nautae crebrius inclamarent, propero sermone dictaui, quae memoria tenere poteram et quae diuturna in rationali pectoris mei lectione congesseram, satis intellegens magis me loquendi impetu quam iudicio scribentisfluere et more torrentis turbidum proferre sermonem.212
Neben der schon bekannten Zeitangabe, in einer Nachtwache sei der Brief entstanden, liefert Hieronymus in plastischen Worten eine Beschreibung der Umstände, die ihn so zur Eile antreiben: die Ankertaue sind schon vom Ufer gelöst und die Seeleute schreien laut, während er seinen Brief diktiert. Der Kirchenvater bemüht sich, den Eindruck einer Situation höchster Eile zu erwecken, in der er, bedrängt von der unmittelbar bevorstehenden Abfahrt des Schiffes, seine Gedanken nur hastig auf das Papier werfen kann. Auch hier hat die Situationsschilderung eine ganz bestimmte Funktion und steht in einem Begründungszusammenhang: Die Eile (propero) bedingt, daß die Gedanken nur spontan zusammengestellt, nicht jedoch sorgfältig konzipiert oder gar an 210
Ep. 33,6 (54, 259,13-15 H.). Hieronymus sieht sich genötigt, sich gegen Angriffe von Seiten einiger Teile der römischen Gesellschaft zur Wehr zu setzen. Er sieht sich ebenso wie Origenes wegen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit von nur an weltlichen Annehmlichkeiten interessierten Gliedern des römischen Klerus, die er als Epicuri und Aristippi apostrophiert, geschmäht (vgl. dazu die Anmerkung von Schade: Des Heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Schriften, aus dem Lateinischen übersetzt von L. SCHADE, BKV 15-17 (Hieronymus I-III), München 1914-1937, III, 227f.). 212 Ep. 64,22 (54, 615,5-11 H.). 211
3. Die Briefsituation
115
Texten verifiziert werden können. Daß lediglich die Zusammenstellung der Gedanken, nicht jedoch ihre eigentliche Entwicklung und Begründung durch das Moment der Eile geprägt ist, verdeutlicht der folgende Teilsatz (quae ... congesseram). Was er in Erinnerung behalten konnte von dem, was er in langandauernder, vernunftbestimmter Lektüre mittels seines Verstandes zusammengestellt habe, das habe er diktiert. Seine Meinung ist also gut überlegt, eventuelle Darstellungsmängel sind auf die Situation der Abfassung des Briefes zurückzuführen. So dient hier die Kennzeichnung der Abfassungssituation als einer von Eile geprägten der Rechtfertigung gegenüber Vorwürfen, die möglicherweise später geltend gemacht werden. In der oben zitierten Stelle, ep. 112,1, werden die Konsequenzen der Eile auf die gedankliche Durchdringung des Themas und das Abfassen des Briefes noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Es sei hier noch einmal der Zusammenhang zitiert: tarnen conabor,... festinanti fratri moram non facere, qui ante triduum, quam profecturus erat, a me epistulas ßagitauit, ut paene in procinctu haec, qualiacumque sunt, effutire compellar et tumultuario respondere sermone non maturitate scribentis, sed dictantis temeritate, quae plerumque non in doctrinam, sed in casum uertitur, ut fortissimos quoque milites subita bella conturbant et ante coguntur fugere, quam possint arma corripere.213
Die oben beschriebene, durch den im Aufbruch begriffenen Boten evozierte Situation der Eile führt dazu, daß Hieronymus angetrieben wird (compellar), den Brief herauszuschwatzen, ohne Bedacht aus dem Munde fließen zu lassen (effutire214) und mit einem in Eile erstellten Brief zu antworten. Dies bringe es mit sich215, daß der Brief nicht durch das reife Urteil des Schreibenden, sondern durch die Unüberlegtheit des Diktierenden geprägt sei216. Hieronymus illustriert die maturitasltemer/to-Figur mit einem Bild aus dem militärischen Bereich: Seine Situation sei wie die von starken217 Soldaten, die durch einen 213
Ep. 112,1 (55, 367,17-368,6 H.). Vgl. zur Bedeutung von effutire GEORGES, Handwörterbuch I, 2 3 6 2 . 215 Wie es sich aus sachlogischem Zusammenhang ergibt, sich jedoch nicht aufgrund grammatikalischer Verknüpfung mit beispielsweise konsekutiver Konjunktion begründen läßt. 216 Zur Deutung der maturitasltemeritas-Figur vgl. Kap. 3.3.1. 217 Es stellt sich die Frage, ob bei der Übersetzung des fortissimos eher der Charakter physischer Stärke oder aber eher der des Mutes überwiegen sollte. SCHADE, Hieronymus II, 433, entscheidet sich für letzteres. Da ja Hieronymus diesen Charakterzug der Soldaten als Metapher füir seine eigene Haltung funktionalisiert, ist zu fragen, worum es ihm an dieser Stelle geht: Meint er in erster Linie die physische Stärke, die man vielleicht als „Vermögen" begreifen kann, oder zielt er vielmehr auf die unerschrockene Geisteshaltung, die man vielleicht als „Wollen" bezeichnen kann, ab? Ich tendiere, wie meiner Übersetzung im Text zu entnehmen ist, zu ersterem. M E. ist es in 214
116
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
plötzlichen Kampf in Verwirrung gerieten und zur Flucht gezwungen würden, bevor sie zu den Waffen greifen könnten. Hier fuhrt also nach der Darstellung des Hieronymus die Eile dazu, daß der Inhalt des Briefes in Mitleidenschaft gezogen wird. Es ist in der Situation begründet, wenn die Darstellung im Brief an Zufallsprinzipien ausgerichtet ist. Das Beispiel, das der Verfasser selbst liefert, macht deutlich: Es steht völlig außer Frage, daß Hieronymus das Vermögen zu reifem Urteil und Ausrichtung an wissenschaftlicher Überlegung hat sonst könnte er diese auch kaum als möglichen Mangel in seinem Text diagnostizieren. Er will sich nicht für mangelnde Fähigkeiten entschuldigen, sondern eventuelle inhaltliche Mängel vom Leser den widrigen äußeren Umständen attribuiert wissen. Auch das Schlußkapitel des an Dardanus gerichteten 129. Briefes verknüpft die Momente von nächtlicher Stunde und Eile mit einer Apologie für die Gestaltung des vorgelegten Textes. Doch hier bezieht sich die Rechtfertigung weniger auf die inhaltliche denn auf die sprachliche Seite des Briefes: ... tumultuaria et breui lucubratione dictaui, ne uideor omnino reticere. eodem enim tempore, immo eodem die mihi et litterae tuae redditae sunt et meae expeditae, ut aut tacendum fuerit aut incompto eloquio respondendum ...2!S
Hier sucht Hieronymus ebenfalls einen Grund für die Eile als objektiven geltend zu machen. Er spricht zwar nicht von drängenden Boten, aber offensichtlich sollten diejenigen, die ihm den Brief von Dardanus gebracht hatten, den seinigen an Dardanus wieder mitnehmen und beabsichtigten, am selben Tage wieder aufzubrechen. Daher stand ihm nur eine kurze Zeitspanne zur Antwort zur Verfügung. Auch hier treffen wir wieder auf die Figur der antizipierenden Rechtfertigung möglicher Kritik. Im Gegensatz zu den anderen Stellen ist dieser jedoch zu entnehmen, welcher Punkt es ist, für den Hieronymus möglicherweise Kritik erwartet: Er habe aufgrund des zeitlichen Druckes vor der Wahl gestanden, entweder zu schweigen (tacendeum fiterit), also von einer Antwort abzusehen, oder aber in schlichter Sprache zu antworten
all diesen Stellen, die antizipierende Rechtfertigungen für unzureichende Briefgestaltung liefern, das zentrale Moment, daß sie auf die Fähigkeit des Verfassers hinweisen, inhaltlich und formal sehr viel bessere Briefe schreiben zu können. Der Gedanke der Fähigkeit findet aber seinen klareren Ausdruck in der ersten Übersetzung. Unterstützend läßt sich noch ein strukturanalytisches Argument anfuhren: der Aufbau des letzten Satzes ist so konzipiert, daß die Begriffe, die auf den Bereich der Stärke abzielen (fortissimos/arma) rahmend um jene Begriffe gelagert sind, die auf den Bereich der Schwäche abzielen (conturbantlcoguntur fugere). Wenn man von einer strukturellen Verknüpfung der Begriffe fortissimos und arma ausgehen darf, liegt der Gedanke nahe, beide bezögen sich auf eine objektive Stärke, den Bereich des Vermögens also. 218
Ep. 129,8 (56/1, 175,8-12 H.).
3. Die Briefsituation
117
(incompto eloquio respondendum219). Hierfür meint er, möglicherweise Kritik erwarten zu müssen. Hieronymus begründet seine Sprache allein mit dem Zeitargument, das heißt, mit mehr Zeit ließe sich für ihn ein incomptum eloquium vermeiden. Das entspricht ganz den oben dargestellten Zitaten: Nach des Kirchenvaters Darstellung ist es nicht so, daß er inhaltliche Schwächen aufgrund mangelnder geistiger Durchdringung eines Sachverhaltes hätte, oder es ihm gar an dem Vermögen gebräche, seine Gedanken sprachlich adäquat zu formulieren. Nein, die ungünstigen Umstände, namentlich die zeitliche Bedrängnis, hindern ihn, seine Briefe so zu verfassen, daß sie vor aller Kritik gefeit sind. Es ließen sich noch zahlreiche weitere Stellen anführen, die den Zusammenhang von dem Rekurs auf die Abfassungssituation mit einer Apologie für die Sprache des entsprechenden Textes zum Ausdruck bringen 220 . Die von zeitlicher Begrenztheit geprägte Abfassungssituation hat eine weitere, sehr einsichtige Konsequenz: Mangelnde Zeit begrenzt die Inhalte, die in einem Brief traktiert werden können. So wird die Abfassungssituation als Legitimation für die ausgewählten Inhalte eines Briefes herangezogen. In ep. 29 vertröstet Hieronymus Marcella: Teraphim quid Sit, si spatium dictandi fuerit, prosequemur.221
219
Das Wort incomptus bezeichnet in seiner Grundbedeutung den Zustand physischer Ungepflegtheit. In auf die Geisteshaltung übertragenem Sinn ist damit die ungeschminkte Direktheit gemeint. Bezieht man es nun auf die Sprache, so hat man sich darunter ungekünstelte, schmucklose und schlichte Sprache vorzustellen. Vgl. GEORGES, Handwörterbuch II, 163f. Schade übersetzt den Ausdruck mit „eine in Stil und Form nicht befriedigende Abhandlung" (vgl. SCHADE, Hieronymus III, 345). Sachlich meint er vermutlich das Richtige, doch wäre zu fragen, ob diese Übersetzung dem Charakter als Fachterminus - denn Hieronymus geht es m.E. nicht nur um sprachliche Mängel, sondern um die Entsprechung bzw. Verfehlung einer sprachlich-rhetorischen Norm - hinreichend Rechnung trägt. 220
Es sei lediglich noch die folgende Stelle erwähnt: In ep. 29,1 (54, 232,18-233,5 H.) wird auch die Verbindung von Eile und Boten gezogen. Der Bote (uector et Internuntius) hat es eilig zurückzukehren (redire festinat). Hieraus folgt für Hieronymus die Konsequenz, die bedeutsame Sache schneller zu diktieren als es angemessen wäre (celerius dicto, quam debeo). An dieser Stelle wird aber deutlich, daß das, was unter der Geschwindigkeit des Diktates leidet, nicht die dargelegte Sache ist. Gleichsam als Entschuldigung fuhrt Hieronymus an: ... licet de scripturis sanctis disputandi non tarn necessaria sint uerba quam sensus, ... Die Worte seien bei seinem Gegenstand nicht so wichtig wie der Sinn. Er fahrt fort, suche man Eloquenz, so müssse man auf Cicero und Demosthenes sehen. Wenn er sich sich also (vordergründig) für die mangelnde sprachliche Ausgestaltung entschuldigt, oder vielmehr begründet, warum diese hier auch gar nicht vonnöten sei, dann zeigt sich: dies ist das einzige, das fehlt, inhaltlich läßt der Text nichts zu wünschen übrig. 221
Ep. 29,4 (54, 237,6f. H.). Zur Begründung der Übersetzung: „Wenn noch genug Zeit zum Diktieren ist, gehen wir der Frage nach, was unter 'Teraphim' zu verstehen
118
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Ob er also auf ihre Frage nach den teraphim eingehe, hänge davon ab, ob ihm noch genügend Zeit zum Diktat des Briefes bleibe. Marcella hat Glück, einige Absätze später heißt es: Verum, quia supra promiseram me, si spatium dictandi fuisset, de teraphim quoque breuiter disserturum nec quisquam interim interpellator aduenit, scito teraphim ,..222
Da also kein Störenfried, der sein Diktat hätte unterbrechen können, gekommen sei, könne er nun sein oben gegebenes Versprechen einlösen - und so hebt er an, den Begriff teraphim zu erläutern. In diesen Zusammenhang gehören auch die Stellen, in denen Hieronymus von einer Behinderung beim Schreiben der Texte spricht. Nicht immer nur sind es die Boten, die nächtliche Stunde oder die Krankheit, die die Abfassungsbedingungen erschweren und Möglichkeiten zu einer antizipierenden Apologie für Form oder Inhalt bieten. Hieronymus kann zu diesem Zweck auch darauf rekurrieren, seine Anwesenheit sei anderweitig erforderlich, Freunde oder Bekannte warteten auf ihn: Fuerat quidem prolixius disserendum, sed quoniam et amicis, qui ad nostrum hospitiolum conuenerunt, praesentiam nostram negare nonpossumus ...223
Was erfahren wir nun aus diesen Schilderungen über die tatsächlichen Abfassungsbedingungen? Angesichts der Tatsache, daß Hieronymus all die vorgestellten Momente stereotyp und funktionalisiert verwendet, ist davon auszugehen, daß die Umstandsbeschreibungen im Einzelfall nicht zutreffend sein müssen. Daß er sich bei der Wahl seiner Bilder jedoch ungefähr an ihm vertrauten Schreibsituationen orientiert hat, darf vielleicht angenommen werden. 3.5. Zustellung Wie gelangen die Briefe zu Hieronymus bzw. von ihm zu den Adressaten? Über die Art der Zustellung und des Transportes erfahren wir einiges aus den Briefen des Kirchenvaters. Auch hier ist einschränkend festzustellen, daß wir es vor allem mit topischen Schilderungen zu tun haben; namentlich die Boten als Begründung für die Situation der Eile sind bereits ausfuhrlich zur Sprache gekommen. Allerdings gilt es hier ebenso festzuhalten, daß Hieronymus bei seinen Schilderungen sicherlich Anleihen an der tatsächlichen Transportsituation gemacht hat. ist.", namentlich der temporalen Deutung des Begriffes spatium, vgl. in diesem Kapitel oben. 222 Ep. 29,6 (54, 240,5-7 H.). Vgl. auch die am Ende des 108. Briefes (108,7) geschilderte Situation: Der drängende Ausonius, der bereits beginnt, Hieronymus die Seiten aus der Hand zu reißen, hindert den Kirchenvater daran, das, was eigentlich der Sache und dem Adressaten angemessen wäre, noch zu Papier zu bringen (55, 445,4-9 H.). 223
Ep. 42,3 (54, 317,15-17 H.).
119
3. Die Briefsituation
Häufig erwähnt er Boten, die ihm entweder Briefe gebracht haben oder aber im Begriffe sind, seine Briefe mitzunehmen. Unterschiedliche Termini können diese Boten bezeichnen, in ep. 29 an Marcella taucht die Koppelung der Begriffe uector et Internuntius12*, also „Träger und Vermittler" auf. Der Überbringer kann auch als tabellarius bezeichnet werden225. Die Boten scheinen häufig beritten gewesen zu sein226. Diese Boten sind keine extra zu diesem Zwecke beauftragten, sondern in den meisten Fällen scheint es sich um Menschen zu handeln, die sich auf eine Reise begeben und Bekannten oder Lehrern einen Gefallen tun, indem sie dabei auch die Post besorgen. Häufig werden auch die Namen der Boten erwähnt: Tres simul epistulas... per diaconum Cyprianum tuae dignationis accepi
...22?
beginnt Hieronymus einen seiner Briefe an Augustinus. Offensichtlich war es üblich, den Boten, waren sie denn schon einmal da und beabsichtigten, in Richtung der Adressaten zu reisen, die Antwortbriefe gleich mitzugeben. So heißt es in ep. 129: eodem enim tempore, immo eodem die mihi et litterae tuae redditae sunt et meae expeditae ,..228
Als Verkehrsmittel für den Brieftransport scheint das Schiff zu fungieren229 : ... cum iam funis solueretur e litore et nautae crebrius inclamarent,
,..230
Neben der Zustellung der Briefe an die Adressaten mittels reisender Boten, seien sie nun gesondert mit dem Transport beauftragt oder nur als zufällig reisende mit der Zustellung betraut, bezeugt Hieronymus auch eine weitere Form der Briefverbreitung. Mehrfach lesen wir in seinen Briefen die Bitte, man möge 224
Ep. 29,1 (54, 232,18 H.). Vgl. ep. 35,1 (54, 265,8 H.); ep. 8 (54, 32,5 H.). An einer Stelle scheint Hieronymus die Bezeichnung Currentius, Läufer, als Eigennamen zu behandeln, vgl. ep. 32,1 (54, 252,14 H.). 226 Vgl. dazu beispielsweise ep. 118,7. 227 Ep. 112,1 (55, 367,13f. H.). 228 Ep. 129,8 (56/1, 175,9f. H.). 229 Die Stellen, die diese Art des Transportes belegen, stammen naturgemäß aus den Briefen, die in der Bethlehemer Zeit verfaßt worden sind. Von dort aus war freilich die schnellste und sicherste Verbindung des Brieftransportes nach Rom - und das war das vornehmliche Ziel der Briefe des Hieronymus - der Weg entlang der Mittelmeerküste. Diese Informationen lassen sich kombinieren mit der Rede von Boten zu Pferde: Die Boten ritten wohl zur Küste und bestiegen dann das Schiff. 230 Ep. 64,22 (54, 615,6f. H.). Zur Deutung dieser Stelle als Topos vgl. oben Kap. 3.3.4. Wir haben keinen Hinweis darauf, daß Hieronymus die Gäste eventuell bis zur Küste begleitet hat. Also zeigt allein die Tatsache, daß Hieronymus in Bethlehem keinen Blick auf einen Hafen gehabt haben kann, daß wir es nicht mit einer realistischen Schilderung zu tun haben. 225
120
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
seine Briefe weiterreichen, Bekannten zum Lesen geben. Hin und wieder verweist er Korrespondenten, die ihm bestimmte Fragen gestellt haben, auf bereits von ihm geschriebene Briefe, die sie entweder bei den jeweiligen Adressaten oder bei anderen Bekannten, bei denen der Kirchenvater Abschriften seiner Texte vermutet, einsehen sollen231. So heißt es beispielsweise in ep. 4: quaeso ut epistulam meam huic tuae epistulae copulatam ei reddere non graueris.232
Dem 32. Brief, der an Marcella gerichtet ist, liegen gleich zwei weitere Briefe bei: attamen, ne Currentius forte noster frustra cucurrerit, duas epistulas, quas ad sororem tuam Paulam eiusque pignus Eustochium miseram, huic sermunculo adnexui, ut, dum illa legis et in his aliquid doctrinae pariter ac leporis inueneris, putes tibi quoque scripta esse, quae scripta sunt.233
3.6. Adressatenkreis Aus dem eben Dargestellten ergibt sich die Frage nach der Zielgruppe des Hieronymus. Richtet er seine Briefe direkt und ausschließlich an die angegebenen Adressaten234? In ep. 130, der an die virgo Demetrias, die einen hohen gesellschaftlichen Rang bekleidete, gerichtet ist, spricht er Warnungen aus, von denen er einschränkend sagt, für sie seien diese überflüssig, denn sie lebe bereits den asketischen Vorstellungen entsprechend. Aber möglicherweise könnten anläßlich der Gelegenheit, die sich jetzt biete, andere gewarnt werden: ... sed quo per occasionem tui ceterae praemonendae
sint.235
Daraus läßt sich schließen, daß Hieronymus mit einem Leserkreis gerechnet hat, der über die unmittelbare Adressatin hinausgeht236. 231
Diese Äußerungen sind natürlich vor allem für die Frage nach der Privatheit und exklusiven Adressatenorientiertheit der Briefe von Interesse. Ebenso geben sie Auskunft über das, was man vielleicht als „hieronymianische Editionstätigkeit" bezeichnen könnte. 232
Ep. 4,2 (54, 20,3f. H.). Ep. 32,1 (54, 252,14-19 H.). 234 Inwiefern Hieronymus im Hinblick auf die Wahl des Themas und des Sprachniveaus auf seine Adressaten eingeht, ist im 4. Kapitel im Zusammenhang der exemplarischen Einzelanalysen der Briefe zu diskutieren. 235 Ep. 130,19 (56/1, 199,15f. H.). 236 Freilich ist hierbei in Betracht zu ziehen, daß Hieronymus seine Vorschriften gegenüber Demetrias geschickt verpackt. Er richtet sie auch an diese Frau, aber mit dem soeben zitierten Vorspruch versichert er sich, ihr nicht zu nahe zu treten und wahrt den in dieser hierarchischen Beziehung angemessenen Respekt. 233
3. Die
Briefsituation
121
Ein weiteres Indiz, daß Hieronymus als Leser nicht nur die jeweiligen Adressaten im Blick hat, stellt seine Praxis dar, Anfragen, auf die er antwortet, zu Beginn eines Briefes knapp referierend zusammenzufassen. Warum sollte, wenn nur der Verfasser der Frage angesprochen wird, diesem seine eigene Frage noch einmal vorgeführt werden? Es ließe sich einwenden, daß die Briefe mitunter lange Zeit unterwegs waren, der Fragesteller sich vielleicht gar nicht mehr an seine Frage erinnern konnte und eine Erinnerung an den eingeforderten Gegenstand sinnvoll sein konnte. Freilich stellt sich die Frage, ob namentlich die mit Hieronymus korrespondierenden Frauen die Anfragen an ihren Seelsorger, Lehrer und geistigen Vater, um nur bei den offensichtlichen Funktionen zu bleiben, so schnell vergessen konnten237. Abgesehen davon sind wir in diesem Zusammenhang bei der Frage, ob die Anfragen tatsächlich echte gestellte Fragen waren oder ob es sich um fiktive Fragen handelte, die Hieronymus selbst konstruierte, um einen Anlaß zu haben, die von ihm geplante Abhandlung verfassen zu können. Es sind diese Zusammenfassungen formelhaft gestaltet und bieten stets den knappen Aufbau des zu erwartenden Briefes. Es ließe sich also vermuten, der Kirchenvater fasse die mögliche Anfrage zusammen, um anhand derer zum einen den Aufriß seiner geplanten Abhandlung zu liefern (vgl. ep. 62), zum anderen, um seine Abhandlung als solche zu legitimieren. Diese Frage kann allerdings nur im konkreten Fall entschieden werden. Daher soll sie im Zusammenhang der exemplarischen Einzelanalysen jeweils hinsichtlich der dort referierten Anfragen entschieden werden 238 . Hieronymus schreibt selbst, daß er einige Briefe nicht nur für den unmittelbaren Adressaten bestimmt hat. Dies ist der Fall, wenn er den Adressaten um Weitergabe des Briefes an andere Leser bittet239. Hier ist deutlich zu erkennen, daß man nur sehr bedingt von einem privaten Charakter der (erhaltenen) Briefe sprechen kann: Wenn eigentlich für persönliche Adressaten bestimmte Briefe via Abschrift an andere Personen weiter verteilt werden, haben sie öffentlichen Charakter. Grundsätzlich ist also davon auszugehen, daß Hieronymus einen Leserkreis vor Augen hatte, der über die persönlich genannten Adressaten hinausgeht240. 237
Zudem ist davon auszugehen, daß die Fragesteller die Briefe in ihre Kopialbücher übertragen hatten, vgl. dazu Kap. 1.1.1. 238 Es wird sich zeigen, daß in vielen Fällen eine Intentionsdoppelung vorliegt, Hieronymus also eine spezifische Intention gegenüber dem persönlichen Adressaten häufig mit einer allgemeineren Aussage, die sich an einen weiteren Leserkreis richtet, verbindet. 239 Vgl. dazu ep. 4,2, den er weiterzugeben bittet, und ep. 32,1, dem zwei weitere Briefe zur Weitergabe beiliegen, die die Adressatin auch lesen soll. 240 Auch in der Sekundärliteratur herrscht Übereinstimmung darüber, daß Hieronymus in der Regel beim Abfassen seiner Briefe einen Adressatenkreis vor Augen hatte, der über die unmittelbar genannten Adressaten hinausging. Vgl. ZELZER, Briefliteratur, 346: „Alle erhaltenen Briefe waren von vorneherein zur Veröffentli-
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Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Diese Beobachtung trifft vor allem auf die späten Briefe zu: Die theologischen Abhandlungen sind für ein breites Publikum geschrieben. Im Hinblick auf die ersten Briefe der Sammlung, die Freundschaftsbriefe, läßt sich kein Hinweis auf eine Ausrichtung auf andere als die persönlichen Adressaten finden.
4. Zusammenfassung und Ausblick Eingangs hatten wir nach Informationen gefragt, die Hieronymus über seine Brieftheorie und seine Briefsituation liefert. Um dieser Frage nachzugehen, haben wir uns an den expliziten Äußerungen des Kirchenvaters zu diesem Thema orientiert, soweit sie in seinen Briefen greifbar sind. In zweierlei Hinsicht haben sich die dargestellten und analysierten Texte als aufschlußreich erwiesen. Zum einen haben wir eine ungefähre Vorstellung davon gewonnen, unter welchen Umständen die Briefe des Kirchenvaters abgefaßt worden sind. Zum anderen hat sich der Eindruck ergeben, daß die Bemerkungen des Kirchenvaters über die Abfassungssituation, namentlich im Hinblick auf nächtliche Stunden und drängende Boten, nicht allein als Abbild der realen Situation zu betrachten sind. Gerade die Stereotypie, mit der die Schilderungen auftreten - wir sahen, daß in vielen Fällen sogar die Wortwahl identisch ist - ließ darauf schließen, daß die Schilderungen topischen Charakter haben. Diese Vermutung legte sich auch deshalb nahe, weil sich die auftretende Topik ganz im Bereich antiker Brieftopik bewegt. Die Topik in Bezug auf die Rede von Freundschaft, Begegnung, brevitas und Eile tritt nicht nur in den Briefen auf, sondern prägt auch Struktur und Inhalte entscheidend. Die entsprechenden Äußerungen waren also nicht nur im Hinblick auf ihre direkte Aussagekraft zu werten, sondern es war zu untersuchen, welche Bedeutung ein bestimmter Topos in einem bestimmten Kontext hat, wie er funktionalisiert wird241. Hier ließen sich vor allem apologetische chung bestimmt..." Ähnlich B. FEICHTINGER, Apostolae apostolorum. Frauenaskese als Befreiung und Zwang bei Hieronymus, Studien zur klassischen Philologie 94, Frankfurt/Main 1995, 25 Anm. 2.207 Anm. 18.218 Anm. 8f., und Schneider, Brief, 581. Antin versucht das Profil der Leser, wie Hieronymus es in seinen Schriften erkennen läßt, zu erstellen, vgl. P. ANTIN, Saint Jérôme et son lecteur, RSR 34, 1947, 82-99. Er zeichnet die Leser, die gleichzeitig Hörer seien, als gebildete Römer, die dem Verfasser gegenüber wohlwollend eingestellt seien und eine Funktion als Korrektiv hätten. Antin übersieht m.E., daß Hieronymus mit der Charakterisierung seiner Leser in den Briefen eine bestimmte Absicht verfolgt. Er schreibt diese Charakterisierung ja für die Leser, so kann gerade die Bezeichnung seiner Leser als besonders gebildet oder interessiert als captatio benevolentiae begriffen werden. 241 Dieser scheinbar so selbstverständliche Schritt ist in der Betrachtung von Briefen in der Sekundärliteratur keineswegs selbstverständlich. Briefe als eigene Gattung
4. Zusammenfassung und Ausblick
123
Verwendungsweisen feststellen: Hieronymus rechtfertigt sich mittels der topischen Elemente für die formale und inhaltliche Gestaltung seiner Briefe. Häufig liefert Hieronymus nur fragmentarische Aussagen, namentlich im Bereich der Freundschafts- und Begegnungstopik. Meiner Ansicht nach können zwei Gründe dafür geltend gemacht werden: Zum einen geht es Hieronymus, ebenso wie in vielen anderen Bereichen, nicht darum, präzise Verhältnisbestimmungen zu vollziehen. Es ist ihm nicht so wichtig, wie Begegnung genau geschieht. Vielmehr orientiert der Kirchenvater sich stets am großen Ziel, an der hauptsächlichen Intention, am umfassenden Kontext. Zum zweiten kann Hieronymus auf breite Kenntnis unter seinen Lesern zurückgreifen, was die Ausführung und Präzision dieser Freundschafts- und Begegnungstopik anbetrifft. Ich meine, gerade daraus, daß Hieronymus so fragmentarisch mit diesen Zusammenhängen umgeht, ist zu schließen, daß sie einfach so bekannt waren, daß es näherer Differenzierung und Erläuterung nicht bedurfte. Offensichtlich schöpft Hieronymus aus einem breiten Fundus von Vorstellungen über Gestalt und Wesen von Briefen. Es bleibt nach der Analyse nicht allein bei dem unspezifischen Eindruck einer großen Breite briefbezogener Topik. Man muß nach meinem Eindruck die Verwendung zweier Toposgruppen bei Hieronymus differenzieren. Die Elemente von Freundschaft und Begegnung, die wir dem Wesen des Briefes zugeordnet haben, treten meistens miteinander verbunden auf. Bei genauer Betrachtung stellt man fest, daß nur wenige Texte diese Momente von zu akzeptieren, die ihre spezifischen formalen und inhaltlichen Merkmale, ihre eigene Diktion, ihre eigenen Sprachcodices hat, ist noch immer eine neue Entwicklung. Selbst bei einem so versierten Hieronymus-Kenner wie Nautin wird deutlich, daß die Vernachlässigung der Gattung und der gattungseigenen Diktion zu Mißinterpretationen führen kann. So rekurriert er beispielsweise in seinem Aufsatz über die Echtheit von epp. 35f. (NAUTIN, Échange, 337) auf ep. 36,1 und sagt, es widerspreche dem Verhältnis von Papst und fremdem Priester, wenn letzterer es zu einer Verzögerung der Antwort kommen lasse. Des Hieronymus Rede von der Verzögerung der Antwort steht nun aber im Zusammenhang der Entschuldigung füir die flüchtige Abfassung des Textes. Damit stellt er dem Brief eine captatio benevolentiae voran und bewegt sich in den ganz klassischen Bahnen der Brieftopik. Ebenso interpretiert Nautin auch in seinem Aufsatz über die Exkommunikation des Kirchenvaters (P. NAUTIN, L'Excommunication de Saint Jérôme, AEPHE.R 80/81, fasc. 2, 1971-1973, [7-37] 24) eine Stelle aus ep. 64,22 ohne Rücksicht auf deren topischen Charakter. Nach seiner Wiederaufnahme in die Kirche schreibt Hieronymus an Fabiola, er habe in einer kurzen Nachtwache schnell den Brief diktiert. Nautin diskutiert nun den Zusammenhang der Wiederaufnahme in die Kirche, deren Relevanz für Hieronymus und seinen sehr eiligen Bericht darüber an Fabiola: „Pourquoi cette précipitation? Venait-elle du trop plein de sa joie, du besoin de la partager au plus vite avec ses amis?" (ebd.). Wir haben oben ausführlich gezeigt, daß gerade die Rede von der durch Eile geprägten Abfassungssituation topischen Charakter hat und in hohem Maße deutungsbedüftig in Bezug auf die Funktion innerhalb des Briefes ist, jedoch keine sicheren Informationen über die tatsächliche Abfassungssituation bietet.
124
Kapitel 3: Der Brief bei Hieronymus
Freundschaft und Begegnung im Brief aufgreifen und die meisten von ihnen sich unter den ersten Briefen der hieronymianischen Briefsammlung finden242. Es sind durchweg Briefe, die an Freunde gerichtet sind. Es sind Briefe, die nur in geringem Maße der Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte dienen und den wissenschaftlichen Briefen des späten Hieronymus, die in minuziösen exegetischen Analysen bestehen, fernstehen. Offensichtlich haben einige der frühen Briefe einen spezifischen Charakter, der aus dem Ganzen des Briefcorpus herausfällt. Diese frühen Briefe orientieren sich intensiv an Gedanken und Themen wie charakteristischen Wesenszügen des antiken Briefes. Hier, in seinen jungen Jahren ist Hieronymus offensichtlich noch stärker an den literarischen Bildungsgütern orientiert, die ihm in seiner Jugend vermittelt worden sind. Die frühen Freundschaftsbriefe sind Reflex und Relikt seiner Schulbildung. Gedanken hingegen wie der des ¿rev/to-Postulates und der Eile als Begründungs- und Strukturierungskriterien für die spezifische Briefgestalt treten auch in den frühen Briefen schon vereinzelt auf, verstärken sich dann und prägen schließlich nahezu jeden der späteren Briefe. Diese Elemente scheinen zu des Hieronymus eigenem Stil und Konzept, ja, zu seiner eigenen Topik geworden zu sein. Vor allem bei diesen beiden Elementen kann man feststellen, wie Hieronymus sie funktionalisiert, eigene Ziele verfolgt, die er mittels dieser Elemente rechtfertigt, begründet oder durchzusetzen versucht. Daraus ist zu schließen, daß sich bei Hieronymus ein eng begrenzter Fundus von Topoi herausgebildet hat, mittels derer er seinen wissenschaftlichen Texten brieflichen Charakter zu verleihen pflegt. Die zeitliche Entfernung von der schulischen Ausbildung zieht bei Hieronymus eine Reduktion der erlernten Toposfiille nach sich. Aus diesen Überlegungen ergibt sich nun eine Frageperspektive im Hinblick auf unsere Leitfrage nach „Hieronymus als Briefschreiber". Bis jetzt haben wir die Verwendung der topischen Elemente ausschließlich im Hinblick auf ihre Funktionalisierung im ganz engen Zusammenhang des argumentativen Duktus eines einzelnen Briefes, ja, oft nur eines einzelnen Briefabschnittes, betrachtet. Dabei wurde der Blick noch nicht auf die Gesamtabsicht eines Briefes in politischen und theologischen Zusammenhängen gerichtet. Die Funktionalisierung von topischen Elementen für weitere Intentionen soll im folgenden betrachtet werden. Es gilt nun, in Form der Einzelanalyse einiger Briefe die argumentativen Strukturen und Intentionen des Hieronymus herauszuarbeiten, insofern sie über den Einsatz einzelner briefbezogener Topoi hinausgehen.
242
Dieser Eindruck ergibt sich nicht nur aus der Lektüre der Briefe des Hieronymus. Wenn die Freundschaftsbriefe den wissenschaftlichen Briefen vorangestellt sind, dann ist das genau derselbe Aufbau der Sammlung, wie wir ihn von Seneca kennen.
Kapitel 4
Exemplarische Analysen 1. Methodische 1.1. Methodische
Vorüberlegungen
Beispiele
Welche Fragen sind bei der Analyse an die Briefe zu richten? Es gibt zahlreiche neuere Monographien, die sich verschiedenen Briefcorpora 1 mit unterschiedlichstem Instrumentarium nähern. In einem kurzen Überblick sollen das Instrumentarium und die Fragekategorien vorgeführt werden, mittels derer diese Monographien ihren Gegenstand jeweils zu erfassen versuchen. Dann wird sich die Frage anschließen, ob einige dieser Kategorien auch hilfreich im Hinblick auf das Analyseinstrumentarium zur Untersuchung der hieronymianischen Briefe sein können. Die Dissertation von Hildegard Cancik2 beschäftigt sich mit dem Epistelwerk Senecas. Das leitende Interesse dieser Arbeit besteht darin, die strenge Entsprechung von Inhalt und Sprachform in Senecas Epistulae morales nachzuweisen: Briefteile belehrenden Inhaltes wiesen eine deskriptive Sprache, paränetische Stücke eine präskriptive Sprache auf. Zu diesem Zwecke bedient sich Cancik zweier Untersuchungsschritte: Der erste Teil der Arbeit besteht aus exemplarischen Einzelanalysen von ausgewählten Briefen 3 . Der zweite Teil 1 Neuere Untersuchungen, die die formale und sprachliche Eigenart von Briefen eben mit Bezug auf die Tatsache, daß es sich um eine spezifische Gattung handelt zum Gegenstand haben, gibt es kaum im Bereich kirchenhistorischer Forschung, sondern vorwiegend im altphilologischen Bereich. Die Kirchenväterbriefe sind in der Regel nicht auf oben beschriebene Weise untersucht worden. Es liegen hingegen zahlreiche neuere Untersuchungen zu den Briefen von Plinius, Cicero und Seneca vor. Da die strukturellen Anfragen an diese Corpora sich nicht kategorisch von denen, die an ein Kirchenvätercorpus zu stellen sind, unterscheiden, sollen einige Untersuchungen auf ihre Fragekategorien hin ausgewertet werden. Es sind Entwürfe ausgewählt worden, die „klassisch" geworden sind oder sich aus Gründen der Methode oder des relevanten Ergebnisses besonders profiliert haben. 2
Vgl. H. CANCIK, Untersuchungen zu Senecas Epistulae morales, Spudasmata XVIII, Hildesheim 1967. Zur Darstellung und Würdigung dieser Arbeit vgl. G. MAURACH, Rezension zu H. Cancik, Untersuchungen zu Senecas Epistulae morales, Gn. 41, 1969, 472-476. 3 Bei der Analyse der Argumentationsformen Senecas bedient sich Cancik eines Modells, das aus dem Bereich der analytischen Philosophie entlehnt ist und auf die Untersuchung ethischer Systeme und Sprachformen abzielt. Sie selbst verweist auf die
126
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
hat stärker systematisierenden Zugriff und geht der Leitfrage nach Senecas Selbstdarstellung in den Briefen nach 4 . Im Zusammenhang dieser Frage bietet die Verfasserin eine Fülle interessanter Fragen und Anregungen. D a z u zählen beispielsweise die Fragen nach der Relevanz der Situation des Adressaten und der Funktion der Selbstzeugnisse 5 . Cancik hält ihre Untersuchung eher knapp, so bleibt leider w e n i g R a u m für extensive Textanalyse zur Erörterung dieser Detailfragen. Cancik erweist den literarischen Charakter der Briefe 6 und qualifiziert die Epistulae morales als Paränese, Selbstzeugnis und Zeugnis des K a m p f e s g e g e n sich selbst. Sie zeigt, daß Seneca sich psychologischer Mittel bedient, die literarisch dargestellt und daher in mehrere Themen zergliedert und auf mehrere Briefe verteilt werden. Canciks Ergebnisse waren w e g w e i s e n d und fanden in der folgenden SenecaForschung immer wieder Bestätigung. D o c h gewinnt man bei ihrer Analyse hin und wieder den Eindruck, daß eher die Frage nach den Inhalten der Briefe leitend ist als die nach der Verbindung v o n Form und Inhalt. S o stellt sich auch die Frage, w e l c h e Funktion eigentlich der Abriß der epistolographischen Tradition hat, da die briefliche Form kaum als Untersuchungskriterium der Quellentexte zugrundegelegt wird. Ansätze Stegemüllers, vgl. CANCIK, Untersuchungen, 16 Anm. 36. Hier ließe sich vorsichtig die Frage stellen, wie relevant tatsächlich das herangezogene Modell für die durchgeführte rhetorische Analyse der Argumentationsstrukturen ist. 4 In diesem 2. Kapitel bietet Cancik, ausgehend von der Überlegung, daß „... von der Betrachtung der Kleinformen her eine Zuordnung der philosophischen Intention zu den Darstellungsmitteln zu erkennen [sei] ..." (CANCIK, Untersuchungen, 46) einen Abriß der Geschichte und Theorie der Epistolographie. Dies ist vor dem Hintergrund des damaligen Standes der Briefforschung zu würdigen (vgl. MAURACH, Rezension, 475). Für den heutigen Leser bleiben einige Fragen offen, z.B. die nach dem Verhältnis von Brief und Epistel bzw. literarischer Epistel und Privatbrief (vgl. a.a.O., 71). 5
6
V g l . CANCIK, U n t e r s u c h u n g e n , 7 2 . 7 5 .
Aus diesem literarischen Charakter schließt CANCIK auf die Fiktionalität des Senecaischen Briefwechsels. Literarischer Charakter von Briefen impliziert nicht unbedingt den Schluß auf deren Fiktionalität (vgl. Kap. 1.2.1.1.). Im Hinblick auf die Briefe Senecas haben die einschlägigen Untersuchungen jedoch überzeugend deutlich machen können, daß die Gesamtkomposition des Briefcorpus stark strukturiert ist, die einzelnen Teile des Corpus in linearer Steigerung aufeinander bezogen sind und in einem Verweiszusammenhang zueinander stehen, daß es in der Tat kaum möglich scheint, daß Senecas Korrespondenzpartner Lucilius Gestaltungsfreiräume zum Einbringen eigener Vorstellungen in die Korrespondenz gehabt haben sollte. Wenn jedoch der Eigenanteil eines der Korrespondenzpartner gegen Null tendiert, so liegt die Vermutung auf der Hand, daß es sich nicht um die Wiedergabe „echter" Korrespondenz handelt. Dies ist der sachliche Grund, der Annahme des „literarischen" Charakters der Briefe zuzustimmen, insofern damit deren Fiktionalität impliziert werden soll. Vgl. hierzu v.a. E. HACHMANN, Die Führung des Lesers in Senecas Epistulae morales, Orbis antiquus 34, Münster 1995, 9.
