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German Pages 648 [650] Year 2014
Nadja Elia-Borer, Constanze Schellow, Nina Schimmel, Bettina Wodianka (Hg.) Heterotopien
MedienAnalysen Herausgegeben von Georg Christoph Tholen | Band 15
Editorial Medien sind nicht nur Mittel der Kommunikation und Information, sondern auch und vor allem Vermittlungen kultureller Selbst- und Fremdbilder. Sie prägen und verändern Konfigurationen des Wahrnehmens und Wissens, des Vorstellens und Darstellens. Im Spannungsfeld von Kulturgeschichte und Mediengeschichte artikuliert sich Medialität als offener Zwischenraum, in dem sich die Formen des Begehrens, Überlieferns und Gestaltens verschieben und Spuren in den jeweiligen Konstellationen von Macht und Medien, Sprache und Sprechen, Diskursen und Dispositiven hinterlassen. Das Konzept der Reihe ist es, diese Spuren lesbar zu machen. Sie versammelt Fallanalysen und theoretische Studien – von den klassischen Bild-, Tonund Textmedien bis zu den Formen und Formaten der zeitgenössischen Hybridkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Georg Christoph Tholen.
Nadja Elia-Borer, Constanze Schellow, Nina Schimmel, Bettina Wodianka (Hg.)
Heterotopien Perspektiven der intermedialen Ästhetik
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie des Instituts für Theaterwissenschaft ITW der Universität Bern.
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Inhalt
Heterotopien Eine epistemologische Skizze
Georg Christoph Tholen | 9 Einleitung
Nadja Elia-Borer, Constanze Schellow, Nina Schimmel, Bettina Wodianka | 15
IMPULSE »Gläserne Medien« Von der scheinbaren Durchsichtigkeit des Mediensystems
Rainer Leschke | 39 Mediale Dinge und ihre ästhetische Reflexion
Dieter Mersch | 53 Anmerkungen zu einer Ästhetik des Risikos
Hans-Thies Lehmann | 81
HETEROTOPOLOGIEN Fluchtlinien Für eine Heterotopologie der Medien
Samuel Sieber | 93 Darüber nachdenken, ›an welchem Punkt der Erdoberfläche man sich befindet‹ Verfahren künstlerischer Kartographie bei Rimini Protokoll am Beispiel des Projekts 50 Aktenkilometer
Birgit Wiens | 107 Premediation, Krise und Reform Medienwechsel als Technologie des Übens
Markus Stauff | 125
Interaktion und Partizipation in künstlerischen Medienumgebungen Das Beispiel Japan
Yvonne Spielmann | 141 Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en) Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie
Oliver Marchart | 159
HETERO PHONIEN Heterotope Räume des Musikalischen
Michael Harenberg | 195 Taube Augen Das Konzept der Heterotopie vor dem Hintergrund des acoustic turn
Lorenz Aggermann | 211 Zwischen Gut und Böse Hörszenen der Gegenwartskunst
Doris Kolesch | 227 »I’ve got the power« Zur Performativität von Sprache und Stimme in filmischer Beobachtung des Radios
Petra Maria Meyer | 243 Hörspiel als Gegenbewegung Unterwegs in den heterotopen Spiel- und Zwischenräumen des Kulturfunks
Bettina Wodianka | 263
BLICK RICHTUNGEN Desillusionierte Blicke in der Fotografie Heterotope Verfahren in der Medienkunst
Nadja Elia Borer | 283 The Ghosts of Documentary
Abigail Solomon-Godeau | 303
Heterologien des Nationalen Zur Materialität und Medialität der Flagge – Mali 2013
Tom Holert | 327 »Justice has been done.« Oder: Wer hat Angst vor Scham?
Linda Hentschel | 351 Die Biometrie des Bösen Verbrecherbilder in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
Hans Richard Brittnacher | 371
INTERMEDIALE SPIEL -RÄUME Bewegen als Ding Choreographische Kritiken des Objekts
André Lepecki | 389 Den Köper ins Spiel werfen Zum Verhältnis von Körper und Spiel im gegenwärtigen Theater und Tanz
Annemarie Matzke | 409 Funny Games – Ein Spiel ohne Grenzen
Nina Schimmel | 423 Serialität als Intermedialität
Michaela Wünsch | 435 Weißer Schwan und schwarzer Schwan Intermediale Reflexionen zu einem Ballettmythos
Christina Thurner | 455 »Ein solches Tragisches gehört nur für Cannibalen.« Gerstenbergs Ugolino als Skandalon im Theaterdiskurs des 18. Jahrhunderts
Sebastian Treyz | 469
HETERO CHRONIEN Situationen Philosophische und künstlerische Annäherungen
Andreas Hetzel | 487
Beweglicher Zugang, Bewegung als Zugang Performance – Geschichte(n) – Ausstellen
Barbara Büscher | 501 Die (un)wissenden Körper Choreographie als Reflexionsraum für Körperbilder und Tänzerkörper
Julia Wehren | 523 Ancient Egypt Revisited Über Fakten und Fiktionen im populären Film
Miriam V. Ronsdorf | 533 »Römische Katastrophe« oder »germanischer Freiheitskampf«? Die Varusschlacht in Dokumentarfilmen und die Wiederbelebung eines deutschen Nationalmythos
Miriam Sénécheau | 549
INTERDISKURSIVE REFLEXIONEN Immer hier und selten da Die Politik der choreographierten Tanztheoretisierung als Zwischenraum
Jens Richard Giersdorf | 575 Zu zwei Diskurs-Choreographien zwischen Tanz/Theorie und Philosophie
Constanze Schellow | 593 Spiegel im Spiegel Heterotopischer Raum im Computerspiel und seine Reflexion in der Literatur
Christof Zurschmitten | 609 Der Schrecken anderer Räume Zum literarischen Ausnahmezustand des Spukhauses
Arno Meteling | 623 Autorinnen und Autoren | 637
Heterotopien Eine epistemologische Skizze G EORG C HRISTOPH T HOLEN
Heterotopien – so der epistemologisch noch näher zu bestimmende Begriff, den Michel Foucault in seinen zwei berühmten Radiovorträgen (2005) umkreist – laden dazu ein, eher in Raumzeiten statt in Zeiträumen zu denken. Näherhin geht es Foucault hierbei um eine Distanznahme gegenüber den – philosophiegeschichtlich gesehen – langlebigen Konzepten und Perzepten von Raum und Zeit, die es nicht erlauben, Unterbrechungen und Zäsuren, Wiederholungen und Verschiebungen in den Dispositiven des Wissens angemessen zu verorten. Denn das bereits vorgegebene und in sich selbst beständige Schema der Zeit als einer zyklischen oder linearen Zeit-Abfolge (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) verkennt nicht weniger als das Schema des immer schon da-seienden Raums, die jeweils hinzukommenden oder dazwischenkommenden Umbrüche und Interferenzen, in denen der Spiel-Raum des Ästhetischen wie Diskursiven zur Sprache kommen kann. Anders gesagt: Das historische Apriori, das Foucault mit und doch anders als Kant und Nietzsche zu denken versucht, entzieht sich dem vertrauten Schema von Kontinuität und Diskontinuität, insoweit eine solche Schematisierung den Riss oder das Intervall zwischen den Diskursen bereits fixiert hat. Foucaults Archäologie des Wissens (1973) ist nicht das Modell der Ausgrabung dessen, wie es einmal gewesen sein mag, also eine historische Rekonstruktion der vergangenen oder verlorenen Gegenwart als einer ›vollen Präsenz‹, welche mit der jeweiligen Jetztzeit bruchlos und kontinuierlich zu verbinden wäre. Anders gesagt: Die epistemologische Eigenart der Diskursanalyse ist die Kunst, die »Schichten der historischen Formationen« (Deleuze 1987) in ihren Überlagerungen und nicht-linearen Zäsuren zu umschreiben. Hiermit distanziert sich Foucault mittels räumlicher Metaphern bereits zu Beginn seiner Archäologie vom Schema der »ununterbrochenen Kontinuität« und der »vergewissernden Form
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des Identischen« (Foucault 1973: 23), welche das Zeit- und Geschichtsbewusstsein gerade in der Historiographie unbemerkt geprägt hatte: »Die kontinuierliche Geschichte ist das unerlässliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts: die Garantie, daß alles, was ihm entgangen ist, ihm wiedergegeben werden kann; die Gewissheit, daß die Zeit nichts auflösen wird, ohne es in einer erneut rekomponierten Einheit wiederherzustellen; das Versprechen, daß all diese in der Ferne durch den Unterschied aufrechterhaltenen Dinge eines Tages in der Form des historischen Bewusstseins vom Subjekt erneut angeeignet werden können und dieses dort seine Herrschaft errichten und darin das finden kann, was man durchaus seine Bleibe nennen könnte. Aus der historischen Analyse den Diskurs des Kontinuierlichen machen und aus dem menschlichen Bewusstsein das ursprüngliche Subjekt allen Werdens und jeder Anwendung machen, das sind die beiden Gesichter ein und desselben Denksystems. Die Zeit wird darin in Termini der Totalisierung begriffen, und die Revolutionen sind darin stets nur Bewusstwerdungen.« (Ebd.: 23)
Die Archäologie des Wissens und der Macht ist also vielmehr die Ausgrabung dessen, was sich in unseren zeitgenössischen Diskursen und Praktiken – als ihr sich stets neu aktualisierender blinder Fleck – eingegraben hat, in Gestalt eines rhizomatischen Geflechts von sich überlagernden Schichten und Strategien. Deren Epistemologie wiederum, die Foucault seit seiner berühmten Antrittsvorlesung über die Ordnung der Diskurse (1974) als nicht-lineare Geschichte der Denksysteme entwarf, unterbricht den Gestus der die Geschichtsschreibung dominierenden Teleologie, welche »zu Gunsten der nichtlabilen Strukturen das Hereinbrechen der Ereignisse auszulöschen« (1973: 13) bestrebt ist. Der ›Archivar‹ und ›Kartograph‹ also, der Deleuze zufolge mit und nach Foucault die Episteme des Wissens als heterotope Relationen und nicht als Fortschritt in der Aufhebung des Wissens und seiner Stufen anschreibt1, will nicht stumme Monumente der Vergangenheit in Dokumenten memorieren, sondern vielmehr Dokumente zu spurensichernden Monumenten transformieren, um die Brüche aufzuzeigen, welche die bloße Ideengeschichte zu übersehen gewohnt war. Das Archiv des Wissens und der Macht in seinen Möglichkeitsbedingungen, oder genauer und mit Derrida gesprochen: in der Möglichkeit seiner Bedingungen zu beschreiben, bedeutet für die Diskursanalyse: Sie fahndet nicht nach der vermeintlichen Schöpfung, Ursprünglichkeit und Einheit der Diskurse, sondern sie entziffert die Serialität, Ereignishaftigkeit sowie die diskursverknappende Normativität der Dispositive und ihrer Machtwirkungen. Denn so erst lässt sich,
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Vgl. hierzu im wissenschaftshistorischen Überblick Rheinberger (2007).
Heterotopien. Eine epistemologische Skizze
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im Rahmen von sich verschiebenden Kräfte- und Lageverhältnissen, die Dominanz von Diskursen bestimmen, die das »unberechenbar Ereignishafte« (Foucault 1974: 7) zu bändigen und das Umherschweifen nomadischer Such- und Tastbewegungen (auch im politischen Sinne) stillzustellen sucht. Das Archiv ist also keine nach dem Modell der Bibliothek ausgerichtete Bleibe des Bewahrens und Aufbewahrens, sondern ein Aufbrechen und Um-Schreiben der »archontischen« (vgl. hierzu Derrida 1997) Funktion des Archivs, welches an der Erzeugung und Bezeugung von Wissen und Macht maßgeblich beteiligt ist. Es geht also um Diagrammatiken des Sichtbaren und Sagbaren, Hörbaren und Zeigbaren. Im welchem – epistemologisch präzisen – Sinne aber gibt es überhaupt den heterotopen, an sich selbst offenen und unbestimmten Zwischenraum, der sich dem Raum entzieht, den wir als den homogenen, lückenlosen und wegen seiner Leere stets erfüllbaren Raum zu bestimmen gewohnt sind? Dieser offene Raum ist nicht als bloßer Widerpart oder Gegensatz zum vorgegebenen Raum zu verorten. Er bekundet und bezeugt sich vielmehr als unvordenklicher und uneinholbarer Einschnitt innerhalb der räumlichen Bestimmung der Leere selbst (vgl. Tholen 2007). Denn eben diese ortlose Leere, die sich ihrem Begriff entzieht, ist die sich in jedweder Schematisierung einzeichnende, das Schema des Apriori selbst setzende und eröffnende Voraus-Setzung. Anders gesagt: Der Akt des sich einzeichnenden Schemas des Apriori gelingt nur im Gestus des Übersprungenhabens seines zeitlichen Charakters. Dem Schematismus des Vorgegebenen, Beharrlichen und Zugrundeliegenden geht also etwas voraus, das ihm nicht innesondern beiwohnt. Zur Vorgängigkeit des Apriori muss etwas hinzukommen, das eben die Beständigkeit und Vorgängigkeit von Raum und Zeit allererst zu bilden, zu positionieren erlaubt, ohne doch selbst als ein weiteres Apriori – als ein gleichsam noch ursprünglicherer Ursprung – gegeben zu sein. Was gibt die Vorgegebenheit des Raumes, in dem wie in einem Behälter »Vorhandenes allererst begegnen kann« (Heidegger 1998: 45)? Ist das vorgängige Schema des einigenden und alleinigen Raumes, der nach Kant als Schema der extensionalen Ko-Existenz in der Erkenntnis bereitliegen und doch ihr vorhergehen soll, vielleicht das Gegebene im Sinne einer Gabe oder eines Geschenks, das die Einbildungskraft von sich gibt, d.h. freigibt? Wenn ja, dann wäre der Ab-Ort der Einbildungskraft nicht der omnipräsente Raum, den die Einbildungskraft vielmehr als Schema des omnipräsenten Zeitraums allererst freisetzt bzw. »verstattet« (Heidegger 1990: 148). Das Gegebene als ›Dargebot‹ einer sich selbst entzogenen ästhetischen Affizierbarkeit zu erkunden, ist das, was zu denken bleibt. Die Ästhetik ist also nicht, wie von manchen neukantianischen Erben Kants unterstellt wurde, der Suprematie des Verstandes, d.h. sei-
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ner erkenntnistheoretisch zu isolierenden oder kognitionstheoretisch engzuführenden Vorrangigkeit unterzuordnen, vielmehr situiert sich die Einbildungskraft als ›Mittlerin‹ zwischen den synthetisierenden Quellen der Erkenntnis neu. Ihre mediale, und das heißt – im Sinne Benjamins – wie ein ›Choc‹ dazwischenkommende Eigenart verbindet nicht nur die Synthesis von Anschauung und Denken, über die sie hinausgeht, sondern ist dieses »Hinausgehen zum anderen« (ebd.: 115), eine ursprungslose bzw. »heimatlose« (ebd.: 136) Geste der Verortung. Jeder Vorblick oder Horizont der Anschauung setzt als antizipierende Zuwendung zu irgendeiner Gegenständlichkeit, die so erst entgegenstehen kann, seine eigene vor-weg-nehmende, also imaginäre Antizipation voraus. Der Horizont hat als solcher keine apriorische Einheit, sondern wird als Horizont vorgehalten, d.h. er bleibt als axiomatische bzw. metaphorisch-metonymische Setzung in der Schwebe. Der Horizont, um sich als Grenze setzen zu können, ist von einem Riss durchzogen, der das Horizonthafte bedingt, aber in diesem nicht enthalten ist. Die Einbildungskraft selbst – in ihrem Widerstreit zwischen Antizipation und Schematisierung – ist nicht als unveränderliche, statische ›Topik‹ des Erkenntnis- und Reflexionsvermögens zu situieren, sondern vielmehr als entwendende und verwendende ›Tropik‹ im Spiel der Begriffs- und Gestaltbildung. In einer solchen heterotopen Bestimmung der Inter-Medialität lassen sich vielleicht die zeitgenössischen Formen der per-formativen Künste, von der Fotografie über das Theater bis zu multimedialen Hörspielen und Tanzchoreographien, angemessener beschreiben als in homogenisierenden Konzepten von Raum und Zeit.
L ITERATUR Agamben, Giorgio, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich: Diaphanes 2001. Deleuze, Gilles, Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Derrida, Jacques, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkmann + Bose 1997. Foucault, Michel, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, München: Hauser 1974. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M.: Klostermann 1998.
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Heidegger, Martin, »Bauen Wohnen Denken«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1990. Rheinberger, Hans-Jörg, Historische Epistemologie, Hamburg: Junius 2007. Tholen, Georg Christoph, »Der Ort des Raums. Zur Heterotopie der Einbildungskraft im ›digitalen‹ Zeitalter«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, S. 99-114.
Einleitung N ADJA E LIA -B ORER , C ONSTANZE S CHELLOW , N INA S CHIMMEL , B ETTINA W ODIANKA Die Welt mit ihren überschüssigen Möglichkeiten erschließt sich nur einem schrägen Blick und einer schrägen Rede, in denen das Eigene sich nachhaltig verfremdet […]. BERNHARD WALDENFELS
Angesichts des kaum überschaubaren Feldes an Bezugnahmen verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen und Praxisfelder auf Michel Foucaults Begriff der »Heterotopie«, lassen sich folgende, kritische Fragen zweifelsohne nicht umgehen: Wie rechtfertigt sich ein weiteres Buch dazu? Wirkt sich das Konzept überhaupt produktiv auf die kulturwissenschaftliche Diskussion aus oder ermöglicht die Denkfigur Foucaults ein bloßes, rein assoziatives Nebeneinander heterogener Ansätze im Raum – schwebend und voneinander isoliert? Wir stellen uns diesen Fragen einleitend und ganz bewusst: Was könnte der anhaltenden und in zahllose Disziplinen ausufernden Debatte um die Heterotopien noch hinzuzufügen sein? Es handelt sich bei den folgenden Aufsätzen keineswegs um Beiträge zu einer Fortführung der an anderer Stelle erschöpfend geleisteten Aufarbeitung der Rolle und Bedeutung der »Heterotopie« innerhalb der Philosophie Foucaults (Chlada 2005). Allein dazu, ob man von ihr überhaupt als einem ›Konzept‹ sprechen kann, das Eigenständigkeit und Konsistenz beansprucht, divergieren die Ansichten in der Forschung. Es wird im Rückblick gar die Vermutung laut, ob nicht die ›Karriere‹ des Begriffs in den verschiedensten Kontexten am Ende damit zusammenhängt, »dass die Konzeptualisierung der Heterotopie-Idee bei einem sonst so systematischen und schulbildenden Denker wie Michel Foucault bemerkenswert assoziativ geschieht« (Tafazoli/Gray 2012: 7). Aus dieser Perspektive wären es gerade die fragmentarische und assoziative Form, in der die
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Heterotopie in Foucaults Werk Gestalt annimmt, sowie eine aus dieser Fragmenthaftigkeit folgende theoretische Offenporigkeit, welche die Adaptation, Variation und teils auch Instrumentalisierung des Begriffes nahe legen und gewissermaßen provozieren. Von ihrer ersten Erwähnung im Vorwort zu Lets Mots et les Choses (1966) über den Radiovortrag »Les utopies réelles ou ›Lieux et autres lieux‹« in einer Sendereihe zu Fragen der Utopie in der französischen Kultur auf France Culture, ausgestrahlt am 16. Dezember 19661, bis hin zur Freigabe einer Version dieses Vortrags zum erstmaligen Abdruck als »Des espaces autres« im Jahr 1984, kurz vor dem Tod des Philosophen, ist bei Foucault keineswegs Heterotopie gleich Heterotopie. Daniel Defert, der sich mit der Genealogie des Begriffs innerhalb des foucaultschen Denkens und den diskursiven Wanderbewegungen im Laufe seiner sich stetig intensivierenden Rezeptionsgeschichte seit den 1960er Jahren eingehend beschäftigt hat, spricht von einer Autorisierung »in letzter Minute«: Sie allein habe der Heterotopie in philosophischer Hinsicht anfangs »eine legitime Existenz« im Rahmen der weiteren Foucault-Rezeption gesichert (1997: 274). Verfolgt man die Transformation, die das ›Konzept‹ der Heterotopie bei Foucault durchläuft, lässt diese sich grob als Bewegung von Fragen der Sprache hin zu Fragen des Raumes skizzieren (vgl. ebd.; Urban 2007). Unmittelbar anschließend an die berühmte, »eine gewisse chinesische Enzyklopädie« (Foucault 2008: 21; vgl. Borges 1966: 212) zitierende Passage von Jorge Louis Borges, die als Inspiration für und als Einstieg in Die Ordnung der Dinge dient, ist die destabilisierende Wirksamkeit der Heterotopien in diesem Text eine stark sprachbasierte: »Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie gemeinsame Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ›Syntax‹ zerstören, und nicht nur die,
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Dieser wird im Originalwortlaut 2005 unter dem Titel Les Hétérotopies in einer französisch-deutschen Ausgabe samt der Originalsendung auf Audio-CD bei Suhrkamp publiziert (Foucault 2005). Daniel Defert, damals der Verfasser des Nachwortes, gibt die beiden Vorträge als eigenständige Publikation erst 2009 in einem französischen Verlag heraus (Foucault 2009). Auffällig ist, dass Defert sie ihrer chronologischen Abfolge im Radio nach anordnet, den Band also mit »Le Corps Utopique« eröffnet, während die Suhrkamp-Publikation »Les Hétérotopies« an den Anfang stellt. Diese Entscheidung lässt sich so interpretieren, dass hierfür der unbestritten größere Bekanntheitsgrad des Heterotopien-Vortrags den Ausschlag gab.
Einleitung
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die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ›zusammenhalten‹ läßt.« (Foucault 2008: 24)
Es ist besonders die »Heimlichkeit« im Wirken der Heterotopien, die diese gewissermaßen unheimlich macht. Ihnen wohnt ein Moment der Destabilisierung inne, das an der Oberfläche eingeführter Ordnungen angreift, sich dabei aber einem direkten Zugriff entzieht. Im Fall von Borges’ Kategorisierung der Tiere in Gattungen von »a) Tiere, die dem Kaiser gehören« bis »n) [Tiere,] die von weitem wie Fliegen aussehen« (ebd.: 21; Borges 1966: 212) wird ein formal klar strukturierendes Ordnungssystems etabliert, das in seiner Konsequenz durch die radikale Verschiebung des ordnenden Prinzips jedoch de facto »alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert« (Foucault 2008: 21). Entsprechend ist auch die Aussage zu der gegensätzlichen Wirkungsweise von Utopien und Heterotopien zu verstehen: Dass die »Utopien trösten«, während »[d]ie Heterotopien beunruhigen«, liegt daran, dass erstere »Fabeln und Diskurse« gestatten, während letztere »das Sprechen aus[trocknen]« (ebd.). Von Ortlosigkeit ist in diesem Zusammenhang vorerst nur im Sinne einer fundamentalen »Ortlosigkeit der Sprache« die Rede (ebd.: 23). Dieser beunruhigende oder eben ›heimlich-unheimliche‹ Effekt der Heterotopie bildet die Konstante, wenn Foucault in seinem Radiovortrag dazu übergeht, den Begriff auf konkrete Räume, oder wie er sagt »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind« (1992: 39), anzuwenden. Erneut ist seine Denkfigur durch einen paradoxalen Zug gekennzeichnet. Entwarf Foucault die Heterotopie zunächst als eine »Unordnung, die die Bruchstücke einer großen Zahl von möglichen Ordnungen […] aufleuchten lässt« (2008: 24), bezieht er sie nun auf »Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können« (1992: 39). Es ist dieses Paradox und die sich daran anschließende Frage, welchen Status das ›Andere‹ in diesen wirklichen, wirksamen, in den Raum der Gesellschaft eingeschriebenen und dabei so fundamental »anderen Räumen« eigentlich hat und potenziell haben kann, die der theoretischen Rezeption von Foucaults Konzept bis heute zu schaffen macht. Davon zeugt beispielsweise die anlässlich einer aktuellen Neu-Übersetzung von »Des espaces autres« ins Englische geführte Diskussion, inwiefern das »autre« – der »autres lieux« (1966) bzw. »espaces autres« (1984) – adäquat als »other« oder »different« zu übersetzen sei. Lege »difference« eine relationale Definition nahe, impliziere »otherness« eine absolute (Ab-)Trennung (vgl. Dehaene/ de Cauler 2008: 22f.). Wolle man also der Tatsache Rechnung tragen, dass bei Foucault die Heterotopie nicht einfach als Freiheit von jeglicher Normativität bestimmt wird, sondern dass sie einen Ort innerhalb einer normativen Ordnung
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darstellt, an dem deren Normen suspendiert werden (und nur in dieser Hinsicht kann die Kolonie ebenso Heterotopie sein wie das Kino oder der Friedhof), müsse der Betonung der Relationalität der Vorzug gegeben werden. Im besagten Sammelband entscheidet man sich in letzter Konsequenz doch wieder für den eingeführten englischen Titel »Of other spaces«, vor allem, wie es heißt, um zu betonen, auf welche Weise die »anderen Räume« innerhalb eines je konkreten gesellschaftlichen Raumes in einer Beziehung der Reflexion und Inversion zu dessen übrigen Räumen stehen (ebd.: 23). Aufgrund der terminologischen Gegensatzpaare, mit und in denen Foucaults Denkfigur der Heterotopie operiert, mutet sie auf den ersten Blick beinahe dialektisch an. Dabei erschöpft sie sich keineswegs in der bloßen Opposition von ›wirklich‹ und ›unwirklich‹, ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹. Im Gegenteil: Die Heterotopien, wie wir sie im Kontext von Reflexionen im Feld der intermedialen Ästhetik verstehen, »sind […] Ausnahmen im buchstäblichen Sinn; sie nehmen sich aus den Räumen aus« (Tafazoli/Gray 2012: 9). Die Arbeit dieses Sich Ausnehmens, die eine initiativ herbeigeführte Bewegung beschreibt, berührt Fragen politischer Handlungsfähigkeit ebenso wie Überlegungen zu der Möglichkeit wissenschaftlicher Disziplinen, eine kritische Analyse ihrer eigenen methodischen Begrenzungen zu leisten, und sie betrifft nicht zuletzt jede Form medialer (Selbst-)Reflexivität im atopischen Raum des »Dazwischen« (Tholen 2002: 169ff.) als dem Ort intermedialen Sprechens. Dieses zwischen den Medien weist dabei in seiner Beschaffenheit und Erscheinung zwischen An- und Abwesenheit, konturlos wie konkret, als Ort wie Nicht-Ort Parallelen zu einer Öffnung des Begriffs der Heterotopie nach Volker Roloff auf: »Heterotopien schaffen nicht nur Passagen zwischen verschiedenen Räumen, sondern auch zwischen scheinbar unvereinbaren Kategorien, Zwischenräumen und Spielräumen, die Grenzüberschreitungen, überraschende Verwandlungen und Substitutionen ermöglichen« (2003: 109). Dieses Zur-Erscheinung-bringen als Negation der Norm und in seiner Potenzialität einer alternativen Ordnung entzieht sich einer klaren Benennung und Deutung – sonst würde es wohl auch seinen beunruhigenden bzw. ›heimlich-unheimlichen‹ Effekt einbüßen. Nicht nur, weil im vorliegenden Band Denkbewegungen u.a. der Medienwissenschaft neben solchen der Tanzwissenschaft, der Literaturwissenschaft und der Theaterwissenschaft stehen, bietet es sich an, die Bewegung zur Beschreibung des Wesens der Heterotopie heranzuziehen. Schließlich macht diese es mittels ihrer Zäsur möglich, »die Spuren […] einer Bewegung, die sich vom homogenen Raum her nicht rekonstruieren läßt, in einer kritischen Topographie […] nachzuzeichnen« (Görling 1997: 22); sie ermöglicht es, die Inszenierungs- und Darstellungsweisen verschiedener Wissensfelder und Künste, ihre Verkreuzungen, Ris-
Einleitung
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se und Überlagerungen zu dekonstruieren, zu re-konstruieren und in ihren unabgegoltenen Möglichkeiten lesbar zu machen. Der Diskurs zur Heterotopie ist von Anfang an ein interdisziplinärer. Er beginnt nicht etwa in der Philosophie, sondern in der Architektur – die Erstveröffentlichung des kompletten Radiovortrags 1984 erfolgte bekanntlich im Umfeld der Internationalen Bauausstellung in Berlin – und dehnt sich alsbald auf die Kunst- und Literaturwissenschaft aus. Catherine David integriert Foucaults »Andere Räume« in den Katalog ihrer documenta X (1997) und ko-kuratiert 2007 die 1. Biennale für zeitgenössische Kunst im griechischen Thessaloniki unter dem Motto Heterotopias2. Wiederum in der Architektur wird Foucaults Vorschlag einer »Heterotopologie« als »systematische« und dabei »zugleich mythische und reale Beschreibung des Raumes, in dem wir leben« (Foucault 1992: 40) sodann auch akademisch institutionalisiert: in Form eines Lehrstuhls des USamerikanischen Stadtplaners und Geographen Edward Soja an der University of California in Los Angeles. Die Frage, ob und in welchem Ausmaß sich Foucaults knappe Anhaltspunkte für eine Disziplin der Raumreflexion allerdings für die empirisch-kulturwissenschaftliche Anwendung auf Fallbeispiele – etwa in urbanistischen Studien zur Architektur und Funktion von Parkhäusern (Hasse 2007) – eignet, darin gehen die Einschätzungen auseinander. Ist die Kunsthochschule eine Heterotopie oder kann sie eine werden3? Sind Kafkas Schriften als Heterotopien zu lesen (Görling 1997)? Lässt sich von heute aus gesehen und gegenläufig zu der Unterscheidung Foucaults die Heterotopie als postmodernistisches Subgenre der Utopie verstehen (Leiss 2010; vgl. auch Moylan 1990)? Oder sogar als Errungenschaft der spätmodernen Kulturindustrie, wenn man wie Gianni Vattimo mit übergroßer Emphase annimmt, dass hier mittels einer Vermischung von Kunst und Gesellschaft die »ästhetische Utopie« erstmals heterotopisch demokratisiert worden sei (Vattimo 1992: 94)? In der Raumtheorie steht mittlerweile die wesenhafte Gegenräumlichkeit der Heterotopien zur Disposition: Was ist ihr zeitgenössischer Spielraum in einer Welt, in der ortlose Orte und Nicht-Orte seriell institutionalisiert (Augé 2010; vgl. auch Smithson 2000; 1967), wir quasi von Heterotopien umgeben sind (Tafazoli/Gray 2012)? Allein diese kurze Skizze aktueller interdisziplinärer Bezugnahmen auf
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Vgl. State Museum of Contemporary Art (Hg.), Heterotopias – 1. Biennale of Con-
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Das Symposium 24 Stunden über Heterotopie fand im März 2013 an der Folkwang
temporary Art Thessaloniki (Catalogue), Thessaloniki 2007. Hochschule in Essen statt, vgl. http://folkwangid.com/2013/03/27/24-stunden-uberheterotopie-2/ (19.06.2013).
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den Heterotopie-Begriff zeigt, wie divergent die Auffassungen und Herangehensweisen im Einzelnen sind. Der vorliegende Sammelband versteht sich vor diesem Hintergrund strukturell wie inhaltlich als eine heterotopische Intervention – aus der interdisziplinären Forschungsperspektive heraus, der das ProDoc-Graduiertenkolleg Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz über bisher sieben Jahre gefolgt ist. Die Unterscheidung zwischen einem Buch über Heterotopien und einem heterotopisch operierenden Band lässt sich als Analogie im Sinne jener berühmten Unterscheidung verstehen, die Jean-Luc Godard zwischen dem Machen »politischer Filme« und dem »politischen Machen von Filmen« in seinen Histoire(s) du cinema traf (vgl. Godard 2009). Die Heterotopie berührt, insofern sie sich eben »nicht an Dichotomien als Gegebenheiten orientiert, sondern an ihren Interaktionen an einem anderen Ort« (Tafazoli/Gray 2012: 24), Kernaspekte eines Nachdenkens über Interdisziplinarität als heterotopologische Herausforderung für die Geisteswissenschaften. Sie trägt damit auch der Entwicklung in den Künsten Rechnung, da in zeitgenössischen Experimenten der Literatur, der Medien und der performativen Künste eine Vielzahl intermedialer und interdiskursiver Reflexionen zu beobachten sind, die angestammte Darstellungsformen und Erzählweisen selbst zur Disposition stellen und diese im Zusammen- und Wechselspiel spielerisch kombinieren und dabei aufs Spiel setzen. Wie Marcus S. Kleiner festhält, resultiert »[d]ie Notwendigkeit zur interdisziplinären Forschung« in der Gegenwart »nicht aus disziplinären Setzungen, sondern aus der Vielschichtigkeit der entsprechenden Untersuchungsgegenstände selbst« (2006: 57). Die folgenden Aufsätze erzeugen und besetzen solche »anderen Orte« des Denkens und Forschens jenseits klassischer Fächer-Territorien. Sie agieren heterotopisch im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs: In der pathologischen Anatomie bezeichnet die »Heterotopie« ein in sich korrekt gebildetes und auch funktionierendes Gewebe, das sich nicht an der anatomisch üblichen Stelle des Körpers befindet. Darüber, ob Foucault dieser Umstand bekannt gewesen ist und er für seine eigene terminologische Verwendung eine Rolle gespielt hat, lässt sich zwar nur mutmaßen (vgl. Defert 2005: 75; Sohn 2008). Allerdings lenkt die medizinische Lesart den Blick auch auf einen anderen Aspekt, der nicht in Vergessenheit geraten darf: Als Unordnung, die mögliche andere Ordnungen zu denken herausfordert, verknüpft sich mit der Heterotopie immer ein Aspekt von Gefährdung und Risiko. Dies gilt auch, wenn im Folgenden die Autorinnen und Autoren durch die verschiedenen inter- und transdisziplinären Grenzgänge ihrer Beiträge Konventionen der klassischen ›Fächer-Anatomie‹ der Universität unterwandern und herausfordern.
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Der Band gliedert sich in sieben thematische Teilbereiche, die sich unterschiedlichen Zwischenräumen wissenschaftlicher und künstlerischer Art widmen: 1. Impulse, 2. Heterotopologien, 3. Heterophonien, 4. Blickrichtungen, 5. Intermediale Spiel-Räume, 6. Heterochronien und 7. Interdiskursive Reflexionen. Drei einführende »Impulse« betreffen grundlegende Fragen zu den Bedingungen und Methoden einer intermedialen und interdiskursiven Forschungsperspektive im zeitgenössischen Kontext der Künste und Wissenschaften. Den Grundlagen und Grenzen sowie den Transformationen, welche die Perspektive der Intermedialität in einem postkonventionellen Mediensystem erfährt, geht Rainer Leschke in seinem Beitrag »Gläserne Medien«. Von der scheinbaren Durchsichtigkeit des Mediensystems nach. Die in der intermedialen Analyse über ihre paradoxal angelegte Grundannahme implizite Konsequenz einer Unmöglichkeit jedweder Rückschlüsse auf Medienqualitäten aufzeigend, proklamiert der Medienwissenschaftler den notwendig gewordenen Übergang eines Umdenkens hin zu einer interformativen Analyse. Diese allein könne die Bedingungen und Strukturen wie auch die Erschließung des kulturellen Materials und des postkonventionellen Mediensystems, in dem die technischen Grenzen der Medien erodieren und diese zunehmend selbst unscharf werden, als einziges Orientierungspotenzial bestimmbar machen. Der Unbestimmbarkeit ›Medialer Dinge‹, die stets in einem ›Dazwischen‹ bleiben, geht der Medienphilosoph Dieter Mersch in seinem Beitrag Mediale Dinge und ihre ästhetische Reflexion nach. Über die Dinglichkeit der Dinge kann nur mittels Zuschreibungen gesprochen werden; sie selbst geht allein indirekt auf und lässt sich nicht identifizieren. Die Medialität des Medialen erfordert, wie Mersch aufzeigt, eine Kippung oder Vexierung, die als paradigmatische Strategie medialer Reflexivität fungiert und insbesondere im Rahmen von Praktiken des Ästhetischen – jedoch unvollständig und fragmentarisch – beobachtbar wird. Anders gewendet: Jede Mediation ist widersprüchlich und beteiligt sich an etwas, das ihr notwendiger Weise entgehen muss. Das Mediale ist, so Mersch, nur durch seine performativen Brüche, als eine nicht endende Serie von Partikularitäten, zu denken. Unter theaterwissenschaftlichem Fokus stehen die Anmerkungen zu einer Ästhetik des Risikos von Hans-Thies Lehmann, der vor dem Hintergrund seiner Theorie des Postdramatischen nach den Möglichkeiten von Theater heute fragt, die Normen, Strukturen und Werte einer Gesellschaft zu erschüttern und kritisch zu befragen. Auf die Ritualtheorie Victor Turners Bezug nehmend, geht der Autor dabei der Theatersituation als communitas auf den Grund. Am Beispiel von Sarah Kanes Stück 4.48 Psychose und Arbeiten von Jan Fabre skizziert er die
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»Ästhetik der Vergiftung« (Lehmann) eines Theaters, das die Grenze zwischen dem Privatbereich und der öffentlichen Präsenz als Zuschauer gezielt überschreitet. Der Abschnitt »Heterotopologien« setzt sich aus medien- und theaterwissenschaftlicher Perspektive mit intermedialen Relationen, Konfigurationen und medialen wie raumkünstlerischen Dispositiven auseinander. Befragt werden Praktiken, etwa in Hinblick auf Spielanordnungen der Interaktion wie Partizipation, und die Auswirkungen dieser Verhandlungen auf die Anwendung selbst. In seinem Beitrag Fluchtlinien. Für eine Heterotopologie der Medien untersucht der Medienwissenschaftler Samuel Sieber die intermedialen Konfigurationen variabler Kartenmedien anhand von Diensten wie ›Street-view‹, der Webseite ›Crisis Response‹ von Google sowie der Echtzeit-Kartographierung von TwitterNachrichten, die zwischen politischer Intervention und polizeilicher Ordnung oszillieren und hierin heterotope Spielräume eröffnen. Die Karte als mediales Dispositiv ist im Foucaultschen Theoriehorizont im Feld von Sag- und Sichtbarkeit zu verorten. Siebers Ansatz, Medien als Heterotopologien zu begreifen, ermöglicht es, die medialen Dispositive in Korrelation mit der Disponibilität des Medialen zu bringen und das unaufhaltsame Changieren zwischen politischer Intervention und polizeilicher Re-Adjustierung – Modalitäten, die sich paradigmatisch an den digitalen Karten aufzeigen lassen – auf neuartige Weise zu analysieren. Die Performativität der raumkünstlerischen Dispositive zeitgenössischer szenographischer Praktiken, die sich jenseits von Guckkasten und Kulisse zunehmend hybrider und intermedialer Verfahren bedienen, untersucht die Theaterwissenschaftlerin Birgit Wiens. In Darüber nachdenken, ›an welchem Punkt der Erdoberfläche man sich befindet‹ diskutiert sie anhand des Projektes 50 Aktenkilometer (2011) der Theaterformation Rimini-Protokoll deren experimentelle, häufig im urbanen Raum situierte Spielanordnungen hinsichtlich ihrer Verfahren »künstlerischer Kartographie«. Denn: Wie der Szenographie prinzipiell, ist auch der Karte eine performative Dimension eigen, die Räume nicht lediglich darstellt, sondern in ihrem Gebrauch erst hervorbringt. Mediale Veränderungen technischer Dispositive als Formen der Beeinflussung und Konditionierung menschlichen Denkens und Verhaltens beschäftigen Markus Stauff in seinem Beitrag Premediation, Krise und Reform. Medienwechsel als Technologie des Übens. Unter den Vorzeichen der sich stetig beschleunigenden Transformationen der Medientechnologien verschieben sich die Kräfteverhältnisse fortlaufend und tragen zur Neustrukturierung von Verhandlungsweisen sowie der Handlungsmacht der Viewer/User bei. Stauff zeigt die vielfältigen neuen Perspektiven unter anderem am Beispiel der post-demographischen Iden-
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tifizierung von Internetnutzern oder der Etablierung neuer digital devices auf. Der Vorgang des Einübens im Rahmen von Medienwechseln ist hierbei als Doppelbewegung zwischen Krise und Reform zu denken, die die stetige mediale Transformation als eine zugleich produktive wie flexible Technologie des Selbst zu reflektieren erlaubt. Die Medienwissenschaftlerin Yvonne Spielmann spürt in ihrem Beitrag Interaktion und Partizipation in künstlerischen Medienumgebungen. Das Beispiel Japan der Vermehrung ›kommunikativer‹ Medienanwendungen sowie der translokalen Dimension von Prozessen des Mischens und Mixens in den Medienlandschaften aktueller Medienkünste nach – insbesondere dort, wo diese territoriale und Identitätsgrenzen überschreiten. Die These vom prinzipiell »heterotopischen« Datenraum vernetzter Kommunikation reflektierend, fragt Spielmann anhand der Projekte japanischer und japanisch-europäischer Künstler und Kollektive wie Seiko Mikami und doubleNegatives Architecture nach dem kritischen Potenzial neuartiger interventionistischer Mensch-Maschine-Interaktionen. Ausgehend von der Demontage eines unterstellten, häufig unreflektiert bleibenden ›Gemeinsamen‹ in der community art, unterzieht Oliver Marchart in seinem Beitrag Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en). Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie die Raumbegriffe von Gilles Deleuze, Jürgen Habermas sowie Foucaults Heterotopie einer eingehenden Kritik. Im Anschluss an Rosalyn Deutsches demokratietheoretische Bezugnahme auf das Raum- und Zeitverständnis bei Ernesto Laclau formuliert Marchart ein Konzept von Öffentlichkeit als Ordnung des Konflikts und ontologisches Prinzip einer Dislokation, die der Etablierung jeglichen geschlossenen Raumes permanent entgegenarbeitet. Im Abschnitt »Heterophonien« verschiebt sich der Fokus auf die Diversität kultureller wie künstlerischer Praktiken in den Zwischenräumen des Akustischen und deren Konfigurationen von »Interdependenzengeflechten« (Elias 2003) und »Schnitt-Stellen« (Tholen 1999), welche die Risse in sonst unbemerkt bleibenden angestammten Wahrnehmungsdispositiven exponieren und zugleich dezentrieren. Diese ästhetischen Strategien wie medialen Produktionsweisen und -konventionen werden aus musik-, theater- und medienwissenschaftlicher Perspektive reflektiert. Der Titel des Abschnitts geht dabei auf die gleichnamige Orchesterkomposition (1961) Mauricio Kagels zurück, die – den Werken Kagels insgesamt entsprechend – als experimentelle Versuchs- und assoziative Spielanordnung im Oszillieren vergangener und gegenwärtiger (Spiel-)Räume dieselben zu verbinden wie zu trennen vermag. Heterotope Räume des Musikalischen skizziert der Komponist, Musik- und Medienwissenschaftler Michael Harenberg.
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Dabei befragt er die Wechselbeziehungen der werkimmanenten Parameter des Klangs, der Form und des Raums in der Musik und zeichnet nach, wie diese, je nach Entstehungszeit, unterschiedlich in Beziehung gesetzt werden. Je nach Gewichtung der Elemente bietet sich die historische Entwicklung dabei als ein heterogenes Panorama dar, das vom architektonischen Klang-Ort über den symbolischen Raum formaler wie struktureller Projektionen und den imaginären, musikimmanenten Raum kompositorischer Phantasie bis hin zu virtuellen Räumen des Musikalischen reicht. Johns Cages Komposition Europeras 1 (1987), die Heiner Goebbels im Rahmen der Ruhrtriennale 2012 inszenierte, dient dem Theaterwissenschaftler Lorenz Aggermann in seinem Aufsatz Taube Augen. Das Konzept der Heterotopie vor dem Hintergrund des acoustic turn neben Douglas Gordons Installation Zidane: A 21st Century Portrait (2006) als Beispiel dafür, wie in der aktuellen darstellenden Kunst über das Herbeiführen konflikthafter Momente der Brüche und Dysfunktionen andere, mitunter vergangene Zeiten wie andere (Hör-)Räume als Spuren in den Leerstellen der Inszenierungen für die Rezeption erfahrbar werden. Wie das Zusammenspiel zwischen akustischem und visuellem Dispositiv dabei jeweils konzipiert ist, um sich etwa wie im Falle der Heterotopie, so Aggermann, »wechselseitig [zu] ›dysfunktionalisieren‹«, arbeitet er u.a. in Rückgriff auf Leon Battista Albertis Abhandlung de pictura (1435) und die Konsequenzen der Perspektive auf die Techniken der Kunst wie das blickende Subjekt heraus. Die Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch hinterfragt in Zwischen Gut und Böse. Hörszenen der Gegenwartskunst anhand der Installation To Touch (1993) von Janet Cardiff und der Performance Seedbed (1972) von Vito Acconci die fragile, doch manifeste Performativität der Stimme. Beide nutzen die Interdependenz von Stimmproduktion und Stimmwahrnehmung, um affektiv aufgeladene, regelrecht haptisch werdende audio-visuelle Erfahrungen zu initiieren. Entgegen einem häufig »einseitig positive[n]« Verständnis der Stimme in Opposition zur Gewalt des Visuellen in der jüngsten Forschung fokussiert Kolesch auf die Übergriffigkeit, auf Macht- und Ohnmachtsaspekte in den Wahrnehmungsszenarien Cardiffs und Acconcis und fordert die Hinwendung auch zu der »negativen, dunklen und gewalttätigen Seite« (Kolesch) des Stimmlichen. Die Redefreiheit im Hörfunkformat ›Talk Radio‹ als eine im Kern utopische Konstruktion diskutiert die Medienwissenschaftlerin Petra Maria Meyer anhand zweier Filme, die dieses Konzept zugleich thematisieren und dekonstruieren: Talk Radio (1988) und The Fisher King (1991). Mittels einer Medienreflexion des Radios durch den Film und ausgehend von u.a. Judith Butlers Studie Excitable Speech leistet Meyer in »I’ve got the power«. Zur Performativität von Spra-
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che und Stimme in filmischer Beobachtung des Radios einen Beitrag zur Untersuchung performativer Äußerungen »als wirkungsmächtige und manipulative kulturelle Praktiken«. Sie berücksichtigt dabei die Stimme sowohl in ihrer Eigenart wie auch in der Wechselwirkung mit Sprache – als Spur des Körpers, als Stachel und Wunde, Antwort und Ver-antwortung. Der Beitrag Hörspiel als Gegenbewegung. Unterwegs in den heterotopen Spiel- und Zwischenräumen des Kulturfunks der Medien- und Theaterwissenschaftlerin Bettina Wodianka widmet sich der Selbstreflexion der Medialität des Radiophonen im öffentlich-rechtlichen Kulturprogramm. Hörspielmacher erschließen sich das Radio seit den 1970er Jahren als Raum der Überlagerung und Durchkreuzung im Akustischen – querständig zu den Normen standardisierter Sendeformate. Ausgehend von den medienspezifischen Verfahren Rolf Dieter Brinkmanns in seiner Rundfunksendung Die Wörter sind böse (1974) mit ihrer Offenlegung der Produktionsbedingungen, schlägt die Autorin den Bogen zu Anordnungen im Hörspiel der Gegenwart, die in spielerischer An- und Zueignung der Produktionsmittel die Möglichkeiten des Akustischen befragen. Im Abschnitt »Blickrichtungen« werden aus der Perspektive der Medien-, Kunst- und Literaturwissenschaft sowie der Visual Culture Studies sowohl die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen alten und neuen visuellen Medien als auch die sie begleitenden Diskurse und Politiken unter besonderer Berücksichtigung ihrer ästhetischen Disponibilität befragt. Dabei werden anhand von Beispielen gegenwärtiger Medienkultur die Bedingungen der Möglichkeit einer Etablierung alternativer Felder des Visuellen, im Sinne von »Gegenplatzierungen« (Foucault 1992: 39) und »Imaginationsarsenalen« (ebd.: 46), des ›ZuSehen-Gebens‹ untersucht. Die Medien- und Kunstwissenschaftlerin Nadja EliaBorer untersucht in Desillusionierte Blicke in der Fotografie. Heterotope Verfahren in der Medienkunst die ambivalenten Bildräume der zeitgenössischen Fotografie. Wurde dem ältesten der technischen Reproduktionsmedien in seinen Anfängen ikonische Evidenz unterstellt, betonen kulturwissenschaftliche Ansätze und künstlerische Reflexionen heute den prekären Realitätsstatus sowie die genuine Doppellogik des Fotografischen. Letztere zeigt sich insbesondere an den Bildern der Dokumentarfotografie, die einerseits den Mythos eines Wirklichkeitsversprechens reproduzieren, andererseits jedoch in spezifische MachtWissens-Quotienten eingebunden sind. Anhand der Werke von Louise Lawler, Martha Rosler und Studer/van den Berg zeigt Elia-Borer, wie diese Bilder auf unterschiedliche Weise das ›Dokumentarische‹ als ›Als-Ob‹ re-inszenieren, wodurch heterotope Spielräume der Fotografie eröffnet werden. Wie lassen sich die »Gespenster« der Dokumentarfotografie am Übergang von analogen hin zu digitalen Bildpraktiken bestimmen und in welchen unter-
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schiedlichen Rahmen manifestieren sie sich? Dieser Frage geht die Kunsthistorikerin Abigail Solomon-Godeau in The Ghosts of Documentary nach, indem sie beschreibt, wie diese »Gespenster« den Phantasmen des Dokumentarischen und seiner Selbstdefinition unnachgiebig anhaften. Kategorien wie Dokumentarfotografie, Fotojournalismus oder sozialdokumentarische Fotografie sind stets in historisch variable Diskurse und Kontexte eingebunden, die es in Anbetracht der Zäsur des Digitalen zu befragen gilt. Solomon-Godeau untersucht die Brüchigkeit der Grenzmarkierungen zwischen fotografischen Praktiken, deren Komplexität sich derzeit durch den expliziten Einsatz analoger Techniken in der Kunst sowie die zunehmende Präsenz von Bildern, die mit Dokumentarfotografie und Fotojournalismus assoziiert werden, in Ausstellungen sowie auf dem Kunstmarkt verstärkt. Anhand von Bildern des kanadischen Fotografen Joe Penney thematisiert Tom Holert in seinem Beitrag Heterologien des Nationalen. Zur Materialität und Medialität der Flagge – Mali 2013 das Potenzial visueller Interventionen in den gegenwärtigen Bildräumen. Die französischen Soldaten wurden im Rahmen der Opération Serval unverhofft mit einer Flut nationaler Symbole Frankreichs – allen voran der Trikolore – überschwänglich in Mali begrüßt. Die Flagge fungiert hier, wie Holert konzise aufzeigt, jedoch nicht lediglich als Propagandamittel zur symbolischen Reterritorialisierung, sondern changiert zwischen widerstrebigen Deutungen und Anwendungen. In den Bildern Penneys kann die Flagge in ihrer Medialität und Materialität als ›Gegenplatzierung‹ oder ›Widerlager‹ gelesen werden, die der Fotografie eine gewendete Deutung einschreibt. Die Performanz des Mediums Flagge betonend, verdeutlicht Holert, dass Mali nicht bloß affirmativ eine »République bannière« darstellt, sondern vermittels unterschiedlicher Präsentationen der Trikolore heterologische Bildräume zu produzieren vermag. Linda Hentschel befragt in »Justice has been done.« Oder: Wer hat Angst vor Scham? die Etablierung einer neuen Bilderpolitik, die durch eine visuelle Stille, ein Nicht-Zeigen und durch den visuellen Entzug von Gewalt konstituiert wird. So zeigt etwa die in den Massenmedien verbreitete Fotografie des Situation Room nicht die Erschießung Osama Bin Ladens, sondern fokussiert die Betroffenheit Hillary Clintons und verlagert hierdurch das Zentrum des Bildes ins Off. Hentschel veranschaulicht, dass diese Ergriffenheit Clintons nicht die Tötung Bin Ladens, denn vielmehr die Gefährdung der US-Seals betrifft. Die Bilderpolitik des 5/1 zeugt daher, wie die Autorin mit Levinas und Sartre aufzeigt, weniger von der Scham, das »Leiden Anderer« zu betrachten, sondern lässt Strategien des Ausweichens vor derselben, die eigene Verletzbarkeit anzuerkennen, beobachtbar werden. Mit Copjec reflektiert Hentschel die komplexen Schichten
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des »S/c/ham-Seins-Karrussels« in Verbindung mit einer Politik der Schuldkultur und plädiert für eine Kultur der Scham im Feld des Visuellen. Das ›Unwesen‹ des Kriminellen ist das Thema des Literaturwissenschaftlers Hans Richard Brittnacher, der in Die Biometrie des Bösen. Verbrecherbilder in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zunächst verschiedene Theorien der Biometrie diskutiert. Ausgehend beispielsweise von der Physiognomik Lavaters oder der Atavismustheorie Lombrosos, zeigt Brittnacher, wie noch die modernen Kriminalromane den Wunsch nach einer eindeutigen Identifizierung von Straftätern, der bereits diese frühen Ansätze motiviert hatte, weiter fortführen, indem sie mittels moderner Verfahren den genetischen Fingerabdruck sichtbar machen und so die Hoffnung auf eine exakte ›Wissenschaft des Verbrechens‹ nähren. Der Abschnitt »Intermediale Spiel-Räume« versammelt Studien zu performativen und choreographischen, aber auch cineastischen Akten des »Aufs-SpielSetzens« von Normen und geregelten Interaktionsschemata medialer Konventionen. Ihre Anordnungen schaffen Situationen von Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit, Konfrontation und Komplizenschaft. Die derzeit auffallende Präsenz von Objekten als primären performativen Elementen im experimentellen Tanz versteht der Performance- und Tanztheoretiker André Lepecki in seinem Beitrag Bewegen als Ding. Choreographische Kritiken des Objekts als Geste eines Aufs-Spiel-Setzens von Objekt und Subjekt im Zuge der Problematisierung ihres Verhältnisses. War der Einsatz von Skulpturen als Impulsgebern für tänzerische Bewegung seit der Nachkriegszeit immer wieder zu beobachten, so werden heute ihrer Funktionalität enthobene Alltagsgegenstände in den Stücken von Yingmei Duan, Trajal Harrell, João Fiadeiro oder Aitana Cordero »entobjektiviert«, zum »Ding« transformiert. Derart, so Lepecki, wird implizit auch Kritik an einem Tanzverständnis geübt, das die Figur des manipulativen Subjekts an die autoritäre Figur des Choreographen bindet. Ausgehend von der Beobachtung, dass aktuelle Inszenierungen immer öfter auf der traditionellen (Schau-)Spielfläche der Bühne ein zweites, eigenen Regeln folgendes Spielfeld installieren, analysiert die Theaterwissenschaftlerin Annemarie Matzke die Körperlichkeit solcher Vorgänge. Im Dialog mit Aussagen der klassischen Spieltheorie sowie Überlegungen zum Spielcharakter des SchauSpielens zeigt Matzke in Den Körper ins Spiel werfen. Zum Verhältnis von Körper und Spiel im gegenwärtigen Theater und Tanz ein produktives Spannungsverhältnis zwischen Entscheidungsfreiheit und Handlungsdruck als zentrales Moment etwa der Performances von Forced Entertainment auf. Dabei werden die Konventionen einer souveränen Darstellung und eines stabilen Verhältnisses von Betrachter und Objekt der Betrachtung systematisch unterlaufen.
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Die Literaturwissenschaftlerin Nina Schimmel fokussiert in Funny Games – Ein Spiel ohne Grenzen den Aspekt des Spiels in Michael Hanekes gleichnamigem Film (1997). Der analytische Blick auf die Meta-Ebene der filmischen Fiktion legt eine Reihe von genau komponierten Regelbrüchen frei, durch die das subtile Spielgeschehen selbst Teil der cineastischen Inszenierung wird. Dabei untergräbt Haneke nicht nur die Klarheit der Unterscheidung zwischen Ernst und Spiel, die für Spielforscher wie Johan Huizinga oder Roger Caillois das Wesen des Spiels bestimmte, sondern er entlarvt den Zuschauer als Mitspieler: Dieser wird vorgeführt, indem er genötigt ist, sich selbst als Betrachter in der Kinosituation im Spiegel der Leinwand zu begegnen. Michaela Wünsch befragt in ihrem Aufsatz Serialität als Intermedialität die Kontinuitäten und Diskontinuitäten sowie die Transformationen zwischen dem Televisuellen und Kinematografischen am Beispiel von Mildred Pierce. Die Mini-Serie von Todd Haynes (2011) inkorporiert hierbei nicht differenzlos ihren filmischen Vorgänger von Michael Curtiz (1945); vielmehr vollzieht sich eine heterochronologische und -topologische Transformation. Diese der Iterabilität geschuldete Verschiebung wird, wie Wünsch mit Heidegger und Kierkegaard aufzeigt, insbesondere anhand der Figuren der Serialität und der Rahmung beobachtbar. Die televisuelle Re-Adaption des Genres und des Plots veranschaulicht zuallererst gegenwärtige Charakteristika des Fernsehens, wie unter anderem die spezifische Doppelbewegung von Differenz – im Sinne der In-Differenz wie InDifferenz-Setzung. Die Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner beschäftigt sich in Weißer Schwan und schwarzer Schwan. Intermediale Reflexionen zu einem Ballettmythos mit dem Ballett Schwanensee, insbesondere mit der anhaltenden Faszination für dessen polare Doppel-Hauptrolle. Dieser die Charaktertypen der Femme fatale und der Femme fragile in sich vereinende Part stellt höchste Ansprüche an die ihn interpretierende Ballerina. Vor dem Hintergrund der Aufführungsgeschichte des Balletts diskutiert Thurner zwei Kinofilme, die sich je unterschiedlich die Ikonizität der weiblichen Titelrolle im Schwanensee zu Nutze machten, um auf ihre Weise zu polarisieren: Billy Elliot – I will dance (2000) und Black Swan (2010). Zuletzt analysiert Sebastian Treyz in seinem Beitrag »Ein solches Tragisches gehört nur für Cannibalen.« Gerstenbergs »Ugolino« als Skandalon im Theaterdiskurs des 18. Jahrhunderts. Die von den Figuren in der Tragödie Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs als tragische Qual erlittene Spektralität des Leidens deutet Treyz als metatheatrale Konstellation, die den Akt des Zuschauens gewissermaßen ruiniert. Während die Rezensionen der Uraufführung ihre Skepsis an der Aufführbarkeit des Stücks noch über gattungsspezifische Repräsentationsta-
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bus begründeten, zeigt der Autor im Rekurs auf Lessings Laokoon, inwiefern das Schau-Spiel in seiner Tortur und Torsion schmerzvoller Blicke die Mitleidsdramaturgie nachhaltig provoziert. Anschließend reflektieren im Abschnitt »Heterochronien« Beiträge aus der Medien-, Tanz-, Geschichtswissenschaft und Philosophie Fragestellungen, die sich im weitesten Sinne mit der Speicherung von Zeit bzw. dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Zeitlichkeiten auseinandersetzen. Foucault zählte Museen und Bibliotheken zu denjenigen »Heterotopien, die der abendländischen Kultur des 19. Jahrhunderts eigen sind« (1992: 43) – bedingt vor allem durch ihre »fortwährende und unbegrenzte Anhäufung der Zeit an einem unerschütterlichen Ort« (ebd.). Ergänzend zu solchen Räumen, »in denen die Zeit nicht aufhört, sich auf den Gipfel ihrer selber zu stapeln und zu drängen« (ebd.), werden hier aber auch die heterotopen Vorgänge (inter)medialer Performanzen diskutiert, die »im Gegenteil an das Flüchtigste, an das Vorübergehendste, an das Prekärste der Zeit geknüpft sind« (ebd.) und relationale Gefüge und Wechselwirkungen ausbilden. Einleitend analysiert der Philosoph Andreas Hetzel in Situationen: Philosophische und künstlerische Annäherungen das »Sein in Situationen« aus zwei Richtungen: aus den Perspektiven der Philosophie und der Gegenwartskunst. Mit Rückgriff auf die Dramentheorie Hegels denkt er Situationen als »Manifestationen einer mehrdimensionalen Abwesenheit« (Hetzel). Daran anschließend, analysiert er die Arbeit This Situation (2007) des bildenden Künstlers Tino Sehgal, bei welcher der Autor im Museum für Moderne Kunst (Frankfurt a.M.) selbst als Performer mitwirkte, im Sinne einer Diskursivierung der Abwesenheiten einer Situation der Begegnung von Performern und Besuchern. Erwirkt wird diese bei Sehgal über die Abwesenheit jeglichen materiellen Kunstobjekts. Die Theater- und Medienwissenschaftlerin Barbara Büscher beschäftigt sich mit der wachsenden Anzahl von Ausstellungen und Reenactments, die sich der Vergegenwärtigung und Re-Vision der Geschichte von Performance-Kunst widmen. Kuratoren legen dabei besonderen Wert auf die Integration von LiveFormate oder -Aspekten. In ihrem Beitrag Beweglicher Zugang, Bewegung als Zugang. Performance – Geschichte(n) – Ausstellen zeigt Büscher anhand der Ausstellungen Allan Kaprow – Art as Life (2006/2007) und MOVE – Choreographing You: Kunst und Tanz seit den 60er Jahren (2010-11) auf, inwieweit solche Projekte das Ausstellen als Inszenierung und Handlungsanweisung thematisch werden lassen. Die Stücke 50 ans de danse (2009) und Flip Book (2009) des französischen Choreographen Boris Charmatz dienen der Tanzwissenschaftlerin Julia Wehren in ihrem Aufsatz Die (un)wissenden Körper. Choreographie als Reflexionsraum
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für Körperbilder und Tänzerkörper als Ausgangspunkt für Überlegungen zum Tanz als Aushandlungsort für Positionen der Vergangenheit im Hinblick auf Erkenntnisse für die Gegenwart. Auf der Grundlage eines Fotobandes zu Leben und Werk von Merce Cunningham, einer Ikone des US-amerikanischen Modern Dance, inszenierte Charmatz im Durchgang durch Posen, die den Abbildungen des Buches entnommen sind, eine Art »getanztes choreographisches Daumenkino« (Wehren). Die durch Tanztechniken geformten Körper dienen dabei als »Quellen« der Bewegungsfindung und bieten einen Fundus an gespeichertem Bewegungswissen. Inszenierungen Altägyptens im Hollywoodfilm als Schaffungen cineastischer Räume, in denen sich historische Erkenntnisse der Archäologie und Geschichtswissenschaft sowie mythische Elemente und ästhetische Stilisierungen durchdringen, gegenseitig beeinflussen und teilweise ununterscheidbar werden – diesen Ausgangspunkt wählt der Beitrag Ancient Egypt Revisited. Über Fakten und Fiktionen im populären Film der Ägyptologin Miriam Ronsdorf. Anhand von Stephen Spielbergs Raiders of the Lost Ark (1981) erarbeitet Ronsdorf einen Katalog solcher Verschmelzungsszenarien, um sich mit deren Potenzial für die filmische Narration sowie ihren Auswirkungen auf das Geschichtsbild der Rezipienten auseinanderzusetzen. Die Archäologin und Historikerin Miriam Sénécheau diagnostiziert ein Wiederaufleben des Germanenthemas in Zusammenhang mit der Darstellung der Varusschlacht zwischen Römern und Germanen im Jahr 9 n.Chr. in gegenwärtigen Film- und Fernseh-Inszenierungen. Auf die Frage »Römische Katastrophe« oder »germanischer Freiheitskampf«? legen die von ihr untersuchten Beiträge – je nach politischer Situation und herrschendem Zeitgeist – unterschiedliche Antworten nahe. Die intermediale Reflexion der Kontextualisierungen und Interpretationen der Varusschlacht ermöglicht Aufschlüsse über Interdependenzen von Gesellschaft, Schulunterricht, Wissenschaft, musealer Präsentation, Reenactment und filmischer Repräsentation. Offenkundig wird dabei die Funktionalisierung und Remediation von Historie in der fortlaufenden Inszenierung einer nationalen Erinnerungs- und Geschichtskultur. Foucaults Beschreibung des Spiegels als Mittlererfahrung zwischen dem Utopischen und dem Heterotopischen gehört zu einer der vielschichtigsten Passagen in seinem Text »Andere Räume«. Gemäß seiner Feststellung, dass der Spiegel utopisch die Sichtbarkeit am Ort des Abwesenden verbürgt, während er dabei heterotopisch als materielle Realisierung einen eigenen Ort besetzt hält, versammelt abschließend der Abschnitt »Interdiskursive Reflexionen« medien-, tanz- und literaturwissenschaftliche Überlegungen, die den Ort des Anderen zwischen Diskursen in seiner Un/Möglichkeit produktiv machen. Tanzwissenschaft
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als Dispositiv, das gemäß der jeweiligen nationalen Fach-Geschichte und Methodologie eine je spezifische diskursive Kontrolle über Tanz und Körper ausübt, interessiert Jens Richard Giersdorf. Er verhandelt in Immer hier und selten da. Die Politik der choreographierten Tanztheoretisierung als Zwischenraum modellhaft Aspekte der divergenten und teils scheinbar unvereinbaren Politik- und Korporealitätsverständnisse der europäischen und US-amerikanischen Tanzforschung. Begegnet die Tanzwissenschaft selbst der Verfestigung lokal-akademischer Normen bisher kaum kritisch, legt Gierdorfs Analyse des Stücks Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (L) (2012) von Trajal Harrell nahe, dass es gerade mittels einer »choreographierten Tanztheoretisierung« gelingen kann, tanzwissenschaftliche Ansätze auf ihre politische Dimension hin zu befragen. Überlegungen Zu zwei Diskurs-Choreographien zwischen Tanz/Theorie und Philosophie stellt Constanze Schellow an. Tanzwissenschaftlich wird eine ganze Generation von Künstlern seit den 1990er Jahren im zeitgenössischen Tanz in Europa als besonders philosophie- oder theorieaffin beschrieben. Eine ähnliche Bezugnahme bei Tanzkünstlern und -theoretikern auf die Philosophie – insbesondere Friedrich Nietzsches – lässt sich in der Anfangszeit des »Freien Tanzes« im frühen 20. Jahrhundert nachweisen. Beide Entwicklungen in ihrem Zeithorizont miteinander vergleichend, diskutiert Schellow auch die aktuelle Bezugnahme auf Tanz von Philosophen wie etwa Alain Badiou und schlägt vermehrte Differenzierungsarbeit bezüglich der verschiedenen Ebenen vor, auf denen Diskursivität und Choreographie damals wie heute interagieren. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Christof Zurschmitten untersucht in seinem Beitrag Spiegel im Spiegel. Heterotopischer Raum im Computerspiel und seine Reflexion in der Literatur das medienreflexive Spannungsverhältnis zwischen dem traditionellen Medium der Literatur und dem des Computerspiels. Dazu analysiert er die Mittel und Wirkungsweisen zweier Texte, die sich dem Computerspiel in linearer Erzählweise anzunähern suchen: die Erzählung Prince of Gosplan (1998) des russischen Schriftstellers Viktor Pelevin und den Roman Lucky Wander Boy (2003) des US-amerikanischen Autors D.B. Weiss. Ihre intermedialen Verfahren erschließen ästhetische Aspekte der Raumkonstruktion und deren Reproduktion in der Literatur, die bislang ein Desiderat der Forschung darstellen. Das Spukhaus als eine Heterotopie im Sinne Foucaults und somit nicht zuletzt auch als Struktur der Macht beschäftigt den Literaturwissenschaftler Arno Meteling in seinem Beitrag Der Schrecken anderer Räume. Zum literarischen Ausnahmezustand des Spukhauses anhand zweier Beispiele: The Castle of Otranto (1764) von Horace Walpole und The Haunting of Hill House (1959) von
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Shirley Jackson. Als ein Speicher von verdrängten Erinnerungen verknüpfen das Haus als Ort des Spuks, das, wie Meteling herausarbeitet, in den literarischen Texten regelrecht zum Akteur wird, wie auch die in ihm ›lebenden‹ und wirkenden Gespenster und übernatürlichen Erscheinungen, Zeit und Raum sowie Leben und Tod zu komplexen Sphären und Zuständen der Überlagerung und Invertierung. Nicht ohne Grund ist dieser Einleitung ein Zitat von Bernhard Waldenfels vorangestellt, der dazu auffordert, sich den »überschüssigen Möglichkeiten« der Welt mit einem »schrägen Blick und einer schrägen Rede« zuzuwenden (1997: 65). Die Produktivität dieser Herangehensweise beschreibt er wie folgt: Es seien dies ein Blick und eine Rede, »in denen das Eigene sich nachhaltig verfremdet« (ebd.). Er unterstreicht die »nicht endende Geburt der Künste aus dem Spiel, der Widersetzlichkeit und der Antwortkraft der Sinne« (1999: 14). Für Waldenfels sind es nämlich gerade die Künste, die in ihrer Begegnung mit dem Fremden eine responsive Aisthesis als »Heteroästhesie« (ebd.: 11) explizit machen. Diese Begegnung schafft einen »Ort des Übergangs, einen Niemandsort, an dem man zögert, verweilt, sich vorwagt, den man hinter sich läßt, aber nie ganz« (ebd.: 9). Fremdheit erscheint dort in Gestalt von »Abweichungen, Störungen, Beunruhigenden, von Gegenrhythmen, blinden Flecken, Echowirkungen, Heterophonien, Heterotopien und Gleichgewichtsstörungen, in all dem, was aus dem Rahmen fällt« (ebd.: 14). So gewähren die Künste die Möglichkeit, das Andere, das »nur in der erfinderischen Antwort der Sinne in seiner Unzugänglichkeit zugängig wird« (ebd.: 15), in heterotopischen Spiel-Anordnungen zu erfahren. Solche Spiel-Anordnungen setzen mitunter ungewohnte wie interdisziplinäre Herangehensweisen voraus. Die in sich selbst performativen und reflexiven Topographien im Dazwischen von Wissensfeldern und universitären Disziplinen sind der (Un-)Ort, den die folgenden Beiträge gezielt aufsuchen, um sich und einander Zwischenräume des Denkens zu erschließen und Diskursordnungen in Bewegung zu bringen. Trotz oder gerade wegen seiner Emphase ist der Gestus des notwendigen Wagemuts hinter solchen Unternehmungen, die den geschützten Häfen ihrer Heimatdisziplinen ein Denken »auf hoher See« vorziehen, nicht besser beschreibbar als mit den letzten Worten von Foucault in »Andere Räume«: »In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.« Die Koordination, Umsetzung und Finanzierung eines Sammelbandes stellt in Anbetracht der zunehmenden Bürokratisierung und Ökonomisierung wissenschaftlicher Institutionen eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar, die ohne vielgestaltige und großzügige Unterstützung von verschiedenen Seiten nicht realisierbar gewesen wäre. Unser großer Dank gilt daher allen voran den
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Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Bandes, die den Herausgeberinnen eine überaus bereichernde, angenehme und konstruktive Zusammenarbeit ermöglicht haben. Georg Christoph Tholen, dem Leiter des Graduiertenkollegs-ProDoc Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz sowie den Kolleginnen, Kollegen und Teilnehmenden der Tagungen und Kolloquien der letzten Jahre haben wir zahlreiche anregende Diskussionen und unverzichtbare Hinweise zu verdanken, die diesen Band maßgeblich beeinflusst haben. Wir hätten diese Herausgeberschrift niemals ohne die zuvorkommende Betreuung und Unterstützung des transcript Verlags und insbesondere unseres dortigen Ansprechpartners Jörg Burkhard erstellen können. Außerdem sind wir dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zu großem Dank verpflichtet, da dieser die vollumfängliche Finanzierung der Druckkosten übernommen hat.
L ITERATUR Augé, Marc, Nicht-Orte, München: C.H. Beck 2010. Borges, Jorge Louis, »Die analytische Sprache John Wilkins’«, in: ders. (Hg.), Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München: Hanser 1966, S. 209-214. Chlada, Marvin, Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault, Aschaffenburg: Alibri 2005. Defert, Daniel, »Raum zum Hören«, in: Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 69-92. Defert, Daniel, »Foucault, der Raum und die Architekten«, in: Politics-Poetics. Das Buch zur documenta X, Ostfildern-Ruit: Cantz 1997, S. 274-283. Dehaene, Michiel/de Cauter, Lieven (Hg.), Heterotopia and the City. Public Space in a Postcivil Society, London: Routledge Chapman & Hall 2008. Elias, Norbert, »Figuration«, in: Bernhard Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, Stuttgart: Leske + Budrich 2003, S. 88-91. Foucault, Michel, Le Corps Utopique – Les Hétérotopies, hg. v. Daniel Defert, Paris: Édition Lignes 2009. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge, in: ders., Die Hauptwerke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 7-469. Foucault, Michel, Die Heterotopien – Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.
34 | Nadja Elia-Borer, Constanze Schellow, Nina Schimmel, Bettina Wodianka
Foucault, Michel, »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck/Peter Gente/Heidi Paris et al. (Hg.), Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1992, S. 34-46. Foucault, Michel, »Des espaces autres«, in: Architecture, Mouvement, Continuitè 5 (1984), S. 16-49. Godard, Jean-Luc, Histoire(s) du cinéma – Geschichte(n) des Kinos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Görling, Reinhold, Heterotopia. Lektüren einer interkulturellen Literaturwissenschaft, München: Fink 1997. Hasse, Jürgen, Übersehene Räume – Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses, Bielefeld: transcript 2007. Kleiner, Marcus S., Medien-Heterotopien. Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie, Bielefeld: transcript 2006. Leiss, Judith, Inszenierungen des Widerstreits. Die Heterotopie als postmodernistisches Subgenre der Utopie, Bielefeld: Aisthesis 2010. Moylan, Tom, Das unmögliche Verlangen – Science Fiction als kritische Utopie, Hamburg: Argument 1990. Roloff, Volker, »Intermediale Spielräume. Heterotopien und Figuren des Begehrens in der Recherche«, in: Angelika Corbineau-Hoffmann (Hg.), Marcel Proust. Orte und Räume, Frankfurt a.M.: Insel 2003, S. 107-120. Smithson, Robert, »The Monuments of Passaic. Has Passaic replaced Rome as the Eternal City?«, in: Artforum 4 (1967), S. 48-51. Smithson, Robert, »Das Kristall-Land« (1966), in: Eva Schmidt/Kai Vöckler (Hg.), Robert Smithson. Gesammelte Schriften, Köln: König 2000, S. 25-26. Sohn, Heidi, »Heterotopia: anamnesis of a medical term«, in: Michiel Dehaene/ Lieven de Cauter (Hg.), Heterotopia and the City. Public Space in a Postcivil Society, London: Routledge, Chapman & Hall 2008, S. 41-50. State Museum of Contemporary Art (Hg.), Heterotopias – 1. Biennale of Contemporary Art Thessaloniki (Catalogue), Thessaloniki 2007. Tafazoli, Hamid/Gray, Richard T. (Hg.), Außenraum – Mitraum – Innenraum. Heterotopien in Kultur und Gesellschaft, Bielefeld: Aisthesis 2012. Tholen, Georg Christoph, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Tholen, Georg Christoph, »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: Sigrid Schade/ders. (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Fink 1999, S. 15-35. Urban, Urs, Der Raum des Anderen und Andere Räume. Zur Topologie des Werks von Jean Genet, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.
Einleitung
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Vattimo, Gianni, Die transparente Gesellschaft, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 1992. Waldenfels, Bernhard, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Waldenfels, Bernhard, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Willke, Helmut, Heterotopia – Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.
IMPULSE
»Gläserne Medien« Von der scheinbaren Durchsichtigkeit des Mediensystems R AINER L ESCHKE
1. G LÄSERNE P OSTMODERNE Nicht alles beginnt mit den Medien, wenigstens nicht mit dem, was Medienwissenschaftler für gewöhnlich darunter verstehen. So ist die Dialektik von Transparenz und Intransparenz, die im Rücken der Moderne und im Angesicht der Postmoderne auftauchte, weniger der Technizität des Medialen als einem zu optimistischen Versprechen der Vernunft zu verdanken: So verwundert es dann auch kaum, dass der Titel City of Glass gleich zweimal und zudem einigermaßen prominent vorkommt, nämlich als erster Teil von Paul Austers New York Trilogie (1985), also als Aneignung der Dekadenz der Stadt der Moderne, und als Douglas Couplands (2000) Beschreibung einer Stadt, die gar nicht erst modern, sondern eigentlich immer schon postmodern gewesen ist, nämlich Vancouver. Aber bereits Ernst Jünger nutzte die Schreckvorstellung gläserner Automatenschwärme, seiner »Gläserne[n] Bienen« (1957), zum synchronen Abgesang auf totale Technologie und ebenso unbedingte Subjektivität. Die Apokalypse einer über jedes Maß hinaus forcierten Moderne und damit auch der Untergang jener Künstler Ingenieure, die die Subjekte des 19. Jahrhunderts ablösten und die bis heute gelegentlich noch die Medienwissenschaften in ihrem Bann halten, mündet bei Jünger in einer Ratlosigkeit, von der noch das Beste ihre Desillusioniertheit ist. Glas hält offenbar eine Menge aus, wenn es auch nicht unbedingt Erkenntnisse verschafft, so gewährt es doch zumindest die Idee von Durchblick. Glas ist so zweifellos seit geraumer Zeit eine der Metaphern der Wahl und es wäre verwunderlich gewesen, wenn sie die Medien noch nicht erreicht hätte. Dass Medien ein probates Zeichen der Moderne abzugeben verstehen und sich hervorragend zur Renovierung von Philologien und Philosophien sowie ihrer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Strategien eignen, ist einigermaßen unbestrit-
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ten, dass Medien zur Signatur ihrer Zeit gehören ebenfalls, so dass ein Bezug zu jener Metapher der Transparenz und der von ihr eingespielten Dialektik ziemlich natürlich daherkommt. Und dennoch ist die Medienwissenschaft relativ spät auf jene Transparenzmetapher eingestiegen: Fritz Heiders Idee (1926) wurde erst in Luhmanns Windschatten (1995: 167) einundachtzig Jahre nach ihrem Entwurf wiederbelebt und auch Sibylle Krämers umgehende Wiederaufnahme des Heiderschen Konzepts (2008: 29) war zumindest kein Durchbruch beschieden. Die Transparenz ist dem Medialen im Gegensatz zur Literatur ganz offensichtlich ziemlich verdächtig. Medien und ihre Theorien lebten nämlich lange Zeit einigermaßen gut davon, dass sie als ganz und gar nicht durchsichtig gedacht wurden, sondern gerade ihre Intransparenz und Unverfügbarkeit bot jenen widerständigen Reiz, an dem eine im Entstehen begriffene Disziplin sich unbefangen austoben konnte.
2. D IE U NDURCHSICHTIGKEIT
DER
M EDIEN
Denn erst wenn Medien jene sichtbare Eigenlogik zugestanden wird, die Heider mit Nachdruck bestritt und die zu entfalten sich die Medienwissenschaften so viel Mühe haben kosten lassen, macht Medienwissenschaft überhaupt Sinn. Erst dann wird das Medium selbst sichtbar und kann zur Botschaft avancieren und die Medienwissenschaft kann damit die Anfangsgründe der Philologien hinter sich lassen. Insofern war wenig verwunderlich, dass Medienwissenschaft so versessen auf eine Ontologie der Medien und des Medialen war. Es ging immerhin um ihre Existenz als Disziplin und den Status ihrer Aktivitäten. Gläserne Medien konnte die Medienwissenschaft sich in diesem Stadium nun wirklich nicht leisten. Dennoch ließ sich der Impuls, dass es mit der Ontologie der Medien und erst recht nicht mit einer Ontologie des Medialen allein keinesfalls sein Bewenden haben konnte, nicht vollständig verdrängen. Allein schon der Übergang von der Ontologie der Einzelmedien, auf die so viel Sorgfalt und Engagement verwendet wurde, gestaltete sich erheblich risikoreicher als vielleicht erwartet. Dass es mit der Reflexion nur einzelner Medien nicht sein Bewenden haben konnte, sondern dass das Ganze ein System ausmache, war zwar schnell einzusehen, weniger jedoch die Konsequenzen, die man mit einem solchen Übergang mit in Kauf nahm: Die Ontologie des Medialen musste wenigstens auf so etwas wie allen Medien gemeinsamen Qualitäten aufsatteln und gleichzeitig auch noch die unzähligen Differenzen der intransparenten Einzelmedien wenn nicht begründen, so doch zulassen. Dass vor diesem Hintergrund kausale Zuordnungs-
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mechanismen angesichts der Komplexität der Bedingungs- und Beziehungsstruktur zwischen den diversen Medien auf Dauer kläglich versagen mussten, stand eigentlich zu erwarten und so fand sich zumeist ziemlich schnell ein Medium, an dem sich die vorgeschlagenen ontologischen Bestimmungen des Medialen die Zähne ausbissen. Insofern regredierte die Ontologie des Medialen zu ebenso einfachen wie belanglosen Allkategorien, an die man schon wirklich glauben musste, wenn man überhaupt etwas mit ihnen anfangen wollte. Trotz des nachhaltigen Scheiterns der Ontologie des Medialen an der Komplexität medialer Differenzen war zumindest ein Licht auf die differentielle Konstitution aller Medien geworfen und dieses Feld wurde zunehmend interessanter, zumal die Ontologie der Einzelmedien weitgehend abgegrast war und seine weitere Erforschung nur mehr wenig Meriten zu gewähren versprach. Die Umstellung von der Ontologie des Medialen auf die Intermedialität der Medien ist so wesentlich dem Scheitern jenes immer wieder aufflackernden Drangs zu einer Ontologie des Medialen geschuldet: Die ebenso sorgfältige wie eifrige Vermessung der intermedialen Abstände zwischen den Medien eröffnet dabei nicht nur ein neues Betätigungsfeld, sondern ihr inhäriert auch das Versprechen, dass letztlich bei all den Aktivitäten so etwas wie eine Ontologie des Intermedialen herausschauen könnte. Die latente Umstellung von der positiven Medialität auf die differentielle Intermedialität markiert insofern eine negative Umkehrung jenes Drangs zur Ontologie, also eine Art negativer Ontologie, denn wenn diese nur mehr in den Zwischenräumen der Medien gesucht werden kann, scheint der positive Bestand des Medialen quasi aufgebraucht zu sein.
3. D ER O RT
INTERMEDIALEN
S PRECHENS
Dabei markiert das, was unter dem Label Intermedialität (Prümm 1988; Paech 1994) vermessen wird, nämlich einerseits die Abstände und andererseits die Interferenzen zwischen den Medien, ein höchst inhomogenes Geflecht von Differenzen. Die bloß differentiellen Abstandsbestimmungen zwischen den Medien gehen noch von der Integrität von in homogenen Dispositiven installierten Einzelmedien aus. Sie respektieren so etwas wie die Identität von Medien und arbeiten dabei auf ihre Integrität hin. Die Analyse der Interferenzen andererseits ahnt bereits etwas von der systematischen Unreinheit der Einzelmedien, weniger allerdings von dem Ort, an dem sich die Reflexion selbst befindet, denn die Reflexion kann sich nicht auf den Standpunkt eines bestimmten Mediums stellen, da dann die Interferenzen selbst aus der Perspektive eben dieses Mediums gedacht würden, was die Perspektive der Analyse zwangsläufig gründlich verschöbe.
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Wenn aber die Analyse aus jenem Zwischenraum zwischen den Medien heraus unternommen werden soll, dann stellt sich die Frage nach den Parametern und Bedingungen dieses Ortes. Der Ort, von dem aus den medialen Unreinheiten nachgespürt wurde, war also anfangs versuchsweise der eines Mediums, vorzugsweise der des Films, er wurde jedoch mit wachsender Selbstreflexion immer mehr zurückgefahren und verschwand zwischen den Differenzen und Interferenzen der Medien: er wurde offenbar zunehmend zu jenem »Kein Ort. Nirgends«, den Christa Wolf (1979) einst reklamierte. Gedacht wird die Intermedialität also von einem Nicht-Ort aus, der weder sich selbst noch irgendeinem Beobachter transparent ist, und das ist ein höchst prekärer Ort für theoretische Reflexionen, denn in jenen Nicht-Orten lässt sich zumeist nur schlecht wohnen und denken, zumindest aber zieht es dort ziemlich ungemütlich. Die intermediale Reflexion saß damit gleichsam in einem Glashaus zwischen den Medien. Und dieses Glashaus war gedacht als ebenso zentraler wie exterritorialer Ort. Die Medien sollten eigentlich von diesem panoptischen Standpunkt aus, der seit der Aufklärung immer zugleich auch als Ort der Erkenntnis konzipiert war, rekonstruiert werden, nur wusste niemand, wie dieser Standpunkt selbst in einem dynamischen System denn noch verortet und gefunden werden konnte. Und, was noch schlimmer als diese Grundlosigkeit des Ortes des intermedialen Sprechens ist, sind die Bezüge zwischen den Medien, denn die gehen durch jedes mögliche panoptische Zentrum einfach hindurch oder über es hinweg. Ja, es ist noch nicht einmal klar, dass das Mediensystem überhaupt so etwas wie ein Zentrum aufweist, ja, es spricht einiges dagegen, so dass sich der Ort intermedialen Sprechens in einem dezentrierten Feld möglicher Zwischenräume verliert. Im Prinzip konstituiert nämlich im Ansatz jede intermediale Analyse ihren eigenen Ort des Sprechens. Das mag zunächst einmal recht komfortabel klingen, es unterläuft aber die Vermittlung zwischen den Analysen, und das einzige, was all diesen Orten gemeinsam ist, ist, dass dieser Ort des Sprechens sich zwangsläufig zwischen den Medien befindet und damit weder aus sich, noch aus den Mediendispositiven heraus zu begründen ist. Dennoch ist diese Versicherung des Ortes ihres Sprechens etwas, dessen die intermediale Analyse unbedingt bedarf, geht es doch um die Legitimität und Kompatibilität des eigenen Diskurses. Der intermedialen Analyse sind Medien zwar noch längst nicht transparent geworden, aber sie wurden zumindest an den Rändern unscharf und haben erheblich an Kontrast verloren. Das Ergebnis der intermedialen Anstrengungen seit Anfang der 1990er Jahre ist einigermaßen verstörend: Die Integrität der Medien wurde dekonstruiert und ihre Grenzen wurden unscharf, zugleich verlor sich der Ort der Reflexion selbst, er fiel gleichsam durch das Raster des durch inter-
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mediale Reflexion geschaffenen Raums. Sie ließen damit zwar ahnen, dass das letzte Wort über die Medien noch nicht gesprochen war: weder von den Ontologien noch von irgendwelchen einzelnen Orten intermedialen Sprechens. Dennoch war allen Beteiligten klar, dass dieser Prozess der Auflösung des medialen Raums ebenso unausweichlich wie unumkehrbar war. Jedoch hat die Medienwissenschaft letztlich im Zuge dieses Prozesses ihren Standpunkt verloren und damit ihr Wissen über das, was Medien überhaupt sein könnten. Allenfalls weiß man einigermaßen zuverlässig, was nicht funktioniert und was Medien nicht sind. Der Begriff von Medien ist dabei ziemlich unscharf geworden und in seltsam unterwürfigen Universalkategorien aufgegangen. Jede aufgestellte Behauptung wird dabei von grundsätzlichen Einschränkungen begleitet, die mit Nachdruck deutlich machen, dass Medienwissenschaft zuvörderst sich selbst misstraut. Intermedialität hat die Medienwissenschaft in ihrer Virtualisierung unbeweglich gemacht und in eine Schockstarre überführt, aus der sie sich nur schwer löst. Die intermediale Reflexion hat neben ihrem philologischen zugleich, und darauf wiesen ja bereits Derridas Ortsbestimmungen der Kulturwissenschaften, die einigermaßen unbeholfen ebenfalls Virtualität thematisieren, hin, so etwas wie einen technologischen Grund. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre versuchte eine Medienwissenschaft, die zugleich damit beschäftigt war, sich selbst zu inaugurieren und auf diesem Wege Derridas konservativem Katalog der Humanities eine weitere und bei weitem zeitgemäßere Wissenschaft hinzuzufügen, das neue Medium Computer in den Griff zu bekommen und ins Konzert der Medien zu integrieren. Damit, nämlich mit der Beantwortung der Frage, was denn der Computer kulturell sein könne, erlangte die Medienwissenschaft eine weitgehend unangefochtene Legitimität. Medienwissenschaft beantwortete diese Frage vergleichsweise unentschlossen, nämlich mit der klassischen Offerte von Medienontologien des Computers einerseits und der Idee eines integrativen Supermediums Computer andererseits. Die Technologie der universalen Maschine wurde kulturell in ein universelles Medium übersetzt. Die Ontologien verfuhren zwar insgesamt ein wenig bescheidener, sie ordneten dem Medium spezifische formgebende Kräfte wie die der Zerlegung und Unterscheidung oder wie die der Integration zu, sie beließen aber ansonsten mehr oder minder alles beim Alten. Die intermediale Analyse positionierte sich im Feld nahezu gleichgewichtiger Medienontologien und dort nicht auf der Seite diskreter Unterscheidungen1, sondern sie machte sich die dem Medium Computer zugeschriebenen integrativen
1
Wie etwa Hartmut Winkler, der in Docuverse (1997) auf den diskreten Operationen des Mediums Computer insistierte.
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Leistungen (Bolz 1994) paradigmatisch zunutze. Zugleich machte sie sich daran, die Integrität all dieser Medien flugs wieder zu erodieren, indem sie die unter der Hand existierenden Bezüge zwischen diesen nachverfolgte.
4. D ER
MATERIELLE
G RUND
DER I NTERMEDIALITÄT
Die intermediale Analyse benötigte die Einzelmedienontologien vor allem als Restgrößen, auf die negativ Bezug genommen werden konnte. Zugleich konnte die integrative Formästhetik des Mediums Computer, also seine allseitige Verrechenbarkeit und prinzipielle Kompatibilität, quasi zum materiellen Grund der Intermedialität selbst avancieren: Der Computer war ein Medium, das die Intermedialität quasi als Grundausstattung mit sich führte. Das, was der Computer bereits standardmäßig intern leistete, musste nur noch zwischen den übrigen Medien entdeckt und es musste vor allem kulturell verstanden werden. Insofern fand sich die intermediale Analyse in der Formästhetik des Mediums Computer (Tholen 1994) wieder, wie einst die Filmwissenschaft im Film. Allerdings transzendierte die intermediale Analyse Einzelmedien und damit eben auch das Medium Computer nachhaltig: Man brauchte für eine intermediale Analyse zumindest immer zwei Medien und man benötigte einen Ort des Sprechens, der noch jenseits dieser Medien lag. Zugleich hätte eine den Computer als Supermedium konzipierende Medientheorie implizit der Intermedialität jegliche Grundlage entzogen. Die selbst universal angelegte Intermedialität wäre praktisch zur Innenpolitik dieses universalen Mediums und zu einer Art Innermedialität reduziert worden. Gegen eine solche Diffusion der intermedialen Anstrengung in einem Supermedium spricht insbesondere die Unmöglichkeit der Umkehrung der Reflexion: denn von einem solchen Universalmedium kann aus systematischen Gründen nicht mehr auf die traditionellen Medien zurückgeschlossen werden. Damit hätte man es mit einem radikal ahistorischen, einzig an der medialen Präsenz orientierten Modell von Medialität und einer viel nachhaltigeren »Liquidierung des Traditionswertes« (Benjamin 1936: 14) zu tun, als Benjamin sich das überhaupt vorstellen konnte. Die kulturellen Daten zwischen und in den traditionellen Medien blieben systematisch unerschlossen und dadurch würde genau dasjenige Feld vernachlässigt, dem die intermediale Reflexion sich ja so nachhaltig gewidmet hat. Wenn die Idee des universalen Mediums Geschichte so resolut eliminiert und historische Blindheit wohl nur bei Ingenieuren kein analytisches Ausschlusskriterium darstellt, dann sind offenbar der allein technologisch getriebenen Modellphantasie rigide kulturelle Grenzen gesetzt.
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Da nun der Intermedialität der Ort der eigenen Reflexion notwendig äußerlich bleibt und ihr Aufgehen in einem Universalmedium analytisch indifferent zu werden droht, wäre ein Punkt erreicht, der wenigstens in der Theorie nach einer Aufhebung im hegelschen Sinne oder aber nach einem Paradigmenwechsel verlangt. Nun entstehen derartige theoretische Modellwechsel, wie Kuhn (1962) ja hinreichend ausführlich gezeigt hat, nur bedingt materiell getrieben und sie werden auch nicht wie in der Industrie aus Gründen künstlicher Designwechsel erzwungen, sondern sie verdanken sich den Erklärungsnöten der vorhandenen theoretischen Modelle selbst. Und diese bestehen im Falle der Intermedialität vor allem in der Schwierigkeit einer Vernetzung und Adaptation der unterschiedlichen Analysen sowie der exterritorialen Position des eigenen Sprechens. Zugleich ergibt es wenig Sinn, wenn schon das Universalmedium aufgegeben werden muss, einfach mit den alten Medien weiterzumachen und so zu tun, als gäbe es noch jenen Film und jene Texte, denen man immerhin einmal eigene Philologien zugestanden hatte. Dass das nicht funktioniert und die traditionellen Medien ihre Unschuld verloren haben, daran hat ja gerade die Intermedialität mitgewirkt. So kommt zum Erklärungsdefizit der Erklärungsdruck hinzu.
5. I NTERMEDIALITÄT
UND
M EDIENSYSTEM
Das Interessante an den Intermedialitätsanalysen ist ja, dass sie den Zwischenraum zwischen den Medien, wiewohl sie sich permanent in ihm aufhielten, so gründlich ignorierten: Es gelang ihnen nie, den Raum zwischen den Medien für voll zu nehmen, ihn zu kartieren und zu modellieren, es werden nur mit je individuellen Maßstäben einzelne Abstände zwischen den Medien vermessen. Intermedialität entwickelte von daher auch nie eine Vorstellung von so etwas wie einem Mediensystem, also demjenigen Raum, in dem sie sich selbst zwangsläufig bewegte. Dennoch lässt sich aus ihrem negativen Medienbezug so etwas wie die Bedingungen der Möglichkeit eines Mediensystems entnehmen. Intermedialität hat mit Nachdruck daran gearbeitet, dass die Ränder der Einzelmedien unscharf und die Bezüge zwischen ihnen vielfältig wurden und d.h., Intermedialität arbeitete implizit an dem Übergang von einem versäulten statischen Mediensystem zu einem postkonventionellen transversal integrierten Mediensystem. Das traditionelle Mediensystem ist durch eine festgelegte Zahl autonomer Einzelmediendispositive gekennzeichnet. In diesen Mediendispositiven werden die Produktion, Speicherung, Distribution und Rezeption eines Mediums jeweils autonom für und von dem jeweiligen Medium organisiert. Die Dispositive unterschiedlicher
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Medien kannten keinerlei Überschneidungen, sondern ihre Grenzen waren zugleich die Gründe für die sichere Wiedererkennung des Mediums. Die Identität eines Mediums basierte solchermaßen auf der Integrität seines Dispositivs. Das Mediensystem war dementsprechend übersichtlich. Nun machten intermediale Analysen auf die faktische Offenheit der Grenzen aufmerksam, indem sie Verstrickungen und Verbindungen zwischen Einzelmedien insbesondere auf der Ebene der Repertoires und Werke rekonstruierten. Allenfalls Produktion, Distribution und Rezeption funktionierten trotz nachgewiesener intermedialer Bezüge noch solange einigermaßen sauber getrennt, solange sie nicht durch ihre allseitige Digitalisierung kompatibel gemacht wurden. Nicht ein Universalmedium, sondern die universale Kompatibilität der ehemals technologisch und institutionell sorgsam separierten Dispositive der Einzelmedien war es daher, die neue Strukturen ins Mediensystem implementieren half. Die Einzelmedien werden unter den Konditionen universaler Verrechenbarkeit virtuell, es sind bloße Formen, die ihren materiellen Grund längst verloren haben. Für Radio, Film und Fernsehen benötigt man seit langem keine eigenen Geräte mehr und d.h., es handelt sich ebenso lange nicht mehr um eigenständige Mediendispositive, sondern um kulturelle Repräsentationsformen in einem integrierten und transversal organisierten Mediendispositiv. Medien verlieren ihre technologische Eigenart und damit können sie beliebig getauscht, gewandelt und moduliert werden. Das, was sich zwischen den Medien abspielt und unter dem Label der Intermedialität analysiert worden ist, ist nicht mehr ein komplexes Verrechnen und Aushandeln widerständiger Materialitäten, sondern es ist eine Frage reiner Formbezüge und -interferenzen. Die Widerstände der Materie sind eingeebnet, die der kulturellen Formen und Formate haben demgegenüber an Bedeutung gewonnen. Insofern mutiert intermediale Analyse zur Reflexion kultureller und medialer Formen, deren technologische Gründe allenfalls noch der Status historischer Anekdoten zukommt, also eine Geschichte, die so sie nur einmal erzählt ist, getrost auch wieder vergessen werden kann. Medienwissenschaft hat ein posttechnisches Stadium erreicht. Die riskanten Flirts mit den Erfindern, Ingenieuren und Kriegstechnikern kann man sich daher schenken. Der Ort medienwissenschaftlichen Sprechens ist dabei weder verschwunden noch virtuell geworden, wie Derrida aufgeschreckt vermutet, sondern er ist der eines postkonventionellen Mediensystems, das angesichts der universellen Transformierbarkeit kein ernsthaftes Zwischen den Medien mehr kennt. Allenfalls noch ein Zwischen den Formen, die sich einst Medien nannten, ist denkbar. Formen können im Gegensatz zu den traditionellen Medien, deren Grenzen von der intermedialen Analyse mit einigem Erfolg angelöst und damit unscharf gemacht worden sind, Grenzen errichten und verteidigen, soviel sie nur
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wollen. Und ihr Bestand ist einzig eine Frage der Ästhetik und nicht der Technik. Was innerhalb von Mash-up Medien sich arrangieren, was sich sampeln und collagieren lässt, wie viele Schleifen das Recycling von Material aushält, ohne fad zu werden, wie viele Transformationen Sujets erlauben, welchen Logiken der Switch zwischen den Medienformen und -formaten gehorcht, all das sind Fragen, die vollkommen frei von technischen Rücksichten beantwortet werden können.
6. W EGE
DER
M EDIENWISSENSCHAFT
Für eine Medienwissenschaft, die bevor sie sich postmodern gab, einst mit einer ziemlich robusten materialistischen Grundausstattung angetreten war, die alten Unsicherheiten der materialistischen Kulturanalyse durch technologische Fundierung endgültig zu beseitigen und Kategorien wie etwa den prekären Klassenstandpunkt eines Georg Lukács oder jenen so wunderbar ungenauen und daher stets passenden Begriff der Überdetermination eines Althusser (1965: 146ff.) durch Deckelhauben, Frequenzen und Produktionsziffern genauso zu ersetzen wie sie Künstlersubjekte durch viel verlässlichere, da wenigstens einigermaßen berechenbare Ingenieure und Erfinder ablöste, ist eine solche Rückkehr in die immateriellen Gefilde von ästhetischen Formen und jenen Subjekten, die mit ihnen experimentieren, zweifellos einigermaßen gewöhnungsbedürftig. Zumal es letztlich die Technologie selbst war, die sich als formgebender Faktor überflüssig gemacht hat. Die formgebende Kraft des Technischen ist offensichtlich bis zur völligen Transparenz erodiert: Medien sind mittlerweile als System genau das geworden, was Fritz Heider ihnen immer schon unterstellt hatte, nämlich transparent und in jeder Weise, die kulturell akzeptiert wird, formbar. Dass die Medienwissenschaft so empört auf die Heidersche Herausforderung reagierte, war ebenso verständlich wie zutreffend, aber sie hatte eben auch einen historischen Index und der ist inzwischen verfallen. Heiders Beschreibung etwa des Films (Heider 1927: 75; 90) ignoriert die Konditionen seiner Technologie wie die seines Dispositivs und die Aufgabe einer Medienwissenschaft war es zunächst einmal eben diesen Konditionen Geltung zu verschaffen. Nur haben sich eben diese Konditionen gewandelt, übrigens aus harten materiellen – ökonomischen wie technischen – Gründen und nicht aufgrund jener mit ziemlich viel organisiertem Sentiment belasteten mythischen Figuren der Kommunikation wie Engeln oder Götterboten. Dass Medien gläsern und damit gewissermaßen unsichtbar zu werden drohen, ist so der zwangsläufige ideelle Effekt einer materiellen Entwicklung. Der-
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artiges Umschlagen der Materialität in Idealität lässt die einstmals harten Technologien transparent werden. Hergestellt worden ist das zunächst einmal durch die technische Kompatibilität, die Medien untereinander technisch austauschbar macht und das auf allen Stufen medialer Dispositive, also sowohl auf der Ebene der Produktion, der Repertoires und Archive, der Distribution sowie der Plattformen der Rezeption. Ähnlich wie man Hörspiele in Videoformaten auf Videoplattformen findet, hat man es nicht selten von vornherein mit trimedialen Produktionen oder medienindifferenten integrativen Mash-up Plattformen und generell mit einer plattformvolatilen ubiquitären Rezeption zu tun. Der technischen Kompatibilität entspricht jedoch noch längst keine kulturelle. Und das heißt, dass Medien zwar technologisch gläsern, kulturell jedoch formatiert und damit intransparent sind. Allein deshalb ist der umstandslose Rückschluss von den technologischen Bedingungen auf die kulturellen Informationen, der unter den Bedingungen geschlossener Einzelmediendispositive noch ziemlich problemlos zu treffen war, inzwischen weitgehend ausgeschlossen. Insofern sind Medien nicht einfach gläsern vor allem nicht für sich selbst, sondern die Angelegenheit ist weitaus komplexer. Es gibt keine technischen Bedingungen mehr, die Mediengrenzen noch mit einer entsprechenden Notwendigkeit und Stabilität ausstatten könnten. Mediengrenzen, sofern sie noch existieren, sind daher das Resultat rein kultureller Formgebungsprozesse und im Rahmen kultureller Transformationsprozesse auch entsprechend modifizierbar. Medien sind technologisch gläsern, kulturell jedoch festgelegt und das gilt auch für das Mediensystem: Technologisch hat man es im Mediensystem mittlerweile mit einem unbegrenzten Feld und mit einem einheitlichen Dispositiv zu tun. Technisch sind die Einzelmedien abgeschafft, kulturell haben sie aber nach wie vor Bestand. Mediengrenzen, die in ein ebenso einheitliches wie indifferentes Mediendispositiv kulturell eingeschrieben werden, sind, nachdem sie sich von ihrer materiellen Basis und damit aus ihrem Traditionszusammenhang gelöst haben, beweglich und zu einem Feld ausschließlich kultureller Formatierung geworden. Dass solche kulturellen Grenzen alles andere als unbedeutend sind, lässt sich leicht an Sprachgrenzen oder religiös codierten Konflikten sehen. Sie sind daher ernst zu nehmen und keineswegs zu vernachlässigen. Der Gegensatz von Medium und Form, wie er von Heider und in der Folge eben auch von Luhmann aufgeboten wird, ist deshalb nicht umstandslos auf das Mediensystem zu übertragen, zumal er zudem kategorial missverständlich ist, denn Medien sind immer schon Medien und Formen gleichzeitig gewesen und sie hatten nur in dieser Koexistenz von Medialität und Form Bestand. Allerdings haben sie sich auf dieser Skala und damit in dem Kontinuum zwischen Medium und Form durch den Übergang zu einem postkonventionellen Mediensystem
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immer mehr in Richtung Form bewegt: Medien sind nunmehr kulturelle Formen, die gegenwärtig noch in einem technologischen Traditionszusammenhang stehen und es ist keineswegs ausgemacht, wie lange die Prägekraft der technologischen Tradition noch vorhalten wird.
7. N ACH
DER I NTERMEDIALITÄT
Das hat nachhaltige Konsequenzen für das Konzept der Intermedialität (Leschke 2010: 38; 58). Intermediale Analyse lässt keine Rückschlüsse auf irgendwelche Medienqualitäten mehr zu, zu einem Zwecke, zu dem sie ja ursprünglich angetreten war, sondern sie beschreibt mediale Formen und den Austausch zwischen diesen. Der Ort des intermedialen Sprechens allerdings ist nunmehr klar, denn die intermediale Analyse hat ihren Standort mitten in diesem postkonventionellen Mediensystem, das keine Lücken und keine Zwischenräume mehr kennt, sondern statt dessen auf allen Ebenen mit Feldern und Kontinua arbeitet. Ein »zwischen den Medien« (vgl. Tholen 2002: 169ff.) existiert in diesem Sinne nicht mehr als Leerraum, sondern als ein immer schon zumindest geringfügig medial bestimmter Ort. Und intermediale Analyse lässt sich nun, da dieser Ort mit einem Mal voll ist, umschreiben in die Ortsbestimmung dieses Zwischenraums, für dessen Kartierung erstmals die Parameter bereit stehen. Intermediale Analyse findet sich in einem Zwischenraum wieder, der gefüllt ist von genau jenen medialen Parametern, die das Mediensystem noch zusammenhalten und der sich zwischen den kulturell installierten Formen und Formaten befindet. Intermediale Theorie bewegt sich an Orten niedriger Formierung und so könnte letztlich von ihr doch noch das ausgehen, was sie einst versprach und was in so weite Ferne gerückt war: nämlich ein Aufschluss über die Bedingungen und Strukturen des Mediensystems. Die praktische intermediale Analyse wird damit zu einer interformativen Analyse. Das heißt keineswegs, dass sie an Bedeutung verlöre, eher im Gegenteil. Denn in dem Maße, in dem die technischen Grenzen der Medien erodieren und Medien dadurch zunehmend unscharf werden, ist Formwissen nur mehr das einzige Orientierungspotential, das kulturelles Material erschließbar macht. Intermediale Analyse hat letztlich ohnehin nichts anderes gemacht, als mediale und ästhetische Formen miteinander zu vergleichen und Bezüge und Transformationsregeln zwischen diesen Formen herzustellen. Insofern bleibt eigentlich alles beim Alten. Allerdings lässt das postkonventionelle Mediensystem eine Systematisierung und Vernetzung des Wissens zu, die die Einzelmediendispositive bislang verwehrten. Es geht darum, die Formpotentiale und formästheti-
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schen Konditionen des postkonventionellen Mediensystems generell zu bestimmen. Es geht also um die Formbarkeit eines gläsernen Mediensystems und hier ist praktisch noch nichts getan. Denn das Mediensystem mag gläsern sein und die Bedingungen von Texten, Tönen und Bildern mögen klar sein, dennoch sind die Konditionen möglicher Formkombinationen und -effekte weitgehend intransparent. Der Schluss, den eine interformative Analyse vollführt, zielt nicht mehr auf die wie auch immer geartete Qualität eines Mediums, sondern einzig auf die Kombinierbarkeit und Strukturiertheit von Formelementen. Es geht um Beiträge zu einer Logik medialer Formen in jenem gläsernen postkonventionellen Mediensystem. Einzig für Medientheorie haben sich die Bedingungen grundlegend verändert: Der Rückschluss von der technisch determinierten Materialität auf das Mediale von Medien und von dort auf Medialität an sich hat seinen Grund verloren und er produziert auch nicht mehr seine Serie ebenso verlässlicher wie kenntlicher Differenzen. Es gibt unterhalb des Mediensystems keine selbstständigen Einheiten mehr und d.h., Medientheorie hat es immer schon und ausschließlich mit dem Mediensystem selbst zu tun. Einzelmedientheorien gehören definitiv der Geschichte an. Um die Vermessung dieses Mediensystems und nicht mehr um die Ontologie von Medialität müsste es einer Medientheorie künftig zu tun sein. Es geht um die Bestimmung und Lokalisierung der Attraktoren jenes im Wesentlichen kontinuierlichen, punktuell jedoch durchaus auch hybriden dynamischen Systems, in das wir angefangen haben, unsere Kultur einzuschreiben.
L ITERATUR Althusser, Louis, Für Marx, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968 (= Althusser 1965). Auster, Paul, City of Glass, London: Faber 1985. Benjamin, Walter, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 7-44 (= Benjamin 1936). Bolz, Norbert, »Computer als Medium«, in: ders./Friedrich Kittler/Christoph Tholen (Hg.), Computer als Medium, München: Fink 1994, S. 9-18. Coupland, Douglas, City of Glass, Vancouver/Toronto/Berkeley: Douglas & McIntyre 2009 (= Coupland 2000). Jünger, Ernst, Gläserne Bienen, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1960 (= Jünger 1957). Heider, Fritz, Ding und Medium, Berlin: Kadmos 2005 (= Heider 1926).
»Gläserne Medien«
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Mediale Dinge und ihre ästhetische Reflexion D IETER M ERSCH
E INLEITUNG
UND
A UFRISS
Die folgenden Erörterungen scheinen heterogen und uneinheitlich. Weniger handelt es sich um eine systematische Argumentation, als viel mehr um eine lose Reihung von Motiven. Dies geschieht nicht aus Mangel an Vermögen, sondern es hat präzise Gründe, die dem Gegenstand selbst geschuldet sind. Mediale Dinge entziehen sich ihrer Bestimmbarkeit; sie erweisen sich als begrifflich nicht verfügbar, sondern verbleiben chronisch in einem ebenso vagen wie ambigen Hof des ›Zwischen‹ (Tholen 2002: 169ff.). Der erste Teil versucht sich ihnen mit Blick auf die Frage der ›Dinglichkeit‹ des Dings zu nähern, wohl wissend, dass über Dinge nur im Rahmen der Zuschreibung von Eigenschaften, von Zwecken oder Funktionen, von symbolischen Konstellationen sowie jenem Ensemble von Praktiken gesprochen werden kann, mit welchen sie vernetzt sind und die ihr ›Dingliches‹ in den Kontext von Verwertbarkeiten, Gedächtnissen, Programmen oder ästhetischen Entwürfen rücken. Allerdings, und das ist die These, bleibt dabei immer eine Dimension rückständig, die im eigentlichen Sinne mit der ›Dinglichkeit‹ selbst in Verbindung gebracht und sein ›Reales‹ genannt werden kann1. An ihm ist seine Resistenz, seine Sperrigkeit auffällig. Entsprechend zeigt es sich vor allem im Negativen. Bestenfalls geht die ›Realität des Realen‹ oder die ›Dinglichkeit des Dings‹ indirekt oder momenthaft auf – aber wir besitzen sie sowenig, wie sie ›als etwas‹ identifiziert oder fixiert werden können. Darauf geht
1
Wir werden im Folgenden, eben weil vom Terminus des ›Realen‹ nicht anders als von einer Ambiguität gesprochen werden kann, den Ausdruck in Anführungszeichen setzen. Sie deuten an, dass es sich um nichts handelt, das ›ist‹, sowenig wie es sich ohne Widerspruch adressieren lässt, das aber trotzdem ›da‹ ist.
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im Besonderen der zweite Teil der Überlegungen ein. Er betrifft im Wesentlichen die Frage nach der Diskursivität, des ›Sprechens über Dinge‹ sowie im näheren das Verhältnis zwischen ›Dingheit‹ oder ›Reales‹ einerseits und der Sprache oder ›Medialität‹ andererseits. Die dabei zum Teil anhand von Beispielen gewonnenen Einsichten dienen insbesondere als Scharnier, um gleichzeitig die umgekehrte Frage zu stellen, nämlich wie überhaupt über ›mediale Dinge‹ und ihre ›Dinglichkeit‹ bzw. das ›Reale des Medialen‹ zu sprechen sei – denn sobald wir danach fragen, was das Mediale ›ist‹, haben wir es bereits ›als etwas‹ adressiert, mithin in seiner Realität anerkannt. Zudem ist das ›Als‹ tückisch: Es weckt die Illusion einer Bestimmung, als ob wir es mit einer wohldefinierten Entität zu tun hätten, deren Merkmale feststellbar seien. Unter ›medialen Dingen‹ sei deshalb zunächst solches verstanden, woran weniger ihre Dinglichkeit oder ihre besondere Materialität auffällt, als vielmehr die Tatsache, dass sie sich im ›Dazwischen‹, der ›Mitte‹ einer ›Welt‹, wie Martin Heidegger gesagt haben würde, befinden, wodurch sie in dieser sowohl etwas bewirken oder ermöglichen als auch behindern und einschränken. Sie geben, wie man sagen könnte, einer Textur von Virtualitäten eine Richtung – und es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Samuel Weber dem Medialen überhaupt die Bedeutung eines Virtuellen zugeschrieben hat, um anzudeuten, dass es einzig im Modus einer Möglichkeit, nicht Wirklichkeit statthat (Weber 1999). Gleichwohl muss hinzugesetzt werden, dass dieser Modus der Möglichkeit allein die ›Medialität‹ des Medialen trifft, nicht das Medium, an dem immer schon ein ›Reales‹ haftet, das es nicht abzustreifen vermag und das gleichsam noch im ›Zwischenraum‹ des Medialen dazwischen tritt und dessen Funktionalität modifiziert, umschreibt oder stört. Es handelt sich, um es anders auszudrücken, um ein unbotmäßiges Mitgängiges, ein buchstäblich Unbeherrschbares oder Unberechenbares, sodass am Medialen, wie bereits verschiedentlich herausgestellt, stets zugleich ein Nichtmediales ist, eine ›Amedialität‹ (vgl. Mersch 2004a)2, die bedingt, dass das Medium nirgends in sich selbst aufzugehen oder sich ›rein‹ zu erfüllen vermag; und es ist genau dieses Amediale, das umgekehrt den Angelpunkt bezeichnet, an dem die mediale, insbesondere die ästhetische Reflexivität ansetzen kann. Wäre, anders gewendet, demgegenüber das Mediale lediglich ein Immaterielles oder eine bloß virtuelle Form, die sich in sich selbst schließt, wäre es, wie der Hegelsche ›Begriff‹, immer schon Grund und Rahmung aller Rationalität oder damit Vermittlung und Vermittelndes in einem – man könnte sagen, ein apriorisches Konstituens oder ›Transzendental‹, mithin
2
Das Mediale geht nicht in sich selbst auf, vielmehr haben wir es immer mit einer Relation zu tun, deren Relationalität wiederum nicht Teil der Relation selbst ist.
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ein Unbedingtes, das zugleich Bedingung allen Denkens wie möglicher Wahrnehmung, Erfahrung oder Erkenntnis ist. Dann gäbe es keine andere als immer schon mediale Wahrnehmung, Erfahrung oder Erkenntnis, keine, die die Medialität der Wahrnehmung, Erfahrung oder Erkenntnis selbst erführe oder zu erkennen vermöchte, ohne bereits von dem, was es zu erfahren oder zu erkennen gilt, ›tingiert‹ zu sein. Anders formuliert: Das Mediale gliche einem Absoluten, freilich eines, das sich in seiner Totalisierung selbst unkenntlich macht, weil es, als alternativlos gesetzt, gleichsam in den dunklen Grund eines Unheimlichen zurückwiche, das, um die Kant-analoge Formel zu benutzen, stets alle unsere Gedanken und Praktiken von Anfang begleitet haben müsste. Man könnte es auch so ausdrücken: An die Stelle der Luzidität des ›Ich denke‹ – und damit des transzendentalen Subjekts – tritt das Mediale als ein Opakes, Undurchdringliches, von dem allein behauptet – oder grundlos hingestellt – werden kann, es sei zugleich ein ebenso Unverzichtbares wie Konstituierendes. Das bedeutet auch: Wäre der Begriff des ›Mediums‹ oder das ›Mediale‹ etwas der Bestimmung oder Erfahrung Zugängliches, d.h. ein Terminus, der sich nicht nur tautologisch in sich selbst verdoppelte, sondern der eine Unterscheidung ermöglichte, dann müsste ebenfalls an ihm ein Unterscheidbares sein, das das Mediale vom Nichtmedialen trennte und gleichzeitig jene Demarkation markierte, durch das wir von ihm Kenntnis erlangten. Die folgenden Ausführungen zielen genau auf diesen Punkt: Aufweis der Unabdingbarkeit einer Differenz, die noch das Mediale – als Differenz – sichtbar zu machen vermag, folglich eine Differenz in der Differenz, die nicht noch eine weitere Volte, eine weitere Drehung in der Rekursion bezeichnen soll, sondern eine Spaltung, die die Differenzialität des Medialen von Anbeginn an heimgesucht hat und die Unmöglichkeit seiner Schließung impliziert. Solche Differenzen sind allerdings äußerst subtil und schwierig aufzufinden; und es ist in der Tat die besondere Domäne der Kunst, auf ein solches diskursiv Unerschließbares hinzuweisen und die Brüchigkeit der differierenden Differenzen thematisch zu machen. Das bedeutet aber auch, dass in diesem Falle die ästhetische Reflexion gegenüber der philosophischen eine bevorzugte Stellung einnehmen muss. Die folgenden Überlegungen sind der Überzeugung geschuldet, dass eine solche Folgerung unausweichlich ist – dass in Bezug auf das Mediale der Kunst ein außerordentlicher Rang zuzuschreiben ist, weil die künstlerische Arbeit – jenseits der philosophischen Auszeichnung des Begriffs und des Mediums diskursiver Rede – eine Serie von Praktiken bereitstellt, die, wie nirgends sonst, die systematische Befragung des Medialen an der Einsatzstelle des Mediums selber vornimmt. Mehr noch: Wo das Medium der Begriff bzw. die Sprache ist, ist deren Befragung oder Reflexion selbst schon Kunst: Poetik oder Dichtung im eigentlichen Sinne, und als
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Dichtung Philosophie ebenso wie als Philosophie Dichtung – Heidegger hatte deshalb nicht umsonst beide in eine unmittelbare Nähe zueinander gerückt3. Der Titel der Überlegungen: ›Mediale Dinge‹ und ihre ›ästhetische Reflexion‹ spielt genau darauf an.
D IE D INGE
UND DAS
›R EALE ‹
Zumeist interessieren sich jedoch gängige Medientheorien weniger für die Dinge selbst und ihre ›Dinglichkeit‹, es sei denn, es handelt sich um mediale Dinge – Dinge, die Medien sind, Medien, denen ein Dingliches zukommt. Umgekehrt gilt ihnen das, was Jacques Lacan als das »Reale« adressiert hat, bestenfalls als Effekt oder Spur. So hatte Friedrich Kittler die Dinge einzig als programmierbare Hardware gelesen, als Sequenzen aus Schwingungen oder Bahnungen, denen Techniken beikommen und Medientechniken im Besonderen ihre verborgenen Gedächtnisse, Stimmen oder Bilder zu entlocken wissen (vgl. bes. Kittler 1993). Unter ›Medien‹ wäre dann das zu verstehen, was imstande ist, solche buchstäblichen ›Be-Dingungen‹ abzuhorchen, um sie in Ordnungen und Unordnungen, oder, um in der Metapher des Akustischen zu bleiben, in Klänge und Rauschen aufzuteilen. Dinge zählen folglich nur als Datensätze, die sie in eine große Textur verwandeln, wie überhaupt das Nichtsymbolische zum Gegenstand einer Skriptur depraviert, die mittels Mathematik dechiffrierbar erscheint (Krämer 2004: 202): Es sind vor allem Fourieranalysen und die diskreten Ordnungen, die die Transformation ihrer Physik in manipulierbare Codes ermöglichen. Alles andere, so Kittler, sei ›nichts‹, bzw. nichtig: Das ›Reale‹ bilde folglich »jenen Rest oder Abfall, dem weder der Spiegel des Imaginären noch auch die Gitter des Symbolischen einfangen können – physiologischer Zufall, stochastische Unordnung von Körper« (Kittler 1986: 28). Was sich entsprechend der Mathematisierung und technischer Decodierung nicht fügt, fällt dann aus: »Technische Medien […] liquidieren jene ›Große Dame Natur‹, wie ein ganzes neunzehntes Jahrhundert sie beredt und nie gesehen hatte« (ebd.: 178). Und weiter: »Mit der technischen Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift, wie sie um 1880 Gutenbergs Speichermonopol sprengte, ist der sogenannte Mensch machbar geworden.
3
Der Gedanke einer »Nachbarschaft« bzw. einer »Zwiesprache zwischen dem Dichten und dem Denken« wird bereits in Wozu Dichter? von 1946 ausgesprochen (vgl. Heidegger 1972a: 248-295, hier S. 256; 251ff.; Heidegger 1975: 188ff.; 196; 267). Dazu erläuternd von Herrmann (1999: 9ff.; 106ff.; 190ff.).
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Sein Wesen läuft über Apparaturen. Maschinen erobern Funktionen des Zentralnervensystems […]. Und erst damit […] kommt es zur sauberen Trennung von Materie und Information, von Realem und Symbolischem.« (Ebd.: 29)
Was einst der Emphase einer »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« (Kittler 1980) galt, kassiert im Nachhinein die Welt und ihre ›Dinglichkeit‹ gleich mit. Tatsächlich stoßen wir hier auf ein Dilemma, einen Widerspruch, der den klassischen Idealismus ebenso verwirrte wie den Strukturalismus oder Konstruktivismus sowie die verschiedenen Spielarten des ›Medienaprioris‹. Denn das Denken ist, gleichwie das Symbolische oder Mediale, ohne sein Anderes, Nichtsymbolisches oder Nichtmediales, in das es buchstäblich verwickelt ist, nicht zu fassen. Nicht nur gehen ihm darum die Dinge und ihre Materialität immer schon voraus, vielmehr ragen diese in es hinein, bilden mit ihm eine unlösbare Verschränkung, sodass jeder Versuch ihrer Reduktion, ihrer Auflösung in ein Stück Mathematik oder eine Serie von Unterscheidungen, Signifikanten oder Zahlen in sich selbst aporetisch bleibt. Selbst der Unterschied muss noch in etwas, einen Grund geritzt, die Zahl auf etwas aufgeschrieben werden – Medientheorie, wie auch die schwierig auszulotende Beziehung zwischen Medien und Dingen, finden daran ihre Grenze. Sie bezeichnet zugleich die Grenze ihrer ›Dienstbarmachung‹, an der Medientheorie im Gewand ihrer technischen Instrumentalisierung immer noch festhält. Dagegen wäre die Frage nach dem Ding, als Grundfrage der Philosophie, im Licht dessen neu zu stellen, was Heidegger seine »Zuhandenheit« nannte (vgl. Heidegger 1972b: 66ff.; 73ff.): ihr gewöhnlicher Vorentscheid auf eine Zweckhaftigkeit, der auch Kittler unbesehen erliegt. Mit seinem spezifischen Sinn für das Brüchige, Fremde oder Unzureichende hatte Heidegger vor allem in Sein und Zeit und im Ursprung des Kunstwerks die Dinglichkeit des Dings vor der Folie seiner Verwendung als »Zeug« thematisch gemacht (Heidegger 1972c: 10ff.). Im Zentrum stand dabei das Problem der Verfügbarkeit. Sie verdecke, wie Heidegger bemerkt, das Ding ›als solches‹, dessen Dinglichkeit im Gegenzug nur dort in Erscheinung zu treten vermag, wo eine Lücke oder Abwesenheit aufklafft und ein Mangel bezeugbar wird – wo mit anderen Worten die Dinge ihren Zwecken entkleidet oder in ihrer Funktionalität gestört erscheinen, wo sie dysfunktional, ›tückisch‹ oder ›heimtückisch‹ werden. Solche Dysfunktionalität wäre aber gerade mit der Störung oder dem Zusammenbruch dessen vergleichbar, worauf es Kittler ankommt: Offenbar vermag die Dinglichkeit des Dings nur dort manifest zu werden, wo eine Verwerfung ins Spiel kommt. Sie verweist gleichzeitig auf eine Singularität. Anders ausgedrückt: Das Ding bringt sich in seiner Dinglichkeit erst durch einen Bruch hervor, der zugleich der Grund eines
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Unterschieds ist, und dem, kraft seiner Singularität, der Charakter einer Widersetzlichkeit zukommt. Heidegger nähert sich dieser Auffälligkeit – oder »Aufsässigkeit« – durch eine Anzahl von Verneinungen, die durch das Präfix ›un‹ gekennzeichnet sind: »unverwendbar«, »unbrauchbar«, »unauffällig« oder auch »unzuhanden« (Heidegger 1972b: 73f.). Sie ermöglichen, im Gegenzug, deren Reflexion. Dennoch behaupten alle diese Ausdrücke nach Heidegger einen positiven phänomenalen Charakter. Kurz, ihrer Widersetzlichkeit kommt eine eigene Kraft zu, sodass wir es nicht nur mit einer Reihe von Negativitäten zu tun bekommen, über die einzig in einer perennierenden Folge von ›nichten‹ zu sprechen wäre, sondern die mit einem Index des Positiven, einem Moment von Unverneinbarkeit versehen sind. Jenseits aller ›Ausnutzung‹ der Dinge, ihrer Diffundierung in Daten und deren Syntax wird es stattdessen im Folgenden auf ihre Irreduzibilität ankommen, und die Behauptung ist, dass sie sich genau in diesem Doppelverhältnis einer Negation bekundet, von der im selben Maße gesagt werden muss, dass sie nicht zu negieren sei (vgl. Mersch 2009). Auf eine Spur gelangt gerade wieder jener dunkle, aber schwer zu enträtselnde Ausdruck des »Realen«, auf den Lacan immer wieder zurückgekommen ist, um das zu bezeichnen, was unverzichtbar ›zuvorkommt‹4. Dem »NichtIdentischen« Adornos verwandt, das dieser jedoch unversehens auf die Seite der »Objekte« schlug (Adorno 1973: 163ff.; 172f.; 176f.), unterliegt es bei Lacan einerseits dem Register des Unterschieds, der es vom Symbolischen wie Imaginären trennt, wie andererseits einer Differenzierung zwischen »Realität« und (Trieb-)»Objekt« (vgl. bes. Lacan 1991: 123ff.). Auch verweist Lacan auf die Freud’sche Unterscheidung zwischen Realitäts- und Lustprinzip, um gleichzeitig deutlich zu machen, dass unser Bezug zum Realen primär durch die »Abwehr« dominiert wird (Lacan 1996b: 41). Nirgends also eine datentechnische oder kybernetische Bestimmung des »Realen«, wie manche medienwissenschaftliche Deutungen Lacans nahelegen wollen (vgl. Kittler 1986: 352ff.; 1993: 55-80; 149-160; vgl. ferner Bitsch 2008), vielmehr Anschluss an die Freudsche Anerkennung der Ansprüche der Wirklichkeit, ihrem »anankastischen Befehl«, wie Lacan sich ausdrückte, und dem Wunsch, dem Begehren des »Es«. In der Tat führte Freud mit ersterem eine Größe ein, die nicht nur der Lust entgegensteht, sondern auch nicht anders als durch Widerstände, Verdrängungen oder Tabus erfahrbar wird. Zugleich ist allen diesen Ausdrücken gemeinsam, dass sie ein ›negatives‹ Vorzeichen tragen und sich nur indirekt manifestieren, dass auf sie weder gezeigt oder hingedeutet noch zu ihnen ›hindurchgegriffen‹ werden kann: Sie
4
Immer wieder hebt Lacan in seinen Seminaren auf das »Reale« als ›Gegenfolie‹ ab (vgl. bes. Lacan 1991; 1996a).
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zeigen sich allenfalls im Entzug. Ausdrücklich und an den verschiedensten Stellen seiner Ausführungen besteht Lacan darauf, dass »jenseits des Lustprinzips« – dort, wo das Subjekt nicht ist – eine »undurchdringliche Seite« zu »setzen« sei, die, wie es heißt, »so dunkel [ist], dass sie bestimmten Leuten als Antinomie jedes Denkens erscheinen konnte« (Lacan 1991: 29), die aber andererseits immer schon durch den Signifikanten regiert sei: Sie offenbare sich allein, wie es anderswo heißt, »indem es Worte macht«, wobei das »Wort« bei Lacan nicht buchstäblich zu verstehen ist, sondern im Sinne einer Expression überhaupt, d.h. eines Zeigens und Erscheinens, das bestenfalls zur Interjektion Anlass gibt: dem Augenblick eines »Schrei[s]« (ebd.: 70; auch 43). Tatsächlich bezeichnet, wie man ergänzen könnte, die Negation eine mächtige Quelle der Erfahrung des ›Anderen‹, man denke an Ekel, Abscheu, Schmerz oder auch das Zurückschrecken vor dem Monströsen, der Drastik des rohen Fleisches, wie es Lacan angesichts seiner Interpretation von »Irmas Injektion«, dem Traum Freuds, vor dessen letztendlicher Deutung er zurückgeschreckt war, beschrieben hat: »Es gibt da eine schreckliche Entdeckung, die des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund der Dinge, die Kehrseite des Gesichts, des Antlitzes, die Sekreta par excellence, das Fleisch, aus dem alles hervorgeht, aus der tiefsten Tiefe selbst des Geheimnisses, das Fleisch, insofern es leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst hervorruft.« (Ebd.: 199f.)
Wo wir es gewahren, reagieren wir mit unwillkürlichen Fluchtinstinkten. Der Aufschrei bildet ihr Korrelat. Anders gewendet, das Unverfügbare oder ›Unfügliche‹, das stets dazwischen fährt oder sich unbotmäßig einmischt, das NichtGemachte oder »Reale« bezieht seine Evidenz aus solchen Erfahrungen des Zurückweichens, denn, so Lacan weiter, »die Welt unserer Erfahrung bringt mit sich«, dass das »absolut Andere« des Subjekts, wie er formuliert, sich »bestenfalls wieder(findet) als Leid« (Lacan 1996b: 67). Solche erlittenen Erfahrungen zeichnen sich als Zäsuren oder Einschneidungen ab, die als paradoxe ›Zeichen‹ des ›Nichtbezeichenbaren‹ gelesen werden müssen. Die Dinglichkeit des Dings gehört dazu. Ihr bevorzugtes Residuum sind Verfall, untilgbare Restbestände, das Nichtaufgehende oder »Übriggebliebene« sowie das, was nirgends zu beseitigen ist oder körperlich als Wunde oder Narben in der Haut sich bekundet. Dazu gehört ebenfalls die Unerbittlichkeit der Zeit wie Alter, Tod, Erschöpfung, ferner Ausscheidungen oder Fäulnis, die den bloßen Stoff enthüllen oder sich in Gestalt von diffusen Ansammlungen offenbaren, die der Ordnung des Symbolischen widerstehen. Ihre Erscheinungsweise ist das Chaos als Gegenbegriff, wie es Jeff Wall in seinen frühen Fotografien vorgeführt hat. Tatsächlich widersetzen sie
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sich jeder angemessenen Klassifikation oder Beschreibung; sie fügen sich nirgends einer Konstruktion oder Verwertung wie auch ihre textuelle Darstellung oder ihre Aneignung in Kategorien des Verstehens allenfalls ein Gemurmel erzeugt. Gleichwohl ist mit ihnen nicht nur in allen kulturellen Formationen oder Praktiken zu rechnen, sofern sie auf Materialitäten gründen und in sie zurückmünden, sondern sie sind ihnen ebenfalls immer schon ›voraus‹ und daher ›voraus-zu-setzen‹, wie umgekehrt »Bezeichnung« und »Unterscheidung«, die Ordnungen der Signifikation oder die Produktion des Sinns sowie gleichermaßen die Medien und Technologien ihrer ›Aufteilung‹ und Organisation in sie ›eingewickelt‹ sind. In der Tat hatte Lacan, als er die Rede aufs »Reale« brachte, Ähnliches vor Augen. Zwar hat er seine Überlegungen zum »Realen« nirgends schlüssig systematisiert, und eher en passant findet man, vor allem in den Seminaren, dazu Bemerkungen, die jedoch schwer zu ›heben‹ sind und mitunter kryptisch bleiben. Insbesondere kommen sie dort zum Tragen, wo Lacan von »la chose«, dem »Ding« spricht (ebd.: 56ff.), soweit die Dinge nicht zur Ordnung der Gegenstände im gewöhnlichen oder philosophischen Sinne gehören, auch nicht ›zur Ordnung gerufen werden können‹, sondern, wie es heißt, eintreten ohne zu erscheinen. Die Paradoxie sucht gleich mehreren Vorurteilen zu entkommen: zum einen der Auffassung, das »Reale« sei da und gleichsam mit den Händen greifbar, zweitens es sei den Sinnen zugänglich oder eine ›Sache‹ der Ästhetik, schließlich auch im Gegenteil, es sei ›nicht da‹, chronisch absent und bestenfalls eine Hypothese, eine Chimäre des Geistes. Nicht notwendig handelt es sich einerseits um etwas Sinnliches oder Objekthaftes, vielmehr um eine vertrackte und aufsässige ›Sache‹, weshalb mit la chose andererseits die ›Chose‹, das ominöse ›Dings‹ angesprochen ist, das spukhaft auftaucht und wieder verschwindet und auf das wir dort referieren, wo das passende Wort ausbleibt und wir zu einer Reihe metonymischer Verschiebungen Zuflucht nehmen5. Dass etwas gesagt sein will, sich jedoch nur eine Leerstelle oder eine unbestimmte Assoziation einstellt, deren Flüchtigkeit sogar im Unklaren lässt, ob wir uns überhaupt auf etwas Sinnvolles beziehen, verweist deshalb weniger auf eine Insuffizienz im Linguistischen, als vielmehr auf einen Bruch in der Rede und dem Bezeichen- und Darstellbaren selbst. Aus diesem Grund rückt Lacan insbesondere la chose in Opposition zur verhandelbaren »Sache«, dem juristischen Tatbestand, dem es um seine ›Dingfestmachung‹, seine Festlegung und Definierbarkeit geht: Diese sind dem
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Unter anderem macht Lacan darauf aufmerksam, dass Freud von »Sachvorstellung« spricht, nicht von »Dingvorstellung«, wenn er vom Verdrängten spricht (vgl. Lacan 1996b: 58).
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»Wort« zuzuordnen, während la chose an einen »Ort anderswo« zu platzieren wäre (ebd.: 59)6. In diesem Sinne bekundet la chose eine Ambivalenz: Sie verweigert ihre Sagbarkeit, ihre Besetzung durch einen besonderen Signifikanten und bedarf zuletzt doch eines Ausdrucks, um das gerissene Glied der Kette, das Fehlen eines Ausdrucks wieder auszugleichen. Es wäre dann eine absentia in praesentia: ein obzwar Abwesendes aber doch Gegenwärtiges, das sich aufdrängt und an dem nicht achtlos ›vorübergegangen‹ werden kann7. Vielmehr wird la chose von der Ordnung der Signifikanten ebenso angezogen wie abgestoßen – und die ununterbrochene Bemühung, es dennoch aussprechen zu wollen, besteht vor allem darin, das Nichtdingfeste dingfest, das Nichtfeststellbare feststellbar zu machen. Diese Art der Festlegung oder Feststellung gelingt allerdings durch kein Zeichen, kein Medium – sowenig la chose oder das »Reale« als Signifikant für etwas fungieren kann –, es ist vielmehr, wie man sagen könnte, die Markierung eines ›Fehls‹, einer Lücke und daher genau das, was auf der Schwelle zwischen Präsenz und Nichtpräsenz steht und ihren Übergang kennzeichnet. Wenn folglich eine Causa unbekannt bleibt, weil das »Dings« keine Form oder Kontur, wohl aber eine Wirkung besitzt, treten Irritationen auf, die eindringlich auf die gespenstische Gegenwart einer Nichtgegenwart hinweisen – gleich einer Höhlung oder Spur negativer Präsenz (vgl. Mersch 2002; 2010a). Kurz, gegenüber den primären Strukturen des »Imaginären« und »Symbolischen« erweist sich das Reale einzig als negativ markierbar. Das ist besonders dem Seminar XI Lacans und dem Abschnitt über Tyche und Automaton zu entnehmen. Denn dort wird das »Reale« als dasjenige eingeführt, »zu dem wir stets gerufen sind, das sich jedoch entzieht« (Lacan 1996b: 59). Weiter heißt es: »Das Reale ist jenseits […] der Wiederkehr, des Wiedererscheinens, des Insistierens
6
Lacan fügt hinzu: »[E]s ist wohl evident, dass die Dinge der Menschenwelt Dinge eines als Rede strukturierten Universums sind, dass die Sprache und die symbolischen Vorgänge alles beherrschen und regieren« (Lacan 1996b: 58). Und weiter: »Die Sache ist eben la chose, Produkt der Betriebsamkeit oder des menschlichen Handelns als eines durch die Sprache regierten. So implizit sie auch sein mögen in der Genese dieses Handelns, die Sachen sind stets an der Oberfläche, stets verfügbar, um explizit gemacht zu werden« (ebd.: 59). Demgegenüber sei »das Ding […] nicht in der irgendwie reflektierten, weil explizit zu machenden Beziehung, die den Menschen seine Wörter in Frage stellen lässt als sich beziehend auf Sachen, die sie gleichwohl geschaffen haben. Es ist anderes in das Ding« (ebd.).
7
Vgl. zur Dialektik von absentia in praesentia und praesentia in absentia Mersch (2004b).
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der Zeichen […]. [Es] liegt hinter dem Automaton« (ebd.: 60) – womit Lacan keinen Automaten meint, sondern das sich beständig selbst fortschreibende »Netz der Signifikanten« (ebd.: 58) im Unterschied zur Tyche, der »Begegnung mit dem Realen« (ebd.), oder wie man auch sagen könnte: dem ›Ereignis‹8. Nie anders als durch eine Signifikation erfahrbar, bleibt das Reale/Ereignis gleichwohl ein hartnäckig Unbekanntes: Ausdrücklich verweigert ihm Lacan jede Substantialität, welche lediglich denjenigen Platz bezeichnet, welchen »der Mensch […] dem Realen gegeben hat«, nämlich in seiner Bestimmung als etwas, »das man immer am selben Platz wieder findet, ob man nicht dagewesen ist oder ob man dagewesen ist« (Lacan 1991: 376). Denn dass das Reale sich »immer am selben Platz« befindet, dass man es »wie gerufen wiederfindet« (ebd.: 377)9, impliziert seine Bestimmung als Kontinuität, als Dauer, als Identität, mithin auch als etwas, das feststeht und sich stets treu bleibt – jene klassischen Eigenschaften also, die die Metaphysik seit Aristoteles dem Sein zuschrieb, um es den Anstrengungen der episteme zu unterziehen und ihm seine Gesetze und Geheimnisse zu entnehmen – denn »[v]on jeher hat der Mensch das Reale und das Spiel der Symbole miteinander zu verbinden gesucht« (ebd.: 381). Folglich bekommen wir es mit einem Realen als Realem zu tun, ein durch das ›Als‹ ebenso gespaltenes wie gedoppeltes Reales, durch das schon eine Differenz gezogen, um das ein Rahmen gelegt und für das ein Name gefunden wurde. »[W]ir [haben] kein anderes Mittel […], dieses Reale aufzufassen […] als durch Vermittlung des Symbolischen« (ebd.: 128), heißt es weiter bei Lacan, und dennoch fällt es nicht mit ihm zusammen, es ist vielmehr ›anders-als‹ das Symbolische: »[Es] ist absolut ohne Riss« (ebd.)10. Das bedeutet auch, dass es »immer an der Grenze unserer
8
Es ist aufschlussreich, dass seit Nietzsche und im Gegenzeug zu den Bestimmungen der klassischen Metaphysik von Aristoteles bis Hegel das Ereignis in seinen unterschiedlichen Facetten zum philosophischen Gegenbegriff avancierte: dem zugleich fasslichen Unfassbaren, oder, wie man auch sagen könnte, dem unbegrifflichen ›EinFall‹, ›Einbruch‹ oder ›Sturz‹.
9
Vgl. ähnlich Lacan (1996b: 87f.). Dort heißt es: Das, was immer am selben Platz ist, ist das »nicht wiederzufindende Objekt«.
10 Vgl. auch Lacan (1991: 129). Gewöhnlich wird gerade betont, dass das »Reale« nur durch eine Rahmung zum Vorschein kommen kann, ohne dass klar wird, was dies bedeutet, denn eine Rahmung kann auch in der Statuierung einer Differenzerfahrung bestehen. Allerdings bedeutet Rahmung kaum mehr als die Markierung eines ›Als‹, die den Schnitt, die Unter-Scheidung schon vollzogen hat. Anders ausgedrückt: Das Argument der Rahmung entschleiert nicht das »Reale« als Symbolisches, sondern entschlüsselt es in Richtung einer Spur, eines Indexes. Der Index ist der Verweis, der
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begrifflichen Ausarbeitungen liegt, etwas, an das man immer denkt, von dem mitunter die Rede ist und das wir eigentlich nicht erfassen können, und das gleichwohl da ist, vergessen Sie nicht – ich sprechen Ihnen vom Symbolischen, vom Imaginären, aber da ist auch noch das Reale [Hervorhebung von mir – D.M.]« (Lacan 1996a: 66). Es ist also ›da‹ als ein nicht zu leugnendes Anwesendes, gleichzeitig als ein Unheimliches, kurz: im Wortsinne von monstrare ein Monströses. Es bezeichnet das, was nicht zu greifen ist, das trotzdem übrig bleibt, wenn wir alle Mediationen und Symbolisierungen abziehen, das stets vorhanden bleibt als ein ebenso Rückständiges wie Überschießendes, das sich gleichwohl, wie die ›Untoten‹, seiner Verdrängbarkeit verweigert – »[e]ben da ist das Reale [Hervorhebung von mir – D.M.]«, ergänzt Lacan, »das mehr als alles andere unsere Aktivitäten regiert« (ebd.). Entgegen Lacan-Deutungen, die das Reale vollständig im Bereich des Phantasmatischen ansiedeln, nennt sein ›Dasein‹ folglich eine Präsenz, die gleichwohl keinen ›Ort‹ hat und ohne Permanenz ist. Zwar vermerkt Lacan in seinem Seminar VII, der Ethik der Psychoanalyse, dass das »Reale« immer wieder an seinen Platz rückkehrt, dennoch besetzt es keine lokalisierbare ›Stelle‹, es ist vielmehr an seinem Platz vor allen Plätzen, es kommt ihnen zuvor: Es ist das Verhängnis ihrer Platzanweisung. Deswegen entzieht es sich jeglicher Ankunft und ist »auf der Ebene des Lustprinzips unmöglich wiederzufinden« (Lacan 1996b: 88), ein gleichermaßen Flüchtiges wie Sprunghaftes, das unseren Willen zur Vereinnahmung narrt. An anderer Stelle heißt es in einem ähnlichen Sinne, es sei ein »Darunterliegendes« (Lacan 1996a: 65) – ein Ausdruck, der auf den alten Sinn des hypokaimenons, des subiectums verweist und ihm zugleich die Kraft einer Subjektivität in der eigentlichen Bedeutung des Wortes verleiht: »Dass da ein Reales ist, ist über jeden Zweifel erhaben« (ebd.: 195). Wir haben damit alle wesentlichen Elemente seiner Charakterisierung beisammen: Erstens ist das Reale, obzwar ein Negatives, zugleich ein Nichtbezweifelbares, Nichtnegierbares, zweitens kommt ihm ein Vorrang in den Ordnungen des Begehrens und der Signifikanten zu, der nicht nur dem Bewusstsein gleichwie dem Verlangen seine Machtlosigkeit vorführt, weil ohne es kein Begehren oder Bewusstsein wäre: Es ist der Grund wie die Bedingung aller Lust und allen Sprechens. So wird das »Reale« zum eigentlichen Subjekt oder Akteur, das den Menschen und seine Machenschaften ebenso anspricht und attackiert wie es um-
zwar eine Auszeichnung vorgenommen hat, doch lediglich in der Bedeutung einer Exponierung, die allein dann statthaben kann, wenn ›Etwas‹ – ein ›Anderes‹ – sich bereits exponiert hat. Die Exposition geschieht, m.a.W., im Rücken des ›Ex-‹ der ›Exsistenz‹.
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gekehrt durch das Imaginäre und Symbolische zu einem Objekt depraviert, das seiner Macht entrissen und damit im buchstäblichen Sinne ›entwurzelt‹ ist. Lacan geht es also um diese Bewegung wie gleichermaßen um deren ›Revision‹, ihre Zurechtrückung: das »Reale« ›gibt vor‹; es gibt sich vor, wie der Wunsch es immer schon umgewandelt und verschoben hat, um ihm ein ›Sein‹, eine Bestimmung zu erteilen. Doch gibt es demgegenüber eben nicht vor zu sein – es täuscht nicht über seine ›wahre‹ Natur, ist darum auch nicht ›enttäuschbar‹ – sowenig wie der Diskurs je wissen kann, was es ›sei‹, vielmehr gibt es sich dem Denken vor wie es ihm zugleich zusetzt und es nötigt, Stellung zu beziehen. Nicht das »Reale« wird dann durch den Diskurs ›gestellt‹, sondern der Diskurs durch das Reale – und ist dies nicht auf der anderen Seite der Grund, weshalb die sogenannte Akteurs-Netzwerk-Theorie den Dingen oder besser ihrer Realität erneut einen eigenen Platz zubilligt und sie in ihre Rechte zurückzustellen sucht, weshalb umgekehrt die menschliche Praxis nicht anders kann, als sie beständig wieder von Neuem, und, wie sich ergänzen ließe, vergeblich zu traktieren – und sie, einem glücklichen Ausdruck Andrew Pickerings zufolge, in ihre fortgesetzte Mangel zu nehmen, »die Mangel der Praxis« (Pickering 2007)?
D IE D INGE , S PRACHE
UND DIE MEDIALE
R EFLEXION
Augenscheinlich bezeichnet das Dingliche also ein anderes Anderes als das Andere oder der Andere der ethischen oder phänomenologischen Alteritätsdiskurse. Wie dann angemessen von ihm sprechen? Dazu sei in einem schroffen Schnitt von den vorangegangenen Reflexionen zum Verhältnis zwischen dem ›Realen‹ und der Sprache oder dem ›Medialen‹ zur Frage nach der Dichtung bzw. dem Ästhetischen übergegangen. Als Leitfäden dazu dienen sowohl Walter Benjamins frühe Überlegungen zu einer Sprach- und Übersetzungsphilosophie als auch Paul Celans Gespräch im Gebirg (2002). Letzteres ist die einzige, jemals von Celan verfasste Prosaerzählung, 1959 geschrieben, wie es in seiner Meridian-Rede aus Anlass der Verleihung des Büchner-Preises heißt, in Reaktion auf eine ausgebliebene Begegnung (vgl. Felstiner 2000: 187). Gemeint ist die Begegnung mit Theodor W. Adorno in Sils Maria. In diesem, wie gesagt, ausgebliebenen Gespräch im Gebirg verweist Celan eindringlich auf die unabdingbare Verschränkung zweier unterschiedlicher Reihen von Erfahrungen, die das Religiöse wie Dichterische strukturieren: die Erfahrung durch Wahrnehmung und die Erfahrung des Anderen – man könnte auch sagen, die Ästhetik der Dinge und der Natur einerseits sowie die Ethik des Gesprächs und ihre Beziehung zum entschwundenen Gott andererseits: mit einem Wort: Aisthesis und Alterität. In bei-
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den spiegeln sich unterschiedliche kulturelle Traditionen, wie sie sich im Europäischen seit je her kreuzten: die klassische griechische, die vor allem der physis und dem Sehen, dem theorein zugeneigt war, um sie um der Ethik und Politik willen, die jedoch stets tragisch verfasst blieben, zu befragen, sowie die jüdischchristliche Überlieferung, die wiederum in erster Linie den Menschen und sein Verhältnis zur Transzendenz betraf und darum immer schon ins Hören, dem Sinn für die Stimme und seiner ›ur-sprünglichen‹ Ethizität (vgl. Mersch 2006a) eingelassen war. Beide sind vergangen; vor allem letztere erweist sich durch die Katastrophe der Shoah verschattet, sodass sich die Gesprächspartner, die Unterhaltenden in die Kälte und Unwirtlichkeit des Gebirgs ausgesetzt sehen. Denn der »Jud«, so Celan, ging eines Abends als die Sonne »und nicht nur sie untergegangen« war, »und mit ihm ging sein Name, der unaussprechliche« (Celan 2002: 7), der Name des Anderen gleichwie des unnennbaren Gottes. Ersichtlich reißt Celan mit diesen knappen Bemerkungen einen ganzen Horizont von Bezügen auf: Das Schicksal der europäischen Juden wie das Schicksal Gottes, dem im Sinne der jüdischen Mystik beschworenen »Niemand«, der keinen Namen trägt und keinen duldet; darüber hinaus variiert Celan eine Reihe von verwandten Themen, wie sie bereits in Georg Büchners Lenz und Friedrich Nietzsches Zarathustra und deren Gang »durchs Gebirg« vorkamen, denen jeweils eine Sonne »untergehen« musste, die ›Sonne, die seit Platon für das agathon steht und deren Untergang den Verlust einer Tradition, einer Kultur meint, die hier zugleich auf die Katastrophe der Shoah vorweist (vgl. Nietzsche 1999: 12; 198)11. »Ich bins«, heißt es weiter, »ich und der andre«, und er ging unterm »Gewölk« im »Schatten«, dem »eigenen und dem fremden« (Celan 2002: 7). Immer geht es um diese Dopplung, um das Ich und den Anderen sowie das Eigene und das Fremde, die ebenso zusammengehören wie disparat bleiben, sowie um den Stock, mit dem eine vergebliche Berührung versucht wird – jener Stock, dessen Motiv auch Martin Buber in seinem, im Dialog Daniel von 1913 vorangestellten Gespräch in den Bergen verwendet (Buber 2001: 183ff.)12, um
11 Felstiner (2000: 188) weist darauf hin, dass Celan auf Zarathustras Satz »Nicht nur Eine Sonne war mir untergegangen« direkt referiert, den er offenbar in Heideggers Nietzsche-Buch vorfand (Heidegger 1961: 292). 12 Der erste von sechs Dialogen trägt den Titel Von der Richtung. Gespräch in den Bergen. Dort heißt es: »Unbedürftig einer Stütze und doch willens, meinem Verweilen eine Bindung zu gewähren, drücke ich meinen Stab gegen einen Eschenstamm. Da fühlte ich zweifach meine Berührung des Wesens: hier, wo ich das Holz hielt, und dort, wo es die Rinde traf. Scheinbar nur bei mir, fand ich dennoch dort, wo ich den
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daran jene Taktilität der Beziehung zu exemplifizieren, die vom Es zum Du übergeht. Das Taktile oder Haptische hat die Eigenart, unmittelbar eine Dialektik von Berührung und Berührtwerden zu eröffnen, die Es, Du und Ich zusammenschließt (vgl. Mersch 2002a: 34ff.); bei Celan knüpft sich an sie eine komplexe, nur in Andeutungen ausgesprochene Reflexion, die ihre Erschütterung gerade aus dem Gegensatz der Traditionen, der verlorenen antiken und der vernichteten oder verstorbenen und nur noch als Erinnerung vorhandenen jüdischen bezieht, denn »[n]icht lang wars still, denn wenn der Jud daherkommt und begegnet einem zweiten, dann ists bald vorbei mit dem Schweigen auch im Gebirg. Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei, immer noch […], auch hier« (Celan 2002: 8). Hinsichtlich des Ästhetischen dominiert für das jüdische Verhältnis zur Welt nicht die Anschauung, sondern die Beziehung zum Anderen und insbesondere die Sprache oder die Anrufung Gottes, wie es in Anklang an den Exedus in der immer wieder wiederholten Formel »Höre« zum Ausdruck kommt, sowie vor allem der Name und seine Unnennbarkeit. Letzterer steht dabei nicht nur für die Bezeichnung einer Identität, sondern für die Sprache im Ganzen, vor allem die Sprache Gottes und den Akt der Benennung, wie es Walter Benjamin in seinen Überlegungen Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen formuliert hat, der der Welt ebenso sehr einen Sinn erteilt wie er in seinem Grund unergründlich bleibt (vgl. bes. Benjamin 1977a: 140-157). Tatsächlich haben jedoch bei Celan nur die Pflanzen am Wegesrand eigentliche Namen – sie heißen ›Türkenbund‹ und ›Rapunzel‹, ›Teufelskralle‹ oder auch ›Prachtnelke‹, lauter wohlklingende und unschuldige Namen, die dem Ästhetischen entstammen, denn sie heißen so, wie Celan nahe legt, weil sie so aussehen: Ihr Ursprung ist ihre Ähnlichkeit, die, ohne selbst Augen zu haben, dem Auge entspringt (vgl. Celan 2002: 9). Es ist folglich die Kunst, wie es auch bei Benjamin heißt, die »in gewissen Arten von Dingsprachen« gründet, die allein imstande ist, die auf ewig abwesende »reine Sprache« Gottes irdisch zu ›über-springen‹, um darin erneut den »Zusammenhang mit Natursprachen« zu erretten – und, in gewissem Sinne, gegenüber dem Verhängnis Abbitte zu leisten (Benjamin 1977a: 156). Die menschliche Sprache, als die ›unreine Sprache des Mediums‹, bleibt dagegen rückhaltlos in Schuld verstrickt, wobei die Schuld nicht im Medialen selbst liegt, sondern der unheilvollen Historie, besonders der Geschichte der Shoah. Denn diese habe, indem die Täter dieselben Worte verwendeten wie die Opfer, die Sprache restlos entwertet: das Wort spricht nicht mehr, es wendet sich nicht länger an den Ande-
Baum fand, mich selber« (Buber 2001: 183). Zur Referenz auf Bubers Gespräch in den Bergen vgl. auch Felstiner (2000: 189).
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ren, es hat ihren Bezug eingebüßt, soweit auch der Gott, der »Niemand«, »[nichts] sagt, [nicht] antwortet«. Insbesondere fehlt aber die Beziehung zum Wahrnehmbaren, zur Natur, denn, »Gott sei’s geklagt«, dafür haben die beiden, »der Jud Klein« und »der Jud Groß« ihrerseits »keine Augen«, denn ihnen »hängt ein Schleier davor, nicht davor, nein dahinter […]; kaum tritt ein Bild ein, so bleibts hängen im Geweb«, d.h. in den Gespinsten der Rede, die für das Gesehene blind macht, denn »schon ist ein Faden zur Stelle, der sich da spinnt, sich herumspinnt ums Bild, ein Schleierfaden […]« (Celan 2002: 8f). Nur die Kunst vermag noch zu heilen – Celan thematisiert so in seiner Prosa-Dichtung nicht nur die Entfremdung angesichts der jüdischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, wie man den Text gedeutet hat, sondern grundlegender das Verhältnis zwischen Ding und Sprache, sodass es kaum verwundert, das er letztlich in seinem ganzen Versuch Heidegger näher stand als dem, den er im Engadin, dem Ort Nietzsches, treffen wollte und von dem er nur »glaubte«, er sei Jude. Hatte nämlich Adorno selbst seinerseits prononciert davon gesprochen, dass »[n]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, […] barbarisch« (Adorno 1977: 30) sei13, geht es Celan um das genaue Gegenteil: Der Notwendigkeit des Gedichts zur Erlösung der ein für allemal verdorbenen und beschmutzten Sprache. Ganz offenbar geht es also bei Celan um das Verhängnis, das auch ein ›Ver-Hängnis‹, eine Unmöglichkeit der Sprache ist, aber das Ding geht hier der Sprache voraus, nicht umgekehrt, weil die Sprache nur von ihm her zu uns spricht, uns zuspricht, und ohne dessen ›Zuspruch‹ alles Sprechen »Gerede« bleibt: Der Stein z.B., von dem gemeinhin gesagt wird, er schweige, aber, wie Celan hinzusetzt, »das Schweigen ist kein Schweigen, kein Wort ist da verstummt und kein Satz, eine Pause ists bloß […], eine Leerstelle«, wohingegen die beiden Juden »Zunge sind und Mund«, d.h. andauerndes Gespräch, »und in den Augen hängt ihnen ein Schleier«, während es von den unbemerkten, weil übersehenen Pflanzen, dem ›Türkenbund‹ und der ›Prachtnelke‹ heißt, »ihr armen, ihr steht nicht und blüht nicht, ihr seid nicht vorhanden, und der Juli ist kein Juli« (Celan 2002: 9). Gewiss ›ver-hängt‹ und verstellt – nach der Katastrophe – ein Schleier den Blick für alles Schöne, für die Ästhetik der Natur, weil die Sprache wortlos geworden ist; doch vermag – vielleicht – ein Trost nur von woanders herkommen, dem Zuspruch der Dinge und ihrer ›Zuvorkommenheit‹, eine Möglichkeit, die jedoch bei Celan nur Andeutung, Ahnung bleibt. Dagegen überformt das Gespräch, das unmöglich gewordene – und man könnte hier gleichermaßen das Mediale einsetzen – die Wahrnehmung; es trübt die Sicht auf die Dinge und den Sinn für die
13 Vgl. ebenfalls die Replik Adornos auf die Kritik an diesem Satz (Adorno 1998: 172ff.).
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Gegenwart ein, denn die Sprache bleibt mal um mal unzureichend, trifft nicht mehr, trifft weder den Anderen noch die Natur, sowenig wie die »Erde«, die sich, wie Celan weiter ausführt, »gefaltet [hat] einmal und zweimal und dreimal«, sich »aufgetan« hat, und »in der Mitte steht ein Wasser, und das Wasser ist grün, und das Grüne ist weiß, und das Weiße kommt von noch weiter oben« (ebd.: 9f.): Die Dürftigkeit der Metaphern, die zuweilen einer Litanei gleichen, steht in scharfem Kontrast zur Verletzlichkeit der Natur, zur Singularität ihrer Erscheinungen, die sie nicht zu erreichen vermögen, vielmehr offenbart ihre Differenz umso eindringlicher die Kluft zwischen dem Menschen und der »Erde«, so das Wort Celans, »denn, frag ich, für wen ist sie denn gedacht, die Erde, nicht für dich, sag ich, ist sie gedacht, und nicht für mich –, eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du« (ebd.: 9). Unmerklich schreibt sich so unterhalb der Klage über das zerstörte Gespräch eine Reflexion über die Sprache im Ganzen ein, wobei fast beiläufig das Motiv der Signatur auftaucht, das sich auch bei Benjamin findet und auf das neuerdings wieder Giorgio Agamben in seinen Bemerkungen zur Signatur angespielt hat (Agamben 2009): Die Dinge sprechen, ohne Gespräch zu sein, ohne Übersetzung, ohne Kommunikation oder Deutung, »lauter Er, lauter Es […] und nichts als das« (Celan 2002: 10), wie Celan hinzufügt. Worauf es also Celan ankommt, ist nicht nur die Abwendung Gottes, sondern die Trennung zwischen einer »Sprache« der Natur, die nur metaphorisch »Sprache« genannt werden kann und die im Grunde nicht spricht, nichts sagt, sondern sich nur zeigt (vgl. Mersch 2008a), d.h. im eigentlichen Sinne eine ›Sprache‹ der Ästhetik, der Aisthesis darstellt, und der Rede, wie sich zwischen den Menschen abspielt und hin- und herläuft, dem ›discursus‹ in seiner ursprünglichen Bedeutung, der durch die Geschichte auf immer verdorben zu sein scheint: Ich »hab reden müssen vielleicht, zu mir und zu dir, reden hab müssen mit dem Mund und mit der Zunge und nicht nur mit dem Stock«, wobei der Stock die unmittelbare Berührung, die Dialektik des Haptischen repräsentiert, die bei Buber zu einer Verwandlung ins ›Du‹ wird, gleich, ob es sich um einen anderen Menschen oder ein Naturding handelt. Für Celan ist letztlich auch diese Berührung unmöglich geworden, so unmöglich wie das Du im Angesicht der Katastrophe, »[d]enn zu wem redet er, der Stock? Er redet zum Stein, und der Stein – zu wem redet der?« fragt der Jud Klein, und die selbstgegebene Antwort lautet: »Er spricht und wer spricht […], der redet zu niemand« (Celan 2002: 10). Die Zweideutigkeit der Trauer ermöglicht hier eine doppelte Interpretation: zum einen in Ansehung versagter oder zerstörter Berührung, zum anderen in Richtung einer Expressivität der Natur, die sich spricht, sich ausdrückt, ohne etwas zu sagen oder etwas als etwas darzustellen, d.h. ohne medial, also transitiv oder intentional zu verfahren. Dann hätten wir es nicht län-
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ger mit einer »Sprache des Gesprächs«14, sondern mit einer solchen zu tun, die kaum so genannt und als solche zu gelten vermag, die nicht ›über-setzt‹ oder vermittelt, sondern intransitiv verfährt oder nichtintentional geschieht, d.h. reines Ereignis bleibt. Worauf mit dieser längeren Serie von Halbzitaten aufmerksam gemacht werden sollte, ist vornehmlich die Nähe dieser Sprach- und Dichtungsauffassung, die dem Ästhetischen die Präferenz zu erteilen scheint, zu Benjamins Sprachund Übersetzungsbegriff, aus dem sich in ähnlicher Weise eine Menge zum Verhältnis zwischen Kunst und Sprache bzw. Aisthetik und Medialität lernen lässt. Denn charakteristisch ist ja die elementare Differenz, die Celan zwischen dem Sprechen und der Rede oder schroffer noch, zwischen Sprache und dem »Gerede« zieht und die sich mit unterschiedlicher Nuancierung in zahlreichen, vom jüdischen Denken inspirierten Sprach- und Medienphilosophien wiederfindet: Sagen und Gesagtes bei Emmanuel Lévinas (1998) und – natürlich – Sagen und Zeigen bzw. Sichzeigen bei Ludwig Wittgenstein (1971) (vgl. auch Mersch 2002b: 236ff.). Auffallend ist, dass, anders als bei Wittgenstein, die Differenzreihen ausschließlich in Metaphern der Sprache ausbuchstabiert werden – Sprache hier verstanden aus der duplizitären Funktion einerseits ihres Ausdrucks – das, was Heidegger die »Zeige« genannt hatte (Heidegger 1975: 252ff.) – und andererseits ihres Bedeutens, ihrer Signifikation und Kommunikativität. Sie lässt sich exemplarisch ebenfalls bei Benjamin nachvollziehen. Denn dieser hatte in seinen frühen Arbeiten Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen von 1916 und Die Aufgabe des Übersetzers von 1921, die als Schlüsseltexte zu seinem Gesamtwerk gelten können, die Medialität der Sprache vom Übersetzungsbegriff her zu fassen versucht – und man kann von dort her Motive einer allgemeinen ›Medialitätstheorie‹ rekonstruieren, die freilich bei Benjamin ungeschrieben geblieben ist (vgl. Mersch 2010b). Denn Benjamin konturiert darin auf der Grundlage frühromantischer Sprachphilosophien (Mennighaus 1995: 22ff.; Scholem 1975: 48ff.; Hallacker 2004: 49ff.) eine Theorie der Sprache, die von der Differenz zwischen der »Sprache Gottes« als der »reinen Sprache« der »Namen« und – im Gegenzug dazu – der Bedürftigkeit, weil dem Mangel ausgesetzten menschlichen Sprechen ausgeht (Benjamin 1977a; 1977b), wobei im Grunde die Geschichte einer chronischen Verfehlung erzählt wird. Sie kann mit der Skepsis Celans parallel gelesen werden. Denn die Verfehlung, auf die Ben-
14 Verwiesen sei mit dieser Formulierung auf die Philosophische Hermeneutik und ihre Grundlegung bei Hans-Georg Gadamer, der dem »Gespräch« einen ausgezeichneten Status verleiht. Celan steht insbesondere in Opposition dazu. Vgl. auch die Verkennungen Gadamers in seiner Celan-Deutung (Gadamer 1977: 119-134).
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jamin referiert, spielt zwischen Opazität und Transparenz, zwischen der Vermittlung und der Angewiesenheit auf eine mediale Form sowie der stets unerfüllbaren Hoffnung auf eine unmittelbare Mitteilung, worin sich gleichzeitig die gesamte Tragödie menschlicher Bemühungen austrägt. Denn Benjamin lässt keinen Zweifel daran, dass die göttliche Sprache der Namen, der er den uneingeschränkten Vorzug erteilt, um als Maßstab für alle anderen Sprachen zu fungieren, das absolute Medium ist, gleichsam »die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung« (Benjamin 1977a: 142; 143) als utopisches Ideal, gegenüber der die Relativität der menschlichen Rede, die ihr nur nachzusprechen vermag, der Übersetzung bedarf. Sie bildet, wie Benjamin ergänzt, ihren »Sündenfall« (ebd.: 153). Das besondere, und vielleicht auch Unzeitgemäße dabei ist, dass Benjamin das Mediale nicht als Ermöglichungsstruktur, sondern als Entfremdungsstruktur fasst – und hinzuzufügen ist, dass diese Zweideutigkeit, die der Zweideutigkeit allen menschlichen Tuns im Sinne der Poiesis innewohnt, stets medienphilosophisch zwiespältig diskutiert worden ist: Wahrnehmung, Handlung, Darstellung, Erkenntnis sind nur vermöge medialer Anordnungen möglich, aber diese medialen Anordnungen partizipieren im selben Maße, heideggerisch gesprochen, an der Gleichzeitigkeit von Gewinn und Verlust. Anders ausgedrückt: Es gibt keinen Gewinn ohne Verlust, keine Fortschritte ohne Rückschritte, keine Entdeckung ohne Verbergung, und das Mediale selbst ist der Ort dieser Ambiguität. Ebenso kann diese Ambiguität aber auch zum Ort einer Reflexivität werden – denn die stete, bei aller Behauptung einer Transzendentalität des Medialen auftauchende Frage besteht ja gerade darin, dass von ihr entweder keine Kenntnis erlangt werden kann oder es eines anderen Mediums bedarf, das diese thematisiert, um gleichzeitig dessen Transzendentalität wieder zu durchkreuzen. Denn wie die Annahme jedes weiteren Mediums, gleichsam eines Mediums zweiter oder dritter Ordnung, das Problem bestenfalls in eine Drift, eine endlose Hierarchie von Inklusionen verschiebt, wäre stattdessen davon auszugehen, dass kein Medium seine eigene Medialität inkludiert, mithin eine Negativität rückständig bleibt, die zugleich für es konstitutiv zeichnet. Medienphilosophie nimmt davon ihren Ausgang: Das Mediale erweist sich als ein Entzugsphänomen, worin Produktion und Versagen ebenso ineinander spielen wie Progression und Regression (vgl. Mersch 2008b). Man könnte allerdings Benjamin vorwerfen, dass er mit seiner Idee einer »reinen« oder ›absoluten‹ Sprache an einem längst obsoleten Begriff des Medialen festhält, den er gleichsam mystisch-theologisch auflädt: Eben jene transzendentale Unmittelbarkeit, die als Kriterium dient und das das Motiv einer Unerreichbarkeit oder Unerfüllbarkeit allererst ventiliert. Indessen impliziert eine solche Deutung selbst noch eine Verkennung, weil die ›absolute‹ Sprache für
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Benjamin nicht im Sinne eines Seins zu verstehen ist und damit keiner ›OntoTheologie‹ gehorcht, die wiederum erlaubte, nach der Bestimmung seiner Eigenschaften zu fragen, sondern für ihn die Folie bildet, vor der die genuine Ambiguität des Medialen erst hervortritt. Nirgends geht Benjamin von einem Außerhalb des Medialen aus, wie ebenfalls klar erscheint, dass die Mediation alternativlos ist; doch erweist es sich als ebenso unausweichlich – und darauf kommt es Benjamin an –, dass sie ihre Ankunft verweigert und, wie er ergänzt, den Grund »aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens« (Benjamin 1977a: 155) der Natur ausmacht. Der Zusammenhang mit Celan ist damit offensichtlich: Beider Auffassungen von Ding und Sprache oder Denken und Mediation decken sich und beziehen sich aus der gleichen Quelle. Denn der Name ist auch bei Benjamin weniger durch die Möglichkeit einer Identifizierung bestimmt, als vielmehr durch den Akt des Nennens, der Anderes an Eigenes anverwandelt, ohne seine wesentliche Singularität einzubüßen. Der Name ist dann zuerst das Sagen des Dings gemäß jenes mystischen Sprachdenkens, das den Dingen selbst sowohl ein Gesicht als auch einen Ausdruck verleiht, um an ihnen das unverwechselbare Sichzeigen, ihr Erscheinen in der Bedeutung einer Ekstasis oder Ekphanes hervorzuheben. Ekphanes bezeichnet danach die Erscheinung oder das ›Licht‹, das sie selbst sind, wie Ekstasis ihr Hervortreten oder Herausstehen bedeuten, das – und dies bezeichnet im Grunde das gleiche Wort – an ihre singuläre Ex-sistenz gemahnt. Indessen geht es an dieser Stelle nicht um eine Exegese Benjamins, auch nicht um eine Auslotung seiner Sprachphilosophie im Lichte der Poetik Celans oder gar um die implizite ›Mystik‹ beider – denn natürlich schöpft, wie Gershom Scholem zu Recht betont hat, Benjamin aus der Kabbala, wie das jüdische Denken des 20. Jahrhunderts überhaupt zu großen Teilen der negativen Theologie entstammt, man denke nur an das analog argumentierende Fragment zu Musik und Sprache von Adorno (2003). Entscheidend ist vielmehr, dass an beiden Positionen etwas aufgeht, was das Verhältnis zwischen Ding und Medium im Allgemeinen betrifft – bei Celan mit Blick auf die Differenz zwischen der stummen ›Sprache‹ der Natur und dem »Gerede«, bei Benjamin in Ansehung der Übersetzungsproblematik und ihrer ausbleibenden Adäquation. Dabei geht es weniger um die Beziehung zwischen ›eigentlicher Natursprache‹ einerseits und der sie immer schon übersetzenden menschlichen Sprache andererseits – man könnte auch sagen, zwischen der Realität des Logos und der Konventionalität oder Konstruiertheit der Repräsentation –, sondern um die Verwurzelung jeder Übersetzung – oder Mediation – im Faktum est, dem ›Dass‹ der Ex-sistenz, welcher zugleich die positive Kraft zukommt, unverneinbar zu sein. Wo die Dinge sperrig oder widerständig werden, wo sie sich unserer Zuschreibung und Zwecken
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wehren, nicht weil sie andere Subjekte oder Akteure sind, sondern weil sie überhaupt anders sind, zeugen sie zugleich von ihrer Amedialität – oder besser: einem Amedialen im Medialen –, soweit sie auf etwas verweisen, was sich nicht mediatisieren lässt, was aber zu den Bedingungen der Möglichkeit aller Mediation gehört, sei diese als Übersetzung oder als Erscheinenlassen, als Übertragung oder Transgression, als Aufzeichnung oder Operativität gedacht: das Ereignis ihrer Ex-sistenz. Der mystifikatorische Rückgriff auf die Stummheit der Natur oder die »reine« Sprache Gottes ist dem geschuldet: Sie suchen die Andersheit des Mediums gegen die Andersheit der Alterität zu situieren. »Es gibt Medien, weil es Alterität gibt« (Mersch 2006b: 9), wurde in der Einführung in die Medientheorie postuliert: dagegen ist eingewandt worden, dass es Alterität gibt, weil es Medien gibt. Doch verdankt sich diese lediglich formal argumentierende Umkehrung einer Tilgung des ›Als‹ als Differenzmarker. Denn ein mediatisiertes Anderes wäre immer ein Anderes als Anderes, weil das Medium immer schon die Spaltungen des ›Als‹ vollbringt. Das Mediale ist diese Spaltung, dieser Schnitt, sodass es nur heißen kann, dass es Alterität als Alterität gibt, weil es Medien gibt; doch bleibt die Unbestimmtheit des Anderen, seine Ex-sistenz, der unbedingte Vortrag aller Medialität.
R EFLEXIVITÄT
ALS MEDIALE
P RAXIS
Mehr noch: Am Ort dieser Ex-sistenz ereignet sich im gleichen Moment auch der Umschlagspunkt einer medialen Reflexivität, wie sie sich durch den Übergang von einer medial vermittelten Präsenz zur Präsenz des Medialen im Sinne einer Inversion zwischen preasentia in absentia und absentia in presentia ereignet. Die Möglichkeit solcher Kippung gehört zur Negativität des Medialen selbst. Lässt sich diese – wie bei Benjamin – als chronischer Mangel, als Unerfülltheit ausweisen, die in dem wurzelt, was in der Mediation selbst rückständig bleibt – die Unmöglichkeit, ihre eigenen Bedingungen mit einzuschreiben und damit ihren Grund in sich selbst zu setzen, vermag sich das Mediale umgekehrt an eben dieser Rückständigkeit wieder zu spiegeln. Das Mediale ermöglicht die Mediation; darum kann es nicht selbst zum Teil der eigenen Mediation werden: Es konditioniert diese (vgl. Mersch 2008b; 2011). Gleichwohl zeigt es sich durch den Vollzug der Mediation, wie deren Bruch den Blick auf dessen Bedingt- oder Konditioniertheit zurücklenkt: ›Gegenwendig‹ enthüllt sich an ihr die Medialität des Medialen. Solche Enthüllung ist allerdings nur fragmentarisch möglich, doch erfordert sie eine Kippung gleich jener Vexierung von Vordergrund und Hintergrund, durch die wechselseitige Figur oder Darstellung wie Grund und Materiali-
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tät bzw. Medialität hervorzutreten vermögen. Deshalb kann die Vexierung als paradigmatische Strategie medialer Reflexivität gelten, wie sie den Praktiken des Ästhetischen zu entnehmen wäre. Anders gewendet: Jede Mediation erweist sich als in sich duplizitär oder widersprüchlich: Sie partizipiert an etwas, was ihr notwendig entgeht. Gerade darin manifestiert sich ihre negative Medialität: Sie verweist auf ihre genuin chiastische Verfasstheit. Das bedeutet auch, dass sich das Mediale immer doppelt verstehen lässt – zum einen im aristotelischen und von Herder metaphorisierten Sinn einer Stofflichkeit oder Materialität, durch (dia/per) das sich im Sinne diaphaner Wahrnehmung oder ›diastatischer‹ Handlung etwas mitteilt15, sowie zum zweiten als die Unvollkommenheit jeder Übersetzung und die unaufhebbare Verfehlung im Medialen, die eben deshalb unvollkommen oder fehlerhaft bleibt, weil sich an ihm ein Unübersetzbares oder Amediales findet, dessen Grenze nur in der Zäsur, der Kenntlichmachung eines Hindernisses zum Vorschein kommen kann (vgl. Mersch 2010d). Letzteres rührt an das Übersetzungsproblem, wie es Benjamin ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt hatte und wie es nicht von der Metapher, dem meta-phora der Übertragung oder der metabasis, dem Sprung in eine andere Region begriffen werden kann. Denn, so Benjamin in seinem Aufsatz über Die Aufgabe des Übersetzers, liege dessen »Aufgabe« wie gleichzeitige ›Auf-Gabe‹ vor allem darin, sowohl die Differenz der Sprachen zueinander zu bezeugen als auch gegeneinander ihre »überhistorische Verwandtschaft« deutlich zu machen. Sie bestehen zuletzt darin, dass »in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist […]: die reine Sprache« (Benjamin 1977b: 13). Die ›reine‹ Sprache ist folglich selbst nur eine Metapher, zu der nirgends Zutritt zu gewinnen ist, auch des Zutritts nicht bedarf, weil ihr Sinn ausschließlich im Negativen liegt und sich zur Negativität des Medialen analog verhält, denn »diese Aufgabe: in der Übersetzung den Namen reiner Sprache zur Reife zu bringen, scheint niemals lösbar, in keiner Lösung bestimmbar« (ebd.: 17). Einzig komme es, wie Benjamin ergänzt, darauf an, den Riss, die ›Eintrübung‹ zum Vorschein kommen zu lassen, die ihre Ankunft im Gelingen verweigert. Kurz, es geht darum, die Abstände zwischen den Sprachen ein wenig zu vergrößern und durch eine reflexive Praktik sowohl die Distanz als auch die Untilgbarkeit der Differenz selber ansichtig werden zu lassen. Benjamin bestimmt damit die Mediation aus der Differenz, die die Apo-
15 Hieran schließen sich unsere weiteren Überlegungen zur Bestimmung der Relationalität des Medialen an (Mersch 2010c). Das griechische ›Dia‹ erlaubt dabei den direkten Bezug zur ›Performativität‹ des Medialen in Differenz zur Transformation oder Transgression. Im Folgenden wird das durch die Verbindung der Präposition durch mit dia/per gekennzeichnet.
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rie birgt, in dem Maße immer weiter aufzuklaffen, wie sie übersprungen werden soll. Benjamin behilft sich also, um von dieser ›absoluten‹ Differenz Kenntnis zu erlangen, mit der – im Sinne negativer Theologie – gesetzten Annahme einer »reinen Sprache«, d.h. einer gelingenden, aber letztlich göttlich und damit jenseitig terminierten Mediation, um im ›Menschlichen‹ deren Unmöglichkeit zu behaupten. Wir haben es dann im Begriff der Übersetzung mit einer genuinen Paradoxie zu tun, die ein Differenzdenken installiert – und doch bleibt auch diese Paradoxie im grundlegenden Problem jedes Differenzdenkens, auch des Derridaschen befangen, wie die Differenz als Differenz, ihre différance, die weder ›etwas‹ noch ein ›Begriff‹ ist (vgl. Derrida 1999: 38f.), selbst zur Erscheinung gebracht werden kann. Als ›ewige‹ Absenz, die die Anwesenheit in den Entzug und die Präsenz in eine Abwesenheit stellt, wirft sie, wie auch Jean-François Lyotard gegen Derrida eingewandt hat, die Frage nach der Anwesenheit dieser Abwesenheit, der absentia in praesentia auf (Lyotard 1993: 135). Genau dies bezeichnet aber der Einsatzpunkt sowohl einer ›Posthermeneutik‹ als auch einer ›negativen Medientheorie‹. Denn die Differenz als Differenz vermag immerhin Ereignis zu werden, und zwar dort, wo das Mediale reflexiv gegen das Mediale selber gekehrt wird. An solchen Stellen, wie auch an der Widerständigkeit der Materialität, scheint das auf, was wir eine »negative Präsenz« genannt haben. Sie bedarf der paradoxen Strategie der ›Gegenwendung‹, aus der sich ebenso sehr die ›materialen‹ Reflexionen der Kunst als auch die medialen Reflexivitäten beziehen. Sie lassen sich, erneut als Hinweis, von Benjamin her motivieren, sind es doch nach Benjamin vor allem die Experimente der Kunst, die diesen Schritt zu wagen unternehmen, nicht nur durch die Übersetzung als einer eigenen Kunstform, sondern durch die künstlerischen Praktiken selbst, soweit sie, wie es im Sprachaufsatz heißt, vermöge ihrer »namenlose[n], unakustische[n] […] Sprachen aus dem Material« (Benjamin 1977a: 156), das aufscheinen lassen, was in der Mediation eingeht, ohne in ihr aufzugehen. Genau dieser letztere Gedanke – die Unaussprechlichkeit der reinen Sprache, oder, wie sich auch sagen lässt, die Undarstellbarkeit des Sichzeigens als Ereignen von Ex-sistenz – bildet das maßgebliche Kriterium einer medialen Reflexivität, wie sie in der ästhetischen Reflexion zu begründen ist. Der Kunst fällt dabei die Rolle einer Taktgeberin zu, die mit den Mitteln des Mediums zugleich ein Mitgängiges zu dekuvrieren vermag, dessen sich das Mediale ebenso sehr verdankt wie es sich der Mediation entzieht. Dieses Mitgängige ist gleichzeitig das, was für den Prozess einer Klaffung, eines Auseinandertretens sorgt – dessen, was sich hinsichtlich der ›ontologischen Differenz‹ Heideggers oder der semiologische différance Derridas und der ›ikonischen Differenz‹ Gottfried Boehms
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noch als mediale Differenz ausweisen lässt. Ihre Grundzüge seien abschließend kurz skizziert. Denn mit den Mitteln des Medialen das Mediale selber ›aufreißen‹ zu lassen – diese eigentümliche Operation der Kunst erweist sich stets als riskante, aber immer nur fragmentarisch zu statuierende, weil im Singulären verwurzelte Aktion. Sie gründet in dem, was sich als ›Differenzpraxis‹ apostrophieren ließe. Durch sie gerät das gegenläufige Erscheinenlassen des Medialen – das, was in der Mediation nicht erscheint – zur Spurenlese. An den Rissen oder »Furchen«16, so treffender Ausdruck in der späten Sprachphilosophie Heideggers – und erneut gibt hier die Sprache das Paradigma für die Mediation vor –, an jene Linien oder ›Delineationen‹ also, welche das Sprechen in die Sprache einzeichnet, manifestiert sich das, was Heidegger gleichzeitig ihren »Aufriß« genannt hat (Heidegger 1975: 241; 251f.). Aufrisse sind von Grundrissen zu unterscheiden: Diese bieten eine strukturelle Synopsis, jene bloß gelegentliche Ansichten. Jede von ihnen zeigt anderes. Der Gedanke ist hier: Im oder besser durch das Sprechen und Lesen – dialegerein anstelle von metapherein – bringt sich die Sprache selbst in ihrer Performativität und durch (dia/per) sie zum Vorschein, so jedoch, dass nur einzelne Momente oder Aspekte sichtbar werden, andere aber im Sinne eines notwendigen Spiels von Opazität und Transparenz zurücktreten und verborgen bleiben (vgl. Mersch 2010e). Dann erst zeigt sich erstens das Mediale durch (dia/per) seinen Gebrauch, indem oder dadurch dass dieser die Medialität des Mediums ebenso in Anschlag bringt wie verändert. Indem und dadurch dass sind Konjunktionen, die an Weisen der Performation gemahnen – nach John Langshaw Austin entsprechen sie im Linguistischen der Illokution und Perlokution17. Letztere – weil sie Effekte erzielt und nichtintentionale Ereignisse induziert – erweist sich für unseren Zusammenhang als die relevante Form. Sie macht aus der Verwendung eine ›VerWendung‹, an der das sowohl Transitorische wie Transformatorische zu betonen wäre. Mit jedem Augenblick aber solcher ›Ver-Wendung‹ wie Derangierung oder Deplatzierung schreibt sich das Mediale ins Medium ein um sich gleichermaßen temporal wie lokal umzuschreiben und auf diese Weise kenntlich zu ma-
16 Der Ausdruck »Furche« kommt bei Heidegger in charakteristischer Unterschiedenheit zweimal vor: Im Humanismusbrief und in dem Aufsatz »Der Weg zur Sprache«: Dort legt das Denken »mit seinem Sagen in die Sprache unscheinbare Furchen« (vgl. Heidegger 1947: 112), hier die Sprache selbst, sofern sie spricht (vgl. Heidegger 1975: 252). Der spätere Standpunkt markiert eine Radikalisierung, die zwischen Denken und Sprechen keinen Unterschied mehr macht. 17 Vgl. zur Differenz zwischen Illokution und Perlokution bei Austin und Searle und die Revision des Begriffs des Performativen in der Sprache (Mersch 1997; 2004c).
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chen, was sich direkter Kenntlichkeit entzieht. Das Mediale duldet keine Totalisierung; vielmehr entdeckt es sich durch die performativen Brüche oder Vexierungen hindurch in einer endlosen Serie von Partikularitäten, die fortwährend von der Mediation zum Medium umspringen und wieder vom Medium zur Mediation zurückspringen. Dasselbe hatte Heidegger in Unterwegs zur Sprache vom Denken der Sprache verlangt: als Anstrengung, ihren ›Wegen‹ dadurch zu folgen, dass ihre ›Be-Wegungen‹ oder ›Zeichnungen‹ nachgegangen wird, die sich im Verlauf ihrer Befragung jedes Mal wieder von Neuem zeigen und einzeichnen. Sie sind vor allem das Werk der Dichtung. Wie Dichtung die Sprache beständig von Neuem verschiebt und ›ent-grenzt‹, bezeichnet der Ausdruck »Aufriß« neben seinen architektonischen Konnotationen den ›Durchgang‹ durch (dia/per) die Sprache als dem »Haus des Seins« und der sich mit ihm ereignenden Perforation, wie der ›Riss‹ gleichfalls auf die Skizze und den Entwurf verweist, dem, was in einstiger Entwurfspraxis auch der »Schattenriss« genannt wurde. So verdichtet sich dabei motivisch die ganze Indirektheit des sprachreflexiven – oder verallgemeinert des medienreflexiven – Manövers (Heidegger 1975: 252). Gleichzeitig verhalten sich Aufriss und Grundriss zueinander wie Horizontale und Vertikale. Orthogonal gegeneinander gestellt, verkörpern sie die irreduziblen Dimensionen des Entwurfs, die unterschiedliche Wahrnehmungsräume eröffnen. Nirgends aber lassen sie ein Ganzes sehen, vielmehr lediglich Ansichten, Teilperspektiven oder Ausschnitte sowie Anordnungen und Strukturen, die buchstäblich aus einem Ganzen herausgeschnitten worden sind und nur als Exempel präsentiert werden können. Stellt insofern der Grundriss die diagrammatische Form dar, durch (dia/per) die sich eine Syntax zeigt, erlauben die Aufrisse durch ihre Addition die Herstellung lose miteinander verbundener Eindrücke, die nicht einmal einen zusammenhängenden Begriff offenbaren, vielmehr stecken sie, wie es Wittgenstein mit Bezug auf die Pluralität von Sprachspielen im Vorwort seiner Philosophischen Untersuchungen gesagt hat, »ein weites Gedankengebiet kreuz und quer, nach allen Richtungen hin« ab, um dabei lediglich eine Anzahl verschiedener »Landschaftsskizzen« (Wittgenstein 1971: 9) preiszugeben. Das bedeutet aber umgekehrt: Medienphilosophie gelingt bestenfalls als eine Serie oder Sammlung von Notizen, die nirgends eine vollständige Synopsis oder Theorien zulassen – oder, wie es ebenfalls Wittgenstein pointiert hat: ›Über‹ Sprache lässt sich nicht angemessen sprechen, bestenfalls nur ›von‹ ihr (ebd.: 66). Dieselbe Formulierung findet sich auch bei Heidegger. Sein Gespräch von der Sprache handelt eben ›von‹ ihr; sie überfällt sie nicht durch einen von außen angelegten Begriff (Heidegger 1975). ›Von‹ ihr sprechen meint jedoch, nurmehr ein ›andenkendes‹ Anspielen zu versuchen, eine behutsame Erinnerung oder
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Dichtung, ohne der Versuchung zu erliegen, sie zum Objekt zu degradieren oder zu verdinglichen. Die Sprachlichkeit der Sprache bleibt in der Objektivierung – ebenso wie die Medialität des Mediums – ein anhaltendes Mysterium, denn sie nimmt sich in dem Maße im Diskurs zurück, wie sie sich umgekehrt durch (dia/per) ihre Praxis offenbart. Umgekehrt vermag sich die Sprachlichkeit der Sprache – wie ebenso die Medialität des Mediums – nur dort aufzuschließen, wo auf jede Objektivation verzichtet wird, um einer Folge von Performationen zu folgen, die beständig neue und andere ›Faltungen‹ in der Mediation entdeckt. Das lässt sich, mit Blick auf die künstlerische Praxis, auch so ausdrücken: Die Philosophie des Medialen verdankt sich einem Entwurf reflexiver Gegenprogramme oder »Beulen«, so die berühmte Formulierung Wittgensteins, »die sich der Verstand« – bzw. die ästhetische Praxis – »beim Anrennen an die Grenzen der Sprache« – oder des Mediums – »zugezogen hat«. Sie, die Beulen, wie Wittgenstein fortsetzt, »lassen uns den Wert jener Entdeckungen erkennen« (Wittgenstein 1971: 68). Sie geben Auskunft über das, was ihre Auskunft verweigert. Mediale Dinge können deshalb nicht Gegenstände eines Diskurses werden, sondern allenfalls einer Kunst oder künstlerischen Praxis, welche sie anhaltend ihrer paradoxen Konfigurationen unterziehen. Dem Ding seine ›Dingheit‹ zurückerstatten – darin hatte auch Heidegger im Ursprung des Kunstwerks die zentrale Leistung der Künste gesehen. Deswegen haben diese schließlich der Medientheorie mehr gegeben, als die Medientheorie umgekehrt ihnen zu sagen hätte, denn die Medialität des Medialen findet erst durch die besondere Weise künstlerischer Reflexivität zu ihrer eigentlichen Darstellung.
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Anmerkungen zu einer Ästhetik des Risikos H ANS -T HIES L EHMANN
I
H ETEROTOPOS
UND DAS
L IMINOIDE
Ich werde nicht versuchen, im Anschluss an Foucaults flüchtige Bemerkungen das Theater als Heterotopie zu beschreiben. Ob und unter welchen Bedingungen es eine solche sein kann, hängt ganz von dessen Beschaffenheit ab und ist nicht theoretisch im Vorhinein abstrakt festzulegen. Dies gilt umso mehr als das Theater immer weniger nach Art des Kinos noch einen Illusionsraum mit einem realen Raum vereint oder konfrontiert, wie es Foucault unterstellt, sondern eher metonymische Räume schafft – Räume, die nicht metaphorisch für andere Räume einstehen, die wohl Spuren, Elemente metaphorischer Fiktionalität nutzen, wesentlich aber einen Raum herstellen, der metonymisch in Kontingenzbeziehung zum Zuschauerraum verbleibt. Was also für das Kino zutrifft, die Überlagerung verschiedener Räume, ist für das Theater keineswegs mehr konstitutiv – Verhältnisse, die Foucault, mehr oder weniger mit dem tradierten dramatischen Illusionstheater vor Augen, nicht einbeziehen konnte und die ihn vermutlich auch nicht besonders interessiert haben. Theater ist also keineswegs schon als Theater ein Heterotopos, sondern allein unter spezifischen Bedingungen. Es scheint sinnvoll, heute jedes Theater auf seine »Dramaturgie des Zuschauers« hin zu befragen. Wie man in der bildenden Kunst von einer »relationalen Ästhetik« spricht, in der weniger ein Objekt als vielmehr menschliche Beziehungen Gegenstand der ästhetischen Arbeit werden (vgl. Bourriaud 2002), gleichsam als eine Zuspitzung der »theatricality« im Sinne Michael Frieds (1967: 12-23), so ist postdramatisches Theater in vielen Spielarten als relationale Dramaturgie zu kennzeichnen. Es bleibt indessen die Erkenntnis bestehen, dass im Bereich des Ästhetischen – und hier zumal des Theaters – ob seiner Legierung von realem und ästhetisch vermeintem Vorgang heterotopisch die Normen, Strukturen, Werte einer Gesellschaft, ich möchte mit Judith Butler sagen: ihre »kulturelle Intelligibi-
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lität« (1991: 217), einer Erschütterung, Suspendierung und Befragung ausgesetzt werden können. Wo dies geschieht, lässt sich von einer Ästhetik des Risikos sprechen. Sie wäre dann als abstraktes Kriterium des Heterotopischen zu betrachten. Wenn es an dem ist, dass Theater den Fokus von der ästhetischen Darbietung hin zu einer gemeinsam durchlebten Situation verschiebt – eine, wie sich versteht, immer nur relative Verschiebung – so stellt sich die Frage, ob und wie die Einsichten der Ritualtheorie fruchtbar für das Verständnis von Theater als einer gesellig-gesellschaftlichen und künstlerischen Praxis zu machen wären, in der tatsächlich der Raum des Sozialen insgesamt mit seinen Regeln und Normen immer wieder zur Disposition und infrage gestellt wird. Turner spricht davon, Kunst schaffe in unseren Gesellschaften einen herausgehobenen Ort, den man als »liminoid« bezeichnen, also irgendwie mit dem »liminalen« Stadium bei Ritualen vergleichen könne (vgl. 1982: 20-60). Es gibt in der Liminalität eine Art Twilight Zone, wo die gewohnten Regeln und Distinktionen der Sozietät zeitweise aufgehoben sind – ein Möglichkeitsraum, da sich der Indikativ der sozialen Normen, wie Turner es sieht, hier in den Potentialis versetzt findet. Es handelt sich um eine »Anti-Struktur«, in der die Initianden eine »comitas« (lat. »comes«, der Gefährte) erfahren, und in der gewohnte Unterschiede suspendiert sind. Wohlgemerkt bedeutet das auch bei Turner nicht eine umfassende Kommunion, in der alle eins würden – die einzelnen bleiben unterschieden. Und wenn Turner die Möglichkeit reflektiert, in modernen Gesellschaften könne derartiges dargestellt, verstanden, in einer gewiss verblassten Weise erfahren werden, so ist sofort hinzuzufügen, dass es sich dabei um einen Vorgang handelt, der keineswegs harmonische Einigkeit bedeutet. Die momentan in Suspens gebrachte Ordnung verliert ja in diesem Zustand auch ihre sichernde Kraft. Angst, Ungewissheit, Chaosgefühl entstehen. Die einzige wirkliche Gemeinschaft, die wir haben, sagt Nancy, sei – neben derjenigen der Sterblichkeit – die Gemeinschaft derer, die am Mangel derselben leiden. Das ist weder eine ideologische Gemeinschaft des Werks, noch der schöne flow, den wir bei Festen mit guten Freunden erleben mögen, sondern eher ein Moment des Auskundschaftens der Grenzen von Gemeinschaftlichkeit. Wir dürfen also bei den gemeinsam vollzogenen Suspendierungen der sozialen Normativität in und durch ästhetische Praxis die Differenz zwischen »Liminalität« und dem »Liminoiden« im Sinne Turners (1982: 20-60) nicht aus den Augen verlieren. Jede vorschnelle Identifizierung ritueller Liminalität mit, beispielsweise, dem Theater muss in einer postmodernen Gesellschaft in die Irre führen. Die relative und passagere »communitas« ermöglicht es jedoch immerhin, die soziale Struktur, die Weise des Kommunizierens gleichsam fremd, von außen anzusehen und diese Erfahrung durch die Gemeinsamkeit mit anderen, die diese ebenfalls machen, zu vertiefen. Das ist der (oder jedenfalls ein) Moment des Thea-
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ters – und das bereits, um dies nur anzudeuten, in der antiken Tragödie, die das Publikum mit einem fremden Blick auf die geheiligten und mit Stolz betrachteten Grundwerte der Polis konfrontierte und im tragischen Schrecken tiefe Risse darin entdecken ließ. Man könnte die Varianten dieser Theatererfahrung bei Wagner, Meyerhold oder Artaud verfolgen, sogar bei Brecht in einer gewissen Phase seines Schaffens: in einer nietzscheanischen Intensität der Bereitschaft zum Einverständnis mit jedem, auch dem radikalsten Wandel in der mythisierten rückhaltlosen Veränderung, in dem ›Einverständnis‹ damit, was nicht einfach als ›schöne‹ revolutionäre Bewegung zu denken ist, sondern jede gegebene soziale Ordnung gefährdet.
II
S PRECHAKT S ARAH K ANE
Sarah Kanes letzter Text 4.48 Psychosis, der fast keine Spuren traditionellen Dramas mehr zeigt, beginnt mit einem Sprechakt, der keinem und allen zugleich zugeordnet ist: (A very long silence.) –
But you have friends. (A long silence.) You have a lot of friends. What do you offer your friends to make them so supportive? (A long silence.) What do you offer your friends to make them so supportive? (A long silence.) What do you offer? (Silence.) – – – – – (Kane 2001: 205)
Das »A very long silence« zu Beginn macht in extremer und möglicherweise schmerzhafter Weise die Theatersituation als solche bewusst. Es vereint und trennt Spieler und Betrachter im selben Zug. Die Form ist ein Halb-Dialog; Fragen bleiben ohne Antworten. Vor allem der Gebrauch des Wortes »you« – kontextlos – betrifft hier unvermeidlich auch die Besucher. Und die Themen giving, offering, supporting, friendship beschwören gerade jene Idee, Utopie oder Hoffnung einer »Gemeinschaft«, »communauté«, »community« oder sogar »communitas« im Sinne Turners (1969: 96) herauf, die das Theater notwendigerweise verspricht, aber, natürlich, am Ende auch hier wieder nicht wird einlösen kön-
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nen. Theater ist, so Derrida, immer Verrat eines Versprechens, das es in sich trägt, und das es nicht einzulösen vermag. Immer wieder wird der Text diesen Sprech-Akt, der mich in 4.48 Psychose als Zuschauer meint, aufrufen: »Validate me/Witness me/See me/Love me«. Im Versagen der begehrten Kommunikation aber treffen wir auf die Grenze, errichtet aus Angst, Feigheit, Selbsterhaltungswunsch, Institution, die in der Sozietät – sage ich mit Jacques Rancière in der »Polizei«? – unser Kommunizieren am Ende verhindert. Am Ende von 4.48 Psychosis steht eine vergleichbare Passage: Black snow falls
in death you hold me never free
I have no desire for death no suicide ever had
watch me vanish watch me
vanish
watch me
watch me
watch
It is myself I have never met, whose face is pasted on the underside of my mind
please open the curtains. – – – – – (Kane 2001: 244f.)