1. Methodische
Vorilberlegungen
127
Auch die Arbeit Hachmanns7 hat die Briefe Senecas zum Gegenstand. Sein Ziel ist es, Senecas „psychagogisches Konzept offenzulegen"8. Seine Ausgangsthese, die er auch im abschließenden Kapitel zu bestätigen in der Lage ist, geht in ihren Grundzügen auf die frühere Arbeit von Maurach9 zurück. Dieser war bereits von größeren Briefkreisen innerhalb der einzelnen Briefbücher ausgegangen. Maurach hatte gezeigt, daß sich die Entwicklung der Lehre Senecas in Briefkreisen vollzieht. Hachmann unternimmt es nun, diese Annahme der Briefkreise auf die Briefe 1-65 anzuwenden. Hierbei entdeckt er einen Stufenplan, der es wahrscheinlich macht, daß Seneca nicht additiv Einzelthemen reiht, sondern den Gedanken der bona mens in zwei großen Schritten linear fortschreitend entfaltet10. Die Methode, derer sich Hachmann bedient, ist weniger die rhetorische Analyse als die Nachzeichnung der inhaltlichen Argumentation, orientiert an der Struktur des Briefcorpus sowie an der Struktur der einzelnen Briefe. Dieses Verfahren erweist sich für seine sehr am inhaltlichen Gegenstand der Briefe orientierte Fragestellung als fruchtbar. Jäger11 hingegen untersucht ausgewählte Briefe Ciceros. Hier liegt eine Arbeit vor, die ihre inhaltliche Fragestellung mit einer spezifischen Methodik angeht und die Wahl der entsprechenden Methode ausfuhrlich diskutiert. Seine Leitfrage lautet: Was hat Cicero in welcher sprachlichen Form und mit welcher Absicht geschrieben?12 Seine eigentliche Frage, die hinter dieser Formulierung steht, ist die nach Ciceros individuell-psychologischer Situation13. Jäger will sich bei seiner Untersuchung nicht nur auf literarische Interpretation beschränken, sondern diese mit der Methode linguistischer Statistik ergänzen14. Jäger erläutert leider nicht seine theoretischen Grundlagen der Quantitativen Linguistik15. Auf fünf Seiten versucht Jäger, Problemaufriß, Thema der Arbeit, Ziele 7 Vgl. HACHMANN, Führung, passim. Zu dieser Arbeit vgl. C. EDWARDS, Rezension zu E. Hachmann, Die Führung des Lesers in Senecas Epistulae morales, Gn. 70, 1998, 561 f. 8 A.a.O., 6. 9 Vgl. G. MAURACH, Der Bau von Senecas epistulae morales, Heidelberg 1970. 10
Vgl. HACHMANN, Führung, 13.
11
Vgl. W. JÄGER, Briefanalysen. Zum Zusammenhang von Realitätserfahrung und Sprache in den Briefen Ciceros, Studien zur klassischen Philologie 26, Frankfurt/Main 1986. 12
Vgl. a.a.O., XI. Vgl. ebd. 14 Vgl. ebd. 15 Die Forschungen zur Quantitativen Linguistik haben in den letzten fünfzehn Jahren auch im deutschen Sprachraum immer mehr an Bedeutung und Verbreitung gewonnen. Mittlerweile gibt es nicht mehr nur ausführliche Einzeluntersuchungen zu Wort- und Satzlängenverteilungen (vgl. dazu K.-H. BEST, Glottometrika 16. The distribution of Word and Sentence Length, Quantitative Linguistica 58, Trier 1997). Auch Grundlagenwerke, die die Bedeutung und konkrete Methodik der Quantitativen 13
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
und M e t h o d e n 1 6 zu umreißen. Hierbei stellt er fest, eine Gattung w i e die des Briefes, mit solch kommunikativer Funktionalität, pragmatischer Intention und situativer Eingebundenheit müsse pragmatisch-kommunikationstheoretisch, sozialpsychologisch und sprachlich-ästhetisch betrachtet werden 1 7 . N a c h meinem Eindruck entfaltet sich die U m s e t z u n g letztlich nicht nach diesem Programm. D i e tatsächliche Analyse besteht, nach Briefgruppen g e trennt, j e in z w e i Schritten: Einer quantitativen Stilanalyse folgt j e eine qualitativ-deskriptive Textanalyse. Ganz abgesehen v o n den Anfragen, die man an den Ertrag quantitativer Analysen stellen könnte, ergibt sich als Problem bei der Untersuchung Jägers v o r allem, daß er keine Rechenschaft darüber ablegt, aus w e l c h e m B e f u n d er w e l c h e n Schluß ziehen will 1 8 . In der qualitativ-deskriptiven Textanalyse zeichnet Jäger die Inhalte der untersuchten Briefe nach, w o b e i er die Darstellung v o r allem auf die jeweilige psychisch-emotionale Verfassung Ciceros hin profiliert und dazu s o w o h l die äußeren historischen Gegebenheiten w i e die Ergebnisse der quantitativen Betrachtung miteinbezieht. A n einigen Punkten ergibt sich der Eindruck, daß die Ergebnisse der quantitativen Analyse lediglich der Bestätigung des Psychogramms, das Jäger aus den historischen Umständen heraus entwickelt, dienen. S o stellt sich die Frage, Linguistik darlegen, sind vielfach erschienen (vgl. beispielsweise G. ALTMANN/W. LEHFELDT, A l l g e m e i n e S p r a c h t y p o l o g i e , M ü n c h e n 1 9 7 3 ; G . A L T M A N N / M . H . SCHWIBBE
(Hgg.), Das Menzerathsche Gesetz in informationsverarbeitenden Systemen, Hildesheim/Zürich/New York 1989; G. FENK-OCZLON/A. FENK, Selbstorganisation und Typologie, Sprachtypologie und Universalienforschung 48, 1995, 223-238). So wäre es wünschenswert gewesen, wenn Jäger offengelegt hätte, welchem konkreten Ansatz und welcher Methodik genau er sich verpflichtet fühlt. Lediglich die grobe Schulrichtung der allgemeinen Linguistik, der er sich zugehörig fühlt, kennzeichnet er als die de Saussures (vgl. JÄGER, Briefanalysen, 46). 16
Vgl. JÄGER, Briefanalysen, 25-30. Vgl. a.a.O., 25. 18 Aus der ersten Analysedurchführung (vgl. JÄGER, Briefanalysen, Kap. 2.2. [4865]) läßt sich ermitteln, daß er Komparative sowie kurze Sätze als Indiz eines affektivemotionalen Stiles, Hypotaxen als das eines argumentativ-intellektualen Stiles wertet. Warum ein Befund zu einem bestimmten Schluß führt, bleibt jedoch offen. Erst die Schlußbetrachtung (vgl. a.a.O., 337-343, besonders 341) wirkt erhellend, dort werden systematisch die Befunde und die daraus gezogenen Schlüsse aufgeführt. Hier ist auch zu lesen, welche Größen, nämlich Brieflänge, Satzlänge, Wortarten und Wortschatz, im einzelnen untersucht worden sind. Ebenso vermißt man eine Darstellung über den Weg des Schluß Verfahrens: Bestimmte Befunde geben den Hinweis auf einen bestimmten Stil, dieser wiederum gibt Hinweise auf eine bestimmte psychische Verfassung, in der ein Text verfaßt wurde. Primär dient Jäger also die Quantitative Linguistik dazu, den Stil eines Textes zu ermitteln. Quantitative Linguistik vermag ein Instrumentarium zur komparativen Erfassung unterschiedlicher Sprachstrukturen, sei es in unterschiedlichen Sprachen oder in ein und derselben Sprache über längere Zeiträume hinweg, zur Verfügung zu stellen. Zur Bestimmung des Stiles ist diese Untersuchungsmethode aber weniger geeignet. 17
1. Methodische Vorüberlegungen
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ob für die Briefanalyse die Quantitative Linguistik tatsächlich von so großem Nutzen ist19. Die Untersuchung Ludolphs20 widmet sich den sogenannten Paradebriefen des Plinius. Sein Ziel ist es, an die Stelle bisher geleisteter psychologisch-biographischer Betrachtungsweise eine literaturwissenschaftlich orientierte Analyse der plinianischen Selbstdarstellung zu setzen21. Der erste Teil der Untersuchung legt ausfuhrlich das vom Verfasser herangezogene methodische Instrumentarium dar, während der zweite Teil in chronologischer Vorgehensweise eine extensive Analyse der herangezogenen Briefe bietet. Auf die ausfuhrliche, sehr sorgfältige Textanalyse soll hier nicht weiter eingegangen werden. Methodisch ruht Ludolphs Ansatz auf zwei Säulen: Er bestimmt einerseits seinen gattungstheoretischen Ansatz und verortet ihn im Panorama brieftheoretischer Forschung. Zum anderen stellt er kommunikationstheoretische Ansätze vor, mittels derer er versuchen will, die briefliche Kommunikation als spezifische Form der Interaktion zu fassen. Seinen brieftheoretischen Ansatz entwickelt Ludolph in der Folge der Definition von Sykutris. Er hält, wie auch Sykutris in seinem Artikel zur Epistolographie, an der Unterscheidung von Gebrauchsbrief und Literarischem Brief fest, wobei er als Unterscheidungskriterium das der Verfasserintention postuliert. Es gilt ihm also die Frage, ob ein Brief nur für den Adressaten oder aber für eine uneingeschränkte Leserschaft bestimmt ist, als Indiz für die Zuordnung der Briefe 22 . Die Briefe des Plinius als solche, die mit einer weiteren Leser-
19 Eine grundsätzliche Anfrage habe ich an die Fragestellung der Arbeit überhaupt: Ist es tatsächlich hilfreich, ja, ist es überhaupt möglich, der psychischen Verfassung einer Person, von der uns rein historisch ein so großer Abstand trennt, auf die Spur zu kommen? Müssen psychologische Analysen historischer Personen nicht zwangsläufig Gefahr laufen, anachronistisch zu werden? So halte ich bei dieser Untersuchung nicht nur die Methode, sondern auch die Leitfrage für problematisch. 20 Vgl. M. LUDOLPH, Epistolographie und Selbstdarstellung. Untersuchungen zu den 'Paradebriefen' Plinius des Jüngeren, Classica Monacensia 17, Tübingen 1997. 21 Vgl. a.a.O., 19. 22 Hier entfernt er sich allerdings von der Definition, die Sykutris bietet. Denn dieser beschreibt als Literarische Briefe nicht nur solche, die vom Autor für ein breites Publikum gedacht sind, sondern auch solche, die posthum veröffentlicht werden und so - möglicherweise gegen die eigentliche Intention des Verfassers - zu einer einem breiten Publikum zugänglichen Literatur werden, vgl. dazu Kap. 1.2.1. Ludolph macht durch einige Hinweise deutlich, daß er die Ansätze Koskenniemis und vor allem Thraedes auch zu Rate gezogen hat. Es drängt sich daher die Frage auf, warum er bei der alten Unterscheidung von Sykutris zwischen Literarischem Brief und Gebrauchsbrief überhaupt stehen bleibt. Diese Unterscheidung ist spätestens seit Thraede zumindest fraglich geworden. Dieser hat in großer Klarheit vorgeführt, daß die Gattung des Briefes beide Komponenten in sich trug, sowohl Gebrauchscharakter als auch literarischen Charakter hatte. In der Analyse ist also sowohl der rhetorischen
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
schaft rechnen, zählt er zu den Literarischen Briefen und schließt daraus, sie müßten als literarische Texte behandelt werden23. Daraus ergibt sich für ihn offenbar die Konsequenz, daß in der Analyse alle Gattungsspezifica außer Acht zu lassen seien. Das ist jedoch eine problematische Konsequenz aus der sicher richtigen Erkenntnis, daß die Texte literarisch stilisiert sind. Gerade wenn sie einem so intensiven literarischen Formungsprozeß unterliegen, ist doch zu fragen, warum sich Plinius für die Briefform entschieden hat, ja, welche Funktion diese Gattung, gerade auch im Sinne einer „Selbststilisierung", für ihn hat. Des weiteren fuhrt Ludolph das Identitätsbestimmungsmodell Goffmans vor, das durch das Kommunikationsmodell Bühlers ergänzt wird. Hinsichtlich der Darstellung des Modelles ist zu kritisieren, daß Ludolph das Goffmansche Modell weitgehend auf die Aussage, daß Kommunikationspartner eine Situation in ihrem je eigenen Sinne definieren wollen, reduziert, und damit der Komplexität dieses Modelles nicht ganz gerecht wird. Hinsichtlich der Verwendung des Modelles bleibt unklar, wo Ludolph die verknüpfenden Punkte dieses Modelles mit dem Briefwerk des Plinius sieht. Nachdem er oben die Briefe als Literarische Briefe bestimmt hat24, sagt er nun, die plinianischen Briefe ähnelten Gebrauchsbriefen, darum könne man das auf Alltagskommunikation bezogene Instrumentarium auch auf sie anwenden25. Wie diese Anwendung konkret geschehen soll, wo genau die Berührungspunkte und zu erwartenden Erträge liegen, bleibt sowohl in den methodischen Vorüberlegungen als auch in der Analyse offen. Der interpretatorische Ertrag der Arbeit, nämlich das Aufzeigen des plinianischen Verfahrens, seinen Ruhm bei der Leserschaft zu mehren, ohne sich den Vorwurf der laudatio sui gefallen lassen zu müssen, basiert ausschließlich auf einer Analyse der rhetorischen Elemente im Text. 1.2. Methodik Welche Schlüsse lassen sich nun für unsere eigene Untersuchung aus dem Panorama altphilologischer Briefanalyse ziehen? Der knappe Durchgang durch diese Entwürfe von altphilologischer Seite zeigt bei aller Unterschiedlichkeit der Herangehensweisen doch eine Gemeinsamkeit in der Fragestellung. Alle Entwürfe sind vor allem der Leitfrage nach dem Inhalt der Briefe verpflichtet und interessieren sich besonders für den daraus zu gewinnenden Ertrag für das Persönlichkeitsbild des jeweiligen Briefschreibers. Je nach Ansatz des Wissenschaftlers geht es dabei um ein Psychogramm, ein Stimmungsbild oder die Konsequenzen, die eine bestimmte Lebenssituation auf die inhaltliche Gestaltung der Briefe hat. Die durchgängig Stilisierung wie der aktuellen Ausrichtung auf einen spezifischen Adressaten und eine spezifische Situation Rechnung zu tragen, vgl. hierzu die Kapitel 1.2.1. und 1.2.2. 23 Vgl. a.a.O., 28. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. a.a.O., 30.
1. Methodische Vorüberlegungen
131
festgestellte Leitfrage unterscheidet sich also von der hier zu untersuchenden: In dieser Arbeit soll es nicht vorrangig um die Person des Hieronymus gehen, wie sie in ihrer psychischen Verfaßtheit möglicherweise in den Quellen greifbar werden könnte, sondern in erster Linie um seine Briefe als Teile einer spezifischen literarischen Gattung. Die Inhaltsfrage soll in dieser Arbeit nur insofern zum Tragen kommen, als sie relevant sein kann fiir das Verständnis des argumentativen Duktus. Die Inhalte der Briefe hingegen, Exegese, Dogmatik, Lebensführungsfragen und Kirchenpolitik, sind nicht Gegenstand der Fragestellung. Ebenso wird auch die Person des Hieronymus nur insofern gekennzeichnet werden, als er als Korrespondenzpartner gegenüber seinem Adressaten eine bestimmte Rolle einnimmt26. Die Untersuchung dieser jeweiligen Rolle ist von Relevanz für seine Kennzeichnung als Briefschreiber. Doch geht es auch dabei nicht darum, ein „Psychogramm" zu zeichnen, sondern es kann höchstens betrachtet werden, in welcher Rolle er sich geriert, wie er sich stilisiert. Es soll keine Aussage darüber getroffen werden, wie Hieronymus ist, sondern es geht darum zu untersuchen, wie er sich präsentiert, welches Bild von sich er seinen Korrespondenzpartnern suggerieren möchte. Wie verhält es sich mit den angewendeten Untersuchungsmethoden? Die Stilanalyse ist sicher ein notwendiger und zentraler Schritt in der Briefanalyse. Die rhetorische Ausgestaltung eines Textes, die Wahl einer Stilhöhe, läßt auf die Intention des Verfassers schließen, auf seine Wahl einer bestimmten Textgattung und nicht zuletzt - vor allem bei Briefen - auf die Beziehung, die der Verfasser zwischen sich selbst und dem Adressaten annimmt oder postuliert. Wie oben bereits diskutiert, bietet sich m.E. der von Jäger gewählte Weg, die Quantitative Linguistik, gerade nicht für Bestimmung der Stiloder Sprachebene eines Briefes an. Hierzu bieten vielmehr die einschlägigen
26 M.E. ist hier der Begriff der „Rolleneinnahme" dem der „Selbststilisierung" oder „Selbstdarstellung" vorzuziehen, wiewohl sich letztere in der altphilologischen Literaturwissenschaft zu etablieren beginnen (vgl. z.B. LUDOLPH, Epistolographie und Selbstdarstellung). Ersterer bringt zum einen die Flexibilität der Funktion zum Ausdruck: Eine Rolle hat dynamischen Charakter und impliziert die situative Anbindung. Zum zweiten ist der Begriff Rolle stärker als die Begriffe Darstellung und Stilisierung auf ein Gegenüber ausgerichtet und trifft daher die Kommunikationssituation im Briefwechsel besser (vgl. dazu z.B. die Rollentheorien nach T.P. Parsons, etwa in der Darstellung nach K.-J. TILLMAN, Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung, Reinbek/Hamburg 1989, 108-129). Vgl. dazu auch die Rezeption des Rollenbegriffes in der Brieftheorie der germanistischen Literaturwissenschaft, wie sie beispielsweise bei R. NICKISCH, Art. Brief, in: Ricklefs, U. (Hg.), Das Fischer Lexikon Literatur, Frankfurt/Main 1996, Bd. I, (321335) 321, zum Ausdruck kommt.
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Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
Rhetoriken von Cicero 27 und Quintilian28 das weiterfuhrendere Instrumentarium29. Sich zur Analyse an der Kodifikation des antiken rhetorischen Regelwerks zu orientieren legt sich deshalb nahe, weil dieses den antiken Verfassern bekannt war und von ihnen benutzt wurde. Ertragreich scheint mir die Integration kommunikationstheoretischer Entwürfe zu sein, wie es auch bei Ludolph ansatzweise geschieht. Die komplexen Diskussionen um das Verständnis der Gattung „Brief' als solcher zeigen30, daß die Frage nach dem Charakter der Kommunikationssituation noch nicht ganz geklärt ist und das Verhältnis von „echter" Kommunikation und Brief nicht eindeutig ist31. „Schriftliche Kommunikation" als schriftliche Form von Interaktion begreife ich dann als eine solche, wenn sie sich hinsichtlich ihrer Bedingung von einer mündlichen Kommunikation unterscheidet. Diese Bedingung ist die lokale Trennung der Interaktionspartner und als spezifische Konsequenz für die Interaktion der brieftypische Phasenverzug32. Dieser phasenverzögerte Dialog von Getrennten wird als echter Briefwechsel und damit als echte Kommunikation begriffen33. Schriftliche Kommunikation kann sich allerdings auch in einer Mischform von solch „echter" Kommunikation und literarischer Veröffentlichung manifestieren. Hierbei wird die Kommunikation im Blick auf ihre Veröffentlichung verschriftlicht, vor der Veröffentlichung einer Überarbeitung unterzogen oder es handelt sich um einen teilfingierten Briefwechsel34. Auch diese Formen des Briefwechsels lassen Spuren von Kommunikation erkennen. 27 Vgl. C I C E R O , De oratorelCicéron, De l'orateur, Livres I-III, Texte établi et traduit par E. Courbaud, CUFr, Paris 1950/1961, Bde. I/II. 28 Vgl. Q U I N T I L I A N , Institutionis Oratoriae Libri XII, ed. L. Radermacher, addenda et corrigenda collegit et adiecit V. Buchheit, BiTeu, Leipzig 1959, Bde. I/II. 29 Vgl. dazu auch die Zusammenstellung bei M . F U H R M A N N , Die antike Rhetorik. Eine Einführung, Zürich 4 1 9 9 5 , und J. M A R T I N , Antike Rhetorik. Technik und Methode, HAW II/3, München 1974. 30 Vgl. hierzu die Nachzeichnung der Diskussion und die Bestimmungsversuche in Kap. 1.2. dieser Arbeit. 31 Eben aufgrund dieser ungeklärten Situation kommt es in den Arbeiten, die die Anwendung jener Modelle versuchen, zu solchen Situationen, daß der Bestimmung der Gattung als einer rein literarischen, fernab jeder aktuellen Kommunikationssituation, plötzlich die Nähe zum Gespräch attribuiert werden muß. Der stereotype Hinweis auf Demetrios und seine Rede von der Hälfte des Dialoges (vgl. auch Kap. 1.1.2.) vermag nicht zu verschleiern, daß hier versucht wird, die Gegensätze von Definitionen zu nivellieren. Ganz abgesehen davon müßte erst einmal erwiesen werden, ob der jeweilige Autor das Briefverständnis des Demetrios teilt. 32 33
Vgl. dazu Kap. 1.2.3. Dieses Verständnis deckt sich mit den Ansätzen von
NICKISCH,
Brief,
9-12,
und
REED, Epistle, 172. 34 In einigen Briefen des Hieronymus ist ein teilfingierter Briefwechsel zu erkennen, d.h. es ist damit zu rechnen, daß die Fragebriefe der Korrespondenzpartner mögli-
1. Methodische Vorüberlegungen
133
Begreift man dementsprechend die briefliche Kommunikation grundsätzlich als spezifische Form der Interaktion, so lassen sich kommunikationstheoretische Erkenntnisse darauf anwenden 35 . Gewiß kann man kommunikationstheoretische Modelle nicht unmittelbar auf die Briefanalyse übertragen36. Ihr Beitrag besteht vielmehr, wie auch bei der Rezeption psychologischer und soziologischer Modelle, in der Hilfestellung zur Entwicklung von Fragekriterien. M E. ist das Modell, das Schulz von Thun 37 entwickelt hat, besonders geeignet, um Fragekriterien zur Analyse von Briefen zu entwickeln. Es integriert die Ansätze Alfred Adlers 38 und Ruth Cohns 39 und macht sich damit deren Praxisbezug und Problemorientierung zu eigen 40 . Das Modell Schulz von Thuns zeigt in seiner Grundstruktur eine Abhängigkeit vom einlinigen Sender-Empfänger-Modell Bühlers und von den Axiomen Watzlawicks 41 . Er nennt die Interaktionspartner auch Sender und Empfänger, cherweise fiktiv sind. Doch auch hier liegen m.E. Spuren schriftlicher Kommunikation vor, indem ja die „Hälfte des Dialoges" vorhanden ist und diese sich real an einen oder mehrere Kommunikationspartner richtet. 35 Dafür votiert entschieden THRAEDE, Gebrauchstext, 182, der den Brief grundsätzlich als kommunikative Handlung begreift. 36 Solche Einschränkungen sind vor allem im Hinblick auf die Mischform von Briefen aus aktueller Kommunikation und veröffentlichungsorientierter Verschriftlichung, die ja bei den antiken Briefen vorzugsweise vorliegt, zu machen. Kommunikationstheoretische Modelle sind auf solche Briefe nicht unmittelbar anzuwenden, sondern es müssen neben der Sender-Empfänger-Beziehung auch der Blick auf das weitere Lesepublikum und auf Intentionen, die über die unmittelbar vorliegende Kommunikationssituation hinausgehen, berücksichtigt werden. 37 Vgl. F. SCHULZ VON THUN, Miteinander Reden 1. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Hamburg 1981. 38 Vgl. A. ADLER, Menschenkenntnis, Frankfurt/Main 1966, und ders., Individualpsychologie in der Schule, Frankfurt/Main 1976. 39 Vgl. R. COHN, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion, Stuttgart 1975. 40 Thraede legt in seinem Aufsatz zur antiken Gattung Brief auch verschiedene Kommunikationsmodelle zur Entwicklung von Analysekriterien vor. Er bezieht sich mit Coseriu noch auf Bühlers Sender-Empfanger-Modell (THRAEDE, Gebrauchstext, 182), streicht dabei aber die Nähe zu Watzlawicks Axiomen heraus. Thraede muß das Modell durch eigene Überlegungen und den Rückgriff auf neuere Kommunikationstheorien ergänzen. Er erweitert den Informationsbegriff, streicht den Sender-, Empfänger- und Inhaltsbezug des Briefes heraus und beschreibt den Partnerbezug als geprägt von Appell, Befehl, Wunsch oder Überredung (vgl. dazu im einzelnen Kap. 1.2.3.). Diese Ergänzungen sind im Modell des Schulz von Thun vorgenommen, so daß man Thraede folgen kann, indem man Schulz von Thun als Kommunikationsmodell zugrunde legt. 41 Vgl. K. BÜHLER, Sprachtheorie, Jena 1934. Bühler spricht von den drei Aspekten der Sprache. Dessen Rede von der „Darstellung" entspricht der Schulz von Thunschen
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Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
behält allerdings die Reziprozität der Interaktion und damit den Rollentausch der Kommunikationspartner im Blick. Das Modell gewinnt bei ihm an Mehrperspektivigkeit durch die Konzentration auf die Beschaffenheit einer Nachricht. Dieses Zentrum seiner Überlegungen nennt er bewußt nicht „Information", wie dies noch die älteren Ansätze taten, um den Eindruck einer einseitigen Sachorientierung zu vermeiden. Er betrachtet nun die „vier Seiten einer Nachricht" und spricht von Sachseite, Selbstoffenbarungsseite, Beziehungsseite und Appellseite42. Unter der Sachseite einer Nachricht versteht Schulz von Thun deren Sachinformation43. Die Selbstoffenbarungsseite einer Nachricht umfaßt für ihn sowohl die gewollte Selbstdarstellung als auch die unfreiwillige Selbstenthüllung44. Schulz von Thun ergänzend ist m.E. präzisierend hinzuzufügen, daß die Selbstdarstellung oder Selbststilisierung primär am Kommunikationspartner orientiert ist und nicht unbedingt ein Zusammenhang zum Selbstkonzept des Senders hergestellt werden kann. Es geht darum, was der Sender den Empfänger von sich glauben machen möchte. Zur „unfreiwilligen Selbstenthüllung" ist hinzuzufügen, daß auch eine freiwillige Selbstenthüllung vorstellbar ist, die mit Schulz von Thun als authentische Kommunikation bezeichnet werden kann. Es geht darum, was der Sender, unfreiwillig oder freiwillig, von sich preisgibt. Die Beziehungsseite einer Nachricht zeigt zwei Aspekte45. Zum einen gibt sie Aufschluß darüber, wie der Sender seine Beziehung zum Empfänger definiert. Zum anderen geht daraus hervor, welches Bild der Sender vom Empfänger hat46. Sachseite, die Rede vom „Ausdruck" der Selbstoffenbarungsseite. Bühler kennt auch den Appell. Die Rede von der Beziehungsseite gewinnt erst mit den Axiomen Watzlawicks in der Kommunikationstheorie an Relevanz. Watzlawick (vgl. P. WATZLAWICK/J.H. B E A V I N / D . D . JACKSON, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern u.a. 6 1982) unterscheidet Inhalts- und Beziehungsaspekt. Der Inhaltsaspekt entspricht der Schulz von Thunschen Appellseite, der Beziehungsaspekt allen drei anderen Seiten der Nachricht nach Schulz von Thun. So ist es Schulz von Thuns Verdienst, diese entscheidenden kommunikationstheoretischen Modelle kompiliert zu haben und durch die kleinteiligere Betrachtungsweise gegenüber Watzlawick größere Durchsichtigkeit und Präzision in der Kommunikationsanalyse zu ermöglichen. 42
Vgl. SCHULZ VON THUN, Miteinander Reden 1, 23-43.
43
Vgl. a.a.O., 26.
44
Vgl. a.a.O., 26f. 45 Vgl. a.a.O., 27-29. 46 Im Hinblick auf die Beziehungsebene ist die objektive Beziehung zweier Kommunikationspartner, deren Dienstverhältnis oder deren gesellschaftliches Rangverhältnis sowie persönliche Abhängigkeiten, Altersgefälle und Geschlechterdifferenz mit einzubeziehen (hierarchische, symmetrische oder komplementäre Beziehung). Dieses aktuelle Moment berücksichtigt Schulz von Thun zwar, nicht jedoch die Geschichte, die eine Beziehung zweier Interaktionspartner prägt, also vorangegangene positive oder
1. Methodische
Vorüberlegungen
135
D i e Appellseite 4 7 einer Nachricht zeigt, zu welcher Handlung oder Emotion der Sender den Empfänger offen oder verdeckt veranlassen will und fuhrt damit die Funktionsorientierung einer Nachricht vor 4 8 . Schulz v o n Thun weist darauf hin, daß die drei anderen Nachrichtenaspekte oft fiinktionalisiert und in den Dienst der Appellseite gestellt werden. Aus diesem grundlegenden Modell der Struktur v o n Kommunikation erfolgen für Schulz v o n Thun Konsequenzen für das Interaktionsverhalten mit dem Ziel der Vermeidung v o n Kommunikationsstörungen und dem Aufbau einer gelingenden Kommunikation. S o müsse der Empfänger die vier zentralen Aspekte einer Nachricht bei ihrer Rezeption im Blick haben, um nicht einseitig zu hören und dabei zentrale Punkte der Botschaft zu übersehen 49 . M.E. gilt es, dieses Modell durch einige Aspekte aus der Sicht der Sozialpsychologie zu ergänzen 5 0 . So spielt in der kommunikationstheoretischen Perspektive die Betrachtung der Situation, die durch die Interdependenz von Sprache und Kultur geprägt ist, kaum eine Rolle 5 1 .
negative, verbindende oder trennende Erlebnisse, gelungene oder mißlungende Interaktionssequenzen. Schulz von Thun geht auch nur von der Kommunikation zweier Interaktionspartner aus und berücksichtigt nicht, daß Nachrichten auch an eine Gruppe gerichtet sein können. Daraus können sich ganz eigene Probleme ergeben (unterschiedliche Beziehungen zu einzelnen Gliedern der Gruppe). Dieser Aspekt ist für unsere Betrachtung der hieronymianischen Briefe insofern von Relevanz, als wir es ja mit einem Adressatenkreis zu tun haben, der in vielen Fällen über den unmittelbar angesprochenen Adressaten hinausgeht (vgl. dazu Kap. 3.3.6 ). 47
Zum Appellbegriff vgl. auch W. ISER, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanzer Universitätsreden 28, Konstanz 3 1972. 48
49
V g l . SCHULZ VON THUN, M i t e i n a n d e r R e d e n , 2 9 f .
Der Ansatz Schulz von Thuns ist praxis- und problemorientiert. Deshalb ist sein zentrales Anliegen neben dem Beschreiben seines Modells auch das des Aufzeigens möglicher Gründe für Kommunikationsstörungen. Diese sind freilich im Zusammenhang unserer Fragestellung von weniger zentraler Bedeutung. Die Kritik, die an dem Modell Schulz von Thuns zu üben ist, bezieht sich vor allem auf die verbale Kommunikation und ist daher für unsere Fragestellung von untergeordneter Relevanz. So ist zu kritisieren, daß Schulz von Thun in seine Überlegungen nonverbale und paraverbale Signale nur in marginaler Weise mit einbezieht. 50 Vgl. beispielsweise J.P. FORGAS, Soziale Interaktion und Kommunikation. Eine Einführung in die Sozialpsychologie, Weinheim 1992, darin besonders 106-125. 51 Hierzu gehört die Aufmerksamkeit gegenüber kulturellen Normen und spezifischen Interaktionsformen, wie zum Beispiel Riten, und die Aufmerksamkeit gegenüber kontextgebundenem sozialem Wissen. Dies gilt es besonders im Blick auf den Brief zu berücksichtigen, der ja trotz aller formaler Freiheiten bestimmten Gattungsnormen unterliegt. Allein die Situation der Schriftlichkeit, des Phasenverzugs, der Dauerhaftigkeit der Äußerung ist ja schon kommunikationsprägend.
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Dieses Modell der Kommunikationstheorie bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Kriterien zur Analyse von brieflicher Kommunikation. Die Frage nach der Sachseite eines Briefes ist die nach des Hieronymus Standpunkten in bestimmten Sachfragen. Im Hinblick auf Lebensfuhrungsfragen sowie auf dogmatische, exegetische und kirchenpolitische Fragen ist seine Auffassung zu ermitteln. Die Frage nach der Sachebene ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil sich nach der Bestimmung der Sachseite Durchsetzungsund Argumentationsstrategien klarer erkennen lassen. Die Frage nach dem Aspekt der Selbstoffenbarung ist für die Analyse von Briefen ein zentraler Punkt. Dieser Aspekt entfaltet sich in zwei Perspektiven. Zunächst kann gefragt werden, was der Autor von sich preisgibt, was man über Person und Charakter des Autors erfährt. Auf diese Frage der Selbstenthüllung, die nicht unsere primäre ist, zielt das Interesse des Historikers ab, der dem „historischen Hieronymus" auf die Spur kommen will. Die Frage nach der Selbstoffenbarung beinhaltet neben dem Aspekt der Selbstenthüllung auch den der Selbststilisierung bzw. nach unserer Terminologie den der Rolleneinnahme52. Welches Bild von sich baut Hieronymus für das Lesepublikum auf, was will er sein Gegenüber von sich glauben machen? Auch hier findet der Historiker Antwort auf die Frage nach dem Charakter von Hieronymus, wenn er nämlich die Frage danach stellt, wie der Kirchenvater sich selbst sieht und wie er gesehen werden will. Die Frage nach der Selbststilisierung gibt auch eine erste Auskunft über den Beziehungsaspekt: Was Hieronymus den anderen von sich glauben machen möchte, zeigt, wie er den anderen sieht. Die Frage nach der Beziehungsseite von Verfasser und Adressat wirft mehrere Fragekomplexe auf. Es geht hier um mehrere Beziehungsverständnisse. Man kann bei den Briefen zum einen nach der objektiven Beziehung der Kommunikationspartner fragen: Liegen im Hinblick auf gesellschaftliche Position, soziale Stellung, Dienstverhältnis, Bildung, Geschlecht und Alter hierarchische, komplementäre oder symmetrische Verhältnisse vor? Blickt die jeweilige Beziehung auf eine negative, positive oder neutrale Geschichte zurück? Daneben steht die Frage nach der subjektiv wahrgenommenen oder postulierten Beziehung: Welche Rolle nimmt Hieronymus ein, welche Rolle attribuiert er seinem Gegenüber? Widersprechen sich möglicherweise objektive und subjektive Beziehung?
52
Die Selbststilisierung des Hieronymus in seinen Schriften ist Gegenstand der Untersuchung Vesseys, der allerdings nicht die jeweils aktuelle, sich im Zusammenhang der Kommunikationssituation ändernde Stilisierung im Blick hat, sondern durchgängig der Stilisierung des Hieronymus als alter Origenes nachspürt (vgl. M. VESSEY, Jerome's Origen: The Making of a Christian Literary Person, StPatr 28, 1993, 135-145).
1. Methodische
Vorüberlegungen
137
Verbunden mit diesen beiden Aspekten der Beziehung ist die Frage nach dem Bild, das Hieronymus von seinem Adressaten hat und das sich auch in der dem Adressaten attribuierten Rolle zeigt. Im Zusammenhang des Beziehungsaspektes gilt es auch, nach des Hieronymus Beziehung zur mitangesprochenen Gruppe, dem weiteren Lesepublikum, und der Auffassung, die er von dieser Gruppe hat, zu fragen. Hier ist auch das Verhältnis von der Intention gegenüber dem persönlichen Adressaten des Briefes und der Intention gegenüber dem weiteren Lesepublikum zu analysieren. Wenn in einigen Briefen zwei Beziehungen (Hieronymus - persönlicher Adressat; Hieronymus - weiteres Lesepublikum) vorgeführt werden, lassen sich die Fragen an die Beziehungsaspekte doppelt stellen, an eine primäre und an eine sekundäre Kommunikation. Wichtige Frageimpulse bietet auch der Appellcharakter von Kommunikation. Wozu möchte der Briefschreiber den Adressaten veranlassen? Hierbei wird es nicht in erster Linie um die Aufforderung zu konkreten Handlungen gehen. Vielmehr stellt sich die Frage, was der Leser des Briefes vom Briefgegenstand glauben und denken soll, zu welcher Meinung er vom Verfasser veranlaßt werden soll. Daneben steht die Frage, zu welcher Haltung gegenüber Hieronymus er veranlaßt werden soll, welches Bild von Hieronymus er entwickeln soll (Lehrer, kompetenter Exeget, treuer Gefolgsmann etc.). Auf der Appellseite stellt sich also die Frage nach der Intention des Verfassers. Zur Analyse der kommunikativen Aspekte sind vor allem der von Hieronymus gewählte Briefgegenstand (z.B. wissenschaftliche Erörterungen, private Anekdoten), die Anredeformen und der Tonfall (z.B. belehrend, ehrerbietig, freundschaftlich) sowie die Argumentationsstruktur zu untersuchen. Im Dienst dieser Untersuchung steht die Analyse der rhetorischen und stilistischen Gestaltung der Briefe sowie deren Aufbau und Struktur. Besonders die Untersuchung der Struktur der Briefe hat sich in der Analyse als fruchtbar erwiesen. Daher sind die Einzelanalysen auch in ihrem Aufbau an der jeweiligen Textstruktur orientiert. Um jedoch die Struktur deutlich machen zu können, wird es an einigen Stellen notwendig sein, die inhaltliche Argumentation ausführlicher nachzuzeichnen, als es für die Analyse der kommunikativen Aspekte allein erforderlich wäre; in der Regel werden daher den Teilkapiteln knappe Inhaltsangaben vorangestellt. Neben den vier Ebenen der Kommunikationstheorie sind bei der Analyse rituelle und kulturelle Gegebenheiten zu berücksichtigen. Diese äußern sich beim Brief vor allem in der Umsetzung formaler Konvention: Aufbau, formale Gestaltung, Gliederung, Gestaltung von Anfang und Schluß (Grußformeln, Gesundheits-/Segenswünsche) und Topik. 1.3. Textauswahl Die Analyse der Briefe kann aufgrund des Umfanges des Briefcorpus nur exemplarisch vorgenommen werden. Mir schien es sinnvoll zu sein, solche
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Briefe auszuwählen, die einen Eindruck der großen Vielfalt der hieronymianischen Briefe zu vermitteln in der Lage sind. Das Briefcorpus vereint Briefe sehr unterschiedlichen Charakters. Briefe, die an gesellschaftlich und kirchenpolitisch hochrangige Persönlichkeiten gerichtet sind, sind in Stil, Form und Inhalt grundsätzlich unterschieden von solchen, die an enge Freunde oder an die weiblichen Bekannten des Kirchenvaters gerichtet sind. Ebenso unterscheiden sich nüchterne exegetische Abhandlungen in Stil und Sprache maßgeblich von Briefen, in denen Hieronymus mit großem Eifer zu dogmatischen oder ethischen Gegenständen Stellung bezieht. Daneben stehen die eifernden und polemischen Briefe, in denen der Kirchenvater sich vor der Aufgabe sieht, sich für kirchenpolitische oder dogmatische Äußerungen zu rechtfertigen und um seine Akzeptanz zu kämpfen. Bei der Entscheidung, welche Briefe Gegenstand der Einzelanalyse werden sollen, gilt es, sich darüber klar zu werden, welche Briefgruppen überhaupt auftreten. Will man ein möglichst breites Spektrum der unterschiedlichen Briefe erfassen, so müssen jeweils Briefe aus den unterschiedlichen Briefgruppen zur Analyse ausgewählt werden. Es gibt nur wenige Versuche, die hieronymianisehen Briefe zu klassifizieren. In der deutschen Auswahlausgabe differenziert Schade innerhalb der Briefbände in: I. Briefe familiären Charakters; II. Aszetische Briefe, a) Über die kirchlichen Stände und ihre Aszese, b) Mahnbriefe, c) Pädagogische Briefe, d) Trostbriefe; III. Polemisch-apologetische Briefe, a) Polemische und apologetische Briefe in eigener Sache, b) Briefe, die zum Kampfe gegen die Irrlehre auffordern, c) Briefe apologetisch-dogmatischen Inhaltes; IV. Briefe wissenschaftlichen Inhaltes, a) Didaktische Briefe, b) Exegetische Briefe; V. Briefe kirchenrechtlichen und pastoralen Inhaltes; VI. Die Briefe an Theophilus von Alexandrien; VII. Die Briefe an Augustinus von Hippo.53
Zusätzlich nimmt er in den Band mit wissenschaftlichen Texten des Kirchenvaters 54 noch einige Nekrologe auf, die auch in Briefform abgefaßt sind. Diese Einteilung von Schade hat sich als folgenreich erwiesen, sie wurde - wenn auch geringfügig modifiziert - immer wieder rezipiert und nicht weiter diskutiert. Dies erstaunt angesichts der Tatsache, daß es sich um eine Einteilung handelt, die unterschiedlichste Kriterien mischt. Bestimmt sich das Kapitel I aus der innerbrieflichen Gattung 55 , so orientiert sich die Einteilung der Kapitel II-V am jeweiligen Inhalt der Briefe. Kapitel VI und VII wiederum stellen eigene, herausgehobene Gruppen dar, indem in ihnen die Briefe an je einen bestimmten Adressaten zusammengefaßt sind. Eine weitere Gruppe bildet die der Nekro-
53
Vgl. SCHADE, Hieronymus II.