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Der letzte Satz verweist in paradoxer Weise ebenso wie der Anfang des Textes auf die Theatersituation. Wir sind es, die inständig gebeten werden, in jedem Sinne unsere »Vorhänge« zu öffnen. Und zwar erst recht, wenn das Theater zu Ende ist. Utopie, Heterotopos: Die Überlagerung eines realen Theaterraums mit einer metonymischen Räumlichkeit des Spiels gibt den Blick frei auf eine andere mentale, soziale, vielleicht auch nur mehr psychoanalytisch fassbare Topik. Ein Theater-Raum, in welchem wir dahin geführt werden, ›dem‹ Begehren, nicht nur dem eigenen, nach einem Öffnen der Vorhänge, Gehör zu schenken. Die Grenze, die üblicherweise die Intimität, den Privatbereich, von der öffentlichen Präsenz als Zuschauer trennt, wird hier erschüttert. Statt anzusehen, werde ich angesprochen, statt nur passiv im Dunkeln ein beleuchtetes Spektakel zu kommunizieren, zieht mich ein derartiges Theater des Sprech-Akts hinein und stellt mich vor mir selbst ungewollt bloß. Dieser Text von Sarah Kane stellt eine letzte Zuspitzung ihres Werkes dar, in dem es immer wieder um krasse Tabubrüche an der Oberfläche geht: Sexualität, Inzest, Gewaltorgien, Perversität, Missbrauch. Und doch kann man fragen, ob nicht der vordergründig ›zahmere‹ Einbruch in die Sphäre des Zuschauers den vielleicht tieferen Schritt einer Transgression darstellt.
III T ABU /J AN F ABRE In diesem Zusammenhang ein paar Überlegungen zu dem Verhältnis von Theater und Tabu. Bei der Applikation der Ritualtheorie auf das Theater hat man im Sinne des tradierten Theaters der Repräsentation und Fiktion den Dreischritt des »sozialen Dramas«1, von dem Turner spricht – also Trennung/Separation, Krise, Lösung oder Wiederzusammenkommen bzw. »reaggregration« (1969: 94f.) –, als das Modell gesehen, das der dramatischen Narration zugrunde liegt, und demgemäß das Theater, indem es »communitas« erleben lässt, als eine Art kollektiven Traum. Das Publikum vereint sich, indem es eine Dramatisierung des »sozialen Dramas« mit Krise und Erlösung halluziniert und sich mit der fiktiven Welt, den Bildern, Worten, Gestalten identifiziert2. Wie das Beispiel Sarah Kane zeigt, kommen wir weiter, wenn wir die Kategorien und Probleme der »communitas« nicht auf die Darstellung, sondern auf die Situation des Theaters als Gan-
1 2
Vgl. zum Konzept des ›sozialen Dramas‹ z.B. Turner (1982: 61-88). Ich greife nicht das methodische Problem der Tautologie auf, die darin gesehen werden kann, dass man die soziale Konfliktualität als »Drama« definiert und sodann im Drama die rituelle Struktur des Sozialen wiederfindet.
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zes beziehen – und dies eben findet im Wechsel zum postdramatischen Dispositiv statt. Jan Fabres Theater kommt von weit her. So erscheinen seine Arbeiten seltsam ganz in und außer der Zeit, archaisch und hypermodern zugleich – ein wenig wie die Figuren Giacomettis (nach dessen Werk Der Palast um vier Uhr morgens (1932) eine Arbeit Fabres benannt ist), die ohne Zeitindex zu sein scheinen: älteste, etwa altägyptische, und vollkommen jetzige Gestaltgebung in einem. Fabres Theater hat etwas von der antiken Tragödie an sich, von der Bilderwelt des Mittelalters, den blutigen Spektakeln und Gemälden des 16. Jahrhunderts, Bosch und Brueghel, von den Zwergen und Deformierten bei Velázquez, vom barocken »Schauplatz« der Trauerspiele und ihrer allegorischen Trauer. Zugleich ist Fabre darin zeitgenössisch, dass er all dies auf seiner Bühne artistisch zitiert – selbstreflexiv, meta-theatral, mit allen Wassern der Postmoderne gewaschen. Dass er mit Performance Art begann, blieb als Motiv in der Radikalität seines späteren Theaters erhalten. Fabre hat über drei Jahrzehnte lang, seit 1980, große Theater-Tableaux und beunruhigende Soli geschaffen. In der ersten Phase ging es mehr um das ›Durcharbeiten‹, Ausstellen, Reflektieren der Aggression. Die Dialektik von diszipliniertester Formalisierung und chaotischem Ausbruch des Körpers führten zu einem »konkreten Theater«. Später rückte die selbstquälerische Introspektion in den Körper ins Zentrum, die Versenkung in Vanitas und Sterblichkeit des sinnlichen, gequälten und lustvollen animalischen Körpers. Aber die grundlegende Spannung von Leib und Form war auf die eine oder andere Weise stets präsent. Ein Wort, das den Geist dieser Theaterarbeit benennt, ist: Risiko. Ästhetische Erfahrung hat es mit dem zu tun, was am Rand des Diskursiven ist, was aus Norm und Regel herausfällt, auch aus der Norm der moralischen Vernunft. Schon Aristoteles verstand die Tragödie als eine aggressive Attacke auf den Zuschauer: Heilung, Katharsis, durch ein vorübergehendes Affekt-Fieber, das das Subjekt außer Fassung bringt. Ohne Tabu-Bruch, keine Kunst. Ohne Risiko der Verletzung, der Beleidigung, nur Entertainment. Kunst ist undenkbar ohne (momentane) Überschreitung einer Grenze3. Darin bleibt Kunst Erinnerung an die Hybris, das Begehren, die Grenzen zu überschreiten, die den Menschen definiert. So, dass das Risiko unvermeidlich ist. In der kleinen Praxis der Kunst übersetzt sich das anthropologische Risiko in ein sehr pragmatisches: Risiko der Verwechslung mit vordergründiger Provokation; Risiko, das die erhoffte ›Katharsis‹
3
Pornographie oder TV Reality Shows usw. sind natürlich nichts als die zynischen Parodien darauf, nicht Wahrheit einer Wiederkehr des Verdrängten, sondern die Lüge der käuflichen Sensation und Schadenfreude.
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verfehlen wird, allein die Empörung erwacht. Seit Artaud war es die Idee radikalen Theaters, neue Spiritualität durch eine Metaphysik des Körperlichen zu gewinnen. Und Performance Art suchte durch Grenzsituationen der Selbstgefährdung den Panzer der kulturellen Verdrängungen zu durchbrechen. Risiko: das Lächerliche, der Verlust des Sinns, Verletzung des Körpers und der Seele. Wenn so offenkundig Sexualität omnipräsent in Fabres Werk ist, so ist sie darin niemals ein einfaches Bild der Lust, schon gar nicht Pornographie, sondern eher Inbild der Verzweiflung der Kreatur. Sie kann geradezu biblisch als Ort der Verzweiflung erscheinen, als Ort der komisch-grotesken Suche nach einem Glück, einer Erlösung, die unerreichbar bleibt. Gerade hier dringen auch immer wieder Ironie und Tragikomik ein, wovon sich tragische Erfahrung heute nicht abtrennen kann. Der Performer bei Fabre ist ›essenziell‹ nackt, auch in Kleidern. Das ist der Beginn, aber ganz und gar nicht das Wesentliche des Risikos der Überschreitung. Gebannt in strengste choreographische Form, dann wieder in chaotischem Zusammenbruch – so erfahren wir den gefährdeten Körper. Man kann das ridiculisieren, sich mit Ekel abwenden, moralisch protestieren. Das ist leicht. Man kann aber auch die Erfahrung der Trauer machen, »Tränen über den Körper« vergießen, über seine Animalität, die wir ersehnen, die uns jedoch – wie das Tor zum Paradies – verschlossen bleibt. Und zugleich über die von »Biopolitik« und Konsumismus missbrauchte Animalität. Und über die Seele in jenen tierischen Körpern, die, gefangen in deren Deformationen, auf Erlösung hofft. Darum vielleicht das Echo der emblematischen Welt des Mittelalters, der Ritter, geheimnisvollen Tiere und Prinzessinnen, des Terrors und der blutigen Groteske des Martyriums. Im Licht seiner Bühne wird der unmetaphorisch nackte Körper ein kritisches Gegenbild zu jenem allzu zeitgenössischen positiven Körper einer Ökonomie der Körperpflege, über den Baudrillard in L’échange symbolique et la mort (1976) Wesentliches gesagt hat. Unsere Zivilisation verdrängt und verleugnet den Körper, und dies umso mehr, als sie ihn fortwährend ausstellt, beleuchtet, präsentiert, sein Styling kosmetisch und medizinisch perfektioniert, tausend Tricks der Jugendlichkeit in die Schlacht gegen sein Altern wirft. Die Unterseite dieser Bilderzivilisation ist der verleugnete Körper, der Schweiß ist, Ausdünstung, Urin und Scheiße, Zittern, Schwäche, Angst im Begehren, Krankheit, Defekt, Anormalität. In den starken Augenblicken, kathartischen vielleicht, führt uns Fabre an den Schock der Scham heran, so dass es uns die Sprache verschlägt. Ist, wie Georges Bataille schrieb, Eros der eigentlich tragische Gott, so führt das Obszöne zum tragischen Kern von Fabres Theater. Ob-scaena – das heißt hier unverhülltes Präsentieren der Körperliquide bis zu Sperma und Urin, Präsenz der lächerlichen Physis mit ihrem Potenzial von Schönheit. Der Körper in Schmerz, Strafe, Erniedrigung findet Lust – noch in diesen Leiden, weil das Versprechen des wirkli-
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chen Lebens jenseits der Grenze, die die Transgression überschreitet, uns nicht verlässt. Das Heilige, das Obszöne, das Tragische, das Erotische verschwimmen. Hier gibt es keine Sicherheit, nur den Versuch. Ihr Gemeinsames ist das Risiko. Wie früher schon Craig oder Witkiewicz, fragt Jan Fabre nach der Möglichkeit der Schönheit, sieht seine Akteure als »Krieger der Schönheit«. Aber was er sucht, ist eben nicht die allgegenwärtige, langweilige Idealisierung der perfekten Schönheit, wo jeder seinen Körper als seinen eigenen public relations agent besitzt. Fabre postuliert: Der Schönheit können wir nur begegnen, wenn sie aus den Wellen der Gefahr, des Risikos, aufsteigt. Schönheit ohne Tragödie bleibt Kitsch. Jacques Lacan hat auf diese Weise Antigone gelesen. »Warum fasziniert uns Antigone?« (Lacan 1986: 293-308), fragte er. Weil, so seine Antwort, Antigone in einer Schönheit erstrahlt, die uns blendet. Und zwar genau, weil sie das absolut Unmögliche tut. Weil sie ein radikales Risiko eingeht. Weil sie die Sache des absolut Verbotenen, des von der Polis verworfenen Bruders, zu ihrer Sache macht: Jemand müsse sich doch der Kriminellen annehmen. Was alle nicht annehmen wollen, dessen Hüterin (gardienne) wird sie. So steht es um die Kunst. Schönheit gewinnt sie in einem Krieg gegen die Limitationen des Gesetzes, als Hüterin des Verbotenen. Und nur so kann sie paradoxerweise dem ethischen Imperativ ihrer Praxis entsprechen, Heterotopos sein. Tatsächlich zutiefst moralisch verwerflich ist dagegen ein Theater, das harmlos ist. Das nicht schmerzt. Das uns zufrieden stellt, wie wir sind. Denn diese ›Kultur‹ ist es, die die Katastrophe vergessen will, in der sich fast alle Körper dieser Welt objektiv befinden. Kunst dagegen hat das Risiko einzugehen, etwas in uns zu berühren – schmerzhaft, peinlich, beängstigend, störend – das vergessen, verleugnet, nicht an der Oberfläche des Bewusstseins aufgetaucht ist. Und doch werden ›moralische‹ (in Wirklichkeit tief amoralische) Vorwürfe immer wieder gerade gegen jene Künstler geschleudert, die hinter die Oberfläche zurückwollen und darum in den verbotenen Kellern der Kultur Unruhe stiften. Die Schönheit in Fabres Theaters ist unverdaulich, sie verlangt vom Zuschauer, dass er sich dem öffnet, was verdrängt ist, nicht auf die Bühne, die Szene darf, hinter der Szene, ob-scaena bleiben sollte. Dem Bild der Schönheit, der Lust am Körper ist ein Element der Störung hinzugefügt, ein sozusagen giftgrüner Farbton. Man denkt an die barocken Stillleben, wo die Früchte und Blumen von allerlei ekligem Getier zernagt werden, um allegorisch memento mori und vanitas anzuzeigen. Vor langer Zeit habe ich daher für Fabres Arbeit den Begriff einer »Ästhetik der Vergiftung« (Lehmann 1993) vorgeschlagen. Das griechische Wort »pharmakon« bezeichnet zugleich eine heilende Medizin und ein gefährliches, möglicherweise tödliches Gift. Der Apfel der Erbsünde war vergiftet. Ich erwähne das nicht als bloße kulturgeschichtliche Assoziation. Sondern um,
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noch einmal, zu sagen, dass es in Fabres Theater um eine spirituelle Suche zu gehen scheint, um ein Theater, das dem ins Kulturelle, ins Unbewusste abgesunkenen Gefühl der Verlorenheit des Menschen in der Sünde (der Trennung von den Göttern) Ausdruck zu verleihen sucht. Gerade das Blasphemische war immer wieder Ausdruck der verzweifelten Suche nach dem Göttlichen. Themen wie die mittelalterlichen Legenden- und Märchenmotive und besonders der heilige Sebastian bestätigen diese Überlegung. Seit wir in einer Welt leben, die von den Göttern verlassen wurde, begegnen wir uns nur dort, wo wir die Verlorenheit, die Leere, die Mortalität miteinander teilen. Zum Beispiel im Theater. Fabres Theater riskiert die Berührung mit der Frage des Glaubens, der Erlösung, des Aufstands der Seele gegen ihre Verkörperung, des Körpers gegen seine Fesselung durch den Geist.
L ITERATUR Baudrillard, Jean, L'échange symbolique et la mort, Paris: Gallimard 1976. Bourriaud, Nicolas, Relational Aesthetics, Paris: Presses du réel 2002. Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Fried, Michael, »Art and Objecthood«, in: Artforum 5, 10 (1967), S. 12-23. Lacan, Jacques, Die Ethik der Psychoanalyse, Das Seminar Buch VII, Weinheim 1996 [Paris 1986], S. 293-343. Kane, Sarah, Complete plays, London: Methuen 2001. Lehmann, Hans-Thies, »Wenn Wut zur Form gerinnt …«, Theaterschrift 3 (1993), S. 90-103. Turner, Victor Witter, From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play, New York: Performing Arts Journal Publications 1982. Turner, Victor Witter, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Chicago: Aldine 1969.
HETEROTOPOLOGIEN
Fluchtlinien Für eine Heterotopologie der Medien S AMUEL S IEBER
K ARTOGRAPHIEN Das Anfertigen von Karten hat seit jeher politische Implikationen: kriegerische Eroberungs- und Feldzüge werden kartographisch geplant, Herrschaftsgebiete und Staatsgrenzen gewinnen auf Landkarten an Kontur, statistische Daten werden räumlich repräsentiert und als Übersichtskarten und Infografiken gesundheits-, wirtschafts- oder sicherheitspolitischer Verteilungen verhandelbar. Topographische Ideale der ubiquitären Verortung und Navigation korrelieren mit politisch-polizeilichen Figuren der Administration, Kontrolle und Regierung – längst nicht mehr nur auf analogen Landkarten und in Atlanten, sondern auch in den intermedialen Konfiguration der facettenreichen Kartenmedien, die gegenwärtig von global zu lokal zoombaren Satellitenbildern im Internet über dreidimensional navigierbare Stadtpläne auf mobilen Geräten bis hin zu schematisierten oder animierten Infografiken in Presse und Fernsehen reichen. Gemeinsam ist diesen ›alten‹ wie ›neuen‹ Medien der Karten und Pläne zweifelsohne eine »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2006), verorten sie doch jeweils Ordnungen der Sagund Sichtbarkeit, die ihrerseits Machtbeziehungen kanalisieren und Subjekte positionieren. Eine jede Kartographie entspricht so einem Dispositiv, das allerdings niemals nur ›disponiert‹, sondern vielmehr selbst ›zur Disposition steht‹. Digitale Kartenmaterialien etwa instruieren nicht nur die alltäglichen Navigationen auf Autobahnen, in Großstädten oder auf Wanderwegen. In jüngsten Katastrophenlagen bilden digitale Kartographien ein »raum-zeitliches Sensorium« (ebd.: 77), das der ›Verwaltung‹ der (staatlich proklamierten) Ausnahmezustände genauso dient wie der Normalisierung der zu bewältigenden Krise. Seit 2005 betreibt beispielsweise das Unternehmen Google eine sogenannte ›Crisis
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Response‹-Webseite, die weltweit bei fast allen größeren Stürmen, Erdbeben und Überflutungen Satellitenkarten in den Dienst der Katastrophenbewältigung stellt. Auf den gewohnt zoom- und schwenkbaren Karten lassen sich wahlweise ›unmittelbare‹ Gefahrenlagen, Hilfs- und Unterstützungsangebote, Weisungen der Behörden, Video- und Bildmaterial der Beschädigungen oder Applikationen zur Suche vermisster Personen ein- und ausblenden (vgl. Abb. 1)1.
Abbildung 1: Google Crisis Response-Karte des »Superstorm Sandy« von 2012
Die Fülle an wohlorganisierten Linien und Symbolen suggeriert hier nicht nur eine lückenlose Bewältigung der Katastrophe, sie erinnert zudem an jene Disziplinartechnologien der Parzellierung und Registrierung, die Michel Foucault in den pestverseuchten Städten im 16. und 17. Jahrhundert ausgemacht hat (vgl. 2004: 25f.). Andererseits verdeutlichen Googles Katastrophenkarten auch eine »Regierungstechnologie des Visuellen«; sie bilden eine gouvernementale Medientechnologie, die »als quasi-polizeiliche Technik[]« einem »Bewältigungsund Sicherheitsphantasma« dient (Hentschel 2008: 195). Nicht zufällig zeichnet Foucault die Entstehung der ›Polizei‹ an der Schnittstelle disziplinarischer und gouvernementaler Machttechnologien im 17. Jahrhundert nach, denn hier bildet sie sich als »Kalkül und […] Technik« aus, »die die Schaffung einer flexiblen, aber dennoch stabilen und kontrollierbaren Beziehung zwischen der inneren Ordnung eines Staates und dem Wachstum seiner Kräfte ermöglicht« (Foucault 2004: 451). Die ›Polizei‹ bedeutet deshalb mehr als die heute geläufige Bezeichnung staatlicher Ordnungskräfte: Sie ist eine politische Figur, die sich beständig um die Adjustierung und (Wieder-)Herstellung flexibler und expansiver Ordnungsprinzipien bemüht. »Polizei, das heißt Verwaltung der Verkehrswege […]«,
1
Vgl. www.google.org/crisisresponse/response.html (19.06.2013).
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»Kontrolle der Zirkulation (von Personen und Waren)«, schreibt Paul Virilio in »Geschwindigkeit und Politik« (1980: 22), und im »Eingang der Souveränität in die Gestalt der Polizei« verortet auch Giorgio Agamben (2001: 99) ein politisches Symptom gegenwärtiger internationaler Kriege und Konflikte. Besagte Figur der Polizei beschränkt sich allerdings keineswegs auf räumliche Organisations- und Verteilungsprinzipien, vielmehr administriert sie auch deren zeitlichen Verläufe: »[U]nsere politische Erfahrung mit den Informationsmedien«, schreibt Jacques Derrida, gründet in der »technische[n] Struktur des archivierenden Archivs«, welche »die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft« bestimmt (1997: 35). Das zeigt sich etwa in den Katastrophenkarten des Erdbebens in Japan 2011 und den folgenden Un- und Störfällen im Kernkraftwerk in Fukushima: Auf Wunsch lokaler Behörden ergänzte Google sein Kartenmaterial der radioaktiv verstrahlten und längst evakuierten Städten der Region durch den Zusatzdienst ›Streetview‹ und also mit dreidimensional navigierbaren Bildern. Das Portal ›miraikioku.com‹ – zu Deutsch: ›Erinnerungen für die Zukunft‹ – bemüht sich, das Andenken an die desertierten Städte wach zu halten2 – wenn auch Ästhetik und Blickregime der navigierbaren Bilder vielmehr an die Inszenierungen von Filmen und Computerspielen des Horrorgenres ›erinnern‹ (vgl. Abb. 2). Das heterotope, weil zugleich unzugängliche und doch erkundbare ›Niemandsland‹ um Fukushima geht mit einem heterochronen Bruch einher3, in dem sich eine medial-polizeiliche Figur um (ab-)schließende Überbrückung kümmert.
Abbildung 2: »Erinnerungen für die Zukunft«, Street-View-Ansicht aus Fukushima
2
Vgl. http://www.miraikioku.com/streetview/en/about (19.06.2013).
3
Zum Zusammenspiel von Heterotopie und Heterochronie vgl. auch Foucault 2001a: 939 sowie die folgenden Ausführungen.
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Hie und da aber wenden sich dieselben digitalen Karten gegen die gleichsam verortenden und verordnenden polizeilichen Kräfteverhältnisse. Auch Widerstand ist kartographierbar, denn Protest-, Revolutions- und Streikbewegungen – etwa im Zuge des Arabischen Frühlings oder der Occupy-Bewegungen – besetzen Räume, demonstrieren auf öffentlichen Plätzen, errichten Blockaden oder residieren in Camps. Wenig überraschend bilden die »Räume des Protests« der Gegenwart eine »komplex strukturierte[] Architektur des Protests, in der ›Online‹ und ›Onsite‹ einander nicht nur strategisch ergänzen, sondern Schauplätze bilden, deren jeweiliges Zusammenspiel unterschiedliche Formen von Beteiligung, Anhängerschaft und Sympathie hervorzurufen vermag« (Mörtenböck/Moshammer 2012: 93). Die Camps, Blockaden und Demonstrationen gegen den Transport von abgebrannten Brennstäben aus Kernkraftwerken im Norden Deutschlands im Jahre 2010 (Castortransport) fanden ihr Pendant etwa in einer experimentellen Visualisierung und Echtzeit-Kartographierung relevanter Twitter-Nachrichten. Die dabei verwendete Karte diente nicht nur der lokalen Organisation und der weltweiten Sichtbarkeit der Protestbewegung: der zeitliche Verlauf aller abgesetzten Nachrichten wurde zugleich archiviert und bietet bis zur Gegenwart eine raumzeitliche Wiedergabe der widerständigen Bewegung (vgl. Abb. 3). Dieselben Karten, die staatliche Rettungs- und Ordnungskräften als polizeiliche Medientechnologie operationalisieren, können so zu einer widerständigen Form werden, deren konträre Sag- und Sichtbarkeitsregime zugleich als Form und Mittel eines widerständigen, politischen Moments dienen.
Abbildung 3: Karten des Protests: Archivierte Verortung thematischer Twitter-Nachrichten während des Castortransports 2010
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»Karten, nicht Kopien machen«, fordern schließlich auch Gilles Deleuze und Félix Guattari, wenn sie »gliedernde oder segmentierende Linien, Schichten und Territorien« um rhizomorphe Auflösungsbewegungen oder »Fluchtlinien« ergänzen (Deleuze/Guattari 1992: 23). Denn anders als die bloß reproduzierende Kopie, »die immer auf eine angebliche ›Kompetenz‹ verweist«, haben Karten »viele Zugangsmöglichkeiten« und beinhalten Momente einer »Performanz« (ebd.: 24). Das Rhizom ist als Denkmodell wie politische Figur wesentlich »Anti-Genealogie« (ebd: 36): Es anerkennt keinerlei Zentrum oder Ursprung und weist noch den autoritärsten und feinmaschigsten Ordnungsprinzipien Brüche und Risse nach, die sich zu widerspenstigen »Fluchtlinien« verbinden und zu Bewegungen politischer »Deterritorialisierung« (vgl. ebd.: 301) verstärken können. Rhizome zu kartographieren bedeutet dementsprechend, Sag- und Sichtbarkeitsordnungen, korrelierende Machtbeziehungen und Subjektivierungsweisen in ihrer raumzeitlichen Verteilungen als heterotope Dispositive zu konturieren. Die digitalen Verortungen der Katastrophenbewältigung bilden ein Mediendispositiv, das – insofern es mit polizeilichen Administrations- und Sicherheitsdiskursen, mit Disziplinar- und Regierungsstrategien einhergeht – Widerstand zu schwächen und Fluchtlinien zu verstopfen sucht. Als gleichsam rhizomorph erweist sich diese ›baumartige‹ Formation der Kartenmedien jedoch, wenn ihnen Protestbewegungen andere Diskursivierungen, neue Sichtbarkeitsverhältnisse und alternative Archivierungsstrategien einschreiben. »Damit es das Politische geben kann«, so argumentiert Jacques Rancière, »muss es einen Ort geben, an dem die polizeiliche Logik und die Gleichheitslogik sich begegnen können« (Rancière 1996: 86f.). Medien – die digitale Karten bietet ein privilegiertes, keinesfalls aber einzigartiges Beispiel – changieren in genau diesem Sinne zwischen politischer Intervention und polizeilicher Ordnung, sie bilden einen Schauplatz, an dem Orte »gleichsam Gegenorte darstellen«, an dem stets ein »System der Öffnung und Abschließung« fungiert (Foucault 2011: 935; 940). Gerade in den mannigfaltigen intermedialen Verflechtungen der Gegenwart zeichnen sich Mediendispositive durch einen solchen heterotopen Spielraum von Disposition und Disponibilität aus.
M EDIEN
ZWISCHEN
D ISPOSITION
UND
D ISPONIBILITÄT
Besagte ›Schauplätze‹ oder ›Spielräume‹ medialer Dispositive sind, wie JeanLuc Nancy zeigt, eine grundlegende Bedingung des Politischen: »Wenn das Mitsein das Sich-Teilen einer simultanen Raum-Zeit ist, impliziert es eine Präsentation dieser Raum-Zeit als solcher« (2004: 105). Anders gewichtet, doch ver-
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gleichbar mit der Rancière’schen Gleichheitslogik versteht Nancy das Politische als einen Ort des gemeinsamen ›Mit-Seins‹, als einen Raum der Ko-Existenz, Kommunikation und des immer schon geteilten Sinns. Der politische Präsentationsraum ist damit keineswegs als mimetischer zu verstehen; er ist nicht »bühnenhaft im Sinne eines künstlichen Raumes«, sondern »im Sinne des Ausschnitts und der Eröffnung einer Raum-Zeit der Verteilung von Singularitäten« (ebd. 2004: 106). ›Ausschneiden‹ und ›eröffnen‹ aber implizieren handkehrum Gesten des Zerteilens und Verschließens; Simultaneität und Reziprozität politischer Räume und ihrer polizeilichen Ordnung treffen sich gerade auf den dispositiven Bühnen des gemeinsamen Erscheinens. In diesem Sinne liegt »[d]er Politik […] mithin eine Ästhetik zu Grunde«, denn die »Verteilung der Anteile und Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten«; sie »definiert die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und bestimmt, wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht […]« (Rancière 2006: 25f.). Abzuleiten ist hieraus die »implizit medientheoretische Einsicht«, welche die Medialität der Medien als politischen Spielraum identifiziert4: »Wo immer sich etwas als etwas ex-poniert, hat eine abwesende Lücke oder Differenz der Wahrnehmung eine momentane, imaginäre Gestalt und Identität gegeben« (Tholen 1997: 104). Es ist ein zugleich verbindendes und trennendes Dazwischen, das die grundlegendste Bestimmung der Medialität bedeutet und in medialen Konfigurationen zugleich disponiert und disponibel erscheint. Die eingangs diskutierten digitalen Karten brechen in mancher Hinsicht mit ihren analogen Namensgebern: intermedial ergänzt durch Fotografien, Videos oder Kurznachrichten, verwendet auch auf anderen Internetseiten, im Fernsehen oder in der Tagespresse, findet sich das kartographische Ideal exakter Repräsentation, Verortung und Navigation zugleich vervielfacht und verhandelbar. Im Zeitalter ubiquitär verfügbarer Digitalmedien, »unter den Bedingungen der digitalen Indifferenz gegenüber Zeichen, Bildern, Tönen und Poetiken« meint die Medialität der Medien »Gestaltwechsel durch Gestaltentzug zu exponieren und zu konfigurieren«; hier ist sie »ein Zwischenraum zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, in dem sich – stets anders – eben dieses ›Zwischen‹ re-präsentiert« (Tholen 1999: 20). Es ist diese, jeder ›medial‹ sag- und sichtbaren Formation inhärente Figur der ›Re-Präsentation‹, die Medien als heterotope Dispositive medienwissenschaftlich beschreib- und politisch verhandelbar macht. Einerseits nämlich verdeutlichen Dispositivanalysen die diskursive Formation der Medien, die ebendiese als »au-
4
Wobei die ›Identifizierung‹ keineswegs auf irgendeine ursprüngliche Identität zu beziehen ist, sondern vielmehr das Spiel kontingenter Identifizierungen meint (vgl. hierzu auch Nancy 2004: 105f.).
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diovisuelle[] Archiv[e]«, d.h. eine »Art des Sagens und eine Weise des Sehens« (Deleuze 1987: 71f.) gestaltet. Entscheidend ist in dieser diskursarchäologischen Perspektive Foucault’scher und Deleuzianischer Prägung in medienwissenschaftlicher Hinsicht, dass die (Trans-)Formation eines Mediums stets Diskurse und Evidenzen »im Medium und über das Medium« umfasst (vgl. Marchart 2004: 43). Bevor Mediendispositive also etwa als ›Kommunikationskanal‹ oder ›Herrschaftsmittel‹ Aussagen machen und Sichtbarkeiten verteilen können, müssen sie kongruenterweise ›selbst‹ sag- und sichtbar werden. Andererseits sind Dispositive »immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben«; sie bilden »Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von denen gestützt werden« (Foucault 1978: 123). Die »Kurven der Sichtbarkeit und die Kurven des Aussagens«, schließen zugleich »Kräftelinien« mit ein, die »das Kommen-und-Gehen vom Sehen zum Sprechen und anders herum« bewerkstelligen (Deleuze 2005: 154). Und sie umfassen nicht zuletzt »Subjektivierungslinien«: eine »Dimension des Selbst«, die – »insoweit es das Dispositiv zuläßt oder ermöglicht« – das Potential (politischer) »Fluchtlinien« birgt (ebd.: 155). Es ist exakt die Relationalität dieses vierdimensionalen »heterogene[n] Ensemble[s]« (vgl. Foucault 1978: 119f.), und nicht etwa die Verbindung von Diskursen mit vermeintlich ›nicht-diskursiven‹ Praktiken, Technologien oder Institutionen, die Medien zu politischen Spielräumen ausformt. Am Beispiel ›polizeilicher‹ Katastrophenkarten verdeutlicht sich nicht nur die verheißungsvolle Diskursvierung eines Mediums der ›Deeskalation‹ mit seiner überschaubar parzellierten Ästhetik: Sag- und Sichtbarkeit gehen hier vielmehr zugleich mit normalisierenden, überwachenden und kontrollierenden Machteffekten einher, die eine durchweg gouvernementale Regierbarkeit der Krise suggerieren, überdies aber auch den flexiblen »Modulationen« einer Kontrollgesellschaft entsprechen (vgl. Deleuze 2004: 256). Ebendiese Kräfteverhältnisse verantworten wiederum spezifische Subjektivierungsregime: das hilfsbedürftige Katastrophenopfer wie die wohl koordinierte Rettungskraft oder die aus radioaktiv verstrahlten Gegenden Evakuierten, deren Unsichtbarkeit sich in den Geisterstädten Fukushimas gerade durch das voyeuristische Blickregime der navigierbaren Bilder in Sichtbarkeit verkehrt. Zugleich aber schließen die Mediendispositive digitaler Karten niemals Widerstand und politische Intervention aus; alternative Subjektivierungen sind genauso möglich wie die Demontage ›verhärteter‹ Machtbeziehungen. Und beide passieren vorrangig durch die Verschiebung tradierter Sag- und Sichtbarkeitsordnungen. Die Twitter-Karte des Protests gegen den Castortransport macht nicht nur lokalen Widerstand weltweit und über dessen zeitlich begrenzte Präsenz ›vor Ort‹ hinaus sicht- und abrufbar, sie weist den demonstrierenden Twitter-Nutzern auch eine vielbeachtete Sprecherrolle zu, durchkreuzt die Überwachungs- und
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Räumungspläne der Ordnungskräfte und diskursiviert so nicht zuletzt Mobiltelefon und digitale Karte als ›widerständige‹ Medien. Als »Matrix für ein Dispositiv« fungiert stets ein »strategische[r] Imperativ« (Foucault 1978: 120). Diese »Prävalenz einer strategischen Zielsetzung« bedeutet aber keine bloß polizeiliche oder hegemoniale Rahmung des Dispositivs, vielmehr lautet noch »das letzte Wort der Macht […], dass der Widerstand primär ist« (Deleuze 1978: 125). Es ist gerade der Clou der Foucault’schen Analytik der Macht, selbige nicht länger repressiv oder herrschaftlich, sondern als relationales Gefüge zu denken, das »nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren« kann, weshalb »Widerstand niemals außerhalb der Macht« liegt (Foucault 1987: 96). Die Momente »funktionelle[r] Überdeterminierung« und »strategische[r] Wiederauffüllung« (vgl. Foucault 1978: 120), welche Genese und Transformation eines jeden Dispositivs bestimmen, belegen also gerade dessen heterotope Formation. Immer gibt es »einzelne Widerstände«, als »nicht wegzudenkende[s] Gegenüber« der Macht (Foucault 1987: 96) – und immer wohnt diesen Widerständen das Potential inne, die Schauplätze des Politischen von neuem zu ›re-präsentieren‹. Zu Recht hält Matthias Thiele fest, »die Produktivität [des] Ansatzes, Dispositiv und Medium modelltheoretisch in eins zu setzen«, liege darin, dass »die verschiedenen Bereiche eines Mediums […] zusammengedacht werden können« (2009: 41). Dieses ›Zusammendenken‹ aber impliziert per se schon ein politischpolizeiliches ›Zwischenspiel‹, in dem Widerstandpunkte und Re-Adjustierungen im Feld der Medien blitzlichtartig beleuchtet – und also sicht- wie sagbar werden. »[D]as Konzept des Dispositivs«, zu diesem Schluss kommt auch Markus Stauff, verlangt nicht zuletzt »eine Infragestellung und Neubestimmung des Gegenstands der Medienwissenschaft« (2005: 121). Dem ist insofern beizupflichten, als dass Mediendispositive in der Tat a priori über eine – gleichsam zu analysierende – politische Dimension verfügen. Denn was Mediendispositive zur Disposition stellen, ist ihre heterotope Formation, d.h. die Simultaneität tradierter Ordnungen, widerspenstiger Subversion und daraus resultierenden Re-Adjustierungen.
F LUCHTLINIEN . H ETEROTOPE M EDIENDISPOSITIVE (Medien-)Dispositive als Heterotopien zu denken impliziert allerdings eine Rekursion in der Werkhistorie Foucaults: Während der Begriff des Dispositivs erst in den machtanalytischen Arbeiten der 1970er-Jahre an Kontur gewinnt5, gehen
5
Ausgearbeitet findet sich das Konzept des Dispositivs v.a. in Der Wille zum Wissen (vgl. Foucault 1987: 77-128), bereits Überwachen und Strafen bedient sich allerdings
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die »Heterotopien« auf den früheren Vortrag »Andere Räume« von 1967 zurück. Letztere beschreiben zunächst »reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen« (Foucault 2001a: 935), neben Friedhöfen, Gärten, Hospitälern und Schiffen rangieren unter ihnen auch mediale Institutionen wie das Kino oder die Bibliothek (vgl. ebd.: 938f.). Heterotopien als bloße Kategorie architektonischer Räume – als Anordnung von Wänden, Mauern, Toren und Wegen – zu verstehen, käme jedoch einer kategorialen Verkürzung gleich: begreift Foucault bereits 1967 die »Geschichte des Raumes« darüber hinaus als eine der »Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten und Elementen« (ebd.: 932), so sind »architekturale Einrichtungen« auch in der Folge lediglich als Element in dispositiven Ensembles zu verstehen, wo sie mit diskursiven Formationen und Machttechnologien interagieren (vgl. Foucault 1978: 119f.). Heterotopien beschreiben deshalb ›räumliche‹ Verteilungen und Bewegungen von Macht und Wissen im weitesten Sinne, wie sie gerade in der Dispositivanalyse zu Tage treten; und eine jede bauliche Architektur ist »nicht bloß ein Element des Raumes, sondern findet Eingang in die sozialen Beziehungen und löst dort eine Reihe spezieller Wirkungen aus« (Foucault 2001b: 338). Das Kompositum der ›heterotopen Dispositive‹ zeichnet sich so zunächst durch Analogien beider Begriffe aus, befördert zugleich aber auch produktive Ergänzungen6. Keineswegs zufällig verdeutlichen sich die kursorisch diskutierten Mediendispositive im Kontext von Protesten und Katastrophen – die Spur der »Anderen Räume« beginnt gleichermaßen in sogenannten »Krisen- und Abweichungsheterotopien«: Die Gymnasien und der Militärdienst des 19. Jahrhunderts oder Hospitäler und psychiatrische Kliniken bilden Orte für Menschen, »welche sich im Verhältnis zu der Gesellschaft oder dem Milieu, in denen sie leben, in einem Krisenzustand befinden« (Foucault 2001a: 936f.). Diese ›Verortungen‹ der Krisen zeigen zugleich die Ausbildung dispositiver Formationen an, »deren Hauptfunktion zu einem gegeben historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand […] zu antworten« (Foucault: 1978: 120). Doch weder die Einrichtung von Heterotopien noch die Installation eines Dispositivs etabliert eine starre und unumstößliche Ordnung. Heterotopien stellen »mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort
der entscheidenden Bestimmungen der Dispositive, wenn hier auch mehrheitlich von »Macht/Wissen-Komplexe[n]« die Rede ist (Foucault 1977: 39). 6
Für eine Verbindung der Konzepte des Dispositivs und der Heterotopie spricht nicht zuletzt auch, dass Foucault seinen 1967 gehaltenen Vortrag noch 1984, kurz vor seinem Tod und nach dem Erscheinen seiner eher machtanalytisch geprägten Werke, zur Veröffentlichung freigab.
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nebeneinander« (Foucault: 2001a: 938), weshalb sie immer ein Spiel der Macht implizieren, d.h. weder »in der ursprünglichen Existenz eines Mittelpunktes« noch »in einer Sonne der Souveränität« gründen, »sondern in dem bebenden Sockel der Kräfteverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind« (Foucault 1987: 93f.). Es ist dieselbe Instabilität der Dispositive der Macht, die auch Heterotopien zu veränderlichen Orten macht, die zwar »eine ganz bestimmte, innerhalb der betreffenden Gesellschaft genau festgelegte Funktionsweise« haben, aber »je nach Synchronie der Kultur, in der sie sich befinde[n], […] eine ganz andere Funktionsweise erhalten« können (Foucault 2001a: 937). So, wie der Friedhof als heterotoper Ort zwischen Leben und Tod historisch seine Beziehung zur Stadt und zur Gesellschaft verändert, so sind Dispositive ebenso wenig vor Verschiebungen, vor Um- und Einbrüchen gefeit. Genau diese Veränderlichkeit illustriert die intermediale Expansion der analogen Landkarte auf digitalen Geräten, die neben Zäsuren – etwa die stufenlose Skalierbarkeit oder ihre Bebilderung und deren Navigierbarkeit – auch auf Persistenzen wie das kartographische Ideal exakter Verortungen und uneingeschränkter Sichtbarkeit verweist. Gerade ›zwischen‹ Umbruch und Kontinuität sind Mediendispositive so nicht nur heterotop, sondern zugleich heterochron. Im Sinne von Informationsspeichern formen Medien – Foucault dienen die Bibliothek und das Museum als Beispiele – »Heterotopien der Zeit, die sich endloser Akkumulation hingeben« (ebd.: 939). Die mediale Archivierung jener Diskurse und Evidenzen, »die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein« (Foucault 1973: 189), bedeutet zugleich ihre heterochrone »Verbindung mit zeitlichen Brüchen« (Foucault 2001a: 939). Doch ist es keineswegs die nur vermeintlich gleichgültige Archivierung in Mediendispositiven, die ihren politischen Spielraum ausmacht, sondern vielmehr das audiovisuelle Archiv dieser Medien ›selbst‹, d.h. der raumzeitliche Verlauf ihrer Sag- und Unsagbarkeit, ihrer Sicht- und Unsichtbarkeit als Medium7. Eine »Philosophie der Dispositive« zeichnet sich, wie Gilles Deleuze unterstreicht, durch die »Zurückweisung der Universalien« aus: Zwar sind jedem Dispositiv »Prozesse der Vereinheitlichung, der Totalisierung, der Verifizierung, der Objektivierung, der Subjektivierung« immanent, aber »[d]as Eine, das Ganze, das Wahre, das Objekt, das Subjekt sind keine Universalien«, sondern »singuläre Prozesse« (Deleuze 2005: 157). Insofern bildet ein Machtdispositiv wie auch
7
In diesem – medialen wie medientechnischen – Kontext scheint die Verbindung des diskursanalytischen Begriffs des Archivs, wie ihn Foucault geprägt hat, mit der Dekonstruktion des ›topo-nomologischen‹ Archivs bei Jacques Derrida durchaus kombinierbar (vgl. ausführlich: Foucault 1972: 183-189; Derrida 1997: 12f.).
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eine heterotope Architektur eine metaphorische Räumlichkeit, die »keine einfache Identität, kein ontologisch fixierbares Sein« (Tholen 2002: 44) besitzt, sondern erst in den Wahrheitsspielen ihrer Sag- und Sichtbarkeiten wirkkräftige Kontur gewinnt – sei es in Form autoritärer Unterdrückung oder als politisches Aufbegehren. Zugleich tauchen hier die politischen Spielräume (digitaler) Medien auf, denn die »›uneigentliche Uneigentlichkeit‹ des Metaphorischen ähnelt […] derjenigen des Mediums in seiner digitalen Gestalt« (ebd.). In ihren divergierenden Diskursvierungen und noch in ihren intermedialen Bezügen implizieren die Mediendispositive der Gegenwart so stets ein vereinheitlichendes und totalisierendes, durchaus polizeiliches Moment; doch dieses entspricht einer singulären – und also pluralisierbaren – Schließungsform immanenter Bruchlinien und Zäsuren. Die heterotope Bedingung eines »System[s] der Öffnung und Abschließens« (Foucault 2001a: 940) gilt so auch für (Medien-)Dispositive: wo sie aufteilen und territorialisieren, dort verhärten, verstopfen und institutionalisieren sie Machtbeziehungen zu Herrschaftsverhältnissen. Gleichzeitig aber wird »[e]in gesellschaftlicher Bereich […] unaufhörlich von allen möglichen Decodierungsund Deterritorialisierungsbewegungen belebt«, die »keine Widersprüche, sondern Fluchtbewegungen sind« (Deleuze/Guattari 1992: 300). Es ist diese dispositive Koexistenz von Segmentarisierungs- und Fluchtlinien, die für Deleuze und Guattari jede Politik zwischen »Makropolitik« und »Mikropolitik« changieren lässt (vgl. ebd.: 290ff.). In diesem produktiven Zusammenspiel bildet die Figur der Polizei den Versuch, jede »Konnexion« widerständiger Fluchtlinien in eine vereinigende »Konjugation« umzuleiten: es kommt zu »Übercodierungen und Reterritorialisierungen« gerade dort, wo sich widerständige Fluchtlinien zu deterritorialisierten Strömungen verbinden (vgl. ebd.: 300f.). Die digitalen Kartographien der Gegenwart sind Karten des Protests insofern, als ihnen die Decodierung tradierter Sag- und Sichtbarkeitsregime und eine Deterritorialisierung verhärteter Segmentaritäten und Verortungen gelingen. Ihre Fluchtlinien aber bilden zugleich die Zielscheiben polizeilicher Ein- und Zugriffe, deren Ziel die Bündelung, Übercodierung und Reterritorialisierung jeder Widerspenstigkeit darstellt. Die Katastrophenkarten und -bilder im Dienste der Krisenbewältigung, wie auch die – etwa an Flughäfen und in Einkaufszentren vereinzelt bereits praktizierte – Verortung und Überwachung von Mobiltelefonen zwecks sicherheitstechnischer oder marketingstrategischer Verdatung individueller oder massenhafter Bewegung sind Exponate dieser dispositiven Re-Adjustierungen. Das gegenwärtige Zeitalter gouvernementaler Sicherheitsdispositive und kontrollgesellschaftlicher Modulationen zeichnet sich in erster Linie durch die Expansion polizeilicher Machttechnologien aus – gerade diese verweisen indes nicht zuletzt auf einen politischen Raum wuchernder Widerstände. »Das letzte Merkmal der
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Heterotopien«, so verdeutlicht Foucault, ist ihr Funktionieren zwischen zwei extremen Polen: »[E]ntweder sollen sie einen illusionären Raum schaffen, der den ganzen realen Raum […] als noch größere Illusion entlarvt«, oder aber »sie schaffen […] einen anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist« (Foucault 2001a: 941).
M EDIALE H ETEROTOPOLOGIEN »Es ist einfach, jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Beziehung zu setzen«, schreibt Gilles Deleuze, »nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die Gesellschaftsformen ausdrücken, die fähig sind, sie ins Leben zu rufen und einzusetzen« (2004: 258f.). Die vergleichbare Forderung Michel Foucaults, neben »der Geschichte der industriellen auch die der politischen Techniken zu betrachten« (2005: 228) hat zweifelsohne auch und gerade im Feld medialer Technologien und ihrer Re-Präsentationen zu gelten. Medien als Dispositive zu denken, bedeutet dann zunächst ihre zeitgebundene Sag- und Sichtbarkeit mit denjenigen Diskursen und Evidenzen zu korrelieren, die sie hervorbringen und stützen, herausfordern und verändern. In diesen ›politischen‹ Spielen der Wahrheit gründen die Machteffekte und Subjektivierungsregime der Medien, die von autoritären Souveränitätsfiguren bis zu hochflexiblen Regierungs- und Selbsttechnologien reichen, immer aber auch Einfallstore alternativer Kräfteverhältnisse und Fluchtlinien widerständiger Subjektivitäten aufweisen. Das simultane und produktive Wechselspiel solcher politischen Figuren in Mediendispositiven bedeutet jedoch keine Antinomie; vielmehr weist sie Mediendispositive als heterotope Konfigurationen der Medialität aus. Eine ›Heterotopologie der Medien‹ betreibt so nicht nur eine Kombinatorik medialer und politischer Technologien, sie konturiert zugleich die Dispositive der Medien als Disponibilität des Medialen, d.h. als Oszillieren zwischen Segmentierungs- und Fluchtlinien, zwischen Macht und Widerstand, zwischen Momenten politischer Intervention und polizeilicher Re-Adjustierung. Im gegenwärtigen Zeitalter digitaler Medien, das zugleich eines der gesteigerten intermedialen Relationen ist, fordert eine Heterotopologie der Medien dergestalt noch die Episteme der Medienwissenschaft als politisches Projekt heraus. Die Debatten um intermediale Modi zwischen Konvergenz und Hybridisierung (vgl. auch Ochsner 2010), in denen die Rede mitunter von ungebremster Vereinigung medialer Technologien und Institutionen, aber auch von ästhetischen oder kulturellen Spannungszuständen medialer Formen ist, impliziert nicht weniger als die Frage um Apriori polizeilicher Regime oder politischer Interventionsmöglichkeiten. Ein politisches Denken der Medien aber hat der Gleichzei-
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tigkeit und dem Wechselspiel beider politischen Figuren Rechnung zu tragen, d.h. gerade die Dispositive der Medien zur Disposition zu stellen. In den Feldern der Medien wie der Medienwissenschaft steht dabei nicht weniger auf dem Spiel als jene Herausforderung des Politischen, die Foucault anhand des Schiffs – dieser »Heterotopie par excellence« – pointiert zum Ausdruck bringt: »In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume. An die Stelle des Abenteuers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle der Freibeuter die Polizei« (Foucault 2001a: 942).
L ITERATUR Agamben, Giorgio, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich: Diaphanes 2001. Deleuze, Gilles, »Was ist ein Dispositiv?«, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 153-162. Deleuze, Gilles, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 254-262. Deleuze, Gilles, Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Tausend Plateaus, Berlin: Merve Verlag 1992. Derrida, Jacques, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkmann + Bose 1997. Foucault, Michel, »Die Maschen der Macht«, in: ders., Analytik der Macht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 220-239. Foucault, Michel, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Foucault, Michel, »Von anderen Räumen«, in: ders, Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 931-942 (= Foucault 2001a). Foucault, Michel, »Raum, Wissen und Macht«, in: ders, Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 324-340 (= Foucault 2001b). Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Foucault, Michel, »Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Departement der Psychoanalyse der Universität Paris/Vincennes«, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 117-175. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973.
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A BBILDUNGEN Abbildung 1: Google Crisis Map, »Superstorm Sandy«, http://google.org/crisismap/ sandy-2012 (19.06.2013). Abbildung 2: Google Memories for the Future, »Japan: Before and After the Earthquake and Tsunami«, http://www.miraikioku.com/streetview/en/?ll= 37.492139,140.994465&h=18&p=-2 (19.06.2013). Abbildung 3: live-map.de, http://live-map.de/ (19.06.2013).
Darüber nachdenken, ›an welchem Punkt der Erdoberfläche man sich befindet‹ Verfahren künstlerischer Kartographie bei Rimini Protokoll am Beispiel des Projekts 50 Aktenkilometer B IRGIT W IENS
E INLEITUNG : (T HEATER -)S ZENOGRAPHIE UND K ARTOGRAPHIE Szenographie ist eine gestalterische Disziplin, die im Theater und in anderen Kontexten (wie z.B. Ausstellungen und Museen) sowie in unterschiedlichen künstlerischen bzw. nicht-künstlerischen Genres (wie Film, Spiel- und OnlineUmgebungen oder auch Eventdesign) ihr Betätigungsfeld hat (vgl. Brejzek/Mueller von der Haegen/Wallen 2009; Bohn/Wilharm 2009: 9-43)1. Schon das Theater der Antike begründete die Szenographie als (Teil-)Disziplin der in ihm versammelten Kunstformen, wobei sie (als Bemalung der Bühnenhausfront, ›skene‹) die Aufgabe übernahm, den Spielort mit visuellen Mitteln zu definieren und dazu beizutragen, den Spielvorgang ästhetisch zu verorten. Als am Beginn der Neuzeit die ersten geschlossenen Theatergebäude errichtet wurden, wurde
1
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Kapitel »Bewegte Räume, reisende Blicke: Szenographie als künstlerische Kartographie« meiner Studie Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts (hervorgegangen aus derm gleichnamigen DFG-Projekt, Publikation voraussichtl. 2013) und basiert z.T. auf meinem Vortrag »Kartographie als ›kulturelles Skript‹: Performative Dimensionen [am Beispiel von Projekten des Theater-Kollektivs Rimini Protokoll]«, gehalten an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart im Mai 2012.
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der Begriff scenographia von da an gleichbedeutend mit ›Perspektive‹ und dem zentralperspektivisch konstruierten Bild der Kulissen (vgl. Balme 2005; Ott 2010). Demgegenüber setzte das Auftreten moderner Szenographie am Beginn des vergangenen Jahrhunderts mit einem Ikonoklasmus ein (A. Appia, E.G. Craig). Die Verwerfung von Guckkasten und überkommener Kulisse, die Favorisierung der offenen Raumbühne, die Einführung praktikabler Bühnenelemente (Modularisierung) sowie die Ausstattung der Bühnen mit moderner Technik (z.B. Lichttechnik) und die Erprobung ›theaterfremder‹ Medien (wie z.B. Film) waren die wichtigsten Tendenzen. Die Szenographie, traditionell eine Bildkunst, wurde zur Raumkunst. Mit den Experimenten der Neo-Avantgarde und mit den Spielarten des postdramatischen Theaters zeichnete sich in der zweiten Jahrhunderthälfte eine weitere Ausdifferenzierung ab: Definiert als angewandte Kunst und ästhetischer Diskurs über Räume2, wurde der Szenographie eine Tendenz zur Intermedialität und medialen Hybridisierung geradezu inhärent. Ein wesentlicher Faktor bei dieser Entwicklung war die Erkenntnis, dass es nicht notwendig einer festen Bühne bzw. eines Theatergebäudes bedarf, damit sich Theater ereignet. Vielmehr wird der Theatervorgang in seiner Medialität inzwischen dahingehend definiert, dass er als ein von Akteuren und Zuschauern gemeinschaftlich in Gang gesetzter ästhetischer Vorgang zu begreifen ist, der – heterotopisch – überall stattfinden kann (vgl. z.B. Roselt 2005). Seine Merkmale sind die Reflexion des Theaters als Ort (einschließlich der diversen Formen von Theater im öffentlichen Raum wie urbane Intervention, ›Site-Specific-Theater‹ etc.), die Hybridisierung der Szene, die experimentelle Bezugnahme auf andere Medien und die Tendenz zu einer (Selbst-)Thematisierung von Szenographie. Entsprechend muss, wie die Raumwissenschaftlerin Thea Brejzek und andere betont haben, auch jede theoretische Diskussion und Analyse von Szenographie damit umgehen, dass es – bedingt durch diese inter- bzw. transdisziplinäre Ausdifferenzierung – wohl noch nie ein so breites Spektrum szenographischer Spielarten gab wie heute: »Szenographie manifestiert sich […] weit über das Theater (Bühnenbild und Bühnenraum) hinaus in all jenen Bereichen räumlicher Gestaltung, denen inszenatorische, narrative und transformative Grundmuster bzw. Aspekte eingeschrieben sind. Räume, die solchermaßen entworfen, konstruiert und erlebbar sind […], sind Hybride im Sinne eines komplexen Zusammenspiels ›konkreter und virtueller Eigenschaften, statischer und mobi-
2
Vgl. Patrice Pavis, der die Szenographie als Kunst und als angewandte Wissenschaft von der »Organisation der Bühne und des Bühnenraums« bzw. als Dispositiv definiert (1996: 314).
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ler Domains, öffentlicher und privater Sphären, globaler und lokaler Interessen‹ […]. Es ist der transdisziplinäre Charakter der Szenographie, der ihre Applikationen so weitläufig macht und [sie] gleichzeitig […] so schwer fassbar erscheinen lässt.« (Brejzek/Mueller von der Haegen/Wallen 2009: 370f.)
Mithin wird die Auseinandersetzung mit der Produktion von Raum, den gewählten szenographischen Verfahren und/oder die Beobachtung unterschiedlicher pluri- bzw. intermedialer Raumphänomene zum Thema und Reflexionsgegenstand eines künstlerischen Projekts selbst. Die Kunstwissenschaftlerin Pamela Scorzin hat vorgeschlagen, solche Vorgehensweisen als »Metaszenographie« zu beschreiben (vgl. 2011). Einschlägige Beispiele für einen solchen Ansatz sind, so die Ausgangsbeobachtung des vorliegenden Beitrags, die Arbeiten der Theatergruppe Rimini Protokoll: Ihre experimentellen, meist intermedialen Spielanordnungen machen die Reflexion über Orte bzw. Räume oftmals selbst zum Thema – und dies in einer Weise, die nahelegt, die Projekte nicht nur wie häufig geschehen unter inszenatorischen und dramaturgischen Gesichtspunkten3, sondern dezidiert aus szenographischer Perspektive zu betrachten. Die Künstlergruppe, die aus dem Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft hervorging und zu der Helgard Haug, Daniel Wetzel und der in der Schweiz gebürtige Stefan Kaegi gehören, arbeitet seit dem Jahr 2000 unter dem Label »Rimini Protokoll« zusammen. Formal experimentiert das Kollektiv vor allem mit dokumentarischen Theaterformen, mit Spielanordnungen im öffentlichen Raum (z.B. Audiotouren) sowie mit Hörspielen. In fast allen ihrer Konzepte spielt die Auseinandersetzung mit Medien wie Satellitenfernsehen, Video, Telefon etc. eine wichtige Rolle. Üblicherweise legen Rimini Protokoll ihren Projekten keine Dramentexte zugrunde, sondern erarbeiten – basierend auf Realitätserkundungen – Spiel›Scripts‹ bzw. -›Protokolle‹, in die oft theaterfremde visuelle bzw. akustische Erzählformen Eingang finden. Theaterferne Texte bzw. ›Scripts‹ wie Computerspiel-Programme oder auch Stadtpläne, Landkarten, Statistiken u.a.m. werden in die Projekte so integriert, dass sie deren dramaturgische bzw. szenographische Struktur prägen und ihre ästhetische Form sogar bestimmen. Ein Beispiel hierfür ist Mnemopark (2005), bei dem ein Landschaftsmodell mit Miniatureisenbahn einen Theaterabend lang zum Anlass wurde, um Statistisches, Faktisches und Fiktives über die Schweiz zu erzählen. Ein weiteres Beispiel, das im Folgenden
3
Vgl. z.B. die Rimini-Protokoll-Monographie von Dreysse/Malzacher (2007); eine Ausnahme bildet darin der Beitrag von Annemarie Matzke, »Riminis Räume« (ebd.: 104-115).
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näher vorgestellt werden soll, ist das Projekt 50 Aktenkilometer (2011): Ausgestattet mit GPS-Telefon, Kopfhörern und einem Stadtplan wurde das Publikum eingeladen, im Stadtraum Berlins die Spuren des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (kurz: Stasi) zu verfolgen. Kaum entspricht das Vorgehen solcher Arbeiten konventioneller Szenographie und Inszenierung, sondern eher einer ›künstlerischen Kartographie‹, einem experimentellen Mapping. Derartige mediale Hybridformen machen die kulturelle Verfasstheit von Raum metaszenographisch zum Thema: Welchen ›Scripts‹ folgen unser Raumdenken, unsere Wahrnehmung und Orientierung?
S TADT -P LAN , L ANDKARTE , G OOGLE -M AP . Z UR M EDIALITÄT DER K ARTE »Wer Karten benutzt, will wissen, an welchem Punkt der Erdoberfläche er sich befindet.« Dieser Satz stammt von dem Kunsttheoretiker Gottfried Boehm (2007: 83)4. Implizit ist damit jene vermehrte Aufmerksamkeit für die Raumfrage angesprochen, die sich, prominent mit bedingt durch die ›Zäsur der Medien‹ (das Aufkommen von Digitalmedien und Internet), um die Jahrtausendwende in den Künsten und im kulturtheoretischen Diskurs abzeichnet. Es ist eine Diskussion, die sich, wie Georg Christoph Tholen prägnant zusammengefasst hat, zwischen zwei Polen bewegt: zum einen der These vom ›Verschwinden des Raums‹, mit der man prognostizierte, dass unter der Flut der immateriellen, über weltweite Kommunikationsnetze Echtzeit-schnell zirkulierenden Daten der materielle Raum an Bedeutung verlöre und gleichsam verschwände, und zum anderen der These von einer ›Wiederkehr des Raums‹, die den Blick auf den ›neuen Raum‹ des sogenannten Cyberspace lenkte (vgl. Tholen 2002: bes. 112). Im Kontext dieses neuen medien- und kulturtheoretischen Interesses diskutierte man alsbald die Frage, auf welche Weise die Vielzahl jener virtuellen Ereignisse, die in den Datenräumen der neuen, allseits genutzten computerbasierten Telekommunikation (vor allem des Internet) stattfinden, ihrerseits in den ›Realraum‹ zurückspielen und dort möglicherweise sozial, ökonomisch oder gar politisch relevant werden (vgl. Bachmann-Medick 2009). Vielfach war von einer neuen ›Ortlosigkeit‹ menschlichen Seins die Rede5. Wie um jene Visionen vom ›bodenlosen‹ Global Village zu widerlegen, zeichnete sich alsbald gerade in den Medien digitaler
4
Vgl. das Kapitel »Offene Horizonte« in Boehm (2007: 72-93).
5
Zur These, dass »globale Infrastruktursystem der Telekommunikationsnetze […] den Platz, von dem aus man kommuniziert«, bagatellisieren, vgl. u.a. Willke (2001: 13f.).
Verfahren künstlerischer Kartographie
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Kommunikation ein Interesse an Strategien einer geo-referenziellen (Rück-)Verortung ab: Innovative Kartierungstechnologien und Online-Werkzeuge wie GPSSysteme, Google Map, Google Earth u.a.m. fanden Verbreitung6. All dies stellt auch die Künste vor neue Fragen. Kaum zufällig ist zu beobachten, dass sich in jüngerer Zeit die bildenden Künste und auch die ›Raumkunst‹ Theater mit dem (eigentlich kunstfernen) Sujet der Karte bzw. Kartographie auseinandersetzen. Bevor nun am Beispiel des Rimini Protokoll-Projekts 50 Aktenkilometer über Verfahren der künstlerischen Kartographie zu sprechen ist, sei vorab der Versuch einer Klärung unternommen: Was eigentlich ist eine Karte? Karten – in gewisser Weise haben sie dies mit dem Theater gemein – stellen Weltbilder her; sie verschriftlichen und visualisieren räumliche Informationen, die sie ihren Benutzern vermitteln. Die Medienphilosophin Sybille Krämer wertet Karten daher als ›Grundlagentexte‹ bzw. als Schlüsselmedien unserer Zivilisation7. »Ob als Wetterkarte, Stadtplan, Netzkarte der U-Bahn oder Straßenatlas: unser Sein bzw. Bewegen in Räumen ist kaum mehr denkbar ohne die Dazwischenkunft von Karten« (Krämer 2008: 299) – ein Befund, der sich angesichts von technischen Errungenschaften wie GPS-Systemen, Navigationssystemen, satellitenbasierter Erdbeobachtung u.a.m. weiter bestätigt. In ihrer Funktion als Mittel bzw. Instrument räumlicher Orientierung ist die Karte, wie Krämer hervorhebt, allerdings stets ambivalent. Als Kartenbenutzer geht man – gewöhnlich im Vertrauen auf die zugrunde gelegte Vermessungskunst und graphische Darstellungsform – davon aus, dass man eine weitestgehend exakte Wiedergabe einer Topologie bzw. Landschaft vor sich hat. Diese Auffassung akzentuiert die Repräsentationsfunktion von Karten. Dem widerspricht neuerdings aber vermehrt eine andere Sichtweise, welche die Medialität der Karte betont und danach fragt, wie, kulturtechnisch gesehen, die Übertragung von Informationen über die Erde in eine visuelle bzw. grafische Darstellung eigentlich vonstatten geht. Aus dieser Sicht ist die Karte kein ›objektives‹ bzw. im medientheoretischen Sinne ›transparentes‹ Orientierungsmittel, sondern wäre zu analysieren als eine mediale Konstruktion. Zwei Annahmen stehen damit gegeneinander: nämlich die, dass Karten Territorien bzw. ein bestimmtes Wissen über diese abbilden und die, dass Karten Räume bzw. ein bestimmtes Raum-Wissen sowie ein bestimmtes RaumVerhalten als Bewegung im Raum erst hervorbringen. Möglicherweise, wie
6
Für eine Bestandsaufnahme der Entwicklungen sowie kulturellen Relevanz neuerer Kartierungstechnologien vgl. den interdisziplinären Sammelband von Dodge/Kitchin/ Perkins (2011).
7
Vgl. das Kapitel »Karten, Kartieren, Kartographie« in Krämer (2008: 298-337).
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Krämer vorschlägt, bedingt sich beides wechselseitig und liegt als Wissensproduktion über Räume, die sich in der Dimension der Zeit verändert und sich selbst revidiert, im ständigen Widerstreit. Insofern käme der Karte der Status eines zeitabhängigen Kommunikationsmittels zu. Als Beleg für diese These führt Krämer Berliner Stadtpläne aus der Zeit vor 1989 an, die im wiedervereinigten Deutschland Makulatur wurden (ebd.: 307). Wenn, wie dies bei Rimini Protokoll der Fall ist, das Theater bzw. performative Künste zur Karte greifen, um sich, angesichts des medialen Wandels, im Spannungsfeld zwischen ›lokal‹ und ›global‹ neu zu verorten, wird deren ambivalente, zwischen Welt abbilden und Welt hervorbringen oszillierende Medialität potenziell selbst zum Thema. Zur Frage, was Karten bzw. Kartographie und die Raumgestaltungen der Theaterbühne (Bühnenbild, Szenographie) gemein haben könnten, findet sich bereits in Michel de Certeaus Kunst des Handelns eine einschlägige Analogie: »Die Karte […] ist ein ›Theater‹«, heißt es da (de Certeau 1988: 224)8. Eine Karte oder ein Stadtplan von gestern wäre demnach einer Theaterkulisse vergleichbar, die, wenn das aktuelle Stück abgespielt ist, in den Fundus kommt, ins Archiv oder gar auf den Müll. Überhaupt sei die Kartographie in der Weise, wie sie die Dreidimensionalität und Sinnlichkeit räumlicher Gebilde in ihre Koordinatennetze, Piktogramme, Relief-Zeichen und Beschriftungen überträgt und in die Fläche bringt, sozusagen die ›Schwester‹ der Perspektive, also jener Bildkonstruktion, derer sich das Theater seit der Renaissance Jahrhunderte lang bediente (wie erstmals die Traktate Sebastiano Serlios belegen), bis die Ikonoklasmen der Theatermoderne sie revidierten. Kartographie und Perspektive galten bzw. gelten als vermeintlich objektiv-wissenschaftliche, weil der euklidischen bzw. darstellenden Geometrie verpflichtete Methoden, die es ermöglichen, Räume ins Bild zu setzen9. Dieses ›Ins-Bild-Setzen‹ geschieht, wie de Certeau reklamiert, allerdings um den Preis, dass es den Blicken die Heterogenität und gelebte Vielfalt des Raums verstellt: »Die Karte, dieser Gesamt-Schauplatz, auf dem die ursprünglich disparaten Elemente vereint sind, um ein Bild vom ›Stand‹ des geographischen Wissens zu geben, verbirgt mit ihren Voraussetzungen und Folgen, wie hinter den Kulissen des Theaters, diejenigen Handlungen, deren Ergebnisse oder deren künftige Möglichkeit sie ist. Sie allein bleibt übrig. Die Beschreiber von Wegstrecken, die Akteure, sind verschwunden […].« (Ebd.: 225 [Hervorhebungen von mir – B.W.])
8
Vgl. insbes. den Abschnitt »Wegstrecken und Karten« (de Certeau 1988: 220-226).
9
De Certeau spricht sogar von »ein und demselben Projektionssystem« (ebd.: 224).
Verfahren künstlerischer Kartographie
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De Certeaus Auseinandersetzung mit Karten liefert in erster Linie eine Kritik an ihrer Repräsentationsfunktion. Die besondere Leistung des Kulturphilosophen und Soziologen besteht darin, sich erstmals für die Frage nach der performativen Dimension der Kartographie interessiert zu haben. Untersucht man Atlanten, Landkarten und Stadtpläne in den entsprechenden Kontexten ihres Gebrauchs, so wird erkennbar, dass Orte, Landschaften und Wege in einer Karte nie endgültig festgehalten oder beschrieben werden können. Immer wieder wird es Akteure geben, die die Wege neu beschreiben oder gar neue Wege bahnen; auch beeinflussen Karten in ihrer Eigenschaft als Kommunikationsmittel ihrerseits jene Räume, die ein Benutzer mit ihrer Hilfe erkundet. In dem von de Certeau aufgemachten Spannungsverhältnis zwischen ›Ort‹ und ›Raum‹ gehen sie somit ein in das handelnde Erleben. Hinzu kommt, dass dem Gebrauch der Karten als Medium (in der Weise, wie sie als Mittel zur Orientierung im Raum fungieren) eine Besonderheit eignet, die in Wahrnehmung und Raumhandeln eine spezifische Bewegung hervorruft. Grundsätzlich gilt: Die Karte ist nicht das Territorium, sondern sie steht, wie Sybille Krämer herausgearbeitet hat, zu diesem in einer paradoxalen Differenz10. Zu diesem Paradox gehört es, dass die Karte, im gewählten Maßstab, ein Territorium verkleinert und aufspannt in ein Koordinatensystem; Ortseigenschaften und -elemente wie z.B. ein Bahnhof, ein Gebäude oder eine Sehenswürdigkeit werden dabei kartographisch indexikalisiert, aber in der bildhaften und textuellen Darstellung auch gestaltet, d.h. symbolisiert, abstrahiert, generalisiert, schematisiert und stilisiert11. Indem die Karte das Territorium quasi in der ›Draufsicht‹ darbietet, schreibt sie ihrem Konstrukt immer auch die Perspektive des Betrachters ein. Es ist der auktoriale Blick von oben, vergleichbar dem »apollinischen Auge« (ebd.: 312), der den Kartenbenutzer die Welt ›wie von außerhalb‹ betrachten lässt bzw. so, wie es den Menschen erst mit der Erfindung von Flugzeugen, Raketen und Satelliten möglich wurde. Setzt der Benutzer die Karte als Mittel zur Verortung und Orientierung in actu ein, so ergibt sich nach Krämer der Effekt einer zweifachen Präsenz: Als Kartennutzer ›verortet‹ man sich im Koordinatennetz der Karte gleichsam in der ›Dritte-Person-Perspektive‹ und nimmt »sich selbst gegenüber die Rolle eines externen Beobachters ein« (ebd.: 310)12. Zugleich ist man aber in
10 Vgl. insbes. den Abschnitt »Das kartographische Paradox« (Krämer 2008: 311-326). 11 Kartentechnik und -ästhetik sind insofern stets miteinander verwoben (vgl. ebd.: 319f). 12 Weiter heißt es: »Beim Kartenlesen wird das ›Ich-bin-hier‹ zum ›Ich-bin-dort‹: eine merkwürdig deiktische Geste, die vom Körper weg auf die Karte und damit zugleich auf sich selber zeigt« (ebd.).
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die Umgebung, die man erkundet, mit Leib und Sinnen eingelassen. Diese Doppelung und gleichzeitige Spaltung des Wahrnehmens ist gemeint, wenn Bernhard Waldenfels von der »Doppelgestalt des Leibkörpers« spricht, »die sich in der Polarität von Ort und Raum auf spezifische Weise spiegelt« (Waldenfels 2009: 86)13. In diesem Spannungsfeld entfalte sich auch das Kultur stiftende (und sogar Identität stiftende) Potenzial der Karte14. Das medienspezifisch Besondere daran ist, dass der Gebrauch von Karten, der nach Waldenfels ›wie eine Sprache‹ erlernt werden muss, die menschliche Wahrnehmung in eine Pendelbewegung bringt: Der Blick bzw. das räumliche Denken schwingt hin und her zwischen der Orts- bzw. Landschaftsbeschreibung auf der Karte und den Räumen der Lebenswelt, die ihm als polymorphes, ›wildes‹ Phänomen gegenüber treten. Beschreibbar wird dies wahrnehmungstheoretisch als Kipp-Vorgang: es sind Momente nicht nur des Verortens und Orientierens, sondern auch der gesteigerten Aufmerksamkeit für den Raum bzw. für die kulturelle ›Gemachtheit‹ von Räumen15.
›M APPING ‹-V ERFAHREN IN
DEN
K ÜNSTEN
Auf die skizzierten Problemstellungen, die die Karten bzw. Kartographie aufwerfen, haben die Künste in den vergangenen Jahrzehnten reagiert. Eine ganze Bandbreite von Spielarten hat sich entwickelt, die auch als künstlerische Kartographie oder künstlerisches Mapping bezeichnet werden (vgl. Busse 2007; Bianchi 1997). Erste Ansätze reichen, wie Klaus-Peter Busse gezeigt hat, in die Anfänge der Intermedia-Kunst zurück, als Künstler an Orten wie dem Black Mountain College überkommene Gattungsgrenzen in Frage stellten und interdisziplinäre sowie intermediale Überschreitungen erprobten. In diese Zeit fallen etwa
13 Vgl. insbes. das Kapitel »Raumtechniken und Ortskarten« (Waldenfels 2009: 86-91). 14 »Die Selbstbefindlichkeit, die uns hier an einem Ort situiert und uns von hier aus die Welt durchstreifen lässt, wird erst allgemein fassbar, wenn sich das Hier in ein Raumnetz einordnet« (ebd.: 86). 15 Kaum zufällig findet, seit Computer nicht nur als Instrument der Datenverarbeitung und virtuellen Kommunikation, sondern auch als Instrument digitaler Kartierung bzw. Weltbildproduktion verwendet werden, die Auseinandersetzung mit Karten bzw. Kartographie sowohl in den Geowissenschaften als auch in der Kulturtheorie, Soziologie und Medientheorie vermehrte Aufmerksamkeit, vgl. Krämer (2008: 327-332); zu Geschichte und dem jüngsten Medienwechsel in der Kartographie siehe auch Dodge/ Kitchin/Perkins (2011).
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das berühmt gewordene Untitled Event (1952), das im Zusammenspiel der verschiedenen Künste keiner inhaltlichen Dramaturgie, sondern eher einer ›Handlungschoreographie‹ folgte, oder auch eine Partitur von John Cage, die, als künstlerische Präsentation konzipiert, eine Landkarte intermedial integrierte (Music for Amplified Toy Pianos, 1960)16. Künstler wie Robert Rauschenberg und Jasper Jones fertigten sogenannte ›Kartenbilder‹. Wegweisend für solche Bezugnahmen und ästhetischen Reflexionen von Kartographie wurden seit den 1950er Jahren, zunächst in den USA und später auch in Europa, zudem die Cultural Landscape Studies. In Abkehr von den Techniken und bildnerischen Verfahren der Landschaftsmalerei nahmen Künstler mit neuen Verfahren wie durch ein Zoom-Objektiv Städte und Landschaften, Metropolen und Peripherien in den Blick17; später finden sich Verfahren, die auf die Kartographie Bezug nehmen, auch in Tanz bzw. Bewegungschoreographie und Performancekunst18. Zusammenfassend gesagt, zielt künstlerisches Mapping auf die Reflexion von Orten bzw. Räumen und auf die Befragung ihrer Repräsentanz in Bildern und anderen Medien. Nicht selten referieren die Verfahren dabei auf Praktiken aus alltäglichen Bereichen (z.B. Schnitzeljagd, Reiseplanung, Reisedokumentation, Landvermessung u.a.m.). Stets geht es um ein mehr oder weniger systematisches Beobachten, Dokumentieren und Erforschen kultureller Prozesse bzw. um ein Sammeln, Auswerten und Neuanordnen von Information sowie um (Neu-)Orientierung. Dabei besteht der Reiz der künstlerischen Kartographie, wie es Stefano Boeri mit seinem für die documenta X entworfenen Eklektischen Atlas postuliert hat19, darin, dass sie kreative Annäherungen an Räume und Orte erlaubt, wobei sie sich keinem strengen methodischen Raster unterwirft, sondern meist in pluri- bzw. intermedialen Verfahren spielerisch verschiedene Vorgehensweisen verbindet.
16 Siehe dazu Abschnitt »Stage Operations« in Busse (2007: 118-120) – der Begriff ›intermedia‹, in Anschluss an Dick Higgins, wurde allerdings erst seit Mitte der 1960er Jahre verwendet; vgl. auch Higgins (1984). 17 Für einen Überblick vgl. Bianchi (1997). 18 Vgl. dazu, bereits unter besonderer Berücksichtigung der Künstlergruppe Ungunstraum (der Präformation von Rimini Protokoll) Brandstetter (2000). 19 Der von Stefano Boeri entwickelte »eklektische Atlas« umfasste ein Konvolut aus »Programmen, Photo-Kampagnen, geographischen und literarischen Beschreibungen, Forschungsberichten, Klassifizierungen, Essays und Artikel etc.«, mit dem man die Komplexität des Raums in seinen sozialen, ökonomischen und semiotischen Verknüpfungen zu erfassen suchte, vgl. Busse (2007: 138).
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Um die Jahrtausendwende gewannen kartographische Praktiken in den Künsten nach dem Aufbrechen der politischen Blöcke sowie unter dem Eindruck von Globalisierung, Migration, vermehrter Mobilität und dem Entstehen neuer medialer Räume einmal mehr an Aktualität (vgl. Bianchi/Folie 1997: 62f.). Als ihre Ziele gelten nun schwerpunktmäßig die Revision der ›Westkunst‹ zugunsten von Globalkultur, eine ›Neukartierung‹ von Kultur und Lebenswelt sowie Vermessungen der eigenen Identität (›Self-Mapping‹).
O RTSTERMIN B ERLIN -M ITTE : 50 A KTENKILOMETER Auch einige Arbeiten von Rimini Protokoll beziehen sich auf Verfahren und Problemstellungen der künstlerischen Kartographie. Exemplarisch diskutiert werden soll an dieser Stelle das Projekt 50 Aktenkilometer20. Es handelt sich dabei um eine ortsspezifische Audiotour, eine Art historische Stadtführung, die sich im Stadtraum Berlins – im heutigen Bezirk Mitte zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor – mit den Aktivitäten des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR auseinandersetzte. Der Titel referiert auf den entsprechenden Bestand der Akten im Zentralarchiv der Stasi-Unterlagenbehörde, der aneinander gereiht rund 50 km ergeben würde: 50 Aktenkilometer. Der Kunstgriff des Konzepts bestand darin, Teile der Geschichte bzw. archivierte Geschichten dorthin zu projizieren, wo sie einst stattfanden: an ihre Originalschauplätze im Stadtraum. Dies geschah in Form eines Etappenspiels, das sein Publikum auf Erkundungsreise schickte. Der Startpunkt – ein eigens eingerichtetes ›Kontrollzentrum‹ am Alexanderplatz – war fix, der Zeitrahmen dagegen war flexibel: Zwischen 10 und 20 Uhr konnte man Startzeit und Teilnahmedauer individuell wählen. Der Spielvorgang begann damit, dass jeder Besucher nach dem Erwerb der Eintrittskarte ein GPSTelefon und einen Kopfhörer ausgehändigt bekam. Außerdem erhielt man einen vom Team bearbeiteten Stadtplan, der als Programmheft und Leitsystem diente. In diese Karte – zugrunde gelegt wurde eine aktuelle Google-Map – waren mithilfe eines Stadtplans aus DDR-Zeiten markante Orte und die früheren Namen inzwischen umbenannter Straßen wie »Marx-Engels-Platz« oder »Clara-ZetkinStraße« eingetragen worden. Übersät war sie zudem mit 100 orangefarbenen Kreisen, die sogenannte ›akustische Blasen‹ verzeichneten: Wanderte man in
20 Das mit dem Berliner Hebbel-Theater (HAU) und dem Deutschlandradio koproduzierte Projekt entstand 2011; im Internet steht weiterhin die Hörspielversion zur Verfügung, www.dradio-ortung.de/50km.html (19.06.2013).
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den Radius einer solchen ›Blase‹ hinein, wurde per GPS-Telefon und Kopfhörer archiviertes Tonmaterial aktiviert. Es gab zu hören: Original-Tondokumente aus den 1970er und 1980er Jahren (vor allem Telefon-Rapporte von Spitzeln an das Ministerium für Staatssicherheit), außerdem Interviews, welche die Rimini Protokoll-Künstler in der Vorbereitungsphase mit Zeitzeugen geführt hatten, aber auch Auszüge aus Stasi-Akten, die von Schauspielern oder den Betroffenen selbst verlesen und kommentiert worden waren. Da nicht nur die Opferseite zu Wort kommen sollte, gab es auch Stimmen ehemaliger inoffizieller Mitarbeiter (IMs) zu hören, z.B. die von Salomea Genin, die sich als Jüdin zunächst aus Überzeugung anwerben ließ, ehe sie selbst in Konflikt mit der Stasi geriet. Wer wollte, konnte darüber hinaus gesungener Propaganda in Form von Liedern wie Dank den Genossen, Kämpfer an unsichtbarer Front lauschen. Die Themen der beim Betreten einer akustischen Blase aufgerufenen Dateien sowie die Namen bzw. Decknamen der Personen nebst ihrer Zuordnung zum einstigen ›Handlungsort‹ ließen sich einer Liste auf der Rückseite der Karte entnehmen. Geschichten über Ausreiseanträge und Republikflucht, über Bespitzelung, psychische Folter und Überlebensstrategien formierten sich zu einer vielstimmigen Erinnerungslandschaft. Im Verlauf dieses ›begehbaren Stasi-Hörspiels‹, das einer Spurensuche gleichkam, stellte sich eine gewisse Beklemmung ein: Mit Leib und Sinnen eingetaucht, begab man sich selbst an die Schauplätze der damaligen Ereignisse. Die Stimmen im Ohr veränderten den Blick auf die umgebende Stadt. Mit diesem Effekt arbeitet freilich jede Audiotour, und man kennt ihn auch aus dem Alltag, etwa wenn man Autoradio hört oder mit dem iPod unterwegs ist: In der Wahrnehmung beginnt das Bild des Raums dann zu flimmern, wird mit neuen Assoziationen aufgeladen und entwickelt eine beunruhigende Vieldeutigkeit nicht zuletzt in Bezug auf die Frage, wie ›real‹ das Wahrgenommene eigentlich ist. Die von Rimini Protokoll konzipierte Spielanordnung hatte zudem die Wirkung, dass sie inmitten des Life-Style- und Shopping-Paradieses, zu dem Berlin sich nach 1989 entwickelt hat, Historisches lebendig werden ließ. Die eingespielten Stimmen riefen Fragmente deutscher Geschichte auf, und gleichzeitig verband sich das, was man hörte, mit Geschichten, die man an den abgeschrittenen Orten möglicherweise selbst vor der Wende erlebt hatte. Eben damit arbeitete das Projekt: An seinen verschiedenen Stationen zielte es darauf ab, das Publikum auf individuell-subjektive Weise zu involvieren, damit es gegenüber dem Stadtraum mit seinen Bauten, Plätzen und Denkmälern eine Haltung einnahm (die sich etwa von der unbeteiligter Touristen unterschied).
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Abbildung 1: Rimini Protokoll (Haug/Kaegi/Wetzel), 50 Aktenkilometer, Berlin 2011: Teilnehmerin am Startpunkt Alexanderplatz (li.) und Teilnehmer an einer der akustischen Blasen (re.)
Formal lässt sich 50 Aktenkilometer der künstlerischen Kartographie zuordnen, und zwar in dem Sinne, dass hier in der Verschränkung des aufbereiteten historischen Materials mit dem realen Ort ein Erinnerungsraum entstand und unter aktiver Mitwirkung der Teilnehmer eine Art ›Gedächtniskunst‹ betrieben wurde. Im Ablauf des Projektes hielt die Karte gewissermaßen die Narration zusammen, indem sie dem Publikum ermöglichte, die Bausteine der Erinnerungen und die zu Gehör gebrachten Dokumente zu verorten. Man könnte sagen, dass mit den so hervorgerufenen Überblendungen zweier unterschiedlicher Zeitebenen (des ›Damals‹ und des ›Jetzt‹) im Stadtraum eine Update-Version antiker Mnemotechnik zur Anwendung kam (vgl. Yates 1999: 11-33)21. Eine der ältesten Formen von Mnemotechnik ist, eingebettet in eine Erzählung, durch Cicero und später Quintilian überliefert. Ein eingestürztes Haus hat die Gäste eines Festbanketts unter seinen Trümmern begraben und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Allein anhand der Platzverteilung an der Tafel kann ihre Identität durch den einzigen Überlebenden, den Dichter Simonides, rekonstruiert werden22. Die Krux dieser Geschichte liegt entsprechend in der Erkenntnis, dass
21 Bezugnahmen auf dieses Konzept hat Gerald Siegmund auch für das (als per TelefonFerngespräch gesteuerter Stadtrundgang angelegte) Rimini Protokoll-Projekt Call Cutta nachgewiesen, das sich als Reflexion bestimmter geschichtsträchtiger Orte Berlins und ihrer NS-Vergangenheit interpretieren lässt, vgl. Siegmund (2009). 22 Diese Geschichte wurde v.a. durch drei Quellen überliefert: über Ciceros De Oratore (55 v.Chr.), den anonymen Text Ad C. Herennium libri IV und Quintilians Institutio oratoria (90 n.Chr.); vgl. dazu Yates (1999: 11-33).
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sich Wissen in Raummodellen organisieren lässt und einer räumlichen Ordnung bedarf, um archiviert zu werden. Damit so abgelagertes Wissen wieder aufgerufen und entziffert werden kann, ist jedoch mindestens eine Person vonnöten, die es aktiviert: Erinnern als individueller oder auch kultureller Gedächtnisvorgang hat somit immer eine performative Dimension bzw. bedarf eines Erinnerungshandelns. Eben solches Erinnerungshandeln, auch im Sinne eines Mapping vergangener Ereignisse, überantwortete 50 Aktenkilometer seinen Teilnehmern: Mithilfe des Stadtplans und des Tonmaterials waren sie eingeladen, dem Stadtraum ein vom dort alltäglich Verhandelten abweichendes ›Script‹ einzuschreiben und Vergessenes, Abwesendes temporär wieder aufscheinen zu lassen. Das Aufsuchen von Adressen (die sich als ehemalige Stasi-Standorte herausstellten), die Betrachtung des Spree-Ufers (mit seiner traurigen Vergangenheit als Stätte von vergeblichen oder gar tödlichen Fluchtversuchen) oder der Eindruck der Plattenbauten aus jener Zeit, die plötzlich bedrohlich wirkten: Im Ablauf veränderte sich die Wahrnehmung der Stadt, ihrer Gebäude und sonstigen materiellen Elemente. In der Weise, wie es zur Spurensuche animierte, wurde 50 Aktenkilometer nachgerade zu einer körperlichen Tätigkeit. Mit Stadtplan und GPS-Telefon in der Hand und den Kopfhörern auf dem Kopf tauchte man mit dem gesamten Sensorium des Körpers ein in den Stadtraum und musste zugleich versuchen, die akustischen Informationen mit den visuellen, motorischen und haptischen Eindrücken aus dem gegenwärtigen Stadtraum zur Deckung zu bringen. Dass dabei die Gesichtssinne (Sehen, Hören) im Besonderen angesprochen wurden23, die beiden Ebenen aufgrund der unterschiedlichen Zeitebenen aber divergierten, gehörte zu den Strategien des Projekts. Zusätzlich bekamen die Teilnehmer Handlungsanweisungen übermittelt. Sie bestanden etwa darin, andere zu beobachten – mit dem Resultat, dass man sich selbst plötzlich beobachtet fühlte wie ein Schauspieler. Technisch bestand die Möglichkeit, dass man im ›Kontrollzentrum‹ über das GPS-Handy ›getrackt‹, also in seiner Bewegung durch den Raum geortet und aufgezeichnet werden konnte. 50 Aktenkilometer schickte sein Publikum somit nicht nur auf eine Zeitreise. Neben Verweisen auf Fragen der Überwachungstechnik (z.B. in der Sequenz
23 Zu der kulturgeschichtlich ebenfalls sehr alten Einsicht, dass der Einsatz von Mnemotechniken nur dann gelingt, wenn sie mit ›inneren Techniken‹ korrespondieren, also wenn vor allem über den sogenannten Gesichtssinn (d.h. über Gehör und Augen) Aufgenommenes im Bewusstsein des Menschen innere Bilder entfaltet vgl. Yates (1999: 13).
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»Die Technik der Anderen«) wurde vielmehr mit Bezügen auf aktuelle Entwicklungen der digitalisierten Kartierung und des Datentracking gespielt, die neuere Telekommunikationsmedien bzw. das Internet mit sich bringen24. Inzwischen stehen dort digitale Karten zur Verfügung, die, wie im Fall von Google Earth, mit Programmen verbunden werden, welche den Wechsel von der Vogelperspektive in die Horizontale (die ›Straßensicht‹) erlauben. Mittels der Verschaltung mit lokal spezifizierten Datensätzen, die Bewegungen von Menschen, Tieren, Flugzeugen oder Automobilen ›tracken‹ oder Objekte indexikalisieren, füllt sich der virtuelle Globus im Netz mit Spuren lokaler Ereignisse und allerlei ›Lebenszeichen‹. Das Individuum, das Karten vormals nutzte, um sich zu orientieren und zu verorten, kann solcher Kartierung und (Fremd-)Verortung heute selbst kaum entgehen25. Insofern erhält die Auseinandersetzung mit dem Medium Karte seit der Jahrtausendwende eine zusätzliche Brisanz.
I M S PANNUNGSFELD ZWISCHEN LOKALER V ERORTUNG UND ›G LOBAL P OSITIONING ‹ Die Arbeiten von Rimini Protokoll lassen, ausgehend vom Theater als medialem und gattungsmäßigem Referenzrahmen, beinahe durchgängig Bezugnahmen auf andere Medien erkennen. Hinzu kommen Anleihen bei bisher vor allem in der bildenden Kunst erprobten Verfahren wie der künstlerischen Kartographie. Das gilt für ortsspezifische Projekte (50 Aktenkilometer) genauso wie für translokale, d.h. zwei oder mehrere geografisch entfernte Orte verbindende Spielanordnungen (vgl. z.B. Call Cutta26), bei denen recherchierende, (de-)konstruierende und intervenierende Methoden zur Anwendung kommen. In der Weise wie hier stets die Frage nach raumkonstituierenden Kulturtechniken sowie nach unterschiedlichen medialen Praktiken mitverhandelt wird, beinhalten solche Arbeiten implizit einen szenographischen bzw. metaszenographischen Diskurs. Offenkundig geht es um eine Art Vermessen (Mapping) von Raum bzw. Örtlichkeit und eben nicht um ihr bildhaftes Darstellen. Szenographie zielt somit nicht bzw. nicht mehr in erster Linie auf das Sichtbarmachen von Raum, sondern auf eine systemische Auseinandersetzung mit raumbildenden Praktiken. Zum Gegenstand möglicher Bezugnahmen wird u.a. die Karte, in
24 Vgl. den Link zur online verfügbaren Hörspielversion, Fußnote 20. 25 Vgl. insbes. das Kapitel »Digitale Karten« (Krämer 2008: 327-332). 26 Premiere: Kalkutta/Indien, 26. Februar 2005; Version Kalkutta-Berlin: Berlin, 2. April 2005.
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ihrer Eigenschaft als kunst- und theaterfremdes Medium; als ›Raum-Script‹ bzw. als strukturgebendes Modell künstlerischer Mapping-Verfahren entfaltet sie im Verlauf des Spielvorgangs ihr performatives Potenzial. Wie das angeführte Projektbeispiel gezeigt hat, kann Mapping dabei als (sinnbildliche) Struktur und als Modell der Organisation von Wissen aufgefasst werden. Einher geht damit eine Reinterpretation physischer Karten als ›Mental Maps‹27 – im Sinne einer Auseinandersetzung, die sich für die menschliche Orientierung im Raum interessiert und vor allem dafür, wie unser Wahrnehmungsapparat und unser Gedächtnis äußere Bezugspunkte wie Örtlichkeit, physisch-räumliche Strukturen oder Distanzen in innere Raumbilder, sogenannte ›kognitive Karten‹ übersetzen. ›Mentale Bilder‹, in denen wir unsere Raumwahrnehmungen verdichten und speichern, sind subjektiv aufgeladen und nehmen, wie die Forschung gezeigt hat, nicht notwendig die Form einer Karte an (vgl. Wagner 2010: 242f.). Darüber hinaus diskutieren neuere sozial- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu Fragen des kognitiven Raums, wie sich Zuschreibungen wie Ost/West oder ›Erste Welt‹/›Entwicklungsländer‹ mit mentalen Karten verbinden und dabei nicht nur für individuelle, sondern auch für die kollektiven Wahrnehmungsmuster in Gesellschaften prägend werden, indem sie sich in unterschiedlichen Medien mit symbolischen Repräsentationen, Erwartungen, Erinnerungen und Narrativen verknüpfen (Bachmann-Medick 2009: 299f.). Theater bzw. eine performative Kunst, die in diesem Sinne fragt, wo man sich auf der Erdoberfläche befindet und darüber reflektiert, welche Position sie selbst im Spannungsfeld zwischen ›lokal‹ und ›global‹ einnimmt, leistet als Reflexions- und Vermittlungsinstrument etwas Neues. Eine wichtige Aufgabe solch einer künstlerisch verstandenen Kartographie kann, wie das Beispiel gezeigt hat, darin bestehen, mentale Kartierungen bzw. Bilder, Erinnerungen und kulturelle Zuschreibungen, die mit Orten verbunden werden, aufzurufen, zu markieren und spielerisch-kritisch zum Thema zu machen.
27 Die Untersuchung zu ›kognitiven Karten‹ stellt ein spezielles Forschungsfeld dar, an dem verschiedene Disziplinen (v.a. Psychologie, Kognitionswissenschaft, Geografie, Architektur, Stadtplanung, Informatik) beteiligt sind. Als wegweisend gelten v.a. die Arbeiten Kevin Lynchs, der Zusammenhänge zwischen externen Referenzsystemen (Straßennamen, Verkehrsleitsystemen etc.) und ›geistigen Bildern‹ aufzeigte (Lynch 1960; vgl. auch Kitchin/Freudschuh 2000: 1-8).
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A BBILDUNGEN Abbildung 1: Rimini Protokoll, 50 Aktenkilometer, 2011, © Bettina Straub/ Deutschlandradio (li.) u. Doro Tuch/Hebbel am Ufer, Berlin (re.).
Premediation, Krise und Reform Medienwechsel als Technologie des Übens M ARKUS S TAUFF Nothing follows from following, except change. MARSHALL MCLUHAN
Sowohl Institutionen wie auch Individuen werden gegenwärtig mit fortwährend neuen Medientechnologien konfrontiert, die nicht nur etablierte Kräfteverhältnisse verschieben, sondern auch ein dauerndes Einüben von neuen Verfahren, Regeln, Protokollen und Gerätschaften erfordern. Medien haben insofern nicht nur eine heterotopische Funktion auf der Ebene ihrer Repräsentationen, sondern auch auf der Ebene ihrer forcierten Weiterentwicklung: So wie das Spiegelbild ein reales Bild ist, das zugleich infrage stellt, ob ich vor dem Spiegel stehe, wo ich doch im Spiegel zu sehen bin (vgl. Foucault 2005: 931-942), so erhalten Medien gegenwärtig immer mehr den Charakter von realen Gerätschaften, die aber zugleich unter dem Vorbehalt der schon angekündigten und schon vorbereiteten kommenden Generation stehen. Mediennutzung wird damit zu einem krisenhaften Einüben immer neuer Funktionen. Wie in anderen Ländern auch, nutzt die Polizei in den Niederlanden zunehmend YouTube und andere social media, um die Bürgerinnen und Bürger an der Aufklärung von Verbrechen zu beteiligen1. Gleichzeitig werden dieselben Medien durch politische Bewegungen oder Individuen gebraucht, um die Polizeiarbeit kritisch zu dokumentieren: In Amsterdam dokumentieren beispielsweise
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So erstellt die Polizei eine Liste von Videos von illegalem Feuerwerkgebrauch, die anonym auf YouTube platziert wurden, um die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Identifizierung des Ortes und der Täter zu motivieren.
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Hausbesetzer die Räumungsaktionen der Polizei und stellen die Filme online; immer wieder sorgen Filme, die durch Passanten zufällig aufgenommen werden, für Aufsehen, weil sie nicht nur ungerechtfertigte Brutalität der Polizei dokumentierten, sondern auch die Versuche der Polizei, das Filmen dieser Vorgänge zu verhindern. In einer offiziellen Reaktion gab sich die Polizeiführung demütig und machte deutlich, dass sie künftig ihre Mitarbeiter im Umgang mit filmenden Zeugen schulen wird. Auch 20 Jahre nach Rodney King sorgt die Ausbreitung von mobilen Aufzeichnungsmedien für Unruhe2. Der kontinuierliche Medienwechsel kann zum einen aus der Perspektive von Medienpraktiken als Taktiken daraufhin untersucht werden, wie er ständig Kräfteverhältnisse verschiebt. Die unterschiedlichen Medien und ihr in soziale Konstellationen intervenierender Gebrauch machen stets neue Gegenstände und Vorgänge sichtbar (und damit kontrollierbar oder kritisierbar) und verleihen dadurch der einen oder der anderen Gruppe, den Staatsapparaten oder dem Widerstand, einen kurzzeitigen Vorsprung. Medien sind hier Regierungstechnologien in dem Sinn, dass mit jedem neuen Medium auch neue Gegenstandsfelder entstehen, die Interventionen – und somit Regierungshandeln im weitesten Sinne – möglich oder auch notwendig erscheinen lassen. Im Folgenden will ich die Perspektive allerdings auf einen anderen Aspekt des Medienwandels richten; die Frage nämlich, inwiefern die schlichte Notwendigkeit, stets neue Medien zu adaptieren, zur Strukturierung von Verhaltensweisen und somit auch zu Handlungsmacht beiträgt. Inwiefern ist es also nicht eine bestimmte – wenn auch kurzfristige und taktische – Medienkonstellation, die das Feld der möglichen Handlungen strukturiert, sondern der Medienwechsel selbst, mit seiner Notwendigkeit stets neue mediale Protokolle und affordances zu kennen und zu beherrschen. Mich interessiert an dem hier geschilderten Beispiel mit anderen Worten weniger die Frage, ob social media zu mehr Kontrolle durch die Polizei oder zu einer demokratischeren Kontrolle der Polizei durch die Bürgerinnen und Bürger beitragen, als vielmehr die Frage, was es eigentlich für medial konstituierte Regierungspraktiken heißt, dass sowohl die Institutionen als auch die Individuen dauernd neue Technologien aneignen müssen, um überhaupt ein Wissen von und einen Zugriff auf umkämpfte Gegenstände sicher zu stellen. Die politischen medialen Praktiken sind zunehmend verflochten mit einer unablässigen Reflektion
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1991 filmte ein Passant mit einer Videokamera wie Polizisten in Los Angeles einen African-American mit Schlagstöcken prügelten; die Videobilder wurden im Fernsehen ausgestrahlt und schließlich im Gerichtsverfahren gegen die Polizisten eingesetzt (vgl. Ronell 1994; Fiske 2002).
Premediation, Krise und Reform
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und Optimierung des Mediengebrauchs, der dadurch immer schon eine selbsttechnologische Dynamik entfaltet. Das von Michel Foucault entlehnte Konzept von ›Regierungstechnologien‹ (und der ›Selbsttechnologien‹), das im Folgenden nicht systematisch entfaltet wird, bildet für die Fragestellung einen ersten geeigneten Ausgangpunkt. Durch die mit diesem Konzept verbundene Entinstitutionalisierung und Entfunktionalisierung wird es möglich, das Technologische von Machtmechanismen zu beschreiben, ohne es auf eine bestimmte Medienkonstellation zu reduzieren: »Die Machttechnologien sind nicht unbeweglich: Sie sind keine starren Strukturen, die darauf zielen, gerade durch ihre Unbeweglichkeit lebendige Vorgänge ruhigzustellen. Die Machttechnologien modifizieren sich unablässig unter der Einwirkung von sehr zahlreichen Faktoren« (Foucault 2004: 179). Die folgenden Ausführungen entwickeln auf dieser Basis nicht eine eindeutige These, sondern sind eher als eine Sichtung von möglichen Perspektiven zu verstehen.