54
Vgl. SCHADE, Hieronymus I.
55
Es handelt sich schließlich nicht um Briefe an Familienmitglieder, sondern um Briefe familiären Charakters. Hier klingt die ciceronische Definition von der epistula familiaris an, die einen Brief alltäglicheren Inhaltes in schlichter Sprache meint (vgl. Kap. 1.1.2.).
1. Methodische Vorüberlegungen
139
löge, die, ähnlich wie die der Briefe familiären Charakters, an einer Gattungsbestimmung orientiert ist 56 . Diese disparaten Kriterien vermögen zwar ein Raster zu schaffen, mittels dessen sich alle hieronymianischen Briefe einordnen lassen, ein logisches Schema hingegen bilden sie nicht. Feichtinger zeigt sich der Problematik einer Einteilung bewußt, wenn sie schreibt: Es müßte nicht nur bedacht werden, daß die meisten Briefe mehr als eine Funktion haben und ein vieldimensionales Mischprodukt (aus Elementen der Freundeswerbung, der Selbstdarstellung, der Informationsvermittlung, des Trostes, der Trauerbezeugung, der Schmeichelei, der Apologie, der Einladung oder Adhortation, der Ermahnung usw.) sind, sondern es wäre auch eine sorgfaltige Differenzierung zwischen Oberflächen- und Tiefenfunktion notwendig.57 Sie versucht dennoch, gewissermaßen unter methodischem Vorbehalt, eine solche Einteilung. Feichtinger differenziert Begleitschreiben zu den Streitschriften; Briefe, die unabhängig von den Streitschriften weitere Konflikte um des Kirchenvaters Askeseideal thematisieren; Briefe, die sich wissenschaftlichtheologischen Themen widmen; Briefe, die dem antiken Bereich amicitia zuzuordnen sind (Freundschaftsbriefe im engeren Sinne aus der vorrömischen Zeit und adhortationes zu einem asketischen Leben als Freundschaftsbriefe im weiteren Sinne); schließlich Konsolationsbriefe und panegyrische Briefe auf lebende Asketinnen 58 . Es ist also ersichtlich, daß ihr leitendes Differenzierungskriterium das der Thematik der Briefe ist. Klarer als bei Schade wird hier der Befund, daß sich im Corpus eine Gruppe von Briefen findet, die sich gegen die Einteilung in unterschiedliche inhaltliche Ausrichtungen sperrt, eben weil diese Briefe nicht wirklich ein inhaltliches Thema zum Gegenstand haben, sondern deren Zweck die Bekundung und Aufrechterhaltung von amicitia ist 59 . 56 Hieronymus kleidet klassische Nekrologe in Briefform. Insofern ist es konsequent von Schade, diese „Briefe" gesondert zu behandeln und aus den Briefbänden herauszunehmen. Das Gattungsverhältnis von Nekrologen zu Briefen ist ein eigenes, im Zusammenhang der hieronymianischen Briefe noch nicht erschöpfend behandeltes Thema. 57
58
FEICHTINGER, Apostolae, 25f. Anm. 4.
Vgl. a.a.O., 26-30. Nach Ansicht Feichtingers zählen dazu die Briefe 2; 3; 4; 5; 6; 7; 8; 9; 10; 11; 12 und auch 68 und 76 (vgl. FEICHTINGER, a.a.O., 28 Anm. 18). Marrou begreift als dem amicitia-Ideal verpflichtete Briefe, die ein Tribut an das „weltmännische Element der Verfallszeit" seien, die „Ansprüche der aristokratischen Gesellschaft bedienten" und sich als „Kunstbriefe" durch heiteren Ton, sorgsam gewählte Anfänge und gefeilten Stil auszeichneten, den ersten Teil der Briefe des Hieronymus, nämlich die Briefe 1-14 (vgl. H.-I. MARROU, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, übers, von L. Wirth-Poelchau u.a., Paderborn u.a. 21995, 86). Daß diese Briefe - ich stimme auch der Abgrenzung in dem von Marrou vorgeschlagenen Rahmen zu - gewissermaßen einen Fremdkörper im Briefcorpus bilden, ist offensichtlich. Die Zusammenfassung unseres 3. Kapitel sollte gezeigt haben, daß namentlich diese ersten Briefe der Briefsammlung 59
140
Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
Es stehen also in den beiden Entwürfen zwei Einteilungsprinzipien nebeneinander bzw. werden miteinander kompiliert: Zum einen die Einteilung nach inhaltlichen Fragen oder Themenbereichen (Exegese, Dogmatik, Kirchenpolitik, Lebensfiihrungsfragen), zum anderen die Einteilung nach antiken Textgattungen (Nekrolog, Konsolationsliteratur, Freundschaftsbrief). Beide Prinzipien haben ihre Nachteile. Die inhaltliche Einteilung mag auf den ersten Blick griffig erscheinen, doch fallen dann unter einen Themenbereich vollkommen unterschiedliche Briefe. So müßten beispielsweise im Bereich „Exegese" sowohl die Briefe an Papst Damasus als auch die an Marcella zusammengefaßt werden. Diese Briefe sind aber in Stil, Ton, Intention und Beziehung der Kommunikationspartner so unterschiedlich wie Briefe nur sein können. Es fragt sich also, ob das gemeinsame Thema ein so starkes verbindendes Element sein kann, daß die Unterschiedlichkeiten davon überwogen werden können. Die Einteilung nach antiken Textgattungen mag auf den ersten Blick reizvoll erscheinen, da es sich dabei um Kategorien handelt, die fernab jedes Anachronismus-Vorwurfes stehen, weil sie eben der Zeit des Abfassens der Texte selbst entstammen. Doch hier ergibt sich das Problem, daß sich längst nicht alle Briefe unter die zur Verfugung stehenden Kategorien subsumieren lassen, es sei denn, man weitete die Kategorie des „Freundschaftsbriefes" unzulässig weit aus auf alle dem privateren Umgang enstammenden Briefe und faßte alle im entferntesten mit sachlichen Fragen befaßten Briefe unter einer Sammelgattung „Wissenschaftliche Abhandlung in Briefform" zusammen60. Auch hier stellt sich wieder die Frage, ob eine solche, im einzelnen sehr vergröbernde Einteilung, dem Charakter der Briefe gerecht werden kann. Gerade wenn das Interesse an diesen Texten nicht nur klassifizierender oder allein inhaltlicher Natur ist, sollte m.E. schon bei der Einteilung der Briefe deren unterschiedlicher Charakter zum Tragen kommen. Es darf also nicht nur die Frage des Inhaltes oder der Nähe zu einer antiken Gattung berücksichtigt werden, sondern es sollte auch das Sprachniveau, die rhetorische Ausgestaltung, die Intention der Texte, ja, die Art und Weise, wie jeweils „Hieronymus als Briefschreiber" zu Tage tritt, berücksichtigt werden. Um diese Momente zu integrieren, scheint es mir dagegen ein vielversprechender Versuch zu sein, eine Einteilung nach Adressaten bzw. nach Adressatengruppen zu versuchen61. So bietet sich beispiels-
sich nen. läßt lern
durch eine klare Orientierung am antiken Ideal des Freundschaftsbriefes auszeichEbenfalls die Fülle der Belege für briefspezifische Topik aus den ersten Briefen darauf schließen, daß des Hieronymus formale Orientierung an antiken Briefsteldie eigene inhaltliche Gestaltung noch überwog.
60
Vgl. zu dieser Art der Einteilung SYKUTRIS, Epistolographie, 204f. Ein solcher Klassifizierungsversuch bleibt sicherlich auch defizitär und ist nicht grundsätzlich flächendeckender als die dargestellten Versuche. Aber er ergänzt die einseitige inhaltliche Perspektive um zentrale Momente und hilft somit, das breite 61
1. Methodische
Vorüberlegungen
141
weise eine Differenzierung in Frauenbriefe, Briefe an hohe kirchliche Würdenträger, Briefe an gleichrangige Theologen oder Laien und Briefe an Ratsuchende an. Eine solche adressatenorientierte Einteilung schließt eine inhaltliche Orientierung nicht ganz aus. Zum einen lassen sich auch hier gruppenspezifisch dominierende Themen feststellen, zum anderen kann versucht werden, die Briefe so auszuwählen, daß sich zentrale Themen, die alle Teile des hieronymianischen Briefwerks durchziehen, auch in den einzelnen Gruppen widerspiegeln. Es war mir daran gelegen, in einer knappen Auswahl ein möglichst breites Spektrum dieser Briefe abzudecken und Briefe aus allen von mir skizzierten Gruppen zur Sprache kommen zu lassen. So sollen nun ein Papstbrief mit exegetischem Thema, ein Frauenbrief mit ebenfalls exegetischem Thema, ein Frauenbrief zu Lebensführungsfragen und ein Brief an einen ratsuchenden Theologen zu einem dogmatischen bzw. kirchenpolitischen Thema Gegenstand der Analyse sein. Neben dem Aufzeigen der Vielfalt im Briefcorpus soll auch vorgeführt werden, wie die hieronymianischen Briefe typischerweise aussehen. Es gibt einige Briefe, die aufgrund einer Gattungskoppelung oder einer Zielverschränkung besonders in den Blick fallen und daher von der Forschung bereits mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht worden sind62. Hier sollen eher die Texte zur Sprache kommen, die möglichst alltägliche Produkte des Kirchenvaters sind. Spektrum der vorliegenden Briefe sachgerechter zu erfassen. Zudem hat dieser Versuch den Vorteil, bei der Einteilung eine Mischung von Kriterien zu vermeiden. 62 Vgl. z.B. B. FEICHTINGER, Konsolationstopik und Sitz im Leben (ep. 39), JAC 38, 1995, 75-90. Feichtinger erweist in präziser Analyse des Argumentationsduktus einerseits, und dem Aufzeigen der Übernahme von antiker Konsolationstopik andererseits, eine mehrfache Zielrichtung des Briefes. Hieronymus will hier nicht nur Paula über den Tod der Blesilla hinwegtrösten; er will Paula ebenso für ihre unmäßige, einer Christin unangemessene Trauer tadeln und damit vor allem den Grund für Blesillas Tod von deren asketischem Leben trennen. Damit gekoppelt ist sein Bestreben, sich selbst von der Schuld an Blesillas Tod freizusprechen: Er war es schließlich, der Blesilla zum asketischen Leben motiviert hatte. Vgl. auch die Untersuchung von J.H.D. SCOURFIELD, Consoling Heliodorus. A commentary on Jerome Letter 60, Oxford Classical Monographs, Oxford 1993, die die Gattungsbezogenheit jener Epistel auf die antike Nekrologtradition zum Gegenstand hat. Ebenso geht es in der Untersuchung von G.J.M. BARTELINK, Liber de optimo genere interpretandi (Epistula 57), Leiden 1980, nicht primär um eine Analyse des Briefes als Teil seiner Gattung, sondern auch um das Verständnis des apologetischen Kontextes und seine Verquickung mit einer Theorie der Übersetzung in dem nämlichen Brief. Vgl. dazu auch M. BANNIARD, Jérôme et Velegantia d'après le De optimo genere interpretandi, in: Duval, Y.-M. (Hg.), Jérôme entre l'occident et l'orient. XVIe centenaire du départ de saint Jérôme de Rome et de son installation à Bethléem, Actes du Colloque de Chantilly (septembre 1986), Paris 1988, 305-322. So ließen sich Sonderstellungen für diverse Briefe postulieren, vgl. z.B. die Satire in ep. 40.
142
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Der Grund für die Wahl „normaler" Briefe, die den Durchschnitt spiegeln, liegt in dem exemplarischen Charakter dieses Kapitels begründet. Die hier gemachten Beobachtungen lassen sich auf viele andere Briefe von Hieronymus übertragen.
2. Exemplarische 2.1. Epistula 2.1.1.
34
Analysen
adMarcellam
Marcella
Marcella 63 gehört zu den Witwen im Umfeld des Hieronymus. Sie stammte aus adliger römischer Familie 64 , wurde bald nach ihrer Eheschließung zur Witwe 63
Neben den einschlägigen Hieronymus - Biographien äußern sich auch zahlreiche neuere Untersuchungen zu den Frauen im Umfeld des Hieronymus. Vgl. zu den einführenden Ausführungen FEICHTINGER, Apostolae, 168-177; GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 225-242; Ch. KRUMEICH, Hieronymus und die christlichen Feminae clarissimae, Habelts Dissertationsdrucke Reihe Alte Geschichte 36, Bonn 1993, 70-79; S. LETSCHBRUNNER, Marcella - Discipula et Magistra. Auf den Spuren einer römischen Christin des 4. Jahrhunderts, BZNW 91, Berlin/New York 1998; REBENICH, Hieronymus, 156f. Feichtingers Darstellung ist stark an den Bemerkungen aus den hieronymianischen Briefen orientiert und versucht, ein ausgewogenes Bild von Marcellas Leben, Wirken und ihrer Beziehung zu Hieronymus zu zeichnen. Krumeich hingegen geht vor allem der Frage nach der Perseveranz Marcellas in ihren gesellschaftlich gehobenen Funktionen und damit ihrem Einfluß auf gesellschaftliche Kontexte nach. Beide streichen die Relevanz und Eigenständigkeit Marcellas heraus, während Grützmacher seinerseits die Relevanz des Hieronymus für Marcella und ihre wissenschaftliche und ethische Urteilsbildung und Lebensführung betont. Insofern sollten die Darstellungen als gegenseitige Ergänzungen gelesen werden. Die Untersuchung Letsch-Brunners widmet sich ausschließlich und daher sehr ausführlich der Person der Marcella und informiert sorgfaltig über den aktuellen Forschungsstand. Ihre Arbeit ist ausschließlich prosopographisch angelegt und verzichtet bis auf knappe Bemerkungen im Nachwort zur Hochschätzung, die Marcella von Hieronymus erfahren habe, auf übergeordnete interpretierende Fragestellungen. Problematisch ist bei diesem prosopographischen Ansatz die Tatsache, daß sich die Informationen über Marcella fast ausschließlich den Texten des Hieronymus verdanken und jede Aussage über die Frau zu einer Aussage über die Beziehung oder postulierte Beziehung von Hieronymus und Marcella werden muß. Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, dies in einem methodischen Teil im Vorfeld der Arbeit zu reflektieren. Die hier folgenden Bemerkungen verstehen sich als knappe einführende Skizze, mit dem Ziel, die Person, an die der zu analysierende Brief gerichtet ist, sowie den Lebenskontext der entsprechenden Person in Erinnerung zu rufen. Sie stützen sich vor allem auf des Hieronymus Bemerkungen in den Briefen und auf einschlägige Studien der Sekundärliteratur. Wollte man sich intensiver zu den Personen äußern, so wären methodische Überlegungen über die Verwendung der Texte aus der Feder des Hieronymus als Quellen angebracht, denn diese Texte sind größtenteils stark stilisiert und es stellt
2. Exemplarische Analysen
143
und lehnte dann einen weiteren Heiratsantrag ab, um sich dem Witwenstand zu weihen 65 . Ersten Kontakt mit monastischen Kreisen hatte sie bereits in ihrer Mädchenzeit durch die Person des Athanasius von Alexandrien gehabt 66 . Sie zog sich nicht nur aus weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens zurück, sondern unterhielt einen Zirkel intellektueller, christlich-asketischer Frauen aus gehobenem Stand, die semimonastisch in Marcellas Villa auf dem Aventin zusammenlebten 67 . Die Prägung dieses Kreises, gemäßigte Askese und wissenschaftliche Diskussion, wurde maßgebend für viele Gruppen innerhalb der stadtrömischen Christinnenschaft 6S . In diversen kirchenpolitischen und dogmatischen Streitigkeiten bezog Marcella öffentlich Stellung und fand wohl auch Gehör 69 . Ein in der Forschung intensiv traktiertes Thema in Bezug auf die Person Marcellas ist neben den Spekulationen über ihre besondere Rolle und ihren
sich die Frage, wieweit sie tatsächlich Informationen über Leben und Werk der einzelnen Personen bieten, oder ob sich nicht vielmehr darüber Aussagen treffen lassen, in welchem Lichte Hieronymus diese Person, seine Beziehung zu ihr und letztlich sich selbst erscheinen lassen will. Das Thema „Hieronymus und die Frauen" ist ein in der Sekundärliteratur intensiv bearbeitetes, vgl. dazu den Überblick von A. ARJAVA, Jerome and women, Arctos 23, Helsinki 1989, 5-18, mit weiterer Literatur a.a.O., 6 Anm. 2. 64 Vgl. ep. 127,1. Zur Diskussion um das Geburtsdatum vgl. LETSCH-BRUNNER, Marcella, 23f.237 Anm. 1, die mit einsichtiger Argumentation vom Jahr 335 als Geburtsjahr ausgeht. Einen Überblick über die Identifizierungsversuche mit diversen römischen Geschlechtern bietet LETSCH-BRUNNER, Marcella, 75-80. 65 Vgl. LETSCH-BRUNNER, Marcella, 2 9 - 4 1 . Zum Übertritt adliger römischer Frauen zum Christentum allgemein vgl. P. BROWN, Aspects of the Christianization of the Roman Aristocracy, JRS 51, 1961, 1-11. 66 Das ist freilich umstritten, zur Diskussion vgl. LETSCH-BRUNNER, Marcella, 2629, und REBENICH, Hieronymus, 157. 67
Zur Lokalisierung jenes Kreises auf dem Aventin vgl. ep. 47,3. Zur Charakteristik der Interessen des Kreises vgl. epp. 23,1; 127,7. Möglicherweise ist Marcella in diesem Kreis und auch über ihn hinausgehend, besonders nach dem Weggang des Hieronymus, als Lehrerin tätig gewesen, vgl. epp. 46,1 68
und 127,7; GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 236; KRUMEICH, Hieronymus, 76, und
REBENICH, Hieronymus, 165f. Dagegen wendet sich FEICHTINGER, Apostolae, 172f., die mit guten Gründen die von Hieronymus namentlich im Nekrolog postulierte Vorreiterrolle Marcellas für stilisiert hält. Feichtinger betont Marcellas Eigenständigkeit und Konsequenz in der Wahl ihrer Lebensform. Marcella widersteht sowohl den auf radikalere Askese drängenden Aufrufen des Hieronymus sowie seinem Drängen, doch zu ihm nach Bethlehem zu kommen (vgl. FEICHTINGER, Apostolae, 176, und GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 236.240). 69
Vgl. epp. 41; 42; 127,9f., vgl. auch FEICHTINGER, Apostolae, 175, und Hieronymus I, 2 3 6 - 2 3 9 .
GRÜTZMACHER,
144
Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
Einfluß in Rom die Frage nach einem möglichen Bruch in der Beziehung zwischen ihr und Hieronymus 70 . Daß Marcella für Hieronymus eine zentrale Rolle spielt, zeigt sich allein in der Tatsache, daß sie in seinem Werk so häufig auftaucht: Zahlreiche Briefe, die sich exegetischen Fragen widmen, sind an sie gerichtet, ebenso dediziert Hieronymus ihr einige wissenschaftliche Werke wie die Apologia adversus libri Rufini und den Danielkommentar. Sie wird in zahlreichen weiteren Werken des Kirchenvaters erwähnt 71 .Obwohl keiner von den Briefen aus der Feder Marcellas erhalten ist, hat man aus diesen an sie gerichteten Texten geschlos-
70
Anlaß für diese Spekulationen ist das Fehlen von Briefen zwischen den Jahren 384, des Weggangs von Hieronymus aus Rom, und 395. Gegen Grützmacher, der von einem Ausschluß dieser Privatbriefe aus der Sammlung ausgeht (vgl. GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 7-11) oder Wright, der einen Verlust der Briefe aus diesen Jahren annimmt (vgl. F.A. WRIGHT, Selected Letters of Saint Jerome, New York 1963, App. I 483 Anm. 2), argumentiert Nautin für einen tatsächlichen Bruch in der Beziehung zwischen Hieronymus und Marcella (vgl. P. NAUTIN, La liste des oeuvres de Jéróme dans le De viris illustribus, Orph. 5, 1984, 319-334.). Nautins Argumente sind überzeugend: Der letzte Brief, den Hieronymus bei seiner Abreise aus Rom schreibt, ist nicht an seine enge Freundin Marcella, sondern an Asella gerichtet (ep. 45); ep. 46, der Brief, der Marcella zum Kommen nach Bethlehem auffordert, ist von Paula und Eustochium an Marcella geschickt (wenn auch wohl von Hieronymus verfaßt); als Albina, Marcellas Mutter, stirbt, schreibt Hieronymus keinen Konsolationsbrief an Marcella, sondern schickt ihr lediglich einen Paulusbriefkommentar, den er zu allem Überfluß vorher Paula und Eustochium gewidmet hatte; während dieser elf zur Diskussion stehenden Jahre richtet er nicht nur keinen Brief an Marcella, sondern widmet ihr auch keine Schrift; auch der Marcella-Nekrolog wird erst zwei Jahre nach ihrem Tode verfaßt (vgl. ep. 127,1 und NAUTIN, a.a.O., 331). Als Grund für den Bruch vermutet Nautin Streitigkeiten um die Wahl des Nachfolgers von Damasus als römischer Bischof, denn Marcella hatte hierbei nicht Hieronymus, sondern Siricius unterstützt (vgl. a.a.O., 333). Dagegen stellt Krumeich fest: „Die Briefe werden zwar seltener, doch die Freundschaft bleibt bestehen ..." (KRUMEICH, Hieronymus, 77). Eine solche Bemerkung ignoriert allerdings den Klärungsbedarf der Frage nach den ausbleibenden Briefen. Auch LETSCH-BRUNNER, Marcella, 1 7 2 - 1 7 4 , diskutiert die Frage nach einem möglichen Zerwürfnis zwischen Hieronymus und Marcella. Ihre Argumente sind allerdings psychologisierender Natur und können m.E. denen von Nautin nicht standhalten. Sie sucht die Theorie Nautins vor allem dadurch zu entkräften, daß sie Hieronymus Karriereambitionen abspricht und damit Marcella von der Schuld an einer Aufstiegsvereitelung zum Amt des römischen Bischofs freispricht. Sie ergänzt ihre Überlegungen mit der Feststellung, daß Hieronymus auf die Freundschaft mit einer so angesehenen Person wie Marcella gewiß nicht hätte verzichten wollen und kommt zu dem Schluß: „Die These eines Zerwürfnisses zwischen Marcella und Hieronymus vermag in keiner Weise zu überzeugen." (a.a.O., 174). 71 Vgl. die Briefe 22; 30; 45; 47; 48; 54; 65; 107 sowie den an Principia gerichteten Nekrolog (ep. 127) und den Prolog des Galaterkommentars.
2. Exemplarische Analysen
145
sen, daß sie eine wichtige wissenschaftliche Austauschpartnerin für Hieronymus gewesen sei72, eine „große Intellektuelle mit theologischer Begabung"73. Hieronymus war in seiner römischen Zeit Mitglied ihres Zirkels auf dem Aventin74. Der Kontakt der beiden erschöpfte sich nicht in mündlichen Diskussionen, sondern die wissenschaftlichen Erörterungen setzten sich auch schriftlich fort. So knüpften die Briefe häufig an mündliche Gespräche an75. 72 FEICHTINGER, Apostolae, 174, meint aus epp. 27,2 und 29,1 schließen zu können, daß ihre Anfragen eine echte Herausforderung an Hieronymus stellten. Ihre Anfragen hätten ihn nicht nur bereichert, sondern sie habe für ihn auch die letzte Instanz bei schwierigen exegetischen Arbeiten dargestellt. Wie Feichtinger einen Hinweis darauf in ep. 127,1 findet, ist nicht ganz klar. Daß die Bekanntschaft von Marcella und Hieronymus auch heute noch Anlaß zu gewagten Interpretationen bietet, zeigt z.B. Krumeich: „Sie wirkt durch den Vorsprung an Jahren und ihre weibliche Milde nicht nur anspornend, sondern auch besänftigend auf den stürmischen, leidenschaftlichen, unausgeglichenen Charakter des Hieronymus." (KRUMEICH, Hieronymus, 74f.). 73 Vgl. FEICHTINGER, Apostolae, 168. Marcella beherrschte das Griechische und das Hebräische (ep. 127,7) und betrieb eigenständig Exegese (ebd.). Vgl. zur Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten der Marcella v.a. D. GORCE, La lectio divina des origines du Cénobitisme à Saint Bénoît et Cassiodore, Bd. I: Saint Jérôme et la lecture sacrée dans le milieu ascétique romain, Paris 1925, 81-110, und REBENICH, Hieronymus, 167. Zur Bildung von Frauen aus höheren gesellschaftlichen Schichten Roms in der Spätantike vgl. allgemein H.-I. MARROU, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, übers, v. Ch. Beumann, München 1977 (1948), 573-599; G. PETERSENSZEMERÉDY, Zwischen Weltstadt und Wüste: Römische Asketinnen in der Spätantike, Göttingen 1993, 68-82; S.B. POMEROY, Frauenleben im klassischen Altertum, Stuttgart 1985, 260-269, und K. THRAEDE, Art. Frau. B. Christlich, RAC 8, Stuttgart 1972, (227-269) 250f. 74
Vgl. GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 230. Möglicherweise war es auch dieser Kontakt zu den adligen christlichen römischen Frauen, der Hieronymus erst den Zugang zur römischen Gesellschaft verschafft hat, vgl. FEICHTINGER, Apostolae, 173 Anm. 19, und REBENICH, Hieronymus, 168f. Zu möglichen Mitgliedern jenes Zirkels vgl. LETSCH-BRUNNER, Marcella, 54-70. 75
Vgl. ep. 30,1, siehe dazu auch GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 230. Grützmacher erwägt die Gründe für eine solche schriftliche Ergänzung und Weiterführung der mündlichen Diskussion (a.a.O., 23lf.): „Dass ihr Hieronymus schrieb, obwohl sie sich häufig sahen, hatte einmal darin seinen Grund, dass Marcella auch schriftlich zu besitzen wünschte, was er bei der Auslegung der einzelnen Schriftstellen vorgetragen hatte. [Hier verweist Grützmacher auf das Vorwort des Galaterkommentars.] Dann aber bediente sich Hieronymus wohl auch des Briefes, um urbi et orbi seine Gelehrsamkeit kund zu thun." Auch Letsch-Brunner betont, daß dem exegetischen Briefwechsel die mündliche Diskussion vorgeordnet war, ja, der Briefwechsel erst aus der Diskussion erwuchs, vgl. LETSCH-BRUNNER, Marcella, 88.238. Sie weist vor allem überzeugend auf den Zusammenhang der wissenschaftlichen Tätigkeit des Hieronymus im Dienste des Damasus, also beispielsweise die Psalterrevision, und die Inhalte der Diskussion mit den Frauen hin: „Hieronymus verstand es, seine ihm von Papst Damasus gestellte Aufgabe ... geschickt mit dem Unterricht zu verbinden." (a.a.O., 112). Hierbei bezieht sie
146
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Es sind uns 19 Briefe von Hieronymus an Marcella überliefert 76 . Allein 9 dieser Briefe widmen sich exegetischen Fragen 77 . Besonders die Auslegung des Alten Testamentes und die Erklärung kultspezifischer Termini sind Gegenstand dieser Briefe, vereinzelt finden sich auch Erklärungen zum Neuen Testament. Daneben finden sich ein Marcella gewidmeter Nekrolog 7 8 , zwei asketische Schriften 79 , einige apologetische und polemische Schreiben 80 und kurze Notizen persönlicher Natur 81 . Diese knappe Charakteristik zeigt, daß die meisten von Hieronymus an Marcella geschickten Texte knappe exegetische Abhandlungen sind. So ist es im Rahmen unserer Fragestellung konsequent, wenn wir zur exemplarischen Analyse auch einen solchen exegetischen Text auswählen. 2.1.2.
Einleitungsfragen
Der 34. Brief stammt aus dem Jahr 385 8 2 , gehört also zu den in R o m verfaßten Briefen. Es handelt sich um einen vergleichsweise kurzen Brief, der auf gut fünf Seiten in der CSEL-Ausgabe 8 3 eine knappe Exegese von Psalm *126 entsich auf GORCE, Lectio I, 196f. Die Verschriftlichung mündlich vorgetragener Gegenstände in Form von Episteln beschreibt auch REBENICH, Hieronymus, 166 mit Anm. 150. 76 Wenn man ep. 46, die von Paula und Eustochium an Marcella geschickt wird, dazurechnet, erhöht sich die Zahl auf 20. Es ist in der Forschung heute nicht mehr umstritten, daß Hieronymus an diesem Brief, wenn er ihn nicht ohnehin selbst verfaßt hat, immerhin einen großen redaktionellen Anteil hatte, vgl. dazu LABOURT II, 100 Anm. 2, und Letsch-Brunner, Marcella, 2 Anm. 6. Zur Zuordnung der Briefe auf die verschiedenen Lebensphasen des Hieronymus vgl. LETSCH-BRUNNER, Marcella, 2 Anm. 5.8488. 77
Vgl. die Briefe 25; 26; 27; 28; 29; 34; 37; 42; 59. Vgl. ep. 23 AdMarcellam de exitu Leae. 79 Vgl. ep. 24 Ad Marcellam de vita Asellae und ep. 38, in der Hieronymus sich freudig und lobend über Blesillas Umkehr zu einem asketischem Lebenswandel äußert. 80 Vgl. ep. 27, hier richtet sich Hieronymus gegen doppelte Angriffe, er verteidigt sich sowohl für seine Praxis der Textkritik als auch für seine zur Askese mahnenden Äußerungen. Zu diesen Texten rechne ich auch die Satire gegen schlechte Kleriker (ep. 40) und den antimontanistischen Text (ep. 41). 81 Vgl. ep. 32, in der er Marcella kurz mitteilt, er habe keine Zeit zum Schreiben, und sie auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. In ep. 43 macht er seine Unzufriedenheit mit dem römischen Leben deutlich und tut seine Absicht kund, sich in ein einsameres Leben zurückzuziehen. Ep. 44 ist der Dank für Geschenke, die ihm seine römische Freundin geschickt hat. Ep. 97 ist an Pammachius und Marcella gerichtet. 82 Vgl. CAVALLERA, Saint Jérôme I, 26, und Labourt II, 44 Anm. 1. Pronberger hingegen sieht einen engen inhaltlichen Zusammenhang mit epp. 30 und 32 und datiert darum ep. 34 wie jene Briefe auch noch in das Jahr 384, vgl. N. PRONBERGER, Beiträge zur Chronologie der Briefe des Hieronymus, Amberg 1913, 31. Wie Pronberger auch H.J. FREDE, Kirchenschriftsteller. Verzeichnis und Sigel, VL 1/1, bearb u. erw. v. B. Fischer, Freiburg 31981, 357. 83 Vgl. 54, 259,18-264, 23 H. 78
2. Exemplarische Analysen
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faltet84. Der Brief ist in sechs Kapitel unterteilt, von denen die ersten fünf ungefähr über gleiche Länge verfügen, das abschließende sechste Kapitel ist deutlich kürzer. Die Kapitel entsprechen auch den inhaltlichen und formalen Grundzäsuren. Die Analyse orientiert sich an eben jener Kapiteleinteilung85. 2.1.3. Einzelanalyse 2.1.3.1.
Kapitell
Das erste Kapitel verfügt über keine einleitende Grußformel. Als Adresse ist dem Brief lediglich die Bestimmung Ad Marcellam vorangestellt. Beatus Pamphilus martyr, cuius uitam Eusebius Caesariensis episcopus tribus ferme uoluminibus explicauit, cum Demetrium Phalereum et Pisistratum in sacrae bibliothecae studio uellet aequare imaginesque ingeniorum, quae uera sunt et aeterna monumenta, toto orbe perquireret, tunc uel maxime Origenis libros inpensius persecutus Caesariensi ecclesiae dedicauit, [quam ex parte corruptam Acacius, dehinc Euzoius, eiusdem ecclesiae sacerdotes, in membranis instaurare conati sunt.]86
Hieronymus berichtet von der Suche des Pamphilus87 nach Büchern, besonders nach Kommentaren des Origenes. Dieser erste Satz eröffnet ein breites Spektrum an Informationen, das auf den ersten Blick kaum Hinweise auf den zu erwartenden Briefinhalt bietet. Die Fülle an Namen und Geschehnissen gipfelt in dem Ausdruck toto orbe - so wie Pamphilus den ganzen Weltkreis auf Bücheijagd durchmißt, so umspannt Hieronymus eben diesen Raum mit dem ersten Satz. Die hingeworfene Menge an Namen und Informationen, die auf engem Raum dichtgedrängt erscheinen, macht den narrativen Charakter dieses ersten Satzes aus. 84 Hieronymus folgt der Psalmzählung, wie sie uns aus der Septuaginta vertraut ist. Im folgenden wird nach der Konvention die Stellenangabe aus der LXX mit * gekennzeichnet werden, vgl. R. SMEND, Die Entstehung des Alten Testaments, ThW 1, Stuttgart u.a. '1978, 188f. 85 Wiewohl diese Kapiteleinteilung vermutlich modern ist, soll sie trotzdem wegen der brauchbaren Gliederung als Orientierung verwendet werden. 86 Ep. 34,1 (54, 259,18-260,7 H.). 87 Zu Pamphilus vgl. B. A L T A N E R M . STUIBER, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, Freiburg/Basel/Wien 1973, 189.213.217, und CAMPENHAUSEN, Griechische Kirchenväter, 61 f. Pamphilus hatte mit großem Einsatz die Bibliothek des Origenes in Caesarea zu erweitern versucht und verfaßte eine Apologie des Origenes. Sein theologisches Arbeiten galt vor allem der Erstellung eines exakten Bibeltextes. Durch das Stilmittel des Vergleiches wird er als gelehrter Mensch, der an wichtigen literarischen Werken interessiert war, charakterisiert. Er wird verglichen mit Demetrios und Pisistratos. Demetrios, ein athenischer Staatsmann, Schriftsteller und Arisstotelesschüler, und Pisistratos, ein athenischer Tyrann, erlangten aufgrund ihrer umfangreichen Sammlung homerischer Werke große Berühmtheit (vgl. LABOURT, Saint Jérôme II, 195).
148
Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
Mit diesem narrativen Einsatz zieht Hieronymus das Interesse des Lesers auf den Brief; er bewegt sich mit dieser Funktion des Prooemium in den Bahnen antiker Textgestaltung 88 . Was den Inhalt des ersten Kapitels anbetrifft, so wird berichtet, daß Pamphilus die ganze Welt nach Kommentaren durchsucht habe. Namentlich die Kommentare des Orígenes seien Gegenstand seiner eifrigen Bücheijagd gewesen, fundig geworden sei er besonders in der Bibliothek von Caesarea 89 . Es existiere, so Hieronymus weiter, ein Katalog der von Pamphilus aufgefundenen Schriften, aus dem ersichtlich sei, daß unter diesen kein Kommentar zum * 126. Psalm vorliege. Zu diesem Psalm habe allerdings Marcella dem Hieronymus eine Frage vorgelegt, die müsse er nun ohne die Hilfe des origeneischen Gedankengutes beantworten. Sucht man nach der Intention dieses ersten Kapitels, so gilt es zunächst, die beiden Sachinformationen auf ihre Funktion hin zu befragen. Der Leser erfährt als Sachinformation von der Suche des Pamphilus nach origeneischen Kommentaren und der Erfolglosigkeit dieser Suche im Hinblick auf einen Kommentar zum *126. Psalm. Die zweite Information besagt, daß Hieronymus keine origeneische Deutung jenes Psalmes vorliegt. Die letzte Information ergibt sich logisch aus der ersten: Wo kein Text überliefert ist, kann auch keine Kenntnis davon herrschen. Die lange narrative Einleitung läuft also logisch auf den von ihr abgeleiteten Schluß zu. Das erste Kapitel schließt mit der zentralen Aussage: ... ostenderem me de Origenis commentariis, quidsenserit,
non habere.90
In diesen logischen Ablauf eingeordnet ist die eigentliche Begründung für das Verfassen dieses Briefes, die die narrative Gestaltung des Briefbeginns beendet: hoc ideo, ut, quia mihi de eodem psalmo proposuisti, qui esset 'panis doloris' in eo, quod dicitur: in uanum uobis est ante lucem surgere, surgere, postquam sederitis, qui
88 Quintilian beschreibt als Aufgabe des Prooemiums (oder auch exordium, diese Begriffe verwendet er synonym, vgl. E. ZUNDEL, Clavis Quintilianea. Quintilians 'Institutio oratoria' aufgeschlüsselt nach rhetorischen Begriffen, Darmstadt 1989,79) in Inst. IV 1,5: Causa principii nulla alia est, quam ut auditorem, quo Sit nobis in ceteris partibus accommodatior, praeparemus. id fieri tribus maxime rebus inter auctores plurimos constat, si benevolum, attentum, docilem fecerimus, ... (I, 186,8-11 Radermacher). Der narrative Einsatz zieht das Interesse des Lesers auf sich und macht ihn daher aufmerksam und durch die Offenheit der Darstellung bereit, sich belehren zu lassen. Die Funktion der captatio benevolentiae ist hier - im Gegensatz zu den meisten Briefanfangen bei Hieronymus - außer Acht gelassen. 89 Zu Hieronymus und der Bibliothek von Caesarea vgl. CAVALLERA, Saint Jérôme II, 88f. 90 Ep. 34,1 (54, 260,16f. H.).
2. Exemplarische Analysen
149
manducatis panem dolori^1, ostenderem me de Origenis commentariis, quid senserit, non habere.92 Die Formulierung hoc ideo, ut faßt das Voraufgehende im hoc zusammen und leitet mit der konjunktionalen Wendung ideo, ut die Begründung des vorher Dargestellten ein. Weil Marcella dem Hieronymus eine Frage gestellt hat, deshalb liefert er die ausführliche Erzählung über die Suche nach den origeneischen Kommentaren. Die Frage, die im folgenden verhandelt werden soll, ist die nach d e m p a n i s doloris in Ps * 126,2. Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß die narrative Einleitung 93 abrupt abbricht und ihr ein doppeltes Programm folgt, in das die Begründung des Briefes, nämlich eine Frage Marcellas, eingeschoben ist. Hier liegen Aussagen auf zwei verschiedenen Ebenen vor: Die erste, die inhaltliche Ebene, zeigt das Thema an; die zweite hingegen bezieht sich eher auf das Programm, indem sie die Eigenständigkeit 94 des Autors betont. Die Intention des ersten Kapitels ist also eine doppelte: Zum einen soll auf das Thema hingeführt werden, auf die Erklärung des Ausdrucks panis doloris 91
Vgl. Ps *126,2 (127,2). Ep. 34,1 (54, 260,12-17 H.). 93 Vgl. ep. 34,1 (54, 259,18-260, 12 H.). 94 In der Regel ist des Hieronymus Exegese stark durch Origenes-Rezeption bestimmt, vgl. dazu D. BROWN, Vir Trilinguis. A Study in the Biblical Exegesis of Saint Jerome, Kampen 1992, 154-163, der herausstreicht, daß namentlich im Zusammenhang der allegorischen Exegese Hieronymus in hohem Maße auf die Ergebnisse des Orígenes zurückgreift, vgl. dazu auch J.-L. GOURDAIN, Jérôme exégète de la transfiguration, REAug 40, 1994, 365-373. Zu diesem Zeitpunkt, lange vor den Streitigkeiten um Orígenes, ist nicht anzunehmen, daß sich Hieronymus bewußt von Orígenes zu distanzieren versucht (zum Verhältnis von Orígenes und Hieronymus vgl. CAVALLERA, Saint Jérôme II, 115-127, und GRÜTZMACHER, Hieronymus III, 1-94). So ist zu vermuten, daß Hieronymus das Fehlen origeneischer Kommentare zu seinem Gegenstand der Exegese als Defizit empfand und sich gegenüber möglichen Unzulänglichkeiten in seiner eigenen Exegese abzusichern suchte. Es ist nicht anzunehmen, daß es Hieronymus hier um die Unterstreichung seiner eigenen Originalität geht. Der Vergleich mit den Vorworten vieler seiner Kommentare belehrt darüber, daß der Kirchenvater immer betont, er habe von vielen anderen Wissenschaftlern profitiert, und seine eigene Aufgabe stärker in der Vermittlung des von mehreren Forschern gemeinsam erarbeiteten Wissens als in der originellen denkerischen Tätigkeit gesehen, vgl. dazu BROWN, Vir, 198 mit dem Verweis auf Apol. 1,16. Bardy arbeitet des Hieronymus Distanz zu griechischem Denken trotz seiner Origenes-Rezeption heraus: „The Orientais pay as little attention to him as he himself pays to them; ..." (G. BARDY, St. Jerome and the Greek Thought, in: Murphy, F.X. (Ed.), A Monument to Saint Jerome. Essays on some aspects of his life, works and influence, New York 1952, [85-112] 107). Zu dem zunächst positiven Verhältnis, das Marcella zu Orígenes hat, und dessen Wandlung im Zusammenhang der origenistischen Streitigkeiten vgl. P. LAURENCE, Marcella, Jérôme et Origène, REAug 42, 1996, 267-293. 92
150
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
in Ps * 126,2. Zum anderen aber soll unterstrichen werden, daß Hieronymus die im folgenden zu unterbreitende Exegese nicht von Origenes übernommen hat, sondern sie zwangsläufig auf seinen eigenen Überlegungen beruht. In diesem Kapitel wird bereits die intellektuelle Wertschätzung deutlich, die Hieronymus seiner Leserin entgegenbringt, verzichtet er doch auf die Erläuterung der Fülle der anfänglich genannten Namen aus Geschichte und Gegenwart und impliziert damit, daß Marcella über die entsprechenden Kenntnisse zur Einordnung verfugt 95 . 2.1.3.2. Kapitel
2
Das zweite Kapitel steigt unmittelbar in die angekündigte Exegese des Psalmverses ein. Die Form dieses Kapitels, die Argumentationsstruktur, ergibt sich aus der exegetischen Methodik des Kirchenvaters. Exkurs: Exegese des Hieronymus Wenn Hieronymus eine exegetische Frage zu klären hat, so bezieht er diese Frage grundsätzlich auf einen Begriff oder auf eine Formulierung. Er erwägt selten größere Zusammenhänge biblischer Texte oder komplexere biblische Sachfragen, sondern nähert sich seinem Gegenstand über die lexikalische Ebene. Ausgangspunkt des Vergleiches ist für ihn stets der lateinische Terminus, der mit der entsprechenden hebräischen Bedeutung kontrastiert wird. Dann führt er in der Regel die ihm zur Verfügung stehenden griechischen Übersetzungen an. Die von ihm herangezogenen Übersetzungen sind normalerweise neben dem hebräischen Text die Fassungen bei Aquila, Symmachus, der Septuaginta und Theodotion. Dies sind die verschiedenen Fassungen der von Origenes zusammengestellten Hexapla, die neben den unvokalisierten hebräischen Lautbestand eine griechische Umschrift des hebräischen Textes, die Fassungen von Aquila, Symmachus, der Septuaginta und Theodotion stellte. Origenes fügt zuweilen noch drei andere anonyme Übersetzungen hinzu, die Quinta, Sexta und Septima 96 . Von den angeführten griechischen Fassungen postuliert er jene als angemessen, die der hebräischen Bedeutung am nächsten kommt 97 . Hieronymus begründet zumeist nicht, warum eine Übersetzung treffend sei oder nicht. Er geht davon aus, daß die Richtigkeit einer bestimmten Wortbedeutung unmittelbar evident ist. Opelt faßt in ihrer umfassenden und kenntnisreichen Analyse der Streitschriften des Hieronymus auch ihre Beobachtungen zu des Kirchenvaters Exegese zusammen 98 . Ihre Beobachtungen decken sich insofern mit den unseren, als sie ebenfalls die Relevanz der Fragen der Textkritik und des Sprachgebrauchs bei der
95
So deutet auch LETSCH-BRUNNER, Marcella, 107f., den Befund. Vgl. dazu v.a.C. BAMMEL, Die Hexapla des Origenes: Die Hebraica Ueritas im Streit der Meinungen, Aug. 28, 1988, 125-149, und G. GERLEMANN, Art. Bibelübersetzungen I, R G G 3 1, Tübingen 1986, (1193-1195) 1194. 97 Vgl. zu diesem Vorgehen auch GORCE, Lectio I, 197f. 98 Vgl. I. OPELT, Hieronymus' Streitschriften, BKAW 44, Heidelberg 1973, 188193. 96
2. Exemplarische Analysen
151
Exegese des Hieronymus herausstreicht". Im Zusammenhang der Streitschriften kann sie überzeugend folgende Methoden des Kirchenvaters nachweisen: Untersuchung des Sprachgebrauchs, Herbeiziehung anderer Testimonien, Textkritik, Allegorese, philologische Argumente, Literarkritik sowie in wenigen Fällen liturgische und dogmatische Argumente 100 . Daß Hieronymus sich mit seiner exegetischen Methodik ganz in den Bahnen christlicher Bibelexegese bewegt, zeigt ein Blick auf die Analyse der Exegese bei Origenes, wie sie von Neuschäfer überzeugend vorgelegt worden ist 101 . Neuschäfer wiederum zeigt die Provenienz christlicher Exegese aus der paganen Textauslegung. Zunächst erfolge sowohl in der paganen Auslegung wie auch bei Origenes die Textkritik 102 . Die Exegese eines Textes beginne mit der Worterklärung (yXoaarinaxiKdv), dann folge die Sacherklärung (laxopiKov), darauf die grammatikalische und rhetorische Exegese (TSXVIKOV) und schließlich die Metrik und Stilkritik 103 . Die exegetische Methodik diskutiert Jay am Beispiel des Jesaja-Kommentars 104 . Eine neuere Darstellung der Exegese bei Hieronymus bietet BROWN, der nicht nur die Methodik des Kirchenvaters beschreibt, sondern sie auch in den Kontext einer „Geschichte der Exegese" einordnet. Er streicht nicht nur die Relevanz der Erstellung einer soliden Textbasis für Hieronymus heraus, sondern benennt auch konkret dessen textkritische und literarkritische Methoden 105 . Die Relevanz der hebräischen Wortbedeutungen für Hieronymus wird in der Forschung unterschiedlich bewertet 106 . Ausführlich widmet sich Rebenich dieser Frage 107 . Mit vielen Beispielen belegt er des Hieronymus Kenntnis des Hebräischen und die Relevanz der hebraica veritas für die Texterstellung, namentlich im Zusammenhang der Übersetzung des Alten Testaments. Er widerlegt vor allem die These, daß die Abhängigkeit von Origenes allein schon Beweis dafür sei, daß 99
Vgl. a.a.O., 188. Vgl. a.a.O., 189-193. 101 Vgl. B. NEUSCHÄFER, Origenes als Philologe, SBA 18/1.2, Basel 1987. 102 Vgl. a.a.O., Kap. III (85-138). 103 Vgl. dazu a.a.O., Kap. IV (140-246). 104 Vgl. P. JAY, L'exégèse de Saint Jérôme d'après son „Commentaire sur Isaïe", Paris 1985, vgl. dazu auch die Rezension von P. LARDET, Jérôme exégète: Une cohérence insoupçonnée, REAug 36, 1990, 300-307. Eine knappe Übersicht seiner Auffassung von Hieronymus als Exegeten bietet Jay ebenfalls: P. JAY, Jérôme et la pratique de l'exégèse, in: Fontaine, J./Piétri, Ch. (Hgg.), Le monde latin antique et la Bible, Paris/Beauchesne 1985, 523-542. 105 Vgl. BROWN, Vir, 21-54. Zur Exegese des Hieronymus vgl. auch L.N. HARTMANN, St. Jerome as an Exegete, in: Murphy, F.X. (Ed.), A Monument to Saint Jerome. Essays on some aspects of his life, works and influence, New York 1952, 37100
81. 106 Zur Relevanz der hebräischen Wortbedeutungen für die Exegese des Hieronymus vgl. G. BARDY, Saint Jérôme et ses maîtres hébreux, RBen 46, 1934, 145-164, der die Bedeutung des Hebräischen für Hieronymus eher geringschätzt, da er annimmt, der Kirchenvater sei des Hebräischen nicht wirklich mächtig gewesen. Anders J. BARR, St. Jerome's Appréciation of Hebrew, BJRL 49, 1966/67, 281-302. 107 St. REBENICH, Jerome: The „Vir Trilinguis" and the „Hebraica Veritas", VigChr 47, 1993, 50-77.
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Hieronymus sich nicht eigenständig mit hebräischen Texten beschäftigt habe, sondern auch für seine Übersetzungen von der Hexapla ausgegangen sei 108 . Hierfür weist er auf Courcelle hin, der die Darstellung aus zweiter Hand ohne Offenlegung der Quellen als vollkommen übliches Vorgehen in der Antike herausstreicht 109 . Markschies 110 bringt zur Interpretation der hebraica veritas bei Hieronymus einen weiteren Aspekt zur Sprache: Er beschreibt nicht nur den Rekurs des Kirchenvaters auf die hebräische Sprache zur Exegese, sondern deutet auch die Entwicklung dieses Rekurses bis hin zu dem Moment, von dem an man wirklich von hebraica veritas reden kann. Besonders überzeugend ist die Deutung des Rückgriffes auf die hebräische Sprache als Konsequenz aus der philologischen Ausbildung des Hieronymus: „Man hat m.E. noch nicht genug danach gefragt, ob die Parteinahme des Kirchenvaters für die „Hebraica Veritas" nicht auch ein gutes Stück einfach die Folge seiner stadtrömischen Grammatik-Ausbildung ist; also weniger eine Option für den ursprünglich inspirierten heiligen Text als eine philologisch bedingte Entscheidung, die man dann mit der des Philologen Origenes zu vergleichen hätte." 111 In diesem Zusammenhang läßt sich noch einmal auf Neuschäfers Untersuchung der Exegese des Origenes hinweisen 112 . Nach Markschies wird diese zunächst rein philologische Motivation des Bemühens um einen besseren Text in späteren Lebensphasen des Kirchenvaters ergänzt durch die theologischen Beweggründe des Ringens um einen normierten Text und um die Etablierung einer christologischen Dimension 113 . Eine Einordnung der Exegese des Hieronymus in die zeitgenössischen exegetischen Strömungen und die Bestimmung des Verhältnisses von Literalsinn und Spiritualsinn bei ihm leistet v.a. Brown' Er kommt zu dem Schluß, daß Hieronymus, wann immer es ihm möglich erscheint, mit dem Literalsinn operiert und nur in wenigen Fällen auf den spiritualen Sinn zurückgreift. Es ist auch Browns Verdienst, mittels terminologischer Analyse den genauen Wortgebrauch des Hieronymus den verschiedenen Auslegungsme-
108
So beispielsweise NAUTIN, Hieronymus, 309-311. Vgl. dazu auch COURCELLE, Lettres, 37f.64f.83f.91f. 110 Vgl. Chr. MARKSCHIES, Hieronymus und die „Hebraica veritas". Ein Beitrag zur Archäologie des protestantischen Schrifitverständnisses?, in: Hengel, M./Schwemer, A.M. (Hgg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, Tübingen 1994, 131-181. 111 A.a.O., 133. 112 Vgl. NEUSCHÄFER, Origenes, passim. 113 Vgl. MARKSCHIES, Hieronymus, 154.177-179. Zur hebraica veritas vgl. auch BROWN, Vir, der die Hochschätzung des Hebräischen bei Hieronymus nicht nur im Rekurs auf jene Sprache bei der Interpretation des Alten Testaments sieht, sondern auch darin, daß Hieronymus den jüdischen biblischen Kanon akzeptiert (vgl. a.a.O., 62-71.82.85). Den Vergleich mit Eusebius versucht D. BARTHÉLÉMY, Eusèbe, la Septante et „les autres", La Bible et les Pères, Colloque de Strasbourg (1.-3. octobre 1969), Bibliothèque des Centres d'Études Supérieures spécialisés, Traveaux du Centre d'Etudes Supérieures spécialisés d'Histoire des Religions de Strasbourg, Paris 1971, 51-65. 109
114
Vgl. BROWN, Vir, 121-165.
2. Exemplarische Analysen
153
thoden zuzuordnen und vor allem die Rede von der allegoria als allgemeine Bezeichnung für die spirituale Schriftauslegung zu erweisen ^
Hieronymus beginnt seine Exegese mit dem Rückgriff auf die hebräische Wortbedeutung: Unde ad Hebraeum recurrens inueni pro 'pane doloris' scriptum esse 'leem aasabim' 116
Er stellt der hebräischen Fassung die Fassungen von Aquila, Symmachus, Theodotion und schließlich die der fünften und der sechsten Spalte117 an die Seite. Damit werden die konkurrierenden inhaltlichen Fassungen „Brot der Mühsal", „Götzenbrot" sowie „Brot des Irrtums" aufgelistet. Aquila bietet die abweichende Fassung „Brot der Mühsal". Hieronymus erklärt, wie es dazu kommen konnte: Aquila begreife die Bilder als Menschenwerk und setze daher Sianovrii^aia, also das mit Mühe Erarbeitete, für den Begriff idolan%. Ein Beispiel, die Bilderverehrung, soll den Bezug von Bildern und Menschenwerk herstellen119. Aquilas Ableitung des Begriffes dolor aus dem hebräischen Begrifffür idola belegt Hieronymus mit einem Parallelfall: Auch im 113. Psalm120 stehe im Hebräischen 'aasabim', was von Aquila mit lelaborationem eorunt' übersetzt werde 121 . Hieronymus zieht daraus den Schluß, die falschen Deutungen, die auf der Fassung des Aquila beruhen, abzulehnen122. Hinsichtlich der Argumentation des Kapitels lassen sich eine klare Struktur und ein logischer Aufbau erkennen. Als erster methodischer Schritt werden die verschiedenen Übersetzungsvarianten wertneutral aufgelistet. Durch die abweichenden Fassungen ergibt sich implizit die Fragestellung: Welche Fassung trifft den Sachverhalt? In einem zweiten Schritt wird die abweichende Fassung unter Herstellung einer Sachbeziehung der beiden Fassungen erläutert. Ein dritter Schritt untermauert dieses Erklärungsmodell, indem ein Parallelfall herangezogen wird. Es schließt sich die Zurückweisung falscher Übersetzungen an. Diesen Vierschritt kann man mit Darstellung der Problemlage (narratio), Beweisführung (probatio) mit Beispiel (exemplum) und Zurückweisung der
115
Vgl. a.a.O., 146. Ep. 34,2 (54, 260,18f. H.). 117 Vgl. ep. 34,2: quinta editio ... sexta ... (54, 261,2f. H.). 118 Vgl. ep. 34,2 (54, 261,4f. H.). 119 Vgl. ep. 34,2 (54, 261,4-9 H ). Hier verweist Hieronymus auf Ez 8,11 und rekurriert damit auf den Vorgang, bei dem die Priester durch Segnung die von Menschenhand gefertigten Bilder zu anbetungswürdigen Gegenständen, zu idola machen. 120 Vgl. Ps * 113,12 (115,4). 121 Vgl. ep. 34,2 (54, 261,9-15 H.). 122 Vgl. ep. 34,2 (54, 261,15-19 H.). 116
154
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
falschen Meinung (refittatio) beschreiben. Damit liegen die Elemente einer Gerichtsrede nach Quintilian vor123. Dieses Kapitel bildet eine sowohl inhaltlich als auch formal abgeschlossene Argumentation. Die vorgestellte Fragestellung wird erörtert und die Erörterung kommt zu einem abschließenden Ergebnis. Im Gesamtduktus des Briefes bestimmt sich die Position dieses Kapitels aus der Tatsache, daß das einleitende erste Kapitel die hier zu verhandelnde Fragestellung bereits als Briefgegenstand auffuhrt und daher mit diesem zweiten Kapitel an die Einleitung angeknüpft wird. In diesem Kapitel stellt Hieronymus deutlich einen Bezug zu seiner Adressatin, zu Marcella her. Dies zeigt sich vor allem in der verwendeten direkten Anrede124: ut autem plenius adducaris ,..125
Diese Anrede zeigt, daß Hieronymus beim Abfassen dieses Textteiles deutlich seine Adressatin vor Augen hatte. Auch wenn die Briefe in der Regel nicht nur
123 Genaugenommen sind es nur die drei mittleren der fünf partes einer Gerichtsrede, es fehlen als erster Teil das exordium und als Schluß teil die peroratio. Da die Funktionen von exordium und peroratio von dem ersten und dem letzten Kapitel des Briefes übernommen werden (vgl. zum exordium Kap. 4.2.1.3.1. und zur peroratio Kap. 4.2.1.3.6.), ergibt sich von selbst, daß Hieronymus in Kap. 2 auf diese Teile verzichten muß. In der narratio stellt Hieronymus den Sachverhalt dar, ganz wie es Quintilian in Inst. IV 2,31 fordert: narratio est rei factae aut ut factae utilis ad persuadendum expositio, vel ... oratio docens auditorem, quid in controversia sit. (I, 205,3-6 R.). Hieronymus richtet sich hier auch nach den Postulaten von Klarheit und Kürze (vgl. Quint., Inst. IV 2,31: ... lucidam, brevem, veri similem. [I, 205,7f. R.]). Die Beweisführung oder probatio gehört nach antiker Klassifikation zu den probationes artificiales (vgl. Quint., Inst. V 8-11). Das angeführte exemplum hat hier ebenfalls die Funktion eines Beweises im Rahmen der probatio (vgl. dazu Quint., Inst. V 2,6). Die refutatio ist sehr schlicht gehalten, Hieronymus sagt nicht mehr, als daß aufgrund seiner Darlegung erwiesen sei, daß der Gegner Unrecht habe. Dies steht den quintilianischen Anweisungen für eine refutatio (vgl. Quint., Inst. V 13) zwar beliebig fern, allein daß eine Refutationsformel auftritt, gemahnt an den Aufbau der Gerichtsrede.
Diese These des Auftretens der Elemente einer Gerichtsrede läßt sich mit den Beobachtungen, die Opelt im Zusammenhang der Streitschriften gemacht hat, untermauern. Bei ihr heißt es: „Der dialektische Prozeß der Wahrheitssicherung und Wahrheitsfindung vollzieht sich mit dynamischen Mitteln und Ausdrucksformen, eben denen des Streits, wie er uns aus der antiken Gerichtsrede bekannt ist." (OPELT, Streitschriften, 163). 124 In der Regel verwendet Hieronymus in seinen Texten Formen der dritten Person Singular (vgl. mirandum in ep. 34,2 [54, 261,4 H.]) oder der ersten Person Plural (vgl. legimus in ep. 34,2 [54, 261,12 H.]). So ist es auffällig, wenn in einem Brief diese Anredeformen durch die direkte Anrede in der zweiten Person Singular ergänzt werden. 125
Ep. 34,2 (54, 261,9 H.).
2. Exemplarische Analysen
155
für eine einzige Person bestimmt waren, richtet der Verfasser hier seine Argumentation auf eine bestimmte Person aus 126 . 2.1.3.3. Kapitel
3
Das dritte Kapitel setzt mit einer Fragestellung ein, die noch nicht durch das Einleitungskapitel vorbereitet ist. Hieronymus versucht, mit seinem einleitenden Satz eine Verbindung zum voraufgehenden Teil des Briefes herzustellen: Illud quoque de eodem psalmo interrogare dignata es, qui sintfllii
excussorumJ27
Er rekurriert auf eine Frage, die Marcella gestellt habe, nämlich die nach den filii excussorum aus Ps * 126,4 (Ps 127,4). Hiermit ist formal der Anschluß an das zweite Kapitel geleistet, denn auch jenes bezog sich ja auf eine von Marcella dem Kirchenvater gestellte Frage. Allein: die in Kap. 2 verhandelte Frage taucht bereits im Einleitungskapitel auf und wird dort dem ganzen Brief gleichsam leitmotivisch vorangestellt. Die programmatisch in Kap. 1 vorangestellte Frage spielt in Kap. 3 keine Rolle mehr; die Verknüpfung der Kapitel 1 und 3 geschieht vielmehr über die Person des Hilarius, dessen exegetische Position in beiden Kapiteln den zentralen Gegenstand darstellt. Es stellt sich die Frage, worauf sich Hieronymus bezieht, wenn er an Marcella schreibt interrogare dignata es. Es ist meiner Ansicht nach zu bezweifeln, daß Marcella diese Frage tatsächlich an Hieronymus gerichtet hat. 128 126 Diese Formulierung zeigt ein weiteres. Wenn Hieronymus das Verb adducere verwendet, signalisiert er damit den Zweck des folgenden Abschnittes. Es ist sein Ziel, seine Leserin von der zuvor vorgetragenen Argumentation zu überzeugen, sie glauben zu machen, daß er die richtigen Schlüsse gezogen habe. Für den Fall, daß ihm dies noch nicht gelungen sein sollte, führt Hieronymus noch ein weiteres Beispiel für seine These an, auf daß Marcella endgültig überzeugt werde. 127 Ep. 34,3 (54, 261,20f. H.). 128 Es wäre der Bezug auf eine vorangegangene mündliche Diskussion denkbar, vgl. dazu Grützmacher I, 230. Ebenso vorstellbar schiene mir als Ort der Frage ein Brief Marcellas an Hieronymus zu sein. Ist es jedoch zwingend notwendig, davon auszugehen, daß Marcella diese Frage überhaupt - in welcher Form auch immer - an Hieronymus gerichtet hat? Des Hieronymus Bemerkung, Marcella habe diese Frage gestellt, ist der einzige Hinweis darauf. Doch es zeigt sich, daß sich neben diesem expliziten Hinweis einige gute Gründe dafür geltend machen lassen, daß es sich um eine fiktive Frage handelt, die Hieronymus aufwirft und sie Marcella unterstellt. Es ist deutlich, daß die Frage im Kontext des Briefes aus inhaltlichen Gründen auftauchen muß, um das Thema des dritten Kapitels zu begründen. Zudem ist eine formale Funktion der Frage feststellbar: Durch den Rekurs auf eine - vorgebliche - Frage Marcellas wird der formale Anschluß an das zweite Kapitel geleistet, das ja als ganzes die Beantwortung einer Frage Marcellas darstellte. Angesichts dieser doppelten Funktionalisierung der Frage wird deutlich: Ohne eine solche Frage geht es nicht. M.E. muß man also zumindest mit der Möglichkeit rechnen, daß Hieronymus diese fiktive Frage Marcella untergeschoben hat, um ein Thema, das er in diesem Brief gerne behandeln wollte, inhaltlich und formal in den Kontext einzubin-
156
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
In diesem Kapitel bezieht sich Hieronymus zur Klärung der zur Diskussion stehenden Frage zunächst auf eine Stelle aus dem Kommentar des Hilarius, der die filii excussorum als Volk der Gläubigen deutet und diese Wendung auf die Apostel bezieht, denn auch die Apostel hätten die Weisung bekommen, sich unter bestimmten Bedingungen den Staub von den Füßen zu schütteln129. Nun referiert Hieronymus den Einwand Marcellas, die mit dem Hinweis auf die passivische Formulierung excussorum die Argumentation des Hilarius zu widerlegen versuche und sage, es müsse in einem solchen Fall excutientium heißen130. Hieronymus fährt fort, Hilarius sei des Hebräischen und des Griechischen unkundig gewesen, so sei er mit seinen Deutungen auf die Hilfe des Heliodor angewiesen geblieben, der wiederum jenem die Position des Orígenes zu referieren pflegte. Bei dieser Stelle jedoch habe kein Origenes-Kommentar vorgelegen, und so habe Heliodor auf seine eigene Meinung zurückgegriffen. Er sei also für die Fehldeutung verantwortlich zu machen131. Formal unterscheidet sich dieses Kapitel ebenfalls maßgeblich von Kap. 2. Hieronymus leitet es zwar auch mit einer exegetischen Fragestellung ein, fuhrt aber in diesem Kapitel die Exegese noch nicht durch; Gegenstand des Kapitels ist vielmehr die Auseinandersetzung mit dem Kommentar des Hilarius. Der These des Hilarius folgen zwei Argumentationsgänge. Im ersten Argumentationsgang stellt Hieronymus durch das Referat der Position Marcellas - sei es nun der wirklichen oder der vorgeblichen - die Position des Hilarius in Frage, indem er diese einer immanenten Sachkritik unterzieht und die Frage nach der passivischen oder aktivischen Form des Genitivattributs stellt. Der nächste Argumentationsgang wird von Hieronymus mit folgenden Worten eingeleitet:
den. Das stärkste Argument gegen die Echtheit der Frage scheint mir deren Fehlen im Einleitungskapitel zu sein. Hätte Hieronymus diese Frage wie auch die andere, referierte, vorgelegen, so hätte er sie wahrscheinlich ebenso referiert. So jedoch hat man eher den Eindruck, als sei ihm die Frage beim Verfassen des Einleitungskapitels noch gar nicht präsent gewesen, als habe er sich spontan nach dem zweiten Kapitel Gedanken über den Fortgang des Textes gemacht und auf der Suche nach einer eleganten Überleitung den Rekurs auf eine nicht gestellte Frage gewählt. 129 Vgl. ep. 34,3 (54, 261,20-262,4 H.). Vgl. Hilarius, Tractatus super Psalmos, hg. von A. Zingerle, CSEL 20, Wien 1891: excussum quoque apostolicis pedibus puluerem scimus sententiam maledicti. (tract. 19, 626,8-10). Zu Hilarius vgl. A. BLAISE, Saint Hilaire de Poitiers. De Trinitate et ouvrages exegetiques, Namur 1964; H.Chr. BRENNECKE, Hilarius von Poitiers und die Bischofsopposition gegen Konstantius II. Untersuchungen zur Dritten Phase des Arianischen Streites, PTS 26, Berlin/New York 1984; H. CHADWICK, Art. Hilarius von Poitiers, RGG3 3, Tübingen 1986, 317. 130
Vgl. ep. 34,3 (54, 262,4-9 H.). Der Hinweis aus dem ersten Kapitel des Briefes, bei Origenes fehle die Deutung, wird damit aufgegriffen und funktionalisiert. 131
2. Exemplarische Analysen
157
quid igitur faciam? tantum uirum et suis temporibus disertissimum reprehendere non audeo, qui et confessionis suae merito et uitae industria et eloquentiae claritate, ubicumque Romanum nomen est, praedicatur; ,..132
Mit der Frage quid igitur faciam? signalisiert Hieronymus, daß ein sachlich neuer Abschnitt beginnt. Nicht nur die grammatikalische Form, Interrogativsatz statt Aussagesatz, zeigt dies, sondern ebenso die Funktion dieses Satzes. Mit dieser Form fingierter Unsicherheit, der Diaporese, macht Hieronymus die Leserin aufmerksam auf die Ernsthaftigkeit der zuvor vorgebrachten Kritik und gespannt auf den folgenden Argumentationsgang. Die nun folgende Argumentation ist wieder nach dem Vorbild einer Gerichtsrede gestaltet133. Hieronymus widerlegt die gegnerische Position, indem er Hilarius vorgeblich verteidigt, ihn dabei aber umso schärfer kritisiert. Dabei legt er keine Sachkritik an des Hilarius Position vor, sondern stellt dessen Eignung, sich zu exegetischen Fragen zu äußern, grundsätzlich in Frage. Es liegt also eine Form der translatio vor, statt der Verhandlung der Sachfrage wird dem Gegner die Fähigkeit zur Äußerung zu dem entsprechenden Thema abgesprochen134. Konkret besteht dieser zweite Argumentationsgang in einem Dreischritt, dessen einzelne Schritte logisch aufeinander aufbauen: 1. Hilarius sei des Hebräischen und des Griechischen unkundig gewesen. 2. Daher sei er auf die Hilfe Heliodors angewiesen gewesen. 3. Heliodor konnte hier nicht auf seine übliche Quelle (Origenes) zurückgreifen, habe dies verschwiegen, sich selbst zu der Frage geäußert und damit Hilarius eine Fehlinformation geliefert. Wenn diese Argumentationskette auch chronologisch darauf zuläuft, Heliodor die Schuld an der schlechten Auslegung zu attribuieren, so bleibt doch die Kritik an Hilarius bestehen: Er kann nicht angemessen Exegese betreiben, da er der Fremdsprachen nicht mächtig ist. Diese Kritik steht im Kontrast zu den einleitenden panegyrischen Bemerkungen auf das literarische Schaffen und die Beredsamkeit des Hilarius und wirkt dadurch umso stärker. Die Intention dieses Kapitels ist es, mit dem doppelten Argumentationsgang, zum einen auf der Sachebene, zum anderen auf der Personebene, die zuvor vorgetragene Deutung des Hilarius zu falsifizieren. Der das dritte Kapitel abschließende Satz fuhrt diesen Zusammenhang noch einmal vor: ... quam ille [Hilarius] sumptam claro sermone disseruit et alienum errorem disertius exsecutus est.
132
Ep. 34,3 (54, 262,9-12 H.). Vgl. zur Erläuterung der partes nach Quintilian Kap. 4.2.1.3.2. 134 Der Begriff stammt aus der status-Lehre und dient in gerichtlichen Zusammenhängen der Anfechtung der Zuständigkeit des Gerichtes oder des Gegners. Hier wird damit grundsätzlich die Kompetenz des Gegners und damit er als ernstzunehmendes Gegenüber in Frage gestellt (vgl. Quint., Inst. III 6,68). 135 Ep. 34,3 (54, 262,19f. H.). 133
158
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Die klare, kunstvolle Eloquenz des Hilarius wird zum Schluß mittels einer Parechese (disseruit - disertius) noch einmal hervorgehoben und fuhrt ein weiteres Mal den Gegensatz von sprachlicher Kunst und falschem Ergebnis vor. Erweist sich dies als eigentliche Intention des Kapitels, so finden wir nun auch einen Bezug zum einleitenden ersten Kapitel: Hier hatte Hieronymus seine Eigenständigkeit in der Exegese des vorliegenden Psalmes betont. Bei der Lektüre des dritten Kapitels wirkt jene Passage wie eine antizipierende Rechtfertigung; Hieronymus steht zwar vor derselben Situation wie Hilarius, nämlich keinen Origenes-Kommentar zur Verfugung zu haben, doch verfugt er nun gerade, wie die Exegese des zweiten Kapitels bereits zeigt, über das notwendige Handwerkszeug, die umfassende Sprachkenntnis nämlich. Die Zurückweisung der Position des Hilarius fuhrt eine weitreichendere Intention mit sich. Hieronymus geht es hier keineswegs allein um die Auslegung von Ps * 126,4, er will vielmehr mit diesem Kapitel programmatisch seine Vorstellungen von Exegese zum Ausdruck bringen. Implizit wird in der Abgrenzung von den Voraussetzungen, die Hilarius mitbringt, deutlich: Sachgerechte Exegese bedarf der Sprachkenntnis sowohl des Griechischen als auch des Hebräischen. Aussagekräftig ist dieses Kapitel auch im Hinblick auf die darin zum Ausdruck kommende Beziehung von Marcella und Hieronymus. Hieronymus geliert sich hier Marcella gegenüber als Lehrer, als bewertende Instanz, der ihre Lektüre wie ihre exegetischen Versuche mit seinem Urteil versieht136. Gleichwohl kommt auch zum Ausdruck, daß er sie durchaus als Gesprächspartnerin akzeptiert und bei ihr einen breiten Bildungshintergrund in exegetischen Fragen voraussetzt. Dieses Ergebnis läßt sich an der Einzelanalyse verifizieren: Hieronymus setzt zunächst mit einer etwas gestelzten Formulierung137 ein: ... interrogare dignata es, ...13S
Hieronymus stellt damit also wieder gleich zu Beginn des Kapitels eine Beziehung zu seiner Adressatin her. Durch den Bezug auf seine Adressatin läßt er 136
Für diesen Schluß ist es irrelevant, ob Marcella die Fragen tatsächlich gestellt hat oder ob es sich um eine literarische Fiktion handelt. In diesem Zusammenhang geht es um die Beziehung, die Hieronymus mit der Übernahme einer bestimmten Rolle gegenüber Marcella postuliert. 137 In der Regel referiert er die Fragen seiner Korrespondenzpartner mit schlichteren Worten, so z.B. proponere oder putare. 138 Ep. 34,3 (54, 261,20 H.). Zu den Überlegungen, ob es sich um das Referat einer echten Frage Marcellas handelt, vgl. die Überlegungen in diesem Kap. oben. Auch die Beobachtung, daß die sprachliche Form im Kontext der hieronymianischen Briefe eher ungewöhnlich ist, läßt auf ein aus kontextuellen Notwendigkeiten entstandenes Konstrukt schließen.
2. Exemplarische Analysen
159
nicht vergessen, daß es sich um die Gattung Brief handelt. Der zweite Satz lautet: miror te in Hilarii commentariis non legisse excussorum filios credentium populo interpretari, ... 1 IQ Dieser Satz bürdet in seinem Kontext einige interpretatorische Probleme auf. Hieronymus bringt hier sein Erstaunen zum Ausdruck, daß Marcella der einschlägige Hilarius-Kommentar unbekannt sei {miror te non legisse). Diese Bildungslücke nimmt er zum Anlaß, nun seinerseits des Hilarius Position, wie sie in dem Kommentar zum Ausdruck kommt, zu referieren 140 . Im folgenden stellt er jedoch Marcellas Gegenargumentation zu der Position des Hilarius dar. Es bleibt also unklar, ob Marcella den Kommentar des Hilarius nun kannte oder nicht 141 . Diese widersprüchliche Struktur hat allerdings ihre klare Funktion im argumentativen Kontext. Auf Marcellas (vorgebliche) Bildungslücke rekurrierend eröffnet sich für Hieronymus die Möglichkeit, die Position des Hilarius noch einmal zusammenzufassen. Damit gibt er einem weiteren Leserkreis, der gewißlich auch bei diesem Brief intendiert war, die Möglichkeit, der Diskussion zu folgen 142 . Abgesehen von dieser strukturellen Funktion läßt sich freilich an das miror die Frage stellen, welche Rolle der Kirchenvater Marcella gegenüber damit 139
Ep. 34,3 (54, 261,21f. H.). Vgl. ep. 34,3 (54, 261,21-262,4 H.). LETSCH-BRUNNER, Marcella, 109 Anm. 135, rechnet nicht mit der Möglichkeit der Fiktionalität der Frage Marcellas und schließt daher, daß Marcella im Besitz des Hilarius-Kommentars gewesen sein müsse. 141 Vgl. ep. 34,3 (54, 262,4-9 H.). Wie ist das zu begreifen? Sollte sie den Kommentar nicht gekannt haben und sich sozusagen unwissentlich gegen die darin zum Ausdruck kommende Position als einer ihr noch fiktiv erscheinenden abgesetzt haben? Dann wäre das Erstaunen, das in dem miror zum Ausdruck kommt, ein Hinweis auf des Hieronymus Hochachtung vor Marcellas Scharfsinn - sie wäre sozusagen ohne Negativfolie auf eine interessante exegetische Überlegung gekommen. Oder hat sie den Kommentar doch gelesen und Hieronymus unterstellt ihr lediglich die mangelnde Lektüre, um eine Gelegenheit zu haben, seinerseits die Position des Hilarius zu referieren? Man könnte bei Wendungen wie dignata es und miror auch an eine ironische Konnotation denken. Hier ein Urteil zu fällen, hieße, sich vom Boden der sicheren Hinweise wegzubewegen. Es ist letztlich sowohl für die Deutung der Rolle, die Hieronymus hier spielt, als auch für die Frage der argumentativen Struktur irrelevant zu entscheiden, ob Marcella diesen bestimmten Kommentar kannte. Deutlich ist hingegen, daß Hieronymus eine widersprüchliche Struktur aufbaut. Er wirft Marcella vor, einen bestimmten Text nicht zu kennen und läßt einige Zeilen später immerhin die Möglichkeit offen, sie kenne ihn doch. Es gilt also, diese Widersprüchlichkeit als Hinweis auf eine Fiktionalisierung zu begreifen und zu fragen, welche Funktion diese hat. 142 Eine solche Zusammenfassung der echten oder fiktiven Anfragen ist Bestandteil vieler Briefe von Hieronymus. Besonders deutlich wird dies in den an Papst Damasus gerichteten Schreiben. 140
160
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
zum Ausdruck bringen möchte. Die w//w-Formulierung bedeutet in diesem Fall ein Werturteil. Sie intendiert, daß Hieronymus bei Marcella einen bestimmten Standard an Lektüre voraussetzt. Hieronymus nimmt hier die Rolle der urteilenden Instanz ein. Er legt einen Bildungsmaßstab an Marcella an und artikuliert sein erstauntes Mißfallen über Nichterreichen dieses Maßstabes. Er ist die übergeordnete Instanz, die sich ihr gleichsam wie einer Schülerin urteilend nähert. Genau diese Rolle läßt sich auch an einer weiteren Stelle erkennen, wenn es nämlich heißt: licet tu argute
praecaueris...143
Mit diesen Worten leitet er die Zusammenfassung ihrer Gegenargumentation ein. Hier wird auch ein Urteil gefällt, allerdings in diesem Fall ein positives. Hieronymus gesteht seiner Korrespondenzpartnerin geistreiches Urteilen zu. Deutlich vertritt er hier wieder den Anspruch, die übergeordnete, urteilende Instanz darzustellen. Freilich müssen diese in der Einzelanalyse aufgewiesenen Urteile in den Kontext der argumentativen Struktur des ganzen Kapitels gestellt werden. Wir sahen oben, daß die Position Marcellas zwar als scharfsinnige immanente Kritik an Hilarius gewürdigt wird, jedoch den Kern des Sachverhaltes nach Meinung des Hieronymus nicht trifft. Hilarius wie Marcella können beide die wahre Bedeutung des Psalmverses nicht erkennen, weil sie nicht den richtigen Weg der Exegese, nämlich den Weg über den griechischen und den hebräischen Text gehen. Insofern läßt sich Marcella mit ihrer Kritik auf eine falsche Ebene ein. Die fundamentale Kritik an Hilarius, nicht den griechischen respective hebräischen Text hinzugezogen zu haben, trifft sie ebenso, wiewohl sie aller Wahrscheinlichkeit nach dieser beiden Sprachen mächtig war. Allein, sie hat sich in diesem Fall ihrer Sprachkenntnisse nicht bedient. So nimmt Hieronymus die Rolle der scharf kritisierenden Instanz nicht nur gegenüber Hilarius, sondern ebenfalls - wenn auch weniger offensichtlich - gegenüber Marcella ein. Dieses Kapitel bietet eine abgeschlossene Diskussion um die These des Hilarius, läßt aber die Frage nach der richtigen Auslegung des Psalmes noch offen. So ist das dritte Kapitel eng mit dem vierten verknüpft, das jene Frage nun endlich angeht. 2.1.3.4. Kapitel 4 Das vierte Kapitel bietet nun die Erklärung der Wendung filii excussorum144. Um den Inhalt knapp zusammenzufassen: Das Hebräische, wie auch einige der anderen Übersetzungen, biete an der Stelle von filii excussorum 'chen bne annaurim', also Söhne der Jugendzeit145. Dies lasse den Schluß zu, daß mit 143 144 145
Ep. 34,3 (54, 262,4f. H.). Vgl. Ps *126,4 (127,4). Vgl. ep. 34,4 (54, 262,21-263,2 H ).