1. A LGORITHMEN
UND
S ELBSTTECHNOLOGIEN
Dass die konstante Veränderung der Medien an selbsttechnologische Praktiken des Einübens gebunden ist, wird sicher am deutlichsten unter Bezug auf Algorithmen und Software: Die ›Macht der Algorithmen‹ besteht nicht zuletzt, wie David Beer es formuliert hat, in der kontinuierlichen Neu-Produktion von ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen – während die Algorithmen zugleich fortlaufend an die Dynamiken des Gegenstandsbereichs angepasst werden – bzw. sich selbst daran anpassen (Beer 2009: 985-1002)3. Als Regierungstechnologien sind Algorithmen dabei nicht zuletzt von Interesse, weil sie kaum noch distinkte und punktuelle Klassifizierungen vornehmen, sondern aus dem kontinuierlichen monitoring des Verhaltens von zahllosen Individuen flexible, ständig neu zu adjustierende Muster herauslösen – die dann tatsächlich das Milieu spezifizieren, in dem die individuellen Praktiken lokalisiert sind und gegebenenfalls strukturiert werden können. Entsprechend der foucaultschen Beschreibung des Sicherheitsdispositivs lassen die Algorithmen der social media Dinge geschehen, um ihre Dynamik und ihre Wahrscheinlichkeit zu erfassen und
3
Beer bezieht sich hier u.a. auf Scott Lashs Kennzeichnung einer post-hegemonialen Macht: »post-hegemonic power operates through a cultural logic of invention, hence not of reproduction but of chronic production of economic, social and political relations« (Lash, zit. n. Beer 2009: 56).
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diese nur indirekt, durch Gestaltung des Milieus und Ausnutzung der spezifischen Dynamik, zu manipulieren (vgl. Foucault 2004: 19ff.). Ein klassisches Beispiel hierfür ist die post-demographische Identifizierung von Internetnutzern: Diese bekommen im aufgerufenen Interface, abhängig davon, ob sie beispielsweise als weiblich oder männlich klassifiziert sind, je andere Entscheidungsalternativen angeboten – die Klassifikation selbst wird aber im Sinne einer Variable x oder y ständig neu mit den Resultaten von ausgewertetem massenhaftem Nutzerverhalten gefüllt. Dabei ändert sich nicht nur die Definition dessen, was als weiblich oder männlich erkannt und weiterverarbeitet wird; vielmehr kann auch die Klassifikation einer individuellen Person von männlich auf weiblich wechseln. Der explizite selbstklassifizierende Akt – wenn etwa in einem Formular ein Feld männlich/weiblich eingefüllt wird – geht hierbei ebenso ein, wie die Vorliebe für bestimmte Bücher, bestimmte Musik oder bestimmte Kommunikationsformen, welche die user, geformt durch kulturelle Codes (offund online), zeigen (vgl. Cheney-Lippold 2011: 164-181). Während das Beispiel männlich/weiblich noch an offline etablierte Klassifizierungen und somit vermeintlich vormediale Identitätsmarker anschließt, werden im Zuge von marketing discrimination (Turow 2006) auch Kategorien etabliert, die alleine innerhalb des Algorithmus – bzw. der Marketingstrategien – entstehen und Sinn erhalten. Gerade dann aber bleiben diese Wissensformen auf die nicht nur ständig fortgesetzten, sondern auch ständig neuen, überraschenden Aktivitäten der user angewiesen. Während die Algorithmen in der Regel nicht auf Wissen über einzelne Individuen zielen und nur statistisch generierte Muster von bestimmten, de-individualisierten Aktionen – clicks – hervorbringen, werden sie doch nur produktiv, weil die individuellen Handlungen als eine Ressource abgegriffen und natürlich auch systematisch angereizt werden. Savage, Law und Ruppert beschreiben in ihren Thesen zu digital devices die generelle Distanz von algorithmischen Netzwerkanalysen zu reflexiven, individuellen Handlungen: »But, this is the crucial point, all of these digital devices are modes of observation that trace and track doings. In the context of people, instead of tracking a subject that is reflexive and self-eliciting, it rather tracks the doing subject« (Savage/Law/Ruppert 2010: 10). Auch wenn allerdings die algorithmenbasierte Wissensproduktion sehr viel weniger als etwa die klassische soziologische und demographische Datenerhebung ein reflexives, sich selbst definierendes Subjekt adressiert, so sind die reflexiven medialen Aktivitäten der Subjekte doch umso mehr eine Voraussetzung um überhaupt interessante und immer neue Daten zu gewinnen. Gerade selbst-
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technologische Praktiken stellen sicher, dass es fortlaufend neuen input für die Algorithmen gibt4. Diese Verschränkung von ›algorithmic power‹ und Technologien des Selbst hat Tania Bucher in einer an Foucault angelehnten Analyse von Facebook gut deutlich gemacht: Die Ordnung der Meldungen im Newsfeed wird durch einen Algorithmus mit dem Namen edge rank kalkuliert, dessen Einzelheiten – natürlich, genauso wie bei Googles page rank, unbekannt bleiben; umso mehr allerdings wird es, gewissermaßen in Umkehrung der von Foucault beschriebenen panoptischen Konstellation, zur Aufgabe der Nutzerinnen und Nutzer, für ihre eigene Sichtbarkeit zu sorgen: »In order to appear, to become visible, one needs to follow a certain platform logic embedded in the architecture of Facebook« (Bucher 2012: 9). Nur weil social networks immer neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten bieten, das individuelle Beziehungsnetz zu verwalten, entstehen Relationen, die algorithmisch verwertbar sind und so zur Klassifizierung und Adressierbarkeit beitragen5. In theoretischen Vaterfiguren gesprochen: Die von Deleuze fokussierte individuelle Sammlung von Daten (vgl. Deleuze 1993: 254-262) profitiert weiterhin davon, dass die von Foucault analysierten Technologien des Selbst gepflegt werden. Die kontinuierliche Veränderung von Interfaces und Algorithmen bildet ein zentrales Scharnier zwischen diesen beiden Mechanismen6. Wenn, in einer ökonomischen Perspektive, die traditionellen Massenmedien vor allem Neuerungen einführten, um Zuschauer zu behalten oder neue Zuschauergruppen (etwa Jugendliche, Senioren etc.) zu erreichen, so produziert die gegenwärtige Konstellation Neuerungen, um die user zur Veränderung von Praktiken anzuregen, weil erst so (gegebenenfalls verwertbares) Wissen erzeugt werden kann.
4
»Algorithms are fundamentally relational in the sense that they depend on some kind
5
José van Dijck bezeichnet dies als »engineering of connectivity« (van Dijck 2012).
6
»The generic template structure of Facebook’s user profiles provide not so much a
of external input (data) in order to function« (Bucher 2012: 9).
space for specific individuals but a space that makes the structured organization of individuals’ data easier and more manageable« (Bucher 2012: 8). ›Partizipation‹, ›Interaktion‹ und ›Kommunikation‹ sind dabei drei zentrale Praxisformen, die diese ständige Anpassung und Optimierung der Mediennutzung in Gang halten.
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2. D IE T RANSFORMATIONSDYNAMIK VON › DIGITAL DEVICES ‹ Eine solche Dynamik reicht weit über die Ebene von Software und Algorithmen hinaus; das Konzept von ›algorithmic power‹ tendiert gelegentlich dazu, dem regierungstechnologischen Potential von Medien einen eindeutigen Ort zu geben und digitale Medien generell auf einen vereindeutigenden Aspekt zu reduzieren. Stattdessen liegt es, gerade wenn man die Veränderungsdynamik untersuchen will, nahe, das Digitale – oder, besser, mit Savage, Law und Ruppert: die vielfältigen digital devices – als ein Kompositum aus sehr unterschiedlichen Elementen aufzufassen. Dieses reicht von Computernetzwerken, Scannern, Algorithmen, Software und Apps bis hin zu den verschiedenen Aktanten, Institutionen, Regulierungen und Kontroversen (vgl. Savage/Law/Ruppert 2010: 7). Auf allen Ebenen und gerade im Zusammenspiel der vielzähligen Elemente gibt es konstante Veränderungen, die den Gebrauch von Medien in ein Einüben verwandeln. Gerade die Veränderlichkeit der digital devices und der Art wie diese durch Software, Hardware, Standards und Infrastrukturen immer wieder neu in transmediale Konstellationen eingebunden werden, scheint mir für die Frage nach den damit verbundenen Rationalitäten und Selbsttechnologien von Bedeutung. Schließlich hat dies zur Folge, dass wir die körperlichen und psychischen Dispositionen, die es uns erlauben, Dinge oder Zeichen zu manipulieren und damit den Alltag zu organisieren, ständig neu in Frage stellen, verbessern und einüben: von der Gewöhnung an die Anordnung von Tastaturen, an Wischbewegungen auf Touch Screens, bis zu den halbautomatisierten Rhythmen, die das Abfragen von Mails, das Senden von Tweets etc. strukturieren. Die Neuerungen sind dabei einerseits schlichte Neuerungen, die Funktionen steigern, optimieren, korrigieren; sie sind aber noch häufiger und teils gleichzeitig Alternativen innerhalb eines komplexen Systems. Gerade weil die digital devices so ein weitverzweigtes aber verflochtenes System an Elementen bilden, ergibt sich eine konstante Spannung zwischen Standardisieren und Angleichen auf der einen Seite, Optimieren und Individualisieren auf der anderen – wobei eben auch Standardisieren meist auf einen Akt der Veränderung und notwendigen Um-Gewöhnung hinausläuft. Die prägnantesten Beispiele ergeben sich hier aus dem besonders verdichteten Apple-Kosmos: Beim iPad konnte anfänglich mit einem seitlichen Schalter die automatische Rotation der Bildschirmansicht gesperrt werden; mit einem Softwareupdate (iOS 4.2) wurde die Funktion des Schalters – im Sinne einer Standardisierung – der Funktion des entsprechenden Schalters beim iPhone angeglichen, der das Gerät stumm schaltet. Nicht zuletzt auf den Protest vieler user
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hin wurde in einem weiteren Softwareupdate die optionale Belegung eingeführt: In den Voreinstellung lässt sich nun individuell auswählen, ob der Schalter für die Stummschaltung oder für die Rotationssperre genutzt wird. Ganz ähnlich hat sich über mehrere Jahre hinweg eine schrittweise Ausdifferenzierung und Angleichung der Kalender- und Notizprogramme zwischen Apple Computern, iPhone und iPad abgespielt: in verschiedenster Weise wurde die Unterschiedlichkeit der Geräte markiert und zugleich die koordinierte gemeinsame Nutzung gefördert; in jedem Fall erforderte es von Besitzern entsprechender Geräte nicht nur eine fortlaufende Gewöhnung an das je aktuelle Verfahren zum Speichern von Notizen und Terminen, sondern auch eine je eigene Strategie, wie die Differenzen zwischen den Geräten zu kompensieren sind. Natürlich ist dies keine komplett neue Beobachtung, sondern eher schon ein Stereotyp der technisch-industriellen Moderne, das spätestens mit Engels’/Marx’ These, dass »alles Ständische und Stehende verdampft« (1848), seine prägnante Formulierung gefunden hat. Im maschinenbasierten Arbeitsleben machen ArbeiterInnen und Angestellte schon seit den 1970er Jahren die Erfahrung, dass sie sich mehrfach in ihrem Arbeitsleben auf komplett neue Verfahren und Abläufe einstellen müssen; lifelong learning auf der einen Seite und deskilling, die Abwertung persönlicher Fertigkeiten durch technische Innovation, auf der anderen Seite sind bekannte Folgen. Die ständige Erneuerung der medialen Technologien kann außerdem in die Linie der Konsumkultur und vor allem der Mode gestellt werden, in der Produktzyklen in immer schnellerer Folge und unabhängig vom Verbrauch/ Aufbrauchen der Produkte eingeführt werden. Auch für Medientechniken gibt es eine aufwändige Erzeugung von neuen Bedürfnissen; vor allem die Einbindung der Produkte in immer vielfältigere Netzwerke trägt zu einer Art planned obsolesence bei: Wenn man am Computer dropbox und andere Cloudfunktionen benutzt, wird der Mangel des alten Handys, das noch nicht onlinefähig ist, zumindest deutlicher markiert. Auch hier ist Apple mit dem forcierten Einführen neuer Schnittstellen, die alte ›Peripheriegeräte‹ inkompatibel machen, ein besonders markantes Beispiel. Die ständige Veränderung der digital devices fügt diese beiden Dynamiken aber nicht nur in alle Lebensbereiche ein, sondern versieht sie darüber hinaus mit einer technischen Rationalität und mit einer spezifischen zeitlichen Dynamik. Die digital devices üben nicht nur – wie die technischen Medien seit dem 19. Jahrhundert – je spezifische Wahrnehmungsformen ein, sondern koppeln die konstante Veränderbarkeit von Objektbereichen an die Fertigkeit im Umgang mit ihren taktilen Interfaces, Menüs, Knöpfen und Tasten: »Unablässig wollen Einrichtungen und Geräte über Tasten eingestellt und gesteuert werden. Die Ges-
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te des Digitalen ist das Tastendrücken, die basale Kulturtechnik unserer Zeit« (Heilmann 2010: 134). Im Unterschied zur Mode ist ein konstantes Einüben in diese neuen Techniken immer notwendig und gleichzeitig vorläufig, weil es eben unter dem Vorbehalt der nächstfolgenden Veränderung geschieht, die verspricht bestimmte jetzt noch bestehende Defizite zu beheben. Außerdem scheint mir bemerkenswert, dass – im Gegensatz zur Mode und zu technischen Innovationen im Zuge der Industrialisierung – nicht nur jeder Gebrauch von Medientechnik unter diesem Vorbehalt steht, sondern dass darüber hinaus beinahe alle alltäglichen Verrichtungen, insofern sie medienbasiert sind in diesen Prozess der ständigen Veränderung hineingezogen werden.
3. Ü BEN
OHNE
W IEDERHOLUNG : P REMEDIATION
Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass das Einüben in aller Regel als ein Prozess der Wiederholung beschrieben wird, und dass darüber hinaus auch die Stabilität von heterogenen Akteurs-Netzwerken aus Prozessen des Wiederholens und Einübens resultiert. John Law und Vicky Singleton beschreiben anhand von so unterschiedlichen medientechnischen Konstellationen wie der Lachszucht in Norwegen oder der Rinderzucht in Großbritannien, dass die heterogenen Elemente der gesamten Konstellation durch bestimmte Routinen ihre Identität und ihre Rolle im Gesamtsystem erhalten: »Practices are repetitions. The same patterns – or more precisely, patterns that are similar – recur, and they go on recurring. […] It [the overall network] rests in continuing gestures and actions.« (Singleton/Law 2012: 3)
Auf der einen Seite kommt dabei einzelnen materiellen Elementen (von Formularen über technische Apparate bis zu Kontrollinstanzen) qua ihrer Materialität eine stabilisierende Rolle in diesen heterogenen Konstellationen zu7. Auf der anderen Seite, und nicht weniger wichtig, bilden sich innerhalb dieser Konstellationen aber auch mehr experimentelle, mehr bastelnde Formen der Praxis aus, die Law und Singleton im Anschluss an Annemarie Mol als ›caring‹ bezeichnen,
7
»The argument is that since some materials tend to hold their shape better than others (think of the physical structure of the housing with its partitions, or the tags and the passports) their relative durability tends to render repetition easier« (Singleton/Law 2012: 6).
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und die weniger durch Apparate und Maschinen vorstrukturiert sind, aber noch stets auf implizitem, durch Wiederholung geschaffenem Wissen basieren8. Auch in den – gänzlich unterschiedlichen – Theorien von Sennett und Sloterdijk zum Üben kommt der Wiederholung eine entscheidende Rolle zu: es geht darum eine bestimmte Tätigkeit zu wiederholen, um eben diese Tätigkeit zu verbessern oder zu intensivieren (vgl. Sloterdijk 2011; Sennett 2008). Übung ist hierbei, wie auch bei Foucault, das »Medium der Konstitution von Subjektivität« (Menke 2003: 284). Der konstante Wechsel der neuen Medien macht im Gegensatz hierzu, zum einen, gerade nicht die Wiederholung, sondern die ständige Variation zum zentralen Motiv des Übens, und er macht zum anderen gerade die Techniken mit ihrer spezifischen Materialität zum Anlass von Experimenten, Basteln und Improvisieren – statt zu Absicherungen der Stabilität. Es geht somit nicht darum, ein- und dieselbe Sache durch Wiederholung sukzessive besser zu beherrschen, sondern sie auf eine andere Weise, mithilfe eines anderen Gadgets und einer anderen App zu realisieren. Damit verändert sich vor allem die zeitliche Organisation des Einübens; diese basiert auf einer konstanten Transformation: Sie muss einerseits der neu eingeführten Technik stets hinterherlaufen, fungiert aber zugleich als konstante Vorbereitung kommender Technik. In gewisser Hinsicht nämlich zielt jede Auseinandersetzung mit neuen medialen Konstellationen immer schon auf das Einüben kommender Veränderungen. Insofern lässt sich die ständige Erneuerung von Gadgets und Apps mit Richard Grusin als premediation betrachten: die jetzige Mediennutzung ist zugleich schon Einübung einer erst in Zukunft wirklich voll zu realisierenden Form der Praxis9. Auf der Subjektseite lässt sich dies zudem als eine Verschränkung der technischen mit den individuellen Zukunftspotentialen begreifen, die sich, wie Sennett schön gezeigt hat, wechselseitig stützen: »Yet the iPod’s phenomenal commercial appeal consists precisely in having more than a person could ever use. Part of the appeal lies in a connection between material potency and one’s own potential ability« (Sennett 2006: 153).
8
»Caring is less articulate. Its patternings rest more on the implicit. Caring is more about experiment or iteration and less about pre-formatting. It is, in other words, a bit like tinkering, more or less experimental in form« (Singleton/Law 2012: 5).
9
»In this sense premediation manifests the desire that the world of the future be always premediated by colonizing the future with media – mobile phones, PDAs, laptops, personal computers, digital cameras, video-phones, MP-3 players, and so forth. Insofar as the future is full of such media technologies, it will be full of remediations of prior media« (Grusin 2004: 29).
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Was Sennett, mit seinem leicht nostalgischen, anti-technischen Konzept der handwerklichen Kompetenzen hier nicht in den Blick nimmt, ist die Möglichkeit und Notwendigkeit, die eigenen potentiellen Fähigkeiten an den Geräten zu üben: Ein iPod ist nicht nur die materialisierte Ideologie (oder das Phantasma) kommender Kompetenzen, sondern auch eines der Trainingsgeräte dafür.
4. D EN M EDIENWECHSEL
ÜBEN :
K RISE
UND
R EFORM
Das ständige Einüben der neuen Gadgets, Apps und Interfaces ist strukturiert durch zumindest zwei temporale Handlungsmodelle, die zugleich zwei unterschiedliche Konzepte der Optimierung (der Geräte und des Selbst) implizieren: Krise und Reform. Die Krise ist, wie Wendy Chun jüngst ausführlicher diskutiert hat, ein für digitale Medien besonders kennzeichnender Modus, der Überforderung und Handlungsmacht stets neu und konstitutiv miteinander verschränkt: Die Phantasie von Software oder von Code, als einer Sprache, die tut, was sie sagt, bringt die Mediennutzer in eine paradoxe Situation, in der sie einerseits alle Handlungskontrolle an die Software abgeben müssen, andererseits aber als AutorInnen und AnwenderInnen von Software eine gesteigerte Form von Souveränität erfahren. Dies hat zur Folge, dass die Handlungsmacht am ehesten im zeitlichen Modus der Krise realisiert werden kann: Nur, wenn sich ein zeitsensitives Problem stellt, das eine dringliche Lösung erfordert – und zugleich durch die Anwendung von Software auch eine Lösung erlaubt – zeigt sich digitale agency: »updates that demand response and yet to which it is impossible to respond completely« (Chun 2011: 94). Dies können hier ebenso Software-Updates sein, die ein immer potenteres und gegebenenfalls auch intuitiver zu bedienendes Instrumentarium versprechen, das zugleich aber so komplex ist, dass man nie alle Funktionen wird nutzen können; es können aber auch die Updates in den Twitter- oder Facebook-Streams sein, die garantieren, dass die user unmittelbar über Dinge informiert werden, so dass sie, krisenhaft, Entscheidungen treffen müssen, worauf am dringlichsten zu reagieren ist. Auch wenn Wendy Chun damit wieder weitgehend auf der Ebene von Software und Algorithmen argumentiert, scheint mir ihre Argumentation – nicht zuletzt weil sie die Spezifik von Software zugleich dekonstruiert – auch anwendbar auf die Vervielfältigung und konstante Veränderung der digital devices: Sie erhalten ihren Stellenwert aus einer krisenhaften Situation, in der unterschiedliche devices miteinander konkurrieren, verschiedene Zukünfte versprechen und dadurch fortlaufendes Entscheidungshandeln einfordern. Das Einüben in die Neue-
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rungen fungiert entsprechend auch immer als Krisenbewältigung und die Subjekte treffen folgenreiche aber grundsätzlich vorläufige Entscheidungen. Um das schon eingeführte Beispiel nochmals aufzugreifen: Wenn das iPad unerwartet laut Sound abspielt, muss die/der BesitzerIn krisenhaft nach einer Lösung suchen, weil der Seitenschalter nicht mehr – wie am iPhone eingeübt – auf stumm schaltet. Es ist klar, dass es für diese Krisensituation eine Lösung gibt, sie muss aber erst wieder neu in automatisierte Handgriffe umgesetzt werden. Ähnliche Situationen ergeben sich wenn beispielsweis kurz vor einer Tagungspräsentation ein Systemupdate installiert oder ein neuer Computer eingerichtet wurde und dann, unerwartet, ein altes Programm nicht mehr läuft oder das Passwort der dropbox plötzlich neu eingegeben werden muss – das bislang durch die Software gespeichert wurde. Ganz zu Schweigen natürlich von unpassenden Verbindungskabeln, wechselnden Ladegeräten, konkurrierenden Fernbedienungen: Das Krisenhafte ergibt sich in allen Fällen daraus, dass es aufgrund einer Verschiebung in der komplexen Konstellation an digital devices einer dringlichen Lösung bedarf, dass es prinzipiell eine Lösung gibt und dass die eingeübten Routinen in der neuen Situation nur zum Teil funktionieren und deshalb etwas getan werden muss (und kann), was neue – erst später wieder einzuübende – Taktiken und Instrumentarien erfordert. Folgen wir Wendy Chun, dann sind gerade diese Situationen paradigmatisch für die Selbsttechnologien, die sich an digital devices ausbilden: Die fortlaufenden Wechsel, Transformationen und Updates bilden Friktionen und Unsicherheiten, die Entscheidungen erfordern; sie bilden zugleich den Anlass für das ständige Einüben neuer Routinen, die aber immer schon die Spekulation auf die nächste Veränderung beinhalten. Handlungsmacht ist untrennbar von diesem Krisenmilieu10. Diese Krisenhaftigkeit des gegenwärtigen Mediengebrauchs ist bemerkenswert, weil sie gleichsam als Kontinuität und Bruch innerhalb der Mediengeschichte aufgefasst werden kann. Aus unterschiedlicher Perspektive wurde vorgeschlagen, Mediengeschichte generell als Krisengeschichte zu schreiben. Dies etwa im Sinne Hartmut Winklers (1997), der die Einführung neuer Medien als Reaktion auf eine Signifikationskrise der bereits etablierten Medien beschreibt; aber auch im Sinne von Michael Wedel (2012), der – unter Bezug auf Rick Altman – Filmgeschichte als Krisengeschichte schreibt: Entscheidende Veränderungen des Mediums (etwa die Einführung des Tonfilms) sind demnach nicht als
10 »Rather than making programmers and users either masters or slaves, code as logos establishes a perpetual oscillation between the two positions: every move to empower also estranges« (Chun 2011: 20).
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schlichte Innovationen, Veränderungen oder gar Fortentwicklungen zu begreifen, sondern als Krisenmomente, in denen die Identität des Mediums auf allen Ebenen (ökonomisch, juristisch, ästhetisch, sozial) neu ausgehandelt werden muss. Diese Modelle verdeutlichen nicht zuletzt, dass das Krisenhafte keineswegs ein spezifisches Kriterium digitaler Medien ist. Beide definieren die Krise allerdings auch als distinkte Momente oder Prozesse, in denen sich eine neue Medienkonstellation herauskristallisiert. Dies unterstreicht nochmals die Besonderheit, dass – in der Perspektive von Wendy Chun – die Krise jetzt zum zentralen Prinzip des Mediengebrauchs geworden ist11. Während die Krisenhaftigkeit weiterhin den kontinuierlichen Medienwechsel vorantreibt, verleiht sie zugleich der Nutzung der Medien Struktur und Sinn. Ergänzend zu Chun scheint es mir allerdings wichtig, eine zweite temporale Handlungsdynamik in den Blick zu nehmen, die das Einüben von neuen Medien und den konstanten Medienwechsel strukturiert – und die noch viel deutlicher als der Modus der Krise kein Spezifikum digitaler Medien ist: der Modus der Reform. Medien bekamen historisch immer wieder die Funktion zugesprochen, bestimmte gesellschaftliche Defizite (mangelnde Kommunikation, mangelnde Informiertheit, mangelnde Bildung etc.) zu beheben. Insofern sie, einerseits, diese Funktionen nie vollständig (bzw. zur Zufriedenheit aller gesellschaftlich antagonistischer Gruppen) erfüllen, insofern sie, andererseits, auch als Urheber von sozialen Problemen adressiert werden, sind Medien in einen Prozess der Reform eingebunden: Sie werden schrittweise verändert, um immer wieder in neuer und möglicherweise besserer Weise diese Funktionen zu erfüllen (und die Probleme zu minimieren). Weil also Medien historisch (zumindest seit dem 19. Jahrhundert) in aller Regel nur etabliert und erfolgreich werden, weil sie auch als sozialtechnologische Instrumentarien definiert werden, werden sie ständig reformerisch optimiert. Am deutlichsten zeigt sich dies wohl am Beispiel des Fernsehens12. Dieses wurde seit seiner Einführung kontinuierlich als defizitäres, zu op-
11 Auch in Reinhardt Kosellecks (2004) historischer Analyse der Krisensemantik wird deutlich, dass dieses Konzept sowohl einmalige wie auch strukturell sich wiederholende Unsicherheiten umfasst, die mit Entscheidungsalternativen und konkurrierenden Handlungsträgern gekoppelt sind; schon dadurch eignet sich das Konzept zur Beschreibung der Subjekteffekte des fortlaufend neuen Einübens fortwährend neuer digital devices. 12 Beispiele für das Folgende finden sich u.a. bei Dawson (2012), Keilbach/Stauff (2011) und Stauff (2005).
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timierendes Medium betrachtet; die Veränderungen von Programmen und Apparaten zielten somit immer wieder darauf, das Medium zu verbessern – nicht zuletzt um damit soziale Defizite zu beheben. Auch der individuelle (bzw. familiäre) Gebrauch des Mediums ist somit vom Imperativ begleitet, Fernsehen möglicherweise anders und besser zu benutzen. Im Gegensatz zum kurzatmigeren, situativeren Modell der Krise, ging es dabei stärker um einen systematischen und schrittweisen Umbau, mit dem Ziel bestimmte soziale oder ästhetische Zielsetzungen zu erreichen. Auch wenn mit der Vervielfältigung der digital devices der temporale Modus der Krise deutlich in den Vordergrund tritt, bleiben doch – etwa angesichts der weiteren medienkonstitutiven Fragen nach Kinderschutz, Copyright, politischer Partizipation etc. – reformbasierte Veränderungen der Medien von Bedeutung. Das konstante Einüben, das den konstanten Medienwechsel notwendigerweise begleitet, findet somit in zwei unterschiedlichen Handlungsrationalitäten statt. Gerade diese Mischung von Reform und Krise, die noch genauer zu bestimmen wäre, macht den Medienwechsel selbst zu einer produktiven und flexiblen Technologie des Selbst.
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Interaktion und Partizipation in künstlerischen Medienumgebungen Das Beispiel Japan Y VONNE S PIELMANN
N ETZWERKE Angesichts heutiger Medienlandschaften, in denen über zeitliche und räumliche Distanz und Differenz hinweg alles mit allem vernetzbar zu sein scheint, drängen sich Fragen der Gestaltung von transmedialen und transkulturellen Verknüpfungen auf höherer Komplexitätsstufe auf. Der Anreiz, unterschiedliche Positionen in Zeit und Raum ästhetisch so zu verbinden, dass das Getrennte und Unvereinbare fusioniert werden kann, lässt sich genealogisch auf Beispiele der konzeptuellen Fusion in den Intermedia Arts der 1950er/1960er Jahre einerseits sowie auf ästhetische Bildkonzepte der Intermedialität im elektronischen und später digitalen Film der 1980er und 1990er Jahre andererseits zurückführen. Hiervon unterschieden, erfordert die Positionierung zeit-räumlich multipler Phänomene und Situationen heutzutage eine Reorientierung der Interdependenz von medialen und kulturellen Dynamiken. Angesprochen ist die translokale Dimension der verschiedenartigen Prozesse des Mischens und Mixens, wo diese territoriale und Identitätsgrenzen überschreiten. Für die Gegenwartsdiskussion dieser gemischten Medienlandschaften in Medienkünsten erweist es sich als nützlich, das Augenmerk verstärkt auf die den Konzepten der medialen Vermischung und der Mensch-Maschine-Interaktion zugrundeliegenden kulturellen Konnotationen zu richten. Wenn wir also nicht-westliche Elemente in den Medienkünsten aus Asien im Kontext ihrer globalen Präsenz – auf internationalen Festivals und Ausstellungen – angemessen erfassen wollen, sollte das Verständnis von Vermischung und Interaktion auf
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seine Verankerung in einem anderen philosophischen Kontext hin abgefragt werden. Denn, das Denken in vernetzten Zusammenhängen drückt im asiatischen Raum ein anderes Verständnis von Konnektivität aus. Aus dieser Perspektive verfolge ich die Diskussion künstlerischer Medienumgebungen aus dem Interesse, auf künstlerisch-kreative Praxen aufmerksam zu machen, die in ästhetisch-technischer Hinsicht vernetzte Informations- und Kommunikationssysteme thematisieren. Diese sind meistenteils assoziiert mit Durchlässigkeit und Veränderbarkeit von Mediengrenzen, Miniaturisierung von Geräten und Vermehrung ›kommunikativer‹ Medienanwendungen. Mir scheint, die Hauptmerkmale der gegenwärtigen Situation lassen sich wie folgt präzisieren: permanentes Fließen, ständiger Wechsel, Verbindung von allem und endlose Prozessualität. Diese Eigenschaften sind im Allgemeinen anerkannt als die wesentlichen Parameter, die unsere Gegenwärtigkeit im globalen Maßstab kennzeichnen. Vor diesem Horizont werde ich mich auf ästhetische Umsetzungen von konzeptuellen Ideen beschränken, die das Denken in Netzwerken vorantreiben und Modelle für das Verständnis von Interaktion und Partizipation in vermischten Medienumgebungen entwerfen. Der entscheidende Auswahlgrund für die folgenden Beispiele ist, dass es sich hierbei um künstlerische Praxen handelt, die nicht bloß neuartige Technologien der Vernetzung von Information anwenden, sondern gleichermaßen einen kritischen Standpunkt einnehmen. Das heißt, sie versuchen eine kreative Intervention in die netzwerkartigen Prozesse der Gegenwart. Im Allgemeinen lässt sich feststellen: Künstlerische Einmischungen, die sich mit den Herausforderungen und Veränderungen auseinandersetzen, wie sie sich in den sozialen und kulturellen Interrelationen der heutigen ›Netzwerkgesellschaft‹ abspielen, explizieren nicht nur Manuel Castells (1996) Zentralbegriff in einem erweiterten Verständnis von Kunst innerhalb globaler Politik. Im Wesentlichen verdeutlichen solche Aktivitäten die Notwendigkeit, beides, mediale wie kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Ausgehend von einer deutlich artikulierten Lokalisation künstlerisch-kreativer Praxen in Netzwerkzusammenhängen, ergeben sich kritische Einsichten in partizipatorische Konzepte des situativen Verbundenseins. Auch wenn diese Situationen wie heterotope Orte auftreten, so ist doch Vorsicht geboten, da diese translokalen Orte oftmals kein ›Außerhalb‹ indizieren, sondern beispielsweise gouvernemental-politische, aber auch militärisch-industrielle Interessen des kontrollierten Raumes widerspiegeln, wie sie uns mehr oder weniger spürbar im öffentlichen wie privaten Sektor überall umgeben. Ein Beispiel mag genügen: So sah sich der Konzern Apple mit den Beschwerden mehrerer Zehntausend Nutzer in Südkorea konfrontiert, die gericht-
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lich dagegen protestierten, dass ihre mobilen Positionsdaten ohne ihr Wissen geortet, registriert und gespeichert wurden. Die Verhaltensweisen der einzelnen Nutzer wurden dadurch zum Firmeneigentum und können gegen deren Willen und außerhalb deren Kontrolle von anderen Nutzern und anderen Konzernen eingesehen und weiter verarbeitet respektive kommerziell genutzt werden. Die gleiche Problematik betrifft Großkonzerne wie Google und Facebook. Das Beispiel aus der Netzwerkgesellschaft mag die Dringlichkeit unterstreichen, das strukturelle Gefüge und die Rahmenbedingungen näher zu erforschen, worin die interaktiven und partizipatorischen Äußerungsformen von Medienumgebungen und neuartigen technischen Anwendungen eingebettet sind. Zweifellos entstehen sie nicht im neutralen Raum, vielmehr sind es Konfigurationen und Prozesse, die spezifischen Parametern der sozialen Akzeptanz und Kontrolle folgen, und sie entstehen zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten. Zusammengefasst bedeutet dieser Sachverhalt, dass das Denken und Handeln in Netzwerken uns nicht davon entbindet, eine genaue Untersuchung der Spezifik von praktischen, ökonomischen und – nicht zu vergessen – ästhetischen Komponenten und ihren Vermischungen vorzunehmen. Bezogen auf unsere Fragestellung, wie künstlerische Einmischung in die Gegebenheit der allgegenwärtigen Informationsverarbeitung in Netzwerken aussehen kann, macht es Sinn, den gesellschaftlichen Ausschnitt der kreativen Praxis einmal in den Kontext des größeren Zusammenhangs zu stellen, von dem es heißt, er bilde Strukturmerkmale der Gegenwart übergreifend – und das heißt auch translokal und transkulturell – ab. Zu nennen sind zum einen Überwachung und Kontrolle und zum anderen Steuerung und Beobachtung. Ansätze der künstlerischen Einmischung in diese Verhältnisse zeichnen sich insbesondere in partizipatorischen Modellen für Kommunikation ab, die unter anderem auch in dem wachsenden Feld der sozialen Mediennutzung relevant geworden sind. Nichtsdestoweniger sollte bei der Einschätzung solcher Modelle nicht übersehen, vielmehr sensibel diskutiert werden, inwieweit solche Initiativen, die intentional unkontrollierte Räume besetzen und in diesem Sinne eine positive Heterotopie bilden, gleichwohl der Kontrollinstanz einer Masterstruktur unterstehen. Mittels korporativer Software und Internetportalen, aber auch mittels Bausteinen der Hardware sind Vorgaben gesetzt, die überwiegend einem globalen Maßstab folgen. Der Service der vernetzten Kommunikation wird für alle weltweit zu diesen Bedingungen zur Verfügung gestellt. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei an dieser Stelle betont, dass der Datenraum keine Heterotopie im Sinne ausgelagerter oder unbestimmter Orte bereitstellt, sondern vielmehr mit seinen strukturellen Kontrollmechanismen eine
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Verlängerung respektive Virtualisierung der gouvernemental-korporativen Logik darstellt und sich sehr genau mathematisch verorten lässt (vgl. Cubitt 1998). Den konzeptuellen Rahmen für die Entstehung von Computeranwendungen, die den Menschen an die Funktionsweise der Maschine anzupassen vorhaben, setzt die Beschäftigung mit der Kapazitätserweiterung von Maschinen, was einer im Westen erkannten politischen Notwendigkeit zur Bewältigung der Informationsflut in der Nachkriegszeit folgt. Dies führte schließlich zu komplex vernetzten Computersystemen und provoziert von Anfang an die Frage nach den Zugängen und Kontrollzentren der Macht. Die auffälligen heutigen weltweiten Ausprägungen dieser anfangs in den westlichen Gesellschaften verankerten Strategie finden sich auf dem Gebiet der Entwicklung von sogenannt ›intelligenten‹ Anwendungen, die partizipatorische und interaktive Nutzungen ermöglichen und im Großen und Ganzen dem Prinzip der Vereinfachung simulierter Kommunikation mit der Maschine folgen, mit dem Ziel, unsere Akzeptanz der multimodalen Kommunikation mit Apparaten zu erhöhen. Ein Aspekt liegt in der Verkleinerung und Personalisierung von Geräten, ein anderer bei dem Versuch, computervernetzte Umgebungen wie organische Strukturen mit multiplen lokalen Positionen zu entwickeln. All dies sind letztlich Versuche, Maschinenumgebungen stärker auf soziale und kulturelle Besonderheiten zu beziehen und multiple Nutzungen anzubieten. Bereits Anfang der 1990er Jahre hat der Kulturkritiker Stuart Hall (1994) die gewollte Paradoxie der vermeintlichen Utopie eines unkontrollierten Außerhalbs in der Logik der Globalisierung auf den Punkt gebracht. Er hat mit dem Hinweis auf die korporativ-kommerziell gesteuerte Vielfalt, die den medial und kulturell breit gefächerten Medienprodukten eigen ist, die Ausprägung einer systemverlängerten und im Grunde Differenz verneinenden Heterotopie unter dem Prädikat der nur scheinbar Differenz bejahenden Vielfalt entlarvt. Angesichts dieser Vermischungen ist es schwieriger geworden, eine Position der einmischenden künstlerischen Praxis und deren lokalen Relevanz zu bestimmen. Von wo aus operieren diese Medienkünste und zu wem sprechen sie eigentlich in einem globalen Netzwerk? In Erwägung dieser Einwürfe richtet sich der Fokus auf Möglichkeiten zur Beantwortung der Frage, wie ästhetische Interventionen in komplexe und multiple situierte Medienumgebungen überhaupt ästhetisch-technisch realisierbar sind? Einen wesentlichen Beitrag zur Diskussion dieser Problematik leistet Homi K. Bhabhas Studie The Loction of Culture (1994), wenn er das Potential eines kritischen Engagements seitens der Künste würdigt, weil es den notwendigen kulturellen Dialog am Leben hält und in dynamischer Interaktion und mit unabgeschlossenen Prozessen in Zwischenzonen nistet. Dies ist gemeint, wenn Bha-
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bha prognostiziert, dass radikale künstlerische Praktiken sich als kreative Interventionen manifestieren. Beispielsweise, indem die Teilhabe an verschiedenen Perspektiven in variablen Kombinationen als eine neue Form des sozialen Verhaltens in und mit ›intelligenten‹ Umgebungen hinterfragt wird. Diese Interventionen werden als ein Instrument der Unterbrechung des scheinbar grenzenlosen Stroms der Präsenz und Performanz von allen möglichen Medienkulturen in der Gegenwart angesehen. Die künstlerische Intervention kann uns demzufolge verständlich machen, was es für uns bedeutet, mit der globalen Welt vernetzt zu sein und wie wir beispielsweise unsere lokale und jetzige Position mit einem translokalen, mithin transkulturellen und transnationalen System zusammendenken können. Wie es scheint, sind lokale Verbindungen höchst wertvoll geworden. Denn, kulturelle Kontexte gewinnen einerseits als Wurzeln und Herkunftsorte an Bedeutung und sind ebenfalls als Wege der Verbreitung relevant. Beides geht zurück auf James Cliffords (1997) Beobachtung, dass kulturelle und – wie wir ergänzen wollen – medienkulturelle Konzepte in wandernden Beziehungsgefügen auftreten. Cliffords Idee des »travelling concept« unterstreicht die Notwendigkeit, ästhetische Traditionen im Austausch von ›Information‹ durch die Begegnung von internen Kulturpraktiken und externen Einflüssen aufzufassen. Lokale und räumliche Gegebenheiten sind schließlich wichtige Faktoren für das Verständnis von Vernetzung, mit der die technologische Umgebung auf soziale und kulturellen Praxen einwirkt. Für die folgende Diskussion japanischer Medienkunst mag es nicht unwesentlich erscheinen, an den konzeptuellen Rahmen des Denkens in Netzwerken zu erinnern, der seit den 1960er Jahren dem westlichen Forschungsinteresse der Computeroptimierung und der Entwicklung von Virtual und Augmented Reality dient. Diese Richtung ist von dem Ziel geleitet, das kontrollierbare Gebiet im virtuellen Datenraum von Westen nach Osten zu erweitern und von der westlichen Perspektive aus die globalen Netzwerke zu determinieren, um sie dann entsprechend kontrollieren zu können. Es versteht sich von selbst, dass die Realität andere Wege geht und insbesondere die asiatischen Tigerstaaten eigene Netzwerkstrukturen entwickelt haben, die sich, wie die Zensur in China und anderswo in der Region zeigt, anscheinend noch besser kontrollieren lassen als das amerikanische Modell. In der Debatte wurde und wird immer noch übersehen, dass Vorstellungen der Vernetzung kulturell stärker im asiatischen Denken verwurzelt sind, das in philosophischer Hinsicht nicht auf Subjekt-Objekt-Relationen, Dualismen und generell dem Denken in Interrelationen der Kategorie von-zu gründet, wie sie dem westlich-abendländischen Diskurs angehören. Eine besondere Art der Zirkularität und zeitlich-räumlichen Verflechtung manifestiert sich in einer wech-
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selseitig durchlässigen Auffassung von Vernetzung im asiatischen Kulturraum, wo das Denken in Netzwerken vorherrscht und nicht ein dialogischer Diskurs. Dies setzt sich fort im Verständnis und Gebrauch von Medientechnologie: »Der Ferne Osten denkt netzförmig. Dies ist wohl der Grund dafür, daß die Vernetzung sich im Fernen Osten intensiver beschleunigt als im Westen. Sie entspricht offenbar dem asiatischen Welt- und Selbstverständnis. Der Ferne Osten hat ein sehr ›natürliches‹ Verhältnis zur ›technischen‹ Vernetzung« (Han 2005: 57). Angenommen, die Dynamiken des Kontakts in technischen Netzwerken zeigen sich in der Art und Weise wie Clifford das ›travelling‹ auffasst, das heißt konkret, wie mediale und kulturelle Vermischungen sich wechselseitig durchdringen und die vermischten Elemente zwischen den jeweiligen Kontexten hinund herwandern, so folgt hieraus die Aufgabe, die Eigenschaften von Verbindungen neu zu überdenken. Dies wäre vor allem zu beziehen auf kulturelle Spezifika, welche die Verwurzelung des Netzwerkdenkens belegen. Desweiteren spielen dessen transkulturelle Qualitäten eine Rolle, die sich in der Reisebewegung, etwa von westlichen und nicht-westlichen Vorstellungen abzeichnen und zum Verständnis sowohl des eigenen als auch des anderen in einer dynamischen Verlaufsform beitragen. Dies wiederum unterstützt das netzförmige Denken. An dieser Stelle sei angemerkt, dass obzwar netzartiges Denken und damit einhergehende zirkuläre Strukturen stärker mit dem östlichen als dem westlichen Kulturzusammenhang zu assoziieren sind, daraus keine kulturelle Form als solche abgeleitet werden kann. Das heißt, wenn wir ästhetische Verfahren der Intervention untersuchen wollen, ist es ratsam, diese kulturelle Ausdrucksform genauer zu betrachten, um sie als Kontext für spezifische ästhetische Setzungen herauszuarbeiten. Das heißt aber nicht, dass hier eine Kulturform vorläge, die sozusagen in allen ästhetischen Produktionen auszuweisen wäre oder überall eine Rolle spielte. Wichtig ist die Dimensionierung, dass kulturtypologische Ausprägungen, wie das fernöstliche Denken in Netzwerken, einen Entstehungskontext vor Ort grundieren und zur Besonderheit der Verwurzelung und Herkunft von ästhetischen Konzepten beitragen, die den Produzenten und Künstler mit einem spezifischen Setting verbinden, das von anderen in diesem Kontext geteilt wird. Der Punkt ist, dass kreative Intervention nicht an einem neutralen, abstrakten Ort stattfindet, sondern im Hier und Jetzt, und von dort aus in alle Welt reisen kann. Sie wird also Relationen, Differenzen und Spannungen in Bezug auf den umgebenden Zusammenhang artikulieren und, wenn sie auf Reisen geht, diesen Kontextbezug mitführen. In Anbetracht dieser Verkettung von komplexen Verbindungen stehen multidirektionelle und multi-dimensionale Modalitäten im Zentrum einer Untersuchung, die nach Überschreitungen des dialogischen Modells der konventionellen
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Kommunikationssysteme fragt. Dies impliziert auch das Anlegen eines anderen sozialen Modells auf der Basis von Netzwerken und ihren prozessual-dynamischen Erscheinungsformen. Zwei Verfahren sind hervorzuheben. Zum einen die Überschreitung von verschiedenartigen medial-kulturellen Besonderheiten in solchen dialogischen Kommunikationskontexten, die Differenz ver- beziehungsweise aushandeln. Zum anderen geht es um die Interaktion von verschiedenen Auffassungen, Verhaltensweisen und Realitätswahrnehmungen in fließenden, unabgeschlossenen Prozessen, wobei wir Vielfalt unterhalb und durch Differenzen hindurch erfahren können. Dies ist möglich in solchen Zwischenzonen, die Bhabha »Third Spaces« nennt, weil alles mit allem durch Zeitzonen und räumliche Distanz hindurch neu konfiguriert werden kann. Unter dem Gesichtspunkt translokaler Netzwerke, wie sie mit den vernetzten Computertechnologien einhergehen, lassen sich zeiträumlich variable Kommunikationsformen, wie wir sie in den sozialen Medien paradigmatisch antreffen, dem Theoriehorizont der Vermischung und dem translokalen Ort des »Third Space« eher zuordnen als einem durch Trennung enstehenden Ort des Außerhalbs, wie die Begriffsprägung der Heterotopie es nahelegt (vgl. Foucault 2005). Demgegenüber ist der »Third Space« als ein paradoxaler Ort und nicht als ein Ort außerhalb aller Orte gefaßt. Denn er stellt eine Stelle der Störung und Intervention ins Hier und Jetzt dar.
J APAN Zur Veranschaulichung solcher Möglichkeiten der Einmischung werde ich am Beispiel Japan auf künstlerische Arbeiten eingehen, die in ästhetisch-technischer Hinsicht in die heutzutage komplex vernetzten Computerumgebungen intervenieren. Am Beispiel Japan interessieren mich interaktive Installationen, in denen Medienkünstler den Gebrauch der Technologie überdenken, wie wir ihr in den industriell-kulturell verdichteten Räumen der globalen Metropolen, wie Tokyo, überall begegnen. Diese technologisch hochgesättigten Orte haben eine extreme Dichte von Medienpräsenz als neue kulturelle Form hervorgebracht. Das Augenmerk meiner Diskussion liegt bei der künstlerischen Bezugnahme auf solche Netzwerke, die uns in anderer Weise Möglichkeiten der Reflexion unseres Verhaltens in diesen allgegenwärtigen Medienlandschaften vorführt. Im Folgenden skizziere ich Merkmale des verflochtenen Systems von Kommunikation, Transport und Information in Japan hinsichtlich ihrer Funktion in der täglichen sozialen Interaktion. Das Beispiel der Kunst-Architektur-Gruppe doubleNegatives Architecture steht für eine kreative Erwiderung, in der das Denken in Netzwerken ein alternatives soziales Modell evoziert. Weiterhin ver-
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anschaulichen die Installationen von Seiko Mikami eine alltägliche Erfahrung im Lebensumfeld hoch verdichteter Räume und den daraus resultierenden Mangel an individuellem Entfaltungsraum. In ihren interaktiven Medienumgebungen werden wir von programmierten Sensoren und robotergesteuerten Geräten verfolgt, die uns dazu einladen, in einen engen, persönlichen Kontakt mit den Messund Bewegungsapparturen der Installation zu treten. In diesem MenschMaschine-Verhältnis können wir aus der Begegnung mit einem technologischen Gegenüber auch Aufschluss über unser Erwartung in der ›realen‹ Interaktion mit Anderen gewinnen. Die ›künstliche‹ Umgebung erfüllt hier die Funktion eines Wahrnehmungsraumes, der uns Vorstellungen der sozialen Interrelationen bewusst macht, mit denen auch in Maschinenumgebungen gearbeitet wird und die in einem kulturspezifischen Erfahrungsumfeld ihren Ausgang nehmen. Solche künstlerischen Setzungen gehen aus einer Medienentwicklung in Japan hervor, die von einem engen Arbeitszusammenhang zwischen technisch-wissenschaftlichen Forschungslabors, der Computerindustrie und der Ausbildung in Disziplinen der Informatik, des Designs, der Kunst und Architektur gekennzeichnet ist. Im internationalen Vergleich erweist sich Japan als Pionier, was die enge Zusammenarbeit von Entwicklern, Ingenieuren und ›Medienkünstlern‹ in hochtechnologischen Bereichen anbelangt, wobei Letztere oftmals eine Ausbildung in angewandter Computerwissenschaft und Informatik vorzuweisen haben. Innovative Experimente mit interaktiv-virtuellen Anwendungen, die, unter anderem, Komponenten mit LED, Robotern, GPS, digitalem Video, Sensoren und Steuerungssystemen aus dem kommerziell-industriellen wie auch militärischen Sektor verwenden, sind in Japan in einem Kulturraum beheimatet, der im täglichen Leben intensiv mit diesen Arten von Technologie durchsetzt ist. Die oben genannten Bausteine sind, für sich genommen, im Medienbereich weltweit anzutreffen. Dennoch spielt Japan eine Führungsrolle, was die Intensität und Dichte der Implementierung dieser Technologien im öffentlichen Raum und privaten Bereich anbelangt. In Japan haben Ingenieur- und Computerwissenschaften einen neuen Umgang mit Technologie im alltäglichen Lebenszusammenhang hervorgebracht. Dies erstreckt sich auf überlebensgroße Projektionsflächen für Video, Animation, Musik- und Werbeclips mit konkurrierenden Lautstärken und auf ein enges Netzwerk aus digitalen Signalen, visuell und akustisch, das auf öffentlichen Plätzen den Raum beherrscht, bis hin zum privaten und lautlosen Gebrauch von persönlich konfigurierten Mobiltelefonen. Sie werden genutzt für Computerspiele, den Austausch von E-Mails und Internetkommunikation auf der Straße, im Verkehr und in den öffentlichen Transportsystemen. Aufgrund der extremen Dichte wird der Gebrauch von Mobiltelefonen zum Telefonieren als störend empfunden und ist in der Enge der Metro, den Regional- und den Shinkan-
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sen-Schnellzügen nicht üblich. Die Kommunikation verläuft stattdessen still per Texteingabe. Diese Besonderheit der Verbindung entsteht in Japan auf kleinstem Raum und in hoher Konzentration. Die Extra-Dichte von Kommunikation, Transport und Information in den räumlichen Gegebenheiten der Metropolen, wie Tokyo, bringt die zeitlich-räumliche Verdichtung an eine Grenze und mündet in ein neues kulturelles Modell ein. Tokyos extreme Dichte gibt das Beispiel für diese Kulturform: »Was zuerst als Extremvariante einer Stadt anmutet, entpuppt sich sukzessive als ihr Gegenteil, als Nicht-Stadt. Am Ende steht die Erkenntnis, dass Superdichte überhaupt nur funktionieren kann, wenn sie alles vermeintlich Städtische abwirft und zu einem reinen Zustand der Intensität wird, wie man ihn sonst nur aus Kunst, Musik, Medien kennt.« (Koelbl 2000: 56)
Auch wenn der öffentliche Raum in den Einkaufszentren und Transportsystemen meistenteils Ausdruck von allumfassender Unternehmenskultur ist, angefüllt mit dicht an dicht vertikal geschichteten Informationen auf LED-Flächen, die nicht nur über-, sondern gleichfalls nebeneinander audiovisuell ihre Nachrichten verbreiten, so erlaubt dieser superdichte elektronische Kulturraum dennoch andere Aspekte eines lokal verankerten Verständnisses von Ästhetik und ihrer Tradition. Sicherlich, diese Unternehmenskultur hat sich in gleicher Weise überall in den asiatischen Metropolen etabliert. Sie erlaubt, und das ist eine der Besonderheiten, zugleich die Gestaltung und Erfahrung einer anderen, körperbezogenen Wahrnehmung in der Begegnung mit der Wirklichkeit dieser Technologie und ihrer Netzwerke. Dies zeigt sich in einer Tendenz zum personifizierten Gebrauch von Computern, der Vorliebe für kleine und kleinste Elektronik, die sich wie ein Spielzeug anfühlt und problemlos in die Tasche stecken lässt. Hinzu kommt die persönliche ›Ausschmückung‹ von Mobiltelefonen und Computern, die in ihrer Funktion verniedlicht werden und unter Umständen wie Plüschtiere aussehen. Auf der Ebene der Präsentation kommen die technisch avancierten Anwendungen und medientechnischen Arbeiten aus Japan auf den internationalen Medien- und Computerfestivals weltweit zur Geltung, die sich parallel zur technologischen Entwicklung etabliert haben. Doch selbst dort, wo Beispiele aus Japan große Aufmerksamkeit in den weit gefächerten Diskussionen über heutige Medienformen und das ästhetische Potential der neuen Technologien erfahren, bleibt ihre Bekanntheit in den westlichen Diskursen, welche die allgemeine Mediendebatte beherrschen, beschränkt auf einzelne Positionen. So gibt es kaum eine Auseinandersetzung mit dem kulturellen Kontext, in dem diese japanische
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Medienkunst entsteht. Der Grund dafür liegt in einer generalisierenden westlichen Perspektive, die meistenteils angelegt wird. Sie gibt sich wie selbstverständlich und erfährt kaum eine Rechtfertigung geschweige denn Begründung, welche diese gewählte Forschungsperspektive in Verhältnis zu anderen lokalen Perspektiven setzen würde und deren Relation zu globalen Medienentwicklungen zu reflektieren hätte. Stattdessen haben wir es aus technologischer Perspektive mit einem blinden Fleck im Mediendiskurs zu tun. Diese Perspektive fokussiert im Allgemeinen die industriell orientierten Entwicklungen von Geräten und Anwendungen, und darin waren die Japaner stark vertreten, vor allem wenn es um Computergrafik und Innovationen in der Computerkunst geht. Demgegenüber enthüllt der Stand der Debatte ein deutliches Ungleichgewicht zwischen der Präsenz und dem diskursiven Niederschlag der ästhetisch-kreativen Praxis mit digitalen Medien aus Japan. In dieser Situation, die im Allgemeinen durch ein Ungleichgewicht zwischen den westlichen und den nicht-westlichen Diskursen und Praxen gekennzeichnet ist, ist es zunehmend schwieriger geworden, in der künstlerischen Auseinandersetzung eine Position der kritischen Reflexion zu bestimmen, die sich in der lokalen wie translokalen Rezeption behaupten kann und im Anspruch auf internationale Wirkung nicht das spezifisch Eigene zugunsten eines global dominaten – und das heißt westlichen Maßstabes – aufgibt.
I NTERAKTION
UND
P ARTIZIPATION
Die japanisch-europäische Gruppe doubleNegatives Architecture setzt mit ihren ortsspezifischen Installationen bei der Verrückung des allgemein standardisierten Maßstabes an und entwirft andere Perspektiven, die auf die bestehende, umgebende Architektur zurückwirken und die Veränderlichkeit von fixierten Strukturen vorführen. Der Gruppe (Sota Ichikawa, Max Rheiner, Akos Maroy, Kaoru Kobata, Satoru Higa, Hajime Narakuwa) geht es um die Revision von Subjektpositionen; Positionen, die mit dem westlichen Konzept der Zentralperspektive verbunden sind. Diese Strukturprinzipien werden in einem anderen räumlich strukturierten System abgeändert und einem anderen Prinzip, nämlich der Polarperspektive, unterstellt, um daduch neue netzartige Verbindungen aufzuzeigen, die als ein Modell dezentraler Konnektivität verstanden werden. Die in der Installation präsente offene Arbeitsstruktur der Gruppe zeigt im Prozess variable Möglichkeiten der Verbundenheit und der Konstruktion von Netzwerken auf, die sich im westlichen und asiatischen Kontext unterschiedlich entwickelt haben. Das virtuelle Architekturprojekt Corpora in Si(gh)te (2007) von doubleNegatives Architecture trägt aus künstlerisch-architektonischer Perspektive zum Nach-
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denken über kulturelle Muster der »Netzwerkgesellschaften« (Castells 1996) bei. In Abweichung von dem Prinzip dominanter Zentralität des Blicks der Überwachung, wie es in Martin Jays (1993) weitreichender Studie des visuellen Regimes der Modernität untersucht wurde, zeigt sich die einmischende und vom westlichen Zentralmaßstab abweichende Konzeption der Installation in dezentralisierten Perspektiven. Sie setzen die Vorstellung von mobilen Verbindungen um und veranschaulichen ästhetisch eine Vielzahl von möglichen Situationen im Medium der Augmented Reality. Die Arbeiten von doubleNegatives Architecture geben ein Beispiel kreativer Einmischung, wenn sie automatische und selbstorganisierende Systeme modellhaft einsetzen, um uns, die Besucher und Anwender, zum Nachdenken darüber anzuregen, wie Gebrauchstechnologien und komplexive, militärisch und politisch genutzte Überwachungs- und Kontrollmechanismen miteinander interagieren. Dies wird besonders evident, wenn die Gruppe selbstorganisierende Netzsysteme aus der amerikanischen Kriegsindustrie einsetzt, sogenannte ›mesh network devices‹. Beispielsweise verwendet die Installation Corpora in Si(gh)te gezielt Technologien der Augmented Reality und der dezentralen Selbstorganisation in unzugänglichen Gebieten (»smart dust«), welche speziell für Einsätze in den Golfkriegen entwickelt wurden. In der künstlerisch-architektonischen Installation werden diese, in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen und wie unsichtbar operierenden Computersteuerungen, in ihrer Operationalität dekonstruiert und anderen Aufgaben unterstellt. Sie dienen hier der Konstruktion von flexiblen, ständig veränderlichen Netzwerken, die sich in der Augmented Reality als fluides Alternativmodell auf die vorhandene, gebaute Struktur legen. Damit lässt sich veranschaulichen, wie der städtische Raum in einer organischen Struktur aussehen und sich über netzartige Verbindungen von Umweltdaten stetig variabel verändern könnte. Es gibt in der Installation Corpora in Si(gh)te viele mögliche Überwachungsund Kontrollpunkte, die auf gemessene Werte und Daten zurückgehen. Im einzelnen gemessen werden mit verschiedenen, im Umgebungsraum der Installation positionierten Instrumenten: die Temperatur im Außenraum, an Wänden von Gebäuden und am Boden mit drahtlosen Sensoren, die Richtung und Geschwindigkeit des Windes sowie die Luftfeuchtigkeit, Licht und visuelle Daten der Umgebung mit Kameras und schließlich die Geräusche mit ebenfalls drahtlosen Sensoren. Entscheidend ist der Einsatz der drahtlosen, selbstorganisierenden »smart dusts«, kleine, mit Solarenergie betriebene Instrumente, die selbsttätig Netzwerke mit den nächstgelegenen Informationspunkten bilden und ohne äußeren Input ständig neue Netzwerke realisieren können. Da diese Parameter der Installation allesamt fließend und veränderlich sind, generiert die Vernetzung all
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dieser Daten ein übergreifendes Gestaltungsprinzip einer organisch, mobil und variabel operierenden Struktur. Durch diese im realen Außenraum installierten Instrumente kommt es in der Installation der Augmented Reality zu einer verdichteten Datenorganisation, die mit unendlichen Verknüpfungsmöglichkeiten ein organisches Netzwerk schafft, das nicht nur den militärischen Bereich der Überwachung und Steuerung in eine andere, ästhetische Funktion überführt, sondern auch das Verhältnis von Medienumgebung und architektonischer Landschaft fließend und ohne feste Begrenzungen kommunikativ gestaltet. Das Anliegen der Gruppe ist es, im natürlichen Außenraum selbst gemessene Daten (Wind, Temperatur, Licht, Geräusch) und Elemente von Militärtechnologie, die mit ›intelligenten‹ Sensoren im Außenraum operiert, zusammenzuführen, wodurch eine ›lebendige‹ architektonische Umgebung entsteht, die uns die Veränderlichkeit auch in der Dekomposition und Rekomposition von Bausteinen vor Augen führt. Das gebaute Umfeld wird wie eine autonome Struktur behandelt, die aus variablen und multiplen Blickpunkten, aus vielen ›Super-Eyes‹ jeweils neu und anders zusammengesetzt werden kann. Diese Blickpunkte, die sich beliebig vervielfachen lassen, bilden temporäre, situative Kontrollpunkte, die im ästhetischen Experiment mobile Positionen schaffen, von denen aus mit den anderen Blick- und Kontrollpunkten netzwerkartige Verbindungen jeweils neu hergestellt werden, sobald sich die Positionen verändern. Die auf das Live-Videobild der realen Architekturumgebung überblendeten dreidimensionalen Architekturmodelle, die sich aus den gemessenen Daten selbstorgansierend generieren, befinden sich in ständiger Veränderung und demonstrieren damit, wie flexible und vielfältig Blickkonzepte nicht länger dem cartesianischen Projektionsmodell folgen. Die hierbei entstehende Superstruktur interagiert einerseits mit dem umgebenden öffentlichen Raum, und sie veranschaulicht den Vernetzungsvorgang aus einer Vielzahl von Messstellen zu einer prozessualen Form. Die Verwendung der gewählten Technologien unterstreicht die Absicht, dezentrale Netzwerke vorzuführen. Was die Installation vermittelt, betrifft das Prozesshafte der Konstruktion von Netzwerken, weil hier Verbindungen von Grund auf restrukturiert werden, und zwar in alle möglichen Richtungen. In Corpora wird ein selbstorganisierendes Netzwerk in Verbindung mit der realen Umgebung realisiert, das sich wie ein Nervensystem aufführt. Dieses Modell von Netzwerk stellt mögliche Formen virtueller Architektur dar, die anders als eine konkrete Einheit wie ein Organismus und instabil wachsen. Im Verbund mit diesem Konzept dezentrierter Netzwerke, sind die ›Super-Eyes‹ ebenfalls Ausdruck von selbstgenerierender und selbstorganiserender Struktur und unterstreichen, weil sie in Polar-Koordinaten und gerade nicht in cartesianischen
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Parametern vorkommen, die Offenheit von Verbindungsstellen. Schließlich unterscheidet sich dieses multiperspektivische vom linearperspektivischen Darstellungsverfahren, das in den meisten computergrafischen Systemen standardmäßig eingebaut ist. Der in dieser Installation deutlich gemachte Perspektivwechsel unterstreicht also auch die Wahlmöglichkeit zu einem anderen Repräsentationssystem, das, wie die Arbeit argumentiert, eine stärkere Interaktion mit der realen Umgebung ermöglicht. Im Vergleich der Präsentationen des Projekts Corpora in Si(gh)te an unterschiedlichen Orten, am Yamaguchi Center for Arts and Media in Japan, auf der Architekturbiennale in Venedig, im Ars Electronica Center in Linz und im Ungarischen Kulturinstitut in Berlin, kommt das Konzept der Interaktion einer flexiblen Struktur mit dem architektonischen Raum noch deutlicher zur Geltung. Denn jedes Mal entsteht eine einzigartige, lokal verbundene und auf die Umgebungen reagierende neue Struktur, die jeweils die verwendeten Bausteine der intelligenten Technologie aus der militärischen Überwachung neu zerlegt und zusammenfügt, jeweils die Sensoren und drahtlosen Netzwerke neu installiert und in Verbindung stellt.
Abbildung 1: doubleNegatives Architecture. Corpora in Si(gh)te (2007)
Mit diesem Verständnis einer mit dem Ort der Präsentation sowie mit den virtuellen Netzwerken im Medium der Augmented Reality interagierenden Installation, will die Gruppe doubleNegatives Architecture ein Beispiel geben, wie wir Medienumgebungen und die Art und Weise, wie wir diese wahrnehmen und uns
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ihnen gegenüber verhalten, selbst verändern können. Zum Beispiel, indem wir uns mit instabilen, dezentralen und variabel operierenden Netzstrukturen vertraut machen und in Abwesenheit von zentraler Kontrolle aus der Optionalität von multiplen, erneuerbaren Verbindungen, die von jedem Ort aus realisierbar sind, die Erkenntnis gewinnen, dass soziale Vernetzung auch in lokal-globaler Dimension möglich ist. Ein weiteres Beispiel der Interaktion mit Medienumgebungen bildet die stärker auf unsere aktive Partizipation angelegte dreiteilige Installation Desire of Codes von Seiko Mikami, aufgeführt am Yamaguchi Center for Arts and Media 2010 und im InterCommunicationCenter, Tokyo 2011. Hier geht es um unser perzeptives Verhältnis zum Digitalen. Die Arbeit geht der Frage nach, welche Art von innerem Verhaltensmuster die Computercodes haben könnten, insbesondere wenn ihre Fähigkeit zur Messung und Mobilität organischen Eigenschaften gleichkommt. Die Erfahrung dieser Versuchsanordnung mit dem Verhalten der Codes weist eingestandenermaßen noch keine Kulturspezifik aus. Allerdings hängt die Problematisierung intersubjektiver Wertigkeit in einer MenschMaschine-Interaktion auch damit zusammen, dass der Mangel an Raum einer im modern Japan von allen geteilten Wahrnehmung entspricht. Insofern thematisiert die Installation auch Verhaltensmuster, wie sie auf engstem Raum in Japan üblich sind, wo jede/r ständig einer Flut von Informationsdichte, Überwachung und Fast-Berührung ausgesetzt ist. Unter Bezugnahme auf die Alltagserfahrungen im superdichten Lebensraum in Japan, führt die interaktive Installation Desire of Codes vor, wie wir von programmierten Sensoren und robotergesteuerten Apparaturen verfolgt werden. Die Installation fordert zugleich dazu auf, in einen ›persönlichen‹ Dialog mit den messenden und sich auf uns zu bewegenden Instrumenten zu treten. In dieser Mensch-Maschine-Begegnung, die für mehrere Teilnehmer ausgelegt ist, werden vermittelt über die Technologie auch Verhaltensmuster anderer Teilnehmer deutlich. Die Medienumgebung erscheint als ein Wahrnehmungsraum von Verhaltensweisen, wobei unsere eigene Position und das Verhalten der anderen in Reaktion auf die digitalen Codes erfolgt, die ihrerseits auf unsere Anwesenheit reagieren. Im ersten Teil der Installation hat Seiko Mikami an der Wand neunzig apparative Einheiten montiert, die beweglich und mit Kamera, Sensoren und LEDZeigern ausgestattet sind, welche die Bewegung und die Geräusche der Besucher registrieren, die sich der Wand nähern. Die gesamte Struktur ist auf uns ausgerichtet, so als seien der technische Apparat und wir verschiedene Spezies, die miteinander in Dialog treten. Sobald die Lichtzeiger und die Kameras die Bewegungen der Besucher verfolgen, entsteht dadurch, dass die Einheiten von hörba-
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ren Motoren angetrieben werden, der Effekt, dass sie wie ein flügelschlagender Moskitoschwarm mit der Bewegung ihrer ›Arme‹ auf den Besucher zusteuern, wobei die Lichtintensität je nach Abstand und Aktivität des Besuchers variiert. Verschiedene Messdaten sind kombiniert. Lichtsensoren erfassen Bewegung, Ultrasound-Sensoren messen Entfernung, und Infrarot-Sensoren die Körperwärme. Hervorzuheben ist, dass die Verwendung der Sensoren von ihrem üblichen Gebrauch abweicht. Die Künstlerin Seiko Mikami hat die Einheiten selbst zusammengebaut und dabei die Messinstrumente für andere als die ursprünglich vorgesehenen Funktionen verwendet. Zum Beispiel wird der Ultrasound-Sensor als Entfernungsmesser eingesetzt. Hinzu kommt, dass jede dieser kombinierten Einheiten selbstständig misst und reagiert, aber zugleich in ein Netzwerk eingebunden ist. Die in einer Art ›Gruppenverhalten‹ aufeinander abgestimmten Bewegungen der Einheiten lassen diese dynamische Wand wie ein lebendiges Gegenüber erscheinen. Das mit dieser ›industriellen Intervention‹ interagierende Publikum nimmt aufgrund der starken Miniaturisierung der Interfaces den Maschinenzusammenhang wie ein harmloses Gegenüber wahr und vergleicht spielerisch das eigene Verhalten mit dem maschinellen Verhaltensverlauf. Gerade weil die Geräte in ihrer Größenrelation an Kinderspielzeug erinnern, erschienen sie harmlos und anziehend und nicht wie Kontroll- und Überwachungsapparate, die sie tatsächlich sind. Hierbei sind kulturelle Aspekte der Bezugnahme auf stark verkleinerte Computertechnologie, auf elektronisches Spielzeug und Kleinstgeräte des täglichen Gebrauchs von Bedeutung, denn diese Kleinstcomputer haben sich wie Insekten im privaten wie öffentlichen Sektor in Asien ausgebreitet. In ihrer Installation macht uns Mikami bewusst, wie eng und nahezu persönlich die Beziehung von menschlicher Wahrnehmung im Allgemeinen und personifizierter sensorischer Technologie im besonderen erlebt wird. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit dabei auf vermenschlichte Verhaltensformen von zunehmend kleineren und intelligent erscheinenden Robotern und ähnlichen Geräten, die mit Sensoren ausgestattet sind, um uns und unser Verhalten zu erfassen. Weil Mikami die Interfaces ihrer Installation selbst konstruiert und keine standardisierten Instrumente verwendet, schafft sie einen Zwischenbereich, in dem es uns möglich ist, unsere Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen in Bezug auf eine Umgebung zu reflektieren, die von Maschinen gesteuert wird und anderen Vorgaben, nämlich einer Kette programmierter Befehle, folgt. In den beiden anderen Teilen der Installation setzt Mikami ihre Untersuchung der Computercodes fort, die nicht nur als eine Verkettung von Verhaltensformen, sondern auch in Korrespondenz zu sozialer Praxis betrachtet werden. In
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einiger Entfernung zum ersten Teil, der Wriggling Wall, findet sich der Besucher umzingelt von sechs überlebensgroßen Roboterarmen, die von der Decke herunter frei in den Raum der Installation greifen. Auch diese Instrumente geben einem Verhaltensmuster der Codes Ausdruck, indem sie uns verfolgen und unsere Bewegungen mit integrierten Kameras aufzeichnen. Diese mobilen Sucharme verfügen zugleich über Projektoren, so dass das aufgenommene Bildmaterial simultan auf den Boden der Installation projiziert wird, wo wir stehen und herumlaufen. Die von uns aufgenommenen Bilder werden jedoch nicht nur lokal, im Hier und Jetzt übermittelt, sie werden auch vermischt mit der globalen Bildermaschine des dritten Teils. In diesem Teil der Installation, dem Compound Eye, verstärkt Mikami den anthropozentrischen Effekt der miniaturisierten mechanischen Arme aus der Wriggling Wall. Die Bildstruktur des Compound Eye imitiert ein Insektenauge und vermischt aktuelle und vergangene Bilder von Besuchern mit Bildern von Webkameras von überall auf der Welt. In diesem Kaleidoskop aus Überwachungsinformation werden Fragen des Zugangs, der Permanenz und Durchlässigkeit von Interfaces in lokaler Hinsicht und bezogen auf die globale Dimension von Beobachtung aufgeworfen. Einerseits geht es um unser Interesse an Information, und andererseits um den Appetit der Computer nach ständigem Input. Das Modell des zusammengesetzten Insektenauges hat die Funktion, das Interface globaler Überwachung in beide Richtungen durchlässig darzustellen. Denn es macht uns bewusst, wie persönliche Erfahrungen im weltweiten Datentransfer eingebunden sind, und es zeigt die Unterschiede und Persönliches nivellierende Dimension dieses Datentransfers, der anderen Gesetzmäßigkeiten folgt. Hier stellt die Installation unsere Vorstellungen über das Verhalten von Maschinen in Frage, die endlose Informationsketten produzieren. Die Installation demonstriert in der Veranschaulichung dieser Vorgänge von ständiger Wiederholung ihre eigenen Strukturmerkmale. Sie verweist uns aber auch auf unsere Erwartungshaltung nach immer mehr Information und zeigt schließlich die Grenzen auf, an denen wir tatsächlich durch Interaktion diese Maschinenprozesse beeinflussen und kontrollieren können. In der zirkulären Struktur der endlosen Datenflut werden schließlich die Mechanismen von Überwachung präsent, die dieser Technologie implementiert und im Lebensalltag von so dicht gedrängten Strukturen wie in Japan überall anzutreffen sind. Das heißt, jede Bewegung und Aktion ist Gegenstand von Überwachung und werden zum Bestandteil einer endlosen, ununterbrochenen Suche nach Daten-Input.
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Abbildung 2: Seiko Mikami, Desire of Codes (2010)
Wie die beiden vorgestellten künstlerischen Arbeiten exemplarisch demonstrieren, ist es wichtig, den spezifischen Kontext der kreativen Position in computerbasierten Medienumgebungen auszuweisen, um die kritische Intervention durch den Gebrauch alternativer Modelle würdigen zu können.
L ITERATUR Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London und New York: Routledge 1994. (Deutsch: Die Verortung der Kultur 2000). Castells, Manuel, The Rise of the Network Society, Oxford: Blackwell 1996. (Deutsch: Der Aufstieg der Netzgesellschaft 2004). Clifford, James, Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge, MA: Harvard University Press 1997. Cubitt, Sean, Digital Aesthetics, London: Sage 1998. Foucault, Michel, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Hall, Stuart, »Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität«, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument 1994, S. 44-65. Han, Byung-Chul, Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin: Merve 2005.
158 | Yvonne Spielmann
Jay, Martin, Downcast Eyes: The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley: University of California Press 1993. Koelbl, Wolfgang, Tokyo Superdichte, Klagenfurt/Wien: Ritter 2000. Spielmann, Yvonne, Hybridkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. (Englisch: Hybrid Culture 2012).
A BBILDUNGEN Abbildung 1: doubleNegatives Architecture (Sota Ichikawa, Max Rheiner, Akos Maroy, Kaoru Kobata, Satoru Higa, Hajime Narakuwa), Corpora in Si(gh)te, Japan 2007, courtesy of the artists. Abbildung 2: Seiko Mikami, Desire of Codes, Yamaguchi Center for Arts and Media 2010, courtesy of the artist.
Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en) Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie O LIVER M ARCHART Social space is produced and structured by conflicts. With this recognition, a democratic spatial politics begins. ROSALYN DEUTSCHE
›Kunst im öffentlichen Raum‹ kann, wie man weiß, zumindest zweierlei bedeuten: Einerseits Kunst am Bau und künstlerische Stadtmöblierung – dies wäre das herkömmliche Verständnis, u.a. dasjenige von Raum als physischem, geographischem, urbanem und architektonischem Raum. Andererseits wurde Public Art im Sinne neuerer Formen von ›Kunst im öffentlichen Interesse‹ (oder Sozialinterventionismus, Community Art etc.) zu einer sicheren Nische im Kanon der zur Verfügung stehenden Kunstpraxen und -formen ausgebaut. Was von der allgemeinen künstlerischen Begeisterung am Sozialen dabei allerdings überstrahlt wird, ist das Politische. Was durch künstlerische Sozialarbeit ersetzt wird, ist politische Arbeit. Und was von sozialinterventionistischen Kunstpraxen, so scheint es, vollkommen abgelöst worden ist, sind politinterventionistische Kunstpraxen. Politik wird, wo sie denn überhaupt ins Bild kommt, von sozialarbeiterischer Kunst ›im öffentlichen Interesse‹ ausschließlich als policy verstanden: als Verwaltung, Engineering und möglicherweise technokratische Bearbeitung von sozialen Problembereichen. Public Art wird zur privatistischen Version von public welfare. Frappierend daran ist nicht nur der Einzug bürokratischer Verwaltungs- oder Verwaltungsreformphantasmen in die Kunst, sondern vor allem die Verkürzung des Öffentlichkeitsbegriffs, unter dessen Banner man ja einmal angetreten war. Öffentlichkeit wird in den Bereich des Sozialen re-
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legiert – doch tatsächlich verdient ›Öffentlichkeit‹ diesen Namen nur, wenn sie politische Öffentlichkeit ist. Für die Public Art scheint jedenfalls alles davon abzuhängen, was unter dem Begriff ›Öffentlichkeit‹ (the public, public sphere) oder ›öffentlicher Raum‹ (public space) genau verstanden wird. Ist es ein Raum, in dem Konflikte ausgetragen oder in dem sie verwaltet und administriert werden? Ist es ein Raum offen politischer Agonalität, des Kampfes um die Bedeutung im Sinne etwa von »politics of signification« (Stuart Hall), oder ist es ein Raum vernunftgeleiteter rationaler und zwangloser Debatte, in Habermas’ Sinne, oder ist es ein Raum, in dem »vor Ort« sogenannte konkrete Missstände benannt und behoben werden sollen? Ist der öffentliche Raum ein Raum unter vielen anderen Räumen (privaten, nichtöffentlichen, halb-öffentlichen, lokalen), ist der öffentliche Raum überhaupt ein Raum oder handelt es sich um den Überbegriff für eine Vielzahl öffentlicher Räume? Was genau macht ihn zu einem politischen Raum (im Unterschied zu sozialen Räumen)? Und was ist das Öffentliche am öffentlichen Raum, und – umgekehrt – was ist das Räumliche an der Öffentlichkeit? Diese Fragen stelle ich nicht etwa rhetorisch am Beginn dieses Beitrags, um eben irgendeinen Einstieg zu finden, sondern ich möchte sie im Folgenden auch wirklich einer Beantwortung näherbringen. Dazu lässt es sich nicht vermeiden, von der theoretisch hierzulande etwas beschränkten Kunstdiskussion auszuweichen einerseits auf die politische Theorie selbst, aus der ja das Konzept der Öffentlichkeit stammt, und andererseits auf die rezente anglo-amerikanische Diskussion zur Public Art, die sich viel stärker an die Diskussionen der politischen Theorie angekoppelt hat, als das im deutschsprachigen Raum der Fall ist. Seit einiger Zeit werden dort nämlich etwa Claude Leforts Konzept einer libertären Demokratie oder Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Konzept radikaler und pluraler Demokratie stark gemacht1. Die Rede von Kunst im öffentlichen Raum, scheint es, ist zusehends weniger von Demokratietheorien zu lösen, die sich weder mit einer habermasianischen noch mit einer sozialarbeiterischen Version von Öffentlichkeit abspeisen lassen wollen. Die bisher am ehesten gültige Artikulation von Public-Art-Konzepten mittels der Öffentlichkeitstheorien von Lefort, Laclau und Mouffe findet sich meiner Ansicht nach bei Rosalyn Deutsche. Die doppelte Frage, die sich dabei für uns wie für Deutsche stellt, lautet: Welche Rolle spielt Öffentlichkeit für politische Kunstpraxen, und welche Rolle können politische Kunstpraxen für die
1
Gelegentlich finden und fanden sich auch Übersetzungen von und Interviews mit Laclau und Mouffe in deutschsprachigen Kunstzeitschriften wie Texte zur Kunst, Springerin oder der nummer.
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Öffentlichkeit übernehmen? Und die Ausgangsthese für diesen Beitrag wie wohl auch für die Arbeiten Deutsches ist, dass eine Antwort nicht allein mit Hilfe der Kunsttheorie und -kritik gefunden werden kann, sondern nur durch Einbeziehung politischer Theorie. Damit ist aber gleichzeitig auch ein Paradigmenwechsel weg von den theoretischen Leitdisziplinen kritischer Kunst der 1970er Jahre angedeutet – der (marxistischen) Ökonomie und den Sozialwissenschaften2. Doch bevor auf Rosalyn Deutsches konkrete Antwort auf die Frage nach Öffentlichkeit im demokratietheoretischen Sinn eingegangen wird, soll in einem ersten Schritt die näherliegende Frage nach dem Begriff des öffentlichen Raums im eher urbanistischen Sinn angesprochen werden: Wo ist der Raum im ›öffentlichen Raum‹ (wo die Kunst und die Politik ist, wird sich dann schon weisen)? Auch an diesem scheinbar handfesteren Problem wurde – etwa von Seiten der kritischen und postmodernen Urban Studies – fallweise die Auseinandersetzung mit politischer Theorie gesucht. Um das Thema etwas einzugrenzen, möchte ich auch hierzu den aus der politischen Theorie stammenden Raumbegriff Ernesto Laclaus zum Leitfaden nehmen. Ein Konzept von Raum, das etwa von Doreen Massey auf seine Brauchbarkeit für die kritische Urbanistik und Geographie geprüft wurde. Im Folgenden werde ich also auf die Diskussion eingehen, die sich um die jeweiligen Raumbegriffe von Urbanismus respektive politischer Theorie entsponnen hat, bevor ich – nach Exkurs einer Kritik an foucaultschen, deleuzianischen und habermasianischen Raumtheorien – auf die politischen und demokratietheoretischen Implikationen von Public Art zurückkommen werde.
R AUM
VS .
Z EIT – P OLITIK
ALS
V ERRÄUMLICHUNG
Wie Doreen Massey in ihrer Kritik an Ernesto Laclau anmerkt (Massey 1992), kam es in der Geschichte der kritischen Geografie zur folgenden Bewegung: In den 1970er Jahren – im Rahmen des allgemeinen Aufstiegs sozialwissenschaftlicher, insbesondere marxistischer Ansätze – lautete der maßgebliche Slogan: Raum ist eine soziale Konstruktion. Raum wurde nicht mehr als vorgängige Substanz oder als immer schon gegebenes und unveränderliches Terrain verstanden, auf dem das Gebäude der Gesellschaft erst errichtet worden war, sondern
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Dass mit diesen Leitdisziplinen oftmals ein ökonomischer Determinismus verbunden war, ist das eigentliche Problem daran. Deutsche muss – nachdem sie einmal die Grundannahmen antiökonomistischer politischer Theorie (Lefort, Laclau und Mouffe) akzeptiert hat – an dieser Front daher auch gegen die Erben des ökonomischen Determinismus im kritischen Urbanismus kämpfen, wie etwa Harvey oder Jameson.
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die jeweils spezifische Struktur von Raum wurde als Ergebnis sozialer, wirtschaftlicher und politischer Prozesse theoretisiert. Raumtheorien machten denselben constructivist turn mit, der die Sozialwissenschaften im Ganzen erfasst hatte. In den 1980er Jahren wurde dieser Ansatz nun radikalisiert, indem er invertiert wurde: Nicht nur wurde Raum als soziale Konstruktion verstanden, sondern man kam schließlich zur Auffassung, dass umgekehrt auch das Soziale räumlich konstruiert sei. Diese räumliche Form des Sozialen habe durchaus kausale Effekte: die Art und Weise, in der Gesellschaft funktioniert, werde durch ihre räumliche Struktur beeinflusst. Der wesentliche Unterschied zwischen den Überzeugungen der 1970er Jahre und denen der 1980er wie 1990er Jahre besteht darin, dass im ersten Fall Raum nach wie vor als passive Masse, d.h. Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse, verstanden wird, während im zweiten Fall Raum selbst in die Rolle eines gesellschaftlichen Akteurs schlüpft3. Massey kritisiert nun die Vorstellung, Raum sei ein passives Produkt und generell im Zustand von Stasis – eine Vorstellung, die sich, so scheint es, unter anderem dann einschleicht, wenn die Kategorie Raum binär der Kategorie Zeit gegenübergestellt wird, wobei Zeit in gut abendländisch-metaphysischer Tradition der zumeist positiv (z.B. als Geschichte oder Wandel etc.)4, Raum der zumeist negativ kodierte Terminus ist. Obwohl der Dualismus von Räumlichkeit und Zeitlichkeit nach Massey unter Theoretikern sehr verbreitet ist, lastet sie ihn doch vor allem Jameson und Laclau an – bei allen Unterschieden, die sie diesen beiden Theoretikern zugesteht. Wir konzentrieren uns hier auf die Kritik an Laclau. Motiviert ist diese durch die aus Masseys Sicht depolitisierende Wirkung, die deren Raumkonzepte hätten. Raum werde bei Laclau depolitisiert, insofern er Raum im Gegensatz zur Zeit als Bereich von Stasis und Stillstand (miss)verstünde: »Laclau’s view of space is that it is the realm of stasis. There is, in the realm of the spatial, no true temporality and thus no possibility of politics« (Massey 1992: 67). Im
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Massey zählt zu dieser zweiten Welle u.a. Sojas Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory (1989), und die von Derek Gregory und John Urry herausgegebene Sammlung Social Relations and Spatial Structures (1985), sowie ihr eigenes Spatial Divisions of Labour: Social Structures and the Geography of Production (1984). Es ist bezeichnend, dass in diesen Fällen – wie schon aus dem jeweiligen Titel ersichtlich – eher die Ankoppelung an die Sozialwissenschaften gesucht wurde als an die politische Theorie.
4
»With Time«, so schreibt Massey, »are aligned History, Progress, Civilization, Science, Politics and Reason, portentous things with gravitas and capital letters. With space on the other hand are aligned the other poles of these concepts: stasis, (›simple‹) reproduction, nostalgia, emotion, aesthetics, the body« (1992: 73).
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Unterschied dazu hätten radikale Geografen und Urbanisten mit Konzepten wie »centre«, »periphery«, »margin« und Untersuchungen der »politics of location« Räumlichkeit durchaus als politische Kategorie stark und produktiv gemacht. Die Frage dreht sich also darum, ob und wie das Konzept Raum selbst politisch verstanden werden kann. Um zu überprüfen, inwieweit die vorerst abstrakte Kritik an Laclau gerechtfertigt ist, kommt man natürlich um eine kurze Darstellung seiner Raumtheorie nicht herum. Vorweg sei allerdings angemerkt, dass es doch einigermaßen befremdlich ist, einem (ausschließlich) politischen Theoretiker von Seiten der Geografie vorzuwerfen, er würde seine Begriffe depolitisieren, d.h. es ist seltsam, einer politischen Theorie den Vorwurf zu machen, unpolitische Konzepte zu vertreten. Es liegt der Verdacht nahe, dass sich hier im Übersetzungsvorgang zwischen Urban Geography oder Critical Urban Studies und politischer Theorie disziplinspezifische Missverständnisse eingeschlichen haben. Kann es sein, dass Massey die Begrifflichkeit und den Theoriebau politischer Theorie/Philosophie nicht zu deren eigenen Bedingungen nimmt (nicht »on its own terms«, sozusagen)? Kann es sein, dass das Sprachspiel des kritischen oder postmodernen Urbanismus trotz aller wechselseitigen Inspiration nicht eins zu eins in das Sprachspiel politischer Theorie übersetzbar ist und umgekehrt? Dass sich so etwas wie Laclaus politischer Raumbegriff nicht restlos auf den urbanen, sozialen, geografischen Raum übertragen lässt? Und dass ein polittheoretischer Zugang zur Kategorie des Raumes nicht vollständig in einem sozialwissenschaftlichen, stadtsoziologischen Zugang aufgeht? Sehen wir uns zuerst an, was Laclau unter Räumlichkeit und Zeitlichkeit genau versteht. Laclau geht von der Überlegung aus, dass jedes Bedeutungssystem, d.h. jeder Diskurs, jede Struktur, jede Identität, letztlich jeder Raum, sich nur stabilisieren kann, wenn es sich gegenüber einem konstitutiven Außen abgrenzt5.
5
Im einzelnen verläuft die Argumentationslinie, wie sie Laclau entwickelt, folgendermaßen: Laclau beginnt mit der Annahme Saussures, dass Bedeutung nur innerhalb eines Systems von Differenzen entstehen kann. Die Möglichkeit der Existenz eines Differenzsystems hängt jedoch von der Existenz seiner Grenzen ab – und diese Grenzen können nicht der Seite des Systems angehören, da in diesem Fall die Grenze selbst nur eine weitere Differenz wäre, und folglich keine Grenze der Differenzen. Nur insofern wir das Außen des Systems als radikales Außen verstehen – und die Grenze daher als eine ausschließende Grenze –, können wir überhaupt von Sy-stematizität oder Bedeutung sprechen. In Konsequenz können die Grenzen selbst nicht signifiziert werden, sie können sich nur zeigen als Unterbrechung oder Zusammenbruch des Signifikationsprozesses. Die Radikalität des radikalen Außen (Nichtbedeutung) ist nicht nur Möglichkeitsbedingung für die Etablierung einer Struktur (Bedeutung), sie ist zur sel-
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Dieses Außen kann selbst aber nicht Teil des Bedeutungssystems sein (dann wäre es kein Außen, sondern Teil des Innen), sondern muss etwas radikal Anderes sein. Doch gerade weil es auf etwas verwiesen ist, das es selbst nicht vollständig unter Kontrolle bringen kann, gelingt es einem Bedeutungssystem nie, sich selbst vollständig zu stabilisieren. Einerseits ermöglicht das, worauf es notwendigerweise verwiesen ist (das konstitutive Außen), eine gewisse Stabilisierung, andererseits verhindert genau dasselbe konstitutive Außen eine vollständige Totalisierung des Systems. Ein System, ein Diskurs, eine Struktur ist daher immer von einer konstitutiven Ambivalenz durchzogen, die Laclau Dislokation nennt. Und er sieht in den dislokatorischen Effekten, denen jede Struktur unterworfen ist, ein temporales Phänomen, während er die Struktur selbst als räumlich begreift. Am leichtesten versteht man das wohl, wenn man sich unter Struktur zum Beispiel eine bestimmte Topographie vorstellt. Schon die Idee einer Struktur impliziert ja irgendeine Form von Topographie (eine bestimmte relationale Anordnung von Elementen, die durch ihre wechselseitige relationale Bestimmung zu ›Orten‹ werden). Ansonsten wäre die Struktur, simpel ausgedrückt, nicht ›strukturiert‹. Eine Struktur oder Topographie ist im extremen, wenn auch unerreichbaren, Grenzfall ein geschlossenes System, wobei alle möglichen Rekombinationen seiner Elemente und Veränderungen seines Zustands aus dem Inneren des Systems selbst abgeleitet werden können. Andererseits besteht die Symbolisierung/Systematisierung (Verräumlichung) des der Struktur gegenüber Heterogenen/Äußeren in der weitgehenden Elimination des temporalen Charakters, das heißt der Dislokationen der Struktur. Eine Topographie zu erstellen, schließt daher immer die Bemühung mit ein, Zeit in Raum zu transferieren, was Laclau die »Hegemonisierung von Zeit durch Raum« nennt, die dislokatorischen, »destrukturierenden« Effekte auf ein Minimum zu reduzieren und den Fluss der Bedeutung zu fixieren. Um eine zeitliche Abfolge6 von Ereignissen symbolisieren zu können, müssen sie synchron präsent gemacht werden, sie müssen verräumlicht werden. Das geschieht durch Wiederholung. Die mythische Figur der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist – wie jeder Mythos – in genau diesem Sinne räumlich. So um-
ben Zeit Un-Möglichkeitsbedingung der Etablierung einer Struktur als geschlossener Totalität (volle Bedeutung). Die Funktion der ausschließenden Grenze besteht mit anderen Worten darin, dass sie eine essenzielle Ambivalenz in das durch diese Grenzen konstituierte Differenzsystem einführt. 6
Genaugenommen ist der Begriff der Abfolge – insofern er diachrone Elemente in eine synchrone Ordnung bringt – schon ein räumlicher Begriff.
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schreibt diese Figur z.B. einen Kreis7. Aber auch die Gedächtnismythen, die etwa um nationale historische Ereignisse und deren Repräsentation durch Monumente aufgebaut werden, verräumlichen das historische Ereignis. Die sedimentierten sozialen Mythen und Traditionen sind nichts anderes als das Ergebnis repetitiver Praxen, die ihren kontingenten Ursprung im Laufe ihrer Wiederholung verloren haben, so dass wir sie nun als notwendig, naturalisiert, unveränderbar und ewig wahrnehmen. Dieser Raum – entstanden durch die Hegemonisierung von Zeit durch Raum – kann wie im Fall des nationalen Monuments ein Gedächtnisraum sein, in dem ein bestimmtes historisches Gedächtnis fixiert wurde8 – erst in zweiter Linie ist es der ›physikalische‹ Raum um das Monument. Daraus folgt auch für Laclau, dass es naiv wäre, an der Idee von Raum als einer nicht herausforderbaren und immer schon vorgegebenen Objektivität festzuhalten. Raum ist ganz im Gegenteil das Resultat einer artikulatorischen Praxis: der Praxis der Fixierung von Bedeutung. Das Ergebnis dieser Praxis besteht notwendigerweise in irgendeiner Form von hierarchisierter Struktur, in der die Relationen zwischen Elementen, Ebenen, Orten etc. mehr oder weniger wohldefiniert, d.h. fixiert, sind. In diesem Sinne ist Laclaus Position strukturalistisch, da für ihn – und hierin folgt er Saussure – Bedeutung nur innerhalb eines relationalen Systems von Differenzen entstehen kann. Auf der anderen Seite aber kann diese Fixierung nie vollständig gelingen. Es wäre eine totalitäre Illusion, zu glauben, man könne die Totalität eines Signifikationssystems meistern, ganz egal, ob wir dieses System ›Diskurs‹, ›Gesellschaft‹, ›Stadt‹ oder ›öffentlicher Raum‹ nennen. So ermöglicht die Festsetzung des Bedeutungsflusses zu einem strukturierten System also ein topographisches Verhältnis zwischen den verschiedenen Elementen dieses Systems. Doch das Verhältnis, die Artikulation und Hierarchisierung zwischen den verschiedenen Regionen und Ebenen der Struktur, ist nur das Resultat einer »kontingenten und pragmatischen Konstruktion« und nicht Ausdruck einer essenziellen Verbindung. Und zwar genau weil jede Identität von einem konstitutiven Außen, d.h. Zeit, überflutet wird. In diesem
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Daraus folgt, dass es strenggenommen keine Diachronizität gibt: Um repräsentierbar
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Wir wissen z.B. aus der Gedächtnistheorie, etwa aus der Rhetorik, dass man sein Ge-
zu werden, muss das Diachrone synchronisiert werden. dächtnis am besten über räumliche Konstruktionen, über Gedächtnisarchitekturen ausbaut.
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Sinne ist Laclaus Position post-strukturalistisch: Das relationale System kann sich nie vollständig konstituieren oder schließen9. Um zusammenzufassen: Wenn Raum immer von Zeit subvertiert wird, dann besteht keine Möglichkeit, diese kontingente und pragmatische Konstruktion eines Signifikationssystems ein für allemal festzusetzen oder zu beenden, denn diese Möglichkeit würde nur bestehen, wäre die Verbindung der Elemente tatsächlich essenziell und der Artikulation vorgängig. Doch das ist natürlich nicht der Fall, die Verbindung muss fortdauernd artikuliert werden, Zeit muss konstant durch Praktiken der Verräumlichung hegemonisiert werden, und das funktioniert durch Wiederholung. Daher ist Artikulation ein fortwährender und fortdauernd scheiternder Prozess, der grundsätzlich aus der repetitiven Verknüpfung von Elementen besteht. Es geschieht genau durch Artikulation, durch die Verbindung differenter Elemente, dass wir einen Raum eröffnen. Artikulation schreitet wiederum in einer doppelten Bewegung voran. Einerseits kann hegemoniale Artikulation, ist sie erfolgreich, zu dem führen, was Laclau und vor ihm Fredric Jameson – beide in Bezugnahme auf Husserl – Sedimentation oder die »sedimentierten Formen von ›Objektivität‹« (Laclau 1990: 35) genannt haben. Dies ist das Feld des vorgeblich objektiven oder, wie Barthes es genannt hätte, »naturalisierten« Sozialen, wie es vom politischen Feld der Reartikulation unterschieden werden muss. Sedimentation ist, folgt man Husserl, ein Name für die Routinisierung und das Vergessen der Ursprünge: ein Vorgang, der aufzutreten pflegt, sobald ein bestimmter artikulatorischer Vorstoß zu einem hegemonialen Erfolg geführt hat. In Laclaus Terminologie beschreibt diese Bewegung einfach die Fixierung von Bedeutung in solide Topographien, die als Sedimentationen von Macht konzeptualisiert werden müssen und die zeitliche Bewegung reiner Dislokation zu einer präzisen Choreographie verräumlichen. Traditionen sind solch routinisierte Praxen, oder z.B. Gründungsmythen und Gedächtnisräume, wie sie etwa durch nationale oder sonstige Monumente konstruiert werden. Doch insofern diese räumlichen, ›versteinerten‹ Sedimente andererseits reaktiviert werden können, existiert auch eine Temporalisierung von Raum oder eine »Erweiterung des Felds des Möglichen«. Wir sind, in Laclaus Worten, mit einem Moment der »Reaktivierung« konfrontiert, mit einem Prozess der Defixierung von Bedeutung. In diesem Fall werden mehr und mehr Elemente, Ebenen und Orte als kontingent in ihrer relationalen Natur wahrgenommen. Nun sind wir in einer besseren Position, um beurteilen zu können, inwiefern Doreen Masseys Kritik an Laclaus Raumbegriff gerechtfertigt ist. Laclau macht
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Masseys Kritik an Laclau funktioniert genau über die ständige Reduktion Laclaus auf einen Strukturalisten.
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sehr deutlich, dass er von Raum nicht im übertragenen Sinne spricht, sondern physischer Raum – da in seiner Bedeutung nur diskursiv zugänglich – auf die gleiche Weise konstruiert wird wie diskursiver Raum: »If physical space is also space, it is because it participates in this general form of spatiality« (ebd.: 41f.). Das ist die klassisch konstruktivistische Auffassung, die Massey der ersten Welle der »radical geography« in den 1970er Jahren zusprechen würde. Doch sie übersieht die Pointe von Laclaus Ansatz, den sie mehr oder weniger mutwillig auf einen überkommenen Strukturalismus verkürzt. Denn genauso wie die von Massey ausgemachte zweite Welle der »radical geography« geht ja Laclau, seinerseits für die politische Diskurstheorie, tatsächlich von der inversen These aus, dass Raum nicht nur diskursiv konstruiert, sondern dass Diskurs selbst – verstanden als die partielle Fixierung eines Signifikationssystems – essenziell räumlich ist – ohne dass er jedoch daraus schließen würde, Raum hätte kausale Effekte auf Zeit. Somit steht die Laclausche politische Theorie nicht nur jenseits von Masseys Unterscheidung der 1970er von den 1980er Jahren, die man vielleicht als Unterscheidung zwischen Konstruktivismus und Postkonstruktivismus bezeichnen könnte, sondern sie dürfte auch jenseits der Kategorien ›passiv‹ und ›aktiv‹ stehen. Masseys Kritik lautete, wie eingangs erwähnt, Laclau schreibe die alte metaphysische Vorstellung fort, in der Raum zur passiven Masse abgestempelt wird, zum bloßen Produkt einer Konstruktionsleistung etwa. Doch die Differenz zwischen Raum und Zeit bei Laclau ist keine Differenz zwischen Passivität und Aktivität. Zeit ist nicht der ›Akteur‹, der passive räumliche Sedimente, das heißt soziale Ablagerungen, herstellt, sondern Zeit – als Dislokation – ist genau die Kategorie, die verhindert, dass sich diese Sedimente ein für allemal verfestigen können. Wie Laclau explizit zu erklären versucht: Raum kann Zeit hegemonisieren (verräumlichen), aber Zeit hegemonisiert selbst gar nichts: »But while we can speak of the hegemonization of time by space (through repetition), it must be emphasized that the opposite is not possible: time cannot hegemonize anything, since it is a pure effect of dislocation« (ebd.: 42). Der Grund dafür ist leicht einzusehen. Die Existenz eines konstitutiven Außen eines Signifikationssystems (eines Raumes) ist zwar die Grundbedingung dafür dass sich überhaupt eine gewisse Systematizität (z.B. Topographie) stabilisieren kann, doch zugleich ist das konstitutive Außen (als die Quelle der Dislokation des Systems) der Grund dafür, warum sich das System nie zu einer Totalität wird schließen können. Als Ermöglichungsbedingung von Räumlichkeit und zugleich Verunmöglichungsbedingung von totaler Verräumlichung steht Zeit jenseits von Kategorien wie Aktivität/Passivität. Und wenn Zeit nicht so einfach den aktiven Part spielt, kann umgekehrt auch Raum nicht den passiven Part spie-
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len; Masseys schöner symmetrischer Dualismus, den sie Laclau unterstellt, funktioniert so also nicht. Doch wie wirkt sich dies dann auf ihre Kritik aus, Laclau depolitisiere das Konzept des Raumes? In Masseys Lektüre seiner Theorie spielt Zeit den aktiven, Raum den passiven Part. Gleichzeitig sei mit dem aktiven Part die Kategorie der Politik verbunden, während der passive Part von jeglicher Politik frei sei. Insofern Massey Laclau diese Überzeugung unterstellt, kann sie ihm vorwerfen, er begreife in abendländischer Tradition Raum als passive, unpolitische Masse. Dies wäre so, wenn Laclaus Theorie tatsächlich Masseys Schilderung entspräche. Doch das ist nicht das, was Laclau schreibt. Massey sitzt hier einer kategorialen Verwechslung auf, die unvermeidlich ist, wenn Kategorien politischer Philosophie als sozialwissenschaftliche Kategorien gelesen werden. Tatsächlich ist Zeit nicht so sehr die Kategorie der Politik als vielmehr die Kategorie des Politischen. Diese Unterscheidung selbst ist qualitativ und nicht bloß quantitativ – und sie ist deshalb den Sozialwissenschaftern normalerweise unzugänglich. Es trifft zwar zu, dass Laclau Politik und Raum gegenüberstellt: »Politics and space are antinomic terms« (ebd.: 68). Er tut dies aber, weil für ihn Raum, also das Soziale oder ›die Gesellschaft‹, gerade das – nie erreichbare – Endprodukt hegemonialer Anstrengungen der Verräumlichung ist. Genau diese hegemonialen Anstrengungen sind Politik, nämlich Praxen der Verräumlichung qua Artikulation. Man muss also unterscheiden zwischen Verräumlichung als Politik einerseits und Raum als Kategorie des Sozialen, der Identität, des Diskurses, der Gesellschaft und der Bedeutungssysteme im Allgemeinen andererseits. Und es kann Politik als Verräumlichung überhaupt nur geben, weil Raum in letzter Instanz unmöglich ist. Die vollständige Konstitution von Raum/System/ ldentität/Gesellschaft ist deshalb unmöglich, weil diese Kategorien auf ein konstitutives Außen verwiesen sind, das zugleich ihre Ermöglichungsbedingung ist und ihre vollständige Schließung und Selbstidentität verunmöglicht. Und einer der Namen für dieses Außen ist Zeit. Daraus folgt aber, dass Zeit keineswegs, wie Massey dies unterstellt, mit Politik identisch ist. Die Kategorie der Politik ist wie gesagt Verräumlichung. Das konstitutive Außen des Raumes ist dagegen das dem System Heterogene – alles, was sich nicht aus der inneren Logik des Systems selbst erklären lässt oder was keinen immer schon vorgezeichneten Platz in der Topographie hat: Dislokation, Störung, Unterbrechung, Ereignis. Laclau nennt diesen Moment der Unterbrechung und der Reaktivierung der räumlichen Sedimente »das Poli-
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tische«10. Man muss also unterscheiden zwischen Politik (Verräumlichung) und dem Politischen (dem dislozierenden Einbruch von Zeitlichkeit im emphatischen Sinn). David Howarth hat in einer Antwort auf Doreen Massey zu Recht darauf hingewiesen, dass Laclau hierin Heideggers Kritik an der metaphysischen Vorstellung von Zeit als Präsenz und Repräsentation folgt. Auch für Howarth ist Zeitlichkeit die Kategorie des Politischen als reine Negativität (Antagonismus), die Gesellschaft daran hindert, ihre Identität mit sich selbst zu erreichen, während Politik eine Praxis der Verräumlichung, der Identifikation ist. So meint Howarth: »The character of temporality is indeterminate and undecidable: it is a condition for politics, not politics itself. The political is antagonism and contestation between forces, whereas politics consists in giving form or embodying the political. In this respect, politics must always have a spatial dimension.« (Howarth 1993: 47)11
Was von Massey also übersehen wird, ist das, was man vielleicht die ontischontologische Differenz zwischen Raum und Zeit nennen könnte bzw. zwischen dem Gebrauch, den Laclau von diesen Begriffen macht, und jenem, den Massey von ihnen macht. Howarth hat das in seiner Antwort auf Massey völlig richtig erkannt, wenn er sagt: »It is my contention that Laclau’s usage of the concepts of space and time operates on the ontological level, rather than at the ontical level of Massey« (ebd.). Wenn Laclau von Zeitlichkeit spricht oder vom Paar Zeitlichkeit/Räumlichkeit, spricht er strenggenommen über die Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Verräumlichung (Politik) und Raum (Gesellschaft). Er spricht, wenn man so will, über Zeitlichkeit als Ontologie des sozialen Raums und der Politik. Letztere sind dagegen auf der ontischen Ebene angeordnet, über die Massey spricht, wenn sie etwa eine bestimmte »politics of location« untersucht. Auf der ontischen Ebene gibt es nicht Zeit, sondern nur Zeiten, also räum-
10 Laclau folgt dabei einer Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen, die sich im Französischen seit Ricoeur und bis hin zu Nancy und Lacoue-Labarthe findet und in der anglo-amerikanischen Literatur etwa bei Sheldon Wolin. 11 An diesem Zitat ist ebenfalls interessant, dass auch Howarth in seiner Laclaulnterpretation einen Punkt unterstreicht, der der von Massey diagnostizierten zweiten Welle der 1980er Jahre entspricht, hier allerdings für den engeren Bereich der politischen Theorie: Nicht nur Raum hat eine politische Dimension, sondern, wie Howarth sagt, jede Politik hat immer auch eine räumliche Dimension (1993: 47).Vgl. außerdem Michael Reids Antwort auf Howarth (1994). Zur Diskussion zwischen Massey und Laclau vgl. auch Miles (1997).
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liche Versinnbildlichungen von zeitlichen Abläufen, etwa zu Geschichte. Die ontologische Ebene der Zeitlichkeit zeigt sich vom Beobachterstandpunkt des Sozialen erst im Ereignis, erst wenn diese zeitlichen Abläufe schlagartig unterbrochen werden und beispielsweise im Moment von Revolutionen, eine neue ›Zeitrechnung‹ beginnt, d.h. ein neuer Raum die Hegemonie über einen alten gewinnt. Durch die Differenzierung zwischen einem sozialwissenschaftlichen und einem politikphilosophischen Zugang konnten wir also, Laclau folgend, drei Kategorien respektive Kategorienpaare gewinnen, die zwar alle etwas mit »Räumlichkeit« zu tun haben, aber nicht miteinander verwechselt werden dürfen, da sie auf verschiedenen ontologischen Ebenen angesiedelt sind. Diese Kategorien sind: a) Zeit und Raum. Zeit ist das ontologische Prinzip der Dislokation einer Struktur, die aus der essenziellen Abhängigkeit der Struktur von einem konstitutiven Außen resultiert. Raum ist umgekehrt der Name für den theoretischen Extremfall einer völligen Auslöschung von Zeitlichkeit und Dislokation. Dieser Extremfall kann jedoch nie eintreten, weil das konstitutive Außen der Struktur immer Spuren und dislokatorische Turbulenzen im Inneren hinterlassen wird. Könnte man das konstitutive Außen ausschalten, dann würde man auch die Strukturiertheit der Struktur ausschalten. Mit dem Verschwinden von Zeitlichkeit würde also auch Räumlichkeit verschwinden. Raum selbst – d.h. eine geschlossene, nichtdislozierte Totalität ohne konstitutives Außen – ist folglich nie erreichbar. Der Begriff ›Gesellschaft‹ wird üblicherweise in diesem Sinne von Raum verwendet (»Alles ist gesellschaftlich«): als unhintergehbarer Horizont, der kein Außen kennt. Insofern aber Raum und Zeit als ontologische Prinzipien nur analytisch trennbar sind und das Prinzip des Raumes als Totalität nie ohne Einschlüsse und Dislokationen von Zeit erreichbar ist, ist Gesellschaft unmöglich – unmöglich genau als geschlossene Totalität als Raum. So die provokante Zentralthese von Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Buch Hegemonie und radikale Demokratie (1991): Gesellschaft existiert nicht. b) Räume. Wenn es Raum im strengen, ontologischen Sinn nicht gibt, so ist doch genau das der Grund dafür, dass es auf der ontischen Ebene Räume geben kann. Wenn Massey von Raum spricht, und hieraus entstehen die Missverständnisse, meint sie zumeist diese Ebene der Räume. Doch auch Laclau meint Räume, wenn er von der Unebenheit des Sozialen und von Sedimenten spricht. Der Begriff der Sedimente – weit davon entfernt, Passivität anzuzeigen – ist insofern voll gerechtfertigt, als er nur im Plural Sinn macht. Im nächsten Abschnitt werden wir gleich darauf zurückkommen.
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c) Verräumlichung. Räume sind aber nun nicht präexistent, sondern müssen fortwährend konstruiert werden. Dieser Prozess der Verräumlichung oder Sedimentierung ist der eigentliche Moment der Politik. Die Logik der Politik nennt Laclau Hegemonie, Verräumlichung ist folglich nichts anderes als die Hegemonisierung von Zeit durch Raum: »[…] any representation of a dislocation involves its spatialization. The way to overcome the temporal, traumatic and unrepresentable nature of dislocation is to construct it as a moment in permanent structural relation with other moments [etwa als Topographie, O. M.], in which case the pure temporality of the ›event‹ is eliminated.« (Laclau 1990: 72)
Diese Konstruktion – die mehr oder weniger permanente Verbindung verschiedener Momente zu einem strukturierten Ganzen – trägt bei Laclau (wie auch in den Cultural Studies, bei Stuart Hall oder Lawrence Grossberg) den Namen Artikulation.
V ON R AUM
ZU
R ÄUMEN
UND ZURÜCK : DREI I RRGÄNGE
Im Folgenden soll es um drei meiner Ansicht nach wenig geeignete Strategien der Rekonzeptualisierung von öffentlichem Raum gehen, die ich an den Namen Foucault, Deleuze und Habermas festmachen will12. Ich werde deren Raumtheorien nicht ausführlich referieren. Es geht mir nur darum, eine mögliche Kritik anzureißen, wie sie aus dem bisher Gesagten – d.h. aus Sicht der politischen Theorie – folgen würde. Während Foucault bewusst versucht, über eine Strategie der Vervielfältigung Anti-Öffentlichkeiten stark zu machen, verstehen Deleuzianer den öffentlichen, urbanen Raum als Flutgebiet von Energie- und Libidoströmen. Habermas wiederum hypostasiert eine bestimmte Vorstellung des öffentlichen Raums zu ›der Öffentlichkeit‹. Diese drei Irrwege der Multiplizierung von Raum (Foucault), der Substanzialisierung von Raum (Deleuze) und der Hypostasierung von Raum (Habermas) entfalten, so die These, eine ausgesprochen depolitisierende Wirkung. Vor der in diesem Abschnitt aufgespannten negativen Folie wird es schließlich im nächsten Abschnitt leichter fallen, einer wirklich politischen Theorie von public space – und damit politischer Public Art – näherzukommen.
12 In der folgenden Darstellung soll es nicht um eine detaillierte und ausführliche Würdigung dieser Theorien gehen, sondern eher um eine Verdeutlichung – ex negativo – meines eigenen Vorschlags einer politischen Raumtheorie.
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Foucaults Vortrag »Andere Räume«, gehalten 1967, hat spätestens seit seiner Publikation in den 1980er Jahren ein ganzes Genre der Heterotopologie-Studien ausgelöst. Der Erfolg dieses Gelegenheitstextes ist wohl nur durch das zwanghafte Verlangen von Architekten und Urbanisten nach Theorie-Importen zu erklären (und durch die unaufhaltsamen Freude von Architekten an der 1:1-Umsetzung von poststrukturalistischen theoretischen Konzepten in architektonische Bauformen wie z. B. Falten oder Eier). »Andere Räume«, also Heterotopien, werden in Foucaults Text als privilegierte, verbotene oder heilige Orte innerhalb unserer Gesellschaft vorgestellt, die entweder einen Raum des Übergangs, der Krise oder der Abweichung markieren. Krisenheterotopien, die Foucault vor allem sogenannten Urgesellschaften zurechnet, sind privilegierte, geheiligte oder verbotene Orte. Diese würden heute durch Abweichungsheterotopien wie Erholungsheime, psychiatrische Kliniken oder Gefängnisse abgelöst. Generell muss man Heterotopien wohl als Einfaltungen des Außen ins Innen verstehen, als, wie Deleuze sagen würde, »Blasen« in einem Homotopos, der von Foucault nicht weiter definiert wird. Typisch für diese Blasen ist das letzte Beispiel, das Foucault in seinem Vortrag gibt, das Schiff: »[…] ein schaukelndes Stück Raum«, ein »Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist«. Das Schiff ist für Foucault »die Heterotopie schlechthin«. Und er zieht einen etwas romantisierenden Schluss: »In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter« (2002: 37). Als Räume des Außen im Innen sind Heterotopien real existierende Utopien. Und sie sind vor allem multipel, das heißt, man müsste von vielen kleinen ›Außen‹ im Plural sprechen. Mit dieser Pluralisierung der Kategorie des Außen (und ihrer Einfaltung ins Innen) kauft Foucault allerdings eine gewisse Inkonsistenz in seiner Darstellung ein: Denn der von Foucault beschworenen heterologischen Wissenschaft ist es offenbar nicht möglich, ein Kriterium für die genaue Natur der Grenze zwischen dem Außen und dem Innen anzugeben. Wenn das Außen ›real existierend‹ und an vielen Orten im Innen auftaucht, inwiefern kann man dann noch von einem Außen sprechen? Wandelt sich das Andere-im-Selben nicht unmittelbar in genau dieses Selbe? Handelt es sich bei den Heterotopien nicht einfach nur um Variationen oder bestimmte Modi von Homotopien? Da uns Foucault kein Kriterium an die Hand gibt, mit dessen Hilfe wir die Grenze zwischen Innen und Außen definieren könnten, bleibt völlig unklar, wer oder was eigentlich bestimmt, ob ein gegebener Ort in diese Kategorie fällt oder nicht. Das Konzept der Heterotopien verliert selbst alle Konturen. Benjamin Genocchio hat dieselbe Frage folgendermaßen formuliert: »How is it, that heterot-
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opias are ›outside‹ of or are fundamentally different to other spaces, but also are related to and exist ›within‹ the general social space/order that distinguishes their meaning as different?« (1995: 36) Die einzig mögliche Antwort sei, dass jene Person, die die Orte differenziert, offenbar Foucault selbst ist, so Genocchio. Es handele sich bei der Kategorisierung der Heterotopien offenbar um eine willkürliche Setzung des Autors. Ohne Kriterium für die Grenze zwischen Innen und Außen weichen auch die Kriterien für die konkrete Bestimmung von Orten als Heterotopien auf. Wenn Foucault sich also dazu entschließt, in die Kategorie der Heterotopien u.a. Gärten, Schiffe, Wochenbetten, Bordelle, Kirchen, Hotel- und Motel-Zimmer, Museen, Friedhöfe, Bibliotheken, Gefängnisse, Asyle, Erholungsheime, psychiatrische Hospitäler, Militäreinrichtungen, Theater, Kinos, Römische Bäder, das türkische Hamam und die skandinavische Sauna aufzunehmen, und wenn man ohne weiteres, wie Genocchio es tut, dieser Liste Märkte, die Kanalisation, Vergnügungsparks und Shopping Malls hinzufügen könnte, was unter der Sonne ist dann nicht heterotopisch? Gibt es überhaupt andere Orte als andere Orte? Eine wohlwollende Lektüre könnte diese systematische Schwäche natürlich auch als eigentliche Stärke des foucaultschen Konzepts auslegen. So stellen Bernd Knaller-Vlay und Roland Ritter die These auf, er vollziehe mit seiner Auflistung von nahezu borgesscher Antisystematik keine »schwache Konkretisierung eines starken Gedankens«, sondern er inszeniere »geradezu eine systematische Inkonsistenz, mit der er die Liste davor schützt, abgeschlossen zu werden«: »Die Liste der Heterotopien suggeriert eine offene Serie, die sich weiterdenken und fortschreiben läßt« (1998: 10). Weiterdenken und Fortschreiben, schön und gut, aber nach welchen Kriterien? Das Problem ist, dass, wenn man keine Kriterien für das Andere/das Außen angeben kann, ich umgekehrt das Eigene/das Innen auch nicht subvertieren kann. Heterotopien sind dann nicht einfache Bestandteile des Innen, sie sind ihm auch nicht äußerlich, vielmehr fallen sie – bei Foucault wie etwa auch bei Marc Augé (1994) – in eins mit dem Innen: Wenn alles zum Heterotopos werden kann, wird letztlich nichts dazu werden. Foucaults verschwommene Heterotopologie erweist sich in Konsequenz als Homotopologie. Dieses Argument lässt sich genauso entlang der im ersten Abschnitt entwickelten Logik machen: Die bloße Multiplizierung von anderen Räumen oder internen Außenräumen zu einer unabschließbaren Reihe macht es umgekehrt unmöglich, die Grenzen des eigenen Raums oder Innenraums noch in irgendeiner Weise anzugeben, denn, wie gesagt wurde, das Außen muss von radikal anderer Natur sein als das Innen. Wenn das Innen etwa ein System von Differenzen oder von differentiell bestimmten Positionen ist, kann das Außen keine weitere Diffe-
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renz oder Position sein, denn dann wäre es Teil des Innen. Das konstitutive Außen – das bei Laclau als ausgesprochen nichträumlich (Zeit) gedacht wird – würde in diesem Fall selbst zu nicht mehr als einer weiteren Differenz oder Heterotopien des Innen. Damit ist es aber kein Außen mehr (und das Innen kein Innen). Und es ist nicht mehr konstitutiv, da es von einer ontologischen Kategorie (Zeit/Raum) auf eine ontische Kategorie (Räume) reduziert wurde. Diese Überlegung führt mich zur Hypothese, dass der eigentliche und heimliche Popanz, gegen den das Konzept der Heterotopie antritt, nicht die ontologische Kategorie des ›Selben‹ oder des ›Innen‹ ist, sondern das ontische Gegenkonzept eines bestimmten Konkurrenz-Topos im Innen: nämlich des öffentlichen Raumes. Mit anderen Worten: Das einzig Gemeinsame der Heterotopien, die Foucault aufzählt und die sich noch hinzufügen ließen, besteht darin, dass sie zu einem Ort nicht zu gehören scheinen, nämlich zur bürgerlichen Öffentlichkeit. Foucault entwirft ein partikularistisches Raumkonzept, dessen uneingestandener, aber implizierter Gegner der Universalismus des öffentlichen Raums ist. Gestützt wird diese Hypothese durch die Tatsache, dass Foucault nicht angibt, wie und ob Heterotopien miteinander vermittelt werden – eine Aufgabe, die klassischer Weise der öffentliche Raum gegenüber den privaten Räumen übernahm. Es wird nicht geklärt, was die Austauschbeziehung zwischen Heterotopien ist oder wie sie zueinander stehen. Muss man, so ließe sich naiv fragen, durch den Homotopos gehen, um von einem Heterotopos in den anderen zu kommen, oder gibt es Türen zwischen den Heterotopien? Und ist die Öffentlichkeit jener Raum, den wir durchqueren müssen, wenn wir von einem Heterotopos in den anderen wollen? Doch wahrscheinlicher ist, dass die Öffentlichkeit nicht nur der Homotopos ist, der die Heterotopien umschließt, sondern dass sie für Foucaults Argument vielmehr die Rolle der Anti-Heterotopie übernimmt (und die Heterotopien die Rolle der Anti-Homotopien). Die universalistische bürgerliche Öffentlichkeit bildet schlichtweg die Antithese zu den partikularistischen Krisen- und Abweichungs-Heterotopien, gegenüber der sich letztere – eben qua Abweichung – stillschweigend definieren. Damit sind Heterotopien die bloße Umstülpung, die Inversion des Konzeptes eines nicht weiter beschriebenen Homotopos, der sich jedoch implizit als Öffentlichkeit zu erkennen gibt. Ein Homotopos, der als universelle, mythische Instanz vorausgesetzt werden muss, damit das Heterotopie-Konzept Sinn macht. Wenn Foucault an der einzigen Stelle im Text, an der er tatsächlich vom öffentlichen Raum spricht, die Entgegensetzung von privatem und öffentlichem Raum als Ergebnis einer stummen Sakralisierung beschreibt, dann ist sein Text selbst das beste Beispiel für die »Stummheit«, mit der diese Sakralisierung sich noch in ihrer scheinbaren Subversion vollzieht.
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Betrachten wir nun die Variante einer Heterotopie, die gleichzeitig als ›neue Öffentlichkeit‹ gepriesen wird: das Internet. Auf einem Symposium mit dem Titel Fiktionen von Öffentlichkeit im Künstlerhaus Stuttgart beantwortete der Frankfurter Soziologe Peter Möller nach einer Bestandsaufnahme der Kommerzialisierung des öffentlichen Raums seine eigene Abschlussfrage »Wo ist der öffentliche, frei zugängliche Raum der 90er?« mit dem Vorschlag: »In den digitalen Städten der Netzwerke« (vgl. Schacher 1997: 170). Die Vorstellung vom Internet als ›öffentlichem Raum‹ oder schlicht ›Öffentlichkeit‹ hat sich so verfestigt, dass es eine müßige Fleißübung wäre, nun ähnliche Behauptungen wie die Möllers aneinanderzureihen. Selbst die Kritik am »Mythos Öffentlichkeit« scheint auf den ersten Blick bereits formuliert und abgehakt. Diesem Internet-Mythos wird derzeit allerdings mit einem anderen Mythos gekontert, der für Öffentlichkeit überhaupt keinen Platz mehr lässt: Die Rede ist vom (post)deleuzianischen Mythos vom Internet als rhizomatischer Raum der Flüsse ohne Zentrum. Öffentlichkeit wird hier überschwemmt von einer Räumlichkeit, die als pralle Positivität oder Substanz rationale Diskussion oder Normalisierung/Verräumlichung/Eingrenzung vollständig verunmöglicht. Ich nenne die Rede von einem Raum, der zu prall gefüllt ist, um sich in klaren Grenzen einhegen zu lassen, und der zugleich den Raum der Öffentlichkeit ›überflutet‹, die Raum-der-Flüsse-Theorie. In der »Architects in Cyberspace« gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift Architectural Design formulierte Sadie Plant die Raumder-Flüsse-Theorie des Internet mit unmissverständlicher Deutlichkeit. Cyberspace widerstehe, so argumentiert sie, allen Forderungen nach Überwachung, Regulation und Zensur, denn: »[…] such zones have always been out of control«. Damit zieht Plant eine Parallele zu Städten: »Cities, like Cyberspace, are not object of knowledge to be planned and designed, but cybernetic assemblages, immensely intricate interplays of forces, interests, zones and desires too complex and fluid for even those who inhabit them to understand« (1995). Der Grund für diese urbane Widerständigkeit ist in der deleuzianischen Substanz zu suchen, die den Städten zugeschrieben wird: »Weeds and grasses lift the paving stones.« Diese Anspielung auf den Mai ’68 und den Situationismus bleibt nicht auf das angeblich subversive Potenzial von Cyber-Flows beschränkt: »All spaces, their builders, and inhabitants, functioned as cybernetic systems in multiple layers of cybernetic space« (ebd.: 37). Der euphorische Mythos von der Eigenkraft der flows ist üblicherweise artikuliert mit der diffus anarchistischen Beschwörung von Zentrumslosigkeit. Dafür wurde bis zur Ohnmacht das Schlagwort »Rhizom« ausgeweidet. Aber in gewisser Weise ist das Promoten einer fließenden, rhizomatischen Zentrumslosigkeit des Internet/der Stadt eine äußerst schale Angelegenheit. Alle antifunda-
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tionalistischen Theorien würden heute darin übereinstimmen, dass per Definition kein Signifikationssystem ein natürliches Zentrum besitzt, und schon allein aus diesem Grund kann auch das Internet kein natürliches Zentrum besitzen. Doch was heißt das schon? Wieder möchte ich das Problem rückanbinden an die im ersten Abschnitt skizzierte politische Theorie. Ernesto Laclau macht klar, dass mit dem einfachen ritualistischen Verweis auf den dezentrierten Charakter einer Struktur die Story noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Was unter einer dezentrierten Struktur verstanden werden muss, ist »not just the absence of a centre but the practice of decentring through antagonism« (Laclau 1990: 40). Da einerseits jedes Signifikationssystem disloziert ist, kann es kein singuläres Zentrum geben. Doch andererseits ist zu berücksichtigen: »The response to the dislocation of the structure will be its recomposition around particular nodal points [Zentren] of articulation by the various antagonistic forces« (ebd.). So dass wir sagen können, dass genau die dislokatorische, dezentrierte Natur eines Signifikationssystems sowohl das Resultat des Kampfes verschiedener Kräfte um die Bedeutung dieses Systems ist als auch ein Aufruf zu neuen Zentrierungsversuchen: »Social dislocation is therefore coterminous with the construction of power centres« (ebd.)13. Was bedeutet das für unser Problem? Wenn das Patchwork von Heterotopien oder das Rhizom des Internet ein ›natürliches‹ und stabiles Zentrum besäße, gäbe es keine Dislokation und somit keine Bedeutungsproduktion. Der Prozess der Bedeutungsartikulation würde stillstehen, und wir beträten eine gefrorene Welt, in der jedes Zeichen an einen natürlichen Referenten gefesselt ist und völlige Transparenz herrscht. Eine Welt totaler und ewiger Bedeutungsfülle. Doch wenn andererseits Heterotopien oder Öffentlichkeiten überhaupt kein Zentrum hätten, wenn Bedeutung nicht durch die partielle Konstruktion von Knotenpunkten (durch Verräumlichung) artikuliert würde und kein Signifikant eine temporäre Relation zu einem bestimmten Signifikat aufrechterhalten könnte, dann hätten wir eine psychotische Struktur und wiederum keine Bedeutung, sondern eine Welt totaler und ewiger Bedeutungslosigkeit. Das deleuzianische Flüsse-Modell
13 Das blinde Insistieren auf dem fluiden Charakter des Netzes unter Ausblendung der ebenfalls vorhandenen Fixationsbemühungen hat u.a. zum Nebeneffekt, dass man die Produktion neuer Zentralen wie etwa World Cities übersieht. Ein Phänomen, auf dessen Berücksichtigung etwa Saskia Sassen beharrlich insistiert: Das elektronische ›frei fließende‹ Finanzkapital benötige infrastrukturelle Fixierungen (Manhattan, London, Tokio, Bombay). Sassen geht sogar einen Schritt weiter und behauptet, mit dem Cyberspace trete eine neue – transterritoriale – Form der Zentralität auf: Das Netz hat kein Zentrum, das Netz ist das Zentrum (oder, würde ich hinzufügen: eines der derzeit am stärksten artikulierten Zentren).
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ist in diesem Sinne hochgradig psychotisch. Und auch im deleuzianischen Raum ist kein Raum für den öffentlichen Raum von Politik. Raum wird naturalisiert, vitalisiert, mit Naturmetaphern versehen und erhält eine Positivität oder Substanz, die jegliche Politik (z.B. alle artikulatorischen Praxen der Verräumlichung) überflüssig macht. Führt das bisher Gesagte zu einer Generalkritik an pluralen Raummodellen? Folgt aus der Kritik am foucaultschen Heterotopie-Modell notwendigerweise eine Umarmung von Öffentlichkeit als Homotopos? Diese Frage führt uns zum letzten Modell von Öffentlichkeit, und zwar von Öffentlichkeit als Super- oder Metaraum. Die Idee von der einen vereinheitlichenden Öffentlichkeit wurde immer wieder Jürgen Habermas zugeschrieben. Das mag nicht völlig gerechtfertigt sein, denn Habermas selbst spricht von Öffentlichkeiten im Plural: Von regionalen, kulturellen, literarischen, wissenschaftlichen, politischen, organisatorischen, medialen und subkulturellen Teilöffentlichkeiten. Das Problem besteht nicht darin, dass Habermas diese Pluralität der Teilöffentlichkeiten nicht anerkennen würde, sondern darin, dass diese Pluralität bei ihm von einem positiven Prinzip kommunikativer Vernunft kassiert wird. Denn alle Teilöffentlichkeiten verweisen als füreinander durchlässige auf eine übergreifende Gesamtöffentlichkeit. Habermas zufolge existiert trotz aller zugestandener Pluralität auf der Ebene der Teilöffentlichkeiten doch eine demokratische oder autonome Öffentlichkeit – sei es auch in Form eines Netzwerks autonomer Öffentlichkeiten –, die nicht mit den massenkulturellen Öffentlichkeiten zusammenfällt, sondern in der die Bürger sich über die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten autonom verständigen könnten. Im Rahmen des bisher Gesagten ist die Vorstellung einer rationalen Super- oder Meta-Öffentlichkeit – also auch die Öffentlichkeit, von der wir reden, wenn wir den Begriff des public space zum Begriff der public sphere hypostasieren – verfehlt. Nicht, dass es eine vernünftig und demokratisch diskutierende Öffentlichkeit nicht geben könnte, die kann es natürlich geben, nämlich überall, wo Menschen eben vernünftig und demokratisch diskutieren. Man muss noch nicht einmal bestreiten, dass vernünftiges und demokratisches Diskutieren an sich möglich ist – wenn auch praktisch unwahrscheinlich, so doch zumindest als regulative Idee und asymptotisches Ideal möglich. Aber damit bleibt eine solche Öffentlichkeit dennoch eine Teilöffentlichkeit unter vielen, die noch lange nicht ontologisch privilegiert ist, noch lange keine Gesamt- oder, in meinen Worten, Meta- und Superöffentlichkeit. Meine Kritik an der Meta-Öffentlichkeit entspricht also in keiner Weise der postmodernen lyotardschen Kritik an Metanarrativen. Der Punkt ist nämlich nicht, dass alle Metanarrative, und zu diesen würde auch ich das habermassche Öffentlichkeitsnarrativ zählen, abzulehnen sind, weil sie automatisch in eine Art
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Totalitarismus führten. Der eigentliche Kritikpunkt ist, dass solche Narrative keinen Metastatus geltend machen können und daher auf demselben ontologischen Level angesiedelt sind wie alle anderen Narrative. Das spricht noch nicht gegen das Metanarrativ selbst – und es mag durchaus sinnvoll sein, für die Hegemonie eines bestimmten Narrativs zu streiten –, sondern es spricht nur gegen dessen transzendentalen Status. Ich spreche mich also keineswegs gegen die Möglichkeit kommunikativer Vernunft oder gegen die Möglichkeit einer demokratischen public sphere aus. Eher spreche ich mich gegen die Vorstellung aus, diese public sphere sei in ontologischer Weise gegenüber anderen, vorvernünftigen oder vor-, nicht- oder antidemokratischen public spaces privilegiert. Um ein extremes Beispiel zu geben: Wenn wir in den Begriff der Öffentlichkeit nicht von vornherein die Idee kommunikativer Vernunft hineinschmuggeln wollen, dann hindert uns nichts daran, auch von ›faschistischen Öffentlichkeiten‹ zu sprechen. Wieso sollte die über Hitlers Radioansprachen hergestellte Öffentlichkeit des einen deutschen Volks denn keine Öffentlichkeit sein, wieso sollte die Öffentlichkeit eines Nürnberger Reichsparteitages keine Öffentlichkeit sein? Warum sollte nur der zwanglose vernunftgeleitete Dialog Öffentlichkeiten im emphatischen Sinn generieren, gibt es nicht auch die Öffentlichkeit des Kommandos, des Befehls, der autoritären Anrufung, der enthusiastisch taumelnden oder im Stechschritt marschierenden Massen? Oder, um weniger pathetische Beispiele zu geben: Was macht all die diversen Teilöffentlichkeiten wie die Alltagsöffentlichkeiten der Werbung, des Treppenhaus-Tratsches, der Sportveranstaltung oder der Jugendkulturen weniger öffentlich, weniger autonom oder weniger universell als die eine, über vernunftgeleitete Diskussion hergestellte Öffentlichkeit? Und auch wenn wir unseren Öffentlichkeitsbegriff auf politische und demokratische Öffentlichkeiten einengen, bleibt selbst deren Pluralität irreduzibel, angeordnet um eine Reihe irreduzibler politischer Sprachspiele und unterschiedlicher Forderungen. Damit wären wir wieder bei einer Öffentlichkeitskonzeption, die mit Laclaus Vorstellung von öffentlichem Raum kompatibel wäre: »For me, a radically democratic society is one in which a plurality of public spaces constituted around specific issues and demands, and strictly autonomous of each other, instils in its members a civic sense which is a central ingredient of their identity as individuals. Despite the plurality of these spaces, or, rather, as a consequence of it, a diffuse democratic culture is created, which gives the community its specific identity. Within this community, the liberal institutions – parliament, elections, divisions of power – are maintained, but these are one public space, not the public space.« (Laclau 1996: 121)
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Was Laclau über die institutionellen Öffentlichkeiten der Demokratie (Parlament) sagt, kann auch über das habermasianische Konzept demokratischer Öffentlichkeit gesagt werden. Es ist nicht die Öffentlichkeit. Ähnlich wie die Verfechter der ›freiheitlichen demokratischen Grundordnung‹ die demokratische Öffentlichkeit gerne auf das Parlament beschränken würden, hypostasiert Habermas einen bestimmten public space (der vernunftgeleiteten Diskussion) zu der einen public sphere14. Doch ist nicht gerade die unreduzierbare Pluralität von Öffentlichkeit – also die Abwesenheit einer rationalen oder sonstigen Superöffentlichkeit, eines Metaraums – Bedingung dafür, dass so etwas wie Demokratie überhaupt möglich ist? Laclau würde genau das behaupten: »But the condition for a democratic society is that these public spaces have to be plural: a democratic society is, of course, incompatible with the existence of only one public space« (ebd.: 120). Damit ist keineswegs gemeint, Demokratie bestünde in einem fröhlichen Patchwork der Öffentlichkeiten. Demokratie bedeutet vielmehr, dass der Konflikt um die Frage, welche Öffentlichkeiten als politisch legitim toleriert werden und welche nicht, nicht von vornherein – etwa durch Rekurs auf ein quasitranszendentales Ideal kommunikativer Vernunft – automatisch schon entschieden ist. Demokratie bedeutet, dass keine bestimmte Öffentlichkeit, kein einzelnes Projekt der Verräumlichung diesen transzendentalen Status für sich in Anspruch nehmen kann. Das impliziert wiederum, dass der Ort der Öffentlichkeit leer bleibt. Das unterscheidet diesen Ansatz, der etwa den Theorien Laclaus und Leforts (zu ihm später) entspräche, deutlich von simplen Pluralisierungen des habermasschen Begriffs der Öffentlichkeit, wie man sie etwa bei Fraser (1992) oder Benhabib (1992) findet15. Um zu rekapitulieren: Es wurden drei Irrwege ausgemacht, die in gewisser Weise illustrieren sollen, was bei Raum- und Öffentlichkeitstheorien schiefgehen kann und wie bestimmte Entscheidungen im Outset der Theorie depolitisierende Effekte oder Implikationen haben können. l. Der erste Irrweg war derjenige der Multiplizierung von Raum bzw. der Einfaltung des konstitutiven Außen ins Innen. Foucault will mit dem Modell des
14 Oft wird gesagt, Habermas mache das Kommunikationsmodell des universitären Seminarraums zum Modell der Politik. Dass dabei das agonale Moment von Politk unter den Tisch fällt, versteht sich von selbst. Siehe dazu etwa Mouffe (1993). Vgl. auch Connolly (1987; 1991). 15 Trotz der oberflächlichen Vervielfältigung von Öffentlichkeit bleibt deren entscheidendes Merkmal der normativen Deliberation für alle Öffentlichkeiten nach wie vor erhalten. Das pluralisierende Up-dating ändert also nichts an der Sache selbst.
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Heterotopos ein Gegenmodell zum großen geschlossenen Gesellschaftsraum entwerfen, ein Gegenmodell insofern, als dieser Raum immer Einschlüsse des Außen, des ›anderen Raums‹ aufweist: heterotopoi. Zu sagen, dass diese Räume multipel und plural sind, heißt aber noch lange nicht zu sagen, dass sie ein endloses unstrukturiertes Puzzle ausmachten oder dass sie alle gleichwertig wären. Indem das einzig angebbare Kriterium für einen Heterotopos seine Abweichung vom Homotopos ist und dieser – ähnlich wie die habermassche Superöffentlichkeit – letztlich ein Phantasma der Theorie, die entweder anarchistisch vor ihm warnt wie die Foucaultianer, oder ihn staatstragend beschwört, wie die Habermasianer, kann, wie gezeigt wurde, schließlich alles zum Heterotopos werden, von der Sauna bis zur Shopping Mall. Am Schluss ist auch das Parlament ein Heterotopos. 2. Der deleuzianische Irrweg ist derjenige der Substanzialisierung des Raums. Alle ausdifferenzierten Öffentlichkeiten – Heterotopien, Utopien und Homotopien – werden hier gewissermaßen zusammengerührt. Die literarische Öffentlichkeit unterscheidet sich nicht mehr von der parteipolitischen, subkulturellen oder künstlerischen, denn wir haben es nicht mit einer Logik voneinander abgrenzbarer Räume, möglicherweise Systeme zu tun, sondern mit einem rhizomatischen, zentrumslosen Brei. Dieser Sicht wäre entgegenzuhalten, dass der Raum des öffentlichen Raums keine quasinaturwüchsige Kraft ist, die aus eigenem Antrieb die Stadt in einen großen libidinalen Dschungel wandeln würde, denn das hieße, ihm eine Eigengesetzlichkeit, eine innere antreibende Substanz des ständigen Werdens und Vergehens zuschreiben. Damit blieben wir im Reich deleuzianischer Naturphilosophie, um nicht zu sagen Naturmystik. Politik wird folglich zu einer ausgesprochen überflüssigen Tätigkeit, denn es ist ja die quasinatürliche Substanz der Libido-Flows, die die Pflastersteine anhebt – und nicht der politisch zu organisierende und artikulierende Wille der Demonstranten. 3. Doch ein Kontrastmodell zu diesem vitalistischen Hippie- und NeoHippie-Modell ist jenes Modell, in dem der Öffentlichkeit die Rolle des Superhirns zukommt16. Dies ist der Irrweg der Hypostasierung des öffentlichen Raums: Ein bestimmter öffentlicher Raum – jener der vernunftgeleiteten, zwanglosen, normativen Deliberation – wird zu der »Öffentlichkeit«. Doch der Raum des öffentlichen Raums ist nicht der bürgerliche Metaraum vernunftgeleiteter und gewaltfreier Diskussion, obwohl nicht mal abgestritten werden muss, dass auch so ein Raum auf der ontischen Ebene irgendwo existiert oder, wenn nicht,
16 Habermas ist skeptisch gegenüber dem bewusstseinsphilosophischen Erbe einer Theorie der Öffentlichkeit als Superhirn, ohne dass es ihm allerdings immer gelingt, dieser Tradition selbst auszuweichen.
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im kontrafaktischen und regulativen Sinn existieren sollte (obwohl ich beides – faktische Existenz wie kontrafaktische Wünschenswertigkeit – aus verschiedenen Gründen anzweifeln würde). Vielmehr ist der öffentliche Raum plural oder multipel und der habermassche Debattierverein, wenn es ihn irgendwo geben sollte, ist ein öffentlicher Raum unter vielen, der den anderen gegenüber keineswegs ontologisch privilegiert ist. Keiner dieser drei Ansätze kann Rechenschaft darüber ablegen, warum der öffentliche Raum einerseits plural ist, andererseits aber nicht beliebig plural d.h. nicht unstrukturiert, sondern warum bestimmte Öffentlichkeiten andere Öffentlichkeiten dominieren17. So hilft uns auch keiner dieser Ansätze zu erklären, wie die verschiedenen Öffentlichkeiten miteinander in Beziehung stehen – wie etwa Austauschbeziehungen zwischen diesen Öffentlichkeiten funktionieren sollen, wenn man a) nicht von einer Gesamtöffentlichkeit ausgeht, die alle anderen vereinheitlicht und somit für den Austausch zuständig ist (der homotope Raum als Medium zwischen den Heterotopien), und b) nicht von einem Puzzle unverbundener Öffentlichkeiten ausgehen will, zwischen denen keinerlei Austausch stattfindet. Eine Klärung dieser Probleme kann nur eine politische Theorie leisten, die die Art und Weise in Rechnung stellt, in der verschiedene Projekte der Verräumlichung – d.h. der Hegemonisierung von Raum – miteinander im Streit liegen und partielle und vorübergehende Hegemonien über andere Räume errichten.
Ö FFENTLICHKEIT ( EN )
UND RADIKALE
D EMOKRATIE
Der bisher wohl gültigste Versuch, gegenwärtige Kunstpraktiken und die politische Kategorie des öffentlichen Raums zusammenzudenken, stammt von Rosalyn Deutsche. Eines der vordringlichen Ziele von Deutsches wichtigem »Agoraphobia«-Essay ist es, ihrer eigenen Auskunft nach, neue Theorien »radikaler und pluraler Demokratie« in den Public-Art-Diskurs einzuschleusen. Es scheint, dass Deutsche die Auffassung teilt, die auch dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegt: Um die gegenwärtige Frage, was Kunst öffentlich mache, einer Beantwortung näherzubringen, wird man sich der politischen Theorie zuwenden müssen. Damit sei natürlich nicht eine neue Leittheorie für die Kunst eingefordert. Vielmehr bestimmten die Fragen, Probleme und Sackgassen, welche die politische Philosophie und Demokratietheorie bereits seit langem anhand des Konzepts der
17 Wohlgemerkt: In beiden Fällen setze ich den Begriff in den Plural, – nicht, warum die Öffentlichkeit andere Öffentlichkeiten dominiert, sondern, warum bestimmte Öffentlichkeiten andere Öffentlichkeiten dominieren.
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Öffentlichkeit beschäftigen, immer auch schon die Public-Art-Diskussion – selbst dort, wo sie nicht in explizit politiktheoretisches Vokabular gekleidet wurden. So kann Deutsche sagen: »Although public art discourse has so far paid little direct attention to these theories, the issues they raise are already present at the very heart of controversies over aesthetic politics« (1996: xxii). Wenn wir von Sackgassen sprechen, so war und teilweise ist in der Linken eine dieser Sackgassen, in die eine progressive Theorie der Öffentlichkeit – etwa entlang einer Theorie »radikaler und pluraler Demokratie« – sich nicht verirren sollte, der marxistische ökonomische Determinismus, der politische Begriffe wie Öffentlichkeit zu einem bloßen Überbauphänomen der ökonomischen Basis erklärte. Deutsche hat mit ihrem Versuch einer Retheoretisierung von Public Art und public space an vielen Fronten gleichzeitig zu kämpfen: gegen Public Art als ›Behübschung‹ oder als Gentrifikationsmittel (als ästhetischer Arm der Grundstückspekulanten), gegen Konservative wie Jesse Helms, die den Begriff der Öffentlichkeit substanzialisieren und einschränken wollen, andererseits gegen die kommunitaristische Linke, die unter Politik nur Community-Arbeit versteht, in Kritik und Theorie sogar gegen Deutsches eigene Kollegen und Kolleginnen von der Zeitschrift October, die – etwa in der Verteidigung von Serras Tilted Arc, der von Manhattans Federal Plaza entfernt werden sollte und auch wurde – die Ideologie argumentativ fortschrieben, Kunst werde autonom und von Künstlerpersönlichkeiten produziert, und die überhaupt zeitweise kulturkonservativen Anfällen erliegen. Die Kritik an Public Art als Gentrifikationshilfe, als kunstinternes Distinktionsmittel, als individualistische Ersatzleistung für Public Welfare setze ich als allgemein bekannt voraus, und sie muss an dieser Stelle nicht neu geprobt werden. Doch die entscheidende Front, an der Deutsches Kritik den Begriff des public space freizukämpfen hat, ist jene gegenüber der neomarxistischen Linken (Harvey und Jameson) und ihrem ökonomischen Determinismus. Letzterer erweist sich bei näherem Hinsehen als der Hauptgegner, wenn es um eine fortschrittliche Artikulation von politischer Öffentlichkeit mit Kunst/Kultur gehen soll. Eine Kritik am marxistisch-sozialwissenschaftlichen Paradigma der Kunst- und Kulturkritik, dort wo es ökonomisch-deterministisch wird, muss dabei Hand in Hand gehen mit einer Kritik des Paradigmas der radikalen, oft marxistischen Polit-Linken, welche die bürgerliche Demokratie und damit die bürgerliche Öffentlichkeit als ›rein formal‹ abtut. Politik wie Kultur teilen in diesen deterministischen Ansätzen das traurige Schicksal, dem ›rein formalen‹ Überbau zugesprochen zu werden, der von der ökonomischen Basis angeblich determiniert sei. Das typische Beispiel für einen mit diesem marxistischen Metanarrativ operierenden Theoretiker ist Fredric Jameson, für den die
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kulturellen Phänomene der Postmoderne bekanntlich bloß die ›kulturelle Logik‹ des Spätkapitalismus darstellen. Dieser Sicht folgt auch David Harvey in seinem einflussreichen Buch The Condition of Postmodernity: Die ›Bedingung‹ der Postmoderne ist hier natürlich wiederum die Ökonomie. Postmodernismus, da dem kulturellen Überbau zugehörig, ist nur ein Symptom ökonomischer Umwälzungen der Basis, wie etwa der Globalisierung (vgl. Jameson 1991; Harvey 1989)18. Dasselbe Schicksal wie die kulturellen trifft nun auch politische Kategorien wie Öffentlichkeit oder politische Akteure wie die Neuen Sozialen Bewegungen. Aus ökonomistischer Sicht ist die politische Öffentlichkeit Teil der bürgerlichen Ideologie, die die wahren gesellschaftlichen, also in letzter Instanz ökonomischen, Bedingungen verschleiert; genauso bleiben Kämpfe um Fragen wie etwa Gender oder sexuelle Orientierung und um allgemein kulturelle Repräsentationen nur Nebenschauplätze: Denn wenn letztlich allein die Ökonomie zählt, kann der einzig wahre politische Akteur nur durch die Kategorie der Klasse definiert sein, und die einzig radikalen politischen Forderungen sind ökonomische. Gegen diese Vorstellung tritt Deutsche auf, indem sie Laclau/Mouffe contra Jameson/Harvey stark macht: »Mouffe and Laclau reverse Harvey’s proposal: socialism, reduced to human size, is integrated within new social practices. Links between different social struggles must be articulated rather than presupposed to exist, determined by a fundamental social antagonism – class struggle.« (Deutsche 1996: 228f.)
Sozialistische Klassenpolitik, heißt das, ist ontologisch keineswegs privilegiert gegenüber anderen Politiken und Forderungen. Vielmehr werden ökonomische Forderungen auf derselben ontologischen Ebene vorgebracht wie etwa kulturelle Forderungen. Und da Klassenpolitik sich auf keine tiefere soziale Wirklichkeit (die ökonomische Basis) berufen kann, kann sie keine automatische Führungsrolle gegenüber anderen, beispielsweise minoritären oder identitären Kämpfen beanspruchen, sondern muss eine gemeinsame Äquivalenzkette mit diesen im Feld der Politik (im Überbau) zuallererst konstruieren, sprich: artikulieren. Was durch diese Artikulation erzeugt wird, ist nichts anderes als ein gemeinsamer Raum (ein Raum unter vielen). Dieser Raum besitzt keine substanzielle Basis, die immer schon alle Positionen in ihm von vornherein verteilen und determinieren würde (und sozialistischen Positionen automatisch die pole position garantieren würde), sondern er ist das kontingente Ergebnis einer artikulatori-
18 Der Ökonomismus von Jameson und Harvey wird von Deutsche überzeugend kritisiert.
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schen Praxis, die überhaupt erst die Positionen zu einer Topographie verknüpft. Diese Praxis ist nichts anderes als Politik, eine Praxis nämlich – um auf die bereits im ersten Abschnitt entworfene Terminologie zurückzukommen – der Verräumlichung. Eine notwendige Voraussetzung für Politik und Verräumlichung ist jedoch, wie bereits gesagt, dass Raum, verstanden als geschlossene Totalität ohne konstitutives Außen, d.h. Zeit, nicht existiert. In dem Moment, in dem wir davon absehen, Gesellschaft eine fundamentale, vereinheitlichende Basis oder Substanz zuzuschreiben, ist gesellschaftlicher Zusammenhalt immer nur das Ergebnis einer vorübergehenden – und auf Dauer immer notwendigerweise scheiternden – politischen Artikulation. Gesellschaft als Totalität ist dagegen unmöglich. Genau weil Gesellschaft aber unmöglich ist, ist Öffentlichkeit möglich. Das ist eine der grundlegenden Thesen von Claude Leforts Demokratietheorie sowie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Theorie radikaler und pluraler Demokratie, an die Deutsche anknüpft, wenn sie sagt: »[a]ccording to new theories of radical democracy, public space emerges with the abandonment of the belief in an absolute basis of social unity […]« (ebd.: 268). Bevor ich auf die genauere Argumentation Leforts zur Konstitution von Öffentlichkeit eingehe, sei eine entscheidende Passage von Deutsches Text in extenso zitiert: »Democracy and its corollary, public space, are brought into existence, then, when the idea that the social is founded on a substantial basis, a positivity, is abandoned. The identity of society becomes an enigma and is therefore open to contestation. But, as Laclau and Mouffe argue, this abandonment also means that society is ›impossible‹ – which is to say, that the conception of society as a closed entity is impossible. For without an underlying positivity, the social field is structured by relationships among elements that themselves have no essential identities. Negativity is thus part of any social identity, since identity comes into being only through a relationship with an ›other‹ and, as a consequence, cannot be internally complete […]. Likewise, negativity is part of the identity of society as a whole; no complete element within society unifies it and determines its development. Laclau and Mouffe use the term antagonism to designate the relationship between a social identity and a ›constitutive outside‹ that blocks its completion. Antagonism affirms and simultaneously prevents the closure of society, revealing the partiality and precariousness – the contingency – of every totality. […] It will be the Lefortian contention of this essay that advocates of public art who want to foster the growth of a democratic culture must also start from this point.« (Ebd.: 274)
Wollen wir Deutsche folgen, dann ist das Paradox der Public Art kein sehr viel anderes als das Paradox, wie es von der politischen Theorie beschrieben wurde:
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Zum einen ist Gesellschaft unmöglich, d.h., jeder Raum ermangelt einer essenziellen Identität oder Positivität und ist von einem konstitutiven und doch negativen Außen abhängig. Zum anderen ist eine gewisse Vergesellschaftung notwendig, da eine völlig dislozierte Gesellschaft, sozusagen ein Raum ohne Räumlichkeit (reine Zeit) selbstverständlich ein ebensolches Unding wäre. Politik oder Verräumlichung ist einerseits nur möglich, weil Gesellschaft keine »Basis« hat, muss andererseits aber immer im Versuch scheitern, Räume und deren konstitutives Außen zum Raum der Gesellschaft zusammenzuschließen. Deutsches Verweis auf Claude Lefort ist hierin wegweisend, denn es war Lefort, der die historische Entstehung dieser Logik – und in ihr die Entstehung des öffentlichen Raums – beschrieben hat. Alles beginnt mit dem, was Lefort, Tocqueville folgend, die »demokratische Revolution« nennt. Das historisch entscheidende Ereignis für die Entstehung der modernen Demokratie – ein Ereignis, das jedoch nur als symbolische Verdichtung einer Entwicklung verstanden werden sollte, die bereits viel früher begann – war Lefort zufolge nicht der Sturm auf die Bastille und auch nicht die Einberufung der Generalstände, sondern schlicht und ergreifend die Köpfung von Louis XVI. Von nun an war nicht nur der König dekorporiert, sondern auch der Ort der Macht in der Gesellschaft war entkörperlicht. Die Instanz der Macht – und mit ihr die Instanzen von Recht und Wissen – konnten nun nicht mehr in den »zwei Körpern des Königs« (Kantorowicz), dem irdischen und dem transzendenten, lokalisiert werden. Die Ausübung der Macht – d.h. die vorübergehende Inbesitznahme des leeren Ortes der Macht – ist stattdessen dem politischen Wettstreit unterworfen und kann sich auf kein transzendentes Prinzip mehr berufen. Ohne ein solches fundierendes Prinzip steht Gesellschaft vor der dauernden Aufgabe, sich selbst immer wieder aufs Neue zu gründen. Durch die Entleerung des Ortes der Macht setzt das demokratische Dispositiv also ein Potenzial an Autonomie frei. Denn wenn der Ort sakraler Legitimation verwaist ist, dann ist Gesellschaft in ihrer Suche nach Legitimation auf sich selbst zurückverwiesen. Mit der Entleerung des Ortes der Macht trennt sich darum ein neuer Ort vom Staat ab: Die Zivilgesellschaft wird zum Ort autonomer Selbstinstitution der Gesellschaft. Und schließlich entsteht in der Zivilgesellschaft Öffentlichkeit, verstanden als Raum des Politischen (der konfliktuellen Debatte) innerhalb des Nichtpolitischen (d.h. der privaten oder ökonomischen Anteile der Zivilgesellschaft, die jedoch immer potenziell ›veröffentlichbar‹, also zum Gegenstand öffentlicher Debatte zu machen sind)19.
19 Zu Leforts Konzept der Öffentlichkeit siehe u.a. seinen Aufsatz »Les droits de l’homme et l’Etat-providence« (in 1986).
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Die Abspaltung eines leeren Ortes der Macht vom Staat, die Trennung der Sphären der Macht des Rechts und des Wissens, die Herausbildung einer autonomen Sphäre der Zivilgesellschaft und schließlich der Öffentlichkeit, in der die ihres transzendenten Status verlustig gegangenen legitimatorischen Grundlagen der Gesellschaft immer aufs Neue ausgehandelt werden müssen – all das setzt die Instanz einer grundlegenden Teilung der demokratischen Gesellschaft voraus, einer grundlegenden konfliktuellen Verfasstheit, die auf der ontologischen und nicht nur auf der ontischen Ebene lokalisiert ist. Demokratie ist die Institutionalisierung von Konflikt, d.h. der Debatte über die Grundlagen der Gesellschaft – oder sie ist keine. Institutionalisierung bedeutet u.a. die verbriefte Legitimität der öffentlichen Debatte darüber, was legitim und was illegitim ist. Öffentlichkeit ist weniger ein präexistierender Raum, in dem diese Debatte stattfindet oder dem sie zugewiesen wird. Öffentlichkeit muss im Gegenteil gerade durch die konfliktuelle Debatte um die Grundlagen der Gesellschaft und die Reichweite der Rechte (wenn auch auf der unumstößlichen Grundlage des Rechts, Rechte zu haben) bzw. Ausweitung der Rechte auf immer neue Bevölkerungsgruppen immer wieder neu erzeugt werden20. Rosalyn Deutsche weist – Lefort und Laclau/Mouffe folgend – genau auf diese notwendige Konstruktion von Öffentlichkeit hin, wenn sie etwa schreibt: »The political sphere is not only a site of discourse; it is also a discursively constructed site. From the standpoint of a radical democracy, politics cannot be reduced to something that happens inside the limits of a public space or political community that is simply accepted as ‹real›. Politics, as Chantal Mouffe writes, is about the constitution of the political community. It is about the spatializing operations that produce a space of politics.« (Deutsche 1996: 289)
Mit anderen Worten: Es ist die politische Intervention selbst, die erst den Raum für Politik (die Öffentlichkeit) herstellt – und nicht umgekehrt. Die logische Folge daraus ist: »Conflict, division, and instability, then, do not ruin the democratic public sphere: they are the conditions of its existence« (ebd.).
20 Die Ausweitung der Menschenrechte – von, wie einst, weißen, männlichen Grundbesitzern über den Einschluss von Frauen bis zum von der Bürgerrechtsbewegung erkämpften Einschluss von African-Americans und darüber hinaus – bedeutet für Lefort (contra die ideologiekritische Verdächtigung der Menschenrechte als »rein formal«) ein generatives Prinzip von Demokratie; es ist unabschließbar: Was unter die Kategorie der »Menschen« fällt, denen das Recht, Rechte zu haben, gegeben ist, muss immer weiter gefasst werden.
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Diese Form von politischer Verräumlichung – die Öffnung eines Raums von Konflikt und Debatte – hat ihren Ursprung, so muss hinzugefügt werden, wiederum in einer konstitutiven Spaltung oder einem konstitutiven Antagonismus (zwischen Gesellschaft und ihrem Außen, zwischen dem leeren Ort der Macht und dem Staat etc.). Der gründende Antagonismus wird innerhalb der Gesellschaft zur öffentlichen politischen Debatte institutionalisiert, die wiederum nicht stillgestellt werden darf. Würde sie stillgestellt, dann wäre der leere Ort der Macht besetzt, die Trennung zwischen Macht und Staat sowie die Trennung zwischen den Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens wären aufgehoben – der Name für diesen Zustand des demokratischen Dispositivs ist, nach Lefort, Totalitarismus21. Im Totalitarismus wird der gründende Antagonismus verleugnet, die Debatte wird stillgelegt, und als Folge daraus implodiert der öffentliche Raum. Es ist also von zentraler Bedeutung, dass die konfliktuelle Verfasstheit der Gesellschaft, der Politik und letztlich des öffentlichen Raums nicht verdrängt oder verkleistert wird, wie das in Konsensmodellen der Fall ist. Das Konsensmodell par excellence ist natürlich auch für Deutsche »Habermas’s ideal of a singular, unified public sphere that transcends concrete particularities and reaches a rational – noncoercive – consensus« (ebd.: 287). Das habermassche Modell muss Anathema sein für einen Versuch der Umsetzung von Theorien radikaler und pluraler Demokratie auf Probleme der Public Art: Öffentlichkeit wird von Habermas, wie wir bereits gesehen haben, als singulärer Metaraum verstanden, Gesellschaft als positives Objekt, dessen konfliktuelle Dimension (und damit dessen Selbstdifferenz oder Nichtidentität mit sich selbst) durch einen rationalistischen Metadiskurs ausgehebelt werden soll: »Construed as an entity with a positivity of its own, this object – ›society‹ – serves as the basis of rational discussions and as a guarantee that social conflicts can be resolved objectively. The failure to acknowledge the spatializations that generate social ›space‹ attests to a desire both to control conflict and to secure a stable position for the self.« (Ebd.: 310)
Letztlich läuft die Unifizierung des öffentlichen Raums qua Rationalisierung von Konflikt auf eine Verdrängung des grundlegenden sozialen Antagonismus hi-
21 Ein vielleicht treffenderer Name für diesen Zustand – bedenkt man, wie sehr der Begriff Totalitarismus durch die Kalter-Krieg-Rhetorik ideologisiert ist – wurde von Jean-Luc Nancy vorgeschlagen: Immanentismus. Dieser Begriff hätte den Vorteil, dass durch ihn sofort klar wird, dass in »totalitären« Konjunkturen das konstitutive Außen der Gesellschaft ausgelöscht – oder besser: verleugnet – wird und die Immanenz letzterer behauptet wird, vgl. Nancy (1988).
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naus, auf die Verleugnung jeder Unterscheidung zwischen Gesellschaft und ihrem konstitutiven Außen – d.h. letztlich zwischen Raum und Zeit, denn die (temporale) Dislokation von Raum wird im habermasianischen Modell als etwas verstanden, das rational behoben werden kann. Im Laclau/Mouffeschen Modell ist sie dagegen gerade konstitutiv für Räumlichkeit. Für Laclau, Mouffe, Lefort und Deutsche entsteht so etwas wie öffentlicher Raum nicht dort, wo Konsens gefunden wurde, sondern dort, wo Konsens zusammenbricht (disloziert wird) und immer wieder vorübergehende Allianzen artikuliert werden müssen. Entlang der im ersten Abschnitt entwickelten terminologischen Unterscheidung zwischen Raum als Totalität und Verräumlichung als politische Praxis wäre das habermasianische Modell eindeutig als Raum zu identifizieren: Als Konsensraum im Singular lässt diese Version der Öffentlichkeit letztlich keinen Platz für divergierende Verräumlichungen, die nicht auf der Basis »rationaler« prozeduraler Übereinstimmung stehen wollen. In dem Moment in dem – rational unvermittelbare – Konfliktualität aber verleugnet wird, wird Gesellschaft als positive Identität gesetzt: Einen ähnlichen Fehler begehen, wie Deutsche zurecht kritisiert, Community-Art-Praktiken, wo sie ›Gemeinschaft‹ durch soziale Konsensarbeit herstellen wollen und damit überhaupt erst als positive Identität setzen. Öffentlichkeit ist also kein Konsensraum, sondern ein Dissensraum. Der urbane öffentliche Raum wird, so lässt sich zusammenfassen, durch Konflikt erzeugt, nicht durch einen Konsens, der auf rationale und prozedurale Metaregeln zurückgreifen könnte. Deutsche spricht im Zusammenhang mit dem urbanen Raum von drei inkommensurablen Bedeutungen von Konflikt: »Urban space is the product of conflict. This is so in several, incommensurable senses. In the first place, the lack of absolute social foundation – the ›disappearance of the markers of certainty‹ – makes conflict an ineradicable feature of all social space. Second, the unitary image of urban space constructed in conservative discourse is itself produced through division, constituted through the creation of an exterior. The perception of a coherent space cannot be separated from a sense of what threatens the space, of what it would like to exclude. Finally, urban space is produced by specific socioeconomic conflicts that should not simply be accepted, either wholeheartedly or regretfully, as evidence of the inevitability of conflict but, rather, politicized – opened to contestation as social and therefore mutable relations of oppression.« (Ebd.: 278)
Wo liegt genau die Inkommensurabilität dieser drei Bedeutungen von Konflikt? Die folgende Interpretation scheint mir nach allem bisher Gesagten angemessen: Worauf Deutsche bewusst oder unbewusst hinweist, ist die Differenz zwischen den Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Gesellschaft und den verschiedenen
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Versuchen, Gesellschaft dennoch partiell zu konstruieren (entweder konservativ unifizierend oder fortschrittlich reaktivierend). Die Inkommensurabilität, von der Deutsche schreibt, entspricht damit der bereits im ersten Abschnitt angesprochenen ontisch-ontologischen Differenz: Auf ontologischer Ebene steht die Kategorie Zeit für den fundamentalen Mangel, der jeden Raum kennzeichnet; die ontische Ebene ist dagegen von konkurrierenden hegemonialen Anstrengungen der Verräumlichung gezeichnet – und im Ergebnis von einer Vielzahl unter Umständen miteinander im Streit liegender Räume. Die identitäre endgültige Festsetzung des urbanen Raums ist – wie die jedes anderen sozialen Raums – also aufgrund der unauslöschlichen ontologischen Bedingungen (der notwendigen Verwiesenheit auf ein konstitutives Außen und folglich der Existenz eines fundamentalen Mangels und Antagonismus) in letzter Instanz unmöglich. Genau dieses Scheitern der Schließung von Räumen zu Raum ermöglicht und erfordert aber umgekehrt ständige Bemühungen der Verräumlichung – d.h. politische Praxen der Artikulation. Unterhält der öffentliche Raum, wie wir ihn Lefort folgend definiert haben, dann aber nicht eine besondere Beziehung – eine, die nicht völlig auf die ontische Ebene anderer Räume reduzierbar ist – zur ontologischen Ebene von Raum/Zeit? Ist nicht der sogenannte öffentliche, politische Raum, und zwar ohne dass er dadurch zu einem Metaraum werden würde, in viel stärkerem Ausmaß auf das Außen der Gesellschaft und auf die Instanz der Dislokation verwiesen als andere soziale Räume? Nicht weil er durch die Spaltung der Gesellschaft (etwa die Abtrennung und Entleerung des Ortes der Macht) überhaupt erst historisch entstanden ist, sondern weil er genau diese Spaltung qua konfliktueller Debatte immer wieder neu in Szene setzt und durch Debatte selbst überhaupt erst immer wieder neu konstruiert wird. Daraus würde weiter folgen, dass Öffentlichkeit entsteht, wo immer »debattiert« wird, dass sie also nicht auf bestimmte Orte wie etwa das Parlament begrenzt werden kann. Das bedeutet, dass der öffentliche Raum selbst gar kein Raum, auch kein Raum unter Räumen, ist, sondern eher ein Prinzip: das Prinzip der Reaktivierung, d.h. der politischen Dislokation sozialer Sedimentierungen durch den Einbruch von Zeitlichkeit. Als Prinzip der Reaktivierung (von Raum durch Zeit) gehört Öffentlichkeit dann eher der ontologischen Ebene an als der ontischen sozialer Sedimente. Tatsächlich sind beide Konzepte von Öffentlichkeit, das lefortsche wie das habermassche, onto-logische Konzepte (bzw. sie sind beide quasitranszendentalistisch). Das eint sie vor allem gegenüber sozialwissenschaftlichen Ansätzen, die immer auf der ontischen Ebene bleiben. Und dennoch gibt es einen unhintergehbaren Unterschied zwischen Lefort und Habermas. Rufen wir uns zur Klärung nochmals in Erinnerung, wie Raum und Zeit eingangs definiert wurden:
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Unter Zeit wurde das ontologische Prinzip der Dislokation einer Struktur verstanden, die sich aus der essenziellen Abhängigkeit der Struktur von einem konstitutiven Außen ergibt, während Raum umgekehrt den theoretischen Extremfall einer völligen Auslöschung von Zeitlichkeit und Dislokation bezeichnet. Damit sollte schon klar werden, worin der eigentliche Unterschied zwischen radikaldemokratischen Quasitranszendentalisten wie Lefort, Laclau, Mouffe, Deutsche und anderen auf der einen Seite und universalpragmatischen Quasitranszendentalisten wie Habermas auf der anderen Seite besteht. Es ist das habermassche Konsensmodell, das Dislokation nur als Störung oder lästiges Rauschen im Kommunikationsprozess versteht und das darauf abzielt, Dislokation auszulöschen und Öffentlichkeit vollständig zu verräumlichen. Letztlich handelt es sich also um ein Konzept des Raumes. Im Unterschied zu Habermas, in dessen Theorie Öffentlichkeit die Kategorie des Raumes (als unifizierter Totalität) ausfüllt, ist die lefortsche Öffentlichkeit gerade kein Raum, sondern gehört zur Ordnung der Zeitlichkeit, nämlich zur Ordnung des Konflikts. Die Öffentlichkeit Leforts ist daher letztinstanzlich keine ontische Lokation, sondern ein ontologisches Prinzip: Dislokation. Es geht im Modell radikaler und pluraler Demokratie nicht um die weitgehende konsensuelle Vereinheitlichung von Raum, d.h. um Konsensfindung, sondern um dessen konfliktuelle Öffnung. Es geht darum, die Besetzung des leeren Ortes der Macht, die dauerhafte Herstellung von geschlossenem Raum, gerade zu vermeiden. Aus der Sicht der Demokratietheorie ist Öffentlichkeit Produkt und zugleich Möglichkeitsbedingung von Demokratie, da sie es ist, die für die konstitutive Teilung der Gesellschaft steht und diese Teilung qua konfliktueller, antagonistischer Debatte ständig neu herstellt. Demokratie bedeutet, dass (auf ontischer Ebene) keine bestimmte Öffentlichkeit, auch nicht die Öffentlichkeit vernunftgeleiteter zwangloser Diskussion, diese Debatte stillstellen und abweichende politische Sprachspiele delegitimieren darf. Leforts Öffentlichkeit ist deshalb auch kein Metaraum, wie jene von Habermas, weil Zeit keinen Raum bilden kann. Zeit kann, wie Laclau sagt, nichts hegemonisieren. Sie ist nichts als das Prinzip der verzeitlichenden Öffnung von Raum, der Garant, dass der Ort der Öffentlichkeit leer bleibt. Public Art wird daran zu messen sein, ob sie sich in letzter Instanz für Raum – das Soziale – entscheidet oder für Zeit: das Politische22.
22 Dieser Text ist ein leicht modifizierter Wiederabdruck des Beitrags mit gleichnamigem Titel, der in: Andreas Lechner/Petra Maier (Hg.), stadtmotiv*, Wien: selene 1999 erschienen ist.
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HETEROPHONIEN
Heterotope Räume des Musikalischen M ICHAEL H ARENBERG
Denkt man an heterotope Räume im Akustischen, so fallen einem zahlreiche musikalische Arbeiten ein, die sich entweder mit speziellen Inszenierungen von Klang im architektonischen Raum oder mit kompositorischen und technischen Räumen im Realen von Klang beschäftigen. Das Erklingen von Musik im Raum ist mit Beginn der Schallaufzeichnung, dem Radio und nicht zuletzt durch die elektronische Klangerzeugung seit Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr selbstverständlich mit einem singenden und/oder spielenden Körper identisch und bedurfte vielfältiger medialer Inszenierungen (vgl. Harenberg/Weissberg 2010). Diese konnten jedoch nicht länger aus dem traditionellen musikalischen Raum (vgl. Schönberg 1950) abgeleitet werden, sondern bildeten zukunftsweisende Konfigurationen musikalisch ästhetischer Dispositive.
D ER
SYMBOLISCHE
T HEORIE -R AUM
DES
M USIKALISCHEN
Vor diesen epochalen Umwälzungen wurden räumliche Aspekte in Bezug auf Klang und Musik von Hörern, Komponisten und Musikern primär mit räumlichen Vorstellungen in der Theorie von Harmonik, Melodik und Rhythmik gleichgesetzt. Seit den Schwingungsversuchen Pythagoras’ am Monochord zur Ableitung von Tonhöhenbeziehungen aus den Teilungsverhältnissen einer schwingenden Saite gilt Musiktheorie als Ort des Wissens über das Entstehen, Reflektieren und später auch das Spielen von Musik (vgl. Husmann 1975). Aus diesem Wissen werden die entsprechenden Regeln abgeleitet, Konventionen, philosophisches und ästhetisches musikalisches Denken legitimiert. Dies geht auf den viel älteren Mythos der Hochzeit der Harmonia, der Tochter des Ares und der Aphrodite, mit Kadmos/Kosmos zurück, zu der die Musen erstmals in
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persona als eine Art Background-Chor auftreten und singen. Sie sind Töchter des Zeus und der Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung, und dienen als Schutzgöttinnen der Künste. Hier liegt der Kern der wohl ältesten bekannten Proklamation der Weltanschauung des Pythagoreismus, der als wissenschaftliche Gesinnung bis zu Johann Kepler und in der Musik etwa bis zu Hindemiths Oper Harmonie der Welt (1957) reicht. Gleichzeitig ist dieser Mythos einer der sonderbarsten überhaupt. Rational und poetisch zugleich, definiert er mit Harmonia das mit mathematischer Sicherheit bestimmbare räumlich gedachte Intervall der Oktave, deren Gleichklang zum Weltprinzip erhoben und durch die musische Idee in unsagbarer Schönheit verklärt wird (vgl. Lohmann 1970). Die vom Konsonanzprinzip der Oktave abgeleiteten ästhetischen Regeln und Vorschriften wurden als symbolische Repräsentationen einer höheren Wahrheit wahrgenommen und verallgemeinert, um sie auf der Basis der platonischen Idee der Zahl als wirksamer Idee philosophisch, religiös oder ästhetisch zu interpretieren. Entscheidend für die Phytagoräische Zahlenlehre ist die ihr zugeschriebene Entdeckung der wechselseitigen Entsprechung von klingenden Tönen und Zahlenproportionen. Wird die schwingende Saite des Monochords in einem ganzzahligen Verhältnis unterteilt, schwingen die beiden Teile in den entsprechenden Intervallen der Naturtonreihe. Beträgt das Verhältnis 1:2, hört man eine Oktave, beim Verhältnis 2:3 eine Quinte, beim Verhältnis 3:4 eine Quarte etc.. Als Universalbegriff gilt bei Aristoteles und Platon daher die Harmonie. Platon beschreibt in seinem letzten Werk, dem Timaios, die Zahlenharmonie als Schöpfung der Weltseele, die Gott nach den Idealzahlen der berühmten musikalischen »Timaios-Tonleiter« bildet. Die Idealzahlen entsprechen den musikalischen Konsonanzen und damit einer absoluten Harmonie, wie sie sich ebenfalls in der menschlichen Einzelseele widerspiegelt. Dadurch ist jeder einzelne Mensch mit Sinn für Ordnung, Maß, Proportion und Harmonie ausgestattet. Der erweiterte Harmoniebegriff bei den Römern beinhaltet die Vorstellung geometrischer Symmetrie als Teil einer umfassenden Schönheitslehre, die erst in der mittelalterlichen Mystik ganz in die Empfindsamkeit der Seele verlagert wird. Für den Universalgelehrten und Komponisten Athanasius Kircher ist Mitte des 17. Jahrhunderts Gott ein Orgelbauer und Organist, der die Welt in sechs Tagen im Wesentlichen – den sechs Registern von Kirchers Welt-Orgel gemäß – nach mathematischen Gesetzen erschaffen hat. Auch teilt Kircher in seinem Hauptwerk Musurgia universalis. Von der wunderbaren Kraft der Wirkung der Konsonanzen und Dissonanzen, in dem er neben den physikalischen Grundlagen der Akustik seine Komponiermaschine erläutert, das Zusammenklingen der verschiedenen Zonen von Himmel und Erde in Oktaven ein (vgl. Walcker-Mayer 2009).
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Schon diese herausgegriffenen Beispiele zeigen, wie mächtig sich die von der Musik ausgehenden Setzungen im Theoretischen einschreiben. Damit ist Musik-Theorie bis in die mittelalterlichen Sphärenharmonien der Ort und die Repräsentationsfläche umfassender Welterklärungsmodelle über die Zusammenhänge, Proportionen und Bedeutungen makro- wie mikro-räumlicher Konstellationen auf der Basis des Konsonanzprinzips im zahlentheoretisch abstrahierten System der Intervalle und Tonbeziehungen. Diese faszinieren durch ihre seltsamen und überraschenden Korrespondenzen einfacher musikalischer und physikalisch-mathematischer Phänomene. Bis in die Raumvorstellungen des Serialismus’ nach dem Zweiten Weltkrieg und die zeitgenössische Musik können, neben mathematischen und zahlentheoretischen kompositorischen Verfahren wie etwa der den Goldenen Schnitt repräsentierenden Fibonacci-Reihe, immer wieder auch zahlenmystische und kabbalistische Strategien nachgewiesen werden, die sich in der Musiktheorie nach wie vor abbilden. Spätestens mit dem Übergang von der Ein- zur Mehrstimmigkeit um 1000 n. Chr. beinhaltet die Theorie neben weltanschaulichen Auslegungen ebenso Aspekte einer musikalischen Handwerkslehre. Die Mehrstimmigkeit bedeutet eine neue Komplexität in der koordinierenden Strukturierung von horizontalzeitlichen mit vertikal-harmonischen Entwicklungen, einschließlich all der Konsequenzen, sowohl für die zugrundeliegenden Kompositionstheorien und Tonsysteme wie auch für die zu entwickelnden Instrumentenfamilien und eine entsprechende Aufführungspraxis (vgl. Harenberg 2005). Hierfür müssen symbolische Speichersysteme erfunden werden, die ein schreibendes Konstruieren und Tradieren dieser neuen, vielfältigen Überlagerungen einer strukturellen und künstlerischen Poietik ermöglichen. Die Repräsentation im Symbolischen von Speichern wie mechanischen Stiftwalzen, aber vor allem der Notenschrift war so stark, dass solcherart geschriebene Musik fortan auch dann als Werk galt, wenn sie gar nicht erklang. Erst heute beginnen sich diese Beziehungen im Wechsel vom Symbolischen zum Realen – angesichts grundlegender Veränderungen durch technische Aufschreibesysteme im Digitalen – wiederum dramatisch zu verändern (vgl. Harenberg 2012). Mit Herausbildung der temperierten Stimmung im 17. Jahrhundert kann man von einem voll ausgebildeten heterotopen Theorieraum des Musikalischen sprechen. Er repräsentiert die Theoriebasis für die abendländische Musik der vergangenen 400 Jahre. Beschrieben werden Verfahren des Kontrapunktes sowie harmonischer Verknüpfungsstrukturen einer linearen Polyphonie grundtonbezogener Funktionsharmonik tonaler musikalischer Raumzeit (vgl. Boehmer 2004; Harenberg 2005). Die musica theoretica als neues Prinzip einer auf die ausübende Praxis bezogenen Kompositionstheorie löst die musica poetica der an Domi-
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nanz verlierenden Konsonanztheorie allmählich, wenn auch nie vollständig, ab. Beispielhaft für diese Veränderungen stehen zum einen der mit Bachs Wohltemperiertem Klavier demonstrierte, in der temperierten Stimmung geschlossene Quintenzirkel als verräumlichende Darstellung der Tonabstände und die vollständig ineinander modulierbaren Tonartbeziehungen. Aber auch die von der Orgel abgeleitete Tabulatur, die das System der Theoriebildung von Harmonielehre und Kontrapunkt bis in die musikalische Notation repräsentiert, zeugt von derselben Entwicklung. Bis heute kann die traditionelle Musiknotation im Wesentlichen die musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten einer lediglich im Tonumfang erweiterten Orgel-Tabulatur des 17. Jahrhunderts abbilden. Damit ist eine für Komponisten und Musiker exklusive Raumvorstellung ästhetischer Theoriebildung vollendet, wie sie bis ins 20. Jahrhundert hinein Gültigkeit behalten sollte. »Das räumliche Prinzip der Musik ist die Harmonie. Denn sie stellt der zweidimensionalen Erstreckung der Melodie eine dritte Dimension gegenüber und setzt den einzelnen Ton – wie in der bildenden Kunst der Raum den Punkt – in einer Doppelbeziehung einmal zu den anderen Tönen der Melodie und dann zu den anderen Tönen des Akkords. […] Dieses erwachende und immer mehr erstarkende Raumgefühl mußte endlich zu dem führen, was wir heute Harmonie nennen, d.h. zu Akkorden, die gleich Körpern durch logische Verknüpfungen das Gefühl einer nicht nur dem einzelnen Ton, sondern der Melodie als Ganzem zugrundeliegenden Dreidimensionalität gewähren.« (Sachs 1918: 458ff.)
Der Umfang von Intervallen, Akkordverbindungen und Tonartverwandtschaften prägt das räumliche Vorstellungsvermögen im Musikalischen. Was sich verändert, sind die Begründungszusammenhänge, die sich zusehends an den Naturwissenschaften zu orientieren versuchen. Im 17. Jahrhundert werden mit dem ausformulierten neuen musikalischen Speichersystem der Notenschrift durch Guido d’Arezzo sowie einer exakten mathematisch-physikalischen Beschreibung dieser Zeichen als Schwingungsverhältnisse durch Pater Martin Mersenne die Grundlagen für ästhetische Ordnungssysteme geschaffen, wie sie sich künstlerisch in den komplexer werdenden musikalischen Formen manifestieren. Der Kammerton A etwa bezeichnet eine Frequenz von 440 Schwingungen pro Sekunde. Mit dieser rein physikalisch messbaren Beschreibung ist der Bruch mit dem griechisch-pythagoräischen System der weltanschaulich interpretierten harmonikalen Einheit von Schrift, Zahl und Musikzeichen vollzogen. Mit der Entdeckung von Joseph Sauveur um 1700, dass es sich bei den Tönen eines Instruments nicht um reine Schwingungen handelt, sondern um zusammengesetzte Klanggemische verschiedener Frequenzen, ist auch das Geheimnis um Klangfar-
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ben von Instrumenten und Stimmen gelüftet. Musiktheoretisch und -technisch müssen im Rahmen der neuen geometrischen Zusammenhänge vertikaler wie horizontaler Organisation die zu Skalen und Intervallsystemen umgedeuteten Tonschritte des temperierten Systems kompositorisch-ästhetisch definiert und eine entsprechende formale wie instrumentale Praxis etabliert werden. Die geschriebenen symbolischen Zeichen der Notenschrift erleichtern die abstrakte Konstruktion im schreibenden Komponieren, bleiben jedoch vom klingenden Resultat ihrer instrumentalen Aufführung deutlich unterschieden. Dies hatte zur Folge, dass Instrumentierung und klangliche Interpretation an spezialisierte Instrumentalisten delegiert und Spielanweisungen immer aufwendiger als Subtext in die Partituren integriert werden mussten. Der Buchdruck war auch hier maßgeblich an der Etablierung dieser neuen arbeitsteiligen Techniken und künstlerischen Strategien beteiligt. Damit können wieder verstärkt ästhetische Fragestellungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. So schreibt Christian Friedrich Daniel Schubart 1784 in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst: »Man hat bisher behauptet, nur der mathematische Teil der Tonkunst lasse sich auf Grundsätze bringen; der ästhetische aber liege ganz und gar nicht im Gebiete der Kritik. Daher haben sich die Werke ersterer Art bis zum Ekel aufgehäuft, und von letzterem besitzen wir kaum einige matte zitternde Versuche. Das Totengerippe der Musik ist, wie alle Totengerippe, ekelhaft anzusehen, doch hat es für die kritischen Zergliederer seinen großen Nutzen. Hingegen der ästhetische Teil der Tonkunst, der sich mehr mit der Erfindung der Melodie als mit der Harmonie und mit Modulation beschäftigt oder, welches eins ist, der diesem Totenkörper Karnation und Kolorit gibt, ist zwar viel schwerer, aber desto fruchtbarer und angenehmer. […] Um die zwei großen Fragen: Was ist das musikalisch Schöne? Wie wird dieses Schöne hervorgebracht? soll sich die ganze Abhandlung drehen.« (Zit. n. Mainka 1977: 33)
Mit der Ausdifferenzierung von Technik und Musiktheorie als ästhetisches Fundament zur Materialorganisation in dreidimensional gedachten räumlichen Strukturen verändert sich auch der Status von Komposition. Bei allen Differenzierungen und Umdeutungen verschiedener Epochen, Stile und Genres bleibt die Theorie lange im Status einer künstlerischen Propädeutik und einer Handwerkslehre. Eine neue Konstitution erhält sie erst wieder 1914 mit den fragmentarischen »Ideen zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen‹« von Hugo Riehmann, der im Rekurs auf Descartes’ Schrift Musicae Compendium von 1618 musikalische Theorie über die Strukturen des musikalischen Hörens zu begründen versucht (Dahlhaus 1975: 107f.). Nach Riehmann ist eine Theorie der Musik primär
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eine Theorie des musikalischen Bewusstseins, also eine Lehre von den Tonbedeutungen, die wir aktiv hörend interpretieren und begreifen. Es geht ihm um eine musikalische Erkenntnistheorie, die jegliches musikalische Objekt nicht als gegeben hinnimmt, sondern als Produkt einer subjektiven Tätigkeit kategorialer Formungen begreift. Man muss also die Tätigkeit untersuchen und verstehen, als deren Resultat ein musikalisches Phänomen entsteht. »Nicht die wirklich erklingende Musik sondern vielmehr die in der Tonphantasie des schaffenden Künstlers vor der Aufzeichnung in Noten lebende und wieder in der Tonphantasie des Hörers neu erstehende Vorstellung der Tonverhältnisse [ist] das Alpha und Omega der Tonkunst« (zit. n. ebd.: 108). Die Theoriebildung erfolgt als Prozess in einem kollektiven musikalischen Bewusstsein einer Systemerfahrung zwischen reflektierendem Hören und dem expliziten Wissen einer »zweiten Unmittelbarkeit« (Hegel) der theoretischen Grundlagen, die Musiktheorie als musikalische Logik einer kategorial geformten Wahrnehmung erscheinen lässt. Beide Ebenen beeinflussen sich gegenseitig und sind beispielsweise über den Kulturkreis gemeinsamer Systeme untrennbar miteinander verknüpft. Das, was als die »Natur« bestimmter musikalischer Erscheinungen galt, wird somit als Interpretation unterschiedlicher – mathematischer, physikalischer, ästhetischer (etwa im Fall der Affektenlehre vom Ton) – Ansätze relativiert, die je nach Fragestellung und Perspektivwechsel eingenommen werden können. Die jeweiligen musikalischen Phänomene lassen sie in den gesellschaftlichen Strukturen musikalischen Handelns als »geistfähiges Material« (Hanslick) erscheinen. Damit verhält sich der Theorieraum analog zu den gesellschaftlichen Bewertungen von Musikern und Komponisten, die unmittelbar davon abhängig sind, wie hoch der Grad der gesellschaftlichen Arbeit in einer Gesellschaftsformation entwickelt ist (vgl. Blaukopf 1984). Aber auch hier lösen sich räumlich definierte zwei- (Max Weber) oder dreidimensionale (Curt Sachs) Strukturen zugunsten der Funktion ihrer Relationalität auf und werden zum systematischen Material, das – je nach Interesse – spielerisch oder kategorial neu konfiguriert werden kann.
D ER
ARCHITEKTONISCHE
R AUM
DES
M USIKALISCHEN
Der architektonische Raum des Erklingens von Musik war nie völlig unabhängig von musiktheoretischen Raumvorstellungen. Schon in der Monodie einstimmiger Gesänge ist der sakrale Raum als Gestaltungsparameter einer räumlichen Polyphonie im Nachhall mitgedacht. Ebenso gibt es singuläre Momente, in denen Theorieraum und architektonischer Raum in eins fallen. Dazu gehört vor
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allem das Werk des Niederländers Adrian Willaert, von 1527 bis 1562 Kapellmeister an San Marco in Venedig. San Marco mit seinen zwei Orgeln, Emporen und dem achsensymmetrisch unterteilten Mittelschiff wird von Willaert als Raum zur formalen Gestaltung seiner mehrchörigen Werke genutzt. Zu Beginn der Renaissance geht es bei der Einbeziehung des architektonischen Raumes um eine Möglichkeit struktureller Ausweitung kompositorischer Formprinzipien. Die Aufstellung und Bewegung der Stimmen und Chöre im Raum repräsentiert bei Willaert die mediale Topologie der Form der Komposition, die somit zwischen einchöriger Homophonie und mehrchöriger Polyphonie in verräumlichter Repräsentation wahrgenommen werden kann. Es muss eine große Hilfe gewesen sein, diesen so revolutionären Schritt zu einer auch strukturellen Polyphonie über das räumliche Dispositiv gleichsam erleben zu können. Das Werk entsteht vor dem Ohr wie vor dem Auge in seiner strukturell absolut anspruchsvollen neuen Art: Es wird zu »raumgewordener« Form in »klanggewordenem« Raum. Die Aufführung dieser bereits voll ausgebildeten mehrchörigen Werke projiziert die bis dahin gültigen polyphonen Mittel struktureller Organisation aus den Räumen musikalischer Theoriebildung wie aus den symbolischen ZeichenRäumen der Partitur in den architektonischen Realraum, der dadurch eine unmittelbare strukturell-kompositorische Funktion erhält. Es handelt sich im Kern um eine Projektions- und Simulationstechnik für musikalische Formen, die man strukturell mit der Entwicklung der Zentralperspektive in der Malerei vergleichen kann (vgl. Blaukopf 1984)1. Beispiele für diese topologischen Strukturtechniken finden sich etwas später auch in England bei Tallis und gipfeln 1628 in der gewaltigen 53-stimmigen Festmesse von Orazio Benevoli zur Einweihung des Doms in Salzburg, in der solcherart Klang- und Raumwirkungen, auf komplexe Art gestaltet, den sakralen Raum funktional adressieren und gleichsam imprägnieren sollen. In der Klassik und Romantik wird der architektonische Klangraum als musikalisch-kompositorischer Parameter wenig beachtet. Die Guckkastenbühne der Konzertsäle unterstützt das Ideal der verschmelzenden Einheit von Stimmen, Instrumenten und Orchester und erlaubt räumliche Ausreißer lediglich programmatisch – als Fernorchester oder fernen Ruf der Nachtigall. Kompositionstheoretisch machen die auf ein unausweichliches Ziel hin angelegten klaren Formen die Dopplung ihrer Wirkung in Bezug auf Räumlichkeit überflüssig. Die symbolischen theoretischen Materialräume der Tonintervalle, vorausgedachter
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Vgl. hierzu auch den Beitrag »Taube Augen. Das Konzept der Heterotopie vor dem Hintergrund des acoustic turn« von Lorenz Aggermann in diesem Band.
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Linien von Reprisenwirkungen sowie die Vorstellung von Form als linearer Strecke und konstruierten Harmonien, kurz: die Revolutionierung in der Beherrschung und Gestaltung des musikalischen Materials steht im Zentrum. Mit der Krise der Spätromantik gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerät diese materialorientierte Entwicklung an ihre eigene Grenze. Kompositionstheoretisch schreitet die Aushöhlung tonaler Gefüge zwischen freier Materialexpansion und strukturellem Determinismus der Systeme voran. Dies lässt Komponisten wieder vermehrt nach außermusikalischen Ordnungsprinzipien Ausschau halten, wie sie, wie oben beschrieben, in der Verwendung von Zahlensystemen und mathematischen Abstraktionsverhältnissen in Proportionen und Formen seit jeher eine wichtige Rolle spielen und musikalischen Systemen seit Pythagoras inhärent sind. In der Tradition Berlioz’ ist es Richard Wagner, der die strukturellen kompositionstheoretischen Regeln im Symbolischen des tonalen Systems am sichtbarsten sprengt. Mit dem bereits vorher ebenfalls vom Klang her abgeleiteten Prometheus-Akkord Alexander Scriabins, dem Tristan-Akkord Wagners sowie der impressionistischen Polytonalität Claude Debussys gelangt das Systemgefüge grundtonbezogener tonaler Materialorganisation der klassischen Musik in Bezug auf das Reale von Klang endgültig zur Implosion. Friedrich Nietzsche formuliert dies bereits in Bezug auf den Sprung vom Symbolischen traditioneller Kompositionstechniken zum kompositorischen Bezug auf Reales physikalischer Tonsysteme bei Wagner. Historisch ist damit die Basis des musikalischen Theoriegebäudes auf der Grundlage funktionsharmonischer Modelle in der Spätromantik als Ganzes in Frage gestellt (vgl. Kittler 2001). Auf der Suche nach Alternativen war eine Ausweitung hin zu den mittelbaren Parametern wie Geräusch, Klangfarbe und Raumakustik geschehen. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die zugespitzte, durch Einsteins Relativitätstheorie ausgelöste Krise des physikalischen Raumbegriffs und die damit verbundene sukzessive Auflösung linearer Raum-Zeit-Konzepte. Sie verlagert die Frage nach dem musikalischen Raum eines Werkes scheinbar wieder in den symbolischen Raum des Theoretischen. Die Krise des euklidisch geometrischen, dreidimensionalen Raumes zugunsten relativer mehrdimensionaler Raumvorstellungen fasziniert Wissenschaftler wie Künstler. Beeinflusst durch neue Wahrnehmungsqualitäten im Zuge der Entwicklung von Medientechnologien wie Telefon, Radio sowie die neuen ästhetischen Techniken der Fotografie und vor allem des Films, begünstigen die neuen Raumkonzepte die Vorstellung abstrakter Räume fernab jeglicher physikalischen Existenz bis hin zu virtuellen topologischen Räumen im Akustischen, mit denen wir heute operieren (vgl. Harenberg 2012). In der explosiven Öffnung kompositionstheoretischer wie praktisch-experimenteller Ansätze etablieren sich vor allem Klangfarbenkompositionen über den
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Umweg der nicht länger nur musikimmanent-kompositorischen Einbeziehung des architektonischen Raumes. Die Positionierungen von Lautsprechern, Musikern oder Orchestergruppen im realen Raum versprachen eine differenziertere Wahrnehmbarkeit komplexer Strukturen und Klangfarbenphänomene, die von nun an strukturelle musiktheoretische Funktionen übernehmen. Vorreiter dieser folgenreichen Entwicklung ist die frühe serielle Musik der 1950er Jahre, die den realen Raum als parametrisierbares und gestaltbares Element in die Kompositionen integriert. Der Realraum wird als Ort klanglicher Transparenz, Vielschichtigkeit und Bewegung einbezogen, was nicht nur ein neues kompositorisches Denken, sondern auch neue Hörerlebnisse zur Folge hat (vgl. Nauck 1997). Einerseits knüpfte man damit an die alte venezianische Schule topologischer FormEntäusserung an – mit dem großen Unterschied, dass weniger strukturelle Fragen der Form im Raum, sondern, nicht zuletzt angeregt und unterstützt durch die Entwicklung der Elektronischen Musik in Köln, der musique concrète in Paris und die Anfänge der Computermusik in den USA, die Wahrnehmbarkeit von Klangfarbenphänomenen im Zentrum des Interesses standen. Anders als in der parallel sich entwickelnden Pop- und Rockmusik, die mit ihren neuen elektrifizierten Instrumenten einen direkten Zugang zur Kategorie des Sound als emotionalisierendem Stil- und Differenzierungspotential findet, führt der Weg über die serielle Musik zur Ausdifferenzierung von Klangexperimenten im Raum. Zum Zentrum dieser Entwicklung werden zweifelsohne die Donaueschinger Musiktage, die sich unter Heinrich Strobel und Otto Tomek zum wichtigsten Förderer und Auftraggeber von Raummusiken entwickeln. So entstehen neben einigen spektakulären Raumkompositionen wie dem Werk Poésie pour pouvoir (1958) von Pierre Boulez – einem »Musik-Raum-Hörexperiment« für Sprecher, drei Orchestergruppen, Tonband, 70 Lautsprecher auf eine hängende, sich drehende Spirale – zunächst eine Reihe von Solo-Werken, welche die neuen Möglichkeiten und Grenzen auszuloten versuchen. Schließlich wird mit Ligetis Atmosphères (1961) für großes Orchester bereits das zentrale Werk in Bezug auf Klangdifferenzierung sowie die ausgewogene Binnen-Räumlichkeit exakt strukturierter topologischer Klangflächen aufgeführt (vgl. Harenberg 2010). Weitere Schlüsselwerke dieser Entwicklungsepoche entstehen dagegen aufwändiger in eigens konstruierten Hörräumen, wie es etwa Iannis Xenakis mit Metastaseis (1954) gelingt. Die Statikberechnungen zum Philips-Pavillons zur Weltausstellung 1958 in Brüssel dienen ihm als Strukturvorlage für sein Orchesterwerk, das in Kooperation mit dem Architekten Le Corbusier zusammen mit Edgard Varèses Poème électronique aus Klängen bearbeiteter Aufnahmen von Glocken, Chören, Gesang, Maschinengeräuschen und Klavierakkorden in diesem idealen Hörraum mit seinen ca. 350 Lautsprechern entlang der
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hyperbolischen Falten des zeltähnlichen Baus gleichsam dreidimensional erklingt. Aspekte räumlicher Entgrenzung finden sich ebenfalls bei Karlheinz Stockhausen, der etwa in Telemusik (1966) sowie in Hymnen (1967) mit Sprachen und Musiken aus allen Kontinenten experimentiert, um »die Wirklichkeit des fixierten Standpunkts durch eine Globalsicht über Länder, Räume, Nationalsprachen und Erdteile hinweg aufzulösen und ins Imaginäre zu entrücken« – mit dem Ziel der »Diffusion von Konkretem in schwebende Phantasiewelten« (Dibelius 1988: 30). Irdischer und eher politisch motiviert, arbeitet Luigi Nono in La fabbrica illuminata (1964) für 4-Kanal-Tonband und Sopranistin mit den elektronisch bearbeiteten brachialen Klängen aus einer Fabrik, die er auch dort, am Ort der Aufnahme, wieder aufführt und zur Diskussion stellt. Bei der Aufführung sitzt das Publikum mit der Sängerin auf einem Podest in der Mitte, in einem durch vier Lautsprecher begrenzten Kreis. Mit Nam June Paiks erstmals per Satellit übertragenem Simultankonzert in Europa und Japan 1954 ist dann auch im Realraum die globale Dimension raumgreifender musikalischer Konzeptionen einschließlich der bis heute aktuellen Fragestellung synchronisierender Kopplungen und topologischer Anbindung erreicht. Mit den geschilderten Entwicklungen sind Anfang der 1960er Jahre die Hauptströmungen beschrieben, die der reale Raum als Klangraum im doppelten Sinne erobert und künstlerisch abgesteckt hat. Viele dieser Werke benutzen Tonbandeinspielungen über einen oder mehrere Lautsprecher, um die vorhandenen Raum- und akustischen Aufführungsbedingungen zu beeinflussen, sich letztlich von den realen Raumklangverhältnissen unabhängig machen zu können. Es ist das Versprechen der Technik, künstliche Räume als Erweiterung technischer Parametrisierung des musikalischen Materials erzeugen und kompositorisch gestalten zu können. Beschreiben diese technischen Räume zu Beginn der Entwicklung vor allem radiophone Konzepte, in denen elektrische Spielinstrumente wie das Trautonium direkt an Radiosender gekoppelt sind, avancieren sie schnell zur sogenannten reinen »Lautsprechermusik«, welche die synthetisierten Klänge der elektroakustischen Musik in den Realraum hineinprojiziert und mit diesem überlagert. Der klingende Raum wird als Bestandteil technischer Manipulationen musikalischer Entäußerung dekonstruiert, aber dadurch selbst zum unmittelbaren Bestandteil von Verfahren elektroakustischer Klangerzeugung. Technisch beschreibbar werden Parameter wie Raumgröße primär als Zeitfunktionen. Mittels Reflektionszeiten und Laufzeitunterschieden zwischen dem rechten und dem linken Ohr können wir in Verknüpfung mit Tonhöheninformationen wie beim Dopplereffekt in Kombination mit Klangfarbeninformationen die Größe von Räumen und die Ortung sowie Bewegung von Klangquellen in
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ihnen lokalisieren. Ein Delay als einfachste Schaltung einer Zeitverzögerung wäre demnach das primitivste Werkzeug zur Herstellung eines künstlichen Klangraumes. Simulative Verfahren zur Reproduktion ganz bestimmter Raumakustiken (etwa berühmter Konzertsäle) benutzen das mathematische Prinzip der Faltung, um die spezifischen Klangeigenschaften von Räumen anhand frequenzabhängiger Impulsantworten auf jegliches klingende Artefakt zu projizieren und dieses damit akustisch in den ursprünglichen Raum zu transformieren. Die computergestützte Simulation der Klangbewegung benötigt ein viel differenzierteres Verständnis des dynamischen Verhaltens von bewegten Klängen im Raum, wie sie John Chowning in den 1970er Jahren mit seinem Text The Simulation of Moving Sound Sources analysiert. Er beschreibt, wie wahrnehmbare akustische Raumbewegungen das Resultat aus Hall, Entfernung und Richtungswinkel sind und einen perfekten virtuellen Raum beschreiben können, wobei Chowning mit Filtern und vor allem dem Einsatz des Doppler-Effekts psychoakustische Eindrücke hervorrufen möchte, die die Virtualität dieser Klangräume unterstreichen sollen. Er hat diese Verfahren in seinem Werk Turenas (1972) im Zusammenhang mit neuen Ausdrucksmöglichkeiten und Klängen der Frequenzmodulations-Synthese eindrucksvoll demonstriert. Klang in einem virtuellen Raum zu bewegen, zu manipulieren oder aber den Klangraum selbst in allen Dimensionen zu transformieren, gehört heute zu den Standardaufgaben diskret adressierbarer Medienmaschinen, die dieses Potenzial auf Wunsch einem Spieler als spezifisches ›Instrumentarium‹ in Realzeit zur Verfügung stellen können. Das Resultat bleibt allerdings immer die mediale Überlagerung der akustischen Präsentation im Realraum mittels Lautsprechern. Eine radikale Lesart des Raumes als unmittelbares Instrument entwickelt Alvin Lucier, ohne jedoch Parameter wie Form, Struktur oder Klang von Musik traditionell zu gestalten. I´m sitting in a room heißt das Werk von 1969, in dem im Prozess permanenter technischer Rückkopplung die Eigenresonanz des Raumes einen gesprochenen Satz nach und nach transformiert und schließlich dominiert. Übrig bleibt ein Frequenzgemisch im Bereich der Formant-Resonanzen des Raumes, der somit als Instrument und ›Medium‹ fungiert. Mit dieser demonstrativ voraussetzungslosen Struktur wird nicht nur der Werkcharakter von Musik radikal in Frage gestellt, der inszenierte Paradigmenwechsel einer lediglich angestoßenen Prozesshaftigkeit hinterfragt letztlich den Charakter von Komposition an sich als Kunstwerk. Der technisch vollkommen beschriebene und damit ästhetisch repräsentationslos gemachte Klang beginnt, sich als frei flottierender Signifikant in einem Assoziationsraum zu bewegen, der weniger rekursiv-strukturell, sondern durch Wahrnehmungsmuster einer entfesselten Klangsinnlichkeit direkt strukturiert wird.