2. Exemplarische
Analysen
161
dem jungen Volk die Christen gemeint seien146. Dazu passe auch das Bild von den „Söhnen wie Pfeile"147. Der Vergleich mit dem Bedeutungsspektrum von 'excussos' und der Verwendung des Wortes in der LXX lasse ebenfalls den Schluß, den schon das Hebräische nahelegt, ziehen148. Die Abgrenzung von der Position des Hilarius und das Referat einer Position, die auch eine andere Deutung des Begriffes excussos zuläßt, schließen das Kapitel ab149. In diesem Kapitel fuhrt Hieronymus auf seine übliche Art und Weise die Exegese durch150. In einem ersten Schritt fuhrt er die unterschiedlichen Übersetzungen jener Wendung auf. Der hebräischen Fassung folgen die von Aquila, Symmachus, Theodotion und der sechsten Spalte der Hexapla. Die Fassungen bezeugen übereinstimmend eine Übersetzung im Sinne von „Söhne der Jugendzeit"151. Die Richtigkeit einer bestimmten Deutung erweist sich für Hieronymus allein aus dem Mehrheitsverhältnis der angeführten Übersetzungen. Er zieht den Schluß, wenn es sich um „Söhne der Jugendzeit" handele, müsse sich diese Formulierung auf die Christen beziehen. Diese These hat den Charakter eines Postulates. Das Ergebnis des Übersetzungsvergleiches sucht Hieronymus mit einem Schriftbeispiel zu untermauern, wobei er jedoch kein Beispiel für die mit Hilfe der verschiedenen sprachlichen Fassungen diskutierte Formulierung bietet, sondern auf die Bildebene des ersten Kolons des Psalmverses abzielt152. Als exempla für die Rede von den Heiligen als Pfeil und Bogen in der Hand Gottes fuhrt Hieronymus die Stellen Sach 9,13 und Jes 49,2 an153. Hier bricht 146
Vgl. ep. 34,4 (54, 263,2-4 H.). Vgl. ep. 34,4 (54, 263,4-12 H.). Hier spielt Hieronymus auf Sach 9,13 und Jes 49,2 an. 148 Vgl. ep. 34,4 (54, 263,12-20 H.). HILBERG liefert hier die LXX-Stellenangabe •II Esr 4,16-17 (vgl. 54, 263, Anm. zu Z. 15), die aber nicht gemeint sein kann. Die Stelle, die Hieronymus hier anführt, stammt aus *II Esr 14,10 (= Neh 4,10f.). 149 Vgl. ep. 34,4 (54, 263,21-264,3 H.). Nach jener von Hieronymus referierten Position gelten die Juden als 'excussos' vom Tempel. 'Excussos' ist hier im Sinne von ausgestoßen zu verstehen, also als reprobos. Die Söhne jener Ausgestoßenen seien die Apostel, die nun als excussos im anderen Sinne, nämlich im Sinne von Jung", also als Christen zu verstehen seien. 147
150
Zur Exegese des Hieronymus vgl. Kap. 4.2.1.3.2. Vgl. filii pubertatum (54, 262,24 H.) und filii iuuentutis (54, 263,1 H.). 152 Vgl. ep. 34,4 (54, 263,4f. H.): ... quo deus sanctos suos in modum arcus et sagittarum dicatur extendere, ... Ging es also vorher um die filii excussorum, so geht es nun um die Metaphern arcus und sagitta. Diese beiden Kola des Psalmverses sind durch den Parallelismus membrorum miteinander verknüpft und stehen in enger sprachlicher und sachlicher Beziehung zueinander. Hier liegt der Fall eines parabolischen Parallelismus vor, das erste Kolon bietet die Bildhälfte, das zweite die Sachhälfte. Die Beziehung von Pfeil und Bogen zu den filii excussorum ist über die Form excussi, „Herausgeschleuderte" als Synonym für Pfeile zu suchen. 151
153 Diese Bildebene, die Rede von den Pfeilen in der Hand des Herrn, wird ganz am Ende des Kapitels (34,4) noch einmal aufgegriffen: eorum esse filios apostolos, qui ex
162
Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
die exempla-Reihe ab und Hieronymus leitet mit der Konjunktion denique eine Fortführung der Übersetzungsvergleiches ein. Das Zitat von Ps * 126,5 (127,5) fugt sich nur asyndetisch an die exempla an. Offensichtlich reiht Hieronymus diese Stelle hier, assoziativ inspiriert durch die Fortführung der metaphorischen Ebene vom Pfeil und dem Köcher, an. Er merkt selbst, daß er damit den Duktus der Analyse unterbricht hat. So schließt er etwas hilflos mit der rhetorischen Analyse: ... ut, quia metaphoram semel sumpserat ex sagittis, et in pharetra quoque seruaretur.154
translatio
Es folgt ein zweiter Argumentationsgang, der mit der adversativen Konjunktion autem155 deutlich abgegrenzt ist. Hieronymus beginnt, wie schon im ersten Argumentationsgang, noch einmal mit der Diskussion der Wortbedeutung von excussos. Allerdings setzt er hier mit einem sehr originellen und angesichts seiner üblichen Vorgehensweise ungewöhnlichen Schritt ein: Er zählt Synonyme aus der Alltagssprache auf, um das Wortfeld aus der Gegenwart heraus zu erschließen. Wieder schließt sich ein Schriftbeweis an: Die LXX übersetzten an einer Stelle excussos im Sinne von iuvenibus156, darin könne man eine Parallele für die Verwendung von excussos im Sinne von adulescentibus und puberibus sehen157. Wieder überläßt es Hieronymus seiner Leserin, aus dem ipsorum semine procreentur et in similitudinem sagittarum manu domini contineantur. (54, 264,1-3 H.). J.N. HRITZU, The Style of the Letters of St. Jerome, The Catholic University of America, Patristic Studies LX, Washington D.C. 1939, meint mit der Formulierung in similitudinem sagittarum ein Beispiel für die Kurzform eines Vergleiches (comparison) zu finden (vgl. a.a.O., 99). Als Hinweis darauf gilt ihm die Wendung in similitudinem, die er als klassische Einleitung dieser kurzen Vergleiche bezeichnet (vgl. ebd.). Gleichwohl bleibt fraglich, ob man diese Stelle so interpretieren darf, schließlich handelt es sich ja lediglich um das Wiederaufgreifen eines zuvor eingeführten biblischen Bildes. Das Bild ist hier nicht eigenständig umgedeutet oder mit einem Charakter versehen, der eine Differenzierung von der vorigen Verwendung erlaubte. Daher handelt es sich wohl eher um ein nicht funktionalisiertes Zitat der exempla. 154
Ep. 34,4 (54, 263,1 lf. H.). Ep. 34,4 (54, 263,12 H.): 'excussos' autem et consuetudo sermonis humani 'uegetos' et 'robustos' et 'expeditos' uocat... 156 In der LXX steht der Begriff ¿KxeTivaynevojv (*II Esr 14,10), was das Partizip Perfekt Passiv zu EKTivaaaco ist und eigentlich soviel heißt wie „abschütteln/ausschütteln". Vgl. Bauer, W., Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, völlig neu bearbeitet und herausgegeben von K. u. B. Aland, Berlin/New York 6 1988, 496. Hieronymus entdeckt offensichtlich aus seiner Alltagssprachkenntnis heraus eine weitere Bedeutung. 155
157 Vgl. ep. 34,4 (54, 263,19f. H.): ex quo animaduertimus et in praesenti loco pro adulescentibus atque puberibus 'excussos' positos, ... Auch hier bürdet Hieronymus dem Leser wieder einiges an eigener Kombinationstätigkeit auf, doch scheint mir in diesem Fall seine Assoziationskette nachvollziehbarer zu sein: Die Verbindung der
2. Exemplarische Analysen
163
beigebrachten Material die Schlüsse selbst zu ziehen, um das Ergebnis des Kirchenvaters nachvollziehen zu können. Die dem Schriftbeweis folgende conclusio besteht in einem Satz, der zuerst die richtige Position zusammenfaßt und dann die falsche in Form einer refutatio ablehnt158. Als appendix fugt Hieronymus an die Argumentation das Referat einer weiteren Deutung an. Wir sehen also in diesem Kapitel zwei Argumentationsgänge vorliegen. Der erste besteht in einem Dreischritt: Dem Übersetzungsvergleich folgt die conclusio, es schließen sich exempla an. Der zweite Argumentationsgang ist dem ersten parallel gebaut. Wieder liegt ein Dreischritt vor, dessen letzte beiden Schritte allerdings umgedreht werden: Dem Bedeutungsvergleich aus der Gegenwartssprache schließt sich ein Schriftbeweis als exemplum an, dann erst folgt die conclusio. Nach Abschluß dieser Argumentation folgt die refiitatio der gegnerischen Position. Im Gegensatz zu der Argumentation aus dem 2. Kapitel liegen hier, wie die Analyse gezeigt haben sollte, einige Brüche und Unstimmigkeiten vor. Auffällig ist zunächst zweierlei: Zum einen die Präsentation eines Ergebnisses, das nicht die Antwort auf die zuvor mittels des Übersetzungsvergleiches gestellte und diskutierte Frage ist; zum anderen der Bezug der exempla auf einen dritten Gegenstand, nämlich das zweite Psalmverskolon. Insgesamt wird der Eindruck einer wenig stringenten, assoziativ entfalteten Argumentation erweckt, die ihr Ziel, ein eindeutiges Ergebnis vorzustellen und zu begründen, nicht erreicht. Es wird in diesem Kapitel eine doppelte Intention deutlich. Zum einen liegt die Entfaltung und Explikation der Grundthese aus Kap. 3 vor. Hier war es Hieronymus vor allem darum gegangen, den Rekurs auf den hebräischen Text als einzig entscheidende Methode der Exegese zu erweisen. So kann man nicht nur aus seinem methodischen Vorgehen am Beispiel der Frage nach den filii excussorum induzieren, daß er sich jener Methode bedient. Zusätzlich ist dem 4. Kapitel zur Verdeutlichung der Intention ein einleitender Satz programmatisch vorangestellt: Restat igitur, ut rursum ad fontem sermonis recurramus Hebraei et uideamus, quomodo I KO scriptum sit.
Das restat igitur signalisiert, daß hier die conclusio aus dem voraufgehenden dritten Kapitel vorliegt. Die zweite Intention ist exegetischer Natur; Hieronymus will die Deutung der filii excussorum als Christen als die richtige erweisen. So steht die erste Intention im Dienste der zweiten. Gerade weil Hieronymus allein sich des richgegenwartssprachlichen Bedeutungen, die auf Regsamkeit, Erfahrenheit und Fähigkeit zur Tat abzielen, mit dem Gedanken der Jugend ist sachlich schlüssig. 158 Vgl. ep. 34,4 (54, 263,2lf. H.): non, ut ille opinatus est, pro apostolis, qui excussi a pedum excussione dicantur. 159 Ep. 34,4 (54, 262,21f. H.).
164
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
tigen Instrumentariums bedient, deshalb kann auch nur seine D e u t u n g die richtige sein. In diesem Kapitel ist der Gattungsrekurs, der B e z u g auf die Korrespondenzpartnerin, ungleich weniger stark als in den voraufgehenden Kapiteln. Hier wird Marcella überhaupt nicht angeredet 1 6 0 n o c h wird auf ihre möglichen Anmerkungen oder Fragen eingegangen. M a n gewinnt den Eindruck einer v o n Kapitel zu Kapitel zunehmenden Unaufmerksamkeit bei Hieronymus hinsichtlich seines Gegenübers und der Gattung, derer er sich bedient. 2.1.3.5.
Kapitel
5
D a s fünfte Kapitel ist mit Ausnahme des Schlußkapitels das kürzeste des Briefes, hier liegt wieder ein exegetischer Text vor. Gegenstand der E x e g e s e ist die Wendung: laboresfructuum tuorum manducabis, ,..161 E s wird also ein Psalmvers behandelt, der in keiner B e z i e h u n g zu den zuvor diskutierten Texten steht. Hieronymus versucht auf zweierlei Weise, einen Anschluß zum Vorhergehenden zu schaffen. Z u m einen rekurriert er auf die chronologische N ä h e des Psalmes, d e m dieser V e r s entnommen ist, zu dem bis dahin traktierten Psalm: In sequenti quoquepsalmo Heliodorus magis quam Hilarius noster errauit, ...I62 In d e m zitierten Satz wird auch die z w e i t e Verbindungslinie deutlich: Wieder tauchen die beiden N a m e n Heliodor und Hilarius 1 6 3 auf. Hiermit knüpft Hiero-
160 In den anderen Kapiteln fanden wir jeweils explizite Anreden, also Verbalformen in der zweiten Person Singular. Hier stehen die Verben meistens in der ersten Person Plural (vgl. recurramus [54, 262,21 H.] oder animaduertimus [54, 263,13 H.]), der Form, derer sich Hieronymus üblicherweise bedient, wenn er von sich in seiner Eigenschaft als Lehrer, seiner Vorgehensweise etc., also sich als Person, die sich gegenwärtig in kommunikativer Beziehung zu einer anderen befindet, spricht. Im Gegensatz dazu verwendet er, wenn es ihm um sein eigenes Handeln, eigene Lektüre etc. geht, das nicht in unmittelbarer Beziehung zur aktuellen brieflichen Kommunikationssituation steht, die erste Person Singular (vgl. legi [54, 263,22 H.]). 161
Ep. 34,5 (54, 264,6 H.). Diese Stelle ist Ps *127,2 (128,2) entnommen. Ep. 34,5 (54, 264,4f. H.). 163 Labourt erläutert die Wendung Hilarius noster folgendermaßen: „Cet adjectif possessif rappelle que saint Hilaire écrit en latin." (LABOURT II, Saint Jérôme, 48 Anm. 1). Überzeugender ist die Erklärung, die Sugano bietet. Sie will nostri als Zugehörigkeitsformel in einem inhaltlichen Sinn, im Hinblick auf die Gesinnung verstehen. Im Zusammenhang der Diskussion um die Kämpfe zwischen christlicher und römischpaganer Literatur merkt sie an: „Der Konflikt zeigt sich im Werk des Kirchenvaters auch in Kleinigkeiten, etwa daran, daß er die christlichen Schriftsteller gegenüberstellt mit der Zugehörigkeitsformel „nostri", oder einem abweisenden „Tullius tuus" in einem Brief an den (christlichen!) Römer Pammachius bzw. „tuus Vergilius" (ep. 124,1), auch 162
2. Exemplarische Analysen
165
nymus an das dritte Kapitel an, dessen Gegenstand die explizite Auseinandersetzung mit der exegetischen Eignung dieser beiden Theologen gewesen war. Dieses Kapitel ist also doppelt in den Kontext des Briefes eingebunden164 und der Übergang zum neuen Exegesegegenstand harmonisch gestaltet. Auf der inhaltlichen Ebene erweist Hieronymus mit Hilfe seiner Exegese die Deutung „Die Mühen deiner Hände wirst du essen" als die richtige im Gegensatz zu der Deutung „Die Mühen deiner Früchte wirst du essen."165 In diesem Kapitel sehen wir im Gegensatz zu den anderen beiden exegetischen Kapiteln die Fragestellung direkt integriert und der Argumentation vorangestellt166. Ebenso wird die Darstellung der gegnerischen Position in das Kapitel eingearbeitet. Die Argumentation ist im Gegensatz zu den anderen Exegesen dieses Briefes sehr knapp: Sie ist verkürzt auf die Darstellung der unterschiedlichen Übersetzungsvarianten. Eine conclusio fehlt, sie kann nur aus der dem Kapitel vorangestellten refiitatio erschlossen werden. Die ganze Argumentation dieses Kapitels ist also nicht nur verkürzt, sie wird im Vergleich zum bekannten Schema des Hieronymus auch in einer anderen Reihenfolge vollzogen. Hieronymus geht es mit diesem Kapitel, wie die äußerst verkürzte Argumentation zeigt, nicht eigentlich um den Sachgegenstand, die Exegese des Psalmverses. Vielmehr schließt dieses Kapitel inhaltlich an das dritte, die Kritik an einen Christen gerichtet." (K. SUGANO, Das Rombild des Hieronymus, EHS R. XV 25, Frankfurt/Main u.a. 1983, 19). Zu diesem Gebrauch des Possessivpronomens vgl. auch N. ADKIN, Ambrose and Jerome: The opening shot, Mn. 46, 1993, (364-376) 375. Sicherlich will Hieronymus mit dem Possesssivpronomen nicht die Muttersprache des Hilarius als die lateinische qualifizieren. Das wäre im Briefwerk des Hieronymus ein singulärer Fall der Identifikation mit der lateinischen Sprache, vielleicht auch nicht besonders stimmig, da er im allgemeinen ja darauf bedacht ist, seine Multilingualität zu unterstreichen. Vielmehr scheint mir diese Formulierung im Zusammenhang mit den Äußerungen über Hilarius im dritten Kapitel zu stehen. Trotz aller Kritik an Hilarius schätzt Hieronymus ihn. Vielleicht darf man die Formulierung im Sinne der deutschen Wendung „unser guter Hilarius" begreifen, die Wertschätzung, aber auch milde Nachsicht zum Ausdruck bringt. 164 Wenn man die formale Übereinstimmung mit dem exegetischen Vorgehen des 2. und des 4. Kapitels dazurechnet, kann man sogar von einer dreifachen Einbindung sprechen. 165 Wie geht er dabei konkret vor? Zunächst führt er die falsche Deutung des Heliodor vor, welche dieser mit einer langen Disputation zu begründen versuche (vgl. ep. 34,5 [54, 264,4-12 H.]). Dies bleibe aber ein fruchtloses Unterfangen, da die Fassung der LXX mehrdeutig sei und die Lateiner eine falsche Übersetzung vorgelegt hätten (vgl. ep. 34,5 [54, 264,12-15 H.]). Die Lateiner deuteten Kapnoüt; als „Frucht", es könne aber auch „Hand" heißen. Nun folgt der übliche Rekurs auf die Fassungen bei den Hebräern, Symmachus und die fünfte Spalte, wobei sich die Fassung bei den Hebräern wieder als die richtige erweist (vgl. ep. 34,5 [54, 264,15-17 H.]). 166 Die Kapitel 2 und 4 können direkt mit der Exegese einsetzen, da die Fragestellung jeweils schon im voraufgehenden Kapitel entfaltet worden ist.
166
Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
an Hilarius und Heliodor an, wobei hier noch einmal verstärkt Heliodor als inhaltliche Quelle des Hilarius kritisiert wird. In Zusammenschau mit dem dritten Kapitel soll dem Lesepublikum bewußt werden, daß Hilarius nicht nur der notwendigen Sprachkenntnisse zur Exegese entbehrt: Auch seine theologische Beratungsinstanz ist unqualifiziert, da es sich um eine Person handelt, die kein Hebräisch kann167. Hieraus erschließt sich die zweite Zielsetzung, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem exegetischen Programm aus dem dritten Kapitel zu sehen ist. War es da des Hieronymus Ziel gewesen, am Beispiel der Fähigkeit zur Origenes-Rezeption die Kenntnis des Griechischen als unerläßlich für die Exegese zu erweisen, so wird dieser Anforderungskatalog hier noch erweitert. Es zeigt sich hier, daß man selbst mit Griechischkenntnissen noch fehlgehen kann und erst die Kenntnis des Hebräischen sachgerechte und abgesicherte Exegese ermöglicht. Angesichts dieser Intentionen läßt sich das fünfte Kapitel vielleicht weniger als weitere exegetische Abhandlung denn als appendix für das exegetische Programm aus dem dritten Kapitel begreifen. Außerdem wird die gegen Hilarius gerichtete Argumentation in der zweiten Exegese legitimiert. Ebenso wie im vierten Kapitel auch ist hier Marcella als Adressatin vollkommen aus dem Blick geraten. Gegenstand des Kapitels sind Exegese und Methodik, aber der Gattungskontext, insofern er darin ersichtlich ist, daß ein deutlicher Adressatenbezug hergestellt wird, spielt keine Rolle mehr. Hieronymus hat ihn im Eifer um die rechte Exegese vergessen. 2.1.3.6. Kapitel 6 Sowohl inhaltlich als auch formal bildet das abschließende sechste Kapitel einen vollkommenen Kontrast zum fünften Kapitel. Inhaltlich schließt dieses Kapitel überhaupt nicht an die voraufgehende Exegese an. Hieronymus sagt, er habe den Brief während der Nacht diktiert168. Sowohl die späte Stunde als auch körperliche Beschwerden hinderten ihn an der Fortsetzung des Verfassens169. Die Hoffnung auf Schlaf in den letzten Nachtstunden schließt den Brief ab170: Cum haec furtiuis, ut aiunt, operis ad lucubratiunculam uelox notarii manus me dictante signaret et plura dicere cogitarem, iam ferme quarta noctis hora excesserat et repente
167
War im dritten Kapitel erwähnt worden, daß Heliodor dem Hilarius die Texte des Origenes vermittelt, also immerhin des Griechischen mächtig ist, so zeigt sich an dieser Stelle, daß das nicht ausreicht. Wo die LXX irrt, wie es offensichtlich in diesem Psalmvers der Fall ist, und man auf das Hebräische zurückgreifen muß, da steht auch Heliodor hilflos da. 168
Vgl. ep. 34,6 (54, 264,18f. H.).
169
Vgl. ep. 34,6 (54, 264,19f. H.).
170
Vgl. ep. 34,6 (54, 264,20-23 H.).
2. Exemplarische Analysen
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stimulis quibusdam dolentis stomachi suscitatus in orationem prorui, ut saltim reliquo horarum spatio subrepente somno frustraretur infirmitas.171
Die hier auftretenden Elemente sind bereits im voraufgehenden Kapitel dieser Arbeit ausfuhrlich zur Sprache gekommen. Gerade der Rekurs auf den Zeitpunkt des Verfassens (ad lucubratiunculam) und die Rede von der gleichsam der Nacht gestohlenen Arbeit (furtiuum opus) haben sich als topisch erwiesen. Hier sind sie, gemeinsam mit dem Hinweis auf die schwache Gesundheit, die nicht nur den Schlaf gefährdet, sondern auch das Arbeiten erschwert, und der Notwendigkeit, in der Nacht auch noch einige Stunden zu schlafen, in den Dienst eines Zieles gestellt: Sie liefern Gründe für die Beendigung des Briefes. Wiewohl eigentlich noch viel zu sagen wäre (plura dicere cogitarem), müsse nun aufgrund der genannten Umstände das Schreiben beendet werden. Interessanterweise verzichtet der Kirchenvater in diesem Schlußkapitel auf einen Bezug auf seine Adressatin. Tauchten solche Bezüge namentlich in den ersten Kapiteln häufig auf, so setzt sich hier die im Verlaufe des Briefes spürbar gewordene Tendenz fort, daß Marcella als individuelle Adressatin vollkommen aus dem Blick gerät. Es fehlt ebenso ein persönlicher Gruß wie ein abschließender Bezug auf ihre Frage oder gar die Bemerkung, daß er speziell an sie einiges zu schreiben hätte. So gilt der Hinweis, Hieronymus wäre eigentlich gezwungen, noch mehr zu schreiben, allein den sachlichen Gegebenheiten - zu seinen exegetischen Gegenständen könnte er noch einiges hinzufügen. Es gelingt Hieronymus hiermit nicht nur die Einleitung des Briefendes, sondern er findet auch wieder den formalen Anschluß an die Gattung, innerhalb derer er sich befindet. Es liegt der asyndetisch angefügte formale Abschluß eines Briefes vor, reich an gattungsspezifischer Topik, jedoch ohne Bezug auf den Inhalt oder auf die Adressatin des Briefes172. 2.1.4. Zusammenfassung Hieronymus hat klare Vorstellungen der Inhalte, die er vermitteln will. Er verhandelt die möglicherweise gestellte Frage und erweitert diese im Laufe der Exegese um weitere Frageaspekte. Der Brief bildet ein geschlossenes Ganzes. Wo inhaltliche Bezüge auf den ersten Blick zu fehlen scheinen, stellt Hieronymus sie mit einfachen rhetorischen Mitteln her, indem er beispielsweise auf eine echte oder fiktive Frage seiner Adressatin rekurriert. In der Regel sind jedoch über alle Kapitel hinweg 171
Ep. 34,6 (54, 264,18-23 H.). Es ist tatsächlich ein rein formaler Briefschluß, der seinen abschließenden Charakter durch briefliche Floskeln erhält. Angesichts der Textgestaltung, die durchgängig an die Form einer Gerichtsrede erinnert, hätte man von einem Schlußteil die Funktion einer peroratio erwartet, also die Erinnerung an die verhandelten Dinge und die Erregung von Effekten (vgl. Quint., Inst. VI 1,1). 172
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
inhaltliche Verknüpfungen gegeben. Diese Verknüpfungen beziehen sich nicht nur auf den Sachgegenstand des Briefes, Exegese von Versen eines bestimmten Psalmes oder überhaupt von Psalmen, nein, sie können sich auch über Rekurse auf die Leitmotive dieses Textes realisieren. So sind das 1. und das 3. Kapitel inhaltlich durch den Bezug auf die Eigenständigkeit der Exegese miteinander verbunden, die Verbindung von Kapitel 2 und 4 mit dem 3. Kapitel wird durch den Bezug auf die wahre Exegese, die in dem Vergleich der Urtextfassungen besteht, geleistet. Der Brief weist eine symmetrische Struktur auf. Der Rahmen wird von der Einleitung mit narratio und dem Schlußteil gebildet. Der Hauptteil reiht drei Exegesen. Das Zentrum ist die besonders ausfuhrliche zweite Exegese, auf die Exegese 1 und 3 als formal gleichgeordnete, inhaltlich aber je unterschiedliche, untergeordnete Teile bezogen sind: Exegese 1 bereitet auf die Grundsatzdiskussion in Exegese 2 vor; Exegese 3 belegt am Beispiel die Richtigkeit des in Exegese 2 vorgestellten Grundsatzes. Als Instrumentarium der Argumentation erweist sich in diesem Text weniger das logisch-argumentative denn das sprachlich-rhetorische. Signale, die einen neuen Argumentationsgang oder einen Themenwechsel verdeutlichen, und Kennzeichen, aus denen Intention oder Beziehung des Verfassers zur Adressatin erkennbar sind, sind in der Regel rhetorische Figuren oder Auffälligkeiten in Syntax und Flexion. Besonders die ausfuhrliche Analyse der Argumentationsstrukturen im 2. und 3. Kapitel des Briefes hat gezeigt, wie souverän Hieronymus Elemente zeitgenössischer Rhetorik verwendet, so orientiert er sich zweimal am Aufbau einer Gerichtsrede. Der Brief entbehrt nahezu jedes sprachlichen Schmuckes: Wir finden kaum Figuren der bildhaften Redeweise und keinerlei literarische Anspielungen. Insofern liegt ein schlichter, aber ausgesprochen funktionaler und sachlicher Brief vor, der jeder Betonung der eigenen Bildung fernsteht173. Wenn Hieronymus eine solch schlichte und funktionale, aber Vertrautheit des Lesers mit den rhetorischen Mitteln voraussetzende Sprache verwendet, lassen sich daraus Schlüsse auf den Bildungsgrad ziehen, den er bei seiner Leserin vorausgesetzt haben muß. Hieronymus schätzt also Marcella durchaus als ebenbürtiges Gegenüber hinsichtlich sprachlicher Souveränität - wenigstens auf der rezeptiven Ebene. Welches Bild ergibt sich nun, wenn wir nach der Akzeptanz Marcellas als theologische Diskussionspartnerin, als Exegetin fragen174? Nach der Lektüre 173
Wenn Hieronymus zum Ausdruck bringt, daß man als Exeget des Lateinischen und Griechischen mächtig sein müsse, ist dies kein Spielen mit Bildung zur Beeindruckung des Gegenübers, sondern die Explikation seines Grundverständnisses von Exegese. 174 LETSCH-BRUNNER, Marcella, 241, beantwortet diese Frage, ohne weiter zu differenzieren: „Hieronymus hat Marcella als ebenbürtige Partnerin betrachtet und geför-
2. Exemplarische Analysen
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dieses Briefes hat man den Eindruck, daß Hieronymus klar die übergeordnete Rolle einnimmt. Er ist derjenige, der Anfragen und Interpretationsansätze wertet, lobt oder verurteilt und jeweils abschließend die seiner Ansicht nach richtige Deutung hinzufügt. Hier läßt sich ein deutliches hierarchisches Gefälle erkennen, indem Hieronymus die Rolle des Lehrers einnimmt. Das impliziert nun allerdings auch durchaus eine Akzeptanz seiner Korrespondenzpartnerin. In diesem Brief - und er ist durchaus nicht der einzige seiner Art, der an Marcella gerichtet ist - würdigt er sie dessen, was er als seine wissenschaftlich anspruchsvollste Leistung zu bieten hat: der Exegese eines biblischen Textes, die auf einen Vergleich der verschiedenen Textüberlieferungen und Übersetzungen zurückgeht 175 . Allein diese Themenwahl bringt schon zum Ausdruck, daß Marcella eine Akzeptanz als Exegetin bei Hieronymus genießt. Es treten in diesem Brief einige Elemente klassischer briefbezogener Topik auf. Sie prägen vor allem das 6. Kapitel und haben die briefinterne Funktion, die Beendigung des Briefes zu begründen. Eine weitere Funktion ist übergeordneter Natur: Diese briefspezifischen Elemente geben dem Text die Form eines Briefes. Durch die briefbezogene Topik am Anfang und am Ende wird die exegetische Abhandlung, die den Hauptteil des Briefes ausmacht, gerahmt. Weitere Element, die dem wissenschaftlichen Text ein briefliches Gepräge zu verleihen versuchen, sind der Adressatenbezug und der dialogische Charakter. Hieronymus bezieht sich auf die Fragen, die als von Marcella gestellt präsentiert werden. Er redet Marcella direkt an, referiert ihre Position und antizipiert ihre Einwürfe. So liegt ein wissenschaftlicher Text, der Marcella gewidmet und in Teilen direkt an sie als Adressatin ausgerichtet ist, vor. Es läßt sich in diesem Brief in verschiedenen Hinsichten das Auftreten einer „Dekadenzlinie"176 beobachten. Zum einen ist diese Beobachtung im Hinblick auf die Sorgfalt der Argumentation zu machen. Sind die ersten Argumentationen noch logisch stringent aufgebaut und formal sorgfältig gestaltet, so läßt diese Sorgfalt nach. Die letzte Argumentation reiht nur noch assoziativ argumentative Versatzstücke zum exegetischen Gegenstand177. Auch der Bezug dert." Allein im Moment des „Förderns" ist m.E. schon ein hierarchisches Verhältnis angelegt. 175 L E T S C H - B R U N N E R würdigt abschließend auch noch einmal das hohe intellektuelle Niveau der exegetischen Briefe an Marcella, vgl. a.a.O., 245. 176 Dieser Begriff soll hier nicht negativ wertend verstanden werden, sondern vielmehr den Wechsel des Interesses und der Blickrichtung zum Ausdruck bringen. 177 Mit dem 2. und dem 4. Kapitel des 34. Briefes sehen wir direkt nebeneinander zwei typische Beispiele für die unterschiedliche Sorgfalt, mit der Hieronymus seine Exegesen durchfuhrt. Neben logisch und stringent argumentierenden Texten stehen solche, die assoziativ Beispiele reihen und sich jeder Überprüfbarkeit entziehen. Es läßt sich bei den exegetischen Briefen die Beobachtung machen, daß bei mehreren aufeinanderfolgenden Argumentationsgängen in der Regel der erste der am sorgfältig-
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
auf die Gattung „ B r i e f wird von Hieronymus mehr und mehr aus dem Blick verloren. Das zeigt sich im immer geringer werdenden Adressatenbezug: Hatte Hieronymus zu Beginn des Briefes noch deutlich seine Adressatin im Blick, sprach sie an und referierte ihre Fragen, so wird sie am Ende nicht einmal mehr erwähnt 178 . 2.2. Epistula 54 ad Furiam de uiduitate 2.2.1.
seruanda
Furia
Mit Furia rückt eine Frau in den Blick, die nicht in den engeren Freundes- und Bekanntenkreis des Kirchenvaters gehört. Insofern entstammt sie einer anderen Zielgruppe als Marcella 179 . Furia stammt aus dem Geschlecht des Furius Camillus, einem der ältesten römischen Adelsgeschlechter 180 , mütterlicherseits stammt sie möglicherweise sten ausgefeilte ist und die Stringenz in den folgenden Textteilen abnimmt. Dies könnte man an weiteren exegetischen Texten des Hieronymus verifizieren. Diese Beobachtung läßt sich bei anderen Briefschreibern wie beispielsweise Cicero, Seneca oder Plinius nicht machen. Bietet ersterer in seinen kurzen Briefen kaum die Möglichkeit eines Spannungsabfalls, so überzeugen die beiden anderen Literaten durch tadellos bis zum Ende durchkomponierte Briefe. Der hier vorliegende Befund erinnert eher an Kirchenväterpredigten, so verliert zum Beispiel auch Origenes im Eifer des Predigens häufig seine Adressaten sowie das Thema aus dem Blick und reiht assoziativ exegetische und homiletische Erwägungen aneinander. 178 Daß Marcella als Adressatin nicht durchgängig Beachtung findet, weist möglicherweise auch auf einen weiteren intendierten Adressatenkreis hin. Wir haben keine Hinweise darauf, an welches Lesepublikum Hieronymus sich konkret gerichtet haben könnte, doch ist Marcella als Multiplikatorin der hieronymianischen Exegese für die gebildeten christlichen römischen Kreise vorstellbar. Damit würde die „Dekadenzlinie" im Hinblick auf die Adressatenorientierung als Hinweis auf eine Adressatendoppelung gewertet. Was bei diesem Brief nur gemutmaßt weden kann, läßt sich an anderen Briefen verifizieren, vgl. dazu Kap. 4.2.2.2. 179
Damit sind die beiden Zielgruppen von Frauen, die sich für die hieronymianischen Briefe ermitteln lassen, nämlich eng mit ihm befreundete und ihm kaum bekannte Frauen, abgedeckt. Marcella nimmt freilich innerhalb der Gruppe der „Freundinnen" als enge Vertraute noch einmal eine exponierte Stellung ein. Eine Differenzierung in unterschiedliche Bildungsniveaus erwies sich als kaum durchführbar: Nahezu alle der Adressatinnen des Kirchenvaters entstammen der römischen Oberschicht und verfugen ihrem Stand in der Gesellschaft entsprechend über ein hohes Bildungsniveau (vgl. dazu KRUMEICH, Hieronymus, 214-227). Zudem gehört Furia in den Kreis der Ratsuchenden, derer also, die sich mit einer Anfrage an den Kirchenvater wenden; damit repräsentiert sie ebenfalls eine der typischen Gruppen von Korrespondenzpartnern. 180 Vgl. ep. 54,1 (54, 466,9-12 H.): habes praeterea generis tui grande priuilegium, quod exinde a Camillo uel nulla uel rara uestrae familiae scribitur secundos nosse concubitus, ... Der Vater trägt wohl den Namen Laetus, wie sich aus einem Wortspiel in ep. 54,6 ergibt: pater tuus, ... inpleat nomen suum et laetetur filiam Christo se
2. Exemplarische Analysen
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von den Gracchen ab 181 . Sie ist eine Schwägerin Blesillas: Ihr Bruder war mit jener Tochter Paulas verheiratet gewesen 1 8 2 . Furias Mutter Titiana war bereits Asketin, so war die Entscheidung zu einem solchen Leben für Furia nicht fern, als sie jung und kinderlos verwitwete 183 . Ihr Vater bemüht sich allerdings, sie zu einer weiteren Eheschließung zu überreden, um das Fortbestehen der Familie zu sichern, möglicherweise sorgte er sich auch um das beträchtliche Familienvermögen 184 . Etwas verbindet sie allerdings auch mit Marcella: Beide entstammen den ersten Kreisen Roms 1 8 5 , haben eine sorgfältige Erziehung genossen und verfugen über einen überdurchschnittlichen Bildungsgrad. Der Brief, der im folgenden analysiert werden soll, gehört aus inhaltlicher Sicht zu den „asketischen Briefen" des Hieronymus. Diese sind nicht nur an Frauen gerichtet, auch zahlreiche Männer sind zu Adressaten asketischer Mahnung und Belehrung geworden. Dennoch soll er hier als weiteres Beispiel einer an Frauen gerichteten Epistel zur Sprache kommen, weil er zu den zwei Berei-
genuisse, non saeculo; ... (54, 472,3-6 H.). Vgl. dazu A. CHASTAGNOL, Les Fastes de la Préfecture de Rome au Bas-Empire, Paris 1962, 252, der nach diesem Befund auf Quintilius Laetus, den römischen Stadtpräfekten von 398/399 als Vater von Furia schließt. Über die Familie der Furier war Furia auch mit Paula verwandt, vgl. ep. 54,2: Taceo de Paula et Eustochio, stirpis uestrae floribus, ... Blesillamque praetereo, quae maritum suum, tuum secuta germanum ... (54, 467,1-4 H.); vgl. auch NAUTIN, Études, REAug 20, 258 Anm. 30. Hieronymus schreibt in ep. 54,6 (und nicht in ep. 54,3, wie FEICHTINGER, Apostolae, 202 Anm. 12, versehentlich angibt), der Vater Furias sei Christ: pater tuus, quem ego honoris causa nomino - non quia consularis et patricius, sed quia Christianus est -, inpleat nomen suum et laetetur filiam Christo se genuisse, non saeculo; ... (54, 472,3-6 H.). Die Tatsache, daß der Vater Furia zu überreden suchte, von dem Ansinnen eines Lebens als vidua Abstand zu nehmen, trifft noch keine Aussage über sein Christsein. Feichtinger, Apostolae, 202, schreibt richtig: „... denn allein aus seiner Ablehnung einer asketischen Lebenswahl für seine Tochter kann kein eindeutiger Schluß gezogen werden. Dieselbe Skepsis gegenüber der asketischen Keuschheit und Verweigerung der Ehe findet sich in dieser Zeit auch bei überzeugten Christen, die die aus dem Osten importierten asketischen Tendenzen ablehnten und sie sogar als dem Christentum fremd und völlig entgegengesetzt empfanden." Zur Familie vgl. auch GRÜTZMACHER, Hieronymus II, 179; LETSCH-BRUNNER, Mar-
cella, 190, und LABOURT, Saint Jérôme II, 25f. 181 Vgl. ep. 54,4 (54, 469, llf. H.): Cornelia uestra, pudicitiae simul et fecunditatis exemplar, Graccos suos se genuisse laetata est? Vgl. dazu auch NAUTIN, Études, REAug 20, 257f. Anm. 26. 182 Vgl. ep. 54,2 (54, 467,3 H.). 183 Sie war mit dem Sohn des Sextus Petronius Probus verheiratet, vgl. ep. 123,17 (56/1, 95,9f. H ). 184 Vgl. die Zusammenfassung bei GRÜTZMACHER, Hieronymus II, 180, und im folgenden die Einzelanalyse. 185 KRUMEICH, Hieronymus, 165f., beschreibt ausführlich das Geschlecht, dem Furia entstammt, und spekuliert über mögliche weitere Verwandtschaftsbeziehungen.
172
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
chen gehört, die die Frauenbriefe bei Hieronymus prägen: E x e g e s e und A s kese. Bei den Askesebriefen ist zu differenzieren z w i s c h e n solchen, die zur jungfräulichen Askese, und solchen, die zur Wahrung der Witwenschaft mahnen. Ist der eindringliche T o n zwar vergleichbar, so unterscheiden sich doch die Argumentationen. 2.2.2.
Einleitungsfragen
D e r vorliegende Brief ist eine Antwort des Hieronymus auf eine Anfrage, die Furia nach Bethlehem, möglicherweise an ihre Cousine Paula geschickt hatte 1 8 6 . Furia hatte, w i e w o h l sie Hieronymus nicht kannte 1 8 7 , nach Bethlehem geschrieben und ihn bitten lassen, ihr bei ihrer ausstehenden Entscheidung für ein Leben als vidua zu raten und zu helfen 1 8 8 . E s gibt w e n i g Anhaltspunkte zu einer Datierung des Briefes, möglicherweise stammt er aus dem Jahre 3 9 5 1 8 9 . 186
Nautin geht davon aus, daß die Anfrage der Furia nicht direkt an Hieronymus gerichtet gewesen sei, darauf wiesen die einleitenden Worte von ep. 54,1 hin: „La formule employée par Jérôme 'que je te réponde, ou plutôt que je t'écrive', montre que la lettre de Furia ne lui était pas personnellement adressée. Elle l'était probablement à Paule, sa parente, ..." (NAUTIN, Études, REAug 20, 259 Anm. 34). Die beiden Argumente, daß nämlich Hieronymus den Terminus rescribere als Beschreibung der Abfassung seines Briefes zurückweist und der Hinweis darauf, daß Furia eine Verwandte vor Ort hatte, scheinen mir recht überzeugend zu sein. Doch sind sie nicht mehr als Hinweise auf einen möglichen Ablauf des Geschehens. In der älteren Forschung wird dieses Problem noch nicht thematisiert. Grützmacher weiß zwar, daß Hieronymus und Furia einander unbekannt sind, spricht aber ganz unbefangen davon, sie habe sich an ihn gewandt (vgl. GRÜTZMACHER, Hieronymus II, 179). Andererseits scheint er auch die Möglichkeit im Blick zu haben, Hieronymus schreibe in erster Linie auf Veranlassung derjenigen Römer, die Furia (und möglicherweise ihr Vermögen) gern mittels ihres Entschlusses zu einem asketischen Leben für ihre Seite gewinnen wollten. Bei Grützmacher heißt es nämlich: „Da machte sich die asketische Partei an die junge Witwe heran und bearbeitete sie mit allen Mitteln, um die adlige Römerin ihrem Kreis anzugliedern und sich ihre Reichtümer zu sichern. Auch Hieronymus wurde mobil gemacht und sollte durch eine Epistel mit seiner gewandten Feder die Schwankende gewinnen." (GRÜTZMACHER, Hieronymus II, 180). 187
Vgl. ep. 54,3 (54, 468,3f. H.). Der Einfluß, den solche Briefe, auch durch ihre starke Verbreitung, hatten, ist nicht zu unterschätzen. Vielleicht schießt Grützmacher jedoch etwas über das Ziel hinaus, wenn er schreibt: „Während seines römischen Aufenthalts hatte Hieronymus nur verhältnismäßig bescheidene Erfolge erzielt, jetzt übte er von Bethlehem aus den größten Einfluß auf den römischen Hochadel aus. Hieronymus gehörte zu den Menschen, die stärker durch Briefe als durch ihre Persönlichkeit wirken." (GRÜTZMACHER, Hieronymus II, 179). 188
189
Der augenfälligste Datierungshinweis ist im Schlußkapitel dieses Briefes zu suchen. Dort heißt es: scio me ante hoc ferme biennium edidisse libros contra Iouinianum, ... (54, 485,17f. H.). Nautin, der der Datierung von ep. 54 ein ganzes Kapitel widmet (vgl. NAUTIN, Études, REAug 20, 257-263), geht von dem Hinweis am Ende des Briefes aus. Die
2. Exemplarische Analysen
173
Diesem Brief ist nicht nur ein Titel beigegeben, sondern Hieronymus bezeichnet den Text an anderer Stelle auch als libellus190. Dennoch ist der vorliegende Text deutlich als der Gattung „Brief' zugehörig qualifiziert, indem nämlich nicht nur der erste Satz um die Wortfelder litterae und scribere kreist, sondern auch an mehreren Stellen deutlich auf den Kontext des gegenseitigen Briefwechsels rekurriert wird 191 . Anders als im vorhergehenden Teilkapitel soll dieser Brief nicht kapitelweise analysiert werden. Hier lassen sich gut größere Einheiten abgrenzen, die jeweils im Kontext betrachtet werden sollen. Auf das Prooemium (Kap. 1-3)
Schrift Contra Iovinianum, die Hieronymus erwähne, stamme aus dem Jahre 393, so müsse der vorliegende Brief im Jahr 395 abgefaßt worden sein (vgl. NAUTIN, a.a.O., 260). Diesen Schluß zogen bereits CAVALLERA, Saint Jérôme II, 44, und SCHADE, Hieronymus I, 149; vgl. dieselbe Datierung auch bei Frede, Kirchenschriftsteller, 357; GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 79, und LABOURT, Saint Jérôme II, 25. NAUTIN, Études, REAug 20, 260, erwägt weiter, daß Fabiola und Oceanus mit ihrem Pilgervorhaben Furia motiviert haben könnten, sich an Hieronymus zu wenden und auch den Brieftransport übernommen haben könnten: „On se rappelle que cette même année Jérôme reçut à Bethléem la visite d'une autre grande dame romaine, Fabiola, et d'un homme du même milieu, Océanus, ami de Pammachius. Est-il téméraire de conjecturer que c'est ce voyage de Fabiola et d'Océanus qui a incité Furia à s'adresser à Jérôme, et qu'ils ont à la fois porté sa lettre et rapporté la réponse?" 190 Vgl. ep. 123,17: hic libellus 'De monogamia ' sub nomine tuo titulum possidebit. (56/1, 95,10f. H.). Wir haben gesehen, daß libellus keine mit epistula konkurrierende Gattungsbezeichnung sein muß, sondern beide Termini ein und denselben Text bezeichnen können, ja, daß der Begriff libellus oft auch schlicht auf den Umfang eines Textes abzielt (vgl. Kap. 3.2.6.). Dennoch läßt die Betitelung auf eine Sonderstellung des Schreibens schließen. 191 Vgl. dazu ep. 54,1: ...ut tibi rescribam, immo scribam, ... (54, 466,3f. H.); vgl. auch 54,3: exceptis epistulis ignoramus alterutrum, ... (54, 468,3f. H ). Feichtinger schreibt im Zusammenhang der Gattungsbestimmung: „Hieronymus' Schreiben an die Witwe Furia (ep. 54) ist einer jener Briefe, die Hieronymus selbst mit liber zu benennen und mit einem Titel zu versehen pflegt und die nur mehr durch den Adressaten und einige Einleitungs- und Grußfloskeln als Briefe ausgewiesen sind, tatsächlich aber christlich moralische Traktate mit meist persuasiver oder wenigstens mahnender Intention darstellen und für eine breite Öffentlichkeit bestimmt sind." (FEICHTINGER, Apostolae, 199). Wir hatten im Zusammenhang der Gattungsreflexion (Kap. I) die Entscheidung gefallt, gerade die Einleitungs- und Grußformeln, also das briefspezifische Topos- und Formelgut, als konstitutiv für die Gattung Brief zu betrachten und die Ausrichtung auf einen breiteren Adressatenkreis als ausschließlich die unmittelbar angesprochene Person, sowie den inhaltlichen und stilistischen Charakter der Briefe als „christlich moralische Traktate" - wobei man hier den möglichen Charakter als exegetische Traktate gleichberechtigt hinzufügen sollte - nicht im Widerspruch zur Gattungsbezeichnung zu sehen. Diese Grundentscheidung ermöglichte einerseits die Gattungsbestimmung anhand eindeutiger Kriterien, andererseits erlaubte sie es, der antiken Gattungseinteilung und damit der Intention des Verfassers zu folgen.