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R EALE , SYMBOLISCHE DES M USIKALISCHEN
UND VIRTUELLE
R ÄUME
Heute sind vielfältige Raumbegriffe entscheidend für unsere Vorstellungswelt sowie unsere Strategien strukturell-klanglicher Konstruktionsweisen, die einen nächsten qualitativen Schritt darstellen können. Nachdem die Überlagerung von Sampling und Faltungsalgorithmen auch in der Musik zur Dekonstruktion von realen wie synthetischen Raumvorstellungen und Klangräumen geführt hat, werden zunehmend Raumvorstellungen zentral, die sich, letztlich zurückgehend auf Gottfried Wilhelm Leibniz, nicht länger auf den euklidischen Container-Raum senkrecht aufeinander stehender Linien beziehen lassen, sondern Raum als bewegliches und relationales Netzwerk zu verstehen beginnen. Raum ist demnach als Ergebnis von Verhältnissen zu betrachten, die in unter anderem soziologischen, historischen und ästhetischen Syntheseleistungen hergestellt werden. Ein solcher relationaler und strukturalistischer Raumbegriff impliziert die Variabilität von hergestellten räumlichen Ordnungen ebenso wie ihre Pluralität und Heterogenität und betont Aspekte der Ausdehnung, ihrer Lagerung oder Platzierung: das Netz, die Konfiguration, die Markierung, Codierung und Strukturierung von Elementen. Zurückgehend auf McLuhan und Foucault (1967) rücken so Aspekte einer implizit ästhetischen Räumlichkeit in den Fokus, die von der Klangsynthese im Mikrokosmos bis zu ihrer Verschaltung und Indexierung im Makrobereich reicht. »Wir sind«, so beschreibt Foucault, »in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt. […] Wir sind in einer Epoche, in der sich uns der Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen [relations d’emplacements] darbietet.« (Foucault 1990: 34ff.)
Für Foucault ist damit der zweite große Umbruch in der Geschichte der Raumvorstellungen nach Leibniz vollzogen. Eine Folge daraus ist ein Konzept von Räumlichkeit als Strategie im musikalischen Denken, das auf der Überwindung des griechischen Paradigmas der Einheit von Zeichen und Welt basiert – ein Schritt mit bis heute nicht vollständig überschaubaren Konsequenzen. Als Beispiel könnte man funktionale Netzwerke anführen, deren mathematisch-physikalische Mikroräume zur Klangsynthese mittels Physical Modeling genutzt werden. In Analogie zu technischen Bildern, die als »Dialektik im Still-
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stand« (Walter Benjamin) außerhalb des Realraumes in einer neuen Zeitdimension existieren, erscheinen solcherart digital modellierte Instrumente in Form spezifischer Resonanzräume als ›bewegte Dialektik‹ außerhalb der (klingenden) Realzeit in einer neuen, virtuellen akustischen Räumlichkeit (vgl. Harenberg 2012). Physical Modeling als simulatives Klangsyntheseverfahren bietet somit einen historisch interessanten selbstreferenziellen Zugriff auf (makro-)musikalische Strukturen und Formen. Die in Realtime spielbare sukzessive Veränderung der Instrumentenmodelle, die man sich metaphorisch als transformatorischen Umbau des Modells vorstellen kann, geschieht durch Manipulation der klanggenerierenden Raumsimulationen virtueller Instrumente. Wie bei traditionellen Instrumenten auch, können solche Manipulationen neben Veränderungen des Klanges auch form- und strukturbildende Funktionen haben, die in diesem Fall durch einen Kurzschluss von virtuellem (Mikro-)Raum mit realem (Makro-)Raum zustande kommen. Nach dem prognostizierten Ende einer narrativen bürgerlichen Repräsentationsmusik könnte dies einen Zugang zu einer neuen postnarrativen Formensprache in der Musik bedeuten. Jede Zeit entwickelt ihr spezifisches, kulturell definiertes Raumbewusstsein und die Formen zu seiner ästhetischen Vergegenständlichung. In der Musik können wir eine Entwicklung skizzieren, die vom architektonischen Klang-Ort über den symbolischen Raum formaler und struktureller Projektionen zum imaginären musikimmanenten Raum kompositorischer Phantasie verläuft. Von da an kann zum einen der reale Raum musikalisch funktionalisiert und zum anderen um technische Räume erweitert werden. Diese ermöglichen als digitale Simulationen die universelle Manipulation und referenzlose Skalierung in alle Dimensionen. So entstehen zum einen virtuelle Räume, die als kompositorisch-ästhetisch gestaltbare musikalische Parameter interpretiert und genutzt, gleichzeitig aber auch als instrumentale Mikro-Räume zur Klangsynthese mittels eines virtuellen Instrumentariums dienen können. Zum anderen wird Raum als interpretatorischer Aspekt von Klang universell verfügbar – sei es in der Projektion in Überlagerung mit dem Realraum, sei es als kompositorisch-struktureller Parameter. Damit werden primär über Zeitfunktionen vermittelte Vorstellungen virtueller Räume konstituierend für neue kompositorisch/konstruierende Formvorstellungen wie für die Generierung und Manipulation von Klängen. Der historische Kreis öffnet sich, wenn die frühen form- und damit strukturabbildenden Raumfunktionen durch eine, wie es bei Margaret Wertheim heißt, akustische »Himmelstür des Cyberspace« eine neue musikalische Klangformensprache finden, jenseits bloßer Simulation vergangener Räume einer bürgerlichen Musikkultur. Raum als eigenständige Qualität ist kompositorisch wie medial somit noch weitgehend unbegriffen.
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In einer als dynamische Netzstruktur verstandenen Räumlichkeit ist die Lokalisierung von Klängen ein möglicherweise untergeordneter Aspekt, der mit dem Bedeutungsverlust der euklidischen Raumvorstellung einhergeht, wie wir ihn im Alltag täglich und ganz praktisch erfahren. Just jene Technologie, die uns diese Erfahrbarkeit beschert, ist auch die Voraussetzung dafür, den euklidischen Raum in der Projektion von Klängen wieder aufleben zu lassen. Es kann dabei durchaus sein, dass aktuelle Mehrkanalstücke im Rückblick nur als eine Episode in der Entwicklung des Raumbegriffs medial vermittelter Kunst erscheinen werden, die uns eines Tages so verschroben und liebenswert, aber letztlich unbedeutend erscheint, wie heute der View Master oder das Theremin.
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Taube Augen Das Konzept der Heterotopie vor dem Hintergrund des acoustic turn L ORENZ A GGERMANN
In seinem Text »Andere Räume« weist Michel Foucault bekanntermaßen die Geschichte und somit die Zeit als die große Obsession des 19. Jahrhunderts aus. Dieser stellt er die Vorliebe des 20. Jahrhunderts für den Raum gegenüber, um vor dieser Dichotomie ein Konzept des Heterogenen auszubreiten, das weder der Chronologie noch der Linearität verpflichtet ist, sondern sich durch die (Ein)Lagerung von verschiedenen Zeiten auszeichnet. Diese andere Konzeptualisierung von Zeit und Raum bleibt kein leeres Postulat; Foucault gibt zahlreiche und sinnfällige Beispiele für das, was er »Heterotopie« nennt: Friedhöfe, Schiffe und Bordelle, Museen und Bibliotheken, aber auch Theater und Fest. Obgleich sich dieses Konzept der Heterotopie als äußerst einleuchtend erwiesen und in der Geisteswissenschaft nahezu inflationäre Verbreitung gefunden hat, regt sich bei der erneuten Lektüre des Textes aus dem Jahre 1967 Widerstand. Ist die Heterotopie im 21. Jahrhundert nicht die grundlegende Verfasstheit unserer Lebenswelt? Sind wir nicht allerorten mit Schichtungen konfrontiert, die Spuren der Vergangenheit in sich tragen? Müssten demnach nicht umgekehrt jene Orte markante Erfahrungen bieten, die sich aus dieser Schichtung lösen, das Geflecht der Zeiten durchlöchern und durch Brüche und Leerstellen auf den Augenblick, das Ereignis, den Moment verweisen? Anhand zweier Beispiele aus der darstellenden Kunst, die den Merkmalen der Heterotopie vordergründig entsprechen und zugleich auf das spontane Ereignen und momentane Erleben setzen, soll diese Paradoxie kenntlich gemacht werden. Die anderen Zeiten und anderen Räume, die gewissen Dingen und Orten nach Foucault inhärent sind, werden am ehesten in Brüchen und Dysfunktionen der Wahrnehmung erfahrbar, also
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an jenem Punkt, an welchem das Subjekt in Frage gestellt wird, da auch unsere Rezeptionsweisen von bestimmten Zeiten und Räumen determiniert sind.
J OHN C AGES S PIEL MIT DEN F UNDAMENTEN DER O PER
HISTORISCHEN
Abbildung 1: Heiner Goebbels, Europeras 1 in der Jahrhunderthalle Bochum im Rahmen der Ruhrtriennale 2012
»Die Zeit erscheint wohl nur als eine der möglichen Verteilungen zwischen den Elementen im Raum« (Foucault 1990: 37). Diese Aussage Foucaults ließe sich auch problemlos seinem Zeitgenossen John Cage zuschreiben, der in seiner Komposition Europeras 1 das Konzept der Heterotopie aufgreift und gewissermaßen potenziert. Europeras 1 ist Cages Versuch, die Kunstform Oper einem Resümee zu unterziehen und alle Opern zu einer einzigen Aufführung zu kompilieren1. Der Komponist deklariert Zufall und Raum als grundlegende Parameter seiner Partitur. Zufall resultiert aus dem chinesischen Orakelbuch I Ging, für das Cage eine Vorliebe entwickelte, Raum gewinnt über ein auf den Boden gezeichnetes Raster, das die Bühne in 64 nummerierte Felder unterteilt, Einfluss auf das Spiel. Konkretes Material der Aufführung sind jene Elemente aus dem Reper-
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Die Ausführungen zu Europeras 1 beziehen sich maßgeblich auf die Inszenierung von Heiner Goebbels im Rahmen der Ruhrtriennale 2012 in der Jahrhunderthalle Bochum.
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toire der Oper, welche die an der Produktion Beteiligten zur Verfügung stellen können: etwa Arien, Musikstücke, Kulissen, Kostüme, Bühnenmaschinen, Lichteffekte. Diese Elemente werden separiert und mithilfe des I Ging je einem Spielfeld zugeordnet, auf dem sie sich ereignen sollen. So treffen verschiedene, divergente Elemente auf dem ihnen zugedachten Spielfeld aufeinander: Kulissen aus dem beginnenden 20. Jahrhundert überlagern Barockarien, romantische Gesänge tönen aus Rokokoroben, Bühnentode ereignen sich zu Kulissenwechseln. John Cage etabliert eine Heterotopie im wortwörtlichen Sinne. Zeit-räumlich divergente Ereignisse treffen unvermittelt aufeinander und ergeben für den Moment eine neue Konstellation. Da möglichst alle historischen Formationen des Musiktheaters in diese Komposition einfließen sollen, wird ein überzeitliches Konzentrat gewonnen. Diese Essenz der Kunstform Oper soll den Auftakt zu einer neuen Ästhetik bieten, welche zugleich ihr historisches Fundament als auch ihre radikale Gegenwart vorführt. Die dem Spiel entspringende Anordnung, maßgeblich dem Zufall in Form des I Ging geschuldet, ermöglicht, der Mannigfaltigkeit der Elemente, der Menge des Materials sowie seiner Dauer Herr zu werden – und somit das gesamte historische Fundament von Musiktheater erfahrbar zu machen. Zugleich bleibt diese Anordnung einzigartig, ganz dem Jetzt verpflichtet, da die Partitur in jeder Aufführungsserie zu einer neuen Anordnung der Elemente und damit zu neuen Situationen und Ereignissen führt. Eine erste Paradoxie des Stückes ergibt sich aus der Tatsache, dass realiter nur jene Kompositionen und Bauteile verwendet werden können, deren Urheberrechte zur freien Verfügung stehen und die folglich mindestens 70 Jahre alt sind. Das von Cage intendierte überzeitliche Konzentrat lässt sich somit nur aus historischem Material gewinnen und erweist sich hierdurch eminent der Zeit verpflichtet. Europeras 1 stellt letztlich eine Potenzierung von Foucaults Idee der Heterotopie dar. Verschiedene zeit-räumliche Schichten werden mehrfach überlagert und kollidieren für den Moment auf dem ihnen zugewiesenen Spielfeld. Dieser Moment des Zusammenpralls der Aktionen und Vorgänge ist spektakulär anzusehen; das mit ihm einhergehende Rauschen in den Ohren hingegen ist eine grenzwertige Erfahrung. Nur vereinzelt treten laut tönende Stimmen hervor, die von den Klängen unterschiedlicher Instrumente oder den Geräuschen der verschiedenen Bühnenapparaturen weniger gerahmt, denn kontrastiert werden. Jeder Klang wird postwendend von anderen Evokationen und Geräuschen überlagert, denn auch für deren Komposition ist das I Ging verantwortlich. Die Klänge, Evokationen und Geräusche bleiben dadurch arbiträr, ohne Verweis und ohne Folgen, und evozieren ein recht monotones Rauschen in den Ohren.
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Das Spiel mit dem Zufall und die Bemühungen um eine andere Ordnung der Elemente im Raum machen derart auf eine ›ohrenkundige‹ Bruchstelle aufmerksam. Die chaotische, zufällige Organisation des Geschehens ist deutlich zu sehen, aber nur bedingt zu hören. Auf akustischer Ebene führt die Kombination und Überlagerung diverser Elemente zur partiellen Dysfunktion der Wahrnehmung, da eine differenzierte Wahrnehmung der singulären, unterschiedlichen Geräusche und Klänge aufgrund ihrer Schichtung nicht möglich ist. Die Ohren verlieren sich in einem monotonen Klangteppich. Europeras 1 eröffnet dem Blick des Publikums zahlreiche Ereignisse und Situationen, die, spontan zustande gekommen, den Moment feiern und überhöhen; zugleich wird diese Erfahrung über das Gehör konterkariert, da sich in den Ohren ein andauerndes Rauschen – das Grundmuster des Diffusen, Chaotischen, Ort- und Zeitlosen – einstellt. Damit ist das Paradoxon von John Cages Anordnung respektive der Rezeption von Europeras 1 umrissen. Die verschiedenen Schichten lassen sich visuell mühelos explizieren und erreichen in der Überlagerung Evidenz; in der akustischen Rezeption diffundieren die einzelnen Elemente hingegen und verlieren infolge ihre zur Entschlüsselung notwendigen Differenzen und Resonanzen. Dieser Sachverhalt ist auf die qualitativen Unterschiede von Optik und Akustik zurückzuführen. Akustische Wahrnehmung basiert maßgeblich auf chronologischen Abläufen. Aufgrund von Wiederholung und Differenz lassen sich aus dem Sonifikat Muster destillieren, die dem Vernommenen unterlegt werden und die das Rauschen zum Geräusch, zum Klang machen. Während sich das Sehen durch einen »Schematismus« auszeichnet, ist dem Hören ein »Thematismus« zu eigen, so die Wortwahl Helmuth Plessners zur Beschreibung der grundlegenden Divergenz von optischer und akustischer Wahrnehmung (1980: 284). Das sonore Material der Aufführung, Arien, Couplets, Rezitative, aber auch weitere Klangereignisse, sind daher der zeitlichen Abfolge eminent verpflichtet. Für sie existiert kein anderes Ordnungssystem als die Zeit. Es stellt sich der Verdacht ein, dass diese am Akustischen manifest werdende Paradoxie auch das von Foucault entwickelte Konzept der Heterotopie generell betrifft. Werden Heterotopien eher augenscheinlich denn ohrenkundig? Das indifferente Rauschen, das sich in der Rezeption von Europeras 1 aufgrund der permanenten Schichtung und Überlagerung einstellt, scheint dies nahezulegen. Theater lässt sich – Foucault hält dies explizit fest – paradigmatisch als Heterotopos begreifen, und das gilt wohl auch für Musiktheater. Viele seiner Komponenten speisen sich aus anderen, divergenten Zeiten: Neben Text und Komposition entstammen beispielsweise das Instrumentarium, das der Komposition zu Grunde liegende Stimmideal sowie die verwendeten Kompositionstechniken,
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aber auch von der Komposition unabhängige Parameter wie die räumliche Anordnung von Bühne und Zuschauerraum gemeinhin einer längst vergangenen Zeit. Andere seiner Konstituenten sind zwangsläufig aktueller, gegenwärtiger Natur: Darsteller, Musiker und Publikum, Licht und Klang existieren nur in der Gegenwart der Aufführung. Eine jede Aufführung ergibt sich somit aus einem Spannungsfeld von historischem Material und dessen Aktualisierung. Anachronistische Elemente, vergangene Schichten und Traditionen schillern hierbei immer wieder durch und konturieren die gegenwärtige Aufführung. In diesem Sinne ist Theater in Bezug auf die in ihm wirkenden Zeiträume heterotopisch, ohne indes a-chronisch beziehungsweise chaotisch zu sein. Allerdings kann Zeit als zentrales Ordnungskriterium im Musiktheater schlecht ersetzt werden, da Musik und klangliche Ereignisse auf ganz basaler Ebene der Zeit verpflichtet sind. Das markanteste und augenfälligste Signum hierfür ist der Dirigent, welcher die Aufführung rhythmisiert, welcher Melodien und Klänge und letztlich die gesamte Aufführung nach seinem Atem fließen lässt. Jedes musikalische Element hat seinen in der Partitur festgeschriebenen Zeitpunkt, an dem es sich ereignet, von dem aus es abläuft – und das selbst in Europeras 1, wo die Frequenz einer Stoppuhr den Taktschlag des Dirigenten ersetzt. Dass Musiktheater dennoch mit der Wahrnehmung von Zeit spielen, Geschehenes vermeintlich dehnen oder verdichten, gar dessen Gleichzeitigkeit suggerieren kann und dass es sich dabei nicht nur auf die Aktualisierung vergangener Schichten beschränkt, hat einen anderen Grund. Der hierfür nötige Stillstand, der die Wahrnehmung von ihrem zeitlichen Verlauf entpflichtet und die Chronokratie durchbricht, ereignet sich im rezipierenden Subjekt. Die Dispension der Chronologie erweist sich als Nebeneffekt eines spezifischen Dispositivs der visuellen Wahrnehmung, das nicht nur in der darstellenden Kunst, sondern auch im Konzert zum Tragen kommt und in der diametralen Anordnung von Bühne und Zuschauerraum seinen deutlichsten Ausdruck findet. Dieses Dispositiv orientiert sich maßgeblich an der Perspektive, die seit der Renaissance die visuelle und, über Umwege, auch die akustische Wahrnehmung determiniert. Nicht umsonst steht der Dirigent in einem klassischen musiktheatralen Setting im Mittelpunkt der Blickachse und dirigiert hierdurch neben den Sängern und Musikern auch Augen und Ohren des Publikums respektive ihre zeitliche Wahrnehmung. Diese Position des Dirigenten ist der deutlichste Hinweis darauf, dass die akustische Wahrnehmung ebenso wie die visuelle einem Dispositiv unterliegt, und dass diese beiden Dispositive im Falle der Heterotopie in Konflikt geraten, einander wechselseitig ›dysfunktionalisieren‹.
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L EON B ATTISTA A LBERTI B ENUTZUNG DER A UGEN
ÜBER DIE RICHTIGE
Für die neuzeitliche und bis heute gültige Konzeption und Theoretisierung der visuellen Episteme ist die Unterscheidung von Auge und Blick maßgeblich. Diese Differenzierung von Sehorgan und Wahrnehmungstechnik hängt unweigerlich mit der Entwicklung der perspektivischen Malerei zusammen. Eine bedeutende theoretische Quelle ist deshalb auch Leon Battista Albertis Abhandlung de pictura aus dem Jahre 1435, die sich vornehmlich den optischen und geometrischen Grundlagen der Malerei widmet. Alberti denkt den Sehvorgang als einen Prozess, in welchem die verschiedenen Objekte des visuellen Feldes über ein Bündel an Strahlen mit dem Auge vernetzt sind (2011: 203f.). Die äußeren Strahlen haben, einem kompassartigen Gerät gleich, die Aufgabe, den Saum zu definieren; die mittleren Strahlen übermitteln Farbe und Licht in all ihren Nuancen, während dem Zentralstrahl, »der von allen Strahlen der durchdringendste und lebenskräftigste ist« (ebd.: 207), die Aufgabe zufällt, einzelne Objekte zu konturieren, hierdurch Distanzen festzustellen und dem Gesehenen ein Zentrum zu geben. Der Zentralstrahl wird von den anderen umdrängt und gehegt. Er ist der »Fürst« (ebd.), der die visuelle Wahrnehmung konzentriert und ausrichtet, der die Perspektive vorgibt. Dieser »Sehstrahl« trifft folglich eine Auswahl innerhalb aller vorhandenen visuellen Daten, und obgleich es für Alberti unerheblich ist, ob dessen Bahnen nun von den Dingen oder vom Menschen ausgehen und obgleich sein Modell visueller Wahrnehmung ausschließlich auf präsente, tangible Körper rekurriert, antizipiert er mit dieser Beschreibung das neuzeitliche Modell des Blicks. In diesem gleichsam kunsthistorischen wie anthropologischen Modell, das durch die perspektivische Malerei Verbreitung findet, hat die neuzeitliche Gegenüberstellung von Auge und Blick ihren Ausgangspunkt. Während das Auge wie ein Spektroskop Farben und Formen in ihrer gesamten Bandbreite und unabhängig von ihrer räumlichen Konstellation registriert, filtert und fokussiert der Blick die visuellen Daten gleich einer Linse. Er setzt die wahrgenommenen Objekte zueinander in Beziehung, ordnet Distanzen und strukturiert das Sichtfeld. Farbe/Raum versus Form/Feld – so lässt sich der Unterschied von Auge und Blick resümieren. Kommt dem Auge eine polymorphe Offenheit zu, so bedarf der Blick, wie jedes Ordnungssystem, einer Instanz, die mehr oder weniger bewusst die Augen lenkt. Albertis Modell schafft somit nicht nur die Voraussetzungen für die Entdeckung der Perspektive und damit die Grundlage für eine der einflussreichsten Techniken innerhalb der Kunst, sondern auch für die Theoreti-
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sierung des blickenden Subjekts. Letzteres ist indes weniger Agent mit Augen, sondern primär Untertan des Blickes. Den blinden Fleck der visuellen Episteme thematisiert Hubert Damisch, wenn er die Erfindung der Perspektive als einen kulturhistorischen Akt beschreibt, der ein neues Subjekt konstituiert und dabei eine Informationsmacht entwickelt, die bis heute ihre Wirksamkeit behält (vgl. Damisch 2010). Die Strukturierung des Sichtfeldes qua Perspektive und Blick, in späteren Ausgaben von Albertis Abhandlung bezeichnender Weise »costruzione legittima«2 genannt, verbürgt, als basale Voraussetzung von Erkenntnis, die Mitteilbarkeit der visuellen Wahrnehmung. Nur was kommunizier- und vergleichbar ist, ist letztlich auch intelligibel. Diese Strukturierung zeitigt jedoch einen weiteren, gerne unterschlagenen Effekt: Durch die Perspektive wird der Mensch umgekehrt auf einen einzigen (Blick-)Punkt abstrahiert. Das Subjekt wird solchermaßen auf den »Status eines Zyklopen« (ebd. 2010: 55) reduziert und in eine Situation versetzt, die mit den realen Bedingungen visueller Wahrnehmung kaum etwas zu tun hat. Nicht die Augen oder das Sichtbare an sich, sondern der reglementierte Blick nimmt als Instanz unmittelbaren Einfluss auf unser Bewusstsein. Die Perspektive dient folglich nicht nur der Ordnung des Sichtfeldes nach räumlichen Kriterien, sondern ebenso der Subordination unter die Instanz des Blickes. Das perspektivische Dispositiv zeitigt somit nicht nur für die bildende Kunst, sondern generell für das menschliche Denken entscheidende Folgen: Es erweist sich als eine subtile und höchst wirksame Form der Anrufung, deren nachhaltiger Effekt darin besteht, das blickende Subjekt gefangen zu nehmen respektive still zu stellen (vgl. Lacan 1978: 98). Mit der Ordnung geht die Positionierung und Normierung des Subjektes einher; die Perspektive weist dem Subjekt einen bestimmten, vorgegebenen Platz im Rahmen dieser Ordnung zu. Dieser Platz toleriert nur marginale Abweichungen von der vorgegebenen Ausrichtung. Hierdurch wird letztlich die Bewegungsfreiheit beschränkt, die Gesamtwahrnehmung beschnitten. Das perspektivische Dispositiv produziert ›glotzende‹ Menschen, die selbstvergessen seinen Vorgaben Folge leisten, und deren Aufmerksamkeit sich auf ein klar definiertes, abgegrenztes Sichtfeld richtet, nicht aber auf den sie umgebenden, dynamischen Raum. Infolgedessen wird die Malerei, so wiederum eine der zentralen Thesen von Damisch, zu der Gattung, in welcher diese Gefangenschaft des Subjekts in Szene gesetzt wird; sie spielt mit diesem Sachverhalt und fordert darüber seine Reflexion ein (vgl. Damisch 2010: 64). Während die Malerei das perspektivische Dispositiv im Impressionismus und besonders deutlich im Kubismus reflektiert und erweitert, stellt die Einflussnahme des Blicks auf Cogito
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Vgl. den Kommentar von Oskar Bätschmann (Alberti 2011: 324).
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und Subjekt in Philosophie und Kulturwissenschaft auch heute noch ein zentrales und nur selten problematisiertes Paradigma dar. »Nicht die Modelle für Auge und Blick als solche, sondern ihr diagrammatischer Zusammenhang setzt sich bis heute fort« (Haß 2005: 80), konstatiert Ulrike Haß und weist darauf hin, dass seit der Erfindung der Kulissenbühne das perspektivische Dispositiv in ganz unterschiedliche Theaterbauten Eingang gefunden hat und so auch die Geschichte des europäischen Theaters dominiert. Es ist diese Stillstellung der Rezipierenden durch ihre perspektivische Anrufung, die das Modell der Heterotopie in der darstellenden Kunst Fuß fassen lässt. Im besonderen Maße gilt dies für das Musiktheater, in dem nicht nur die Architektur, sondern auch das Opernglas eindrücklich die Vorherrschaft der Perspektive und die Stillstellung der Rezipienten bezeugt. Im Fall des Opernglases wird über Lupen der Fluchtpunkt in eine für die Augen ungewohnte Ferne verrückt. Zugleich verkürzt ein Spiegel die Distanz zur tatsächlich betrachteten Fläche. Der umliegende sonore Raum verschwindet so nahezu vollkommen, und die offenen Münder der Singenden sowie andere Details des Spiels treten als Bild hervor. Ein derart gerahmtes und abgegrenztes Bild wird indes nicht nur mittels des Opernglases hergestellt, diese Funktion übernehmen auch andere Apparaturen wie das Bühnenportal mit seinen Vorhängen, die spezifische Beleuchtung und Verdunkelung von Bühne und Zuschauerraum oder auch die sacht ansteigende Anordnung der Sitzplätze. Alle diese Vorrichtungen dienen dazu, eine Konzentration der visuellen Wahrnehmung anzuleiten und das theatrale Geschehen in ein Bild zu überführen, eine Perspektive herzustellen. Die Einengung der Wahrnehmung zugunsten des Blicks und die damit einhergehende Fokussierung auf die Bildhaftigkeit des Spiels lassen andere Wahrnehmungsweisen in den Hintergrund treten; sie rücken den Schauwert der Aufführung ins Zentrum und marginalisieren deren Klangraum3. Selbst eine Kunstform wie das Musiktheater, die vermeintlich Klang und Akustik priorisiert, erweist sich so letztlich als dem »Visionismus«4 unterworfen. Und mit der Marginalisierung der akustischen Wahrnehmung tritt zugleich die Wahrnehmung des zeitlichen Verlaufs in den Hintergrund, denn die akustische Wahrnehmung findet ihren Fluchtpunkt nicht so sehr im euklidischen Raum, sondern in der Zeit, wie von ganz unterschiedlichen
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Eine Kritik, die schon Richard Wagner in seiner Schrift Oper und Drama mehrfach vorbringt und die eine maßgebliche Motivation für seine Reformversuche darstellte.
4
Unter diesem Stichwort subsummiert der blinde Philosoph Martin Milligan seine Kritik an der Vorherrschaft des Visuellen: »I mean here an exaggeration of the differences between the sighted and the blind, with a one-sided emphasis on the advantages or superiorities of the sighted over the blind« (Magee/Milligan 1995: 54).
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Theoretikern des Auditiven unisono bestätigt wird (vgl. u.a. Bergson 1994: 94; Espinet 2009: 123; Schmicking 2003: 97). Die Partitur von Europeras 1, vermittels welcher John Cage eine Hierarchisierung oder Chronologie der szenischen Elemente vermeiden will, eröffnet keine Strategie, um dem perspektivischen Dispositiv zu entkommen und dem Publikum tatsächlich eine heterotopische und heterochrone Wahrnehmung zu eröffnen. Cage schafft, paradoxal zu seiner Intention, eine Anordnung, die klare Prioritäten und Normen setzt, indem sie einen bestimmten Ort für die Rezeption ausweist, an dem die Überlagerung und Schichtung der Ereignisse für den Moment als Bild erkennbar werden kann. Die Heterotopie ist im Falle von Europeras 1 daher weniger losgelöst von Zeit und Raum, sondern eminent einem bestimmten, vorgängigen Dispositiv verpflichtet, das die Wahrnehmung determiniert und seinerseits auf bestimmten kulturellen, der Zeit verhafteten Parametern fußt. Hierfür sind einerseits die Architektur des Spielortes, die Anlage der Bühne und der ihr gegenüberliegenden Zuschauerränge mitsamt deren Ausrichtung auf ein Sichtfeld verantwortlich5. Darüber hinaus wird dieses Dispositiv maßgeblich durch das einer jeden Aufführung zugrunde liegende Raster konstitutiv, das in seiner geometrischen Anordnung die perspektivische Ausrichtung der Wahrnehmung betont – selbst wenn darauf Vorgänge zu sehen sind, die konventioneller Weise hinter Soffitten oder Prospekten verborgen bleiben. Kulissen, Licht, aber auch die Platzierung der Sänger auf dem Spielfeld verweisen paradigmatisch auf die vorrangige Stellung des Visuellen und dessen basaler Strukturierung. Das Spielfeld, auf dem das I Ging und damit auch der Zufall seine Wirkung entfalten soll, konterkariert solchermaßen Cages Bemühungen um eine Enthierarchisierung aller Bühnenmittel und installiert eine normative Ordnung. Erst durch und auf dieser Basis lassen sich eine Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit aller Vorgänge imaginieren. Andere Wahrnehmungsmodalitäten, vermittels derer diese Ordnung aufgelöst werden könnte, treten in den Hintergrund: Die Klänge und Geräusche, die ebenso gesampelt und überlagert werden, können in diesem Setting keine gesteigerte Aufmerksamkeit erreichen, verliert sich doch das Gehör in dem geschilderten chaotischen Rauschen. So wird letzt-
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Die Spielanleitung von Cage setzt maßgeblich auf die personellen und räumlichen Ressourcen eines traditionellen Opernhauses, von daher wundert es wenig, dass Europeras 1 bislang an ebensolchen Häusern (Frankfurt 1987; Zürich 1991) aufgeführt wurde. Erstaunlicherweise stellt allerdings auch die jüngste Aufführung dieser Komposition bei der Ruhrtriennale dem Spielfeld der Sänger, Requisiten und Kulissen das Publikum auf einer Tribüne diametral gegenüber, obwohl der Spielort, die Jahrhunderthalle in Bochum, dieses Setting nicht zwangsläufig vorgibt.
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lich nicht die Heterotopie oder Heterochronie betont, die im Rauschen tatsächlich evident wird und die Wahrnehmung herausfordert, sondern umgekehrt der bildhafte, spontan generierte Moment.
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Abbildung 2: Installationsansicht Zidane: A 21st Century Portrait, MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M. 2006
Im Falle der akustischen Wahrnehmung ist es grundsätzlich weit schwieriger als im Visuellen, eine vorgängige Ordnung auszumachen. Die Frage, was unsere Ohren ausrichtet, justiert und in der Folge zum Gehör werden lässt, konnte von der Forschung bislang noch nicht befriedigend beantwortet werden. Einen möglichen Grund hierfür umschreibt der Klangforscher und Komponist R. Murray Schafer wie folgt: »Der Hörraum hat keinen zentralen Wahrnehmungspunkt. Er ist eine Kugel ohne feste Grenzen, ein von der Sache selbst geschaffener Raum, kein Raum der ein Ding enthält. Er ist […] ein dynamischer Raum, immer im Fluß, der in jedem Augenblick seine eigenen Dimensionen schafft.« (2010: 262)
Dieser dynamische Raum, den Klang und Geräusch entwerfen, steht in einem gewissen Gegensatz zum Sichtfeld mit seinen Grenzen, starren Blickachsen und seinem definierten Fluchtpunkt. Die Differenz zwischen Klangraum und Sicht-
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feld wird fallweise als entscheidende Qualität des Theatralen aufgegriffen und zu dessen Definition herangezogen (vgl. Féràl 2002; Finter 1994; Goebbels 2012). Das charakteristische Merkmal der darstellenden Kunst wäre somit nicht ihre heterotopische Verfasstheit, sondern eben die Spaltung des Blicks oder des Gehörs, und also jene brüchige Audio-Vision, die sich aufgrund der verschiedenen, die Wahrnehmung prägenden Dispositive einstellt. Ohne an dieser Stelle Überlegungen zu einem möglichen Dispositiv der akustischen Wahrnehmung anzustellen und das Auseinandertreten von Auge und Ohr zu konkretisieren, soll abschließend ein zweites Beispiel angeführt werden, das über akustische Ereignisse eine Heterotopie lanciert und hierbei geradewegs auf Dynamik und Verschiebung in der Wahrnehmung setzt. Denn sowohl nach obigen Ausführungen als auch dem eben erwähnten Zitat Murray Schafers bleibt es fraglich, ob sich eine Heterotopie respektive Heterochronie über die zufällige Schichtung akustischer Ereignisse einstellen kann. Zeit, so wurde festgehalten, stellt für die Wahrnehmung von Klang und Geräusch und damit für Akustik im Allgemeinen das maßgebliche Kriterium dar. Eine andere Ordnung und Strukturierung denn eine zeitliche ist für Klänge schwerlich möglich und führt, Europeras 1 belegt dies eindrücklich, bestenfalls zu einem indifferenten Rauschen. Letzteres ist wiederum nicht als subjektive Wahrnehmung zu definieren, sondern schlicht als präsubjektives Ansammeln aller möglichen Daten durch das Ohr (vgl. Waldenfels 2004: 13). Wie John Cage, so veranschlagt auch Douglas Gordon 90 Minuten für die Rezeption seiner Installation Zidane: A 21st century portrait6. Gordon zitiert mit dieser Zeitspanne einerseits die Dauer eines Fußballmatches, andererseits die Länge eines klassischen Kinofilms. Als solcher war das Portrait des Fußballers Zinedine Zidane ursprünglich auch geplant. Für die Ausstellung im Rahmen einer Personale in Frankfurt wurde der Film allerdings umgearbeitet und damit aus ebenjenem perspektivischen Dispositiv entpflichtet, das im Kino ebenso wie im (konventionellen) Theater vorherrscht. Das visuelle Geschehen ergibt sich nun aus einem Bilderreigen, der auf 16 auf dem Boden stehenden Bildschirmen abläuft, die vom Betrachter gänzlich unterschiedliche und miteinander unvereinbare Positionen verlangen und deren Sequenzen immer wieder von Schwarzbildern unterbrochen werden. Es werden Spieler in Nahaufnahme und vor allem in Bewegung gezeigt – beim Laufen, Treten, Foulen, Fallen, Stehen. Ab und zu wird die Anzeigetafel mit dem Spielstand fokussiert, ab und zu steht die Tribüne mitsamt dem Publikum vor Augen, meist jedoch zeigt sich die grüne Rasenflä-
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Die Installation war in dieser Form erstmals im MMK Museum moderner Kunst Frankfurt a.M. in der Ausstellung Douglas Gordon vom 19.11.2011 - 25.3.2012 zu sehen.
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che in unterschiedlicher Cadrage. So wie die aufzeichnenden Kameras stets den Ball oder das Tor suchen, und darum bemüht sind, einen Überblick über das Spiel zu vermitteln, versucht auch der Rezipient unweigerlich, eine aufschlussreiche Sequenz zu erhaschen und die ›richtige‹ Perspektive einzunehmen bzw. sich demjenigen Bildschirm zuzuwenden, der den Spielverlauf konzise erfasst und eine Ordnung des Geschehens ermöglicht. Die Rezeption wird dynamisiert: Der Zuschauer bewegt sich von einem Bildschirm zum nächsten, doch die Gleichzeitigkeit aller Ereignisse auf und rund um das Spielfeld bleibt verwirrend. Orientierung über die Augen und ihre Blicke ist in dieser Installation nicht zu haben. Das Zentrum des Geschehens scheint stets dort zu sein, wohin der Blick gerade nicht fällt. Im Gegensatz zu dem disparaten, willkürlich scheinenden Bilderreigen auf dem Boden wird der Besucher auf akustischer Ebene über eine Dolby-SurroundBeschallung in einen geschlossenen, homogenen Raum versetzt: Er findet sich unvermittelt inmitten des Spielfelds wieder. Anfeuernde Chöre, Klatschen, einzelne Schreie dringen von rundum in seine Ohren und weiten den nüchternen Ausstellungsraum zu einem merklich größeren Feld. Auch diese Klangereignisse lassen vordergründig keine Ordnung erkennen und ertönen spontan mal aus dieser, mal aus jener Richtung. Zugleich ziehen sie den Rezipierenden in das Geschehen hinein und lassen ihn unvermittelt am Spiel teilhaben. Die vermeintlich gemeinsame Wahrnehmung von Auge und Ohr tritt auseinander, entzweit sich. Das dumpfe Donnern der einzelnen Tritte gegen den Ball sowie die deutlich vernehmbaren Zurufe der Spieler lenken die Aufmerksamkeit unwillkürlich von einem Bildschirm zum nächsten. Doch jede Positionierung vor, beziehungsweise Fokussierung auf einen Bildschirm erfolgt, selbst wenn dafür nur kleine Bewegungen des Kopfes nötig sind, stets zu spät, da der Betrachter hierzu nur auf jene akustischen Signale reagieren kann, welche aus den Lautsprechern rundum erschallen. Haben die Augen einen Bildschirm im Blick, hat sich das Spiel bereits verlagert, ist der Ball längst an einer anderen Position, und auf dem entsprechenden Bildschirm ist meist nichts mehr zu sehen. Obwohl die Zurufe, Gesänge und Ballgeräusche unweigerlich mit den Ereignissen auf den Bildschirmen zu tun haben, lassen sie sich im Rahmen der Installation nicht zu einem konzisen Ganzen vereinigen. Der Blick fällt in seiner Suchbewegung indes nicht immer auf die Bildschirme. Die akustischen Reize lenken die Augen ebenso auf die weiße Wand des Ausstellungsraumes, auf das Fenster und die dahinter liegende Straße oder auf andere Ausstellungsbesucher. In diesen Momenten steht das Gesehene in augenscheinlicher Differenz zum Vernommenen, bricht die Illusion, wird die heterotopische Verfasstheit des Settings evident. Die Ohren suggerieren dem Rezipien-
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ten, mit Zinedine Zidane auf einem Platz zu stehen; die Augen zeigen seine reale Umgebung im Frankfurter Museum für moderne Kunst an. Auch Gordons Installation betont letztlich den singulären Moment, der stets entzogen bleibt, und weniger die Gleichzeitigkeit oder das permanente Geschehen. Das Charakteristikum, das sie dennoch zur Heterotopie/Heterochronie macht, ist weniger in dem Sachverhalt zu finden, dass Zinedine Zidanes Abschiedsspiel mittlerweile über sieben Jahre zurückliegt und also wie in Oper und Theater die Wahrnehmung eines historischen Ereignisses über eine bestimmte Spielanleitung aktualisiert wird. Der akustischen Einbeziehung des Betrachters, seiner Anrufung als dynamischem, sich stets bewegendem Mitspieler steht noch ein weiterer Hör-Effekt zur Seite. In die Soundscape des Fußballstadions sind die Atemgeräusche des Fußballers überdeutlich eingewoben. Es ist dieses Schnaufen, das letztlich eine Spaltung des Gehörs evoziert, denn dieses Geräusch bildet einen markanten Kontrapunkt. Es ist ein nahes, intimes Geräusch, das in ohrenkundiger Differenz zu den anderen Geräuschen und nicht zuletzt zum realen Klangraum steht. Da die Ohren sich üblicherweise nicht nur auf die Umgebung richten, sondern als »akustischer Spiegel« auch maßgeblich der Selbstwahrnehmung dienen (vgl. Silverman 1988: 113f.), konterkarieren diese fremden, intimen Geräusche den eigenen Atem und Rhythmus. Aufgrund des Dolby-Surround-Effekts überlagern sie die körpereigenen Geräusche des Rezipienten und konterkarieren dessen (Selbst-)Wahrnehmung. Ihm wird derart der einzige tatsächlich verortbare Wahrnehmungspunkt – das eigene Geräusch, die eigene Stimme – genommen. Er wird der Möglichkeit zur Positionierung und Perspektivierung in diesem flüchtigen und dynamischen Umfeld beraubt. So birgt die Installation in ihrer Soundscape mehrere divergente und an sich unvereinbare Schichten, deren heterotopische Anordnung das Subjekt merklich herausfordert. Der Blick des Rezipienten fällt nicht zuletzt deswegen immer wieder auf die verschiedenen Elemente des Ausstellungsraumes, weil sie ihm durch ihre klare Verortbarkeit Sicherheit bieten. In der Suche nach dem entscheidenden Moment, dem richtigen Bildschirm, verbürgen die Augen die Position des Subjekts. Die Ohren hingegen folgen, durch klangliche Stimulanzien verlockt, dem imaginären Setting und dynamisieren das Subjekt. Der fremde Atem schließlich verschleiert die Selbstwahrnehmung, überlagert und maskiert die Position des Subjekts und setzt es aufs/ins Spiel. Von diesem Punkt aus, an welchem das Subjekt durch den Entzug des akustischen Spiegels (oder allgemeiner gesprochen: durch den Entzug seiner Position) in Frage gestellt wird und sich um eine andere, neue Ordnung seiner selbst bemühen muss, wäre nicht nur das Dispositiv des Gehörs zu analysieren, son-
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dern auch Foucaults Modell der Heterotopie und seine audio-visuellen Paradoxien und Kontradiktionen erneut zu befragen.
L ITERATUR Alberti, Leon Battista, Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann/Sandra Gianfreda, Darmstadt: WBG 2011. Bergson, Henri, Zeit und Freiheit, Hamburg: EVA 1994. Damisch, Hubert, Der Ursprung der Perspektive, Zürich/Berlin: Diaphanes 2010. Espinet, David, Phänomenologie des Hörens. Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger, Tübingen: Mohr Siebeck 2009. Féral, Josette, »Theatricality. The Specifity of Theatrical Language«, in: SubStance 31, 2/3 (2002), S. 94-108. Finter, Helga, »Audiovision. Zur Dioptrik von Text, Bühne und Zuschauer«, in: Erika Fischer-Lichte/Wolfgang Greisenegger/Hans-Thies Lehmann (Hg.), Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen: Gunter Narr 1994, S. 183192. Foucault, Michel, »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck/Peter Gente/Heidi Paris/Stefan Richter (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1990, S. 34-46. Goebbels, Heiner, Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater, Berlin: Theater der Zeit 2012. Haß, Ulrike, Das Drama des Sehens, München: Fink 2005. Lacan, Jacques, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, Olten: Walter-Verlag 1978. Lübbe, Hermann, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin/New York: Springer 1992. Magee, Brian/Milligan, Martin (Hg.), On blindness, Oxford: University Press 1995. Plessner, Helmuth, »Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes«, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. v. Günther Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Schafer, R. Murray, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, hg. v. Sabine Breitsameter, Mainz: Schott Music 2010. Schmicking, Daniel, Hören und Klang. Empirisch-phänomenologische Untersuchungen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003.
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Silverman, Kaja, The acoustic mirror. The female voice in Psychoanalysis and cinema, Bloomington: Indiana University Press 1988. Wagner, Richard, Oper und Drama, hg. v. Klaus Kropfinger, Stuttgart: Reclam 2008. Waldenfels, Bernhard, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.
A BBILDUNGEN Abbildung 1: Heiner Goebbels, Europeras 1, Ruhrtriennale 2012, © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale. Abbildung 2: Douglas Gordon & Philippe Parreno, Zidane: A 21st Century Portrait, MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M. 2006, © Douglas Gordon & Philippe Parreno.
Zwischen Gut und Böse Hörszenen der Gegenwartskunst D ORIS K OLESCH
In der Mitte eines weitgehend abgedunkelten Galerieraumes steht ein grober, massiver Holztisch. Er wird von einem Scheinwerfer angestrahlt wie ein Schauspieler auf der Bühne. Der Tisch weist zahlreiche Gebrauchsspuren auf, er ist zerkratzt und zerfurcht, überall mit kleinen weißen Farbflecken übersäht. Unter der Tischplatte sind einige Drähte zu erkennen, die mit Lautsprechern verbunden sind, welche an allen vier Wänden des Ausstellungsraumes hängen. Die raue Materialität der Tischoberfläche provoziert den Impuls, diese zu berühren.
Abbildung 1: Janet Cardiff, To Touch (1993), Detailansicht
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So lässt sich das Setting von Janet Cardiffs Installation mit dem sprechenden Titel To Touch beschreiben. Sowohl der Name als auch das gesamte Arrangement fordern eine Grundvoraussetzung Bildender Kunst heraus, nämlich das Verbot, die ausgestellten Objekte zu berühren. »Please don’t touch — Prier de ne pas toucher — Si prega di non toccare« – Besucher von Museen, Ausstellungsräumen und Galerien treffen in der ganzen Welt auf diese freundlich-bestimmten Verbotsschilder. Der Kontakt mit Kunst soll auf den Augenkontakt beschränkt bleiben. Sinnliches Begreifen und tastendes, spürendes Erfahren ästhetischer Phänomene, also Aisthesis im etymologischen Sinn des Wortes, sind aus der etablierten Rezeptionshaltung weitgehend verbannt. Wer die Berührung dennoch wagt, löst die Alarmanlage aus, erntet Ermahnungen der Saalaufsicht, böse und verständnislose Blicke anderer Besucher und sieht sich schlimmstenfalls in die Nähe mutwilliger Kunstzerstörer oder krimineller Kunstdiebe gerückt. Ganz anders jedoch die Situation bei Cardiffs To Touch: Hier musste und sollte eine Grenze überschritten, eine durch Sozialisation und (Kunst-)Erziehung inkorporierte Hemmung überwunden werden. Im gedimmten Licht des Ausstellungsraumes wartete der Tisch geradezu darauf, berührt zu werden, und auch der Titel des Kunstwerks forderte dessen Berührung ein. Wir scheinen es hier also mit einer intermedialen, eventuell auch interdiskursiven künstlerischen Reflexion zu tun zu haben.
Abbildung 2: Janet Cardiff, To Touch (1993)
Der Kunstwissenschaftler Philip Ursprung beschreibt seine Rezeptionserfahrung von To Touch wie folgt:
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»Als ich den Tisch berührte, reagierte er. Eine angenehm klingende weibliche Stimme sagte leise, fast im Flüsterton: ›I want you to touch me.‹ Andere Besucher näherten sich neugierig, und wir tasteten halb amüsiert, halb verlegen, die Oberfläche des Tisches ab, die Tischplatte, die Beine, die Unterseite. Der Tisch gab unterschiedliche Antworten, je nach der Stelle, an der man ihn streichelte, etwa ›Hang onto my wrist‹, oder, von einer männlichen Stimme gesprochen: ›Your skin is so soft‹ und: ›I can feel your pulse and sweat and the lines from your scars.‹« (Ursprung 2009: 68)
Janet Cardiffs sprechender Tisch entfaltet ein Zusammenspiel zwischen Tasten und Hören, zwischen Haptischem und Akustischem, ohne dabei das Sehen zu ignorieren. Über unsichtbar in die Ritzen des Tisches eingebaute Fotosensoren reagierte dieser auf die Berührungen durch die Besucher mit einem Gewirr aus Stimmen, Geräuschen und musikalischen Klängen. Die konkrete Berührung mit den Fingerspitzen oder den Händen markierte dabei den Einsatz der Rezipienten, die gleichsam zu Komponisten oder Arrangeuren ihres eigenen Hörstückes wurden. Dies geschah allerdings auf der Grundlage einer für sie nicht durchschaubaren medialen Apparatur und auf einer Auswahl von Ton- und Klangelementen, die eine andere, nämlich die Künstlerin, schon vorab für sie getroffen hatte. Zugleich aber infizierte die körperliche Berührung auch das Sehen und Hören: Es entwickelte sich etwas, das man als ein tastendes, haptisches Sehen ebenso bezeichnen könnte wie als haptisches Hören, ein Hören mit den Fingerspitzen (vgl. hierzu auch Schrödl 2004: 156-159; 2012: 232-236). Die einzelnen Sinne und Sinnesorgane wurden durch die Anlage der Installation gerade nicht voneinander differenziert und in funktionale Zuständigkeiten dividiert, sondern in ihrem Zusammenspiel, ihrer synästhetischen Verwebung angesprochen und aktiviert. Der helle Tisch im undurchdringlichen Dunkel blieb kein bloß visuelles Phänomen, sondern erwies sich als plastische Erfahrung im Raum, als reizvoller Gegenstand einer spielerischen taktilen Erkundung. Während die Hand das raue Holz der Tischoberfläche berührte, tastete sich der Blick innerhalb der undeutlichen Lichtverhältnisse vorwärts, blieb gleichsam an jeder Kerbe, jeder Faser des Holzes, jeder Unebenheit und jedem Farbfleck hängen. In vergleichbarer Weise vollzog sich das Hören nicht einfach als kognitive Tätigkeit des Entzifferns, Identifizierens und Zuordnens unterschiedlicher Stimmen, Klänge und Geräusche, nicht einfach als Verstehen einzelner Bedeutungsdimensionen des Gesagten. Es ertastete vielmehr einen dichten Klangraum, der in seiner Plastizität geradezu körperlich greifbar wurde. So war in diesem Hörraum deutlich zu unterscheiden, ob die flüsternde Frauenstimme mal von hinten links aus der Ecke kam, oder ob sie sich, an anderer Stelle, mit weiteren Stimmen, Geräuschen und musikalischen Tonfolgen zu einem komplexen Klangteppich verwob. Einige
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dieser Hörereignisse erweckten den Eindruck einer filigranen und solitären Klangskulptur, andere wiederum wären vielleicht präziser als vielschichtige Klanglandschaften zu beschreiben. Angestoßen durch die zu hörenden Stimmen und durch die beschriebenen synästhetischen Wahrnehmungsprozesse, verwob sich der reale, körperlichsinnlich wahrgenommene Raum der Ausstellung, in dem die Besucherin sich mit einem alten, schmutzigen Tisch konfrontiert fand, mit fiktiven und imaginären Räumen, welche die Rezipientin dank der Stimm- und Geräuschfetzen assoziierte. To Touch konnte mithin eine so faszinierende wie befremdliche Erfahrung auslösen. Die Berührung eines leblosen Objektes, eines unscheinbaren Arbeitstisches, wie er in jedem Maleratelier stehen könnte, erzeugte eine Resonanz, welche die Berührenden ihrerseits in nicht nur psychischer, sondern durchaus auch physischer Weise zu berühren vermochte. Dieser zwischen Erotik und Unheimlichkeit changierende Dialog war insbesondere den Stimmen, Geräuschen und Klängen geschuldet wie auch der spezifischen Situation, in der sie vernehmbar waren. Denn sowohl die Stimmen als auch die von ihnen verlautbarten fragmentarischen Geschichten bewegten sich beständig an der Grenze zwischen Intimität und Öffentlichkeit, zwischen Geheimnis und Transparenz. Was der Beginn eines vertrauten Gesprächs unter Liebenden oder auch der Anfang einer Telefonsexsitzung hätte sein können, füllte unvermittelt den Ausstellungsraum. Leise und flüsternd, aber doch so, dass es alle Anwesenden hören konnten. Die Besucher der Installation wurden zu Mitspielern dieser ludischen Grenzüberschreitungen, sie bewegten sich gemeinsam in einem Zwischenraum, ertappten sich selbst beim Lauschen und Phantasieren, sie exponierten sich und beobachteten zugleich die Exponiertheit der anderen. Immer wieder löste sich die knisternde Spannung in befreiendem Gelächter. Hier bestand nicht die Gefahr, zum Voyeur zu werden, denn es gab keine Körper, die unbeobachtet hätten beobachtet werden können. Und die Abenteuer oder Affären, welche die Besucher von To Touch imaginieren und mit-hören konnten, waren die Abenteuer ihrer eigenen Wunschwelt, angestoßen durch Fragmente von Filmdialogen und diversen anderen Tonaufnahmen. Gerade die Flüchtigkeit, die Kontingenz und Fragmentarität dieser durch die Berührung des Tisches ausgelösten Einspielungen verhinderte, dass die Situation peinliche oder gar entblößende Züge annahm1.
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Der Korrektheit halber sei angemerkt, dass die Rezeptionserfahrung der erotisch aufgeladenen, heiter-unverfänglichen Spannung, die ich anlässlich von Janet Cardiffs To Touch erleben konnte, bei einem anderen Besuch des gleichen Tisches an einem anderen Tag eher der unheimlichen Spannung eines Thrillers oder einer Kriminalgeschich-
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Hier wurde man angesprochen, berührt durch intim flüsternde Stimmen, die jedoch niemals aufdringlich wurden und die sich auch niemals nur an eine Person im Raum adressierten. Und selbst wenn man, nach langem Ausprobieren, Hinhören und Wiederhören realisierte, dass die weibliche und männliche Stimme wohl einem Filmdialog der 1950er oder 1960er Jahre entsprungen waren, änderte dies wenig daran, dass die Installation ein spezifisches Potenzial von Stimmen gleichsam herauspräparierte: nämlich ihre Appellstruktur, ihre Fähigkeit Intersubjektivität zu stiften sowie ihre affektive Dimension. Die Stimme – und zwar selbst die aufgenommene, reproduzierte und mediatisierte Stimme – zeichnet sich durch einen spezifischen Appellcharakter aus. Sie richtet sich immer schon an eine oder einen anderen, sie will gehört und beantwortet werden – ob mit Worten oder mit Taten. Der Schrei des Neugeborenen zeigt nicht nur neues menschliches Leben an, er vergegenwärtigt zugleich, dass dieses Leben eingebunden ist in eine intersubjektive Beziehungsstruktur. Höre mich, höre mir zu, heißt hier – noch bevor wir diesem Schrei Bedeutung im semantischen Sinne zuschreiben können: kümmere dich um mich, berühre mich, wisse, dass ich existiere (vgl. Barthes 1990: 255). Eine solche Achtsamkeit auf die Interdependenz von Stimmproduktion und Stimmwahrnehmung weist all jene Denkströmungen als defizitär aus, die den Menschen als monadisches Einzelwesen konzipieren und ihn erst in einem zweiten Schritt in Abhängigkeit, Interaktion und Kommunikation mit anderen treten lassen. Wer sich auf Phänomene des Stimme-Erhebens und Zuhörens einlässt, der hat immer schon mit mindestens zwei Menschen zu tun. Hier tritt der Mensch nicht als autonomer Einzelner auf, sondern als immer schon Antwortender, der abhängig ist von der Begleitung, dem Kontakt und Austausch mit anderen, angefangen bei der Mutter-Kind-Beziehung. Hier geht es um Phänomene der Resonanz, bevor überhaupt räsoniert, bevor Bedeutung produziert und zugeschrieben werden kann. Wer seine Stimme erhebt, verwandelt den anderen in einen Zeugen seiner Selbstsetzung und nimmt, ob er will oder nicht, eine Position im Raum sozialer Interaktion ein. Entsprechend ist im Hören der oder die Hörende immer affektiv involviert. Nicht nur schließen wir anhand einer Stimme schneller auf die jeweilige Ge-
te gewichen war. Andere Personen hatten in anderer Weise und wohl auch an anderen Stellen den Tisch berührt, so dass nunmehr weniger das verliebte Duett einer weiblichen und einer männlichen Stimme im Vordergrund meiner Wahrnehmung stand, sondern eine dichte Collage aus Telefon- und Alarmklingeln, quietschenden Autoreifen und gehetzten Atemgeräuschen. Die auch nur annähernde Wiederholung der einmal gemachten Rezeptionserfahrung war bei To Touch gänzlich ausgeschlossen.
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stimmtheit der Sprecherin oder des Sprechers als auf ihr oder sein Geschlecht, eine nicht nur gendertheoretisch durchaus brisante empirische Einsicht. Die Wahrnehmung einer Stimme ist auch seitens des Wahrnehmenden immer mit affektiven Bewertungen verbunden, mit Empfindungen der Zu- oder Abneigung, des Angenehmen oder Unangenehmen. Diese drei wesentlichen Eigenschaften vokaler Kommunikation – Appellstruktur, Stiftung von Intersubjektivität und Affektivität – setzt To Touch in einer durchdachten medialen Apparatur in Szene. Dabei ist, und dies ist für meine Argumentation entscheidend, die titelgebende Berührung sowohl im Englischen als auch im Deutschen eher positiv konnotiert. Dies gilt zumindest für die moderne Begriffsgeschichte seit etwa 1800, wo sich das Berühren in der Epoche der Empfindsamkeit und der bürgerlichen Liebe an die Stelle des räuberischen männlichen Griffs nach dem Sexualobjekt setzt. Mythische Raptus-Figuren begründeten eine räuberische, gewaltsame Tradition von Berührung, die von der Antike bis ins 17. Jahrhundert, bis in die Herrscherikonographie hinein, dominant war, allerdings um 1800 abgelöst wurde. Berühren ist in diesem modernen Kontext weder Stoßen, Zupacken oder ErGreifen noch zeigendes Hindeuten. Zwischen Ergreifen und Zeigen, zwischen Vergewisserung und Orientierung markiert die Berührung zugleich einen Abstand und seine Überwindung, eine Grenze und ihre Aufhebung. Die körperliche Berührung stellt einen Kontakt, einen Austausch dar zwischen zwei voneinander unterscheidbaren Körpern oder auch Körperteilen. Das Versehentliche und Unvermutete ist ebenso mit ihr assoziiert wie das Punktuelle, Flüchtige, Vorübergehende (vgl. hierzu auch Kolesch 2010). Auch wenn man sich mit Nasenspitzen, Ellbogen, Zehen und zahlreichen anderen Körperpartien berühren kann, gehört die Berührung vor allem zu den Gesten der Hand, die in dreierlei Hinsicht differenziert werden können: Die Hand ist erstens offen für die Welt und angewiesen auf sie; sie vermittelt zweitens zwischen dem Körper, dessen Teil sie ist, und den Lebewesen wie Dingen der Umwelt; drittens schließlich ist die Hand selbstbezogen und agiert in Koordination von rechter und linker Hand. Vor diesem Hintergrund gilt evolutionsgeschichtlich das Freiwerden der Hände und des Mundes durch den aufrechten Gang als wesentliches Moment menschlicher Entwicklung (vgl. Leroi-Gourhan 1987). Man kann meines Erachtens noch weiter gehen und argumentieren, dass selbst die abstraktesten menschlichen Vorstellungen und Ideale in und mit konkreten körperlichen Praxen beginnen, mit dem Ergreifen von Dingen, die man dann nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinne im Griff hat, mit der Fähigkeit des Loslassens, das gleichermaßen eine konkrete und eine übertragene, auch ethische Dimension besitzt, oder mit der Koordination von rechter und lin-
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ker Hand, die vielleicht eine entscheidende Grundlage von sozialer Kooperation darstellt (vgl. hierzu auch Sennett 2008)2. To Touch also forderte konkrete Berührungen ein, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um einen anderen, einen übertragenen Kontakt, eine mittelbare Berührung durch die intim flüsternden Stimmen ins Werk zu setzen. Kaum verwunderlich also, dass ich von To Touch bislang gesprochen habe, als sei es eine harmlos-glückliche Verwirklichung einer besseren Welt, eine Art künstlerisches Korrektiv unserer realen Lebenswelt, orientiert am Leitfaden hörenden VerAntwortens und polyphon-respektvoller Interaktion. Diese positive Bewertung ist wohl kein Zufall, sondern durchaus auch dem in den letzten Jahren erstarkten Diskurs über die Stimme geschuldet. Nach längerer Zeit nur marginaler Beachtung rückte die Stimme zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit auch der Geistes-, Kultur- und Kunstwissenschaften. Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler und Medientheoretiker John Durham Peters bringt diesen Haltungswandel prägnant auf den Punkt: »The humanities are, at their core, voice arts« (2004: 85). Dabei dominiert in der regen Diskussion über Stimme, so ist zumindest mein Eindruck, bis auf wenige Ausnahmen eine grundsätzliche Affirmation stimmlicher wie auditiver Phänomene, häufig gerade in Absetzung und Abgrenzung von Momenten und Strukturen des Visuellen. Zwar gehört es in vielen Publikationen gleichsam zum guten Ton, auch den Zusammenhang von Stimme und Gewalt, von Hören und Hörigkeit zumindest kurz anzureißen und das weite Feld der Politik der Stimme anzusprechen. Doch Veröffentlichungen, welche die Relation von Stimme, Akustik und Gewalt ins Zentrum ihrer Reflektion stellen, sind in der durchaus vielfältigen und umfangreichen Beschäftigung mit Stimme in den letzten beiden Jahrzehnten noch immer rar oder sie fokussieren Gegenstände, die in diesem Zusammenhang notorisch sind, wie den Nationalsozialismus oder die Funktion der Stimme in den monotheistischen Religionen. Nachdem Derridas Phonologozentrismusvorwurf, der für eine nachhaltige Marginalisierung der Beschäftigung mit der Stimme im kulturkritischen Diskurs gesorgt hatte, seinerseits der Kritik und zumindest partiellen Revision unterzogen wurde, ist vielerorten ein positives und affirmatives Nachdenken wie Schreiben über die Stimme zu verzeichnen. Selbstkritisch kann ich diesbezüglich auch meine eigene Beschäftigung mit der Stimme situieren. Als Theater- und
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Ich möchte an dieser Stelle zumindest anmerken, dass die Multifunktionalität der Stimmorgane, die dazu führt, dass wesentliche Stimmorgane auch zum Essen wie zum Küssen dienen, unter dem Aspekt der Haptik der Stimme noch gesondert und ausführlich untersucht werden müsste.
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Kulturwissenschaftlerin interessiert mich die Stimme als performatives Phänomen ebenso wie ihre flüchtige Materialität und ihr Ereignis- und Schwellencharakter. Darüber hinaus ist im Kontext theatraler Situationen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kunst die spezifische soziale Zwischenräumlichkeit relevant, die durch das Einsetzen und Hören einer Stimme entsteht. Noch vor jeder inhaltlich zu bestimmenden Ethik oder Moral etabliert die Stimme aufgrund ihrer Eigenschaft als Anspruch, Appell und Gabe jenseits von mitteilungsbezogener Kommunikation eine Verbindung zwischen Menschen, die mit Begriffen wie Zeugenschaft, VerAntwortung und Responsivität genauer gefasst werden kann. Ich möchte diese Zuschreibungen hier weder revidieren noch in Zweifel ziehen, denke aber gleichwohl, dass es dringend nötig ist, dieses doch recht einseitig positive Konzept von Stimme – das ich hier natürlich grob vereinfachend überzeichnet habe – zu erweitern und zu ergänzen. So notwendig und überzeugend mir nach wie vor Versuche erscheinen, am Leitfaden der Stimme, die meines Erachtens immer als gehörte Stimme aufzufassen ist, eine andere Form von Sozialität und Interaktion ebenso wie eine andere als die bislang etablierte, dominant visuelle Epistemologie und Ontologie zu entwickeln, so unerlässlich scheint mir zunehmend die Erkundung der anderen, gleichsam negativen, dunklen und gewalttätigen Seite der in Rede stehenden Phänomene. Als ersten Schritt in Richtung dieser Hinwendung zur – salopp formuliert – bösen, schmutzigen, übergriffigen Stimme sei hier an eine andere einflussreiche Hörszene der modernen Kunst erinnert, die durchaus in Zusammenhang, wenn auch nicht in direktem Kontakt zu Janet Cardiffs To Touch steht. Es handelt sich um Vito Acconcis Performance Seedbed, welche er in der Sonnabend Gallery in New York im Januar 1972 an mehreren Tagen über jeweils acht Stunden vollzog. Für diese Performance hatte Vito Acconci eine schräg zulaufende Holzrampe in den ansonsten kahlen Galerieraum eingebaut, die den gesamten Boden der Galerie bedeckte. Er selbst, das war per Hinweisschild zu erfahren, lag unter der Holzrampe und onanierte, während die Galeriebesucher auf der schiefen Ebene über ihm hin und her liefen. Er verteilte, wie er selbst sagte, seinen Samen als Reaktion auf die Bewegungen der Besucher, auf ihre Schritte, ihr Gehen oder Stehenbleiben auf dem schiefen Holzboden über ihm. Die Beschreibung der Performance durch den Künstler liest sich wie folgt: »Under the ramp, I’m lying down, I’m crawling under the floor over which viewers are walking. I hear their footsteps on top of me … I’m building up sexual fantasies on their footsteps. I’m masturbating from morning to night …« (Ward/Taylor/Bloomer 2002: 96)
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Abbildung 3: Vito Acconci, Seedbed (1972)
So befremdlich das vielleicht für diejenigen Leserinnen und Leser klingen mag, die sich nicht oder nur peripher mit Performance-Kunst beschäftigen, so ist doch nachdrücklich zu betonen, dass Acconcis Seedbed zu recht als eine der wichtigsten Performances der 1970er Jahre, ja der noch jungen Tradition der Performance Kunst überhaupt gilt. Eine Einschätzung, die nicht zuletzt durch den Umstand bestätigt wird, dass die große Performance-Künstlerin Marina Abramovic in ihren Seven Easy Pieces, einer Art Re-enactment maßgeblicher Arbeiten der Performance-Kunst der 1960er bis 1980er Jahre, welche im November 2005 im New Yorker Guggenheim Museum stattfand, auch Acconcis Seedbed wiederaufführte. Wie in Janet Cardiffs To Touch wurden auch in Vito Acconcis Seedbed Grenzen überschritten, mussten Hemmnisse überwunden werden. Und wie bei Cardiff, doch in gänzlich anderer Weise und Ausprägung, kreiste auch Acconcis Performance um den Zusammenhang von Stimme und Berührung, um den kaum verortbaren Zwischenraum und Übergang von direkter und indirekter Berührung. In einem halböffentlichen Raum, einer Galerie, masturbierte ein Künstler, allerdings unsichtbar unter einer Rampe versteckt. Mussten bei Cardiff zunächst die Besucher aktiv werden und das Berührungsverbot überwinden, legte Acconci selbst Hand an sich. Die Besucher der Sonnabend Galerie wurden, ob sie wollten oder nicht, zu Komplizen in diesem Arrangement. Dabei waren sie – durchaus vergleichbar der Situation in To Touch – ihrer gewohnten und angestammten Position beraubt: In diesem Raum der Bildenden Kunst gab es nichts zu sehen, herkömmliche Erwartungen wurden enttäuscht. Nicht einmal die Position des Voyeurs, des Betrachters heimlicher Szenen blieb den Besuchern.
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Abbildung 4: Vito Acconci, Seedbed (1972)
Acconcis Stimme, sein Atmen und Stöhnen ebenso wie seine erotischen Phantasien wurden von einem in der Ecke platzierten Lautsprecher in den Galerieraum übertragen: Die Besucher hörten die mikrophonierte Stimme des Künstlers, die beispielsweise sagte: »You’re on my left […] you’re moving away but I’m pushing my body against you, into the corner […] you’re bending your head down over me […] I’m pressing my eyes into your hair« (Linker 1994: 44). Was bei Cardiff flüchtige Phantasie im Kopf einzelner Galeriebesucher hätte sein können, wird hier von einer konkret erklingenden männlichen Stimme ausgemalt. Die Intimität von Acconcis Stimme und des von ihm Gesagten scheint durchaus vergleichbar dem intimen Flüstern in Cardiffs To Touch. Gleichwohl möchte ich behaupten, dass hier eine gegenläufige Situation vorliegt, indem gerade kein Spielraum erzeugt wird, sondern ein Machtraum der Stimme entfaltet wird, ohne dass diese klassische Attribute stimmlicher Macht und Gewalt wie Befehlston, Lautstärke etc. annehmen müsste. In der Kunstzeitschrift Avalanche publizierte Acconci seine Notizen zu Seedbed unter dem Titel »Power Field – Exchange Points – Transformations« (1972: 62-63). Mich interessiert hier vor allem der Begriff des Power Field, da er deutlich benennt, wo sich die so unterschiedlichen, in vielen Punkten aber durchaus überschneidenden Arbeiten von Janet Cardiff und Vito Acconci diametral entgegenstehen. Acconci war, im Gegensatz zu Cardiff, als Künstler und Autor anwesend, der großzügige Umgang mit seinem Sperma kann nicht zuletzt als Verkörperung traditioneller Konzepte von Autor- und Künstlerschaft interpretiert werden. Gleichwohl war Acconci für die Galeriebesucher nur in seiner Stimme und als Stimme präsent, eine unheimliche, akusmatische Stimme, die
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sich, wie die Stimme eines Untoten, nicht vom Werk trennen konnte. Unsichtbar unter der Holzrampe und ohne direkte, physische Einflussmöglichkeit, übte Acconci gleichwohl massiv Kontrolle aus, bedrängte, ja verfolgte er die Besucher mit seiner Stimme, wurde die Stimme hier Medium eines Übergriffs, war sie Medium und Verkörperung eines Macht- und Einflussfeldes, dem die Besucher unterworfen waren. An dieser Stelle sei anmerkt, dass ich Acconcis Seedbed nicht aus eigener Erfahrung und Anschauung kenne – im Gegensatz zu Cardiffs To Touch. Mein kindliches Alter im Jahre 1972 hätte wohl, wäre mir ein Besuch der Sonnabend Galerie damals möglich gewesen, einen Eintritt nicht ratsam erscheinen lassen. Meine Überlegungen zu Seedbed stützen sich auf Beschreibungen und Aussagen von Acconci selbst, auf Notate und Skizzen anwesender Besucher, aber auch auf Deskriptionen, Deutungen und Reflexionen von Kunstkritikern und Kunstwissenschaftlern, die sich mit Acconci und seinem Werk beschäftigt haben. Neben schriftlichem und gezeichnetem Material existieren einige wenige SchwarzWeiß-Fotografien sowie ein etwa zehnminütiger, recht verwackelter und unscharfer Videofilm, der auf youtube betrachtet werden kann und der undeutlich den unter dem Holzgestell masturbierenden Acconci zeigt, also eine Perspektive einnimmt, die keinem Galeriebesucher zur Verfügung stand. In fast allen Publikationen zu Seedbed sind nur jene zwei Fotografien zu sehen, die auch in vorliegendem Beitrag abgedruckt wurden. Insbesondere das Foto der einzelnen, einsam und verloren wirkenden Frau im bis auf den Lautsprecher kahlen Galerieraum ist für Seedbed geradezu kanonisch geworden. Ich betone dies, weil es für den sowohl für Seedbed als auch To touch relevanten Zusammenhang von Stimme, Berührung und Imagination von Bedeutung ist. Aufgrund der komplexen Relation von Flüchtigkeit, Rezeption und Dokumentation gilt für die Performance-Kunst etwas, was für andere Kunstgattungen so nicht gilt: In ihr wird die kategoriale Scheidung von primärem Ereignis oder gar Werk einerseits und sekundärer Dokumentation andererseits hinfällig, weil aufgrund der spezifischen Produktions- wie Rezeptionskontexte dieser Kunst Fotografien, Videos, Notate und Skizzen meines Erachtens gleichwertig und gleichrangig neben den Performances im eigentlichen Sinne die Ereignisgeschichte der Performance-Kunst ausmachen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht mir hier nicht um die abwegige Behauptung, es gäbe keinen Unterschied zwischen einer Performance und einer Fotografie dieser Performance. Doch ich möchte insistieren, dass das Betrachten beispielsweise eines Fotos einer Performance eine mindestens ebenso intensive, nachhaltige und die Rezeptionsgeschichte entscheidend prägende Erfahrung sein kann – sein kann! –, wie das leiblich ko-präsente Erleben einer Per-
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formance im Hier und Jetzt ihres Vollzugs. Anders formuliert: Gerade mit Blick auf die Performance-Kunst scheint mir Skepsis gegen die in der Theaterwissenschaft bisweilen noch immer gerne mythisch verklärte theatrale Urszene leiblicher Ko-Präsenz geboten. Dieser etwas längliche Exkurs zu Fragen der medialen Präsentation wie Repräsentation von Performances war nötig, um vor diesem Hintergrund daran zu erinnern, dass das Schwarz-Weiß-Foto der einzelnen Frau im fast leeren Galerieraum geradezu ikonographisch Assoziationen und Vorstellungen aufruft, welche die Rezeption und Wahrnehmung von Seedbed von 1972 an bis heute maßgeblich geprägt haben. Die ikonographische Festschreibung dieser Performance auf jenes eine Foto geschah übrigens mit nachdrücklicher Unterstützung durch den Künstler selbst, der wohl das Potential dieses Bildes als Leerstelle und Einschreibefläche sozial zirkulierenden Begehrens intuitiv erkannt hatte. Und auch meine hier vorgestellte Lesart von Seedbed als Inszenierung der übergriffigen, gewaltsamen Stimme wird durch das scheinbar stumme Foto in seiner Fixierung einer singulären Position der Ausgesetztheit und in seiner Visualisierung einer genderspezifischen Asymmetrie gestützt. So sehr mir also dieses Foto für meine Argumentation zupass kommt, sei hier doch der Einwand ausdrücklich formuliert, dass dieses Bild nur eine mögliche Rezeptionssituation von vielen zeigt: Wie würden wir den von Acconci ausgespielten Machtraum der Stimme nicht zuletzt in seiner sexualisierten und geschlechtsspezifischen Dimension konzeptualisieren, wenn wir Bilder hätten, die beispielsweise einen Mann im Raum der Galerie zeigten, oder gar eine Gruppe von Besuchern, die sich vielleicht als Gruppe solidarisieren und beim Begehen und Anhören von Seedbed Zeichen des Amüsements zeigen könnten? Sowohl in To Touch als auch in Seedbed kamen mikrophonierte, technisch aufgenommene und reproduzierte Stimmen zu Gehör. Dieser Umstand jedoch scheint der Erzeugung einer dichten Atmosphäre intensiver oder auch peinlicher Intimität, scheint dem Appellcharakter der Stimmen und der affektiven Involvierung der Zuhörer nicht abträglich, im Gegenteil: Die geschärfte, gleichsam heraus- und auf die Spitze getriebene Körperlichkeit des mikrophonierten Flüsterns fungiert als eine Art akustische Großaufnahme3, die paradoxerweise in Situationen realer körperlicher Distanz und Entfernung eine Wirkung äußerster, geradezu unerträglicher Nähe zu vermitteln vermag. Während die Einflüsterungen von Cardiffs altem Holztisch auf spielerische Weise unsere Erfahrungen wie Vorstellungen von Vertrautheit, Kontakt, Nähe und zwischenmenschlichem Austausch durcheinander brachten, realisierten sich
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Zur akustischen Großaufnahme vgl. Pinto (2012: 46-51).
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die Einflüsterungen in Acconcis Seedbed als Manipulationen im konkreten wie übertragenen Sinne, als Machtausübung und nicht-physischer Übergriff. Welche Schlussfolgerungen könnten nun aus der skizzierten Beschäftigung mit Seedbed und To Touch für die Konzeptualisierung von Stimme und vokaler Kommunikation gewonnen werden? Zunächst wäre nachdrücklich festzuhalten, dass ein kritischer und reflektierter Begriff von Stimme und stimmlicher Performativität nicht nur deren potenziell positive Effekte (wie Appell, Anspruch, Gabe) berücksichtigen darf, sondern auch die möglicherweise negativen, prekären und bisweilen gewaltsamen Dimensionen der Macht wie Ohnmacht der Sprechenden ebenso wie der Hörenden thematisieren muss. Dies scheint mir angesichts aktueller Entwicklungen der Gegenwartskultur umso dringlicher. Vielerorten nämlich ist zu verzeichnen, dass stimmliche und auditive Verfahren, welche lange Zeit vornehmlich in künstlerischen und ästhetischen Kontexten situiert waren und dort durchaus in irritierender und subversiver Weise eingesetzt wurden, um automatisierte, alltägliche Erfahrungen wie Vorstellungen performativ zu durchbrechen und die Zeiträume des Alltags mit Spuren der Vergangenheit, des Tabuisierten, Mysteriös-Imaginären oder Ausgegrenzten anzureichern, nunmehr zunehmend den Rahmen der Kunst verlassen und in Werbung, Ökonomie und gesellschaftlich-kulturellen Dispositiven der Disziplinierung fröhliche Urstände feiern. So werden Inszenierungen stimmlicher Ansprache, ja Einschmeichelung ebenso wie auditiver Aufmerksamkeit genutzt, um – beispielsweise in Form von Audio-Briefings – Mitarbeiter, Kunden, Nutzer oder ganz allgemein Bürgerinnen und Bürger auf jeweilige Strategien, Ziele und die sogenannte Corporate Identity einer Firma, einer Partei, eines Wirtschaftskonzerns oder einer Institution einzuschwören. Und auch im Bereich der Kunst kehren in durchaus problematischer Form stimmliche Einflüsterungen wie ein fataler Bumerang wieder: Wir alle haben uns inzwischen an die in Museen und Ausstellungen weit verbreiteten Audioguides gewöhnt. Diese nutzen in häufig didaktischer, durchaus gut gemeinter Weise das performative Vermögen einer Stimme, um Informationen, Erklärungen und Deutungen der in Rede stehenden Exponate zu verlautbaren. Im Zeitalter der Hinterfragung etablierter ästhetischer Begrifflichkeiten und der Skepsis gegenüber einem festen künstlerischen Kanon werden damit paradoxerweise neue, sich hörend einschmeichelnde Formen der Kanonisierung und der autoritativen Wahrnehmungslenkung wie auch Bewertung institutionalisiert. Eine vergleichbare Situation ist für den Bereich der Werbung und den boomenden Markt der Hörbücher zu konstatieren: Hier werden vorzugsweise Schauspielerstimmen mit ihrem spezifischen Timbre, ihrem Charisma, ihrer Geschmeidigkeit und geschulten Virtuosität eingesetzt,
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um die Bekanntheit dieser Stimmen und die mit ihnen assoziierten Stimmbilder auf ökonomisch möglichst profitable Weise nutzbar zu machen. Es gilt mithin, dem gutgläubigen Ohr nicht blindlings zu vertrauen und die akustische Ästhetisierung des Alltags immer auch als Anästhetisierung (vgl. Welsch 1990) zu denken, als intrikate Verschränkung von freier Berührung und erzwungenem Übergriff.
L ITERATUR Acconci, Vito, »Power Field – Exchange Points – Transformations«, in: Avalanche 6 (1972), S. 62-63. Barthes, Roland, »Zuhören«, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 249-263. Christov-Bakargiev, Carolyn, Janet Cardiff. A Survey of Works Including Collaborations with George Bures Miller, New York: P.S. 1 Contemporary Art Center 2001. Durham Peters, John, »The Voice and Modern Media«, in: Doris Kolesch/Jenny Schrödl (Hg.), Kunst-Stimmen, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 85-100. Kolesch, Doris, »Die Geste der Berührung«, in: Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.), Gesten. Inszenierung, Aufführung und Praxis, München: Wilhelm Fink 2010, S. 225-241. Kolesch, Doris/Krämer, Sybille (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Leroi-Gourhan, André, Hand und Wort. Die Evolution von Sprache, Technik und Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Linker, Kate, Vito Acconci, New York: Rizzoli 1994. Pinto, Vito, Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film, Bielefeld: transcript 2012. Schrödl, Jenny, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld: transcript 2012. Schrödl, Jenny, »Stimm(t)räume. Zu Audioinstallationen von Laurie Anderson und Janet Cardiff«, in: Doris Kolesch/Jenny Schrödl (Hg.), Kunst-Stimmen, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 143-160. Sennett, Richard, Handwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Ursprung, Philip, »Whispering Room. Janet Cardiffs erzählerische Räume«, in: Doris Kolesch/Vito Pinto/Jenny Schrödl (Hg.), Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven, Bielefeld: transcript 2009, S. 67-78.
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Ward, Frazer/Taylor, Mark C./Bloomer, Jennifer, Vito Acconci, London/New York: Phaidon 2002. Welsch, Wolfgang, Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 1990.
A BBILDUNGEN Abbildung 1: Janet Cardiff, To Touch (1993), Detailansicht, Courtesy Galerie Barbara Weiss, Berlin. Abbildung 2: Janet Cardiff, To Touch (1993), Courtesy Galerie Barbara Weiss, Berlin. Abbildung 3: Vito Acconci, Seedbed (1972), Katalog (Ward, Frazer/Taylor, Mark C./Bloomer, Jennifer, Vito Acconci, London/New York: Phaidon 2002), S. 96, © VG Bild-Kunst, Bonn 2013. Abbildung 4: Vito Acconci, Seedbed (1972), Katalog (Ward, Frazer/Taylor, Mark C./Bloomer, Jennifer, Vito Acconci, London/New York: Phaidon 2002), S. 97, © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.
»I’ve got the power« Zur Performativität von Sprache und Stimme in filmischer Beobachtung des Radios P ETRA M ARIA M EYER
Stimmen, die in der Isolation des Hörens auftreten, haben die ungeteilte Aufmerksamkeit des Hörers. Telefon und Radio erweisen sich insofern als besonders geeignete Medien zur Untersuchung von Stimmen, denn der Bildausfall unterstützt nicht nur die Konzentration, sondern erinnert auch an die Urszene des Hörens. Da ein Embryo bereits viereinhalb Monate nach der Empfängnis über einen Gehörsinn verfügt, vermag er schon im Mutterleib Stimmen zu hören. Das Innenohr ist das einzige Organ, das lange vor der Geburt seine endgültige Größe erreicht (vgl. Tomatis 1990; Berendt 1998: 69-90). Anthropologisch betrachtet geht die Stimme somit dem Sein des Menschen vorgeburtlich voraus. Was man noch nicht sehen kann, ist bereits zu hören. Das wird auch nachgeburtlich oft der Fall sein. Via Stimme erfolgt eine erste Anrufung, die den Menschen als Angesprochenen vorgängig konstituiert. Über das Hören von Stimmen bildet sich somit Zugehörigkeit bevor sich das Weltverhältnis über Sprache weiter ausbildet. Diese Überlegungen machen bereits deutlich, dass sich ein Subjekt nicht nur sprachlich konstituiert. Neben dem Blick ist es maßgeblich auch die Stimme, die diese Funktion hat (vgl. Lacan 1978). Macht der Blick aus dem Menschen ein angeschautes, so die Stimme aus ihm ein ge- und angerufenes Wesen. Medientheoretisch weiterdenkend lässt sich hinzufügen, dass durch den vorgeburtlichen Gründungsakt menschliches Sein sehr früh schon ein Sein im auditiven Medium ist, das Telefon und Radio medienspezifisch erfahrbar machen können. Mit Fokus auf intermediale Strategien zeigt sich gleichsam, dass fruchtbare Medienreflexionen häufig von anderen Medien aus erfolgen. Intermedialität ist Medienreflexion par excellence. In diesem Sinne vermag das Theater oder der Film Radio in einer Weise zu reflektieren, die Aufschluss auch über Performativität von
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Sprache und Stimme gibt. Die jeweilige Medienreflexion ist wiederum medienabhängig. Sie erfolgt im Theater entsprechend anders als im Film. Die Entscheidung, im vorliegenden Gedankengang Beobachtungen zweier Beispiele filmischer Beobachtung den Vorzug zu geben, ist dadurch begründet, dass ein Bildausfall stets zum signifikanten Bildentzug im audiovisuellen Medium Film wird, durch den sich gleichsam die Wirkungsmacht der auditiven Ebene sehr viel deutlicher als gewöhnlich zeigt. Die Wahl fiel auf zwei US-amerikanische Filme: Talk Radio (1988) und The Fisher King (1991)1. Diese Filme bieten einerseits interessante Beobachtungen von Radiotelephonie, andererseits erlauben sie, bezogen auf Performativität, politische und ethische Aspekte zu berücksichtigen, die meines Erachtens in der bisherigen Performativitätsdebatte zu kurz kamen.
U TOPIE
VON
R EDEFREIHEIT
UND IHRE
D EKONSTRUKTION
Kurze Überlegungen zum amerikanischen im Unterschied zum deutschen Radio seien vorangestellt. Während Radio in Deutschland als »Kulturinstrument« (Bredow) in Form der Einwegkommunikation beginnt, entwickelte sich das Radio in den USA insbesondere über Radiotelephonie zum vorrangig unterhaltenden Massenmedium. Das Verhältnis zwischen dem deutschen und dem USamerikanischen Rundfunk ist gut erforscht und so kann ich u.a. auf den Kollegen Wolfgang Hagen (vgl. 2005) verweisen und dieses Thema aussparen. Ein wichtiger Aspekt ist jedoch erwähnenswert. Anders als in Deutschland, wo das Radio 1923 nicht zuletzt auf kaiserlichen Wunsch Wilhelms des II. programmatisch als staatlich kontrolliertes Medium (im Berliner Vox-Haus) auf Sendung ging, tritt der sich parallel militärisch und privatwirtschaftlich entfaltende Radiobetrieb in den USA vermeintlich unbelasteter auf. Von Beginn an ist mit diesem Medium eine typisch amerikanische Freiheitsutopie verbunden, die ein Pionier des kommerziellen US-amerikanischen Rundfunks, der Begründer der National Broadcasting Company (NBC) und Leiter der Radio Corporation of America (RCA), David Sarnoff, enthusiastisch formulierte:
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Ich erlaube mir, bezogen auf diese zwei Filme gelegentlich einige Darlegungen zu wiederholen, die ich in einem anderen Kontext mit Rekurs auf diverse Filmbeispiele bereits vorgenommen habe. Die beiden hier erweitert und vertiefend analysierten Filme mussten in der vorangegangenen, thematisch korrespondierenden, aber anders ausgerichteten Darlegung entsprechend kürzer abgehandelt werden (vgl. Meyer 2013).
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»I believe that a free radio and a free democracy are inseparable; that we cannot have a controlled radio and retain a democracy; that when a free radio goes, so also goes free speech, free press, freedom of worship, and freedom of education.« (Zit. n. McChesney 1993: 240)
Obgleich diese vermeintliche Freiheit dahingehend, wer hier Produktionsmittel und Inhalte kontrolliert und welche Interessen ausschlaggebend werden, kritisch zu hinterfragen ist (vgl. u.a. Hampf 2000), hat dieser Anspruch auch die Forderung nach Redefreiheit in Call-in-Sendungen unterstützt. ›Talk Radio‹, ein Hörfunkformat, das in den USA fast genauso stark vertreten ist wie Musikformate, stützt sich auf das Live-Gespräch mit Studiogästen oder Anrufern und weist insofern einen hohen alltagsprachlichen Anteil auf, der noch dadurch unterstützt wird, dass sich viele Sendungen nicht nur sozio-politischen Themen, sondern auch breiten Lebensproblemen widmen. Nicht nur sind bei diesem Format Rededuelle üblich, auch Beschimpfungen und Verunglimpfungen sind nicht selten. Anders als in Deutschland, wo der nationalsozialistische Völkermord das Bewusstsein dafür geschärft hat, dass antisemitische oder rassistische Äußerungen lebensvernichtende Kraft haben können, wird die Redefreiheit in den USA zumeist als uneingeschränktes Bürgerrecht geltend gemacht. Redefreiheit ist in den USA jedoch verfassungsrechtliche Vorbedingung weiterer Rechte wie etwa der Religionsfreiheit, dem Recht auf Glück, der Gleichbehandlung (vgl. Butler 2006: 257), so dass im Fall von »hate speech«, einer diskriminierenden, verletzenden Rede, die Freiheitsrechte kollidieren. Zu einer genaueren Beobachtung der bereits genannten Filme übergehend soll im Weiteren deutlich gemacht werden, dass diese Filme eine Utopie von Redefreiheit im ›Talk Radio‹ dekonstruieren, indem sie den zwischenmenschlichen Umgang decouvrieren und performative Äußerungen im Sinne von Judith Butler als wirkungskräftige und manipulative kulturelle Praktiken kenntlich machen, die gesellschaftliche Wirklichkeit und deren Macht- und Herrschaftsverhältnisse konstituieren. Während Judith Butler in ihrer beeindruckenden Studie zur diskriminierenden Sprache Excitable Speech/Haß spricht (1998) der Stimme keine Aufmerksamkeit schenkt, wird sie im vorliegenden Gedankenbestand sowohl in ihrer Eigenart als auch in Wechselwirkung mit Sprache berücksichtigt. Im symbolischen ebenso wie im symptomatischen Feld verankert, sowohl kulturell durchformt als auch Träger somatischer Spuren, agiert die Stimme als Äußeres im Inneren des Menschen und als Inneres im Außen des zwischenmenschlichen Umgangs an der Grenze und der Kontaktzone zwischen Körper und Sprache, Ich und Anderem. Sie ist insofern nicht nur Indikator individueller Befindlichkeiten, sondern auch í situations- und atmosphärenbestimmend í allgemeiner Umstände.
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S TIMME ALS S TACHEL UND W UNDE IN T ALK R ADIO E RIC B OGOSIAN UND O LIVER S TONE
VON
Der bekannte Performer, Schauspieler und Verfasser diverser Ein-PersonenStücke, Eric Bogosian, hat Talk Radio 1985 auf der Basis des Romanes The Life and Murder of Alan Berg von Stephen Singular ursprünglich als SoloPerformance für die Theaterbühne konzipiert. Zwei Jahre später hat Bogosian das Stück für die Bühne um zusätzliche Figuren erweitert. 1988 hat er zusammen mit Oliver Stone das Drehbuch für den Film verfasst2. Der Stoff hat somit bereits einige Medienwechsel und -transformationen durchlaufen und thematisiert gleichsam eine Medien-Kombination, die im intermedialen Wechselspiel medienreflexiv genutzt wird. In diesem Sinne stellt der Film zunächst Radio als Rahmenmedium der erzählten Zeit aus, die weitgehend einer theatergemäßen Einheit von Zeit und Raum folgt, denn mit Ausnahme weniger Rückblenden vollzieht sich das Geschehen ausschließlich im Studio des texanischen Radiosenders KGAB.
Abbildung 1: Talk Radio (1988)
Dieses Studio wird filmisch in seinen technisch-apparativen Gegebenheiten, hinsichtlich der räumlichen und institutionellen Rahmenbedingungen ebenso wie in Moderation und Gesprächsführung als spezifische kulturelle und mediale Praxis
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Schon aufgrund der Theaterfassung von Talk Radio für den Pulitzer-Preis nominiert, erhielt er für die filmische Fassung eine Nominierung für den Independent Spirit Award und bei den Berliner Festspielen 1989 einen Silbernen Bären.
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in Szene gesetzt. Wenn das Schild On Air rotleuchtend aus dem Szenario heraussticht oder die Zuweisung der Mikrophone zu Studiogästen und zum Moderator, Regler am Mischpult, der Pegelstand oder die Bandmaschinen in Großaufnahmen gezeigt werden, dann verbindet sich Objekt- und Farbästhetik mit der Bewußtmachung medialer Praxis. Eine gezielte Lichtstimmung versinnlicht zudem eine besondere Atmosphäre nächtlicher Studioarbeit3. Entscheidender dafür, dass das Studio als atmosphärisches Gebilde affektiv erfahrbar wird, sind jedoch die raumkonstitutiven Bewegungen der Kamera, des Körpers von Eric Bogosian sowie die Bewegungen der Gesprächsverläufe in der Radiotelephonie, durch die ganz eigene Zeit-Räume der stimmlichen Verlautbarung und des Hörens konstituiert werden, auf die ich noch näher eingehen werde. Doch zunächst sei der Raum des Geschehens und die besondere Situation, in der agiert wird, markiert. Der Moderator Barry Champlain arbeitet in einem »gläsernen Käfig«, aus dem er durch gläserne Scheiben Mitarbeiter und Vorgesetzte sieht und gesehen wird. Die Kamera umkreist ihn, macht ihn durch Nahaufnahmen groß oder durch totale Einstellungen, insbesondere aus der Vogelperspektive, klein, während er mit der beliebtesten »Talk-Show in Texas« auf Sendung ist, die er sprachmächtig und gewalttätig dominiert. Obwohl er häufigen Empfehlungen, etwas freundlicher zu seinen Anrufern zu sein, bislang nicht entsprochen hat, steht er kurz davor, landesweit gesendet zu werden. »Night Talk« setzt bei einer Krise im Land an, entwirft das Gegenbild zum »Land der unbegrenzten, für alle offenen Möglichkeiten«. Champlain nennt es: »total verfault«. Die Berechtigung für seine »Call-in-Sendung« formuliert er folgendermaßen: »Wir sind der einzige Nachbar, den ihr noch habt. Es redet doch einfach keiner mehr mit dem Anderen«. Letzteres bestätigt die Sendung, die keine intimen Gespräche, sondern »Tyrannei der Intimität«, keine Dialoge, sondern Beschimpfungen und Demütigungen erlaubt. Diese gehören zum Sendeformat dazu, das sich an den Werten »free radio« und »free speech« orientiert. »Night Talk« deklariert entsprechend den freiheitlichen Anspruch eines Forums »in [dem] gesagt wird, was gesagt werden muss«. »Ich bin für Euch da«, lautet das Angebot von Barry Champlain, »knallt mir die heißesten Themen um die Ohren«. Unter den Anrufern gibt es entsprechend wenig harmlose Themen. Ein Rauschgiftsüchtiger, der vom Tod seiner Freundin neben ihm berichtet oder ein Vergewaltiger, der seine nächste Tat ankündigt, gehören zu den Herausforderungen, die dem Moderator begegnen, der den Junkie für einen Lügner hält, weil
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Atmosphäre wird hier im Rekurs auf Hermann Schmitz oder Gernot Böhme als räumliches Phänomen verstanden, das affektive Betroffenheit erfahrbar macht (vgl. u.a. Schmitz 1998; Böhme 1995).
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das Lügen genauso zum Sendeformat gehört wie schonungslose Ehrlichkeit4. Der Vergewaltiger fordert dem Antwortenden schon mehr Ver-Antwortung5 ab und so versucht er ihm mit einer Fangschaltung auf die Spur zu kommen. Dieser Versuch scheitert ebenso wie das Bemühen des Moderators, den Gesprächsverlauf zu beherrschen. Macht und Ohnmacht liegen nah beieinander. Immer wieder rufen ihn Neo-Nazis an, beschimpfen ihn mit antisemitischen Äußerungen und stellen den Holocaust in Frage, ohne auf Barrys Angaben von Fakten und Argumenten einzugehen.
Abbildung 2: Talk Radio (1988)
Die Kamera macht den Wechsel der Gesprächssituation bei solchen Anrufen kenntlich. Während Barry immer wieder in Nahaufnahme aus wechselnden Perspektiven ins Bild gesetzt wird, wenn er seine Zuhörer als »Jammerhaufen« beschimpft, den er »verabscheut«, wird er in der Auseinandersetzung mit NeoNazis, die ihm nicht nur verbal drohen, sondern auch ein Paket mit einer toten Ratte in den Sender schicken, aus der Vogelperspektive gezeigt wie er í sichtlich als der Raumordnung unterworfenes Sub-jekt ausgestellt í mit Kopfhörern unruhig in der Aufnahmekabine hin- und herläuft. Atmosphärisch wird bereits
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Zwischen Ehrlichkeit und Lüge schwankt auch der Moderator, der von der Kamera entlarvte Lügen in seine Show einbaut, darunter auch der angebliche Fund eines Judensterns in einem deutschen Konzentrationslager, den er vorgibt, in der Hand zu halten, während er seinen Besuch dieses furchtbaren Ortes beschreibt. Von seinen Hörern wird er wegen der Lügen beschimpft und wegen demaskierender Ehrlichkeit bewundert.
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In diesem Zusammenhang zeigt sich das ethische Moment des Angerufenwerdens, im doppelten Sinne des Telefonats und des Rufes nach jemandem.
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hier und später weitaus intensiver ein besonderer, existenzieller Gefühlsraum erfahrbar, der der Angst: nicht mehr der Alltagsängste, von denen die Telefongespräche immer wieder handeln, sondern einer allgemeinen, aber tiefsitzenden Angst als Grundbefindlichkeit des menschlichen, weil endlichen Daseins und einer speziellen kollektiven, traumatischen Angst der Juden. Diese Dimension des Filmes sei hier nur in gebotener Kürze angesprochen, da sie gesonderter Ausführungen bedarf. Dem Wechselspiel zwischen Bedrohung, Angst und Sicherheitsmaßnahmen korrespondiert das labile Gleichgewicht der Macht in einer ungleichen Gesprächssituation, in der verbale Handlungen Herrschaftszusammenhänge kenntlich machen. Die Spannung des Filmes stützt sich auf diesen Machtaspekt, auf die Frage, wer die Oberhand behält, der Moderator, der seine Hörer tot redet oder abwürgt, einfach aus der Leitung wirft, wenn er nicht mehr will oder der Anrufer, der weiß, »wie der Moderator aussieht und wo er wohnt«. Dieses Ungleichgewicht in der Gesprächssituation zwischen einem sprachmächtigen, aber ungesicherten Moderator, der nicht weiß, wen er adressiert, d.h. wen seine Worte, die er in den Äther schickt auf welche Weise erreichen, und Anrufern, die womöglich ein Bild und eine Adresse vom Moderator haben, macht gleichsam die enge Beziehung zwischen der Angst und dem Hören sinnfällig. »Das Ohr« ist nach Friedrich Nietzsche »das Organ der Furcht«6 (1967-1977: 205), »der bevorzugte Sinn der Aufmerksamkeit« nach Paul Valéry, »[e]s wacht gewissermaßen an der Grenze, jenseits deren das Auge nicht mehr sieht« (1993: 33). Für den Filmzuschauer bleiben die Anrufer unsichtbar, »voix acousmatiques«7, d.h. Stimmen ohne Träger. Sie bleiben in einer Schwebe, die insbesondere dann destabilisierend wirkt, wenn die Stimmen der unsichtbaren Anrufer Drohungen verlautbaren, die unberechenbar sind. Hier wahrt der Film die radiophone Isolation des Hörens und gewinnt ihr bedrohliche Spannung ab. Obwohl der Film dem Titel Talk Radio entsprechend Sprache in ihrer subjektkonstituierenden und destruierenden Kraft und damit eine »Politik des Per-
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Eine durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen Furcht und Angst sei hier jedoch ausgespart.
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Michel Chion hat den Begriff »acousmêtre« den Klanggeräuschforschungen des berühmten Vertreters der »musique concrète«, Pierre Schaeffer, entnommen. Was zunächst auf Klänge oder Geräusche bezogen wurde, die hörbar, aber hinsichtlich ihrer verursachenden Quellen nicht sichtbar sind, wurde von Chion zunehmend auf die menschliche Stimme bezogen. Mit seinem Begriff »voix acousmatique« bezeichnet Michel Chion die Stimme eines nicht sichtbaren Sprechers, die häufig psychoanalytisch thematisiert wird (vgl. Chion 1982).
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formativen« im Sinne von Judith Butler par excellence in den Vordergrund stellt, werden untergründig Stimmen erfahrbar, die zeigen, dass die Stimme bevor sie zur Sprache gelangt, stets den Körper passiert, der in Lauten und Geräuschen, Tonfall und Sprechrhythmus immer wieder auch Anderes äußert als das, was die Sprache sagt. Leibphilosophisch formuliert: Stimmen machen die leibliche Verankerung, ihre Beziehung zur Welt hörbar. Obwohl Performativität hier an Sprache gebunden ist, so hat diese doch erst Wirkungskraft, wenn der verbale Angriff den Körper verwundet. Was Körper und Leib von diesen Worten wissen, die ihn betreffen, treffen und verwunden, weiß wiederum die Stimme hörbar zu machen. Als Index der psycho-physischen Verfassung der Sprecher prägen Stimmen deutlich die Stimmung des gesamten Filmes, im Bild wie im Bildentzug8.
S PRACHE
UND
S TIMME
In Talk Radio ist das Wechselspiel von Sprache und Stimme, ein oszillierendes Spiel zwischen Macht und Ohnmacht, zentral. Mit welcher Sprachgewalt Barry Champlain hier an- und aufruft, formuliert er selber überaus direkt als Motto seiner Sendung: »Über Stock und Stein bricht sich jeder das Bein, aber nur Worte können einen wirklich fertig machen.« Worte sind Waffen des Moderators, der als Provokateur Stimmen hervorruft (pro-vocare), die zeigen, was Worte und Stimmen bewirken. Warum Worte diese Macht haben, hat Judith Butler in ihrer Studie Excitable speech/Haß spricht erforscht. Sie konstatiert eine »grundlegende Abhängigkeit von der Anrede des Anderen« (Butler 1998:15). Doch die Sprachlichkeit des Menschen bedingt nicht nur eine Untrennbarkeit zwischen Sprechen und Hören, sondern auch die Fähigkeit zur Verlautbarung und damit Stimme. Sie umfasst die ganze Bandbreite zwischen Schrei und Sprache, insbesondere auch die Fähigkeit, rufen zu können, die Möglichkeit, gerufen zu werden und sich rufen zu lassen. Erst durch die Art des Anrufes und der Anrede »gelangt das Subjekt zur ›Existenz‹« (vgl. ebd.), die ihm somit auch abgesprochen werden kann. Dabei kommt der Stimmlage besondere Bedeutung zu, die Butler vernachlässigt. Worte mögen Waffen sein, aber die Stimme ist ihr Stachel9.
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Konsequent werden die Sprecher der Anruferstimmen im Abspann des Filmes aufgeführt.
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Ich knüpfe mit diesem Begriff an den Vortrag »Die Stimme als Befehl. Überlegungen zu einem riskanten Sprechakt« an, den Thomas Macho auf dem Symposion Stimmlichkeit und Performativität (SFB 447 Kulturen des Performativen) am 29.10.2010 an der FU Berlin hielt. Er ließ dabei jedoch unbeachtet, dass Stimme auch Wunde sein kann.
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Nicht nur der Umstand, dass die Mutter das Kind beim Namen nennt, sondern auch der Tonfall, mit dem sie ihn ausspricht, ist entscheidend. Vor der Schärfe der Stimme schreckt das Kind zurück, sie hat die zwingende Gewalt, die auf- und gehorchen lässt. Andererseits kann sie stützen und stärken, sichern und versichern. Stimmen stillen, beruhigen, trösten und vertreiben die Einsamkeit. Es ist die Stimme des geliebten Anderen, dem man traut oder misstraut. Deshalb nutzt der Mensch die Stimme »um etwas zu suchen, das jeweils im Andern Antwort gibt« (vgl. ebd.). Entsprechend antwortet man auf ein Wort anders als auf Stimme. Untergründig wirkt sich aus, dass die Stimme immer erst Medium des Körpers ist, bevor sie Medium der Sprache wird. Da Judith Butler die Anrede als körperliche Handlung versteht, ist die stimmliche Ebene auch in ihrer Theorie impliziert. Wenn sie den Umstand, dass Sprache verletzen kann, auf die Untrennbarkeit von Körper und Sprechen zurückführt, dann lässt sich hinzufügen, dass sich diese Untrennbarkeit in der Stimme austrägt.
VON DER RESIGNATIVEN ÜBER DIE AGGRESSIVE BIS ZUR GEBROCHENEN S TIMME Eric Bogosian, der den Moderator Barry Champlain verkörpert, bevorzugt eine harte, schroffe Stimmführung. Er verweigert seinen Anrufern zumeist eine bestätigende Ansprache, unterwirft das angesprochene Subjekt dem, was es gerade nicht sein will. Dass er damit durchaus entlarvend agiert, vermag die Gewalt, die er ausübt, nicht zu mildern. Dem Provokateur antworten unweigerlich auch Stimmen mit Gegengewalt, die nun ihn zu verwunden suchen. Als Jude erfährt er – wie bereits erwähnt – Reformulierungen einer antisemitischen »Haß-Sprache«, die ihn zwischenzeitlich emotional so erschüttern, dass er nicht mehr im üblichen Moderatorenduktus an der Oberfläche bleibt, sondern tiefer geht. Diese Schlüsselszene im Film, die von einer Angstsituation geprägt ist, führt ihn zu einer desillusionierten Bestandsaufnahme seiner eigenen Existenz. Es handelt sich um eine Sequenz, die zugleich dem virtuosen, in Sprech- und Stimmführung professionell geschulten Performer Bogosian besonderen Aktionsraum einräumt, denn sie gibt die Stimme nicht nur als Stachel, sondern auch eindringlich als Spurenmedium der Verletzungen, als Wunde zu Gehör. Kurz vor dieser hier näher zu betrachtenden Sequenz erhält Barry Champlain in der erzählten Zeit des Filmes einen Anruf, in dem ihm erneut das Ende des Judentums angedroht wird. Der bildlose Klang dieser Stimme wirkt nach den vorherigen Geschehnissen noch beängstigender und es erscheint psychologisch folgerichtig, dass in der
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Angst10 vor dem Eingriff in seinen Lebensraum und dem drohenden Verlust seiner Selbstbestimmung der Körper des Moderators reagiert. Angst ist ein intensives psychophysisches Phänomen, das mit deutlichen physiologischen Begleiterscheinungen verbunden ist. Nicht nur die Stimme vermag diesen besonderen Affekt zu indizieren. Er ist dem Menschen häufig auch ins Gesicht geschrieben. Wenn die filmische Beobachtung in diesem Zusammenhang verstärkt mit Affektbildern des Gesichtes im Close-up arbeitet, dann lässt sich gleichsam feststellen, dass die Psychologisierung der Szene eines vielstimmigen Monologes11, in dem die Macht des Moderators der Ohnmacht des Subjektes weicht, insbesondere medienbedingt, d.h. stimmlich und mimisch durch den Performer und filmisch über die Kameraeinstellung, nahegelegt werden. Der stimmliche und mimische Affektausdruck ist sowohl vom ästhetischen Konzept des Performers Eric Bogosian als auch von den medialen Bedingungen abhängig.
Abbildung 3: Talk Radio (1988)
Die Kamera fährt langsam vor dem Tisch hoch, an dem der Moderator sitzt, bis sie ihn achsensymmetrisch in einer halbnahen Einstellung zeigt. Im Schuss/ Gegenschuss-Verfahren werden zunächst noch in herkömmlicher Weise drei Personen in Nahaufnahmen gezeigt, die Barry Champlain während seines Monologes durch die Studiofenster beobachten und zuhören. Auch Barry Champlain wird danach in Nahaufnahme sichtbar. Das Gesicht des Performers erscheint in dieser, bildräumlich verengten Einstellung als Entität und Schauplatz eindrucksvoller mimischer Ausdrucksformen, die, ebenso wie später in dieser Sequenz dezent hinzu kommende Musik, gesondert zu betrachten wären. Ich widme mich
10 Die Sprache weiß bereits von der körperlichen Symptomatik zu sprechen, denn etymologisch geht das deutsche Wort auf mhd. angest und ahd. aungust, im Sinne von »Enge, Beklemmung«, zurück (vgl. Duden 1989: 36). Die bildräumliche Verengung, die durch die Nahaufnahme erzeugt wird, ist somit ebenso sprechend zu nennen wie ein weiteres, hier genutztes filmisches Mittel, das der »entfesselten Kamera« (vgl. Fußnote 13). 11 In der Möglichkeit der Nahaufnahme, das Gesicht als Entität erscheinen zu lassen, sieht schon Georg Simmel einen Grund für die Psychologisierung der Kultur, die er demnach für medienbedingt hält (vgl. 1996: 330-348).
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hier lediglich Sprache und Stimme, die als Zusammenwirkende zu verstehen sind, kann aber die szenische Situation, in der Art und Weise wie sie filmisch zur Erscheinung gebracht wird, nicht unberücksichtigt lassen. Durch den Ort der Kamera versinnlicht sich hier die Gespaltenheit, ein durch Affekte bedingter Riss im Selbstverständnis des Moderators. Auf einem Drehpodest positioniert bringt die Kamera in dieser Sequenz nicht nur die starre Einstellung einer dauerhaften Nahaufnahme zur Erscheinung. Vielmehr fungiert sie gleichsam als raumerschließendes Element, das die Umgebung in kreisender Bewegung vorbei gleiten lässt. Der Raum scheint sich um Barry Champlain herum zu drehen, der seinerseits ringförmig im Fokus ist. Dadurch wird er geradezu »panoptisch«12 von überall gesehen, ohne selber zu sehen. Auf der visuellen Ebene ist er Objekt der Beobachtung, kein souveränes Sprecher-Ich in einer Kommunikation, sondern Subjekt wechselnder Affektbilder, seinen Gefühlen Unterworfener. Die Spannung zwischen Starrheit und Schwindel in doppelter Bildführung, durch die Barry Champlains Situation filmisch versinnlicht wird, erfährt durch eine subtile Diskrepanz zwischen Stimme und Sprache, die sich schon bald einstellt und variiert, pointierte Verstärkung. Es ist maßgeblich eine Stimmbewegung, durch die die Nahaufnahme eine gesonderte Dynamik, Bewegung im Bild erhält. Die gesamte Szenenfolge und audio-visuelle Montage der Sequenz kann insofern affektiv genannt werden. Zunächst hört der Filmzuschauer eine Selbstbeschreibung, in der die eigene, missratene Lebensführung zugestanden, aber nicht entschuldigt werden will. Mit resignativem Ton spricht Bogosian als Champlain in gleichförmigem Tempo davon, ein Heuchler zu sein. Er verlange Aufrichtigkeit, obwohl er selber ein Lügner sei. Es ginge ihm nur um Erfolg, um Einschaltquoten. Die Hörer seien ihm egal. Dafür könnte er sich entschuldigen, aber warum sollte er. Wer sie denn überhaupt seien, diese Hörer, fragt er sich in bereits höherer Stimmlage. Während die Selbstbeschreibung zwar resignativ aber durchaus noch abgeklärt souverän anklingt, folgt mit der Frage nach dem Auditorium kurzfristig ein bereits von Verzweiflung durchtönter, lautstärkerer und aggressiver, stimmlicher Angriff gegen seine Hörer. Dieser aggressive Ton wird sich in dieser Sequenz wiederholen und variieren, in der Bogosian in tiefer, mittlerer und hoher Lage, im Wechsel der Register, der Sprechtempi und Lautstärken den Reichtum seiner
12 »Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden […]. Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind« (Foucault 1977: 259).
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stimmlichen Ausdrucksfähigkeiten als Performer präsentiert. Obwohl die Figur Barry Champlain sprachlich eine seiner Sendung programmgemäße Publikumsbeschimpfung unternimmt, wird doch der Schwindel als Basis seines Selbstbewusstseins zunehmend aufgedeckt. Immer deutlicher kündigt sich der Entzug von Souveränität über das Versagen der Stimme an. Dabei schwankt er schwindelnd in der Wahl der Worte und in der Stimmlage. Als wolle er seine gehobene Position und eine Sprecher-Hörer-Hierarchie zurückgewinnen, sagt er seinen Hörern, dass er jeden Einzelnen von ihnen verabscheue, denn sie hätten nichts, keinen Verstand, keinen Willen, keinen Gott. Sie seien nichts ohne ihn. Diese Allmachtphantasie fungiert deutlich als Versuch der Rückgewinnung verlorener Sicherheit und wird entsprechend weitergeführt. Er habe keine Angst, käme jeden Abend ins Studio und sage, was er will, behauptet er im Anschluss. Doch während dieser Rede wird die Stimme des Performers immer lauter und kippt schließlich ins Schrille. Der Stimme, die bereits versinnlicht, was sich der Sprecher untersagt, folgen auch die Worte. In der Rolle von Champlain gesteht Eric Bogosian mit leiserem, weinerlichem Ton, dass sie ihm Angst machen, seine Hörer. Er erniedrige sie und sie riefen ständig an. Die sich anschließenden, ängstlich geschrienen Worte »go away« verklingen mehrfach mit delay im Hörraum. Dann wird eine gebrochene Stimme hörbar, die Sehnsucht und Begehren nach dem verstehenden, ihm ähnlichen Anderen ebenso spürbar macht wie den Mangel und die Einsamkeit. Der Filmzuschauer hört das Dilemma, nicht weiter machen, aber auch nicht aufhören zu können, insbesondere über Ambivalenzen in der Stimme. Er hört, dass sich das Wort »Angst« in seiner Rede nicht nur auf die konkreten antisemitischen Drohungen, sondern auf eine komplexe Situation bezieht, die allgemeine sozio-kulturelle Gegebenheiten kenntlich macht. Die Drehbewegung einer »entfesselten Kamera«13 bleibt dabei durchgehend bestehen.
P OLYPHONIE DES I CHS UND D IFFERENZ K OMMUNIKATION UND S ENDEN
VON
Immer wieder beginnt diese mal ruhig sprechende, mal lautstarke, fast schreiende, dann nahezu verstummende Stimme, die das Schweigen im Gesagten hörbar macht, mit einem ›ich‹. Stimmlich handelt es sich nicht um ein einziges ›ich‹, sondern um mehrere, denn der Redeakt, der hier ›ich‹ sagt, wird immer wieder
13 Ich danke meinem Kollegen, dem Filmemacher Stephan Sachs, für den Hinweis auf die Tradition der »entfesselten Kamera«, in der seit den 1920er Jahren neben der Bewegung vor der Kamera eine durch technische Apparaturen bewegte Kamera zum Einsatz kommt.
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anders hörbar. Die Wiederholung, mit der ›ich‹ gesagt wird, und die damit Identität behauptet, setzt hier über die Stimme hörbare Differenz frei14. Diese Differenz erweist sich als Vielklang in der Stimme, als Echo vergangener und zukünftiger Gespräche, als Resonanz zum je unterschiedlichen Anderen. Barrys Stimme tönt entsprechend unterschiedlich auf die von ihm verachteten Anrufer. Die Imagination eines Menschen, der ihn womöglich verstehen könnte und ein zugleich desillusionierter Unglaube daran, bedingen eine gebrochene Stimme. Es erscheint in diesem Zusammenhang auch in medienethischer Hinsicht sinnvoll, die Differenz von Kommunizieren und Senden einzubedenken. Der massenmediale Sendebetrieb führt zu einem Verlust von Kommunikation im Sinne einer berührenden interpersonalen Mitteilung. Eine Definition von Didier Anzieu mag den hier gemeinten Kommunikationsbegriff verdeutlichen: »[…] Kommunizieren heißt vor allem, in Resonanz treten, in Harmonie mit dem anderen Schwingen« (1991: 75). Man kann aber auch mit Bernhard Waldenfels von »responsiver Leiblichkeit« (2000: 365) sprechen. Der angesprochene, angerufene Andere und das Begehren nach Antwort sind ihr inhärent.
V ERLEUGNUNG
UND
E NTLEUGNUNG
Abbildung 4: Talk Radio
Dass die Hoffnungslosigkeit, jemanden im Äther zu finden, mit dem er in Resonanz treten kann, in der beschriebenen Sequenz aus Talk Radio dominiert, macht der fast weinerliche Klang der Stimme schmerzvoll erfahrbar. In der Stimme zeigt sich der empfindende Leib und die Befindlichkeit des Körpers, der schreiend und schweigend, im geräuschhaften Atem, in der Rauheit der Reibelaute,
14 Vgl. zu dieser Überlegung auch Émile Benveniste: »Der Redeakt, den ›ich‹ äußert, erscheint für den, der ihn hört, jedesmal, wenn er wiederholt wird, als derselbe Akt, aber für den, der ihn aussagt, ist es jedesmal ein neuer Akt« (zit.n. Marin 2002: 25).
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aber nicht im Wort erklingt. Ein plötzliches Anhalten und Umschalten des Körpers, Aussetzer und Auslassungen werden hier signfikant und lassen sich sowohl phänomenologisch als auch psychoanalytisch betrachten, zumal die Figur des Barry Champlain hier zwischen Verdrängung durch Verleugnung und Entleugnung wechselt. Dass der Protagonist nach diesem vielstimmigen Monolog routinemäßig den nächsten Anrufer zulässt, verdeutlicht die Verleugnung im Übergang zum Sendebetrieb. Da er am Ende dieses Versuches in jetzt sprachloser Verzweiflung schweigt und somit das im Radio meistgefürchtete Sendeloch, im Englischen sprechend dead air genannt, produziert, kommt es erneut zur Entleugnung. Kurzfristig werden die Sendung und das Senden schlechthin in Frage gestellt. Doch die nächste Verleugnung folgt: »Wir müssen es noch ein wenig miteinander aushalten«, sagt der Moderator, bevor er die Sendung beendet. Dazu wird es jedoch nicht kommen. Der symbolische Tod im Radio antizipiert Barry Champlains realen Tod im Film. Nach der Sendung wird der Moderator von einem Unbekannten auf dem Parkplatz des Senders erschossen. »Ein primäres funkisches Thema ist der Tod« (Hoffmann 1975: 374). Der Film Talk Radio führt nicht nur die Sprachmacht eines Moderators, sondern auch die Vielstimmigkeit eines Subjektes vor, das zwischen Macht und Ohnmacht oszilliert. Gleichsam werden Machtzusammenhänge kenntlich, von denen sich ein sprechendes und ein schweigendes Subjekt erst ableiten.
N ICHTENDE S TIMME UND GEHORCHENDES B E -S TIMMTSEIN
Abbildung 5: The Fisher King (1991)
Einerseits erscheint es schlüssig, Anruf und Anrufung mit Judith Butler von der Stimme und damit von der konkreten Äußerung zu lösen, um die Kraft der Sprache im Machtbereich der Diskurse zu verdeutlichen, durch die Subjekte konstitu-
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iert und gesellschaftliche Effekte erzielt werden15. Andererseits bedarf das Bild der Stimme, das an die Macht der Sprache gekoppelt ist, einer konkreten Stimme, um seine (magische) Wirkung zu entfalten. Dass die Stimme den Worten zusätzliche Kraft verleiht, so dass sie auch ungewollte, gesellschaftliche Wirkungen haben können, ist u.a. Thema im Film The Fisher King (1991), auf den ich abschließend noch kurz eingehe16. Es handelt sich um die Eingangsszene, in der einer der Protagonisten, der Kult-Radiomoderator Jack Lucas (gespielt von Jeff Bridges), in Anlehnung an die Moderatorenfigur Barry Champlain in Talk Radio eingeführt wird. Auch er wird im Studio aus verschiedenen Perspektiven fokussiert, während auch er seine Anrufer und Anruferinnen bloßstellt, demütigt oder desillusioniert. Die üblichen Nahaufnahmen werden allerdings vermieden. Vielmehr wird der Protagonist dem Zuschauer in dieser expositorischen Sequenz aus der Vogelperspektive, von hinten, auffällig durch seinen Schatten oder durch extrem angeschnittene Close-ups vorgestellt. Mit sprechendem Verweis auf den expressionistischen Film, in dem der Schatten als das Andere des Selben, das Innere im Außen, die häufig böse, sonst verdeckte Seite triumphieren konnte, wird auch hier der Schatten des Moderators in Szene gesetzt, der ihm quasi in der erzählten Zeit vorauseilt. Unerträgliche Leichtigkeit im Umgang mit Leid und Liebe seiner Hörer und Hörerinnen zeigt sich zudem durch Geräusch- und Musikeinspielungen, die thematisch ausgerichtet sind und von ihm tänzelnd eingespielt werden. Ein Anruf und die Antworten von Jack Lucas werden jedoch das Leben mehrerer Personen, auch sein eigenes entscheidend verändern. Der besagte Anruf kommt von Edwin, ein dem Moderator schon bekannter Anrufer, den er nicht nur beim Namen nennt, sondern dem er auch sagt, dass er ihn vermisst hat. Dadurch von der Masse abgehoben, wendet sich Edwin mit deutlicher Ernsthaftigkeit an den Moderator als ratgebende Instanz. Edwin erzählt ihm, dass er sich in einer Szene-Kneipe in eine schöne, reiche Frau verliebt hat, doch Jack Lucas nimmt ihm alle Hoffnung. Dem positiven Seins-Entwurf des Anrufers begegnet der Moderator mit einer deutlichen, zweifachen Nichtungsbewegung. Was Jean Paul Sartre auf der Ebene des Blickes beschrieb, die vernichtende Kraft eines nichtenden Blickes (vgl. Sartre 1979), erfolgt hier durch die Stimme. Da sie den Hörer mit den ersten Worten noch nicht
15 Vgl. Butlers dementsprechende Auseinandersetzung mit Louis Althusser (Butler 1998: 56ff.). 16 Die komplexe Thematik der Gralssuche, eine Geschichte über Schuld und Erlösung, Freundschaft, Liebe und Vergebung, über die realitätskonstitutive Macht von Glauben und Phantasie etc. muss hier unberücksichtigt bleiben.
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überzeugen konnte, da dieser noch zur Gegenrede ansetzt, ermahnt Jack Lucas den Anrufer Edwin mit einem schrillen Pfiff, der ihn zu horchen und letztlich zu gehorchen zwingt.
Abbildung 6: The Fisher King (1991)
Eine Detaileinstellung seines Mundes ist zu sehen, während die raue Stimme von Jack Lucas zu hören ist, die sagt: »Du wirst sie nie kriegen. […] Die treiben es nur unter sich. Das ist die Yuppie-Inzucht. Deshalb sind die auch alle degeneriert und tragen die gleichen Klamotten.« Diese desillusionierenden Worte werden mit dem Mund direkt am Mikrophon in intimer Nähe gesprochen. Stimmlich wird Rauheit zunehmend mit Behauchtheit verbunden, wenn Lucas weiter ausführt: »Es sind keine Menschen. Sie empfinden keine Liebe. Sie verhandeln nur über Liebesmomente. Sie sind böse, Edwin. Das Unvollkommene widert sie an. Das Banale entsetzt sie, also all das, wofür Amerika steht, all das, wofür du und ich kämpfen. Man muß sie aufhalten, bevor es zu spät ist. Sie oder wir überleben.« Nach dieser deutlich überzeichneten, erkennbar ironischen Hetzrede auf die »Yuppies«, zu denen Jack Lucas selber gehört, hält der Moderator einen Moment inne, lauscht und wartet auf die Annahme des Hörers, der schließlich »OK, Jack« sagt. Das hörbare Schweigen verstärkt die Autorität und erinnert gleichsam an den Umstand, dass die Fähigkeit, hören zu können, auch impliziert, auf jemanden hören zu können. Die Sequenz setzt sowohl die einflüsternde Suggestivkraft im Stimme-Ohr-Komplex, die Hierarchie zwischen Moderator und Anrufer als auch einen Unterwerfungsgestus des Anrufers in Szene. Erst nachdem diese erfolgt ist, schließt Jack Lucas mit den Worten »alles klar« ohne zu bemerken, dass nichts klar ist, vielmehr keine Verständigung über Nichtverstehen gegeben ist und somit Missverständnisse unausweichlich sind. Sorglos beteuert der Moderator seinen Hörern, dass es ihm ein Fest war und beendet seine Sendung selbstgefällig mit einer Musikeinspielung: I’ve got the power17.
17 Im Anschluss erfolgt eine weitere Selbstinszenierung, dieses Mal als Yuppie: »Ich werde an Euch denken, wenn ich es auf dem Rücksitz meiner überlangen Limousine
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Der Höhenflug von Jack Lucas endet jäh, weil er tatsächlich die »Power« hatte, die Macht über jemanden, der weniger auf ihn hörte als hörig seinem Aufruf folgte. Dass Edwin noch am selben Abend in der Szene-Kneipe Amok lief, zunächst mehrere Menschen und dann sich erschoß, erfährt der Moderator aus den Fernsehnachrichten. Ein Affektbild im Sinne von Gilles Deleuze, die Nahaufnahme seines Gesichtes, mit der Hand vor dem Mund, markiert die Wende in der Biografie von Jack Lucas und im Plot des Filmes, in dem Radio keine weitere Rolle mehr spielt, da Jack seine Stelle verliert und sich zunächst entmutigt mit Hilfe einer Videothek-Besitzerin über Wasser hält. Die unterschiedlichen Formen des Hörens werden dagegen grundlegend bleiben. Während Edwins hörender Gehorsam auf das, was er sich vom Moderator gesagt sein lässt, zugleich die Bereitschaft verdeutlicht, einen Befehl auszuführen, kommt im weiteren Verlauf des Filmes ein responsorisches Hören zum Tragen, das Einsicht in Werte des Lebens und der Zwischenmenschlichkeit erlaubt. Anruf und Aufruf sind auch weiterhin Anstoß für Entwicklung, wenn ein anderer Rufender, der obdachlose Parry (gespielt von Robin Williams), nach einem Schicksalsschlag, dem Verlust seiner Frau bei dem Amoklauf, in das Leben von Jack Lucas tritt. Durch das Blutbad des Amokläufers traumatisiert und in eine phantastische Wahnwelt entrückt, lebt der ehemalige Dozent für mittelalterliche Geschichte im Heizungskeller eines Hochhauses, fühlt sich von einem »roten Ritter« verfolgt und sucht nach dem heiligen Gral. Voller Schuldgefühle kümmert sich Jack um ihn. Als Parry von Hooligans zusammengeschlagen kataton im Krankenhaus liegt, folgt Jack Lucas sogar seinem aus der Tiefe des Leidens erfolgenden Ruf nach Gott und stiehlt den Gral für ihn, den Parry im Besitz des Milliardärs Langdon Carmichael vermutet. Da Jack Lucas bei seinem Einbruch den Milliardär nach einem Selbstmordversuch retten kann und Parry durch den vermeintlichen Besitz des Grals wieder erwacht, erfährt auch Jack eine geradezu biblische Läuterung. Diese phantastische Geschichte, die voller Motive aus christlicher Religion, Mythen und Märchen auftritt, endet mit zwei geglückten Liebesbeziehungen und einer Freundschaft, die trefflich ins Bild gesetzt wird: Unter dem nächtlichen Sternenhimmel liegen Parry und Jack nackt auf der Wiese im Central Park und sagen sich, was sie bewegt. Die Schlusssequenz von The Fisher King setzt ein Zuhören als Öffnung zur Welt und zum Anderen trefflich in Szene.
mit dem Teenie-Girl meiner Wahl treibe. Ich werde dann nämlich denken: Gott sei Dank. Ich bin ich.« Später sehen wir Jack Lucas im unterkühlten Umgang mit seiner Lebensgefährtin und im heißen Bad über den Titel seiner Biografie nachdenken: »Jack Lucas: Das Gesicht hinter der Stimme. Oder besser: Das Gesicht und die Stimme oder nur: Jack Lucas.«
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»Zuhören heißt widerhallen, heißt, in sich die Töne, die von anderswo herkommen, schwingen zu lassen und ihnen durch ihre Reverbalisierung in einem dafür zum Hohlraum gewordenen Körper antworten. Diese Höhle ist nicht die von Platon. Sie ist nicht bis auf einen kleinen Spalt geschlossen, durch den von außen Schatten geworfen werden, sondern sie ist die Öffnung in sich als Öffnung im Innersten meiner selbst und die Öffnung an sich als Öffnung schlechterdings selbst.« (Nancy 2001: 17)
D AS P ERFORMATIVE
VON
S TIMME
UND
S PRACHE
Beide hier reflektierten Filme decouvrieren Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse. Sie verdeutlichen die perfomative Macht von Sprache und Stimme in ihrer zerstörerischen, gewalttätigen Kraft. Es sind die nicht mehr schönen Stimmen, die hier auch Fratzen statt Gesichter hinter den Stimmen aufscheinen lassen. Doch nicht nur Radioanrufe, die in Verruf bringen und folgenschwere, missverstandene Aufrufe, sondern auch Gottesanrufungen oder ein Freundschaftsruf begegnen dem Beobachter dieser filmischen Beobachtungen. Verdeutlicht Talk Radio eine veränderte, gottesferne conditio humana, so The Fisher King, dass die Medien keinesfalls restlos säkularisiert sind. Da das ein weiteres Thema wäre, sei die Differenz nochmals anders formuliert. Während Talk Radio drastisch und hoffnungslos eine Desillusionierung der Welt betreibt und die schrankenlose Entfessellung der Sprachmacht durch eine Gewalttat enden läßt, folgt in The Fisher King nach anfänglicher Entzauberung der Welt ihre Wiederverzauberung. In geradezu märchenhafter Gegenwehr erinnert The Fisher King daran, dass eine Stimme auch zur konstruktiven, lebensbejahenden Hin- und Umwendung aufrufen kann. Auch in diesem Sinne ist sie performativ. In seiner weltschaffenden, subjektkonstituierenden und sinnstiftenden Kraft ist das Performative von Stimme und Sprache zutiefst ambivalent. Antwort impliziert insofern in doppelter Hinsicht Ver-Antwortung, denn die Filme verdeutlichen, dass es nicht nur Worte sind, die verletzen, sondern, dass die Stimme als Stachel – wie sonst nur der Blick – die Nichtung des Subjektes bewirken kann. Eine dadurch entstehende Wunde wird auch durch die Stimme indiziert, die stets den Körper passiert. Der Untrennbarkeit von Sprechen und Hören ist somit die Stimme hinzuzufügen. Da sich das Hören ebenso wie die Antwort auf ein Wort von dem Hören und Antworten auf eine Stimme unterscheidet und da das Hören ebenso perspektivisch ist wie das Sehen, ist das Schweigen des Barry Champlain der vielleicht vielsagendste Moment im Film, denn dieses Schweigen antwortet auf die signifikant zarte Stimme eines einsamen Menschen im Dunkel von Dallas, der sich
»I’ve got the power«
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ihm zugehörig fühlt, aber Barry Champlain – so wenig harmlos wie die meisten Anrufer – ein zweifelhaftes Angebot macht. In beiden Filmen wird deutlich, dass Schweigen eine besondere Tiefe des Hörvorganges indiziert, aus dem der Hörende als ein Verwandelter hervorgeht, der mit neuer Erkenntnis ausgestattet ist. Wie ambivalent auch diese Verwandlung ist, machen die unterschiedlichen Szenen deutlich, in denen das gottgleiche Schweigen von Jack Lucas der Unterwerfungsgeste Edwins vorangeht, während das allzu menschliche Schweigen von Barry Champlain einen Moment lang die Möglichkeit in den Raum stellt, dass die Sendung nicht wie gewohnt weitergehen wird. Bezogen auf den Programmrahmen free radio und free speech geben die Filme einen Gedankenanstoß zum Verständnis von Freiheit. Die Freiheit eines Menschen kann sich nur in Bezug auf andere Menschen und im zwischenmenschlichen Umgang realisieren. Sie findet ihren Raum und ihre Grenzen im Bereich des Politischen, des Medialen und des Performativen. Abschließend läßt sich dem noch eine Überlegung von Roland Barthes hinzufügen: »Eine freie Gesellschaft ist unvorstellbar, wenn man im vorhinein akzeptiert, in ihr die alten Orte des Zuhörens zu erhalten: die des Gläubigen, des Schülers und des Patienten.« (Barthes 1990: 262)
L ITERATUR Anzieu, Didier, Das Haut-Ich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Barthes, Roland, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Berendt, Joachim Ernst, »Ich höre, also bin ich«, in: Thomas Vogel (Hg.), Über das Hören, Tübingen: Attempto 1998, S. 69-90. Böhme, Gernot, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Butler, Judith, »Nachbemerkung zur deutschen Ausgabe«, in: dies. (Hg.), Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 257-262. Butler, Judith, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin: Berlin-Verlag 1998. Chion, Michel, La Voix dans le cinéma, Paris: Ed. des Cahiers du Cinéma 1982. Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag 1989. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.
262 | Petra Maria Meyer
Hagen, Wolfgang, Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München: Fink 2005. Hampf, Michaela, Freies Radio in den USA. Die Pacifica Foundation, 19461965, Münster: LIT 2000. Hoffmann, Wilhelm, »Vom Wesen des Funkspiels«, in: Gerhard Hay (Hg.), Literatur und Rundfunk 1923-1933, Hildesheim: Gerstenberg 1975, S. 373-374. Lacan, Jacques, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Das Seminar Buch XI, Olten: Walter-Verlag 1978. Marin, Louis, Die exkommunizierte Stimme, Berlin: Diaphanes 2002. Meyer, Petra Maria, »Die Welt für das Ohr sichtbar machen. Radio als Performativ im US-amerikanischen Film«, in: Kay Kirchmann/Jens Ruchatz (Hg.), Medienreflexion im Film. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript 2013. Nancy, Jean-Luc, »Verantwortung des Sinns«, in: Marianne Schuller/Elisabeth Strowick (Hg.), Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung, Freiburg: Rombach 2001, S. 15-27. Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/New York: De Gruyter 1967-1977. Sartre, Jean Paul, Das Sein und das Nichts, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1979. Schmitz, Hermann, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Stuttgart: Ed. Tertium 1998. Simmel, Georg, »Rodin«, in: ders., Hauptprobleme der Philosophie, Philosophische Kultur, hg. v. Rüdiger Kramme/Ottheim Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 330-348. Tomatis, Alfred, Der Klang des Lebens, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1990. Valéry, Paul, Cahiers/Hefte, Bd. 6, hg. v. Hartmut Köhler/Jürgen SchmidtRadefeldt, Frankfurt a.M.: Fischer 1993. Waldenfels, Bernhard, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, hg. v. Regula Giuliani, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000.
F ILME Talk Radio (USA 1988, Regie: Oliver Stone). The Fisher King (USA 1991, Regie: Terry Gilliam).
A BBILDUNGEN Abbildungen 1-4: Filmstills aus Talk Radio (1988). Abbildungen 5/6: Filmstills aus The Fisher King (1991).
Hörspiel als Gegenbewegung Unterwegs in den heterotopen Spiel- und Zwischenräumen des Kulturfunks B ETTINA W ODIANKA Rundfunkarbeit ist meine Leidenschaft und mein Leiden, weil Rundfunk Realität und zugleich oft Fiktion ist. Rundfunkarbeit ist ein Teil der Fiktion, die darin besteht zu glauben, daß man Wirklichkeit sendet. MAURICIO KAGEL
Lange Zeit bildeten die Phänomene und Formen des Akustischen einen auch in der Intermedialitätsforschung weitgehend vernachlässigten Bereich. Mittlerweile wird jedoch der Primat des Visuellen in der Auseinandersetzung mit kulturell wie künstlerisch höchst unterschiedlichen Praktiken im audio-visuellen Feld in der Forschung problematisiert und kritisch reflektiert. Gleichwohl aber wurden und werden noch immer insbesondere der Rundfunk und seine Produktionen, im Vergleich zu den zahlreichen Analysen der Bildmedien, nur spärlich beachtet, was daran liegen mag, dass das Radio weder mit sichtbaren Bildern noch mit Schriftzeichen – als den dominierenden Medien der abendländischen Kultur – zu tun hat. So hat das Radiophone insgesamt zweifellos einen eigentümlichen Stand im Verbundsystem der Medien, worauf Wolfgang Hagen nachdrücklich aufmerksam gemacht hat (2004: 6). Vor diesem Hintergrund schlägt die Denkfigur des acoustic turn (vgl. Meyer 2008) jedoch nicht einfach eine nur umgekehrte Hierarchisierung der medial vermittelten Sinne vor, welche statt unter dem Primat des Visuellen nunmehr unter dem Primat des Auditiven stünden. Vielmehr artikuliert die zumeist provokativ angekündigte oder pointierte Rede vom acoustic turn eine längst überfällige Sensibilisierung für die Akustik als eigenständigem Feld ästhetischer Strategien und medialer Produktionsweisen.
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Im Folgenden beschäftige ich mich daher mit Kunstproduktionen im Rundfunk, die sich, wie es vor allem Rolf Dieter Brinkmann in seinen Arbeiten gezeigt hat, mit genuin heterotopen Wahrnehmungsformen in der Übersetzung und Rezeption audiovisueller Erfahrungen innerhalb der rein akustischen Sphäre des Radios beschäftigen. Es handelt sich um eine Selbstreflexion der Medialität des Radiophonen, das seinen eigenen intermedialen Ort stets neu auslotet. ›Heterotop‹ meint hier, angelehnt an Foucaults Denkfigur der »Heterotopie« (1998), den Spielraum der Überlagerung und Durchkreuzung, der »Gegenplazierungen oder Widerlager« (ebd.: 39). Noch präziser heißt dies: es handelt sich um »Orte, die ganz andere sind, als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen« (ebd.). Es sind Orte oder Ver-Ortungen, die normative Ordnungen aussetzen und Möglichkeitsräume freisetzen, An-Ordnungen ver- und untersuchen: »Heterotopien schaffen nicht nur Passagen zwischen verschiedenen Räumen, sondern auch zwischen scheinbar unvereinbaren Kategorien, Zwischenräumen und Spielräumen, die Grenzüberschreitungen, überraschende Verwandlungen und Substitutionen ermöglichen« (Roloff 2003: 109). Diese »Passagen« lassen sich auch als der an sich selbst atopische Raum des »Dazwischen« (Tholen 2002: 169ff.) bestimmen. In meinen Beispielen, die radiophone Zwischenräume des Rundfunks erkunden, verbinden sich dabei die Räume der Produktion und Postproduktion ebenso wie die der Distribution und Rezeption als akustische Passagen in ihrer Flüchtigkeit, d.h. als hörbare Schnittstelle im Spannungsfeld erinnerter Vergangenheit und erwarteter Zukunft. Das Hörbare im jeweils Gehörten trennt und verbindet zugleich Zeiträume des erinnerten und erinnernden Geschehens, ermöglicht durch vielschichtige Tonspuren, die sich beliebig mischen, manipulieren und montieren lassen und so eine choreographierbare Komposition von Fragmenten ergeben.
R AHMEN UND R AHMUNG : D AS H ÖRSPIEL UND SEIN P ROGRAMMUMFELD Aller Formatierungswut, allem Umbau der Kulturwellen in durchmagazinierte Tagesbegleitprogramme und Full-Service-Programmierung zum Trotz, fern des Quotendrucks und frei vom Radio-Mood-Management, von Verkürzung der Information, Controlling und Stylebooks behaupten sich am Rande der Kulturprogramme nach wie vor bestimmte radiophone Kunstformen, die der Rundfunk einst auf der Suche nach medienadäquaten Erzählweisen im Akustischen selbst hervorgebracht hatte: das Hörspiel und das künstlerische Feature.
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Intermediale Hörspiele und ihre selbstreflexiven Formate setzen sich mit wesentlichen Elementen des Rundfunks auseinander: mit der Stimme und der technischen wie auch institutionellen Apparatur. Ich konzentriere mich hier auf einen speziellen Aspekt, auf das Konzept eines modernen Kulturbegriffs, wenn man denn überhaupt im Singular von ihm sprechen möchte, auf einen differenziellspielerischen Kulturbegriff, wie ihn Wolfgang Hagen definiert hat, und dessen Entstehung in den 1950er Jahren mit dem Aufkommen des Computers datierbar ist: »Simulation, Berechenbarkeit und Programmierung sind hier die Stichworte. Kultur ist jetzt nicht mehr das, was wirklich ist. Kultur vielmehr überprüft permanent das Spiel von Wirklichkeiten und Simulation, von Information und Rauschen« (Hagen 2004: 29). Dieser differentielle Kulturbegriff geht davon aus, so der Soziologe Dirk Baecker, »dass die Gesellschaft ein Resultat ihrer eigenen Performanz ist. Rastlos wird nach neuen Referenzen gesucht, die der Gesellschaft Grenzen setzen, die der Gesellschaft nicht zur Verfügung stehen – nur um diese Grenzen auszuweiten und auch das Nichtverfügbare verfügbar zu machen. […] All dies wird zum Spielmaterial immer wieder neuer Einsichten in die Redundanz der Gesellschaft« (zit. n. ebd.). Seit den 1950er Jahren entstehen also Werke, die Codierungen aufbrechen und in Frage stellen, neu codieren und den Ereignischarakter dieser Prozesse als momentanen Vollzug selbst zum »Spielmaterial« ihrer Reflexionen machen. Der Kunstbegriff erfährt somit durch die Fluxus-Bewegung sowie mit dem performative turn eine Erweiterung, deren Ursprünge natürlich nicht in den 1950er Jahren liegen, sondern in der Traditionslinie der historischen Avantgarden stehen. Die damit verbundene Fokusverschiebung von Texten hin zu Handlungen und Vollzügen, welche das Ereignis und seine ästhetische Wirkung in der Rezeption ins Zentrum der Betrachtung rücken, bedingt, dass nun die Wahrnehmungsprozesse selbst in den Blick genommen werden, denen sich Rezipienten in ihrer Mediennutzung aussetzen. Auf diese – auch für das Hörspiel mitunter zentrale – Parallele von Handlung und Rezeption, die bereits in der theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung im Rahmen der Performativitätsforschung thematisch wurde, weist Vito Pinto in seiner Dissertation hin1. Trotz der beschriebenen Entwicklung im Hörspiel erfährt das Klangereignis selbst, wie Pinto zu Recht hervorhebt, keine angemessene Beachtung:
1
Die Dissertation Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisation der Stimme in Theater, Hörspiel und Film ist im Projekt Stimmen als Paradigmen des Performativen im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 447 Kulturen des Performativen an der FU Berlin entstanden.
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»Dem konkreten Klangereignis Stimme im Hörspiel widerfährt in der Regel ein ähnliches Schicksal wie den anderen medienspezifischen Aspekten der radiophonen Kunst: Sie findet in den Diskussionen des ›klassischen‹ Hörspiels jenseits der Klangkunst grundsätzlich nur als Erfüllungsgehilfin des dichterischen Worts bzw. der dichterischen Erzählung Erwähnung. Sie wurde von den frühen Theoretikern wie Richard Kolb oder Heinz Schwitzke allein als bloßes Medium, als Mittlerin in einem rein textbasierten monophonen Innerlichkeitshörspiel gedacht. So nahmen die theoretischen Vorstellungen der beiden letztgenannten Autoren und in der Folge das Gros der deutschen Hörspielproduktionen der Stimme ihre ureigene Faszination, die sich gerade jenseits des dichterischen Wortes zeigt und die die Stimme kraft ihrer performativen Eigenschaften entfaltet.« (Pinto 2012: 148f.)
Im zeitgenössischen Hörspiel jedoch wird nunmehr die Formenvielfalt der Klangkünste selbst als eine eigene Form der Medienreflexion thematisch – in einer genuin experimentellen Erkundung neuer technischer Mittel und Materialien jenseits der Tradition narrativer bzw. klassischer Hörspiele. Aber werfen wir zunächst einen Blick auf das Umfeld, in dem Hörspiele überwiegend stattfinden bzw. in dem sie sich für den Zuhörer ereignen: Es ist dies das Programmumfeld des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Wie kann sich das Hörspiel als Kunstform in einem weitestgehend durchinszenierten Programm behaupten? Dieser Frage geht Klaus Schöning bereits 1974 in seinem Aufsatz »Der Konsument als Produzent?« (1974: 7-39) nach und stellt fest, dass das Hörspiel, das sich permanent als eigentliche Kunst beweisen müsse, seine Funktion und seine Bedingungen besonders intensiv reflektiere. Das Paradox der zunehmenden Abstrahlung medienästhetischer Mittel des Hörspiels auf sein Programmumfeld der Informationssendungen, die sich ihrerseits immer öfter dieser Mittel in der Inszenierung ihrer Inhalte bedienen, hat Auswirkungen auf den ›Freiraum‹ des Hörspielschaffens: die Produktionsmittel werden von einigen Hörspielmachern zunehmend bewusster wie auch reduziert eingesetzt und reflektiert (vgl. ebd.: 10f.). Hör-Spiel als Gegenbewegung oder Hörspiel als Störgeräusch, wie es Helmut Heißenbüttel in Hinblick auf die medialen Gegebenheiten halb fordert, halb vorschlägt: »Der gesamte technische Vermittlungsapparat kann nur dann vernünftige Zukunft offen halten, wenn er entnormierende Gegenbewegungen in sich zuläßt. Das Normierende, Ausgleichende, normativ Kollektive setzt sich sowieso durch. Es kommt darauf an, ihm Störelemente entgegenzusetzen, zu irritieren, statt zu bestätigen, den Apparat vom lernenden Kommunikator ebenso weit zu entfernen wie vom Kommunikanten, eine Empfangssituation herzustellen, in der sich Irritation und Kritik von beiden Seiten her zu begegnen vermögen.« (Zit. n. ebd.: 22)
Hörspiel als Gegenbewegung
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Der WDR hatte bis Ende der 1950er Jahre fast ausschließlich akustische Adaptionen von Bühnenwerken vorgestellt, und das gilt nicht nur für diesen Sender. Die Vorstellung des Mediums Radio als »immaterielles ›Rohr‹« prägt in dieser Zeit entstehende Produktionen im Hörspielbereich insgesamt (vgl. u.a. Vowinckel 1995: 134f.). In der Folgezeit ermöglichen nun aber die Produktionsbedingungen und mit ihnen die technischen Möglichkeiten selbst die kontinuierliche Abkehr von dieser Vorstellung und somit eine Hörspielkunst, welche die Technik nicht länger in den Dienst des Wortes stellt, sondern die Produktionsbedingungen als Stilmittel und ›Akteure‹ am Spielgeschehen aktiv partizipieren lässt. Diese Entwicklung – in deren Rahmen bekanntlich sehr heterogene Ansätze entstanden sind – wird in den 1960er Jahren im Fall des WDR von Anfang an begleitet durch Analysen, Radio-Essays wie Gespräche mit Hörspielmachern in einem Rahmenprogramm. Die Selbstreflexion der Medien- und Hörspielgeschichte sowie ihre jeweils aktualisierende Bezugnahme zu anderen künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklungen erkundeten einen nur jeweiligen, stets singulär sich öffnenden Horizont möglicher Hör-Räume, in denen dann ein je exemplarisches Hörstück gestellt werden konnte oder sollte. Dieser künstlerische Freiraum der offenen Programmatik und der damit verbundenen Suche nach medienadäquaten Darstellungsweisen der 1960er und 1970er Jahre bildet, so lässt sich zeigen, einen zentralen Bezugspunkt für gegenwärtige Produktionen in der Hörspielkunst. Programmatisch stehen die Experimente der akustischen Kunst in der Traditionslinie der historischen Avantgarden – wie u.a. Dadaismus, Surrealismus und Expressionismus. Andererseits antizipieren Hörspielmacher durch diese intensive Auseinandersetzung mit dem Medium Radio aber auch bereits Techniken des Digitalen in ihrer Verwendung der analogen Studiotechnik als Instrument künstlerischer Artikulation. Klaus Schöning beschreibt die Atmosphäre in den damaligen Hörspielstudios als bestimmt von »Neugier und [der] Lust, zu lernen« (1982: 33). Die künstlerische Reflexion sowohl der Produktions- als auch der Rezeptionsästhetik übersetzt sich in die Suche nach den dem Medium inhärenten und zugleich grenzüberschreitenden Darstellungs- und Inszenierungsweisen, insbesondere in die genuin akustischen Spielräume, die die Radio-Kunst als solche je neu konfiguriert. Weder scheut dieser bloß akustische Spielraum die ihm fremden oder vorgängigen audiovisuellen Zusammenhänge, noch gedenkt er, sie auszusparen. Im Gegenteil: Die radiophonen Kunstwerke der 1960er und 1970er Jahre reflektieren vielmehr die intermedialen Differenzen der Medien und machen diese wiederum konzeptuell produktiv, d.h. zunächst und vor allem: Sie verwischen nicht die materialen und medialen Spuren der jeweiligen Einzelmedien, sondern heben diese im Sinne der Collage-Technik als ein Zusammenfügen
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heterogener, teilweise bewusst disharmonischer Bestandteile der jeweils verwendeten Bild- und Tonkompositionen hervor. Dergestalt machen sie rezeptionsästhetisch den sonst so »blinde[n] Fleck im Mediengebrauch« (Krämer 1998: 74), als Spur und als Apparat, als Formendes und Formgebendes zwischen den Medien und ihren Formen, medienreflexiv im Prozess der Wahrnehmung selbst erfahrbar. Solche, die Grenzen der akustischen Medien auslotenden oder verschiebenden Experimente der Radio-Kunst setzen die Regeln der eher streng reglementär verfassten Institution des Rundfunks als eines technischen Apparates mit bestimmten normativen Vorgaben der Darstellung und Inszenierung außer Kraft, zumindest zeitweise. Dabei wird potenziell mit Hörer- und Hörerwartungen wie -gewohnheiten und Zeichenkonventionen gebrochen. Das Spielmaterial wird ungewöhnlichen Anordnungen unterzogen und neu in Beziehung gesetzt; Medien werden somit von der »Bedingung nicht nur der Möglichkeit von Sinn [her gedacht], sondern auch seiner Durchkreuzung, Verschiebung, eben Subversion« (ebd.: 90). Heißenbüttels Gedanke der »entnormierenden Gegenbewegung« als querständiger Form im normativen Fluss des Rundfunkprogramms ist dabei eng mit der Zeitgeschichte der 1960er und 1970er Jahre verknüpft. Sie »lassen sich als eine Epoche tiefgreifender individueller, kultureller und gesellschaftlicher Krisenerfahrung beschreiben; Vietnamkrieg, 68er Bewegung, Terrorismus sowie in Deutschland die Verfolgung der RAF stellen ihre bekanntesten Wegmarken dar« (Fischer-Lichte 1998: 24). Die wesentlichen Elemente der Performance Art, die Petra Maria Meyer als »Überwindung von Demarkationslinien sowohl zwischen verschiedenen Künsten als auch zwischen Theater und Wirklichkeit, Kunst und Leben sowie in der Aufhebung hierarchischer Strukturen« (1998: 140) postuliert, sind ihrer Wesensart nach – als ein nach Jean-Francois Lyotard 1968 einsetzendes »grenzenloses Experimentieren« (1980: 7) – nicht auf dieselbe beschränkt und ebenso auf Versuchsanordnungen der Gegenbewegung im Medium Radio zu übertragen.
D IE W ÖRTER SIND BÖSE : E RKENNTNIS W AHRNEHMUNGSBEWUSSTWERDUNG
DURCH
Das erkenntnisstiftende Potenzial der Künste, die intermediale Wechselspiele nutzen und eine Illusionsbildung durch etwa die Störung als künstlerischen Eingriff in den gewohnten Modus des medienspezifischen Zur-ErscheinungBringens unterlaufen, verdeutlicht Petra Maria Meyer in zahlreichen Fallstudien, auch und insbesondere im Feld der akustischen Kunst. Sie stellt dabei heraus,
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dass Intermedialität als Denken von Mediendifferenzen Medienreflexion par excellence sei und dass den Künsten in diesem Zusammenhang ein besonderer Stellenwert zukomme, »denn schon für den Philosophen Maurice Merleau-Ponty haben sie eine besondere Fähigkeit, in ihren Darstellungen und Inszenierungen gleichsam die jeweilige Ordnung von Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Inszenierungsweisen mit darzustellen. In der Kunst kann die Sinnestätigkeit selber in ihren diskursiven und medialen Bedingungsfeldern zum Gegenstand der Wahrnehmung werden. Indem die Künste Sichtbares und Hörbares zur Erscheinung bringen, vermögen sie das Sehen und das Hören selber zu reflektieren. Da in der Akustischen Kunst des Radios, in der audio-visuellen Gestaltung des Filmes oder der multi-sensuellen Inszenierung des Theaters sowohl bewusst mit den Sinnen als auch mit den Medientechniken gearbeitet wird, kommen die jeweiligen sensuellen, diskursiven und medialen Grundlagen am ehesten zur Erscheinung.« (Meyer 2008: 612)
Wahrnehmungsbewusstwerdung und medienspezifischen Verfahrensweisen als erkenntnisstiftendes Potenzial forciert auch Rolf Dieter Brinkmann unter anderem in den Originaltonaufnahmen Wörter Sex Schnitt2. Sein Notationsmittel im Falle der Aufnahmen, die er ursprünglich für die Sendereihe Autorenalltag des WDR3 macht, die jedoch alsbald Obsession werden: ein Tonbandgerät, Magnetbandspulen. Er reflektiert mediale Ausdrucksformen und Sprechweisen, welche die Grenze und Möglichkeiten zwischen der Inszenierung und dem Ausdruck des ›Authentischen‹4 untersuchen. Für die Tonbandaufnahmen liefert er nicht nur das Manuskript, das der Regie sodenn als Vorlage für die akustische Realisation dient – wie es etwa bei seinen drei Hörspielen Anfang der 1970er Jahre der Fall ist –, er realisiert die Sendung Die Wörter sind böse ohne auf eine davor festgelegte Partitur zurückzugreifen. Diese besteht einerseits aus den Tonbandaufnahmen, die Ende 1973 entstehen, und andererseits aus Aufnahmen während der PostProduktion im WDR, die Brinkmann als Fragmente permanent durchscheinen lässt: Zur Offenlegung des Produktionsprozesses montiert er immerzu kleine Passagen aus Anweisungen an den Techniker und den Redakteur dazwischen.
2
Brinkmann, Rolf Dieter, Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973, hg. v. Her-
3
Die rund 49 Minuten lange Sendung (Regie: Hein Brühl/Redaktion: Hanns Grössel)
4
Zum Begriff und zu Strategien des Authentischen bei Rolf Dieter Brinkmann in Rom,
bert Kapfer/Katarina Agathos, München: intermedium rec. 2005. wurde am 26.1.1974 unter dem Titel Die Wörter sind böse im WDR ausgestrahlt. Blicke (1979 postum erschienen) sei an dieser Stelle auf Christoph Zeller (2010: 235281) verwiesen.
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Eckhard Schumacher unterstreicht in einem Aufsatz zu den Tonbandaufnahmen das Interesse Brinkmanns für die von ihm verwendeten Medien und die damit verbundenen Vermittlungsstrategien, die Faszination der Medialität der Aufzeichnungen ebenso wie die des Sprechens und Schreibens: »Beinahe überdeutlich unterstreichen die Originaltonbandaufnahmen, daß die ›tagtäglich zu machende sinnliche Erfahrung‹, die Brinkmann gegen das ›Rückkoppelungsverfahren der Wörter‹ in Anschlag bringt, nicht jenseits von Medien, Geräten, Apparaten stattfindet. Brinkmanns Neugier richtet sich immer auch auf die mit ihnen assoziierten Vermittlungsanstrengungen, auf die durch sie produzierten (oder ermöglichten) Störungen, Manipulationen und Verfälschungen ebenso wie auf ihre von Brinkmann zum Teil sehr traditionell ausbuchstabierten poetischen Qualitäten.« (Schumacher 2006: 86)
Die exzessiv betriebene Offenlegung seines ›Autorenalltags‹ führt vor, was das Programm seines Werkes ist und verdeutlicht zugleich den Standpunkt des Autors als ausgewählten Ausschnitt von Ausschnitten, als inszenierte Collage, die in ihrer Übersteuerung und der Härte ihrer Schnitte in der Tat als Gegenstrom zum normativen Fluss des Informationsprogramms funktioniert. Immer wieder hören wir Schritte, aber sie scheinen nirgendwo hinzugehen, es spielt auf jeden Fall keine Rolle wohin sie gehen – sie haben keinen oder nicht zwingend einen Bezug zum Rest des Gehörten, dienen nicht der Choreographie von Raumverhältnissen oder stehen illustrierend als Orientierungsmomente und Referenzpunkte einer Handlung zur Verfügung. Die Schnitte wie die Schritte setzt Brinkmann im Gegenteil zur Verfremdung ein; er montiert disparate Räume, die außerhalb einer klassischen Tonstudio-Aufnahmesituation entstanden sind und im Originaltonraum der Produktion im Rundfunk für den Rezipienten hörbar montiert werden. Darüber entsteht im Akt des Hören eine Distanz, die medienästhetische Effekte ausstellt, das Hören insbesondere des Rundfunkprogramms selbst thematisiert und auf diesem Weg hörbar wie erfahrbar macht. Die Frage nach dem, was man hört, wird für den Rezipienten potenziell zur Frage danach, wie man hört, wie und auf welche Weise das Inszenierte im Medium Radio arrangiert ist. Sie richtet sich somit auch auf die damit einhergehende kritische Analyse der heterogenen Bestandteile und bezieht sich folglich auf die Inszenierung des Radiophonen in der Großinszenierung des Rundfunks: auf seine Formate. Im Freiraum der künstlerischen Produktionen innerhalb dieses Rahmens – der Sendereihe Autorenalltag – ist die Manipulation des auditiven Materials selbst die Voraussetzung jeder gestaltenden Arbeit. Es ließe sich also sagen, Brinkmann interpretiert die Schnitttechnik um: von einem Zerschneiden und zufälligen Arrangement hin zu bestimmten Wahrneh-
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mungsdispositionen. War die Sendung Die Wörter sind böse vom Autor als autobiografische Dokumentation angekündigt worden, so steht das Fragmentarische, zur Collage montierte Material derselben zu diesem Rahmen in einem permanenten Bezug. Die Reflexionen im Prozess des Produzierens teilen sich dem Zuhörer über dieses Spiel mit Rahmung und Offenlegung des Produktionsprozesses mit und stellen den Raum der Produktion als künstlich konstruierten aus. Auf diesem Weg erweist sich der Eindruck des Authentischen als Ergebnis einer Konstruktion und enttarnt sich als inszenierter Effekt, dessen irritierende Wirkung nur noch dadurch verstärkt wird, dass Brinkmann die Konstruktion von Authentizität zwischen Sprachskepsis, Medienbewusstsein wie -faszination einerseits permanent beglaubigt, andererseits aber auch unablässig fragwürdig erscheinen lässt. Die Technik stellt er dabei nicht in den Dienst des, bestenfalls störungsfrei, zu Ver- und Übermittelnden eines Inhalts, er macht sie sich zu eigen. In diesem Prozess der An- und Zueignung der Produktionsmittel als »hohe[r] Grad an Komplizität« beschreibt sich etwa der Komponist Mauricio Kagel im Umgang mit dem Instrument selbst als »voll des Respekts und zugleich ziemlich respektlos. […] Komplize heißt hier, immer bereit sein, nach Umwegen zu suchen, die in der Bedienungsanleitung des Geräts nicht erwähnt, nicht empfohlen oder schlicht nicht erlaubt sind« (zit. n. Schöning 1996: 63). Dieser Umgang mit der Technik kennzeichnet auch Brinkmanns Arbeit im Akustischen. Einerseits betrifft dies die Mikrophonaufnahmen als eine mit Schöning »durch die technische Apparatur gerichtete: Sie ist eine neue, zweite, eine zitierte Realität, ein Tonbandoriginal« (ebd.: 66). Ausgerichtet – sowohl was die Auswahl des Materials und die Parameter der Aufnahme als auch die Inhalte betrifft – wird diese vom Aufnehmenden, dem Autor-Regisseur, in Produktion wie Postproduktion selbst. Bei Brinkmann geschieht dies im bekannten Stil seiner Bild- wie Textkompositionen: offensiv subjektiv und hörbar in Schritt und Schnitt als alternative Spielanordnung zum sonstigen Programm des Rundfunks. Hans-Thies Lehmann beschreibt diesen »radikalen Subjektivismus« in Brinkmanns Prosa, Lyrik und Text-Bild-Montagen als »Moment eines Schreibens, das die Grenzen und Regeln von Literatur und Schrift erkundet und problematisiert« (1995: 182). Dies ist ebenso auf die grenzgängigen Experimente der Tonbandaufnahmen, nunmehr angesiedelt im Feld des genuin Akustischen, zu übertragen, in denen er seinen Blick als »Art des Blicks« und sein Sprechen in der Geste des Zeigens, als »doppelte Deixis« (ebd.:183), nicht im Akt des Schreibens und dem Akt des Lesens, sondern als zu Hörendes ent-setzt und der Rezeption aus-setzt. Der sanften Blende setzt er die Cut-up-Technik und den harten Schnitt als »kompositorische[n] Akt« (Schöning 1996: 68) entgegen. Andererseits werden
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die auf Tonträger aufgezeichneten akustischen Informationen in der Postproduktion mit Hilfe des »Bearbeitungssystem[s] akustischer Schrift« (ebd.: 65) für die Sendung Die Wörter sind böse geschnitten, neu arrangiert und entsprechend seiner Vorstellungen montiert: Die Abbildung seines ›Alltags als Autor‹ referiert damit einerseits insgesamt auf seine Arbeitsweise als Operieren in der »Präsenz des zeigenden Subjekts« (Lehmann 1995:185). Andererseits bezieht Brinkmann sodenn die Rahmenbedingungen dieses spezifischen Arbeitsumfeldes mit ein, um die Manipulation des Gesendeten als Alltag der Rundfunkarbeit in der Erfahrung und Begegnung mit der Institution – und neben seiner Skepsis der Sprache gegenüber – selbst wiederum zu problematisieren. Die Schnitte und Worte, Geräusche und Satzfetzen, der Klang seiner Stimme und die »Heftigkeit seiner Mitteilungswut« (ebd.: 187) schreiben sich nunmehr als Einkerbung in der Tonspur und als Spur, als »das Materielle des Ein-Drucks« (ebd.: 189), als »GraphoPhonie« (Meyer 1993) in das analoge Aufzeichnungssystem ein: Auch in den akustischen Arbeiten schiebt sich die Materialität der Bestandteile der Collage »vor die sprachliche Setzung von Bedeutungen« (Lehmann 1995: 184). Diese Augen-Blicke als Aus-Schnitte, im ständigen Werden und Vergehen im Akt des Zuhörens, die sich durch etwa den Schnitt (der sich nicht nur als solcher technisch vollzieht, denn Brinkmann benutzt durchgehend ebenso das Wort »Schnitt«, stellt dem Geräusch des Produktionsaktes solchermaßen die sprachliche Referenz selbst gegenüber) und die Montage aneinanderreihen, darin finden Brinkmanns »snapshots« und »Kurzzeitgedächtnisszenen«, als welche er seine Gedichte bezeichnet, eine weitere Realisation. Die technischen Entwicklungen wie der bewusste Umgang mit den Apparaturen, als Suche nach den diesen Medien inhärenten Darstellungs- und Inszenierungsweisen, und das »Ausbrechen aus [den] Begrenzungen kennzeichne[n] die Entwicklung der Kunst in diesem Jahrhundert« (Schöning 1996 :63).
V OM
ANALOGEN A UFZEICHNUNGSSYSTEM ZUM DIGITALEN S CHRIFTSYSTEM : H ÖRSPIELMACHER IM R AUM DES V IRTUELLEN Die Digitalisierung hat zu einer zunehmend verfeinerten Bearbeitung und Manipulation geführt, die Form und Inhalt auf vielfältige Weise verquickt und mit den Verschränkungen spielt. Erweitert sie das Spielmaterial selbst nicht beträchtlich, so erlaubt sie doch ihrerseits noch komplexer werdende Interferenzen medialer Formen. Schöning beschreibt den Schritt des Komponierens im Übergang von
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analogem Aufzeichnungssystem der Mehrspurtechnik in die »virtuelle Realität des digitalen Schriftsystems« als »ebenso einfach wie folgenreich« (2001: 251): »Das eingeladene akustische Material ist jederzeit abrufbar und an jeder beliebigen Stelle kann es einzeln und gleichzeitig mit anderen Elementen kompositorisch verbunden werden. Sichtbar und entzifferbar wird der akustische Vorgang gleichzeitig auf dem Monitor. […] Dieses Speicher-System, verbunden mit einer Vielzahl von miteinander auf dem Mischpult vernetzten elektro-akustischen Instrumenten, Klangerzeugern und Klangumwandlern, stellt ein ebenso gigantisches wie in seiner Spielbreite flexibles Orchester dar. Dieser digitale Daten-Container ist gleichsam Modell für eine weitaus größer dimensionierte mediale Unternehmung: Übertragen auf die Daten-Autobahnen des Internet macht es den daran angeschlossenen Konsumenten zum Produzenten selbstgestalteter Programme über die in den Mahlstrom eingespeicherten Daten und künstlerischen Werke.« (Ebd.)
»Der Konsument als Medienkünstler?« (ebd.) – dieser sich insbesondere in Hinblick auf Möglichkeiten der Interaktion und Partizipation stellenden Frage und den euphorischen Vorstellungen den neuen Technologien und ihren Folgen für das Hörspiel gegenüber begegnet Schöning dabei nüchtern und spart eine weitere Diskussion darüber aus. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung im Hörspiel und der programmatischen Öffnung nicht nur dieser Kunstgattung, sondern der »Genregrenzen überschreitenden und sich mit anderen Medien verbindenden Tendenzen« (ebd.: 258) in den Bereichen der Kunst des 20. Jahrhunderts insgesamt lassen sich gegenwärtige Produktionen betrachten, die intermedial operieren. Außerhalb des Radios, jedoch vielerorts in Koproduktionen mit öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten finden sich seit den 1990er Jahren Hörspiele, die eben Form und Inhalt spielerisch verquicken und die technische Apparatur dabei »nicht reproduktiv, sondern wie Instrumente produktiv [einsetzen]« (ebd.: 251), die etwa den Schnitt als kompositorischen Akt vorführen (ebd.: 256). Sie rekurrieren teils aktiv auf Vorläufer wie Brinkmann, sind aber über ihre künstlerischen Verfahren eindeutig in dem bereits ausgeführten Bezugsrahmen zu sehen. Dabei sind die Produktionsweisen im medialen Wechselspiel eben nicht von den künstlerischen Prozessen zu trennen. Regiekollektive finden sich heute genauso bei den radiophonen Produktionen wie im Theater und in der Performance. Rimini Protokoll etwa produzieren Hörspiele, bei denen Inszenierungen auf der Bühne oder im öffentlichen Raum als Ausgangsmaterial dienen, wie beispielsweise in den Hörspielen Deutschland 2 (WDR 2002) und Karl Marx – Das Kapital, erster Band (2007). Auf diesem Weg entstehen Reflexionen im Prozess des Produzierens, die sich dem Hörer über das Spiel und die Offenlegung des
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Produktionsprozesses mitteilen, in denen Autor, Regisseur und Darsteller identisch erscheinen und die Produktionsbedingungen als Stilmittel verwendet werden. Die Distanznahme zu dem Medium, in dem ein Stück entstanden ist, ermöglicht eine andere Rezeption auf Seiten der Hörer/Zuschauer. Sie loten die Möglichkeiten des akustischen Mediums als Spiel mit und zwischen den Medien, medienspezifischen Darstellungsweisen und deren Interferenzen aus. Die Spielformen des Rundfunks, ansonsten im Programm überwiegend streng reglementiert, werden performativ in Szene gesetzt, Teil der unkonventionellen Dramaturgie und dabei spielerisch reflektiert.
»Z ERFETZT VON E MOTIONEN «: P OESIE , S PRACHE UND F USSBALL Andreas Ammer und FM Einheit untersuchen in zahlreichen Produktionen ein weiteres Verhältnis, das in diesem Kontext relevant wird: die Beziehung von Live-Aufführungen und medialen Ereignissen. Die Künstler schälen die für sie in dieser Hinsicht medienadäquaten und radiophonen Strategien der auditiven Kunstform heraus und inszenieren das Hörspiel beispielsweise als Liveshow in Apocalypse Live. Dabei folgt Ammer bei allen seinen Produktionen – unabhängig von dem Medium, mit dem er gerade arbeitet – der Grundhaltung, die »Formate zum Äußersten zu treiben, sich aber trotzdem dem Medium selbst verpflichtet zu fühlen« (2012). Es ist die Fußball-Live-Reportage, die für ihn nach wie vor die Spielart im Rundfunk darstellt, die das einzulösen im Stande ist, was sie verspricht, nämlich die vermittelt unmittelbare Teilnahme am Spielgeschehen: »Alles teilt sich über die Stimme des Reporters mit, die Emotion und die Geschwindigkeit, mit der er redet. Man kann sich nie vorstellen, wo ein Spieler ist, wie er aussieht, aber trotzdem teilt sich das, was im Stadion passiert, eins zu eins mit. Da ist ein Medium bei sich selbst. Es versucht nicht, das was passiert, eins zu eins abzubilden. Der Reporter sagt nicht: Jetzt rennt er mit soundsoviel Stundenkilometern im spitzen Winkel und der Torwart steht viel zu weit in der rechten Ecke, dazu ist gar keine Zeit. Der ganze Inhalt muss sekundär produziert werden und er wird produziert durch die Aufregung des Reporters. Redet er schneller, heißt das, jetzt ist die Chance da und es ist völlig egal, wo der Spieler steht.« (Ebd.)
Dieses Faszinosum der Sportreportage haben Hörspielmacher bereits häufig zum Thema ihrer radiophonen Arbeiten gemacht bzw. dramaturgische Strategien zur
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Aufmerksamkeitslenkung adaptiert, wie z.B. Ror Wolf unter Mitarbeit von Jürgen Roth in u.a. Das langsame Erschlaffen der Kräfte (BR 2006). Mit Barbara Büscher gesprochen, rückt »[die] Verbindung verschiedener Aufführungspraktiken von Radiosendung über Performance und Konzert bis zur Bündelung in Festivals den Ereignischarakter von Radio als audio art wieder ins Zentrum«; solche Praktiken sind »flüchtig und transitorisch, sie erschöpfen sich in ihrer Gegenwärtigkeit, d.h. in ihrem dauernden Werden und Vergehen« (2011: 156). Als eine eindringliche Auseinandersetzung mit den Themen Fußball und radiophoner Berichterstattung dieser ›rituellen‹ Events erweisen sich Ror Wolfs Fußballhörspiele aus den 1970er Jahren, die der Stimme nach Sybille Krämer als »Spur des Körpers im Sprechen« (zit. n. Pinto 2012: 182) den Sprach- und Sprechbewegung nachspüren und als Fragmente rhythmisch montieren: Der Ball ist rund, Schwierigkeiten beim Umschalten, Die Stunde der Wahrheit und sieben weitere5. 2006 folgt abschließend die bereits genannte Radioreise in Gefilde des Sports mit Das langsame Erschlaffen der Kräfte. Das Hörspiel untersucht die Sprache der Live-Übertragung und macht diese – anders und neu zusammengesetzt – im Staccato durch das Montieren zentraler Momente im Fußballgeschehen, die für den ein oder anderen turbulente und aufwühlende Ereignisse im Gedächtnis abrufen mögen, im Nachhinein ungewöhnlich wahrnehmbar. Die Aufnahmen setzen sich aus Originaltönen von Reportern, Fans und Experten zusammensetzen und ziehen in ihren Bann. Durch den Rhythmus ihrer Schnitte und die Dynamik ihrer Sprache erzeugen sie eine Sogwirkung, die spannungsvoll dranbleiben lässt, in der Sprache auf- und der Sprachbewegung selbst nachgeht: in und mit Satzfragmenten und Wortsplittern, mit Originaltönen von den Stadionrängen und aus den Reporterkabinen. Emotionale Phrasen, Bruchstücke, Sätze, Satzfetzen und Worte – Material, das Ror Wolf zwischen 1971 und 1979 bei Fußballspielen mitgeschnitten hat, wird durch die Collage in neue Zusammenhänge gestellt. Kombiniert wird all das mit Gedichten, die Ror Wolf dem aufgeregten Ton der Übertragung entgegenstellt. Wolf spürt ebenso der Sprache dieser Momente nach wie Momenten der Sprachlosigkeit, wenn es nichts mehr zu sagen gibt – wenn die Leichtigkeit der Vermittlung längst schwer geworden, die Euphorie versiegt ist. Wenn nicht weiter spekuliert werden muss, besser: kann, wenn sich das spannungsvolle Hoffen trotz der aussichtlosen Lage von einem auf den anderen Augenblick in herbe Enttäuschung, in ein Erlahmen der Kräfte übergeht. Die Lust anzufeuern, brül-
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Wolf, Ror, Gesammelte Fußballhörspiele, hg. v. Jürgen Roth, München: intermedium rec. 2006.
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lend und voller Elan, bleibt im Halse stecken und die Körperkräfte geben ihren Dienst auf, Müdigkeit macht sich auf allen Seiten lähmend und resignierend breit.
Z WISCHEN K UNSTANSPRUCH , Q UOTENDRUCK UND B ILDUNGSAUFTRAG Dass Hörspielmacher immerzu neue Spielformen und Konstellationen erproben, zeigt sich an der Vielzahl gegenwärtiger Produktionen, die neue Hörräume erschließen und in tastender sowie experimenteller Kooperation eine Grenzüberschreitung zwischen den Kunstformen praktizieren. Besonders in den letzten Jahrzehnten finden sich dadurch verstärkt Spielformen im Hörspiel, die sich durch Medienkombinationen aus der rein akustisch vermittelten Sphäre des Rundfunks heraus und durch Kooperationen in audiovisuelle Zusammenhänge hinein begeben (vgl. u.a. Schöning 2006; Meyer 2008; Büscher 2011; Wodianka 2013). Damit überschreiten die auditiven Kunstwerke, in Anlehnung an performative Praktiken und Aufführungsformate etwa des postdramatischen Theaters, die Grenze zur Performance und zu den bildenden Künsten. Die Digitalisierung eröffnet Hörspielmachern, wenn schon keine wesentliche Erweiterung des Materials an sich, so doch eine Ausweitung der Spielräume, die Form, Inhalt und die involvierten Medien auf vielfältige Weise verquicken und mit den Verschränkungen spielerisch operieren. Wie es Hans-Joachim Lenger auf den Punkt bringt: »Die Möglichkeiten, die das analoge Radio barg, werden digital noch überboten. […] Hörspiel, Feature und Radiokunst eröffnen auch technische Perspektiven, die sie ebenso erforschen und anders gruppieren« (2012: 11). Dabei lässt sich nicht von einem Verschwinden der Intermedialität im Paradigma des Digitalen sprechen, da nicht nur die Formen der bisherigen Medien, sondern auch die Formen der Intermedialität digitalisiert werden (vgl. Schröter 2008). Die Digitalisierung erlaubt ihrerseits noch komplexer werdende Interferenzen medialer Formen und führt nach Georg Christoph Tholen zu einer zuvor unbekannten ästhetischen Disponibilität und Beliebigkeit der Konfigurationen, die wiederum, und das paradoxerweise, »eine medienunspezifische Darstellbarkeit von medienspezifischen Darstellungsweisen ermöglicht« (Tholen 1999: 16) aufgrund »der mediale[n] Nicht-Koinzidenz des digitalen Mediums mit sich selbst«, da hierdurch »nicht nur die vormaligen medialen Apparate simulierbar [werden], sondern auch bisher als medienspezifisch geltende Darstellungsweisen und Erzählformen« (ebd.: 22). Diese medialen Differenzen treten in den intermedialen
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Erscheinungsformen des Hörspiels in spannungsreiche Relationen und verändern jeweils die Spezifika der beteiligten Medien im Spannungsfeld von Medialität und Performativität, Quotendruck und Bildungsauftrag, in lustvollen Kooperationen von Künstlern und Künstlerkollektiven und der mancherorts programmatisch offenen und neugierigen Institution des Apparats. Auf diesem Wege entstanden und entstehen künstlerische Arbeiten, die – z.T. über die Differenz zum Audiovisuellen – genuin vom Akustischen her konzipiert werden und die den Medien eigenen Grenzen erforschen, verschieben und neu anordnen, Produktionen also, die praktizierender Teil unserer lebendigen Kultur sind. Und nur dann seien Kulturradioprogramme, so Wolfgang Hagen, »legitime Vermittler von Kultur« (2010: 24). Hagen unterstreicht dabei die Partizipation an der Kultur als Kulturarbeit: »Radio muss als ein Medium verstanden werden, das nicht nur ein Spiegel oder ein Abbild der Kultur bietet, sondern selber Teil von ihr ist« (2004: 6). Derart ist das Potenzial eines differenziellen, spielerischen Kulturbegriffs im Bereich des Hörspiels markiert – besonders auch für intermediale Konstellationen, die den sonst so blinden Fleck im Mediengebrauch, nämlich das Medium selbst, in seinem Eigensinn aisthetisch aufblitzen lassen und zur Erscheinung bringen. Unsere Wahrnehmung wird im reflexiven Spiel herausgefordert und die sonst im Fluss der Mitteilung unbemerkte Spur des Mediums avanciert selbst zur Botschaft, als »Welt erzeugend« wird diese dem akustischen Blick, der Wahrnehmung, preisgegeben. Dies markiert die zentrale Tatsache, dass Medien eben Logiken folgen, »die mit denen techno-ökonomischer Interessen nicht schon zusammenfallen« (Lenger 2012: 16) und deshalb zuvorderst im Dienste der Apparatur stünden. Den Spielräumen der Kunst ist es unter der Bedingung ihrer Unabhängigkeit, auch in der Institution des Rundfunks, möglich, mit den Logiken und Materialien, dem Medium und dessen spezifischer Materialität sinnliche Erfahrungen herzustellen, die auf diese Weise sonst nicht möglich wären und allenfalls in der Störung, also nicht intendiert, aufblitzen könnten. Der ›Freiraum für die Hörer‹, mit dem der Rundfunk heute teils selbst für sich wirbt, sollte sich in diesem Sinne eigentlich zu einem freieren Spielraum in Produktionsräumen entwickeln. Denn nur so ließe sich eine Kulturvermittlung gewährleisten, die nicht nur selbstbestätigend in Bezug auf sich und die Hörer agiert und damit zur Habitualisierung beiträgt, sondern die kritische Denk- und intermediale Zwischenräume eröffnet, den Zusammenhang von content und Form zu lockern vermag und Brüche mit dem Konventionalisierten und Normativen wenigstens am Rande des Kulturfunks zulässt. Es geht um Formate, die sich in Bewegung, im Fluss befinden und in einem Netz aus Referenzen und Referenzlosigkeit Relationen in den Klangräumen aktiv herstellen. Denn, so Lenger
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in Anschluss an Hagen, ein performativer Kulturbegriff setzt nicht weniger als die stete Bereitschaft voraus, das Format unserer Medien-Kulturprogramme in Teilen oder auch ganz umzustricken: »Deren Strukturen lassen sich nämlich nicht formalisieren; vielmehr sind sie beständig auf der Suche nach neuen Formen, die sie annehmen könnten. Nie ist eine Medientechnik nämlich bloßes Mittel« (Lenger 2012: 11). Hörspiele können und konnten immer schon auf die Ästhetik ihres Programms aus- und abstrahlen. Sie vermögen Hörkonventionen und -kulturen, die der Rundfunk selbst als – mit Golo Föllmer gewendet – »tief im kollektiven Bewusstsein verankerte Kulturform« (2013: 321) institutionalisiert und ausgeprägt hat, offenzulegen und zu irritieren. Sie initiieren neue Formen und bespielen alternative Räume in neugieriger Zueignung. Somit implementieren gegenwärtige Hörspielmacher diese Reflexion über das Medium auch ins Hörspiel selbst: als gegenseitige Durchkreuzung von Werk und Parergon in stets unabgeschlossenen und aufgeschobenen heterogenen Räumen, die das Hörspiel und seine Möglichkeitsräume anders und neu zu denken erlauben.
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BLICKRICHTUNGEN
Desillusionierte Blicke in der Fotografie Heterotope Verfahren in der Medienkunst N ADJA E LIA -B ORER Ein Bild ist ein Gewebe von Zitaten, die aus unzähligen Ecken der Kultur stammen. SHERRIE LEVINE
»Wir befinden uns«, in den Worten Michel Foucaults, »[…] in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtapositionen, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind […] in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt« (1992: 34). Diese Momente der Juxtapositionen werden als heterogene Räume, näherhin als »Heterotopien« reflektierbar, welche die »sonderbare Eigenschaft haben, sich auf alle anderen Platzierungen zu beziehen, aber so, dass sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren« (ebd.: 38). Heterotopien verfügen daher über das Vermögen an einem einzigen Ort »mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind« (ebd.: 42). Die skizzierten Eigenschaften heterotoper Verfahren, die Momente der Verflechtung, Durchkreuzung und Infragestellung von Gleichzeitig-Ungleichzeitigem im Sinne von Platzverweisen in den Fokus rücken, lassen sich gegenwärtig in zahlreichen kulturellen Praktiken beobachten. Im Folgenden werde ich deshalb versuchen, solche heterotopen Strategien in der zeitgenössischen, vorwiegend künstlerischen Fotografie nachzuzeichnen, da ihre Re-Inszenierungen und Montagen neuartige Bild- und Denkräume erzeugen. Fotografien sind, wie andere (visuelle) Medien auch, an der kollektiven Imagination von Wirklichkeit und Welt mitbeteiligt. Sie konstituieren den Rahmen und (re-)produzieren Blickordnungen, die die gezeigte Realität auf je spezifische
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und unterschiedliche Weise darstellen und die alltägliche Wahrnehmung derselben prägen. In ihren Anfängen und den darauf folgenden Jahrzehnten wurde die Fotografie größtenteils dem Anspruch der ikonischen Evidenz unterstellt, da das älteste der technischen Reproduktionsmedien gleichsam acheiropoetisch Abbildungen der Natur herzustellen vermochte. Bereits William Henry Fox Talbot stellte in diesem Sinne seinem Buch The Pencil of Nature (als einem der ersten mit Fotografien illustrierten Büchern) den wegweisenden Hinweis voran, »[t]he plates of the present work are impressed by the agency of light alone, without any aid whatever from the artist’s pencil. They are sun-pictures themselves […]« (Talbot 1981: 89). Eine solche Autogenese des fotografischen Bildes wurde ebenfalls zur Kategorisierung und Beschreibung des damals neuen Verfahrens der Daguerreotypie eingesetzt, deren Artefakte als »vom Himmel herabgefallene Abdrücke« (Kunstblatt 24.9.1839: 306, zit. n. Stiegler 2010: 20) oder gar als »durch Sonnenstrahlen hervorgebrachtes Bild« (ebd.) bezeichnet wurden. Die zuvor unbekannte Perfektion des chemisch-optischen Verfahrens der Lichtschrift schien sämtliche Bemühungen um mimetische Wiedergabe der Wirklichkeit, wie sie in anderen Künsten seit Jahrhunderten mehrheitlich angestrebt wurde, uneinholbar zu übertreffen. Einer der ersten Kunstkritiker, Jules Janin, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts über das neue Medium berichtete, äußerte sich sogar unter Bezugnahme auf die Heilige Schrift: »Es gibt in der Bibel die schöne Stelle: ›Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht‹. Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: ›Werdet Bild!‹ und die Türme gehorchen« (Janin 1980: 47). Das Noema dieses Mediums lässt sich daher, wie Roland Barthes detailliert in seinem Essay Die helle Kammer ausgeführt hat, anhand seiner Indexikalität und seines Referenzcharakters beschreiben. Die Realität der Fotografie zeigt sich demnach auf eigentümliche Weise als »die des Dagewesenen, denn in jeder Fotografie steckt die stets verblüffende Evidenz: so war es also« (Barthes 1990a: 39). Zu Unrecht wurde Barthes’ Essay in den letzten Jahren in Anbetracht der digitalen Zäsur vielfach kritisiert und übersehen, dass er überaus konzise die Paradoxien des Mediums und des Fotografischen bereits in ihrem analogen Zeitalter zu bestimmen versuchte, indem er das seltsame Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit als »[g]ewiß ist das Bild nicht das Wirkliche: Aber es ist zumindest das perfekte Analogon davon« (Barthes 1990b: 12f.) bezeichnet hat. Bereits die Auswahl des Ausschnitts von Fotografien und die mit dem Eintreten in die symbolische Ordnung entstehenden konstitutiven Konnotationen verweisen auf den zentralen prekären Realitätsstatus und auf die genuine Doppellogik des Fotografischen. Letztere verweist, wie u.a. Rosalind Krauss (2000) detailliert erörtert hat, auf das fortwährende ver- und aufschiebende Oszillieren zwischen Index und Ikon, das insbesondere im Rahmen künstlerischer Reflexio-
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nen über das Medium Fotografie thematisch wird. Diese Prekarität, die der Fotografie seit jeher anhaftet, zeigt sich in der bildlichen Medialität, die bereits eine Abstraktion auf eine zweidimensionale Fläche, abhängig von Perspektive, Cadrierung (Stiegler 2010: 403ff.) und vielem mehr darstellt. So war beispielsweise bereits der piktorialistische Stil, der um die Jahrhundertwende nach der Erfindung des Mediums aufkam, darum bemüht, die Kunstfertigkeit der Fotografie mit dem Einsatz malerischer Effekte zu betonen. Fotografen wie O. G. Rejlander oder H. P. Robinson erprobten den faszinierenden Freiraum des Fotografischen anhand manueller Kolorierung, Retuschierung, der Verwendung gemalter Hintergründe in Fotoateliers, der Bearbeitung der Negative oder des Einsatzes zahlreicher Zitate bekannter Kunstwerke sowie literarischer Motive, um ein offenes Spiel unterschiedlicher Bildsprachen und Bildrealitäten zu ermöglichen (Foucault 2002; vgl. auch Holert 2003). Die mediale Einrahmung von Wirklichkeit und die Desillusion einer ›unmittelbaren‹ Abbildung derselben wurde in zahlreichen historisch variablen Kontexten und Diskursen immer schon befragt und mit der Zäsur der digitalen Codierbarkeit nur noch vordergründiger. Obschon bereits im 19. Jahrhundert Verfahren, die die künstlerische Qualität des Mediums in den Vordergrund stellten und mit den technischen Spielräumen experimentierten, Verwendung fanden, wurden diese Eingriffsmöglichkeiten mit Hilfe von Computerprogrammen seit den 1980er Jahren in zuvor unbekanntem Maße erweitert und ausdifferenziert: »Durch die Ablösung der chemisch-physikalischen durch die digitalen Produktionssysteme kann mit Hilfe des Computers der Künstler Fotografien morphen, klonen, überlagern, filtern […] und sogar so lange um einen Punkt kreisen lassen, bis es aussieht als würde das Fotografische von einem schwarzen Punkt verschluckt.« (Lunefeld 2002: 165)
Die durch die Digitalisierung hinzugewonnenen Möglichkeiten der Manipulation scheinen die Fotografie von dem Diskurs und Phantasma der unmittelbaren Evidenz und Wirklichkeitsabbildung vollends abzulösen und dem imaginären sowie ikonischen Vorstellungsbild näher zu bringen, wodurch, William J.T. Mitchell paraphrasierend, die grundlegende Unterscheidung zwischen Imaginärem und Realem sowie künstlerischer und dokumentarischer Fotografie hinfällig würde (2001). Doch, wie unter anderem Bernhard Stiegler zu Recht argumentiert, »wer würde behaupten wollen, dass Photographien immer wahr gewesen wären? Sie waren immer schon Ausschnitte, die beanspruchten, ein Ganzes zu sein […]. Die Digitalisierung fügt diesen Faktoren eine Veränderung des Bildträgers hinzu […]« (2010: 413f.). Obschon damit das »Dubitative« zu einem zentralen Moment des Fotografischen arriviert (vgl. Lunefeld 2002), scheinen die Diskurse
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der Authentizität, Legitimation sowie Stereotypisierung von Ethnien, Gender usf. und damit verknüpft der Anspruch auf eine potenzielle Möglichkeit der unmittelbaren Abbildung von Realität immer noch nicht – wenn auch als Gespenster1 – abgeklungen zu sein. Besonders die unter dem ›Label‹ Dokumentarfotografie verhandelten Bilder und die Dekonstruktion derselben als Mythos sowie Diskurs verdeutlichen paradigmatisch die skizzierten Paradoxien und Doppellogiken des Fotografischen. Wäre der Begriff des Dokumentarischen noch im 19. Jahrhundert quasi als Tautologie figuriert, beförderte seine Einführung in den 1920er Jahren eine Typologiebildung spezifischer fotografischer Praktiken, Stile oder sozialkritischer Haltungen von Fotografinnen und Fotografen. Der Begriff des Dokumentarischen konturierte die Fotografie von neuem als Zeugnis und Dokument, als neutrale Wiedergabe der Wirklichkeit, um sie als Instanz des Bezeugens und der Fixierung spezifischer historischer Ereignisse strategisch einzusetzen (vgl. Price 2000). Das vielfach eineindeutig imaginierte Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit, das zugleich durch die vorgängige Verwendung des Mediums in Bereichen wie der Kriminalistik, Psychiatrie oder Kolonialisierung unterstrichen wird, hat sich in zahlreichen theoretischen Ansätzen und Projekten bis weit ins 20. Jahrhundert und teilweise auch bis heute aufrechterhalten können. Wenig überraschend scheint es daher, dass die grundlegenden argumentativen Verbindungslinien zwischen der Fotografie und dem Begriff des Dokumentarischen aufgrund der technologischen Grundlagen des Mediums, darin den Beschreibungen des 19. Jahrhunderts folgend, zu zementieren versucht wurden. Emblematisches Beispiel für die Zuschreibung eines wahrhaftigen Abbildvermögens sind die im Rahmen der Farm Security Administration (FSA) entstandenen Bilder, die gleichsam eine Erweiterung des Dokumentarischen in der Fotografie um die Kategorie des Sozialen einläuteten. Das 1935 von der RooseveltRegierung neu geschaffene Landwirtschaftsministerium sollte in Verbindung mit der New-Deal Politik die ›schlechten‹ Lebensbedingungen der von der ökonomischen Krise am meisten betroffenen Landbevölkerung untersuchen und diese zugleich mittels eines Hilfsprogramms zu verbessern versuchen. Um diesen Auftrag zu bewerkstelligen wurde eine Gruppe von Fotografinnen und Fotografen, unter ihnen die heutzutage zu Ikonen der Dokumentarfotografie avancierten Fotografen Walker Evans, Dorothea Lange, Arthur Rothstein oder Gordon Parks beauftragt, vor Ort die Situation der Landarbeiter und Kleinpächter als participant observers festzuhalten. Bei diesem Projekt ging es nicht allein darum, be-
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Vgl. den Beitrag von Abigail Solomon-Godeau in diesem Band.
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stimmte ›Gegebenheiten‹ indifferent aufzuzeichnen, sondern, gemäß der Vorgabe einer sozial engagierten Praxis, das in den Bildern Dokumentierte als veränderungsbedürftig zu kritisieren sowie die Öffentlichkeit und die Politik im Sinne eines breit angelegten PR-Programms vom Nutzen reformerischer Maßnahmen zu überzeugen. Die daraus entstandenen Bilder sollten den Rezipienten direkt unter die Haut gehen, zum Mitgefühl und zur Handlungsbereitschaft anregen (vgl. Tagg 1993). Die aus dem Programm hervorgegangenen Bilder unterlagen klaren Vorgaben des Leiters des Projektes, Roy Striker, der bei der Auftragsvergabe die auf den Fotografien festzuhaltenden Regionen und die Tätigkeiten der Landbevölkerung zur Bedingung machte. Des Weiteren wurden den Fotografinnen und Fotografen spezifische kompositorische Anordnungen nahegelegt, woraus eine bestimmte ›Atmosphäre‹ sowie Pathos aus den Bildern sprechen sollte. Die Bilder fokussierten daher den Blick insbesondere auf eine ›beschönigte‹ Armut, d.h. es wurden, wie Abigail Solomon-Godeau detailliert beschrieben hat, vorwiegend »würdige […] im Gegensatz zu den unwürdigen Armen« (2003: 67) gezeigt. Problematisch hierbei ist, dass die Kontexte und Strategien wie die Dimension des »Politische[n], dessen Determinanten, Handlungen und Instrumentalisierungen« (ebd.: 68) als blinder Fleck fungieren. Eines der paradigmatischen Beispiele hierfür ist sicherlich die wohl weltweit am meisten reproduzierte Fotografie der Migrant Mother von Dorothea Lange (vgl. Abb. 1; Rosler 1989). Darauf ist eine Wanderarbeiterin gerahmt von ihren zwei Kindern zu sehen, der Kontext bleibt dem engen Bildausschnitt geschuldet nicht einsehbar. Die Mutter blickt sorgevoll, den aus der abendländischen Kunstgeschichte präcodierten Melancholiegestus als bloße Geste reproduzierend, in die Ferne und zieht hiermit die Aufmerksamkeit der Betrachterin oder des Betrachters auf ihren Gesichtsausdruck, wodurch eine äußerst individualisierende und personifizierende Wahrnehmung fokussiert wird. Im Gegensatz zu dem von den meisten Dokumentaristen seit Mitte der 1920er Jahren angestrebten dichten Informationsgehalt, wie dies unter anderem teilweise Arbeiten von Lewis Hine oder avant la lettre von Jacob Riis veranschaulichen, wird durch die Loslösung, oder anders gesagt, durch das explizite Verbergen des Kontextes, ein Sinnbild für ein selbstverursachtes und »individuelles Unglück« (Solomon-Godeau 2003: 67), das zugleich universalisiert wird, hervorgerufen. Mehr noch, wie Kerstin Brandes argumentiert, veranschaulicht die Migrant Mother vornehmlich »durch ihre Rahmensetzung das Dokumentarische der Dokumentarfotografie in besonderer Weise« (Brandes 2010: 94), indem das Artefakt in einen Diskurs eines Ideal-Bild-Typus eingebunden wird. Diese diskursive Rahmung wiederum tradiert das ›personifizierte Schicksal‹ der ›Migrantenmutter‹ zu einem Symbol »idealisierter (mütterlicher) Weiblichkeit« (ebd.) von allgemeingültiger, natürlicher sowie ahistori-
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scher Bedeutung. Vortrefflich findet sich diese Artikulation auch im Kommentar des FSA-Projektleiters, der in Bezug auf das Bild konstatierte: »[Y]ou can see anything you want to in her. She is immortal […]« (zit. n. ebd.).