174
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
folgt als Hauptteil die Argumentation (Kap. 4 - 1 3 ) , die Kapitel 14-18 bilden die peroratio, w o b e i mit dem 18. Kapitel ein formelhafter Briefschluß vorliegt 1 9 2 . 2.2.3. 2.2.3.1.
Einzelanalyse Kapitel
1-3
D i e ersten drei Kapitel dieses Briefes sind als Prooemium gestaltet und sollen darum hier zusammen betrachtet werden 1 9 3 . D e r erste Satz dieses Briefes lautet: Obsecras litteris et suppliciter deprecaris, ut tibi rescribam, immo scribam, quomodo uiuere debeas et uiduitatis coronam inlaeso pudicitiae nomine conseruare.194 Mit dem ersten Satz des ersten Kapitels leistet Hieronymus zweierlei: Er liefert eine Begründung dafür, warum er es in Angriff g e n o m m e n hat, diesen Brief abzufassen, z u d e m fuhrt er in das Thema des Briefes ein 1 9 5 . D i e Begründung seines Schreibens wirft einige Probleme auf. D i e Korrektur immo scribam läßt darauf schließen, daß e s sich nicht u m eine Rückantwort handelt, Hieronymus also noch gar keinen Brief v o n Furia b e k o m m e n hat, sondern mit seiner Epistel die gegenseitige Korrespondenz eröffnet 1 9 6 . 192
Zur Begründung der Abgrenzungen vgl. jeweils die Einzelanalyse. Die Abgrenzung der ersten drei Kapitel des Briefes als eigenen Teil verficht auch Feichtinger. Sie begründet ihre Abgrenzung allerdings mit der Ausrichtung dieser Kapitel auf Furias Vater und der Operation mit altrömischen Wertbegriffen in diesem Teil des Briefes (vgl. FEICHTINGER, Apostolae, 2 0 2 f ) . M.E. ist weder das eine noch das andere nach diesen Kapiteln wirklich abgeschlossen, als Abgrenzungshinweis begreife ich vielmehr den Wechsel des Gegenstandes und des Argumentationsstiles zum vierten Kapitel hin. Ab dem vierten Kapitel geht es nicht mehr um Furias Familie, sondern um die 2. Ehe und die Gestaltung des Witwenstandes. Der werbende Argumentationsstil des ersten Teiles wird zum normativen „Witwenspiegel" (vgl. dazu im einzelnen die Analyse des Hauptteiles). Zu den Funktionen des exordium nach Quintilian vgl. im einzelnen Kap. 4.2.1.3.1. Die Hauptaufgabe dieser drei vorliegenden Kapitel ist es, durch das Lob der Familie Furias die junge Frau gewogen zu machen (benevolum facere). Durch die Andeutungen dessen, was alles verhandelt werden soll, wird sie gespannt auf den Brief (attentum facere)-. Es soll in ihr das Verlangen geweckt werden, den dargestellten Persönlichkeiten nachzueifern. Der Wunsch, den rechten Weg dazu zu erfahren, macht sie bereit, sich unterrichten zu lassen (docilem facere). Letzteres impliziert Hieronymus ohnehin: Schließlich sei sie es gewesen, die die Frage gestellt habe, die er im Folgenden zu beantworten gedenke. 193
194
Ep. 54,1 (54, 466,3-5 H.). Das Fehlen einer Grußformel, nicht nur in dieser Epistel, sondern in den meisten Briefen des Kirchenvaters, läßt darauf schließen, daß die Briefe für die Veröffentlichung redaktionell bearbeitet worden sind. Hieronymus wird seine Briefe sicher nicht ganz gegen die Konvention ohne Anfangsgruß verschickt haben. 196 Vgl. dazu die Einleitungsfragen zu diesem Brief. 195
2. Exemplarische Analysen
175
Unabhängig davon, ob die Anfrage Furias an Hieronymus oder einen Mittler gerichtet war, bietet Hieronymus wieder das übliche Schema der Begründung eines Briefes: Man habe von ihm die Stellungnahme zu einer bestimmten Frage verlangt, darum schreibe er überhaupt. Die Legitimation des Briefes als Antwort auf eine gestellte Frage steht hier nicht nur an exponierter Stelle in den ersten Worten, sondern sie findet auch einen besonderen sprachlichen Ausdruck: Furia beschwöre und bitte ihn flehentlich (obsecras ... suppliciter deprecaris), doch die Frage zu beantworten. Die Zeichnung des starken Drängens der Furia bringt die ihr von Hieronymus unterstellte Ratlosigkeit angesichts der von ihr zu treffenden Entscheidung zum Ausdruck, läßt aber nur bedingt auf den tatsächlichen Ton ihres Briefes schließen. Vielmehr werden hiermit Furia als Ratsuchende und Hieronymus als Ratgeber stilisiert und es wird dem Brief bereits am Anfang ein hierarchisches Gepräge gegeben. Hinsichtlich des Themas geht Hieronymus medias in res. Der Briefgegenstand wird mittels einer indirekten Frage im ersten Satz benannt: quomodo uiuere debeas et uiduitatis coronam inlaeso pudicitiae nomine conseruare. Dieser Satz ist keineswegs nur eine Angabe des zu erwartenden Themas, es wird hier vom Verfasser bereits ein Programm vorgelegt. Hieronymus unterstellt mit diesem Satz seiner Korrespondenzpartnerin eine bestimmte Frage. Sie hat nach seiner Aussage nach der Modalität, dem quomodo eines Lebens als ehrbare Witwe gefragt. Damit suggeriert er, daß ihre Entscheidung zu einem Leben als vidua, also als unverheiratete Frau, die ihr Leben, ihre Tätigkeit und ihre Finanzen in den Dienst der christlichen Gemeinde stellt197, bereits gefallen sei198. Im Verlaufe des Briefes setzt seine Argumentation an einem ganz anderen Punkt an: Er versucht zunächst durchaus, Furia mit unterschiedlichsten Argumenten zu überzeugen, sich zu einem Leben als vidua zu entschließen, 197 Zum Amt der vidua und zur Askeseform der Ehelosigkeit zur Zeit der Alten Kirche vgl. als Auswahl die folgenden Titel: P. BROWN, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München/Wien 1991 (New York 1988); E. BURCK, Die Frau in der griechisch-römischen Antike, München 1989; G. CLARK, Women in late antiquity. Pagan and christian lifestyles, Oxford 1993; E. DASSMANN, Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden, Hereditas 8, Bonn 1994; K.S. FRANK, (Hg.), Askese und Mönchtum in der Alten Kirche, WdF 409, Darmstadt 1975; Ch. MUNIER, Ehe und Ehelosigkeit in der Alten Kirche (1.-3. Jahrhundert), Bern/Frankfurt/New York 1987; G. PETERSENSZEMEREDY, Zwischen Weltstadt und Wüste: Römische Asketinnen in der Spätantike, Göttingen 1993. Zu des Hieronymus Verständnis von Askese vgl. weiter E. BICKEL, Das asketische Ideal bei Ambrosius, Hieronymus und Augustinus, NJKA 37, 1916, 437-474. Wenn ich im folgenden von „Witwe" spreche, ist dies stets im Sinne von vidua als Terminus technicus gemeint, zielt also auf die verwitwete Frau, die unverheiratet bleibt und ihr weiteres Leben als Asketin fuhrt, ab. 198 In diesem Sinne ist auch der folgende Satz in ep. 54,1 zu lesen: gaudet animus, exultant uiscera, gestit affectus hoc te cupere esse post uirum, quod sanctae memoriae mater tua Titiana multo fuit tempore sub marito. (54, 466,5-8 H.).
176
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
bevor er erläutert, wie eine ehrbare Witwe ihr Leben konkret zu gestalten hat. Diese programmatische Themenstellung zu Beginn des Briefes verdeutlicht also weniger den tatsächlichen Inhalt des Briefes als die Intention des Verfassers. Hieronymus antizipiert das Ziel der Argumentation, bevor er die Argumente anfuhrt. Damit suggeriert er dem Lesepublikum vorab die Selbstverständlichkeit des Ergebnisses der Argumentation. Dies ist bereits der erste Schritt der Argumentation. Hieronymus bedient sich im folgenden traditioneller Argumente, um die Vorzüge, die das Leben als vidua für eine junge Frau hat, vorzufuhren. Zum einen rekurriert er auf die Vorbilder innerhalb der Familie der Furia, zum anderen bemüht er römische Werte wie Traditionsgebundenheit und Gehorsam und Loyalität gegenüber dem Vater. Hierbei setzt er in der Regel bei den römischen Werten oder familiären Traditionen an, um dann mittels des rhetorischen Prinzips der Überbietung mindestens deren Erfüllung, wenn nicht ihr Übertreffen von der jungen Christin einzufordern. Im Hinblick auf die Familie der Furia fuhrt er Frauen auf, die ebenfalls nach der Verwitwung unverheiratet geblieben sind und ihr Leben in einen anderen Dienst als den der Familie gestellt haben. Namentlich erwähnt Hieronymus Furias Mutter Titiana, fügt dann aber allgemein an: habes praeterea generis tui grande priuilegium, quod exinde a Camillo uel nulla uel rara uestrae familiae scribitur secundos nosse concubitus,
Die Argumentationsstruktur des Hieronymus im Umgang mit diesem Befund ist eine doppelte: Zum einen stellt er Furia als prospektive vidua in die Tradition ihrer Familie. Damit bewegt er sich auf der Grenze von Familienrekurs zu altrömischen Werten, denn was ist das Wandeln auf den Wegen der Vorfahren anderes, als das Befolgen eines zutiefst römischen Wertes? Zum anderen aber fährt er mit dem rhetorischen Prinzip der Überbietung fort, indem er anfügt: ... ut non tarn laudanda sis, si uidua perseueres, quam execranda, si id Christiana non serues, quod per tanta saecula gentiles feminae custodierunt.200
In sprachlich ausgefeilter Form, mit einem doppelten Parallelismus (non tarn laudanda/si ... quam execranda/si ...), dessen beiden Hauptglieder einander adversativ gegenübergestellt sind, bringt Hieronymus seine Argumentation dieses Kapitels zu einem eindringlichen Abschluß: Ihr gebühre kein Lob, wenn sie nun auch den Weg als vidua fortsetze, sondern vielmehr Tadel, wenn sie als Christin nicht das bewahre, was die Heidinnen vor ihr eingehalten hätten. Hieronymus impliziert damit nicht nur eine Idealübernahme der Christen von den Heiden im Bereich der Witwenschaft, sondern bringt seine Überzeugung zum Ausdruck, daß Christen ethisch über Heiden stünden und das, was jene im 199 200
Ep. 54,1 (54, 466,9-12 H.). Ep. 54,1 (54, 466,12-14 H.).
2. Exemplarische
Analysen
III
Bereich der Ethik und Lebensführung leisteten und geleistet hätten, mit Selbstverständlichkeit ebenso zu leisten vermöchten und sie dabei sogar übertreffen müßten. Mit diesem ersten Kapitel liegt eine abgeschlossene, sehr sorgfältig aufgebaute Argumentation vor, die durch die beiden folgenden Kapitel um einige additiv gereihte inhaltliche Aspekte bereichert und zum Prooemium ergänzt wird. Hieronymus erweitert die Liste der Beispiele von Frauen aus der Familie Furias, die auf die zweite Ehe verzichtet haben, durch die Nennung der Namen Paulas, Eustochiums und Blesillas201 und fuhrt damit die christlichen Asketinnen der (weiteren) Familie an. Mit einer exclamatio verleiht er dem Wunsch Ausdruck, die Männer der Familie möchten sich an den Frauen ein Beispiel nehmen202. Hier kann man eine formale Parallele zu der im vorigen Kapitel nachgewiesenen rhetorischen Figur der Überbietung sehen: Wenn schon die jungen Frauen die Kraft zu dem in der Askese liegenden Verzicht aufbrächten, wieviel mehr müßten die alten Männer doch dazu bereit und in der Lage sein. Hieronymus ist sich wohl bewußt, daß er sich mit diesem Begehrsatz Feinde schafft. Er schildert, welche Schmähungen und Beschimpfungen er aufgrund dieser Kritik von den angesehen Kreisen Roms zu erwarten hat. Hierbei nutzt er die rhetorische Figur der Hyperbel, stilisiert sich als Märtyrer für seine Sache, indem er sich mit dem ebenfalls geschmähten Christus parallelisiert, und würzt seine Ausführungen mit einem Horazzitat203. Dem programmatischen Satz, er wolle die Tocher nicht vom Vater trennen, folgt eine dreigliedrige Testimonienkette204. Sie soll zum Ausdruck bringen, daß Glaube Nachfolge bedeute, Nachfolge aber Nachahmung des Lebensstiles Jesu sei und darunter wiederum asketisches Leben zu verstehen sei. Hier greift Hieronymus wieder eine römische Vorstellung, den Gehorsam gegenüber dem pater familias, auf, erweist sie aber gleichsam als durch die biblischen Testimonien außer Kraft gesetzt. Die additive Reihung von Aspekten setzt sich im dritten Kapitel des Briefes fort: Der erste Satz verurteilt Menschen, die unter dem Vorwand, die Un-
201 Vgl. ep. 54,2 (54, 467,1.3 H.). Zur Verwandtschaft dieser Frauen mit Furia vgl. die Einleitungsfragen zu ep. 54 in Kap. 4.2.2.1. 202 Vgl. ep. 54,2 (54, 467,5f. H.): atque utinam praeconia feminarum imitarentur uiri et rugosa senectus redderet, quod sponte offert adulescentia! 203 Vgl. ep. 54,2 (54, 467,7-12 H.), vgl. auch Horaz, ep. II 3, 94. Grützmacher sagt sarkastisch zu dieser Stelle: „Aber in Bethlehem war er für ihre Angriffe unerreichbar, hier konnte er seinen Mut am Schreibtisch beweisen." (GRÜTZMACHER, Hieronymus II, 180). Hierbei vernachlässigt er freilich die rhetorische Stilisierung der Stelle, die schon durch ihre perfekte Form sicher die gebildeten römischen „Gegner" beeindruckte. 204
Vgl. ep. 54,2 (54, 467,12-16 H.), vgl. auch Mt 8,22; Joh 11,25; I Joh 2,6.
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
keuschheit vermeiden zu wollen, doch den Tugenden keinen Vorschub leisten 205 . Der Gedanke, daß Nachfolge Priorität vor familiären Banden habe, daß der Gehorsam gegenüber dem leiblichen Vater zurücktreten müsse vor dem Gehorsam gegenüber dem himmlischen Vater, wird hier noch einmal aufgegriffen: tarn diu scito sanguinis copulam, quam diu ille suum nouerit creatorem; ,.206 Dieser Satz ist aufgrund sprachlicher Merkmale und aufgrund seiner Stellung im Aufbau des dritten Kapitels herausgehoben. Der Parallelismus (tarn diu ... quam diu), dessen beide Glieder durch eine Alliteration abgeschlossen werden, signalisiert die Relevanz des Gegenstandes, der in diesem Satz zum Ausdruck kommt, ebenso wie die diesem Satz folgende, im Kontext des Briefes außergewöhnlich ausfuhrliche allegorische Exegese von Ps 45,1 lf. und Cant 4,7 2 0 7 . Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Beobachtungen, die sich zum ersten Satz des Briefes formulieren ließen, sich am ganzen Prooemium verifizieren 205 Dieser Satz zielt auf die Problematik des paulinischen Rates ab, es sei für Ledige und Witwen besser zu heiraten, als der Begierde zu verfallen (I Kor 7,9). In anderen asketischen Schriften diskutiert Hieronymus diesen Satz ausführlich und kommt stets zu dem Schluß, daß er lediglich den Charakter eines Zugeständnisses habe, das wahre Ideal für Christen sei das des asketischen Lebens. Gern zeigt er Mißbräuche seiner Zeitgenossen auf, die das asketische Ideal verschleiern und dazu diesen paulinischen Satz vorschieben, und versucht, in diesem Zusammenhang den Stellenwert der Ehe zu bestimmen (vgl. zum Beispiel ep. 22,20f.29; ep. 123,4.6.17). Damit bewegt er sich ganz in traditionellen Bahnen, wie sie namentlich von Tertullian in Ad uxorem, De monogamia oder De pudicitia gewiesen sind. 206
Ep. 54,3 (54, 468,5f. H.). Der 45. Psalm, das „Lied zur Hochzeit des Königs", gehört zur Gattung der Königslieder. Die von Hieronymus erwähnten Verse entstammen dem zentralen Teil des Psalmes, der die Hochzeitszeremonie schildert (vgl. zur Exegese des Psalmes H.-J. KRAUS, Psalmen I, Biblischer Kommentar Altes Testament XV/1, Neukirchen 1960, 207
330-338).
Unabhängig von der konkreten exegetischen Einordnung bleibt festzuhalten, daß in Ps 45,1 lf. die Herausnahme der Tochter aus ihrem eigenen Volk, ihrem familiären Kontext, und die Eingliederung in eine neue Gemeinschaft, in den Herrschaftsbereich des Königs, zum Ausdruck kommt. Hier genau liegt das tertium comparationis, das Hieronymus zum Anlaß nimmt, die allegorische Deutung der „Tochter" aus dem Psalm auf Furia vorzunehmen: Auch letztere solle dem Ruf des Königs folgen, ihren Vater verlassen und sich vollständig in einen anderen Herrschaftsbereich, nämlich den Christi begeben. Im Kontext des Briefes meint Hieronymus damit, Furia solle ihre Entscheidung über ihr Leben als Witwe nicht von der väterlichen Meinung abhängig machen, sondern den Weg Christi gehen, der für Hieronymus eindeutig in einem asketischen Leben als vidua besteht. Genau dies bringt das zweite angefügte und ebenfalls allegorisch ausgelegt Zitat zu Ausdruck: Die Schönheit aus Cant 4,7 deutet Hieronymus auf die Schönheit der Seele der Frau, die die Entscheidung zu einem asketischen Leben getroffen hat. Er qualifiziert diese Schönheit näher als eine solche, die gerade auf äußerlichen Schmuck (extrinsecus ornatus, 54, 468,16 H.) verzichtet.
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lassen. Hieronymus hatte am Anfang die Frage Furias referiert und ihr dabei unterstellt, sich bereits nach der Konkretion des Lebens als vidua zu erkundigen. Seine Intention war es, damit das Ergebnis der Argumentation zu antizipieren und dadurch dem Lesepublikum die Selbstverständlichkeit dieses Schlusses zu suggerieren. Diese Intention zieht sich durch die Kapitel hindurch: Jede Einzelargumentation zielt darauf ab, den Vorzug des Lebens als vidua vor Augen zu fuhren. Die unklare Situation Furias zwischen bereits getroffener und noch zu treffender Entscheidung zieht sich ebenfalls durch die ersten Kapitel: Das Lob für die Entscheidung zu einem asketischen Leben steht neben der Mahnung, sich für ein solches asketisches Leben zu entscheiden. So wie die Argumentation geschickt gestaltet ist, so ist auch der Stil dieses Prooemiums ausgefeilt und bewußt komponiert. An einigen Stellen, beispielsweise im Zusammenhang der exclamationes, trägt er nahezu epideiktische Züge208. Ein persönlicher Ton, der an das ratsuchende Gegenüber gerichtet wäre, ist in diesen Kapiteln nicht zu erkennen. Vielmehr ergibt sich durch die streng rhetorisierende Form und den Einsatz klassischer Zitate der Eindruck starker Distanz. Es stellt sich nach diesen Kapiteln die Frage, wer eigentlich der Adressat ist, an den sich Hieronymus richtet. Da Hieronymus namentlich im zweiten und dritten Kapitel mit seiner Argumentation vorrangig von römischen Werten ausgeht, sieht Feichtinger besonders den Vater Furias als Adressaten209. Es stimmt sicherlich, daß der Kirchenvater von diesen Werten ausgeht, doch sollte man nicht außer Acht lassen, daß Furia selbst ja auch aus dieser Tradition stammt und es sich um ihr vertraute Werte handelt, mit denen Hieronymus operiert. Schlagender noch als der Rekurs auf eben jene Werte scheint mir der explizite Bezug auf Laetus und seinesgleichen, also auf römische Männer zu sein. Wenn es nämlich heißt, die römischen Männer sollten sich an den asketischen Frauen ein Beispiel nehmen, oder Hieronymus gerade vom römischen Patriziat Kritik befürchtet, ist es offenkundig, daß er mit eben jenen Männern, und damit also mit Rom, als Lesepublikum rechnet210. Könnte der Hinweis,
208 Hier setzt er sich über Quintilians Vorschrift zur Gestaltung des Prooemiums hinweg, denn dieser forderte einen einfachen, kunstlosen Stil (vgl. Quint., Inst. IV
1,58-60). 209 „Vor allem die ersten drei Kapitel sind in ihrer Argumentation unmittelbar an den Vater Furias und Gleichgesinnte gerichtet: sie operieren vor allem mit altrömischen Wertbegriffen und suchen den Gegner auf ureigenstem Feld zu schlagen." (FEICHTINGER, Apostolae, 202f.). Nautin grenzt den auf den Vater Furias ausgerichteten Teil mit den Kapiteln 1-6 ab (vgl. NAUTIN, Études, REAug 20, 259). 210 Vgl. ep. 54,2 (54, 467,5f.9-ll H.): atque utinam praeconia feminarum imitarentur uiri et rugosa senectus redderet, quod sponte offert adulescentia! ... consurgent proceres et aduersum epistulam meam turba patricia detonabit me magum, me seductorem clamitans et in terras ultimas asportandum. Letsch-Brunner schreibt zu
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Hieronymus wolle den Vater nicht von der Tochter trennen, durchaus als Beruhigung an die väterliche Adresse gedacht sein, so spricht der zweite VaterRekurs im dritten Kapitel eine andere Sprache, wenn es heißt: honora patrem tuum, sed, si te a uero patre non separat211.
Dies ist eine deutlich an Furia gerichtete Mahnung. Daß das Prooemium auch an Furia gerichtet ist, bekräftigt Hieronymus, wenn er seine eigene Intention beiläufig mit den Worten per occasionem exhortationis tuae2n, die an Furia gerichtet sind, zum Ausdruck bringt. So ist also von einer Adressatendoppelung auszugehen: Sowohl der Vater Furias und andere römische Männer in seiner Situation als auch Furia selbst sind als Adressaten in den Blick genommen. Über die Beziehung des Hieronymus zu seiner primären Adressatin ist in diesem Prooemium wenig zu erkennen. Gerade die Öffnung auf ein möglicherweise breiteres, vielfältiges Lesepublikum und der rhetorisierende, epideiktische Stil zeigen, daß es sich nicht um eine persönliche, individuelle Mahnung handelt und bedingen den Eindruck eines distanzierten Verhältnisses von Furia und Hieronymus. 2.2.3.2. Kapitel 4-13 Die Kapitel 4-13 bilden den Hauptteil des vorliegenden Textes, die Argumentation. Aufgrund inhaltlicher Kriterien läßt sich dieser Hauptteil noch einmal unterteilen in einen Teil a, Kap. 4-6, in dem Argumente für eine Entscheidung zu einem weiteren Leben als vidua geliefert werden, und einen Teil b, Kap. 713, in dem konkrete Anweisungen für die Gestaltung eines Lebens als vidua geboten werden. Im gesamten Teil a läßt sich eine durchgängige Intention feststellen: Es geht Hieronymus darum, Furia zu der Entscheidung für ein Leben als vidua zu drängen. Dieses Ziel versucht er nicht mittels eines durchgängigen Argumentationsstranges zu erreichen, sondern er reiht unterschiedliche Aspekte aneinander, die vor allem die Nachteile des Ehestandes zum Ausdruck bringen213. Die
dieser Stelle: „Dass nämlich Ep. 54 nicht allein für Furia, sondern für ganz Rom bestimmt war, steht außer Zweifel." (LETSCH-BRUNNER, Marcella, 191). 2 1 1 Ep. 54,3 (54, 468,4f. H.). Hier liegt keine Binnenanrede vor, die etwa an Furia gerichtet wäre. Der Imperativ im Singular erklärt sich daraus, daß hier ein Zitat vorliegt, nämlich das vierte Gebot, das in Ex 20,12 steht. 2 1 2 Ep. 54,2 (54, 467,2 H.). Hier liegt eine der wenigen Binnenanreden des Prooemiums vor, die einen Hinweis auf die Ausrichtung auf Furia als Adressatin bieten. 2 1 3 Im vierten Kapitel rekurriert Hieronymus zunächst auf die Sorgen des Ehestandes, geht dann auf den möglichen Einwand, die Furier brauchten Nachkommen, ein, und kommt letztlich auf den einzig angemessenen Erben einer Christin zu sprechen: Dieser sei Christus. Im fünften Kapitel zeichnet er die Nachteile des weltlichen Lebens als Hausfrau. Hierzu gehört namentlich der schlechte Einfluß, den Dienstboten, welche
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inhaltlichen Aspekte dieses Kapitels sind nicht originell. Hieronymus bewegt sich mit seinen Argumenten im Bereich traditioneller Ehepolemik, die ebensogut für die Überzeugung zu einem Leben als virgo eingesetzt werden könnte, und die nicht nur aus seinen anderen asketischen Schriften bekannt ist214. Auffällig hingegen ist die sprachliche Form, derer sich Hieronymus bedient. Durchgängig legt er einen eifernden, polemischen Ton zutage, wie wir ihn sonst aus den Streitschriften kennen. Seine Argumente werden mit Beispielen angereichert, die er in zumeist scharfer satirischer Überspitzung darbietet. So vergleicht er in Kap. 5 die Ehe mit dem Überdruß der Israeliten am Wachtelfleisch215 und schreckt nicht davor zurück, den Tod des Ehemanns als Befreiung von diesem Überdruß zu deuten, indem er ihn in Fortführung des biblischen Bildes mit dem Übergeben des geplagten Magens symbolisiert216. Ebenso macht Hieronymus sich mit beißender Ironie über den möglichen Kinderwunsch der Furia lustig, indem er nicht nur darauf hinweist, daß die Ehe nicht notwendigerweise Nachkommenschaft nach sich ziehe, sondern auch Beispiele für mißratene Kinder aufzählt, die die in sie gesetzten Erwartungen der Eltern nicht erfüllt hätten217. Die Darstellung in satirischer Überspitzung findet ihren stilistischen Ausdruck in zahlreichen rhetorischen Fragen und exclamationes neben kurzen Parataxen. So wirkt dieses Kapitel äußerst lebendig und verfügt über große Intensität.
stets nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht seien, ausübten. Das sechste Kapitel hält noch einmal das gute Vorbild der Mutter vor Augen und kontrastiert es mit dem schlechten Rat des Vaters. 214 Vgl. beispielsweise die Episteln 22 Ad Eustochium, 79 Ad Salvinam und 123 Ad Geruchiam de monogamia. 215 Vgl. Num 11,20. 216 Vgl. ep. 54,4 (54, 469,If. H.): amarissimam choleram tuae sensere fauces, egessisti acescentes et morbidos cibos, releuasti aestuantem stomachum: ... An anderer Stelle macht Hieronymus deutlich, daß er durchaus auch um die Annehmlichkeiten des Ehelebens weiß. Im siebten Kapitel streicht er als Zweck des Fastens und Wachens in metaphorischer Redeweise heraus, daß dadurch die feurigen Pfeile des Teufels, nämlich die Erinnerung an die genossenen Freuden, getilgt werden müssen: meminit pristinae uoluptatis, seit, quid amiserit, quo delectata sit: ardentes diaboli sagittae ieiuniorum et uigiliarum frigore restinguendae sunt. (54, 473,14-17 H.). 217
In seiner Studie über satirische Züge im Werk des Hieronymus greift Wiesen diese Stelle als charakteristisch heraus und schreibt: „This is coarse and humorless satire, completely wanting in any sympathy for human feelings." (D.S. W I E S E N , St. Jerome as a Satirist. A study in christian latin thought and letters, Ithaca/ New York 1964, 132). Er deutet diese „Ausfalle" nicht nur als sachbezogenen Eifer, sondern verankert diese Art „menschenverachtender Satire" (vgl. ebd.) in der Persönlichkeit des Kirchenvaters: „These remarks to Furia well illustrate how impossible it is to divorce Jerome's satiric critique of society from a certain callousness toward normal human hopes and aspirations inherent in his character." (ebd.).
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Kapitel 4: Exemplarische
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Der satirische Charakter des 5. Kapitels steht dem des vierten nicht nach: Hier liegt mit der Sklavenpolemik nicht nur ein bekannter Topos vor, sondern der Rekurs auf das „Sklaven-Problem" entstammt der paganen Satire218. Der Stil dieses Kapitels ist weniger intensiv und polemisch als der des vorhergehenden, jedoch nicht minder abwechslungsreich. Hieronymus erreicht hier die Lebendigkeit damit, daß er seinen Text mit gleich zwei klassischen Zitaten schmückt219 und eine exclamatio in Griechisch einfugt220. Das 6. Kapitel stellt Furia noch einmal das Vorbild ihrer Mutter vor Augen, die mit den gängigen Epitheta asketischer Tugenden gezeichnet wird221. Die Relevanz dieses Tugendkataloges wird durch die Auffälligkeit in der sprachlichen Form - Hieronymus konstruiert hier ein viergliedriges Parison, das durch einige Parallelismen angereichert ist - unterstrichen, die einzelnen Tugenden werden förmlich „eingehämmert". Es schließt sich eine Mahnung an den Vater an, er solle sich über den Entschluß der Tochter freuen. Der Hinweis auf den Tod, der ohnehin jede fleischliche, also eheliche, Bindung beendet hätte, bietet Hieronymus die Gelegenheit, eine Mahnung im Stile des memento mori anzuschließen: non quaeruntur in Christianis initia, sedfmis:
,.?22
Den Gedanken, daß ein schlechter Beginn bei entsprechender Umkehr doch zu einem guten Ende fuhren kann, entfaltet Hieronymus mittels einer Testimonienkette. Über biblische Stellen, die ihren Ort in der altkirchlichen Bußlehre haben, fuhrt er hin zum Zitat von Lk 7,47223. So gewinnt das Ende dieses Ka218
Wiesen weist auf Juvenals Spott über den Sklaven eines reichen Mannes in der 5. Satire hin (vgl. WIESEN, St. Jerome, 132). Er geht vor allem auf das zweite klassische Zitat in diesem Text (54, 471,1-3 H.) aus Persius I, 32f.35 ein. Im Kontext des Briefes verwendet Hieronymus diese Zeilen zur Polemik gegen die Herrinnen, die dem schlechten Einfluß ihrer Sklaven erlegen sind. Wiesen erläutert, daß diese Satire ursprünglich einem ganz anderen Ziele galt, nämlich dem Lächerlichmachen weibischer Dichter (vgl. WIESEN, St. Jerome, 133). Aus diesem direkten Rekurs auf die antike Tradition schließt Wiesen, daß Hieronymus sich der Gattungsparallelen sehr wohl bewußt war: „Such insertions of pagan satire into his own polemic strongly suggest that Jerome was fully conscious of the similarity between his own censorious attacks on his society and the satire of the pagans and was striving to reproduce their spirit in his own age." (a.a.O., 133f.). 219
Neben der erwähnten Persius-Stelle liegt ein Vergil-Zitat vor (Verg., Aen. IV 32f. in 54, 470,7f. H., vgl. ebd. Anm. 7). 220 Vgl. ep. 54,5 (54, 470,12 H.): o rpaiKo;, o e7ii0exTiq. 221 Vgl. ep. 54,6 (54, 471,19-472,3 H.): imitare potius - crebro enim id ipsum repetam - sanctam matrem tuam, cuius ego quotiens recordor, uenit in mentem ardor eius in Christum, pallor ex ieiuniis, elemosyna in pauperes, obsequium in seruos dei, humilitas et cordis et uestium atque in cunctis sermo moderatus. 222 Ep. 54,6 (54, 4 7 2 , l l f . H.). 223 Hieronymus reiht Ez 33,12; Gen 28,12f.; Ez 33,11 und Apk 3,16.
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pitéis den Charakter einer klassischen Bußmahnung, wie sie seit Tertullians De paenitentia in der altchristlichen Literatur gang und gäbe ist. Zusammenfassend ist zu diesem Teil zu sagen, daß durchgängig eine einheitliche Intention vorliegt. Mit unterschiedlichsten traditionellen Argumenten sucht Hieronymus Furia davon zu überzeugen, auf eine zweite Ehe zu verzichten und ein Leben als vidua zu fuhren. Die additive Reihung der Einzelargumente wird ergänzt durch die aus dem Prooemium bereits bekannte Figur, daß Furia der im Sinne des Hieronymus gefaßte Beschluß unterstellt wird und ihr dadurch die Selbstverständlichkeit dieses Entschlusses suggeriert werden soll: Haec locutus sum, in Christo filia, non dubitans de proposito tuo - numquam enim exhortatorias litteras postulares, si ambigeres de bono monogamiae ...224
Nicht nur die durchgängige Intention, die in der Bußmahnung endet, auch die dreimalige direkte Anrede Furias, je am Anfang eines Kapitels, machen deutlich, daß sie hier die Adressatin ist. Daß diese Kapitel mindestens ebenso wie die des Prooemiums von Anspielungen auf römisch-pagane Traditionen und Zitaten aus der klassischen Literatur gespeist sind, zeigt, daß eben dieses noch kein Hinweis darauf sein muß, daß auch ein anderer Adressat als ausschließlich Furia in den Blick genommen sei. Gerade ihr, der gebildeten, sorgfältig erzogenen adligen Römerin, meint Hieronymus mit diesen Allusionen imponieren zu können. Der zweite Teil des Hauptteiles, Teil b, ist ungleich länger. Er liefert die konkreten Anweisungen zur Gestaltung eines Lebens als vidua. Wie im vorigen Teil ist auch hier festzustellen, daß die Originalität weniger in der Art als in der Präsentation der Argumente liegt. Die beiden Teile a und b sind durch den Rekurs auf dieselbe Bibelstelle miteinander verknüpft. Endete das 6. Kapitel mit einer Variation von Lk 7,47, wem mehr vergeben wird, der liebt auch mehr, so setzt das 7. Kapitel mit dem Rekurs auf die Jesus salbende Sünderin ein. Im 7. Kapitel gibt Hieronymus Vorschriften zu Kleidung und Schmuck von Witwen225. Dieses Kapitel hat den Charakter einer reinen Abhandlung. Auf die Adressatin wird kein expliziter Bezug genommen. 224
Ep. 54,6 (54, 471,12-14 H.). Die aus dem Prooemium bekannte Figur wird hier sogar noch raffiniert erweitert, indem Hieronymus die Anfrage Furias bereits als Zeichen ihres festen Entschlusses hinstellt. 225 Witwen sollen sich nicht schminken, keinen Schmuck tragen und sich mit unscheinbarer Kleidung bescheiden. Hieronymus führt als Gründe für diese Verhaltensanweisung an, andernfalls könnten Männer durch den Anblick der zurechtgemachten Frau verfuhrt werden, zudem sei es unziemlich, Gott dem Schöpfer einen anderen als den von ihm geschaffenen Anblick zu bieten. Als Tugend der Witwe wird die perseverantia (vgl. ep. 54,7 [54, 473,14 H.]). herausgestrichen, der einzige Schmuck, den eine Witwe nötig habe. Die Notwendigkeit, als Witwe ungeschminkt zu bleiben,
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Die Kapitel 8-10 bilden innerhalb des Teiles b eine inhaltliche Einheit; sie kreisen alle um den Gegenstand der Keuschheit. Das 8. Kapitel widmet sich der Frage, worin eine Witwe möglicherweise sündigen könne, und fuhrt damit auf die Hauptgefahr, nämlich den Verlust der pudicitia hin. Wie diese zu bewahren sei, entfalten die folgenden Kapitel 9 und 10 226 . Die Argumentation des 8. Kapitels besteht in der Exegese von I Tim 5f. Im Gegensatz zu der sonst bei Hieronymus üblichen Praxis der Exegese verzichtet er auf weitere Textbelege oder Übersetzungsparallelen. Er erläutert die angeführte Stelle mit seinen eigenen Worten auf denkbar einfache Weise und leitet seine Erklärung mit quod dich, istius modi est227 ein, um den Einsatz der Erklärung zu signalisieren. Die Exegese wird mit einem ebenfalls schlichten exegetischen Element angereichert: Hieronymus fuhrt das Verhalten des Apostels Paulus, wie es in I Kor 9,27 zum Ausdruck kommt, als exemplum an. Auch das 9. Kapitel zielt auf den Zusammenhang von Enthaltsamkeit im Essen und Trinken und der Keuschheit der Asketinnen ab und will zum Maßhalten im Genuß mahnen 228 . Hieronymus entfaltet diesen Zusammmenhang mittels zweier Argumentationsketten. Die erste Argumentation ist biblischer Natur und basiert im Anschluß an I Kor 16,18 auf der Unterscheidung zwischen Sünden, die innerhalb des Leibes, und solchen, die außerhalb desselben seien 229 .
führt Hieronymus eindringlich vor, indem er durch dreimalige rhetorische Fragen, die jeweils auf die Unvereinbarkeit von Asketentum und äußerlichem Schmuck abzielen, seiner Sprache intensiven Charakter verleiht. 'J'Jfk Das 7. Kapitel, das als Hauptgefahr des Schminkens die Verführung der Männer gekennzeichnet hatte, zielt natürlich in vorsichtiger Weise auf denselben Gegenstand ab. Im 8. Kapitel geht Hieronymus von der Aussage in I Tim 5f., eine ausschweifend lebende Witwe sei tot, aus und exegesiert diesen Satz im folgenden, wie er sagt, um sich auf eine höhere Autorität als seine eigene zu berufen. Das inhaltliche Ziel dieses exegetischen Exkurses ist es zu zeigen, daß es klare Kriterien für die Feststellung echter pudicitia gebe, nämlich continentia und parcitas (vgl. ep. 54,8 [54, 474,11-13 H.]). Der letzte Satz des Kapitels liefert in der Form einer rhetorischen Frage den Kausalzusammenhang von Enthaltsamkeit, Genügsamkeit und davon abhängiger Keuschheit.2 2 7 Vgl. ep. 54,8 (54, 474,7 H.). 228 Wie stark die voluptas sei, die durch das unmäßige Essen und Trinken in den Menschen erregt werde, bringt Hieronymus mit einer eindrücklichen metaphorischen Rede zum Ausdruck: non Aetnaei ignes, non Uulcania tellus, non Ueseuus et Olympus tantis ardoribus aestuant, ut iuueniles medullae uino plenae, dapibus inßammatae. (54, 474,19-475,2 H.). 229 Die äußeren, nämlich avaritia, maledica lingua, cultus corporis und habitus vestium seien leicht zu überwinden (vgl. ep. 54,9 [54, 475,2-4 H.]). Die innere hingegen, libido, sei aus Gründen der Fortpflanzung von Gott in die Menschen eingelegt und daher nur sehr schwer zu überwinden (vgl. ep. 54,9 [54, 475,8f. H.]).
2. Exemplarische Analysen
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Ein zweiter Argumentationsstrang ist medizinischer Natur. Auf Galenus230 bezugnehmend, fuhrt Hieronymus medizinisch-praktische Argumente für eine sparsame Ernährungsweise an. Eine Testimonienkette, die biblischer und klassischer Literatur entnommene Zitate mischt, schließt dieses Kapitel ab231. In diesem 9. Kapitel setzt sich der dozierende, narrative Charakter der vorhergehenden Kapitel fort. Wieder ist kein expliziter Bezug auf die Adressatin erkennbar. Die breite Darstellung des im Anschluß an das 8. Kapitel weiter ausgeführten Zusammenhangs von Völlerei und libido nimmt hier redundante Züge an. Das 10. Kapitel widmet sich zwar demselben Gegenstand, der Frage der maßvollen Ernährung, bringt aber insofern einen neuen Aspekt, als Hieronymus nun die Konkretion seiner Vorstellung von richtiger Ernährung leistet. In seiner Argumentation begründet er jeweils die Ernährungsanweisungen mit biblischen Zitaten und führt als vorbildhaftes exemplum die Jünglinge aus dem Feuerofen, die sich auch von Gemüse ernährten, an232. Konsequenterweise ändert sich mit dem Wechsel von theoretischer Überlegung zu konkreter Anweisung, der mit diesem Kapitel vollzogen wird, der Stil des Briefes. Hatte Hieronymus in den ersten Kapiteln sich vor allem dozierend der dritten Person Singular bedient, so redet er nun sein Gegenüber direkt an, ja, er erteilt seine Anweisungen im Imperativ. Mit der praxisorientierten Direktheit, die nun vorherrscht, nimmt die Menge der Zitate ab. Klassische Rekurse finden wir überhaupt nicht mehr, allein einige biblische Zitate werden versprengt eingestreut. Das 11. Kapitel geht auf die Gestaltung des geistlichen Lebens der Witwe ein und gibt die Anweisung, nach der Mahlzeit zu beten und eine Schriftlesung zu halten. Die Argumentation beschränkt sich auf eine Testimonienkette biblischer Stellen, die im Anschluß an die zuvor in Form von Postulaten geäußerten sechs Anweisungen allegorisch ausgelegt werden. Das Kapitel schließt mit
230
Vgl. ep. 54,9 (54, 475,14-476,2 H.). Es ist hier Bezug genommen auf Galenus, üyieivcov Xoycov I l l . V 5, vgl. HILBERG 54, 475. 231 Vgl. Lk 21,34; Eph 5,18; Terentius, Eunuchus 732 (dazu vgl. LABOURT, Saint Jérôme III, 33). 232 Umsichtig beugt er dem möglichen Mißverständnis vor, man könne beabsichtigen, durch die vegetarische und alkoholfreie Ernährung nach dem Beispiel der jungen Männer sein Aussehen verbessern zu wollen, vgl. dazu ep. 54,10 (54, 477,2-7 H.). Aufgrund von praktischer Erfahrung weist Hieronymus auf die Unverträglichkeit von Hülsenfrüchten und das unangenehme Gefühl des Aufstoßens hin. Wissenschaftlern aus diskreteren Epochen als der unseren war dies freilich zu direkt: „Der alte Fanatiker der Askese, Hieronymus, scheut vor keiner Schamlosigkeit zurück ..." (GRÜTZMACHER, Hieronymus II, 181). Hieronymus ist sich der Direktheit seiner Darstellung bewußt, so leitet er mit folgenden Worten die abschließende Zusammenfassung dieses Kapitels ein: malo apud te, filia, uerecundia parumper quam causa periclitari. (ep. 54,10 [54, 477,12f. H.]).
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
einer Anempfehlung an einen geistlichen Beistand, an Exsuperius233, ab. Es liegt ein noch stärkerer imperativischer Anweisungscharakter vor als im vorhergehenden Kapitel, da hier überhaupt keine Begründungen für das geforderte Verhalten geliefert werden. Das 12. Kapitel behandelt den Umgang mit Geld: Es solle den Armen gegeben werden. Die konkrete Bestimmung der Zielgruppe geschieht mittels einer doppelten antithetischen Konstruktion, die in ihrer Komplexität auf die Schwierigkeit, die richtigen Adressaten für die Gaben zu finden, hinweist. Als Begründung werden wieder biblische Gebote geliefert234. Die Anweisungen dieses Kapitels sind wieder im Imperativ gegeben und die Begründungen kaum ausgeführt. Wie auch schon mit der Anweisung zu Gebet und Lesung bewegt Hieronymus sich hier im Bereich allgemeiner ethischer Vorschriften für Christen, die außer dem Rekurs auf die einschlägigen und hinlänglich bekannten Schriftstellen keiner weiteren Begründung bedürfen. Mit dem 13. Kapitel endet der Hauptteil des Briefes, es widmet sich dem für eine Asketin angemessenen Umgang, nämlich viduae und virgines235. Zwei 233 Zur Schreibweise des Namens Exsuperius vgl. REBENICH, Hieronymus, 260 Anm. 372. GRÜTZMACHER, Hieronymus II, 182; LABOURT, Saint Jérôme III, 219, und SCHADE, Hieronymus II, 161 Anm. 6, identifizieren diesen Exsuperius mit dem späteren Bischof von Toulouse. Nautin diskutiert diesen Identifizierungsversuch mit jenem Exsuperius: Bischof Exsuperius von Toulouse könne seiner Ansicht nach nicht gemeint sein, da zum einen Hieronymus der Furia als kontinuierlichen Ratgeber sicher eine in Rom lebende Person empfiehlt - schriftliche Ratschläge könne er schließlich auch selbst geben -, zum anderen er seiner üblichen Praxis entsprechend bei einem Bischof vermutlich den Titel nicht unerwähnt gelassen hätte (vgl. NAUTIN, Études, REAug 20, 259 Anm. 36). Er schließt: „C'était sans doute un moine romain, que Jérôme estimait capable de jouer auprès de Furia le rôle de directeur spirituel et de maître en exégèse qu'il avait joué lui-même à Rome auprès de Marcelle et de Paule. Serait-il le moine qui l'avait remplacé de Marcelle? Jérôme recommande plus loin à Furia de prendre modèle sur cette dernière." (ebd.). Zur Diskussion vgl. auch REBENICH, Hieronymus 260-268. 234
Vgl. Lk 16,9; Ps 40,2, Lk 6,30; Gal 6,10; Mt 25,35-45. Hieronymus untersagt in diesem Zusammenhang den Umgang mit jungen Leuten und Musikern sowie den Aufenthalt in der Öffentlichkeit und den Umgang mit nicht asketischen Sklaven, Asketinnen sollten mit Männern nur unter Zeugen sprechen. Der erste Satz von ep. 54,13 lautet: Iuuenum fuge consortia. (54, 479,3 H.). Hierin wie in anderen Umgangsvorschriften wird deutlich, daß die übliche Unterscheidung von Anweisungen für viduae und Anweisungen für virgines von Hieronymus kaum beachtet wird. Gehört sonst in die Witwenvermahnung der Hinweis, die Öffentlichkeit zu meiden und züchtig zu bleiben, vor allem aber, die üble Nachrede zu unterlassen (vgl. z.B. Johannes Chrysostomus, De sacerdotio III 12), so ist der Befund hier anders: Hieronymus liefert kaum Anweisungen, die sich von denen an eine virgo unterscheiden (vgl. seine an die virgo Eustochium gerichteten Vorschriften in ep. 22). Besonders die Vorschriften, sich nicht mit jungen Menschen zu umgeben und mit Männern nur unter Zeugen zu sprechen, dürften auf das jugendliche Alter der Asketin ausgerichtet sein 235
2. Exemplarische Analysen
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exempla schließen sich diesen Anweisungen an: Das Negativbeispiel einer Frau, die in weltlichem Prunk lebte und damit die Kritik aller auf sich zog, wird mit einer Metonymie klassischer Tradition illustriert236. Wie auch bei den allgemeinen Hinweisen zum Umgang wird das Negativbeispiel von einem Posi-
und sich weniger am konkreten Stande der Askese, virgo oder vidua, festmachen. Ansätze zu einer Differenzierung finden wir da, wo auf die Bußsituation hingewiesen wird und angedeutet ist, daß in der Entscheidung zu einem asketischen Leben als vidua und damit in der bewußten Abkehr von dem zuvor praktizierten Eheleben eine conversio stattfindet. Doch Hieronymus fuhrt diesen Gedanken nicht weiter aus. Lediglich aus seiner Bußvermahnung am Ende von ep. 54,6 (vgl. dazu die entsprechende Einzelanalyse) könnte man erahnen, daß bei ihm eine Differenzierung von virgo und vidua dahintersteht, die im Sinne von Tertullians De pudicitia verstanden werden könnte. 236
Ep. 54,13 (54, 479,18-480,3.): uidimus nuper ignominiosum per totum orientem uolitasse: et aetas et cultus et habitus et incessus, indiscreta societas, exquisitae epulae, regius apparatus Neronis et Sardanapalli nuptias loquebantur. Hier legt Hieronymus eine rhetorisch glänzend gestaltete Satire vor, in einem Polysyndeton werden alle Bereiche, in denen der entsprechende Mensch gefehlt hat, aufgelistet. NAUTIN, Études, REAug 20, 260, datiert dieses Ereignis, den Umlauf des Gerüchtes, auf das vorhergehende Jahr, nämlich 394, indem er sich auf ep. 54,13 (54, 480, llf. H) bezieht, wo es heißt: si anno praeterito fama mentita est... Devos hat den Nachweis erbracht, daß es sich bei jenem Menschen um eine Verwandte des Kaisers Theodosius mit Namen Poemenia handelte. Diese sei auf der Reise in die Wüste gewesen, um sich vom Eremiten Johannes von Lykopolis von einer Krankheit heilen zu lassen. Von Ägypten aus habe sie sich nach Jerusalem begeben. In ihrem Gefolge seien Bischöfe und Eunuchen gereist (vgl. dazu P. DEVOS, Saint Jérôme contre Poemenia? Appendice à Sylvie la sainte pèlerine, AnBoll 91, 1973, 117-120; DERS., La „servante des Dieu", Poemenia, d'après Pallade, la tradition copte et Jean Rufus, AnBoll 87, 1969, 189-212). Die einzelnen von Hieronymus angeführten Warnungen und Kritikpunkte stimmen mit den von Devos aufgeführten Nachrichten über Poemenia überein. Zudem ist es überzeugend, bei einem Negativbeispiel für eine Frau ebenfalls von einer Frau auszugehen. Die kritisierte Frau wird hier mit Nero und Sardanapal verglichen, wobei als tertium comparationis deren sexuelle Verworfenheit gilt. Nautin will die Rede von den nuptiae Neronis dahingehend deuten, daß er annimmt, Hieronymus ziele auf ein unzüchtiges Verhältnis Poemenias mit jemandem ab, der es verdient habe, mit Nero oder Sardanapal verglichen zu werden. Er zieht sogar in Betracht, daß Hieronymus auf Rufin als möglichen Partner Poemenias anspielen wolle. Es sei selbstverständlich, daß sie während ihres Aufenthaltes in Jerusalem als Aufenthaltsort das Frauenkloster auf dem Ölberg gewählt habe, so habe die mit diesem hohen Besuch verbundene Auszeichnung Neid in den anderen klösterlichen Gemeinschaften geweckt und dazu beigetragen, schlechte Gerüchte über Poemenia in die Welt zu setzen (vgl. NAUTIN, Études, REAug 20, 261f.). WIESEN, St. Jerome, 135f., identifiziert die Frau zwar noch mit St. Silvia, seine im Anschluß vorgetragene Überlegung, daß der hohe Rang der Dame Hieronymus bewegt haben könnte, seine Satire ohne Namensnennung zu belassen, läßt sich dennoch auch auf Poemenia übertragen. Anders LABOURT, Saint Jérôme II, 2 3 7 - 2 3 9 .
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Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
tivbeispiel gefolgt: Hieronymus hält seiner Leserin noch einmal das exemplum Eustochiums vor Augen, das mit einer exclamatio verbunden wird und dadurch eine exponierte Stellung einnimmt237. Das Kapitel gipfelt in der Mahnung, sich an Eustochium ein Beispiel zu nehmen. Die Argumentation dieses Kapitels beschränkt sich wie in den voraufgegangen Teilen auch auf imperativische Anweisungen, die mit Testimonienketten238 angereichert sind. Auf zweifache Weise wird hier den Imperativen allerdings die Schärfe genommen: Relativierend fügt Hieronymus im Anschluß an das Negativbeispiel an: haec dico, non quo de te sinistrum quid metuam, sed quo pietatis affectu etiam, quae tuta sunt, pertimescam.
Er versucht herauszustreichen, daß er mit diesen Anweisungen Furia nicht etwa die Anfälligkeiten für derlei Sünden unterstellen will, und begründet sein Vorgehen mit seiner pietas, dem Pflichtgefühl, das solcherlei Mahnungen in einer entsprechenden Abhandlung unerläßlich scheinen lassen240. Das zweite Moment, das den imperativischen Anweisungen relativierend entgegensteht, ist der Schlußsatz des Kapitels: imitare ergo et tu consanguineam possidet Bethleem.241
tuam: habeat Roma, quod angustior urbe Romana
Hieronymus stellt Furia die Möglichkeit vor Augen, die Verwandte Eustochium in asketischer Tugend nachzuahmen. Mit den Vergleichspunkten der Wohnorte Rom und Bethlehem wird die Mahnung zum asketischen Leben untermauert: Das große Rom soll endlich auch bekommen, was das kleine Bethlehem schon hat: eine Eustochium. Angesichts der emphatischen Schilderungen der perfekten Asketin Eustochium kann dieser Satz nur als Schmeichelei begriffen werden.
237 Hier liegt allerdings ein sachlicher Bruch vor. Sowohl das Negativbeispiel als auch das Positivbeispiel beziehen sich nicht ausschließlich auf den Umgang, der eigentlich in diesem Kapitel thematisiert wird. Namentlich beim exemplum Eustochiums liefert Hieronymus einen allgemeinen asketischen Tugendkatalog. Zudem wird Eustochium mit herausragenden biblischen Frauen parallelisiert, mit Maria und Mirjam, so daß die Auflistung konkreter Anweisungen hier ein abruptes Ende nimmt. 238 Hier bestehen diese Ketten nicht nur aus biblischen Zitaten, sondern auch aus Volksweisheiten und Vergilzitaten (vgl. dazu HILBERG, 54, 497f.). 239
Ep. 54,13 (54, 480,13f. H.). SCHADE, Hieronymus II, 163, übersetzt den Begriff pietas mit „pflichtgemäßer Sorge", hierin ist m.E. die von Hieronymus intendierte legitimierende Konnotation nicht ganz aufgefangen, da sich die Sorge ja immerhin auch auf Furias Verhalten beziehen könnte. Der Gattungsbezug auf die asketischen Schriften scheint mir treffender zu sein. 240
241
Ep. 54,13 (54, 481,1-3 H.).
2. Exemplarische
Analysen
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Zusammenfassend ist zum Hauptteil des Briefes zu sagen, daß er in inhaltlicher Hinsicht die am Ende des vierten Jahrhunderts schon „klassisch" gewordenen Askesevermahnungen vorträgt, ohne dabei auf mögliche Differenzierungen zwischen Anweisungen für virgines oder viduae Rücksicht zu nehmen. Dienten die Kapitel 4-6 vor allem der Beeinflussung der Leserin, sich tatsächlich für ein Leben als Asketin zu entscheiden, so konkretisierten die Kapitel 713 ein solches Leben. Die Argumentation gestaltet sich im Gegensatz zum Prooemium, das römische Werte und Gedanken aus der paganen Literatur mit einbezieht, vor allem im Rekurs auf biblische Zitate. Hierbei wechseln reine Testimonienketten mit knappen Exegesen. Zitate aus paganer Literatur, namentlich von Vergil und Horaz, sind selten und nehmen im Duktus der Argumentation eine untergeordnete Stellung ein, sie haben rein affirmative Funktion. Die Argumentation ist durchgängig schlicht; der Aufbau ist klar und wird durch eingestreute Zusammenfassungen des zuvor Erläuterten noch durchsichtiger242. Die Schlichtheit der Argumentation im allgemeinen setzt sich auch in der Schlichtheit der Exegese im besonderen fort. Hieronymus vermeidet wissenschaftliche Analysen wie Übersetzungsvergleiche oder Überlieferungsfragen. Er geht nicht über die Exempelfunktion biblischer Stellen, die er allegorisch auslegt und deren Bezug er expliziert, hinaus. Der schlichten Argumentation entspricht auch der Stil des Hauptteiles. Zeichnen sich die Kapitel 4-6 wenigstens partiell noch durch die Auflockerung durch pagane Zitate aus, so herrscht in den folgenden Kapiteln ein schlichter, wenig abwechslungsreicher Stil vor 243 , der arm an rhetorischen Figuren ist244. Der Stil zeichnet sich durch einen imperativischen Charakter aus, Hieronymus erteilt durchweg in rigoroser Weise Anweisungen für das rechte Verhalten. Hieraus läßt sich ableiten, in welcher Rolle Hieronymus sich selbst in diesem Teil des Briefes sieht: Er empfindet sich als die autoritative Instanz, die kraft ihrer Erfahrung das Recht und die Pflicht hat, jene Anweisungen zu erteilen. Hierbei drängt sich mitunter der Eindruck auf, er habe sein konkretes Gegenüber aus dem Blick verloren. Wiewohl er sein Gegenüber im Imperativ Singular anredet, entspricht doch der Anspruch, der hier zutage tritt, überhaupt nicht mehr dem schmeichelnden Ton aus den ersten Kapiteln. Hieronymus schreibt hier eine asketische Abhandlung ganz in der Art seiner anderen asketischen Mahnschreiben. Er führt die Punkte, die ihm unerläßlich scheinen, knapp und rigide aus, ohne darauf zu achten, daß er seine Adressatin behutsam überzeu-
242 Vgl. z.B. die jeweils ersten Sätze aus den Kapiteln ep. 54,6.8.9, die je eine Zusammenfassung des voraufgegangenen Kapitels leisten. 243 Einer der wenigen gegenteiligen Befunde ist die Variationsbreite von Termini zur Bezeichnung der Wortfelder Keuschheit/Unkeuschheit: Hieronymus wechselt zwischen den Begrifffen pudicitia, castitas, voluptas und libido ab. 244 Hier läßt sich die im Zusammenhang der Analyse von ep. 34 bereits konstatierte „Dekadenzlinie" in der Sorgfalt der Briefgestaltung verifizieren.
190
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
gen wollte und es für ihn eine große Ehre bedeutete, daß Furia sich an ihn wandte. Am Ende des Hauptteiles hat sich der Kirchenvater offensichtlich auf sein Gegenüber besonnen: Er versucht im Nachhinein auf zweifache Weise, seinen Anweisungen die Schärfe zu nehmen, um seine vornehme Korrespondenzpartnerin nicht zu verstimmen. 2.2.3.3. Kapitel 14-18 Die Kapitel 14-18 bilden den Schlußteil der Schrift, wobei die letzten beiden Sätze245 gleichsam den „Schluß im Schluß" darstellen246. Es gibt mehrere Hinweise darauf, daß mit dem 14. Kapitel ein neuer Teil der Schrift einsetzt. Der erste Hinweis ist thematischer Art: Ab diesem Kapitel werden Gegenstände behandelt, die Hieronymus bereits traktiert hatte. Er doppelt einige Themen und stellt sie nun eindringlicher vor. Das zweite Indiz betrifft die Intention der Kapitel: War es im Hauptteil der Schrift vor allem darum gegangen, eine Konkretion des angemessenen Lebens als vidua zu liefern, so knüpft Hieronymus hier wieder an seine Intention aus den ersten Kapiteln an, indem er versucht, seine Leserin dazu zu bewegen, ihr weiteres Leben als vidua zu fuhren. Der Unterschied zwischen Haupt- und Schlußteil läßt sich auch an stilistischen Merkmalen verifizieren: Wie in den ersten Kapiteln des Briefes bedient sich Hieronymus wieder eines argumentativeren Stiles und läßt von den gereihten Anweisungen des Hauptteiles ab. Der Stil wandelt sich von einem imperativen zu einem informativen. Das Kapitel 14 greift das Thema Geld auf, das auch schon Gegenstand des 12. Kapitels gewesen war. Die Intention ist freilich eine andere. Ging es im 12. Kapitel darum, Furia Anweisungen zu erteilen, wie sie als Witwe mit ihrem Reichtum umzugehen habe247, so richtet sich nun die Mahnung an den Vater, angesichts des unausweichlichen Lebensendes darüber nachzusinnen, ob sein Geld nicht langfristig gewinnbringender angelegt sei, wenn er es fiir gute Werke einsetze, als wenn er über die Wahrung des familiären Erbes wache 248 . Wie auch schon im 6. Kapitel wird eine Mahnung an den Vater, das Ansinnen
245
Vgl. ep. 54,18 (54, 485,17-24 H.). Vgl. dazu die Einzelanalyse von Kap. 18. 247 Hier wird Furia das Wohl der mittellosen virgines und viduae anbefohlen (vgl. ep. 54,14 [54, 481,5-10 H.]). In metaphorischer Redeweise greift Hieronymus die Bilder von den uiduarum uiolae, uirginum liliae und martyrum rosae auf, die Furia zusammenbinden solle. 248 Der zentrale Satz, der sich an den Vater richtet, lautet: laetetur et adiuuet uir nobilissimus, pater tuus. (ep. 54,14 [54, 481,10,f. H.]). Hieronymus redet den Vater nicht direkt an. Er läßt es allerdings auch nicht an der notwendigen Ehrerbietung fehlen (uir nobilissimus), ein weiterer Hinweis darauf, daß er durchaus mit Furias Vater als Vertreter einer bestimmten Zielgruppe aus der Leserschaft der Schrift gerechnet hat. 246
2. Exemplarische Analysen
191
seiner Tochter, ein asketisches Leben zu fuhren, zu tolerieren, mit dem Rekurs auf das memento mori verknüpft. Das 15. Kapitel widmet sich, wie auch schon das 4. Kapitel, dem Thema der zweiten Ehe. Es geht in diesem Kapitel darum, welche Nachteile eine zweite Ehe nicht nur für die Frau, sondern auch für ihre Kinder nach sich zieht. Hieronymus postuliert nicht nur den Verzicht auf die Wiederverheiratung, sondern argumentiert ausführlich und rhetorisch geschickt mittels zweier Fragesequenzen, fiktive „Ausredefragen" einer Frau werden von „Anklagefragen" des Hieronymus kontrastiert 249 . Dem zweiten Frageteil schließt sich in narrativem Stil die Erörterung der Schlechtigkeit der Männer an, die in der zweiten Ehe der Frau nur ihren Vorteil und den ihrer eigenen Kinder suchten 250 . Dieses Kapitel ist nicht nur argumentativ geschickt gestaltet, es überzeugt auch stilistisch durch besondere Intensität und Lebhaftigkeit. Die beiden Fragestränge verleihen ihm einen lebendigen, dialogischen Charakter. Namentlich der zweite Fragestrang, die „Anklagefragen" des Hieronymus, intensivieren die Thematik durch die formale Doppelung. Dieser Fragestrang ist als Klimax gestaltet, die Fragen laufen alle auf den abschließenden Höhepunkt, die Frage, warum man den sicheren Besitz der Keuschheit riskieren wolle, zu 251 . Die beiden folgenden Kapitel, 16 und 17, sind thematisch und formal eng miteinander verknüpft und setzen sich um so stärker von den vorhergehenden 249
Zunächst führt er die üblichen Argumente für eine Wiederverheiratung an, die sich vor allem in der Aussage, eine Frau allein sei mit der Führung des Hauswesens überfordert, zusammenfassen lassen. Diese Argumente werden einer Frau in den Mund gelegt, die ihre Gründe für eine zweite Ehe anführt (vgl. ep. 54,15 [54, 481,18-482,4 H.]). Diesen „Ausredefragen" stellt Hieronymus nun seine „Anklagefragen" gegenüber, in denen er wiederum seine Argumente zum Ausdruck bringt: Eine wiederverheiratete Frau kümmere sich gar nicht mehr um Haushalt und Kinder, sondern fröne nur noch ihrer Lust, mit dem neuen Vater hole sie sich keine Hilfe, sondern einen Feind der Kinder aus der ersten Ehe ins Haus, wenn man aber keine Kinder habe, falle dieses vorgeschobene Argument der Fürsorge fort, zudem müsse man befürchten, weiter unfruchtbar zu bleiben und überhaupt sei die Grundmotivation einer Wiederheirat lediglich die libido der Frau (vgl. ep. 54,15 [54, 482,4-15 H.]). 250
Namentlich der Rekurs auf die Kinder der Frau, die nach der Darstellung des Hieronymus in einer neuen Ehe nur übervorteilt und benachteiligt würden, ist sicher ein Argument, das auf Witwen mit Kindern überzeugend wirken konnte. Vgl. ep. 54,15 (54, 482,20-23 H.): non licebit tibi amare liberos nec aequis aspicere oculis, quos genuisti. clam porriges cibos, inuidebit mortuo et, nisi oderis ßlios, adhuc eorum amare uideberis patrem. WIESEN, St. Jerome, 137, führt zu dieser Stelle aus: „The last remark in this passage is perhaps a subtile indication that in drawing up his prognosis Jerome borrows at least as much from the topoi of rhetoric as from his own personal experience." Leider gibt er nicht an, in welchem Zusammenhang Hieronymus seiner Ansicht nach jene Erfahrungen gesammelt haben könnte. Das Eingehen auf die Situation von Witwen mit Kindern spricht für einen sekundären Adressatenkreis weiterer „Witwenanwärterinnen", da Furia kinderlos war. 251 Vgl. ep. 54,15 (54, 482,13-15 H.).
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Teilen ab. Diese Kapitel liefern Beispiele von Witwen, wie sie in beiden Teilen der Bibel vorkommen. Wiewohl Hieronymus mit der einleitenden rhetorischen Frage suggerieren will, daß es um eine Konkretion des Lebens als vidua gehen soll 252 , ist die Intention der Kapitel eine andere. Hieronymus will hier keine konkreten Anweisungen in der Art des Hauptteiles des Briefes liefern, sondern die biblischen exempla, die er vorfuhrt, sind wieder in den Dienst der Beeinflussung für die Entscheidung zu einem Leben in Askese gestellt. Wenn so viele Frauen, die nachweislich im biblischen Kontext eine Vorbildfunktion innehatten, Asketinnen waren, dann ist diese Art der Lebensführung gleichsam als vorbildlich qualifiziert und soll der Leserin nachahmenswert erscheinen. Die Argumentation beschränkt sich in beiden Kapiteln auf die Aufzählung der asketischen Frauen nebst knapper biographischer Skizze, kurzer Charakteristik der jeweils besonderen Verdienste und einzelnen allegorischen Ausdeutungen jener Taten 253 . Im Zusammenhang dieser Menge an biblischen Rekursen entwickelt Hieronymus eine ganz andere Art der Textgestaltung als in den übrigen Teilen des Briefes: Er vollzieht eine regelrechte Exegese 2 5 4 . Diese ist freilich weniger anspruchsvoll als diejenige, die wir im Zusammenhang des Briefes an Marcella 252
Vgl. ep. 54,16 (54, 483,6 H.): Uolumus scire, quales esse debeant uiduae? Hieronymus stellt Anna (Lk 2,36), die Witwe zu Sarepta (I Reg 17,8-24), Judith (Jdt 8-16), Debbora (Jdc 4f.), Noomi (Ruth) und die arme Witwe aus dem Evangelium (Lk 21,2f.) vor. 254 In ep. 54,16 werden die Namen Annas, ihres Vaters und ihres Geschlechtes aus dem Hebräischen hergeleitet, erläutert und gedeutet: ... Anna prophetissa, fllia Phanuel de tribu Aser. Anna interpretatur 'gratia ', Phanuel in lingua nostra resonat 'uultum Dei', Aser uel in 'beatitudinem' uel in 'diuitias' uertitur. (54, 483,7-10 H.). Hier liegt also der für des Hieronymus Exegese übliche Rekurs auf die hebräische Wortbedeutung als Erklärungshinweis vor. Im Zusammenhang der Darstellung zu Judith in ep. 54,16 trifft er eine literarkritische Abgrenzung, indem er darauf hinweist, daß das Buch nicht notwendigerweise zu den Schriften des Alten Testaments gerechnet werden müsse: legimus Iudith - si cui tarnen placet uolumen recipere ... (54, 483,22f. H.). Auch solche Abgrenzungen sind bezeichnend für die Exegese des Kirchenvaters. In ep. 54,17 nun verwahrt er sich gegen ein Mißverständis, das Ambrosius hinsichtlich der Person der Debbora gehegt hatte: Jener hatte sie als Witwe bezeichnet (vgl. Ambrosius, De viduis 8; vgl. dazu LABOURT, Saint Jérôme II, 219, und SCHADE, Hieronymus II, 167 Anm. 5): Quidam inperite et Debboram inter uiduas numerant ducemque Barac arbitrantur Debborae fllium, cum aliud scriptura commemoret. (54, 484,6-8 H.). Auch LetschBrunner weist auf die Verbindung von ep. 54 mit Ambrosius' De viduis hin und vermutet in der ganzen Epistel eine bewußte Korrektur an der Position des Ambrosius 253
(vgl. LETSCH-BRUNNER, Marcella, 190).
Dieser Seitenhieb gegen andere Ausleger ist ebenfalls klassisches Element der hieronymianischen Exegese. Damit setzt Hieronymus in diesen beiden Briefkapiteln seine üblichen exegtischen Methoden ein und macht die exempla zum Gegenstand eines exegetischen Exkurses (zu des Hieronymus Exegese vgl. die entsprechenden Bemerkungen in Kap. 4.2.1.3.2.).
2. Exemplarische
193
Analysen
(ep. 34) analysiert hatten. Hier bleibt Hieronymus bei knappen Bemerkungen und verzichtet auf assoziative Anreihung weiterer Ausfuhrungen. Er liefert keine Umschrift der hebräischen Worte, sondern schreibt die lateinischen Bedeutungen der fraglichen Begriffe auf. Er geht kleinschrittig vor und nimmt bei seiner Analyse die Leserin gleichsam an die Hand, was in der Wahl der durchgängig verwendeten 1. Person Plural erkennbar ist. Gelegentlich bemüht er sich, durch narrative Einschöbe den trockenen exegetischen Text lebendiger zu gestalten255. Hier hat Hieronymus also deutlich eine Leserin vor Augen, die wohl zwar interessiert die Exegese zur Kenntnis nimmt, aber sicherlich keine geübte Leserin wissenschaftlich-exegetischer Literatur oder gar selbst Exegetin ist. Das 18. Kapitel fuhrt formal zunächst die Kapitel 16 und 17 fort, indem es mit einem weiteren exemplum einsetzt. Hieronymus zieht diese Verbindung explizit, heißt es doch im ersten Satz des 18. Kapitels: Quid uetera repetam et uirtutes feminarum
de libris proferam,
cum possis multas tibi
ante oculos proponere in urbe, qua uiuis, quarum imitari exemplum
debeas?256
Er fuhrt als Beispiel aus Furias unmittelbarer Umgebung Marcella an. In typologischer Exegese weist er die Parallelen Marcellas mit Anna auf 257 und erhebt damit die zeitgenössischen Asketinnen in den Rang der großen biblischen Frauen. Wieder steht die Intention der Entscheidungsbeeinflussung dahinter: Solchen Frauen lohnt es sich nachzueifern. Nach diesem exemplum samt der Exegese folgt der eigentliche Schluß des Briefes: Hieronymus verweist für die Frage nach den paulinischen Äußerungen zur zweiten Ehe auf seine Schrift Adversus Jovinianum. Dann begründet er die Beendigung des Schreibens mit der bekannten Formel hoc tantum, ne modum egrediar epistulae258. Die abschließenden Worte stellen eine Mahnung an Furia dar: 255
Vgl. die Verwendung der 1. Person Singular Präsens zur Belebung der Schilderung des Geschehens um Judith und Holofernes in ep. 54,18: uideo armatam gladio manum, cruentam dexteram, recognosco caput Holofernae de mediis hostibus reportatum. (54, 484,1-3 H.). 256
Ep. 54,18 (54, 485,5-7 H.).
257
Dies geschieht in rhetorisch auffälliger Weise: Die Demonstrativpronomina ista und illa werden als Einleitungen der Teilsätze verwendet, die jeweils die Specifica einer der beiden Frauen attribuieren und antithetisch einander gegenüberstellen (vgl. 54, 485,10-17 H.) 258 Ep. 54,18 (54, 485,22 H.). Unseren Versuchen der Klassifizierung der Topik in Kap. III folgend liegt hier eine „Legitimation des Inhaltes" vor. Auf die Bemerkung, die Fragen der paulinischen Exegese würden hier nicht ausgeführt, folgen zwei Begründungen: Zum einen stellt Hieronymus fest, es müsse ja nicht unbedingt ein zweites Mal dargelegt werden, zum anderen weist er auf das Maß des Briefes hin, das überschritten zu werden drohe. Diese Doppelbegründung rechtfertigt den Inhalt des Briefes, in dem, wenn man ihn mit den anderen asketischen Schriften des Kirchenvaters vergleicht, die Fragen der paulinischen Exegese, die für den Gegenstand ja keineswegs
194
Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
cogita te cottidie esse morituram, et numquam de secundis nuptiis
cogitabis.259
Der Abschluß eines Briefes mit einer solchen Mahnung, die nicht nur auf den Inhalt des Textes bezogen ist, sondern die zentrale Intention noch einmal knapp zusammenfaßt, ist im Briefwerk des Hieronymus ein außergewöhnlicher Fall. In der Regel schließt er seine Briefe mit Brieffloskeln, wie sie hier im vorletzten Satz auftauchen, oder mit Grüßen. Wie erklärt sich das Auftreten dieser Mahnung? Hieronymus zeigt damit noch einmal deutlich das eigentliche Ziel seine Briefes, wie es in Prooemium und Schlußteil zum Ausdruck kommt. Es geht ihm darum, Furia zu überzeugen, auf die zweite Ehe zu verzichten. Das Argument, das in der Schlußmahnung angeführt wird, memento mori, tauchte im Brief bis dahin zweimal auf260 und war jeweils vor allem an den Vater Furias gerichtet. Hier nun richtet es sich an Furia selbst und stellt das stärkste Argument dar, das Hieronymus zu bieten hat: Der Verzicht auf die zweite Ehe ist nicht allein heroische Tat, die sich in guter römischer Tradition bewegt, es ist nicht nur Vermeidung eines unangenehmen Lebens mit zu schwierigen praktischen Aufgaben oder Vermeidung von Nachteilen für mögliche Kinder. Nein: Der Verzicht auf die zweite Ehe ist letztlich die notwendige Handlung angesichts der Vergänglichkeit des Menschen, das ewige Leben zu erlangen. Stilistisch unterscheidet sich dieses letztes Kapitel deutlich vom einleitenden Prooemium. Auch dies ist ein Befund, der für die hieronymianischen Briefe eher ungewöhnlich ist, denn oft korrespondieren Anfangs- und Schlußteil hinsichtlich ihrer stilistischen Gestaltung und der darin zum Ausdruck kommenden Beziehung zwischen den Korrespondenten. Hier jedoch greifen die letzten Sätze den devoten Ton des Anfangs nicht auf. Der Schluß ist abrupt, vor allem der Hinweis, das Thema der paulinischen Exegese solle doch andernorts nachgelesen werden, mutet nahezu unhöflich an. Es drängt sich der Eindruck auf, der Kirchenvater hatte keine Muße mehr, weiter zu schreiben. Beinahe ungeduldig drängt Hieronymus zum Ende und hämmert abschließend seine zentrale Aussage thesenhaft noch einmal ein. Hierbei hat er die Adressatin deutlich im Blick, die Referatsebene des Hauptteiles ist längst wieder verlassen. Zusammenfassend ist zum Schlußteil des Briefes zu sagen, daß Hieronymus wieder zu seiner Intention des Anfangs zurückkehrt. Ohne neue Argumente aufzuführen geht es ihm nun wieder darum, die Entscheidungsfindung seiner Leserin in Richtung auf den Verzicht auf die zweite Ehe zu beeinflussen. Entsprechend dieser Intention richtet sich der Schlußteil direkt an seine Adressatin Furia. Die angeführten Argumente entsprechen zwar denen aus Teil a, doch werden sie hier in geraffter Form dargeboten. Der Knappheit der Darstellung unerheblich sind, tatsächlich fehlen. Es besteht also durchaus eine Notwendigkeit der Legitimation. 259
Ep. 54,18 (54, 485,23f. H.).
260
Vgl. ep. 54,6.14.
2. Exemplarische
Analysen
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korrespondiert eine Intensität und teilweise Aggression im Stil, der von Imperativen und apodiktischen Sätzen geprägt ist. Neben den aus dem Erfahrungsbereich stammenden Argumenten fuhrt Hieronymus biblische Beispiele an und bringt damit eine höhere Autorität ins Spiel; der Höhepunkt der Argumentation ist der mahnende memento /Mon-Hinweis am Schluß des 18. Kapitels261. So kann der Schlußteil in jeder Hinsicht, formal, stilistisch und inhaltlich, als Steigerung der vorherigen Äußerungen zur Entscheidungsfindung begriffen werden. 2.2.4. Zusammenfassung Die an Furia gerichtete Epistel 54 ist ein asketisches Mahnschreiben, wie Hieronymus auch selbst explizit zum Ausdruck bringt262. Der durchgängig erbaulich-mahnende Charakter wird nur einmal durch einen ausfuhrlichen exegetischen Exkurs wissenschaftlicher Natur unterbrochen 263 . Es tritt der Briefcharakter dieses Textes durch die häufigen Rekurse auf die Briefsituation ebenso deutlich zutage wie durch die fast durchgängige Orientierung an der Adressatin. Als briefbezogene Topik, die den Gattungsbezug verbürgt, ist der Hinweis im ersten Kapitel, der Brief sei eingefordert worden, ebenso zu werten, wie der Rekurs auf das ¿»rmtas-Postulat im letzten Kapitel264. Im Hauptteil überwiegt jedoch der Charakter des Mahnschreibens den des Briefes, es ist kein expliziter Bezug auf die Adressatin mehr erkennbar und die Ausfuhrungen gleichen in Form und Inhalt denen der anderen asketischen Schriften des Kirchenvaters. Im Blick auf die Konsequenz der Gattungsdurchfuhrung kann man, wie in dem vorher analysierten Brief an Marcella auch, von einer „Dekadenzlinie" sprechen: Haben Anfangs- und Schlußteil gerade im Hinblick auf den Adressatenbezug stark brieflichen Charakter, so ist der Hauptteil ganz von seinem Gegenstand bestimmt, der unabhängig von der Adresssatin dargestellt wird. So läßt sich dieser Text wohl am angemessensten als Mahnschreiben in brieflicher Einkleidung bestimmen. In Inhalt und Intention liegen zwei verschiedene Stränge vor: Zum einen geht es in dem Brief um die Entscheidung, die vor Furia liegt, auf die zweite Ehe zu verzichten und ein Leben als Asketin zu fuhren. In diesem Zusammen261 Hier setzt Hieronymus eine Forderung Quintilians für die peroratio, den Redeschluß um: eius duplex ratio est, posita aut in rebus aut in adfectibus. (Quint., Inst. VI 1,1 [I, 310,23f.]). Er resümiert zwar nicht knapp die Inhalte des Textes (res), sondern führt in den abschließenden Kapiteln noch neue Gedanken vor, aber der Versuch, bei der Leserin Affekte zu erregen, nämlich Furcht, indem er an den baldigen Tod erinnert, ist offensichtlich. 262 263
Vgl. ep. 54,2: per occasionem exhortationis tuae (54, 467,2 H.). Vgl. die Kapitel 16f. und die entsprechenden Untersuchungen in der Einzelana-
lyse. 264 Auch an weiteren, nicht briefbezogenen topischen Elementen ist der Brief reich, vgl. z.B. die mehrfache memento-mori-Mahnung.
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
hang hat der Brief stark tendenziösen Charakter und soll Furia beeinflussen, die Entscheidung im Sinne eines asketischen Lebens zu fällen. Es liegt in den entsprechenden Briefteilen (Prooemium und Schluß) eine Verteidigung des Witwenstandes vor. Zum anderen will der Brief erläutern, wie sich das Leben einer Asketin praktisch zu gestalten hat. Diese beiden dargestellten Stränge erwecken zunächst den Eindruck, als handele es sich um intentionale Konkurrenz, doch zeigte sich in der Einzelanalyse, daß die Intention der Entscheidungsbeeinflussung dadurch intensiviert wird, daß durch die Darstellung konkreter Anweisungen zur Lebensführung diese Entscheidung bereits vorausgesetzt wird. Eine weitere Intention findet in diesem Brief ebenfalls ihren Ausdruck. Sie ist auf den zweiten intendierten Leserkreis bezogen: Furias Vater und weitere römische Männer. Hieronymus Intention gegenüber diesem Adressatenkreis ist es, ihn von der Angemessenheit des asketischen Lebens für eine junge Witwe, sei es im konkreten Fall der Furia oder auch ganz allgemein, zu überzeugen. Diese Männer sind nur mittelbare Adressaten der Schrift, sie werden nicht direkt angesprochen265 und sind im Schlußteil überhaupt nicht in den Blick genommen. Als dritter Leserkreis sind weitere Asketinnen oder „Asketenanwärterinnen" in den Blick genommen. Das zeigt die Menge unpersönlicher Vorschriften, die, wie z. B. die Hinweise für Witwen mit Kindern, nicht auf Furias Situation abzielen. Für diese Frauen liegt ein „Witwenspiegel" vor. Die Argumentation des Kirchenvaters stützt sich in diesem Brief auf dreierlei Bereiche. Neben dem Rekurs auf römische Werte und Vorstellungen nebst traditioneller Polemik und dem Anführen praktischer Beispiele und Erfahrungen sind es vor allem biblische Beispiele und Anweisungen266, derer er sich bedient. Die Argumentation ist durchgängig schlicht und monokausal, sie beschränkt sich in vielen Fällen auf das reine Anführen von exempla und Testimonienketten267. Eingeschobene Zusammenfassungen tun das Ihre, um die Struktur der Argumentation noch plastischer zu gestalten. Das schlichte argumentative Vorgehen im Hauptteil des Briefes fand auch seinen Niederschlag in unserer Analyse, die sich zu weiten Teilen auf eine Nachzeichnung des Inhaltes beschränken mußte.
265
Äußerungen, die sich auf diesen Adressatenkreis beziehen lassen, sind in der Regel in zurückhaltendem Ton abgefaßtund lassen es nicht am angemessenen Respekt gegenüber diesem Teil der römischen nobilitas fehlen. 266 Wo er biblische Texte exegesiert, so tut er das mit einer Ausnahme (vgl. ep. 54,16f) nicht mittels seiner üblichen wissenschaftlichen Methodik, sondern deutet die Texte explizit allegorisch aus, bzw. wählt die exempla so, daß das jeweilige tertium comparationis unmittelbar evident ist. 267 OPELT, Streitschriften, 155, spricht für solcherlei argumentatives Vorgehen treffend von der Verwendung „dienender Bauglieder".
2. Exemplarische Analysen
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Der Stil ist trotz seiner Schlichtheit sorgfältig gestaltet. Man merkt das Bemühen des Kirchenvaters um Variation in der Wortwahl und in der Textgestaltung. So wechseln Passagen, die durch direkte Rede und rhetorische Fragen angereichert sind, mit solchen, in denen sich gehäuft pagane Zitate, auch in Versform, finden. Im Stil läßt sich eine „Dekadenzlinie" feststellen: Sind gerade die ersten sechs Kapitel reichlich geschmückt mit paganen Zitaten und rhetorischen Figuren, so wird der Stil im Duktus des Briefes immer schlichter, bis schließlich der einzige Schmuck im Anfuhren biblischer Testimonienketten besteht. Die Beziehung des Hieronymus zur Adressatin Furia findet ihren Niederschlag in der direkten Anrede und in der Wahl des Tones. In diesen beiden Perspektiven läßt Hieronymus im Text einen Wandel erkennen. Ist das Prooemium noch in höchst respektvollem Ton gehalten, nahezu devot und voller Schmeichelei, bringt es zum Ausdruck, daß es für den Kirchenvater eine Ehre ist, Furia bei ihrer Entscheidung zur Seite stehen zu dürfen, so ändert sich der Ton im Hauptteil. Dieser Teil zeigt den geringsten Bezug auf die konkrete Adressatin. Vorwiegend im Imperativ gehalten, erteilt er autoritativ Anweisungen für die Lebensführung. Rigoristisch läßt er keine Möglichkeit für Handlungsalternativen, sondern fordert schlichten Gehorsam. Zeitweilig vergißt Hieronymus, an wen er da eigentlich schreibt, eifert, wettert und erteilt rigoristische Anweisungen. Mit den bereits diskutierten Passagen im 13. Kapitel relativiert Hieronymus seinen autoritativen Ton und leitet damit zu dem hinsichtlich seines Gegenübers gemäßigten Ton im Schlußteil über. Dieser Teil ist aber dennoch nicht mit den Schmeicheleien des Prooemiums zu vergleichen: In den eher abrupten Schlußsätzen ringt sich Hieronymus mit Mühe zu der notwendigen Höflichkeit durch. Am Ende des Textes macht er sich sein Gegenüber wieder bewußt und mäßigt seinen Ton. Es läßt sich also eine partielle „Dekadenzlinie" hinsichtlich der Aufmerksamkeit gegenüber seiner Korrespondenzpartnerin feststellen. Die Beziehung zwischen Hieronymus und Furia, wie sie in der Epistel zum Ausdruck kommt, ist durchaus ambivalent. Diese Ambivalenz läßt sich zum einen, wie wir es im Zusammenhang der Stilanalyse getan haben, mit einer „Dekadenzlinie", die ja seine Briefe in vielen Bereichen prägt, erklären; d.h. die Aufmerksamkeit des Kirchenvaters gegenüber seinem Adressaten und dem eigentlichen Anliegen sowie dem Duktus des Textes pflegt regelmäßig abzunehmen. Andererseits hat die Ambivalenz seiner Beziehung zu Furia sicher auch noch einen anderen Grund. Sie besteht darin, daß ihm mit Furia eine gesellschaftlich überlegene Person gegenübersteht, in der Tat gereicht es ihm zur Ehre, ihr raten zu dürfen 268 . Der devote Ton ist durchaus angemessener Ausdruck der objektiven Beziehung der beiden. Nun entspricht es aber des Kirchenvaters Selbstverständnis, in bestimmten Fragen als Autorität aufzutreten. 268
Wir sahen, daß Hieronymus im Prooemium Furia als Ratsuchende stilisiert.
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Das sind wissenschaftliche Fragen im exegetischen Bereich, vor allem aber Fragen der Ethik, namentlich im Bereich der Askese. Hier ist er der Überzeugung, weisungsberechtigt zu sein. Zum einen legitimiert er sich selbst durch seinen Lebensentwurf als Asket, zum anderen hat er sich bereits als renommierter Verfasser asketischer Schriften hervorgetan. Dieser Anspruch - auch einer Frau wie Furia gegenüber - kommt deutlich zum Ausdruck, wenn er im Hauptteil seine Anweisungen erteilt. Er bringt Furia offensichtlich keine besondere intellektuelle Hochschätzung entgegen, das zeigt vor allem die durchgängig schlichte Argumentation, die den Brief leicht verständlich, ja populär werden läßt. Andererseits hält er sie, wie die vielen pagan-literarischen Zitate zeigen, durchaus für im klassischen Sinne gebildet. Er rekurriert auf diese Bildung und setzt sie für seine argumentativen Zwecke ein. Gleichzeitig bringt er damit seine Ebenbürtigkeit hinsichtlich des literarischen Bildungshorizontes zum Ausdruck und weist sich als adäquaten Korrespondenzpartner aus. 2.3. Epistula 15 ad Damasum 2.3.1. Damasus Fast scheint es überflüssig, über eine so bekannte Persönlichkeit wie Papst Damasus einleitende biographische Bemerkungen abzufassen269. Er hatte das Amt des römischen Bischofs von 366-384 inne. Die Anfangsphase seiner Amtszeit war vor allem durch die Auseinandersetzungen mit dem „Gegenpapst" Ursinus gekennzeichnet. Die Intrigen der feindlichen Seite nahmen ihren Höhepunkt im „Isaakprozeß", in dem Damasus wohl der Anstiftung zum Mord, die er im Zusammenhang der Wirren seines Amtsantritts begangen haben soll, angeklagt wurde. Seine Verdienste im Bischofsamt sind vor allem die jurisdiktioneile Stärkung des römischen Bischofs, wie sie im Edikt Gratians von 378 ersichtlich ist270. Ebenso erwarb er sich als Vermittler zwischen Orient 269 Zu den biographischen Angaben vgl. ALTANER/STUIBER, Patrologie, 354f.; E. CASPER, Damasus I. (366-384). 'Apostolischer Stuhl' von Rom und Reichskirche, in: ders., Geschichte des Papsttums I, Tübingen 1930, 196-256; M. RADE, Damasus, Bischof von Rom. Ein Beitrag zur Geschichte der Anfänge des römischen Primats, Freiburg/Tübingen 1882, passim; als neuere Darstellung zu kirchenpolitischem und literarischem Schaffen des Papstes, die auch die biographischen Aussagen der älteren Forschung einer kritischen Musterung unterzieht und zum Teil neue Einordnungen vornimmt, vgl. demnächst REUTTER, U., Papst Damasus. Leben und Werk. Untersuchungen zu seinem kirchenpolitischen und literarischen Schaffen. 270
Vgl. Volumus autem..., Edikt Kaiser Gratians zur Anerkennung der Jurisdiktion des Bischofs und der Synode zu Rom über die Metropoliten der Präfektur Italiens (378/379), in: C. MIRBT/K. ALAND, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des
Römischen Katholizismus, 6., völlig neu bearbeitete Auflage von K. Aland, Tübingen 1 9 6 7 , Nr. 1 3 3 .
2. Exemplarische Analysen
199
und Okzident im Zusammenhang der trinitätstheologischen Streitigkeiten Verdienste. Es werden ihm als literarischer Nachlaß zahlreiche Briefe, möglicherweise das Decretum Gelasianum sowie der Tomus Damasi zugeschrieben 271 . Seine literarische Tätigkeit zeigte sich vor allem in der Abfassung von Grabinschriften. Diese Epigramme ließ er vorzugsweise auf von ihm aufgefundenen Märtyrergräbern anbringen, und zwar in der sogenannten Damasus-Majuskel, die sein Kalligraph Philocalus beherrschte. Die Kontakte von Hieronymus und Damasus sind vielfältig, legendenumwoben und höchst umstritten. V o n diesem Kontakt zeugen zunächst die von Hieronymus überlieferten Briefe: Zwei sind von Damasus an den Kirchenvater gerichtet, sechs von Hieronymus an den Papst 272 . Es überwiegt hierbei der exegetische Austausch, wobei Damasus stets der Fragende, Hieronymus der Erläuternde ist. Die „Echtheit" jener Korrespondenz ist zu Recht umstritten 273 . 271
Zur Diskussion um die Authentizität, zur Einordnung und Interpretation vgl. Damasus. 272 Die Episteln 15 und 16, die noch betrachtet werden sollen, sind eng miteinander verbunden und an den Papst gerichtete Anfragen, das rechte Bekenntnis betreffend. Hierbei wiederholt ep. 16 die in ep. 15 gestellte Anfrage, weil eine Antwort des Papstes wohl ausblieb. Auch dieser zweite Brief blieb unbeantwortet. Der „Doppelbrief 18, der von Hilberg wegen der Doppelungen in 18a/b geteilt wird, ist eine dem Papst dedizierte Exegese von Jes 6,lff. Ep. 19 ist die Anfrage des Papstes, was unter dem biblischen Hosanna zu verstehen sei, besonders fragt er nach den hebräischen Wurzeln, ep. 20 aus der Feder des Hieronymus liefert die Antwort dazu. Ep. 21 ist eine an Damasus gerichtete Exegese des Gleichnisses vom verlorenen Sohn in Form einer Homilie. In ep. 35 stellt Damasus diverse exegetische Fragen über Kain, Noah, Petrus, Abraham und Isaak, die der Kirchenvater in ep. 36 beantwortet.
jetzt
REUTTER,
273 Es steht außer Frage, daß Hieronymus die an Damasus gerichteten Briefe selbst verfaßt hat. Sie entsprechen, gerade was die exegetischen Episteln anbetrifft, genau seiner üblichen Art und Weise, Briefe zu verfassen und Exegese zu betreiben. Fraglich ist hingegen, ob vorstellbar ist, daß Damasus seinerseits die ihm von Hieronymus zugeschriebenen Anfragen tatsächlich gestellt hat. Aus der Sicht des hieronymianischen Briefwerks muß stark bezweifelt werden, daß die Episteln 19 und 35 aus einer anderen Feder als der des Hieronymus stammen können. Hinweise auf die Autorschaft des Hieronymus bieten vor allem die lexikalische Ebene und die konkrete Fragestellung: Damasus fragt genau das, was Hieronymus in seinen exegetischen Briefen zu schreiben pflegt, beherrscht und wohl auch gern schreiben möchte, er fragt nach den hebräischen Wurzeln von Begriffen und reiht kleinere exegetische Einzelfragen (vgl. hierzu die Bemerkungen zur Exegese des Kirchenvaters in Kap. 4.2.1.3.2. Diese Korrespondenz von (bekanntem) Interesse des Antwortenden und suggeriertem Interesse des Fragenden ist auffallig. Es bleibt unbenommen, daß die Briefe durchaus Zeugnis vom exegetischen Interesse des Papstes ablegen können. Möglicherweise greift Hieronymus in brieflicher Form Themen auf, die Gegenstand des persönlichen Gespräches zwischen Damasus und Hieronymus gewesen sind. Warum nun aber gießt Hieronymus diese Fragen in briefliche Form und nimmt sie in seine Briefsammlung auf? Hieronymus hatte zweifellos ein Interesse daran, Briefe berühmter Zeitgenossen in seine Sammlung zu integrieren, um
200
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
Ein persönlicher Kontakt hat aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen Papst und Kirchenvater stattgefunden 274 . Hieronymus war 382 zu einer Synode auf Eindamit seine eigene Akzeptanz als Exeget und Dogmatiker, ja als Theologe unter wichtigen Theologen seiner Zeit zu manifestieren. Auch wenn der Briefwechsel nicht authentisch ist, so hat er doch große Wirkung gehabt. Immer wieder sind apokryphe Briefwechsel zwischen diesen beiden herausragenden Gestalten des vierten Jahrhunderts aufgetaucht, um an beider Autorität zu partizipieren. Zum apokryphen Briefwechsel vgl. E. DEKKERS/A. GAAR, Clavis Patrum Latinorum, CChr.SL, Steenbrügge 31995, §§ 554.633.633a.633b.723.1636. Als Sekundärliteratur vgl. dazu J. BIGNAMI-ODIER, Une lettre apocryphe de Saint Damase à Saint Jérôme sur la question de Melchisédech, MEFRA 63, 1951, 183-190; P. BLANCHARD, La correspondance apocryphe du Pape S. Damase et de S. Jérôme sur le Psautier et le chant de l\,Alleluia", EL 63, 1949, 376-388; R.E. REYNOLDS, An early medieval mass fantasy: The correspondence of Pope Damasus and St Jerome on a Nicene canon, in: Linehan, P. (ed.), Proceedings of the Seventh International Congress of Medieval Canon Law, Cambridge, 23-27 July 1984, MIC, Ser. C, Vol. 8, Città del Vaticano 1988, 73-89; A. deVoGûÉ, La règle du Maître et la lettre apocryphe de Saint Jérôme sur le chant de Psaumes, StMon 7, 1965, 357-367. Exemplarisch läßt sich der Zusammenhang echter und fiktiver Korrespondenz an ep. 35f. vorführen, wie es Nautin getan hat (vgl. zum folgenden NAUTIN, Échange). Nautin untersucht ep. 36 Ad Damasum und die diesem Brief voraufgehende Anfrage des Damasus an Hieronymus, ep. 35. Seine Grundthese lautet, beide Briefe entstammten der Feder des Hieronymus, als solche seien sie echt. Allerdings seien sie nicht zu Lebzeiten des Papstes geschrieben. Es handele sich nicht um eine echte päpstliche Anfrage und ebensowenig um eine Sachantwort des Kirchenvaters. Die Briefe seien beide von Hieronymus verfaßt und zwar aus einem anderen als dem angegebenen Anlaß. Als solche seien sie fiktiv. Nautin listet nun eine Reihe von Argumenten für seine These auf: 1. Das zum Ausdruck kommende Verhältnis sei dem von Papst und Presbyter nicht angemessen, der Papst bettele um Antwort und setze sich in ein unangemessenes Schüler-Lehrer-Verhältnis; 2. Zahlreiche Termini und Wendungen im Papstbrief seien für die Sprache des Hieronymus charakteristisch; 3. Hieronymus antworte nicht unverzüglich und auch nicht auf alle Fragen. Nautin sieht den Grund des Abfassens dieser Briefe für Hieronymus in seinem Bemühen darum, seine Position in Rom zu stärken, indem er sich mittels dieses fingierten Briefkontaktes öffentlich als eine vom Papst akzeptierte Lehrautorität präsentiere. Den Ausführungen von Nautin ist hinzuzufügen, daß immerhin mit der Möglichkeit der Überarbeitung eines echten Damasusbriefes gerechnet werden muß. 274 Ob freilich ein persönlicher Kontakt diesem Brief bereits vorausgegangen war, scheint mir sehr fraglich zu sein. Hieronymus hätte es sich gewiß nicht nehmen lassen, in seinem Drängen auf Weisung vom römischen Bischof auf deren beider Bekanntschaft zu rekurrieren. Auch das Ausbleiben einer Antwort von Seiten des Papstes spricht eher gegen eine persönliche Bekanntschaft. Ähnlich Sugano, die allerdings die Taufstelle in ep. 15,1 als „Vorstellung" deutet: „Da Hieronymus Damasus nicht persönlich kennt, muß er sich zunächst vorstellen." (SUGANO, Rombild, 21). Anders T.C. LAWLER, Jerome's first letter to Damasus, in: Granfield, P./Jungmann, A. (Hgg.), Kyriakon. Festschrift Johannes Quasten, Münster 1970, Bd. II, (548-552) 549 Anm. 7: „Whether Jerome knew Damasus personally at this time, we do not know; much of the tone and content of his letter might well be viewed as evidence that he did know Dama-
2. Exemplarische Analysen
201
ladung des Damasus nach Rom gereist 275 , in seinen Jahren in Rom hat er eine unbestimmte Schreibtätigkeit im Kontext des bischöflichen Stuhles ausgeübt 276 . Frucht dieses Kontaktes war das Lebenswerk des Hieronymus, die Schaffung der Vulgata, zu der der römische Bischof ihn angeregt hat 277 . 2.3.2.
Einleitungsfragen
Mit ep. 15 soll keine der exegetischen Episteln in den Blick genommen werden, sondern eine der beiden Bekenntnisanfragen. Damit wird zwar nicht das typische Beispiel für die Korrespondenz der beiden Männer in den Vordergrund gestellt, wohl aber ein Brief betrachtet, der Hieronymus in zweierlei Hinsicht in einer ganz anderen Rolle zeigt als in der, die wir im Zusammenhang der epistulae 34 und 54 herausgearbeitet haben. Hier liegt zum einen ein anderer Briefgegenstand vor, da es um eine dogmatische Frage geht, zum anderen unterscheidet sich die Rolle, die Hieronymus gegenüber dem Papst einnimmt, von der, derer er sich gegenüber seinen weiblichen Korrespondenzpartnerinnen
sus." Leider gibt Lawler nicht an, worin er konkret die Hinweise auf eine mögliche Bekanntschaft der beiden sieht. Vorsichtiger schreibt Kelly: „Unknown as he then was, his direct approach to the Pope is puzzling; we are bound to wonder whether he had met him in Rome or whether he had been introduced to him by Euagrius, who knew Damasus well and was acting as his agent in the east." (KELLY, Jerome, 53). 275 Vgl. ep. 108,6 und ep. 127,7, sowie GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 198f. 276 Hier reichen die Varianten von „Privatsekretär" bis zu „persönlichem Vertrauten". GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 199f., schreibt: „Ohne eine fest begrenzte Thätigkeit oder einen bestimmten Amtsaufitrag in unverantwortlicher Vertrauensstellung unterstützte Hieronymus den vielbeschäftigten römischen Bischof bei der Abfassung kirchlicher Schreiben und Synodalfragen, die aus Orient und Occident an ihn ergingen." Grützmacher mutmaßt weiter, daß es sowohl des Hieronymus Fremdsprachenkenntnisse wie seine Bekanntschaft mit mehreren orientalischen Theologen waren, die ihn für eine solche Tätigkeit qualifizierten (vgl. GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 200). Auch die mittelalterlichen Darstellungen von Hieronymus in Kardinalsrobe werden ihre Wurzel in einer Übersteigerung dieser römischen Tätigkeit haben. Die Beschreibung, die Hieronymus selbst von seiner Tätigkeit im Dienste des Damasus in ep. 123,9 liefert, ist vergleichsweise unbestimmt und lautet: ante annos plurimos, cum in chartis ecclesiasticis iuuarem Damasum, Romanae urbis episcopum, et orientis atque occidentis synodicis consultationibus responderem, ... (56/1, 82,14-16 H.). Hieronymus habe also dem Papst in chartis ecclesiasticis geholfen, bei kirchlichen Schriftstücken. Auf mehr als eine unbestimmte Schreibtätigkeit im Dienste des römischen Bischofs läßt sich also schwerlich mit Recht schließen. Fraglich scheint mir zu sein, ob diese Tätigkeit bei Damasus in irgendeine Beziehung zu den von Hieronymus an Damasus gerichteten Episteln 15 und 16 zu setzen ist, wie Schade glauben machen möchte: „Auf ihn [sc. den Brief 15] geht zuletzt die einflußreiche Tätigkeit zurück, die Hieronymus von 382-384 als Sekretär des Papstes Damasus in Rom entfalten sollte ..." (SCHADE, Hieronymus III, 80). Zur Tätigkeit des Hieronymus bei Damasus in Rom vgl. allgemein KELLY, Jerome, 80-90. 277
Vgl. GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 215.
202
Kapitel 4: Exemplarische Analysen
bedient. Der Brief ist besonders reizvoll, da er trotz seiner Kürze in vielerlei Hinsicht interessante Aspekte bietet: Er betrifft die trinitätstheologischen Streitigkeiten in Antiochia im Zusammenhang des meletianischen Schismas. Daher gewährt er einen Einblick in die trinitätstheologische Diskussion der Zeit und belehrt über des Kirchenvaters eigenen Standpunkt in dieser Sache. Zudem zeigt der Brief Hieronymus Vertrautheit im Umgang mit rhetorischen und stilistischen Gestaltungsprinzipien sowie seine Stellung zur Autorität des römischen Bischofs 278 . Der Brief entstammt wohl dem Jahre 376/7 2 7 9 . In der Analyse werden jeweils Proemium (Kap. 1), Hauptteil (Kap. 2-4) und Schlußteil (Kap. 5) zusammengefaßt 280 .
278 LAWLER, Letter, 549, benennt diese Punkte auch, widmet sich leider dennoch vor allem den ersten beiden. Die deutsche ältere Forschung (Grützmacher, Schade) lenkte ihr Interesse offensichtlich vor allem auf die Frage nach des Kirchenvaters Stellung zum römischen Stuhl, vgl. dazu die Anmerkungen in der Einzelanalyse. CAVALLERA, Saint Jérôme I, 52, streicht vor allem heraus, daß der Brief Einblick in die momentane psychische Verfassung des Kirchenvaters gewähre: „... elle constitue un document psychologique de premier ordre." Wieweit das tatsächlich der Fall ist, wäre allerdings zu diskutieren. M.E. ist eben jene psychische Verfassung, wie sie in dem Brief zum Ausdruck kommt, deutlich konstruiert und in den Dienst einer Intention gestellt, vgl. dazu die Zusammenfassung des Analyseteiles. 279 Aufgrund eines Hinweises im letzten Kapitel (ep. 15,5) ist festzustellen, daß der Brief der Zeit des Wüstenaufenthaltes entstammt. Hieronymus trägt darum Sorge, wie ihn der Antwortbrief am sichersten erreichen könne: et ne forte obscuritas, in quo dego, loci fallat baiulos litterarum, ad Euagrium presbyterum, quem optime nosti, dignare scripta transmittere. (54, 67,7-9 H.). Vgl. auch eine Bemerkung in ep. 15,2, die auf den Wüstenaufenthalt schließen läßt: et quia pro facinoribus meis ad eam solitudinem conmigraui, quae Syriam iuncto barbariae fine determinat, ... (54, 64,4f. H.). Vgl. zur genauen Datierung CAVALLERA, Saint Jérôme II, 16; KELLY, Jerome, 52; NAUTIN, Saint Jérôme I, 163; LAWLER, Letter, 548, führt als Begründung an, daß Hieronymus 377 die Wüste verläßt und daher den Brief vorher verfaßt haben muß. Schade bleibt in seiner Datierung etwas unbestimmter, er setzt den Zeitraum der Entstehung des Briefes zwischen 376 und 379 an, da Vitalis 376 von Apolinaris geweiht worden sei, die ägyptischen Bekennermönche 379 in ihre Heimat zurückgekehrt seien, beide jedoch in der Epistel Erwähnung fänden (vgl. SCHADE, Hieronymus III, 81). Ebenso rekurriert auch Pronberger auf die Bischofsweihe des Vitalis im Jahr 376, vgl. PRONBERGER, Beiträge, 19. FREDE, Kirchenschriftsteller, 357, gibt zunächst ebenfalls 367 als Entstehungsjahr des Briefes an, im Aktualisierungsheft von 1988 präzisiert er den Entstehungsort mit „aus der Wüste Chalkis in Ostsyrien", gibt aber zu Bedenken, daß der Brief möglicherweise erst 387 nachträglich geschrieben worden sei (vgl. H.J. FREDE, Kirchenschriftsteller. Aktualisierungsheft 1988, VL I/1B, Freiburg 1988, 64). 280 Zur Abgrenzung vgl. jeweils die Bemerkungen im Zusammenhang der Einzelanalyse.
2. Exemplarische Analysen 2.3.3.
203
Einzelanalyse
2.3.3.1. Kapitel
1
Das erste Kapitel dieses Briefes setzt, wie auch schon in ep. 54, narrativ ein. Mit den Worten: Quoniam uetusto oriens inter sepopulorum furore conlisus ...2S1 versucht Hieronymus, das Interesse seines Lesers zu wecken, und fuhrt gleichzeitig zielstrebig auf seinen Gegenstand hin: Wie die alten Völker des Orients im Kampf zusammengestoßen seien, so sei auch heute der Orient im Streit entzweit. Hiermit greift Hieronymus bereits im ersten Satz die beiden zentralen Momente seines Problems auf, er deutet an, daß es um Streitigkeiten gehe und daß sich jene im Orient abspielten. Sodann expliziert er auch den Anlaß seines Schreibens. Angesichts jener Streitigkeiten, deren Gegenstand nicht konkretisiert wird, erwarte er Rat von der Cathedra Petri: ... ideo mihi cathedram Petri et fldem apostolico ore laudatam censui consulendam inde nunc meae animae postulans cibum, unde olim Christi uestimenta suscepi.282 Mit einer Orient-Polemik in Form einer Antithese schließt das Kapitel 283 . Diese wenigen Aussagen werden in eine umfangreiche biblische Testimonienkette eingebettet. Die Intention dieses Kapitels ist die eines Prooemiums 284 : Mit narrativem Einsatz und einer Fülle von Zitaten soll das Interesse des Lesers ge-
281 Ep. 15,1 (54, 62,5 H.). Hier könnte eine stilistische Anpassung an den Adressaten zu vermuten sein, vgl. dazu REUTTER, Damasus. 282 Ep. 15,1 (54, 62,9-63,3 H ). Im Anschluß an die Formulierung unde olim Christi uestimenta suscepi wurde in der Forschung vielfach Termin und Ort der Taufe des Hieronymus diskutiert. Während CAVALLERA, Saint Jérôme I, 13-16, und SCHADE, Hieronymus III, 82 Anm. 6, annehmen, Hieronymus sei von Papst Liberius (352-366) in Rom getauft worden, halten andere Forscher zwar an der Lokalisierung der Taufe in Rom fest, lassen jedoch den Zeitpunkt des Geschehens (berechtigterweise) offen (vgl. GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 129; KELLY, Jerome, 23.53). Ebenso heißt es bei Labourt: „Jérôme veut dire que c'est à Rome qu'il a reçu le baptême." (LABOURT, Saint Jérôme I, 163). Zur Begründung vgl. BOOTH, Chronologie, 257 Anm. 65. Eine ausführliche Zusammenfassung der Diskussion bietet REBENICH, Hieronymus, 28-31. Rebenich argumentiert vor allem aus theologischen Gründen gegen den Tauftermin zu des Kirchenvaters erstem Romaufenthalt: Nach damaligem Verständnis hätte der Taufe eine conversio voraufgehen müssen, diese tritt bei Hieronymus aber erst nach dem Romaufenthalt ein (vgl. ebd.). 283
Orient und Okzident werden einander antithetisch gegenübergestellt, wobei der Okzident mit positiv besetzten Metaphern biblischer Provenienz versehen wird, während der Orient als Reich Lucifers apostrophiert wird. Vgl. ep. 15,1: nunc in occidente sol iustitiae oritur; in oriente autem lucifer ille, qui ceciderat, super sidera posuit thronum suum. (54, 63,10-12 H.). 284 Vgl. hierzu Kap. 4.2.1.3.1.
204
Kapitel 4: Exemplarische
Analysen
weckt und, ohne bereits Konkretionen zu liefern, auf den Gegenstand des Briefes hingeführt werden. Zudem trägt dieser Briefbeginn alle Züge einer captatio benevolentiae. Mit dem Rekurs auf den vom Apostel gerühmten Stuhl Petri und den folgenden biblischen Zitaten wird dessen aktueller Inhaber, gerade im Gegensatz zu den zerstrittenen Parteien im Orient, herausgehoben als Garant dauerhafter Orthodoxie. 2.3.3.2. Kapitel 2-4 Die Kapitel 2-4 schildern das Problem, dem sich Hieronymus ausgesetzt sieht: Er werde von mehreren Seiten zu einer dogmatischen Stellungnahme hinsichtlich trinitarischer Formeln gezwungen und habe den Eindruck, daß keine der ihm angebotenen Alternativen orthodox sei. Aus diesem Grund wende er sich an den römischen Bischof, der als Garant rechten Glaubens ihm mitteilen solle, an welche Position er sich zu halten habe. In diesem Zusammenhang expliziert Hieronymus seine eigene dogmatische Überzeugung. Es sind also zwei Themen, die es im Zusammenhang dieser Kapitel näher zu betrachten gilt: Erstens das theologische Problem der zur Diskussion stehenden trinitarischen Formeln und des Hieronymus Auffassung der rechten Formulierung und zweitens des Kirchenvaters Stellung zum römischen Bischof. Die Koppelung der Anfrage an den römischen Bischof nach der rechten dogmatischen Position mit des Hieronymus Darlegung seiner eigenen dogmatischen Überzeugung weist bereits auf zwei Dinge hin: auf die Ambivalenz des Verhältnisses von Hieronymus zu Damasus als in dogmatischen Fragen weisungsbefugter Instanz und damit auf die Notwendigkeit, neben der explizierten Intention dieses Briefes (Frage nach der dogmatisch korrekten Position) nach einer weiteren suchen zu müssen. Der erste Untersuchungsgegenstand soll das dogmatische Problem sein. Das zweite Kapitel zeigt zunächst nur die Akteure der antiochenischen trinitarischen Streitigkeiten285 auf: Neben den ägyptischen confessores286 sind dies Vitalis287, Meletius 288 und Paulinus289. Lediglich mit den confessores halte Hie285
Sachlicher Gegenstand des antiochenischen Schismas war eine terminologische Frage: Sollte man, wie Paulinus dies in der Tradition von Altnicaenern wie Eustathius von Sebaste und Markeil von Ankyra tat, von einer Hypostase reden? Oder war es angemessener, wie Meletius es in Gemeinschaft mit „antiarianischen" Gemeinden verfocht, von drei Hypostasen auszugehen? 286
Die ägyptischen confessores waren 373 wegen ihres Festhaltens am Nicaenum vom homöischen Kaiser Valens exiliert worden, erst durch das Dekret Gratians aus dem Jahre 378 wurden sie auf ihre Sitze zurückgerufen (vgl. S C H A D E , Hieronymus III, 80f.). 287
Vitalis war Anhänger des Apolinaris von Laodicaea, jener weihte ihn 376 für eine antiochenische Gemeinde zum Bischof. Zu Vitalis vgl. G. FEIGE, Art. Vitalis, in: Döpp, S./Geerlings, W. (Hgg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg/Basel/Wien 1998, 633; K.S. F R A N K , Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, 273; A. GRILLMEIER, Jesus der Christus im
2. Exemplarische Analysen
205
ronymus Gemeinschaft, von den anderen wolle er nichts wissen. Das dritte Kapitel legt konkret das dogmatische Problem dar: Hieronymus werde trotz der Beschlüsse von Nicaea und Alexandrien290 gedrängt, sich zu der Rede von Glauben der Kirche, Bd. 1 : Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg/Basel/Wien 1979, 502-504; H. LIETZMANN, Apollinaris und seine Schule, Tübingen 1904; E. MÜHLENBERG, Apollinaris von Laodicea, FKDG 23, Göttingen 1969, 45-63, und REBENICH, Hieronymus, 111 Anm. 551. Zu den kirchenpolitischen Geschehnissen in Antiochien allgemein und den damit verbundenen dogmatischen Fragestellungen und Lösungsversuchen vgl. F. CAVALLERA, Le schisme d'Antioche, Paris 1905, passim; DERS., Saint Jérôme I, 50-55; B . DREWERY, Antiochien III. Das antiochenische Schisma, TRE 3, Berlin/New York 1978, 109-111; A.-J. FESTUGIÈRE, Antioche païenne et chrétienne, Paris 1959, und Ch. PIÉTRI, Das Entstehen der einen Christenheit (250-430), in: ders., Geschichte des Christentums Bd. 2, Freiburg/Basel/Wien 1996, 417-461. 288
Meletius ist einer der drei Bischöfe des Antiochenisehen Schismas. Der sich zum nicaenischen Glauben bekennende Meletius wird zunächst (360) von Konstantius vom antiochenischen Bischofssitz vertrieben und durch den anhomöischen Bischof Euzoius ersetzt. Nach seiner Rückkehr 362 wird er nicht von Paulinus und der damit ältesten nicaenischen Gemeinde in Antiochia anerkannt. Valens verbannt Meletius 364 erneut, dessen endgültige Rückkehr findet 378 statt. Während Meletius sich die Unterstützung des Basilius sichern kann, bleiben die Alexandriner und Rom auf Seiten des Paulinus und seiner altnicaenischen Gemeinde. Diese Solidaritätsfront mit Paulinus verdankt sich vor allem dem Einsatz des Athanasius, der zwar erkennt, daß ihn kein breiter dogmatischer Graben von Meletius trennt, der sich aber aus politischen Gründen zu Paulinus hält. Meletius stirbt 381, sein Nachfolger wird Flavian. Zu Meletius vgl. K. BALKE, Art. Meletius von Antiochien, in: Döpp, S./Geerlings, W. (Hgg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg/Basel/Wien 1998, 436; H.Chr. BRENNECKE, Studien zur Geschichte der Homöer, BHTh 73, Tübingen 1988, 66-81; FRANK, Lehrbuch, 261f., und H.-J. VOGT, Art. Meletios, LMA VI, München/Zürich 1993, 493. 289 Paulinus von Antiochien war zur Zeit des antiochenischen Schismas einer der dortigen Bischöfe, er stand der altnicaenischen Gemeinde vor und genoß aufgrund des Einsatzes des Athanasius für ihn die Unterstützung der Alexandriner sowie Roms. Zu Paulinus vgl. K. BALKE, Art. Evagrius von Antiochien, in: Döpp, S./Geerlings, W. (Hgg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg/Basel/Wien 1998, 223f.; BRENNECKE, Studien, passim; W.-D. HAUSCHILD, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1: Alte Kirche und Mittelalter, Gütersloh 1995, 39-43, und H.-J.VOGT, Art. Paulinus. Bischof von Antiochien, LMA VI, München/Zürich 1993, 1814. 290 Die Beschlüsse des Konzils von Nicaea hinsichtlich des ö|xooüaioq wurden auf der von Athanasius nach seiner Rückkehr aus dem Exil (8.2. 362 aufgrund des Amnestiegesetzes Julians) einberufenen Synode konsolidiert. Über die Synode und ihre Ergebnisse informiert vor allem der Tomus ad Antiochenos des Athanasius. Auf dieser Synode wurde bereits konstatiert, daß es legitim sei, von einer oder von drei Hypostasen zu sprechen. Im ersten Fall sei darunter die o u a i a zu verstehen, im zweiten Fall müsse man die personae vor Augen haben. Damit glaubte man, sowohl Formen des „Arianismus" wie des Sabellianismus ausgeschlossen zu haben. Vgl. dazu A.M. RITTER, Dogma und Lehre in der Alten Kirche, in: Andresen, C. u.a., Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität, HDTh I, Göttingen 1982 (Studienausgabe 1988),
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Kapitel 4: Exemplarische Analysen
drei Hypostasen zu bekennen, worunter die Gegner nach eigenem Bekunden tres personas subsistentes291 verstünden. Die Meletianer292, die die Rede von drei Hypostasen verlangen, hält Hieronymus für eine proles Arrianorum, also Nachkommenschaft der Arianer. Er bekennt sich zu sachlicher Übereinstimmung (sensus) mit der Rede von den tres personas subsistentes, weigert sich aber, die Rede von den drei Hypostasen (nomen) zu übernehmen293. Damit qualifiziert er den Streit im 199f. Zur Diskussion vgl. L. ABRAMOWSKI, Trinitarische und christologische Hypostaseformeln, ThPh 54, 1979, 38-49, und M. TETZ, Über nikänische Orthodoxie. Der sogenannte Tomus ad Antiochenos des Athanasius von Alexandrien, ZNW 66, 1975, 194222.
Zu den trinitätstheologischen Streitigkeiten und ihrer Wirkungsgeschichte vgl. neben den Darstellungen in den einschlägigen Dogmengeschichten H.Chr. BRENNECKE, Erwägungen zu den Anfangen des Neunizänismus, in: Papandreou, D./Bienert, W./Schäferdiek, K. (Hgg.), Oecumenica et Patrística, Festschrift W. Schneemelcher, Stuttgart 1989, 241-257; DERS., Art. Nicäa, I. ökumenische Synode von 325, TRE 24, Berlin/New York 1994, 429-441; DERS., Studien, passim; A.de HALLEUX, „Hypostase" et „personne" dans la formation du dogme trinitaire, in: ders., Patrologie et Oecuménisme. Recueil d'Études, BEThl 93, Löwen 1990, 113-214; Ch. MARKSCHIES, Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie. Kirchen- und Theologiegeschichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizänismus bei Ambrosius und im lateinischen Westen (364-381), BHTh 90, Tübingen 1995; DERS., „... Et TAMEN NON TRES DU, SED UNUS DEUS ..." Zum Stand der Erforschung der altkirchlichen Trinitätstheologie, in: Härle, W./Preul, R. (Hgg.), MJTh X (MThSt 49), Marburg 1998, 155179; DERS., Was ist lateinischer Neunizänismus? Ein Vorschlag für eine Antwort, ZAC 1, 1997, 73-95; A.M. RITTER, Art. Arianismus, TRE 3, Berlin/New York 1978, 692719; J. ULRICH, Die Anfänge der abendländischen Rezeption des Nizänums, PTS 39, Berlin/New York 1994. 291
Ep. 15,3 (54, 64,17f. H.). Hieronymus bezeichnet diese Personen als Campenses (54, 64,14 H.). Zu dem Terminus vgl. LABOURT, Saint Jérôme I, 164: „On ne sait d'où vient ce saubriquet; peut-être veut-il dire „les habitants de la plaine" de Cilicie (campus). Les évêques Silvanos de Tarse et Théophile de Kastabala, leus alliés, comptaient, en effet, parmi les plus ardents des semi-ariens revenus à l'orthodoxie. C'étaient d'ailleurs des partisans de Macédonius. Aussi, bien que celui-ci ne dût être condamné qu'en 381, comprend-on que Saint Jérôme se défiât de cette 'progéniture d'ariens' et réciproquement. Au surplus, saint Jérôme semble noyé dans cette dogmatique subtile." Dagegen wendet sich überzeugend REBENICH, Hieronymus, 109 Anm. 539: „Der Versuch von Labourt ist unbegründet und verkennt die Pointe von ep. 15,5 ..., denn Hieronymus setzt hier in polemischer Absicht die Melitianer in Antiochia mit den als häretisch stigmatisierten Tarsern gleich, um umgehend die Gefahr, die Rom aus einer solchen Verbindung erwachsen könnte, heraufzubeschwören ...". Vgl. außerdem CAVALLERA, Saint Jérôme I, 53; GRÜTZMACHER, Hieronymus I, 169 Anm.l; Kelly, Jerome, 52 Anm. 28, und W. JÜLICHER, Art. Campenses, PRE 3, Stuttgart 1899, 1443. 293 Vgl. ep. 15,5 (54, 64,18-65,1 H.): respondemus nos ita credere: non sufflcit sensus, ipsum nomen efßagitant, quia nescio quid ueneni in syllabis latet. 292
2. Exemplarische Analysen
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Kern als einen Streit um Begrifflichkeiten. Er erkennt, daß an der Definition des Begriffes ujiooxaaic; die Orthodoxie des jeweiligen Standpunktes hängt: Begreife man Hypostase als eigenständige persona, müsse man mit deren drei rechnen, verstehe man diesen Terminus allerdings im Sinne von ouaia, so könne man nur von einer Hypostase ausgehen294. Grundlage seiner Definition von Hypostase, wie sie im vierten Kapitel expliziert wird, ist die Übereinstimmung mit dem sensus communis aller Wissenschaften, also ein Konvenienzargument: tota saecularium litterarum schola nihil aliud hypostasin nisi usian nouit.295
Diese Voraussetzung zieht für ihn in konsequenter Durchfuhrung der oben genannten Alternativen die Folge nach sich, von nur einer Hypostase reden zu müssen. Die Rede von nur einer einzigen göttlichen oucjia, die der sachliche Grund der Rede von einer einzigen Hypostase ist, versucht Hieronymus mit dem Rekurs auf die Notwendigkeit der Anfangslosigkeit und UnerschafFenheit Gottes zu legitimieren296. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, propagiert Hieronymus folgendes: sufficiat nobis dicere unam substantiam, tres personas subsistentes perfectas, 707 coaeternas;...
aequales,
Diese Position begreift er als Explikation des in Nicaea dogmatisierten Bekenntnisses298. Jede Rede von drei Hypostasen hingegen impliziere die Rede von drei naturae und stelle damit die Nähe zur Position der Arianer her299. 294 Vgl. ep. 15,3 (54, 65,1-6 H.). Im letzten Fall, also im Falle der Gleichsetzung von o u a i a und ürcoaraaiq unter der Annahme, daß es eine o u a i a und damit eine Ü7ioaxaai