Abbildung 1: Dorothea Lange, Migrant Mother (1936)
Martha Rosler (1989), Abigail Solomon-Godeau (1997) und John Tagg (1993) haben an diesem paradigmatischen Beispiel aufgezeigt, dass das Dokumentarische in der Dokumentarfotografie kein ontologisches Kriterium darstellt, sondern in je spezifische soziokulturelle und politische Praktiken eingebunden ist, die ihrerseits nie außerhalb von Macht-Wissens-Quotienten zu verorten sind. Anders gewendet, das zu Kritisierende wird nicht schlicht naturgetreu in Fotografien wiedergegeben; vielmehr (re-)produzieren solche Bilder zuallererst das, was sie als veränderungsbedürftig beanstanden2.
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Ein weiteres Beispiel der Verquickung von Evidenz- und Naturalisierungseffekten unter Verwendung von fotografischen Bildern ist die von Edward Steichen kuratierte Ausstellung The Family of Men, die erstmals 1955 im MoMA in New York gezeigt,
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Neuere Kritiken der Kulturwissenschaften am Dokumentarischen der Fotografie versuchen daher aufzuzeigen, dass die bloße, vermeintlich ›gleichgültige‹ Wiedergabe einer Realität wenig über die Realität als solche auszusagen vermag. Vielmehr ist die Fotografie als diskursive Praxis zu analysieren, d.h. als eine Form der Herstellung von Bedeutung, die in je spezifische historische Kontexte von Macht und Wissen eingebunden ist. Die Kategorie des Dokumentarischen ist in diesem Denkhorizont nichts weniger als selbst eine kulturell konstruierte Kategorie, die sich weder anhand von Produktionsmodalitäten noch eines fotografischen Stils bestimmen lässt. Will sich die (dokumentarische) Fotografie als gesellschaftskritische und politische Praxis entfalten, die heterotope Räume herausbildet und hiermit ein anderes Denken in und über Fotografien ermöglicht, so bedarf es einer fortlaufenden Befragung der eigenen diskursiven Formation sowie der normativen Rahmungen. Das Reflektieren soziokultureller sowie politischer Diskurse sowie das In-Frage-Stellen des Evidenz-Versprechens des Mediums Fotografie werden daher gleichermaßen in zahlreichen, vorwiegend künstlerischen Herangehensweisen an das Fotografische miteinander verwoben. Daher möchte ich im Folgenden anhand von drei Beispielen die variierenden Spielräume, die je unterschiedlich den paradoxalen und heterotopen Charakter der Fotografie ausloten, diskutieren.
Z UR K RITIK DES INSTITUTIONELLEN R AHMENS UND E TABLIERUNG EINES POSTMODERNEN B ILDBEGRIFFS Die sich in den ausgehenden 1970er Jahren in New York etablierende Appropriation Art umfasst vorwiegend Künstlerinnen, wie beispielsweise Cindy Shermann, Sherrie Levine, Elaine Sturtevant, Louise Lawler oder Andrea Fraser, die
daraufhin weltweit an vierzig Orten präsentiert wurde und in der Zwischenzeit zur meistbesuchten Fotografieausstellung avanciert ist. Steichen hat ein Bildensemble ausgewählt, das 37 Thematiken, wie z.B. Liebe, Krieg, Arbeit, Familie, Geburt usf. mit einem ubiquitär gültigen Anspruch entfaltet und einen differenzlosen Konsens eben dieser Kategorien entfaltet, indem das Medium Fotografie als eine allgemeingültige, eingängige Sprache konzeptualisiert wird. Die Ausstellung wurde von zahlreichen Theoretiker_innen aufgrund ihrer ideologisierenden Sprache, die durch das Ausblenden der Differenzkategorie zahlreiche Aus- und Einschlussmodalitäten vornimmt und dadurch gleichsam eine Naturalisierung von Kultur und Geschichte befördert, kritisiert (vgl. u.a. Barthes 2003a; Sekula 1982; Back/Schmidt-Linsenhoff 2004).
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mit Verfahren der »Aneignung von Aneignung« (Crimp 1996a) sowie der Reproduktion von Reproduktion die immer schon von Zitation mitkonstituierte visuelle Kultur betonen. Unter Verwendung unterschiedlicher Medien werden insbesondere Konzepte der Autorschaft, der Originalität oder des künstlerischen Handwerks, die größtenteils dem männlichen Künstlergenie zugesprochen und von der zumeist maskulin dominierten Institution Kunst als Topos aufrechterhalten und tradiert wird, grundlegend und im Rahmen einer kritisch feministischen Re-Lektüre hinterfragt (vgl. Crimp 1996a). Die zitathaften ReFotografien, die oftmals Motive aus dem Kunstkanon wiederverwenden, erheben in keinerlei Weise Anspruch auf eine eigene künstlerische Leistung entsprechend dem auf Originalität beruhenden Schöpfertum. Die in Anlehnung an die Konzeptkunst verpflichtete Strategie der appropriierenden Kunstpraxis fokussiert – quasi als Wegbereiter eines postmodernen Bildbegriffs – nicht vordergründig den Inhalt der Arbeiten sondern vielmehr die diskursive Rahmung der unlängst zur kommerziellen Ware gewordenen Kunst. Die Reflexion dieses appropriierenden Diskurses kritisiert die von Marketingstrategien vereinnahmte Kunstwelt, indem die künstlerischen Produktionsbedingungen, Präsentationsarten und Rezeptionsweisen hinterfragt werden (vgl. Römer 2001). Kunstinstitutionen werden als spezifische Dispositive von Macht und Wissen begriffen, deren fortwährende Naturalisierungseffekte in ihrer normativen Struktur ex-poniert und so in ihrer Frag-würdigkeit sichtbar gemacht werden sollen. So verdecken Kunstinstitutionen ihre »Definitionsmacht, die Tatsache also, dass sie erzeug[en] und mitdefinier[en], was sie nur zu präsentieren« vorgeben und erscheinen als vermeintlich neutrale Vermittlungsinstanzen »von – kunsthistorischem und anderem – Wissen« (Marchart 2005: 39; vgl. auch Marchart 2008). Durch die Aneignung ›fremder‹ Bildlichkeit werden mittels unterschiedlicher Praktiken »Gegenmythologisierungen« (Barthes 2003b) erprobt, die via Re-Codierung des vorhandenen Bilderrepertoires die normativen Strukturen des ›Bildschirms‹ und des ›Blickregimes‹ (vgl. Silverman 1997; Elia-Borer/Sieber/Tholen 2011) transformieren. Das postmoderne Bildkonzept der Appropriation Art geht nicht länger von der Annahme aus, dass in den Kunstwerken und ihren vermeintlich innewohnenden Bedeutungsschichten eine verborgene bzw. ›höhere‹ Wahrheit liegen würde. Vielmehr verschiebt sich der Blick auf die Performativität von Bildern und die Diskurse des Kunstsystems, welche die Bedeutungsproduktion in einem heterogenen Zwischenraum zwischen den Bildern konstituieren (vgl. Schade/Wenk 2011; Krauss 2000; Holert 2000; Mirzoeff 2011). Dem fotografischen Medium kommt in den performativen Bildpraktiken der Aneignungskünstler_innen eine herausragende Stellung zu: Sherrie Levine thematisiert in ihren seit den 1980er Jahren entstandenen Arbeiten, wie z. B. After Walker Evans
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(1981) die Fotografie als »ständige, immer-schon-gesehene Repräsentation«, in dem das ›Original‹ gar nicht erst als »lokalisierbar« gelten soll (Crimp 1996b: 133). Das fortlaufende Verweisen mittels Re-Repräsentation auf ein immer schon uneinholbares ›Original‹ wird zur ›Dis-Position‹ gestellt. Die Aneignung von fotografischen Vorlagen wird daher von Levine nicht zur Herausbildung einer eigenen Handschrift vorgenommen, sondern um mit Hilfe einer Kopie der Kopie »konzeptuelle Reproduktionen« anzufertigen, die »anhand der Wandlung ihres Kontextes die Feststellung ikonografischer Ähnlichkeit als ideologische und mangelhafte Aussage über künstlerische Praxis« (Römer 2001: 117) exponiert3. Auch Louise Lawler reflektiert in ihren Arbeiten, die dem Konzept der »Art about Art« verpflichtet sind, die diskursiven Rahmen- und Präsentationsbedingungen von Arbeiten im Kontext von privaten Sammlern, Galerien und Museen. Im Gegensatz zu Levine reproduziert sie keine Vorlagen in ihrer Ganzheit, sondern kommentiert in ihren Fotografien, die fragmentarische Ansichten von Ausstellungs-Displays zeigen, die Art und Weise des Zeigens, d.h. wie die Anordnung vom institutionellen Rahmen »das ›Verstehen‹ des Zu-Sehen-Gegebenen mit strukturiert« (Schade/Wenk 2011: 143). Handelt es sich bei den Bilderarrangements um vermeintliche ›Dokumentationen‹ von Sammlungen, verweisen die Betitelungen, wie beispielsweise This discourse is not only what you see, it is through which you see, und die durch den Ausschnitt gewonnene Re-Inszenierung der Kunstwerke auf vollends andere Fragestellungen der Künstlerin. Lawler ›dokumentiert‹ nicht lediglich indifferent vorgefundene Inszenierungen von Kunstwerken, wie es einer klassischen dokumentarischen Praxis entsprechen würde. Ihre Fotografien präsentieren die kanonisierten Werke anderer Künstler_innen größtenteils frappant angeschnitten oder veranschaulichen ansonsten unbeachtete Elemente, wie z.B. Beschriftungen von Auktionshäusern (Abb. 2). Eben diese Verschiebung des Interesses vom Inhalt und Motiv des repräsentierten Werkes als sinnstiftende Einheit auf seinen diskursiven Rahmen, vermag die zahlreichen Schichten von Sicht- und Sagbarkeit des Kunstsystems aufzuzeigen. In Hinblick auf die Fotografie als Medium eröffnet sich jedoch noch eine weitere Ebene, die in den Untersuchungen zur Appropriation Art viel-
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Wie bei anderen Arbeiten, lässt sich auch am Beispiel After Walker Evans (1981) eine genuin divergierende Intention des Motivs ausmachen. Stand bei Evans der ›dokumentarische‹ Inhalt als ›Zeugnis‹ und als der Fotografie zugesprochener Stil im Vordergrund des Interesses, verschiebt Levine die Aufmerksamkeit, angedeutet in dem der Fotografie hinzugefügten Passepartout und Rahmen, auf den metaphorischen »Parergon« der Arbeit (vgl. Derrida 2008).
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fach unbeachtet geblieben sind: Die Paradoxien, die der Fotografie seit jeher anhaften, ihr »doppelter Status, zugleich ein gemachtes Bild und ein Bild von etwas zu sein, der meist mit einer Einordnung in die Register von Ikon und Index einhergeht« (Brandes 2010: 55), wird persifliert. Die Fotografien Lawlers verwenden den dem Medium zugeschriebenen Abbildungs- und Evidenzcharakter, um dadurch die Diskurse des Kunstmarktes und ihrer Institutionen zuallererst aufzuzeigen.
Abbildung 2: Louise Lawler, Pink (1994/1995)
Indem die fotografischen Rekonfigurationen der Künstlerin jedoch bereits inszenierte Bildarrangements fragmentarisch ›re-dokumentieren‹, verweisen diese auf die Vielfältigkeit von Anschauungsoptionen und hiermit zugleich auf die medienspezifische Konstruktion des fotografischen Rahmens, der je spezifische Betrachtungsweisen von ›Wirklichkeit‹, nie aber diese selbst, liefert (vgl. Tholen 2002a; 2002b; 2007).
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Z UR D EKONSTRUKTION VON »B RING THE W AR H OME !« O DER : K RIEGSFOTOGRAFIE RE - VISITED Ähnlich den Künstler_innen der Appropriation Art dienen auch Martha Rosler – Theoretikerin und Künstlerin – vorhandene Bilder als Ausgangslage für ihre politisch codierte Kunst und ihren kritisch-analytischen Ansatz, der die Strukturen der Bedeutungsproduktion, die Mechanismen der Zirkulation von Bildern sowie die ihnen zugrundeliegenden normativen Effekte befragt (vgl. Breitwieser 1999). Der in den ausgehenden 1960er Jahren besonders in den USA präsente Anti-Kriegs-Slogan »Bring the War Home!« erfährt in den Serien Bringing the War Home: House Beautiful (1967-1972) und Bringing the War Home: House Beautiful, New Series (2004-2008) weitere Verwendungen und Bedeutungsverschiebungen. Die Fotocollagen der ersten Serie, gedacht als Agitationsmittel und reproduziert als Flyer für Protestkundgebungen, verknüpfen Abbildungen aus der Tagespresse und Zeitschriften, allen voran dem Magazin Life und dem Wohnmagazin House Beautiful (vgl. Schube 2005; von Bismarck 2005). Auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs, der mittels der Television in zuvor unbekanntem Maße die Kriegsgeschehnisse quasi »ungefiltert« in die privaten Wohnzimmer vermittelte, verknüpft Rosler die scheinbar unvereinbaren Kategorien wie ›Hier‹ und ›Dort‹ sowie ›Privat‹ und ›Öffentlich‹ in ihren Arbeiten, um die Verflechtungen politisch-ökonomischer Parameter aufzuzeigen, auch unter Rückgriff des von Sigmund Freud detailliert ausgearbeiteten Verhältnisses von »heimisch/unheimlich« (Freud 1999). Die in den Arbeiten vollzogene ReKonfiguration einander (scheinbar) diametral entgegengesetzter Räume bringt außerdem zentrale Momente gouvernementaler Strukturen ins Wanken, da sie die Prekarität des produktiv auf Sicherheit ausgelegten Versprechens und der Bannung von Gefahren seitens der Regierung herausstellen (vgl. Hentschel 2008). Vorgefundene Abbildungen, teilweise aus ein und derselben Zeitschrift entnommen, werden in den New Series digital als Collage zusammengeführt, um dadurch die Verflechtung von widersprüchlichen Aussagen in Beziehung zu setzen (vgl. Abb 3). Photo-op (2004) beispielsweise präsentiert der Rezipientin oder dem Rezipienten einen dem bürgerlichen Chic entsprechenden Wohnraum, der sämtlichen Erwartungshaltungen zuwider läuft: Die großangelegten Fenster gewähren nicht einen gewohnt »schönen« Ausblick auf die Landschaft oder Stadt, sondern zeigen ein Kriegsgeschehen unmittelbar vor der Haustür. Das detailliert ausgeklügelte Arrangement der Innenarchitektur, das der Figur im Vordergrund – einem Model – zu entsprechen scheint, wird jäh durch die Präsenz zweier lebloser Kinder, platziert auf Sesseln, welche gleichsam eine Zwischenzone oder Passage zwischen den beiden Ebenen bilden, gestört.
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Abbildung 3: Martha Rosler, Photo-op aus der Serie House Beautiful (2004)
Das Moment des asymmetrischen Krieges mit all seinen Implikationen ignorierend interagiert die dem westlichen Schönheitsideal entsprechende Figur mit einem Smartphone auf dessen Display ein Porträt eines Soldaten oder Terroristen visualisiert ist. Wie der Titel der Arbeit veranschaulicht dieses Motiv auf komplexe Weise die Vielschichtigkeit der gegenwärtigen ›photo opportunity‹: Posiert das Model für eine Fotografie? Hat sie soeben ein für die Medien ›adäquates‹ Bild (eines Soldaten/Terroristen) festgehalten? Oder unterhält sie sich qua Videotelefonie? Im Gegensatz zur Bringing the War Home-Serie aus den 1970er Jahren verweisen die Arbeiten aus den 2000er Jahren außerdem auf die Vieldimensionalität und Ausdifferenzierung der Medien sowie Bildformen angesichts der Digitalität. Die Verdoppelung der Figur im Vordergrund initiiert ein Bewegungsmoment, das intermedial auf das Filmische oder Televisuelle verweist und – auf Originalität bedachte Diskurse der Kunst explizit persiflierend – die Frage nach der aufund verschiebbaren Wiederholung stellt. In Anbetracht des Motivs der Arbeit kann diese Verdoppelung jedoch auch als kritische Reflexion über die Gleichförmigkeit und Banalität der medialen Kriegsberichterstattung sowie des in den Medien (re-produzierten) Mode- und Schönheitsdiskurses gelesen werden.
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V ERFÜHRUNGSTAKTIKEN MITTELS EINER S CHWEIZ
ANDERER
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B ILDRÄUME
Das Basler Künstlerpaar Monica Studer und Christoph van den Berg befragt in ihren seit den 1990er Jahren gemeinsam konzipierten postfotografischen Arbeiten die Beziehung von Illusion und ›Wirklichkeit‹ sowie von Aisthesis und Erinnerung anhand unterschiedlicher als Klischee fungierender Bilder der Schweiz. Diese Reflexion des medial geprägten Zugangs zur »Welt« und der Verschiebungen der Wahrnehmungsmodalitäten mit der Zäsur der Digitalität wird von Studer/van den Berg ausschließlich unter Verwendung des Computers vorgenommen (vgl. Baur 2001). Die postfotografischen Arbeiten, losgelöst von jeglichem Referenten, bilden weder reale Orte ab noch verwenden sie fotografische Vorlagen. Nichtsdestotrotz dienen mannigfaltige Klischees, Postkartenansichten, touristische Prospekte sowie Stile der traditionellen Alpenmalerei als Vor-Bilder für das Zitieren schweizerischer Nationalitätstopoi, die jedoch dergestalt recodiert werden, dass bestimmte Stereotype in Form von »digitalen Heimatgefühlen« (Rusterholz/Petko 2005) re-konfiguriert werden. Die Spielräume der marketingstrategisch mit Emotionalität versehenen Werbebilder der Schweiz werden in ihrem idealtypischen Abstrahieren so überzeichnet, dass die in den Medienbildern vorliegende Verführungskraft dekonstruiert und zur Kreation für andere Bilder der Schweiz ver-wendet werden kann. Die Templates, deren Anstoß das seit 2001 prozessual erweiterte Netzkunstprojekt Hotel Vue des Alpes bildet, zeigen akribisch arrangierte Gegenstände, die an kollektive Erinnerungsfragmente der 1960er und 1970er Jahre geknüpft sind. Die Schablonen, die gleichsam ein postfotografisches Gegenstandsarchiv einer Schweiz bilden, zeigen liebevoll inszenierte Details von fiktiven Landschaften, Wanderwegen, Hoteleinrichtungen oder Objekte die im Schweizer-Kulturspeicher tief verankert sind, näherhin Produkte wie beispielsweise Rivella, Menage oder die ›Nationalwurst‹ Cervelat. Die Arrangements fungieren als »kollektive Versatzstücke von Kindheitserinnerungen und [gemeinsamen] Bildreferenzen des Künstlerpaares« (ebd.: 15) und erhalten durch ihre digitale Re-Aktualisierung und Mediatisierung eine gewendete Bedeutung sowie Wiedereinführung in die gegenwärtige Kultur. Obschon die Medienkunst von Studer/van den Berg ausschließlich aus Pixeln und Polygonen konzipiert ist, vermögen diese mit dem Computer generierten Motive Verbindungslinien zu kollektiven Erinnerungsbildern herzustellen. Somit sehen sich Betrachter_innen im Rahmen der Rezeption mit einer Reflexion über die mediale Zugangsweise konfrontiert, in der die digitalen Bilder in einem ersten Moment einer ›naturalistischen‹ Prüfung unterzogen werden und in einem weiteren Schritt ein Abgleichen zwischen fotografischer
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und computerbasierter Bilder vollzogen wird (vgl. Vögele 2005; Panhans-Bühler 2001). Hierbei rückt die Frage nach Grenzbewegungen zwischen Erfindung und vermeintlicher Wiederfindung der (verloren geglaubten) Erinnerung in den Vordergrund. Das Befragen unterschiedlicher, individueller Erinnerungsbilder bezieht sich zudem auf die Auseinandersetzung mit verschiedenen Realitäts- und Wirklichkeitsebenen, die – dem postmodernen Bildverständnis folgend – Bilder nicht länger als Ab-Bilder zu denken erlauben, sondern die Artifizialität, den genuinen Konstruktionscharakter sowie die intermediale Zirkulation von Bildsprachen im digitalen Medienzeitalter betonen und hiermit ein mögliches Modell der Welt zu denken geben (vgl. Strauss 2003). In den Arbeiten von Studer/van den Berg wird dieses Moment insbesondere anhand der Brüche und Ungereimtheiten in den auf den ersten Blick scheinbar ›realistischen‹ Darstellungen sichtbar: Der Bildraum orientiert sich nicht länger am Paradigma der Albertschen Zentralperspektive, sondern inszeniert die verschiedenen Gegenstände, wie es aus CollageArbeiten bekannt ist, als äquivalente Elemente, das ›logische‹ Verhältnis von Gross und Klein gleichsam ad absurdum führend (vgl. Abb. 4). Die liebevoll und mit Details versehenen Kompositionen wirken zugleich steril und kühl, was unter anderem daran liegt, dass keine Spuren von Dagewesenem, wie z.B. Staub, Schmutz oder Krümel, wiedergegeben werden. Dieses heterotopische Spiel mit unterschiedlichen Realitätsebenen zeigt sich außerdem prägnant bei der Perzeption der Arbeiten im Rahmen von Ausstellungen: Bei einer gewissen Distanz wirken die Werke wie ›perfekt‹ bearbeitete digitale Fotografien, ähnlich jener aus der Werbewelt; erst bei näherem Herantreten zeigt sich eine Pixel-Welt der Schweiz, die gerenderte Bildwerdung exponierend. Die Templates rücken hiermit die gegenwärtig bedeutende Frage nach der Interdependenz von Aisthesis, Imagination, Realität und Wirklichkeit in einer unlängst digitalisierten Welt in den Vordergrund. Durch die Medien vermitteltes Wissen korreliert mit individuellen Erinnerungen, wodurch Letztere als trügerisch und als Projektionen sichtbar gemacht und dadurch desillusioniert werden. Anders gewendet, Studer/van den Berg zeigen die unterschiedlichen Schichten der Naturalisierung von kulturellen Erinnerungsmustern anhand des Diskurses von ›Heimatgefühlen‹ auf und dekonstruieren diese, indem ein Reflektieren über die Re-Inszenierung von Medienblicken und die Künstlichkeit einer jeden Erinnerung zur Disposition gestellt wird (vgl. Elia-Borer 2013).
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Abbildung 4: Monica Studer/Christoph van den Berg, Picknick (2002)
F OTOGRAFIE
ALS MEDIALE
B LICKORDNUNG
Die gegenwärtige, vornehmlich künstlerische Bildproduktion veranschaulicht auf je spezifische Weise die einrahmenden und entrahmenden Diskurse der Fotografie und ihres ›dokumentarischen‹ Wirklichkeitsversprechen. Im Fokus zeitgenössischer Analysen – dies vermochten auch die verschiedenen Beispiele zu zeigen – liegt die Befragung variabler medialer Blickordnungen, Darstellungsund Erzählweisen, die die gesellschaftlichen An-Sichten und Wahrnehmungsweisen grundlegend (mit)konstituieren. Fotografien können in diesem Sinne als »eingebildete Flächen« (Flusser 1999: 39) oder aber auch als »Verstärker der Imagination« (Wiesing 2000) gedacht werden, womit die ubiquitär und größtenteils als einander diametral entgegengestellter Begriffe wie »Manipulation« oder »Authentizität« zugunsten der Untersuchung von jeweils unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Wirklichkeit und Realitätsebenen in den Hintergrund rücken. Das Unheimliche der ›Realität‹, das sich mit der Etablierung der digitalen Fotografie – aber auch anderer Medien – abzeichnete, ist daher weniger ihre Möglichkeit des Täuschens, denn vielmehr das Moment der nachträglichen Infragestellung des fotografischen Realen. Realitätseffekte werden nunmehr als fundamentale Wieder-Erkennung von Vor-Bildern und Vorstellungs-Bildern bar
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jeglichen Abbildrealismus lesbar. Die Digitalisierung eröffnet, wie Hubertus von Amelunxen (1996) schreibt, neuartige und zuvor unbekannte heterotopische Bildräume, die willkürliche und insbesondere verschiebbare Bezüge zur »Welt« ermöglichen. Zur Disposition steht daher nichts Geringeres als die Differenzialität von Bildsprachen, Bildkonzepten und Bildvorstellungen, die das der Fotografie anhaftende ›Dokumentarische‹ als »Als-Ob« zu re-inszenieren vermögen und hiermit zuallererst den Konstruktionscharakter und die Zirkulation kanonisierter Darstellungsschemata vor Augen führen. Die Arbeiten von Louise Lawler, Martha Rosler und Studer/van den Berg zeigen außerdem – auf je unterschiedliche Art und Weise – eine weitere Ebene: Sie fungieren als Heterotopien in mehrfacher Hinsicht. Die Werke fokussieren nicht ausschließlich die in ihnen einsehbaren Motive, bzw. »den Raum des Innen« (Foucault 1992: 38), sondern verweisen unaufhaltsam auf das »Aussen« sowie das »Parergon«. Sie verschränken gegenstrebige Raum-Zeiten und eröffnen hiermit ein »Imaginationsarsenal« (ebd.: 46), das unsere einstudierten Wahrnehmungsmodalitäten nachhaltig irritiert. Indem diese Arbeiten auf variable Weise die Fotografie in ihrer Medialität und den sie begleitenden Diskurs der wahrheitsversprechenden Abbildhaftigkeit perforieren, weisen sie dem Medium selbst auch jeweils einen anderen Ort zu; sie exponieren die vielschichtigen Spielräume der Fotografie und etablieren diese quasi als Heterotop(olog)ie par excellence.
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Desillusionierte Blicke in der Fotografie
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The Ghosts of Documentary A BIGAIL S OLOMON -G ODEAU Every culture has its phantoms and the spectrality that is conditioned by its technology. JACQUES DERRIDA
What are the ghosts that haunt documentary? As is often the case with ghosts, these are figures of unresolved loss and mourning as well as bad conscience. They may represent, among other things, a variant of the return of the repressed, something disavowed or occluded in the past. Documentary’s ghosts are, however, specific to its self definition, even though, as I will argue, an entity dubbed »documentary« is itself a kind of phantasm. Recent writing on photography acknowledges that whatever illusions of truth were authorized by the indexical and evidentiary aspects of the medium, the replacement of analogue with digital modes has uncoupled this historic linkage1. And, as another instance of haunting, we might take as a symptom the obsessive investigations of the truth or deception involved in the making of such well-known (analogue) pictures as Roger Fenton’s Valley of the Shadow of Death, Arthur Rothstein’s bleached steer skull, or Robert Capa’s death of a Republican militiaman. All have been subjected to
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This observation is anything but new, and virtually all reflections on contemporary photography take this uncoupling as their point of departure. One area of debate, however, is whether digital modes constitute a different medium from analogue forms, or indeed whether the very notion of medium specificity has now been rendered void. »Photography is somehow an anachronism now. It’s disappearing while we talk. We are going to lose it soon and we are going to replace it with something that is still images but something very, very different. Photography: to draw in light. It’s not that anymore, it’s electronic« (Dean in: Godfrey 2005: 114).
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scrutiny following challenges to their literal veracity (e.g., did Fenton or his crew shift the cannonballs? Was the skull moved?) and have been recently subjected to painstaking reconstruction by the filmmaker Errol Morris in his book Believing is Seeing (Morris 2011). Such a forensic inquiry is all the more surprising as Morris’ own documentary films freely employ simulations, atmospheric background music, reconstructions and other forms of dramatization and narrativatization. Suggestively, if coincidentally, these three are funerary documents of a sort; a deserted battlefield, a bleached skull, a man struck by a bullet. The camera’s instantaneous capture of time and movement has long been associated with mortality and petrifaction, recurring themes in the literature of photography. The notion of the photograph as a direct transfer or imprint of the real, a ›certificate of presence‹, has an equally venerable tradition in photography criticism. Although the argument for photographic realism depends on the camera’s physical apparatus – the reflection of light rays from the object or scene »embalmed« on a light sensitive emulsion – neither optically nor neurologically do photographic representations correspond to the mechanisms of the human eye. Although by no means uncontested, much photography criticism and theory has nonetheless taken indexicality implicitly or explicitly as grounds for an ontological approach (see, for example Doane 2008; Mulvey 2006; Elkins 2007). But since the camera produces pictures, that is, representations, the photograph is an iconic as well as an indexical image, delimited by the crop and the photographer’s point of view. Moreover, the meaning of any given photograph is largely determined by its context and all the ancillary operations that form what Roland Barthes dubbed its »anchorage« and its »relays« (Barthes 1978). The division of camera-made images into a category of »art/expression« (aligned with the icon) is countered by those other uses – scientific, technological, and industrial – that align it more closely with the index. The indexical aspects of the medium were therefore those that historically authorized its use in journalism and documentary practice of all types and formats. Even though the deliberate falsification of photographic imagery has its own interesting history, the fact that photographs could be doctored has been generally understood as a deviation from the norm and marginal to the photography’s typical uses and functions2. Consequently, one of the ghosts that haunt contemporary photography is that of analogue technologies themselves, now becoming a residual if not yet abandoned technique of image making. Accordingly, one manifestation of the haunt-
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Altered, simulated, montaged and other forms of photographic manipulation are the subject of a recent exhibition at the Metropolitan Museum of Art entitled Faking It: Manipulated Photography Before Photoshop (October 11, 2012 – January 27, 2013).
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ing is a heightened interest in pre-digital picture making and an observable tendency among art photographers to adopt older techniques of analogue production. Technical developments that make some forms obsolete – for example, large format cameras mounted on tripods – may, of course, be precisely what recommend them to artists. Indeed, technical obsolescence, as Walter Benjamin maintained, has its own historical and cultural repercussions and its own uses in the present. This is why the use of black and white film, Polaroid cameras, artisanal printing procedures, or the use of view cameras such as the Linhof 4 x 5, or the Deerhof (cf., Joel Meyerowitz, Richard Misrach) have become signifiers of the »art« of art photography. In this respect, one ghost might be characterized as the specter of obsolescence itself, accompanying the juggernaut of rapid technological transformation. This specter of obsolescence has a number of valencies, few of them celebratory: »Photography’s apotheosis as a medium – which is to say its commercial, academic, and museological success – comes just at the moment of its capacity to eclipse the very notion of a medium and to emerge as a theoretical because heterogeneous object. But in a second moment, not too historically distant from the first, this object will lose its deconstructive force by passing out of the field of social use and into the twilight zone of obsolescence.« (Krauss 1999: 295)
It thus follows that if one aspect of photography within contemporary art has been subject to criticism for its »deskilling« effects, these are paralleled by alternative artisanal, labor intensive, or craft-like production. Where 19th-century pictorialist photographers used various forms of manipulation on the negative or print to secure their work’s artistic status, photographers like Meyerowitz, conversely, now stake their claims on the »classical« formats of »straight« photography, older cameras and older processes with which to establish the aesthetic identity of their own production. This was earlier the language of photographic modernism, typified in a formalist criticism that allowed for both the photograph’s indexical and expressive capabilities, icon and index, symbol and trace, in harmonious coexistence. Crudely stated, this approach acknowledged that the camera recorded photochemically what lay before the lens, but was artistically transformed by the photographers’ subjectivity. That recent events such as the cleanup of the World Trade Towers or the devastation of Hurricane Katrina have been memorialized using old cameras and pre-digital techniques is therefore part of a larger phenomenon. This can be broadly defined as the migration of subject matter from the domain of photojournalism or documentary into artistic practices of various stripes that are now encountered in many different contexts – muse-
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ums, galleries, art fairs, as well as print media. Contemporary manifestations of such crossovers are readily found; we may take as examples the work of Simon Norfolk, Richard Mosse and Luc Delahay and any number of other photographers whose work originated in theaters of war and sites of other disasters. If one symptom of documentary’s haunting is the more or less mournful nostalgia for analogical representation, especially in relation to its ethical and political role as witness, a reverse symptom is evident in the euphoric celebration of electronic media and its liberation from the constraints of analogue. Consequently, the fetishizing of archaic or residual modes of production (and reproduction) is paralleled by the fetishizing of those technological innovations whose perfections or capabilities are thought to surpass the merely human. In the most optimistic of these evaluations, digital imagery is redeemed as a ›Good Object‹, offering the prospects of expanded, more democratic access to representation and self-representation (e.g., the citizen-journalist with her Iphone). With the advent of digitalization (whether within the camera itself, in the post facto digitalizing of an analogue original, or in printing techniques), controversies related to photographic realism have paralleled the medium’s technical developments. With digital imagery, the ›casus belli‹ pivot on the betrayal of photography’s truth claims, that is, the eclipse of its indexical warranty. For some, this is evidence of epistemic rupture. Fred Ritchin’s recent book, After Photography is symptomatic of the more dramatic assessments of the so-called digital revolution3. He writes: »We have entered the digital age. And the digital age has entered us. […] We are no longer the same people we once were. For better or worse. We no longer think, talk, read, listen see the same way. Nor do we write, photograph, or even make love the same way. It is inevitable. The changes in the media, especially media as pervasive as the digital, require that we live differently, with shifting perceptions and expectations.« (Ritchin 2009: 5)
And a few pages later, »[f]or those who think of digital media as simply providing more efficient tools, what we are witnessing today is an evolution in media. […] For those who see the digital as com-
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Writing from a liberal political perspective, Ritchin proposes many ideas about the new possibilities offered by electronic media, including its uses in social media and for documentary and journalistic purposes. A more judicious evaluation is found in William J.T. Mitchell’s now-standard study The Reconfigured Eye: Visual Truth in the Post-Photographic Era (1992).
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prising a markedly different environment than the analog, what we are currently observing is no less than a revolution. This latter view is considerably more accurate.« (Ibid.: 9)
Aside from the technological determinism that underpins popular accounts such as Ritchin’s, there has long existed a debate countering the Edenic truth claims of analogue against the fallen condition of the digital. Ritchin’s examples of the slippery slope by which photography cedes its referential authority are those that have excited lively debate in the mass media but were ignited by unrelated pictures; the manipulation of the position of the Egyptian pyramids to fit the standard format of a National Geographic cover (1982); the darkening of O.J. Simpson’s complexion for a TIME magazine cover (1994); and the grafting of Oprah Winfrey’s face to the body of Ann Margaret for a TV Guide cover (1989). Although these three have since become textbook emblems of ›manipulation-as-violation‹, they have thoroughly different vectors. Where the moving of the pyramids provides a viewpoint that is empirically impossible but of no particular consequence, the darkening of Simpson’s skin color has racial political implications and effects. On the other hand, joining Winfrey’s head to Ann Margaret’s body, if taken as a breach of visual truth, implies that other mass media representations of Oprah are authentic and unmediated. It is here that we may better observe some of the implications of an investment in photographic realism that often pits the truth of the trace against the lure of the image. A recent book, The New Media Invasion: Digital Technologies and the World They Unmake symptomatizes the sense of loss and anger provoked by the digital (Ebert 2011). »Right now, analogical images are disappearing into a pointillist universe of bytes and pixels. When photographs are plugged in and turned on via digital technology, they become dematerialized. They go directly from reality to take up residence inside the integrated circuits of computer chips, where they are stored as a form of virtual memory. The images attain the status of virtuality, that is to say, they are not real images, but computer memories subject, as are all human memories, to erasure, modification, information decay, or simple deletion. In doing so, the ontological status of photography shifts from that of a high art to a graphic art form and becomes capable of producing sophisticated images no more interesting than the nauseating illustrations that are displayed in the glossy pages of graphic design manuals. Real artists with visionary talents will turn to other media as film gradually and irretrievably disappears. The end of yet another art form as collateral damage in the tireless march of progress of technology.« (Ibid.: 134)4
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From the field of film theory, Mary Anne Doane cites a similar comment by Paul Willeman: »An image of a person in a room need no longer mean that the person was in
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In fact, photographic imagery is often disembodied or dematerialized (i.e., slide projections, and all of cinema and video). Nor has photography ever been predominantly an art form. But, as Ebert continues, »[t]he digital photo is so obscene precisely because it denudes the image of its tactile qualities: the graininess of the traditional photo, for example, the sense of texture that gives to the image its concreteness is gone, and along with it, the invisible yet mistakable presence of the shaping hand« (ibid.: 135). Affirming that the chemical processes producing the analogue photograph records the presence of the maker in the physical object (as well as her or his hand in the resulting print) repeats the terms of the earliest photographic debates. Those who insisted on photography’s expressive/subjective/artistic potential were defending the medium against the charge it was a soulless, godless copying machine. Now it is digitalization rather than the medium itself that usurps the importance of the maker’s presence and the medium’s putative purity. Many of the more specialized discussions on the import of digitalization, especially those dealing with documentary film, tend to be far more nuanced, refusing a clear-cut opposition between the technologies by which cameramade images are generated (cf. Mitchell 1992; Manovich 1997). For example, Philip Rosen sensibly observes that the digital camera image is itself a form of hybrid: »[…] it is common for theorists to treat indexicality as the defining difference for the digital, so that the photographic image often becomes the most exemplary ‹other› of the digital image. Yet, digital often appropriates or conveys indexical images, and it is common for the digital image to retain compositional forms associated with indexicality. In practice then, digital imagery is often (but of course not exclusively) constituted by being propped onto certain culturally powerful image codes that preexisted it. […] The quest for digital mimicry has been one of the driving forces in the history of digital imaging. All of this means that, to a significant degree, digital imaging is not separable from prior histories of mediated representation on screen surfaces, but overlaps with them.« (2001: 314)5
that particular room, or that such a room ever existed, or indeed that such a person ever existed. Photochemical images will continue to be made, but the change in the regime of ›believability‹ will eventually leech all the resistance that reality offers to ›manipulation‹ from even those images […]. The digitally constructed death mask has lost any trace […] of the dialectic between index and icon« (Willeman 2007: 132). 5
From a quite different perspective, one more concerned with the processes of photographic reception, see Burnett (1995).
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This would seem to be the case with the development of the digital camera itself, whose first prototypes date back to the 1940s. In its equivalence to 16mm, 35mm, or 70mm proportions, its rectangular frame, the look of its image resolution, the digital photograph mimics a »better«, improved – i.e., sharper, more resolved – conventional camera image. It is this that leads Rosen to speak of »digital mimicry«, and also prompts the artist and theorist George Legrady to speak of the digital photograph as »a simulated photographic representation«. The analogue camera was itself developed so as to replicate familiar forms of pictorial structure. In the case of contemporary cinema, animation aside, digital technologies are now the norm rather than the exception within the industry as a whole, including documentary filmmaking. This, however, has not transformed the material circumstances of the pro-filmic event (the actors or scenes positioned in front of the camera). Nor has the integration of digital technologies destroyed the concept, experience, or even the phenomenology of cinema spectatorship. But perhaps an equally salient point is that digital cameras, outside of specialized applications (scientific, commercial, military or artistic) are still employed in ways and for purposes that go back to George Eastman’s Kodak. Like these earlier cameras, digital cameras are used for family snaps, for tourism, portraits of people, ID photos, and for various forms of information preservation. In all these respects, there is reason to concur with Mary Ann Doane’s observation that »[i]n a sense, the digital has not annihilated the logic of the photochemical, but incorporated it. To take up the index today, as a theoretical concept, is to insist that the complexities of the issue of referentiality should not deter us from investigating and analyzing its force« (Doane 2007: 5). Similarly, her notion of an »indexical imaginary« is especially suggestive in thinking through the relations between digital imagery and the claims of or for photographic witness. Moreover, for those for whom photographic imagery was never coeval with truth, the either/or in the debates about digital imaging are inadequate to either form of representation. Where these debates have been most intense, as one would expect, is in relation to those practices whose legitimacy were and are bound up with the camera’s function as witness. But here too, the ghosts are internal and specific to each variant of photographic practice. The photographic portrait, for example, is haunted by its invocation of mortality, a central theme in Roland Barthes’ Camera Lucida and a recurring topos in the literature of photography from Benjamin and Bazin through contemporary theory. With documentary, however, the ghosts are not only those of its predigital authority, but also the shades of its own equivocal, ambivalent and contingent histories. These are among those »chattering ghosts« that Allan Sekula identified in his now-classic essay of 1981, The Traffic in Photographs and these ghosts are as much a legacy of documentary
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practices as they are of his particular criminological, eugenicist, and Taylorist examples. In this regard, documentary is haunted by that part of its history as documentation that was early on conscripted as an agent of domination and social control (ideological, imperial, racial, sexual, and so forth) in its many instrumental applications and its implication in the complex web of knowledge/power relations. Accordingly, Michel Foucault’s observation that »[t]he apparatus is thus always inscribed in a play of power; it is always linked to certain coordinates of knowledge which issue from it, but to an equal degree, condition it« (1972: 96), has been a major influence in studies by John Tagg (1986) and Geoffrey Batchen (2001) as well as Sekula (1992). To lay the ghosts, we have not only to identify them, but also to reckon with their particular manifestations. This means that a certain mapping of what documentary photography signifies now is useful, and given the obvious imprecision of the term, this is no easy task. Indeed, the boundaries between something called »documentary«, something called »social documentary«, and something called »photojournalism« are themselves unstable (and permeable), although it is worth observing that these are all of twentieth-century vintage. We may well ask, however, whether these are coherent either as definitions, categories, genres, or merely loose and somewhat arbitrary designations that may shift position, blur into one another, or be positioned as subsets of broader definitions. For John Grierson who coined the term in 1926, »documentary« merely designated non-fictional filmmaking, but within a decade or so, it came to include still photography, and as its purview became increasingly inclusive, its meanings have become increasingly amorphous. Certainly, and as I have argued elsewhere, the lateness with which the term entered the English language (and subsequently other languages) suggests that prior to the 1920s, the general assumption was that with certain exceptions (e.g., studio portraiture, the obviously staged image, art photography), all photographs were by definition visual documentations of their subject (Solomon-Godeau 1997). In fact, the documentary functions of photography were fully in place by the 1850s. If a new term became necessary, it was in response to the medium’s ever-proliferating applications and, after the invention of half-tone printing in the late 1880s, its adaptation to the printed page6.
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»All in all, then, Grierson’s phraseology appears to have become current almost as soon as he proposed it. This suggests less his own importance than a cultural conjuncture requiring some designation of the field he named: an arena of meaning centering on the authority of the real founded on the indexical trace, various forms of which were rapidly disseminated at all levels of industrial and now postindustrial culture« (Rosen 1993: 66).
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The exponential increase in photography-for-reproduction from the 1920s on, and a rapidly proliferating visual mass culture was the context in which the category of documentary was summoned into discursive life. In an increasingly diversified and ubiquitous image world, where the new mass medium of cinema was itself divided between newsreel and fiction, the shaping forces of mass culture, national and cultural ideologies, identity formation, and hardly least, advertising, put pressure on those attributes of the camera image that had initially made it the warranty of empirical if not optical truth. That the term was invented by a liberal intellectual suggests, however, that Grierson’s formulation was prompted by political, as opposed to formal or epistemological criteria. In fact, much of his writing and interviews emphasize the heuristic and democratizing goals of documentary production. Certainly, his directorial and production activities in the film units of the Empire Marketing Board (a governmental agency established in 1926 to promote British world trade and imperial solidarity), the British Post Office, and later, his establishment of the National Film Board of Canada, indicates the institutional as well as nationalist context within which the concept of documentary was initially developed. Well before Grierson, however, it was often the case that nineteenth-century productions (retrospectively defined as documentary) were of governmental origin, although there were also entrepreneurial initiatives7. Governmental commissions include the 1851 Missions Héliographiques, August Salzmann’s 1856 pictures of the Holy Land, Charles Marville’s record of Haussmann’s modernization of Paris (1858-1870), Thomas Annan’s 1863 pictures of the Glasgow slums, Timothy O’ Sullivan’s 1870s topographic survey projects, and so forth8. Among these, only Annan’s photographs could be said to have had a reformist
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A number of important exceptions were those projects that were entrepreneurial and speculative. These are exemplified by Francis Frith’s photographs of Egypt, and Matthew Brady’s commissioned photographs of the American Civil War for which he employed a team of photographers (notably O’ Sullivan and Alexander Gardner). It is possible that Roger Fenton’s photographs made during the Crimean war were commissioned by William Agnew of the publishing firm Thomas Agnew & Sons.
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The Missions Heliographiques were organized by the Commission of Historical Monuments; Salzmann was commissioned by the Ministry of Public Instruction; Charles Marville by the Administration of Public Works; Annan by the Glasgow City Improvement Trust, O’Sullivan by the United States Geological Survey, an agency of the United States Department of the Interior.
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agenda, although this too was not without its contradictions9. These are, of course, very well known and are often considered as precedents for twentiethcentury practice. But my point here is that by the 1930s, this form of official commission was as much the rule as the exception, exemplified in the UK by Humphrey Spender’s 1937 photographs for Mass-Observation10, Roy Stryker’s FSA (Farm Security Administration) photographic project in the USA inaugurated the same year, or Alexander Rodtschenko’s 1933 series on the building of the White Sea Canal made for the USSR in Construction. That these were all more or less (mostly more) propaganda projects is not, needless to say, to imply a simple equivalence of what they represented or in the service of what authorities and purposes they functioned. But here one encounters another ghost of documentary; let us call it, following Foucault, the ghost of governmentality, an increasingly important agent in the manufacture of consent. This might be said to be an especially unwelcome ghost given documentary’s subsequent discursive positioning as a reformist or progressive alternative to mainstream applications or to photographic aestheticism. Moreover, it is also the case that the history of anthropological and ethnographic photographic representation logically falls under the rubric of documentary photography. Because ethnographic imagery belonged to »scientific« archives well before its assimilation into photographic histories, it has only recently figured in histories of photographic documentary. Significantly, this aspect of the »documentary factor« was largely absent from the historiography of the medium until the past fifteen or twenty years. In the work of British scholars such as Elizabeth Edwards and Christopher Pinney, for example, one sees how photography is implicated in those »sciences of man«, – anthropology and ethnography – that accompanied colonial rule while securing notions of white (and male) supremacy. Indeed, and as Pinney observes in passing, the words »stereotype« and cliché (print) themselves derive from photographic language (Edwards 2011; Pinney 2011). Which is finally to say that while documentary photography has
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As with John Thomson (another problematic conscript into the history of 19th-century documentary), it is necessary, as always, to retain the context of production: bourgeois anxieties about the dangerous classes, and the threat of their disorder, disease and contagion. See in this respect, Tagg (1989); Stange (1989).
10 Mass-Observation was a large-scale investigation into the habits and customs of the people of Britain, initiated in the city of Bolton in 1937 to monitor its »public morale.« Between 1937 and 1938, Humphrey Spender took over 900 pictures the city and its residents. The official website of the project is http://www.boltonmuseums.org.uk/ (20.06.2013).
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occasionally functioned in ameliorative or progressive contexts, this should not obscure its parallel and far more significant functions as a technology of observation, surveillance, social control, and propaganda; in short, its normative ideological functions. Indeed, there seems every reason to consider a great deal of scientific photography as a part of the larger discourse of documentary consistent with what Tagg called »the archives of subjection« (1986). These factors are easily overlooked, in part because the adjectivally marked »social documentary« has been viewed as either a subspecies or alternative construction, and it is this formulation that is often considered synonymous with reformist or progressive practices. I can locate no hard and fast definition of this term, nor is it clear exactly when or by whom it was coined. But it does seem to be the case that in the Anglophone world, and sometime in the 1960s, the adjective »social« came to imply a Marxist, progressive, or reformist agenda (as in social art history). In fact, many of the exemplars of this type of photography – preeminently Lewis Hine – were important participants in Progressive Era reform politics, and whose pictures featured in publications such as The Graphic and the Graphic Survey. Forms of activist, i.e., engaged photography, appeared again in the 1930s and New York’s Photo League was a hub of such practices11. Similarly, and in the U.S., the late 1960s and 1970s was a period in which these forms of documentary photography, especially in book form, and preeminently in relation to the civil rights and antiwar movements, seems to have flourished (Freed 1969; Hansbury/Baldwin 1965; Cole 1967; Griffith 1971; Davidson 1971; Lyion 1971). A number of historians situate the emergence of social documentary in the years of the Depression. William Stott, for example, in his classic study of 1973, remarks that »When people in the thirties spoke of documentary, they usually meant social documentary – and so do we today […] social documentary […] shows man [sic] at grips with conditions neither permanent nor necessary, conditions of a certain time and place, racial discrimination, police brutality, unemployment, the depression, the planned environment of the TVA, pollution, terrorism.« (Stott 1973: 18)12
11 See in this respect, the catalogue for the Jewish Museum exhibition, The Radical Camera: New York’s Photo League, 1936 – 1951 (New York: 2011). 12 The reference in this list to the TVA (not then associated with environmental depredation, but rather with electrification and provision of clean water) is curious, but as I have already suggested, neither documentary nor social documentary are coherent categories.
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But a few pages on, he concedes that »Thirties social documentary in general is now as dead as the sermons of the Social Gospel« (ibid.: 25). Maren Stange, however, in her study of the subject, means the designation to refer to a broader array of practices, encompassing humanitarianism, reform movements from the 1890s on, corporate public relations (e.g., Roy Stryker at Standard Oil) and hardly least, social engineering. These practices, she observes »testified both to the existence of painful social facts and to reformers’ special expertise in ameliorating them, thus reassuring a liberal middle class that social oversight was both its duty and its right« (Stange 1989: xiii). In his 2001 book, Le style documentaire, Olivier Lugon makes a distinction between what he calls »documentary style« – an international photographic syntax already widespread in Western Europe the late 1920s – with the more tendentious mandate of the FSA Photo Section from 1935 to 194213. For Lugon, prior to the 1920s, not only was documentary excluded as an artistic genre within photography, it was effectively considered its negation14. In his account, the privileging of sharp focus, frontal composition, clarity and detail of the visual field, lack of rhetorical or expressionist flourishes, straightforward attention to the object or subject, and the production of a sequence or narrative collectively characterize what he designates as a style, neither a genre nor a praxis. Contradicting the widespread assumption that twentieth-century documentary is implicitly or explicitly linked to reformist values and politics, Lugon considers this characterization as a retrospective (and American) imposition. Citing various texts dating from the 1920s (e.g., Christian Zevros 1928; Hans Windisch 1928), Lugon effectively identifies modernist (that is, formalist) photography with the means if not the ends of documentary. Remarking on the retrospective identification of documentary with progressive causes, he notes, »[t]he inflection of the notion of social reportage functions only belatedly, at the end of the decade, with the promotion of the FSA’s images. It is around these, towards 1938-
13 Lugon, however, is not the only scholar to consider documentary as a style. »Documentary photography is an aesthetic mode or a style. Often the champions of documentary deny this, claiming their work is style-less, objective, and direct. Nevertheless, this work is always an approach to photography; a mode of representation predicated on the form of the document« (Edwards 2006: 28). 14 My translation: »Si [l’idée de document photographique] apparaît dans la littérature artistique, ce n’est que comme antonyme du terme ›art‹, les deux catégories s’excluent l’une l’autre […]Avant les années vingt, non seulement le documentaire ne constitue pas un genre esthétique mais il en est la négation« (Lugon 2001: 15).
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1940, that there is suddenly a wave of texts, all American, seeking not to invent the notion of documentary but, for the first time, to fix its meaning.« (Ibid.: 10)15
Quoting from Stott’s Documentary Expression in Thirties America, Lugon locates this particular notion of documentary photography in the mandate of the FSA, as Stott himself defined it. »Simplifying, then: Documentary treats the actual unimagined experience of individuals belonging to a group (generally of lower standing in the society for whom the report is made) and treats this experience in such a way to try and render it vivid, human, and most often – poignant to the audience.« (Stott 1989: 62)
This class distinction between the situation or identity of the subject who is represented, and that of the viewing subject, is one of the most durable aspects of documentary photography; however defined, and from whatever period. It is in relation to these viewing relationships that the concept of a politics of representation emerged in the 1970s and from whence the critique of certain types of documentary takes its cue (Rosler 2012; Entin 1999). Rhetorically, and even if considered as a style, these forms of depiction depend on pathos more than logos; affect, sensation, pity and empathy are what galvanize its meanings. But as with photography in general, the framing context – textual, discursive, and temporal – are in the final analysis the most important factors in determining collective (as opposed to individual, that is, subjective) photographic meaning and significance. In this respect, it should be noted that while Stange too considers twentieth-century documentary as a form of style, this does not preclude her from distinguishing between its various applications, approaches, contexts and instrumentalities (Stange 1989)16.
15 My translation: »L’inflexion de la notion de reportage social ne s’opère que de façon tardive, à la fin de la décennie, avec la promotion des images ce FSA. C’est autour d’elles que s’ordonne, vers 1938-1940, une soudaine vagues de textes, tous américains, cherchent non pas à inventer la notion de documentaires mais, pour la première fois, à en fixer solidement le sens.« 16 Moreover, as she observes »For the sponsor and the audience of the documentary exhibition or publication, the photograph necessarily took on meaning within a particular rhetorical framework created by its interaction with caption, text, and agency, even though the photographer and his or her subject did not always intend such a meaning or share its ideology« (Stange 1989: xiv).
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Be that as it may, for Lugon this more »politicized« form of documentary pursued in the U.S. elides or obscures the preexisting (European) syntax that would later come to be designated as »straight« photography. Lugon thereby affirms the familiar succession that has established an art history of documentary (for that is what it is), from Atget to Abbott, Evans and Sander, with branches that genealogically connect these productions with European avantgardes such as the Neue Sachlichkeit. As Lugon argues, this non-tendentious, ostensibly nonideological discourse on the nature and terms of documentary has its own parallel history in the U.S., but this, I would argue, is a history that has been more or less invented by curators, collectors, and museums and subsequently institutionalized17. Walker Evans is thus for Lugon, as for many others, the crucial figure given the »classical« nature of his photographic production and his artistic ambitions before, during, and after his participation in the FSA. Consequently, for all its historicization and attentiveness to the photographic discourse of this period, Lugon’s study nevertheless produces, or rather reproduces, the modernist lineage of photography as an autonomous and self-reflexive medium. A further question about generic boundaries arises when one attempts to chart the distinctions between documentary and photojournalism. Lugon, like many others who have treated the subject of documentary, does not seek to distinguish the two, although however defined, individual photographers – especially now – may freely move between these practices. Although some historians suggest that this distinction pivots on the difference between a discrete photograph reproduced in print, and a series or project orchestrated by the individual photographer, this seems hardly adequate as a workable definition. Photographs readily migrate between sites and usages: when a photograph by, say, Susan Meiselas, appears in The New York Times, it follows from her work as a photojournalist; when she selects and presents her work in book or exhibition format, organized under a specific subject, it is considered as a documentary project. As with documentary itself, and as Vincent Lavoi observes, »[c]urrent research on the history, semiotics, and aesthetics of photographic illustration shows that photojournalism is a category which is fundamentally unstable and continually in the process of being reconfigured by discourse. The ethics of the press image is a product of these historical reconfigurations.« (Lavoi 2010: 12)18
17 On MoMA’s aesthetic ideologies see Phillips (1982). 18 My translation: »Le photojournalisme est une catégorie fondamentalement instable et constamment reconfigurée par les discours. L’éthique de l’image de presse s’inscrit dans la perspective de ces reconfigurations historiques.« The changing shape of pho-
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In fact, the professionalizing of photojournalism involved a range of structures, from unions to codes of ethics, and it was only after the First World War that (some) photojournalists became salaried employees within the news industry. And it was only in 1945 that a national organization was formed in the U.S., – The National Press Photographer’s Association (NPPA) – one of whose goals was explicitly concerned with professionalization (Schwartz 1999; Griffin 1999). No less important was the institutionalization of the concept of »objectivity« as a core value for press photography (and news reporting), a value patently contradicted in actual practice. However, and as a further example of the instability of all these designations, it is worth mentioning that in 1990, the NPAA’s members voted Joe Rosenthal’s staged reenactment of marines raising the American flag in Iwo Jima the greatest news photograph of all time (Griffin 1999: 153). Nevertheless, one might say that barring such actual staging, it was and is the case that while all photojournalism is implicitly documentary, not all documentary is journalistic. Insofar as the etymology of the word journalistic derives from the French jour (the root of the nouns journal and journalisme), the word photojournalism did not enter the English language until 1956, although the term photo-reportage appeared in French in 1938. Accordingly, photojournalism, like photo-reportage, was always identified with actuality – the news19. This has remained a constant even as image technology has evolved from still photography through electronic media and live video feed. However, as this practice took on its modern form and meaning in the 1930s, documentary photography (and social documentary) came often to designate a collective project as opposed to a single reproduced image. Especially in picture magazines, photographs were presented as ensembles, sequences, and narratives (Stange 1989)20. As a multi-
tojournalism, especially as a salaried profession is traced in Lavoie’s fascinating account »La rectitude photojournalistique: codes de déontologie, éthique et définition morale de l’image de presse« (Lavoi 2010:12). The introductory essay in Panzer (2006) summarizes some of its various definitions, although their own subject is limited to photo stories in illustrated magazines. For a more account beginning with the first uses of pictures in the illustrated press, see Lemeck/von Demitz (2002). 19 French newsreels in the 1920s and 1930s were called actualitiés. 20 Although the reproduction of FSA photographs, like Lewis Hine’s earlier photographs of child labor recent immigrants or sweated labor could range from single image to narrative sequences depending on the requirements or specifications of the given publication. It must be noted too, that in the even earlier production of Jacob Riis, the images did service as lantern slides in public presentations and lectures, as well as in books and pamphlets.
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part and/or narrative series, the subject of documentary might have its origin in the initiative of the individual photographer (as a random example, Aaron Siskind’s Harlem Document, the photographs for which were made in the 1930s), or, in the case of many illustrated magazines, a project commissioned and orchestrated by the editorial staff. In the American print media, it is the professional salaried or freelance photojournalist whose photos are viewed by great numbers of people; documentary projects, on the other hand, as individual projects, have had no such mass audience since the glory days of the picture press. Dispatched by editors and agencies, photojournalists take pictures that are now immediately received, transmitted, downloaded, and disseminated by yet other circuits of reproduction. It follows that these more recent incarnations of documentary or journalistic subject are structured by different relations (including temporal ones). Still photography by definition suggests a past-ness, anteriority, whereas live video feed implies an immediate presence and present-ness. Is there any real distinction to be drawn between one set of practices vaguely labeled documentary and another called social documentary? Whether or not documentary is best considered as a style, as Lugon and others argue, in most photographic histories, social documentary is generally considered as an offshoot or subcategory of documentary. For its partisans, social documentary is understood to constitute a form of praxis. It is to this putative tradition that those critics committed to the practice of contemporary social documentary (or its reconstruction) refer. This is apparent in Martha Rosler’s discussion of the subject in her essay Post-Documentary, Post-Photography: »Of all photographic practices, social documentary – the self-professed truth-teller, implicated in modernity and part of its ›life world‹ – is the one in which the underlying issues of social power are accessible to contestation. […] But over the past few decades, photography and photographic practices have been subject to attacks on all fronts.« (Rosler 2007: 209-210)
This perception of social or documentary photography as both under attack and at risk of disappearance is shared by John Roberts, Steve Edwards, and other critics identified with the left. Like other commentators, Rosler locates one aspect of documentary’s crisis with digitalization, but also connects its delegitimation to postmodernism’s general skepticism about totalizing truth claims and its critique of realism:
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»Thus, post-structural and postcolonial discourses, along with digital technologies, have undermined the subject position of the photographer (and the cultural milieu into which the images are inserted) and the epistemological status of the image – its relationship to a phenomenologically present visual reality – denigrating its (metonymic) adequacy in relation to the situation it depicts and problematizing the ability of any image of a visual field to convey lived experience, custom, tradition, or history (author’s italics).« (Ibid.: 211)
In the same essay, Rosler reflects on the new circumstances shaping documentary forms: »The tide of change poses its own particular threat to documentary, since ›postphotographic‹ practice at a minimum can be said to have abandoned any interest in indexicality and perhaps just as importantly, in the privileged viewpoint of ›witness‹ – and therefore any embeddedness in a particular moment in time and space. The photographic seems poised to mutate into just anther, relatively ephemeral aesthetic form and its maker into an artist. What will determine the outcome of this unstable condition is not clear.« (Ibid.)21
For those committed to the goals of social documentary, what is thought to be lost, and subsequently mourned in the digital age, is ultimately the progressive political contexts within which it once (supposedly) flourished. John Roberts unambiguously links the demise of what he calls »documentary-image culture« with the demise of class politics: »From the 1920s to 1980s this documentary-image culture was the outcome of progressive triangulation of cultural and political forces: (i) the link between photographic truth and the power of photography to wrest some symbolic space from the specularity of capitalist culture (ii) the link between photography and the democratic dispersal of counter knowledge as part of working class struggle and other struggles from below and (iii) the link between access to photographic form and access to a common world of artistic skill.« (Roberts 2009: 284)
21 This critique is echoed by John Roberts’ book The Art of Interruption: Realism, Photography and the Everyday. Like Rosler, Roberts associates postructuralism with the crisis of documentary, noting that »questions of social reference have been suppressed in the interests of privileging the avant-garde critique of representation« (Roberts 1998: 3).
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Steve Edwards, like Rosler and Roberts, accepts that documentary practice is in self-evident decline, and also attributes this to a changed political climate: Citing Roberts, he concurs with his claim »that the decline of documentary – or at least the plummet of its prestige – has coincided with a retreat from class politics among the Western intelligentsia. Social class remains as powerful a determinant in our lives as it ever was […] but they seem much less visible than they once were« (Edwards 2006: 37). As with documentary itself as a discursive entity, the kinds of practices that are eulogized or mourned by Rosler, Roberts and Edwards are disturbingly vague. What precisely is this practice whose eclipse is signified? Neither Rosler nor Edwards provide examples of what specific documentary practices are now mooted by contemporary critical theory. (Although Rosler, as an artist, is here writing as a critic and does not cite her own work). What is meant by »documentary/image culture«? What is being referred to by Roberts’ notion of »the democratic dispersal of counter knowledge as part of working class struggle and other struggles from below«? Is this the worker photography of the 1920s lauded by Walter Benjamin in »The Author as Producer«? If so, it is nearly a century since this was an actual (and short lived) practice. Is there really a space »outside« of capitalist culture and if so, where is it to be located? Do class politics accurately describe »documentary« photography in the present, much of it oriented to such issues as environmental destruction, violence against women, AIDS, civil, ethnic or sectarian conflicts, other issues undreamed of by Marx? Moreover, the invocation of a rise-and-fall model has a number of problems, not least of which is the fact that however defined, there are now more »documentary« projects and more documentary photographers practicing then ever before in history, including legions in countries in the non-Western world and the global south. There exist hundreds of web sites devoted to various concepts of documentary and, indeed, social documentary. There are blogs and documentaries that are designed for web viewing. There are academic centers and other institutions devoted to it, journals, prizes context, grants and so froth. That many of these projects employ different technologies (digital cameras obviously), take on subjects never treated previously, and are both supported and viewed distinct from the older systems of print media, may present different kinds of issues, but contradict the assertions that documentary photography is an endangered species. Rather, it is a constantly mutating form of practices – not genres – that employ various techniques and procedures in various combinations for their fabrication before being launched into viewing space, reading space, cyber space, or exhibition space.
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As the unstable boundaries between different types of photographic practice (documentary, social documentary, photojournalism) become even less functional in defining or distinguishing forms of practice, subjects once associated with documentary or photojournalism have become an increasing presence in art exhibitions and concomitantly, the international art market. This, I would argue, constitutes a new problematic, and requires an enlargement of debates around the photographic politics of representation. What is at stake here is the phenomenon of documentary (or photojournalistic) subjects repurposed as art objects, where subject matter once perceived as the purview of documentation are now resignified (after various formal and contextual transformations) as images for aesthetic contemplation. One of the earlier controversies presaging these more recent manifestations can be located in polemics around the photography of Sebastiao Selgado. In this respect, Selgado’s formally beautiful black and white photographs of, for example, famine in the Sahel or migrant workers and other instances of exploitation and misery in the global south prompted criticism for its aestheticization of suffering. In a certain sense, these debates symptomatize the erosion of boundaries between photographic »witness« and photographic »art«, between the claims of historical evidence, ethical/political claims addressed to spectators, and the seductions of the image qua image. These go beyond the scope of this essay, but are relevant to the degree that they are further examples of how contemporary visual practices committed to »things as they are« are unmoored from any consensus as to what such representations are expected to do and with what criteria they are to be accessed. Hence, yet another ghost of documentary is the belief that photographic witness as such (and irrespective of its discursive and contextual embeddedness) might be sufficient itself, that referential grounding trumps ideology or spectacle. Making a virtue out of necessity (i.e., the amorphousness of the category of documentary) a recent exhibition and catalogue, Click/Double Click: The Documentary Factor is illustrative of the infinite elasticity of the documentary category. Prefaced with a series of (mostly) well-known photographs from the 1850s to the present, many of these would not have been assembled under this rubric even ten years ago. Beginning with Nadar’s portrait of the mime Debareau, and continuing chronologically with Gustave Le Grey (a composite seascape), the sequence proceeds with a series of single photographs by August Sander, Bill Brandt, Walker Evans, Diane Arbus, William Eggleston, Thomas Ruff, Phillip DiCorcia, Thomas Struth, and Andreas Gursky. Leaving aside the scarcity of women in the book and exhibition (seven out of forty-five), it seems as though the selection criteria were largely premised on the familiarity of the photogra-
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phers and their market value22. That said, the apparent disregard for any definition of documentary, or alternatively, the implicit claim that it is anything and everything, is explained by the exhibition’s unabashed aesthetic orientation: »[The photographers’] works are not devoted primarily to the illustration of sociological, political, or anthropological subjects. Their works reflect these subjects, draw their material from the critical engagement with them, but must be understood as artistic selfexpression that develops in a dialog. Their images do not have any evidential character; they do not put themselves in the service of science; they do not have any use. Rather, they formulate a belief in the artwork as an aesthetic object with its own laws.« (Weski 2006: 36)
Click/Double Click (with the title’s allusion to both camera and mouse) is, however, by no means unusual in its selection of photographers. Many exhibitions and catalogues now routinely group apparently unrelated works under the rubric of documentary, since there exist few if any criteria for exclusion23. Thus, the museumification of subject matter earlier confined to print, TV, or informational media, has eased the passageway of photographs originating in documentary or photojournalism into another discursive frame, that of contemporary art proper. Although photojournalists may now refashion themselves as artists, I do not know of any artist who has transformed herself into photojournalist. However, some of these crossover figures (e.g., Luc Delahaye, Simon Norfolk et al.) have made their reputations earlier as press photographers and their pictures of war and other catastrophes are now reborn as autonomous art photographs. Neverthe-
22 The small number of women photographers in these categories requires little explanation, and with a few major exceptions, professional women photojournalists on the battlefield are rare despite the presence of women active between and during the two World Wars. 23 See for example, Photography: New Documentary Forms, (Tate Modern, May 11, 2011 – April 10, 2012). The artists were Luc Delahaye, Mitch Epstein, Guy Tillim, Akram Zaatari. In the case of Engaged Observers: Documentary Photography Since the Sixties (J. Paul Getty Museum, June 29 – November 14, 2010) the criteria seems to have been some notion of parti pris as the title implies. However, the inclusion of Larry Torwell’s black and white series on a Mennonite community, and Lauren Greenfield’s series of adolescents at a weight-loss camp, and well-to-do teenaged girls in L.A. seem not entirely in keeping with such an agenda. My point here, however, is that any current group exhibition in a museum that bears »documentary« in its title will be equally random.
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less, it is interesting that critics such as Roberts committed to counter discursive practices, endorse the latest avatar of art photography, now fully assimilated into the emporia of contemporary art. Here, however, I have tried to put these various photographic terms – documentary, social documentary and photojournalism, – in historical perspective, for it is futile to establish fixed meanings for any of them. Rather, in placing them in some kind of relation to one another, and in the context of digital technology’s liquidation of the indexical, and always vexed question of referentiality, it is more important to confront the new task of historicizing analogue representation. And while the evidentiary claims of analogue representation are inseparable from its indexicality, it is clear that there exists no consensus as to what to make of documentary’s recent circumstances, metamorphoses, technical transformations and assimilation into other discursive frames. The question remains whether the categorical incoherence and/or mutability of the notion of documentary I have sketched should be celebrated or deplored. To what degree is a category called documentary now an epistemologically meaningful designation at all? Distinguishing between the concept of indexicality that guarantees the »real«, as opposed to its other (digital imaging), presupposes that there exists in the former a warranty of truth, of historical presence, of witness that iheres within the image itself. But on the evidence, it seems that an entity designated »documentary photography« (and its subdivisions) that cordons itself from photography as such, is itself an ideological, contigent, and wholly historical construction. As Jacques Derrida has taught us, all identity is internally divided, contains within itself the repressed, and the excluded. It would seem to be the case that one of the most disruptive of ghosts that troubles our contemporary conception of photography is that which simultaneously subverts the imaginary category of documentary itself.
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Heterologien des Nationalen Zur Materialität und Medialität der Flagge – Mali 2013 T OM H OLERT
F ARBEN
DER I NTERVENTION
Mit der Opération Serval, benannt nach einer in Afrika beheimateten Kleinkatzenart, versuchte das französische Militär am 11. Januar 2013 das Kommando in Mali zu übernehmen. Mit Kampfjets und Bodentruppen intervenierte Frankreich, um an der Seite der malischen Streitkräfte das Land gegen die aus dem Norden vorrückenden islamistischen Touareg-Kämpfer von Ansar Dine (Verfechter des Glaubens), die Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika Mujao, die salafistische Gruppierung Al-Qaida im Islamischen Maghreb AQIM, Ag Cherifs säkulares Touareg-Bündnis Mouvement national pour la libération de l’Azawad (MNLA) sowie frei flottierende Drogenbanden zu verteidigen, von diesen bereits eingenommene Städte und Ortschaften zu befreien und die etwa sechstausend Ausländer in Mali, zumeist franko-malische Doppelstaatsbürger, zu schützen1. Zu diesem Zeitpunkt kaum abzusehen war, was den französischen Soldaten schon wenige Tage später auf den Straßen des westafrikanischen Landes begegnen würde. Denn die Elitetruppen der einstigen Kolonialmacht, von der sich das heutige Mali vor über fünfzig Jahren, im sogenannten afrikanischen Jahr 1960, losgesagt und unabhängig gemacht hatte, wurden mit überschwänglichem Jubel und einer demonstrativen Zurschaustellung der nationalen Symbole Frankreichs, namentlich der Trikolore, begrüßt. Dabei war Frankreich noch im vorangegangenen Jahr 2012, als Mali in eine tiefe innenpolitische und zunehmend humani-
1
Für einen hilfreichen Überblick zur Lage in Mali im Augenblick der Intervention vgl. Smith (2013).
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täre Krise geraten war, weniger für seine unrühmliche historische Rolle, sondern dafür scharf kritisiert worden, dass es – nach seiner Intervention in Libyen 2011, einem Auslöser für die Krise in Mali – nichts unternehmen würde, um in seiner afrikanischen Einflusssphäre, dem sogenannten Françafrique, nachhaltig für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Jetzt aber hingen an den Straßen die Flaggen Frankreichs und Malis in trauter Eintracht nebeneinander, als sei diese Völkerfreundschaft die selbstverständlichste Sache der Welt. Irritiert berichteten die Auslandskorrespondenten von Lieferengpässen für Flaggen in Bamako oder Timbuktu (vgl. z.B. Tiniti 2013; Gänsler 2013), machten Bilder von der Beflaggung des Landes, zeigten Malier, die die Trikolore an der Autoantenne oder auf ihren Motorrädern spazieren fuhren, malische Soldaten, die sich mit ihr einen Turban wickelten, oder malische Zivilisten, die sich gleich vollständig mit ihr einkleideten. Gefragt, was er von den Bildern der fahnenschwenkenden Malier hält, antwortete der senegalesische Autor und Publizist Boubacar Boris Diop, allen Behauptungen zum Trotz, diese Bilder seien gestelltes Propagandamaterial, würden sie auf »die immense Erleichterung« verweisen; gerade deshalb seien sie aber auch so »verstörend«, zeigten sie doch, wie sehr die Bevölkerung von der Politik und der Intelligenz des Landes im Stich gelassen worden sei (Ndiayeis 2013: o.S.). Die symbolische Reterritorialisierung orchestrierte die militärischen und politischen Akte der Reterritorialisierung Malis, das durch das Eingreifen Frankreichs vor dem territorialen und politischen Zerfall bewahrt werden sollte. Dabei führte die flagrante Verkehrung und Infragestellung der Entkolonisierung und der Begründung nationaler Souveränität in den unterschiedlichsten politischen Lagern zu Appellen gegen die vermeintliche »Rekolonisierung« Malis2. Das Zeigen der französischen Flagge anlässlich der militärischen Intervention war deshalb auch eine visuelle Intervention in die – lokalen wie globalen – Bildräume der Gegenwart.
2
Vgl. Forum pour un Autre Mali (FORAM), Mali: Chronique d’une recolonisation programmée, 6. April 2013, Afrik.com, http://www.afrik.com/article25273.html (19.06.2013); No to the Recolonization of Mali, 4. März 2013, Intercontinental Cry Magazine. Essential News and Film on the World’s Indigenous Peoples, http:// intercontinentalcry.org/no-to-the-recolonization-of-mali/ (19.06.2013); Alexander Mezyaev, Military Intervention in Mali: Special Operation to Recolonize Africa, Global Research, 14. Januar 2013, http://www.globalresearch.ca/military-intervention-in-malispecial-operation-to-recolonize-africa/5318820 (19.06.2013); France and the Recolonisation of Mali, Fight Racism! Fight Imperialism!, 231, Februar-März 2013, http://www.revolutionarycommunist.org/index.php/international/2881-france-and-therecolonisation-of-mali (19.06.2013).
Heterologien des Nationalen
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Als Abstraktion nationaler und imperialer Identitäts- und Machtbehauptung organisiert die Flagge das Feld des Sichtbaren und vermittelt zwischen Ideologien, Ideen und Gefühlen, in nicht selten widersprüchlicher Weise.
D IE F LAGGE –
EIN
M EDIUM ?
Für den Ethnologen Raymond Firth ist die Flagge eines Nationalstaats nicht nur »a highly condensed focus of sentiment«, sondern auch ein zutiefst heterologisches Symbol; es ist offen für widersprüchliche Deutungen und Anwendungen und kann sogar gegen eine nationale Gesellschaft und die sie kontrollierende Macht gerichtet werden – schon deshalb, weil »the ›sentiment‹ component« (Firth 1973: 367) letztlich unkontrollierbar ist. Der Symbolcharakter der Flagge steht außer Frage und mit ihm die Notwendigkeit der Auslegung ihrer Uneindeutigkeit. Aber inwiefern handelt es sich bei der Flagge nicht allein um ein Symbol, sondern auch um ein Medium? Flaggen existieren in unterschiedlichen Zuständen und Materialitäten, vom genähten Stoff am Fahnenmast bis zur GIFDatei. Ursprünglich handelt es sich um nicht-natürliche, hergestellte Dinge, zusammengenähte und bisweilen bedruckte oder bestickte Stoffbahnen, deren Symbolisierungsleistung sich sowohl einer vorgängigen Produktion, vom grafischen Entwurf bis zur Nähmaschine, als auch formalisierten oder informellen Weisen des Gebrauchs verdankt. Das Hissen oder Schwenken, aber auch das Verbrennen oder Zerreißen der Flagge sind Elemente ihrer komplexen, historisch fundierten Performativität. Dient die Flagge als Vehikel von politischidentitären Argumentationen, sollte sie zugleich als Hardware, in ihrer Materialität, berücksichtigt werden. Derart verstanden grenzt sie an das, was medientheoretisch als »Medium« definiert wird; zumindest qualifiziert sie sich als Objekt medienwissenschaftlicher Reflexion. Gleichzeitig ist zu beachten, dass Flaggen nie isoliert in Erscheinung treten, vielmehr sind sie stets (mehr oder weniger fest) integriert in materiellen, sozialen, urbanen, technischen Umgebungen und Gefügen. In solchen, auch räumlichen Zusammenhängen, können Flaggen nicht nur heterologisch, sondern auch heterotopisch im Sinne Michel Foucaults wirken, indem sie Orte und Handlungen als »gegenplatziert«, ritualisiert oder exterritorial markieren. In Verbindung mit Medien wie der Fotografie, um die es im Folgenden vor allem gehen soll, werfen solche heterologisch-heterotopischen Strebungen der Flagge auch die Frage nach ihrer spezifischen medialen Produktivität auf.
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D IE T RIKOLORE
HINTER DER
F RONT
Joe Penney, ein kanadischer Fotograf und Autor, der in Dakar lebt und seit dem Putsch der Militärs von 2012 für Reuters aus Mali berichtete, war in den Tagen der französischen Intervention ein emsiger Sammler von Flaggenmotiven3. Allerdings ging er durchaus eigene und ungewöhnliche Wege, um den Jubel der Malier in Bilder zu fassen. So fotografierte Penney, der, wie die anderen Mitglieder einer ganzen Armada von Medienvertretern, tagelang nicht in die Nähe der Front vorgelassen wurde (vgl. Penney 2013), irgendwo in der Etappe eine Reihe von Bildern von Yacouba Konate, einem 56-jährigen Mann in einem ländlichen Gebiet, der sich eine französische Flagge wie eine Stola über die Schulter gelegt hat (vgl. Abb. 1 a und b).
Abbildung 1 a und b: Joe Penney, Yacouba Konate mit französischer Trikolore (2013)
Der Mann auf Penneys Fotos trägt die Flagge – ein aufwändig gestaltetes Exemplar mit dem gallischen Hahn und der mehrfach wiederholten Inschrift »France« – in der Manier von Fußballfans, die sich in die Farben ihres Vereins oder ihrer Nationalität hüllen. Dabei erscheint er wie jemand, den die Flagge wie das Ornat eines Amtes oder einer gesellschaftlichen Stellung schmückt. Gemeinsam inszenieren Penney und Konate die Trikolore nicht in Bewegung, nicht geschwenkt oder wehend am Fahnenmast, sondern als seltsam ruhig gestelltes Symbol, als zweckentfremdetes Textil, das durch den Körper des Mannes gespannt und bewegt wird und so eine eigene Würde entwickelt.
3
Vgl. Joe Penneys persönliche Website (http://www.joepenney.com/) und für eine weitergehende Auswahl seiner Artikel die Website »Pass Blue. Covering the UN« des Ralph Bunche Institute for International Studies/CUNY, http://passblue.com/author/ joe-penney/ (17.06.2013); zur Lage in Mali Mitte 2012 vgl. bes. Penney (2012).
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Zugleich ist das bedeutungsträchtige Tuch mit seiner elaborierten Motivik (wahrscheinlich aus chinesischer Flaggenproduktion, die derzeit den Weltmarkt bestimmt), von dem Fotografen als Bild-Text-Objekt in eine, auch farblich stark abweichende Landschaft gestellt, in der die Brauntöne der Savanne überwiegen oder das Gelb der Wand aus Stroh, vor dem Yacouba Konate posiert, den Blick selbstbewusst der Kamera zuwendend. Penneys Bildrhetorik zielt damit auch auf den Einbruch einer ortsfremden Farbigkeit, der Intervention einer symbolischen Macht oder machtvollen Symbolik analog zur Intervention der französischen Truppen ab, die sich Yacouba Konate unmittelbar aneignet und einverleibt. Wie im Kontrast zu dem Mann, der drei Jahre alt war, als die französische Kolonialzeit endete, ließ Penney auch ein etwa zehnjähriges malisches Kind in einem hellgrün getünchten Ladengeschäft posieren (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Joe Penney, Kind mit französischer Flagge in Douentza (2013)
Mit der Linken umklammert es ein Stück Brot, in der aufgestützten Rechten hält es eine – von ihm selbst oder von anderen – gebastelte, an einen Stock geknotete französische Trikolore. Das Bild hatte in den Redaktionen weltweit großen Erfolg; als es um den 29. Januar 2013 herum von Reuters angeboten wurde, machten viele Zeitungen sofort von ihm Gebrauch. Einige der Gründe für diese Popularität sind nur allzu offensichtlich. Das Foto eines Kindes vermittelt einen anderen, manche würden sagen: einen leichteren Zugang zu dem für einen überwiegenden Teil der globalen Öffentlichkeit durch große geografische wie kulturelle
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Distanz und weitgehende Unkenntnis der politischen Umstände geprägten Konflikt in Mali. Die emotionale Ansprache scheint unmittelbar zu wirken und wird noch stimmungsvoll unterstützt und zugleich universalisiert durch eine Farbregie, die das leuchtende Grün der Wände (einen Komplementäreffekt des Goetheschen Farbenkreises nutzend) zum effektvollen Hintergrund der improvisierten Trikolore macht, deren Farben sich so desto kräftiger abzeichnen. Aber auch diesem Bild fehlt einiges von dem, was Fotografien von Flaggenträgern üblicherweise kennzeichnet. Wie bei der Serie mit Yacouba Konate herrscht eine gewisse Statik, gar Statuarik vor. Das Kind lehnt, mehrfach fixiert mit durchgedrücktem Rücken an einem Holzblock, der gezeichnet ist von unzähligen Hieben des Fleischermessers. Dazu hält es den Stock mit der aus drei Stofffetzen zusammengeflickten Trikolore in aller Ruhe. Die Flagge wird dem Fotografen und damit den Betrachtern nicht ostentativ präsentiert, nicht geschwenkt, sondern wie ein selbstverständlich gehandhabtes prothetisches Utensil unbewegt dargeboten. Der Blick des Kindes begegnet dem Objektiv der Kamera mit gelassen-neugieriger Offenheit, jedenfalls ohne Anzeichen von Einschüchterung, während der Körper, entweder durch die Anwesenheit des Fotografen oder durch die techno-mediale Wucht von dessen Apparatur gleichsam an den Block gedrängt erscheint. Dies ist nicht die (stereo-)typische, in der westlichen Öffentlichkeit so vertraute bildjournalistische Formel eines unter Entbehrung und allgemeiner Zivilisationsferne leidenden afrikanischen Kindes. Hier geschieht, hier geschah etwas Anderes. Man muss nur an jene Ambiguität erinnern, die nach John Berger und Jean Mohr konstitutiv ist für jede Fotografie – in ihrer Eigenschaft, ein diskontinuierlicher Ausschnitt aus einem Strom der Ereignisse zu sein (1982: 83ff.) –, um zu ermessen, wie schwierig eine adäquate Deutung und Einordnung dieses Bildes ist. Noch schwieriger (und letztlich ergebnisoffen) bleibt notgedrungen jede Spekulation über die emotionale Situation des Kindes. Aber spekuliert werden soll hier nicht über Emotionen, sondern allenfalls über Affekte – und darüber, wie die Präsenz einer Flagge die semiotische Situation einer Szene auf kennzeichnende Weise strukturiert. Die auffällig prekäre Physis der Flagge in Penneys Foto, ihre offensichtliche Gemachtheit, ihr Bastelcharakter, gerät mit ihrer Aufgabe, die Grande Nation zu symbolisieren, vermeintlich in Konflikt. Zumal die Trikolore flaggenprotokollarisch unkorrekt präsentiert ist, beginnt die französische Flagge doch links mit dem blauen Feld am (imaginären) Flaggenmast, worauf in der Mitte das weiße und außen rechts das rote Feld folgen. Die Flagge in Penneys Foto ist also nicht nur um neunzig Grad in die Vertikale gekippt, sondern auch noch verkehrt herum gezeigt. Trotzdem funktionierte die Aufnahme für die Bildredaktionen, die
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auf der Suche nach einer Fotografie waren, die die Situation in Mali kurz nach der Intervention der französischen Eingreiftruppen stimmig und atmosphärisch anspruchsvoll, vielleicht auch etwas unerwartet, einfängt. Dass die Bildunterschrift zur Veröffentlichung einer stark beschnittenen Version des Fotos auf der Titelseite der Berliner Zeitung vom 31. Januar 2013 behauptet, der »Junge« habe die französischen Truppen »freudig« begrüßt, ist schon Hinweis genug darauf, wie es im Tagesjournalismus maßgeblich auch darum geht, die Polysemie von Bildern zu vereindeutigen. Reduziert auf die Kombination Trikolore/afrikanisches Kind, scheint kein anderer Schluss erlaubt, als dass dieser »Junge« angetreten ist, die Intervention zu feiern.
S IGNIFIKANT
UND
S IGNIFIKAT
DES
K OLONIALISMUS
In einem kulturwissenschaftlichen Kontext liegt nun der Bezug auf eine berühmte Passage aus Roland Barthes’ Mythologies von 1957 nahe – auf jenen kurzen antikolonialen Abschnitt im systematischen Teil des Buches, den der Semiologe der Lektüre eines inzwischen ikonischen Titelbildes der Ausgabe vom 26. Juni 1955 der Illustrierten Paris-Match widmet, das einen jungen afrikanischen Kadetten in Uniform in Nahaufnahme zeigt, der – so Barthes – »den militärischen Gruß [erweist], die Augen erhoben und vermutlich auf eine Falte der Trikolore gerichtet« (2010: 260; vgl. Abb. 3). Barthes unterscheidet zwischen dem »Sinn des Bildes«, der sich in dieser, bereits interpretierenden, Beschreibung erfüllt, und dessen Bedeutung, nämlich »dass Frankreich ein großes Imperium ist, dass seine Söhne, ungeachtet der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und dass es keine bessere Antwort auf die Gegner eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer, mit dem dieser Schwarze seinen angeblichen Unterdrückern dient« (ebd.: 260f.). Barthes übersetzt diese Lektüre sodann in die semiologische Unterscheidung von Signifikant (»ein schwarzer Soldat erweist den französischen militärischen Gruß«) und Signifikat (ein »bewusst hergestelltes Gemisch aus Franzosentum und Soldatentum«), die sich in der »Präsenz des Signifikats vermittels des Signifikanten« (ebd.: 261) äußere. Der vermeintliche Blick auf die Fahne selbst wird in der mythisch-ideologischen Verwendung des Bildes unweigerlich als Evidenz der Loyalität und Ergebenheit gegenüber dem französischen Imperium lesbar.
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Abbildung 3: Titelbild Paris-Match, 26. Juni 1955
Der Fotografierte, das weist bereits der Textkasten auf dem Paris MatchTitelbild selbst aus, ist »der kleine Diouf«, Diouf Birane mit vollständigem Namen, der mit seinen Kameraden, den Kadetten-Kindern der Afrique Occidentale Française (A.O.F.), aus Ouagadougou im heutigen Burkina Faso nach Paris gekommen war, um an den sogenannten »nuits de l’armée« teilzunehmen, einem militärischen Paradenspektakel mit über viertausend Beteiligten im Pariser Sportpalast, das, bei vielen zirkus- und operettenhaften Elementen, in weiten Teilen auch eine Art Kolonialschau war4. Das Paris-Match-Cover steht in die
4
Diesen Details, die dem Titelbild der Paris-Match-Ausgabe und dem Heftinneren zu entnehmen gewesen wären, schenkte Barthes allerdings keine weitere Beachtung. In den letzten Jahren sind einige Lücken und blinde Flecke seiner Analyse benannt worden. Nicholas Mirzoeff etwa verwies darauf, dass das Paris-Match-Titelbild eine unheimliche Resonanz mit einer Praxis der antikolonialen FLN in Algerien hatte: Die FLN ließ gefangengenommene subsaharische Soldaten, die in Frankreichs Dienst standen und für die Durchführung der kolonialen Unterdrückung rekrutiert wurden, nach deren Hinrichtung in eben dieser Pose des militärischen Fahnengrußes fotografieren (vgl. Mirzoeff 2011: 244f.). Der kanadische Künstler Vincent Meessen hat für sein Videoprojekt Vita Nova von 2009 versucht, Diouf Birane, den Jungen auf dem Paris-Match-Titelbild, ausfindig zu machen; Meessen fand heraus, dass Birane bereits 1980 im Senegal verstorben war, aber er stieß bei der Recherche in Ouagadougou auf einen von Biranes Kameraden, der ebenfalls 1955 an der Veranstaltung im Sportpalast teilgenommen hatte und im Inneren der Paris-Match-Ausgabe abgebildet war. Und er entdeckte etwas, was bislang in der Literatur um Barthes’ Biographie und schon gar
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Tradition der Kolonialpropaganda, wie sie ein berühmt-berüchtigtes Plakat, das der Service d’information pour le Secretariat d’Etat aux Colonies der VichyRegierung um 1940 mit dem Slogan »drei Farben, eine Fahne, ein Imperium« veröffentlicht hat, besonders eindringlich exemplifiziert (vgl. Abb. 4).
Abbildung 4: Propagandaplakat, herausgegeben vom Service d’information pour le Secretariat d’Etat aux Colonies der Vichy-Regierung, ca. 1940
Die drei rassistisch stereotypisierten Köpfe je eines nordafrikanischen, subsaharischen und ostasiatischen Mitglieds der französischen Kolonialstreitkräfte richten sich, ähnlich wie im Falle des jungen Diouf Birane, auf eine symbolische Erscheinung der Nation – die Flagge, die sich als Trikolore im Wind aber zugleich in ihrem Rücken bewegt und sie gewissermaßen um- und einfängt. Die visuelle Verschränkung der Trikolore mit den Stellvertretern der von Frankreich kolonisierten und rekrutierten Bevölkerungen, deren Köpfe wie durch eine dreifarbige wolkig-gasförmige Atmosphäre hindurchzustoßen scheinen, konstruiert eine Einheit, die eine affektive Bindung an das Projekt des Kolonialismus suggeriert, die im Anblick der Flagge (beziehungsweise in der Flagge als vermeintlich natürlicher Umgebung) begründet liegt5.
nicht in Bezug auf sein antikoloniales Engagement eine Rolle gespielt hatte, dass nämlich einer der Großväter von Barthes, ein gewisser Gustave Binger, ein führender Kolonialoffizier Frankreichs in Westafrika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen ist (vgl. Demos 2013: 45ff.). 5
In den letzten Jahren ist das Vichy-Plakat von jungen migrantischen Aktivist_innen in Frankreich aus dem Archiv gezogen, angeeignet und verfremdet worden, um das na-
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R ESTSYMBOLIK
DES
N ATIONALEN
In Joe Penneys Aufnahme des Kindes in Douentza, entstanden knapp 63 Jahre nach der Fotografie für das Paris-Match-Titelbild mit Diouf Birane, haben sich der Ort und die Funktion der Flagge in vielfacher Weise verändert. Das Kind in Penneys Foto, augenscheinlich etwas jünger als Diouf Birane im Jahr 1955, hebt den Blick nicht auf eine dem militärischen Protokoll entsprechende Präsentation einer realen oder zu imaginierenden Trikolore, sondern richtet ihn von der Flagge in seiner rechten Hand fort auf die Kamera zu. Er posiert als Träger einer Fahne, zu der es – als Bewohner eines Landes, das durch die Hilfe französischer Truppen von islamistischen Rebellen und deren Terrorregime befreit werden soll – ein anderes Verhältnis hat als das kolonialisierte Subjekt Diouf Birane, das unmittelbar für das koloniale Projekt Frankreichs ausgebeutet wurde. Das Signi-
tionale Projekt auch visuell zu rekodieren und so für eine tolerante, anti-islamophobe und anti-negrophobe Gesellschaft zu werben (vgl. PIR 2010; Le Blog de guy 2012). Dass der Bezug auf die Trikolore offenbar auch in diesen kritischen Umwidmungen problemlos ist, wäre eine eigene Diskussion um die nationale Symbolik in Frankreich und speziell die republikanischen Konnotationen der Trikolore wert, die zu anderen Zeiten, etwa um 1968, von der französischen Linken schon einmal sehr viel vehementer in Frage gestellt worden sind; vgl. etwa Le Rouge, den kurzen ciné-tract, den der Maler Gérard Fromanger 1968 gemeinsam mit Jean-Luc Godard 1968 produziert hat, in dem sich die Farbe Rot vielsagend über das weiße und blaue Feld der Trikolore ergießt, http://vimeo.com/56400016 (19.06.2013). Die jüngere Auseinandersetzung mit der Verdrängung der kolonialen Geschichte hat zu einem breiten wissenschaftlichen, aber auch popkulturell getragenen gesellschaftlichen Diskurs in Frankreich geführt, der etwa in der Diskussion um den äußerst erfolgreichen Spielfilm Indigènes von Rachid Bouchareb aus dem Jahr 2006 entbrannte, der die weitgehend vergessene oder ignorierte Rolle der nord- und westafrikanischen Soldaten in der französischen Armee im Zweiten Weltkrieg zum Thema hatte. Welche Bedeutung das Motiv der Flagge in diesen Zusammenhängen besitzt, zeigen beispielhaft sowohl die revisionistische historische Forschung zum Thema, die – wie im Falle von Pascal Blanchards und Sandrine Lemaires Culture impériale, 1931-1961 (2011) – einen Ausschnitt aus einem weiteren Propagandabild der Vichy-Regierung mit einem Flaggenmotiv als Titelbild verwendet, als auch eine, für den internationalen Markt bestimmte, Plakatversion für Indigènes (Days of Glory), die die grafische Synopse der Filmhandlung in einen blau-weißroten Nebel taucht (so dass auch hier dass Motiv der Trikolore als Atmosphäre fortwirkt); vgl. http://www.comingsoon.net/imageGallery/Days_of_Glory__Indige nes_/ daysofgloryos2.jpg (19.06.2013).
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fikat, in Barthes’ Worten, ist nicht mehr jenes »Gemisch aus Franzosentum und Soldatentum« der spätkolonialen Epoche, sondern eine postkoloniale, globalisierte Weltordnung, in der Frankreich im Falle Malis eine Sonderrolle übernommen hat – als ehemalige Kolonialmacht und als aktueller geopolitischer und geoökonomischer Akteur, der z.B. den Uranabbau im benachbarten Niger nicht durch eine Destabilisierung der Region gefährden will. Damit handelt Frankreich im eigenen nationalen Interesse, aber auch gemäß der Machtlogik jenes neuen Empire der internationalen kapitalistischen Gemeinschaft, die an nationaler Repräsentation nur insoweit festhält, als dies den ökonomischen Interessen dieses globalen Regimes dient. Wie wenig es um einen den Protokollen und Etiketten der Handhabung nationaler Symbole gehorchenden Mythos und dessen visuelle Zeichen geht, und wie sehr stattdessen um eine zitierende Erinnerung an die möglichen und vergangenen Funktionen nationaler Repräsentation, wird am – von Penney ambitioniert komponierten – Eindruck des Improvisierten und Bedürftigen in der vermeintlich »freudigen« Begrüßung der französischen Truppen deutlich. In ihrer ganzen trägen, hausgemachten Materialität und Verwundbarkeit hängt die Trikolore vom Stock herab statt als numinose Erscheinung inszeniert zu sein oder, Barthes’ Vermutung folgend, eingesenkt in den Blick des jungen Kadetten. Damit ist sie alles andere als ein triumphales Zeichen des Sieges, eher eine Reliquie, der kümmerlich-rührende Rest der Symbolik des Nationalen, aber dennoch (oder gerade deswegen, weil den Erwartungen geringfügig widersprechend) für die Kamera des nach außergewöhnlichen Motiven Ausschau haltenden Bildkorrespondenten besonders attraktiv.
D ER T OTEMISMUS
DER
F LAGGE
Als die französischen Kolonialtruppen in den 1890er Jahren in Westafrika auftauchten und ihre territorialen und ökonomischen Ansprüche anmeldeten, brachten sie die Trikolore mit. Die Flagge wurde bei den Feldzügen der Franzosen von den Soldaten 1894 als Symbol des Triumphs und des Einzugs der Zivilisation in Städte wie Timbuktu oder Abomey getragen, als visuelles Eroberungswerkzeug, das wiederum den zeitgenössischen Bildkorrespondenten und Bildpropagandisten – die meisten unter ihnen waren noch mit dem Zeichenstift unterwegs – der Stoff war, aus dem sich der Mythos des Imperiums bauen ließ. Während die weißen französischen Soldaten in Weiß oder Blauweiß gekleidet daherkamen, waren viele der »indigenen« Truppenangehörigen, darunter die multiethnischen tirailleurs sénégalais, mit rotem Fez, weißen Pluderhosen und
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blauem Wams ausgestattet, wurden also der Trikolore anverwandelt, waren Fahnenstoff, Teil der symbolischen Inszenierung des Imperiums, der Assemblage des Nationalen. Im Januar 2013 schwenken die französischen Truppen selbst keine Flaggen mehr, sondern werden von der Trikolore am Straßenrand begrüßt, die in den Tagen nach der Intervention reißenden Absatz fand. Bei den Maliern wie bei den ausländischen Korrespondenten beliebt war die Kombination der Trikoloren von Frankreich und Mali. Sie sollte die gemeinsame militärische Kampagne, die neue Waffenbrüderschaft und postkoloniale Gemeinsamkeit unterstreichen. Eingebettet ins Straßenbild von Timbuktu oder Bamako, kam sie als leicht zu lesende, nachgerade universelle Symbolsprache für die mediale Verbreitung und Verwertung in Frage. Besonders weit trieb diese französisch-malische Doppelbeflaggung ein Malier, der sich am 2. Februar 2013 auf dem Platz der Unabhängigkeit in Bamako einfand, wo der französische Präsident François Hollande erwartet wurde. Es war erneut Joe Penney, der diese Gestalt in der Menge entdeckte, fotografierte und ihr Bild durch seine Agentur weltweit verbreiten ließ (vgl. Abb. 5). Der Mann hatte sich den Oberkörper samt Kopf in Blau-Weiß-Rot bemalen lassen, auf der Brust die Aufschrift: »Bienvenue le sauveur François Hollande«. Als Rock oder Hose trug er, soweit sich das auf dem Foto erkennen lässt, die malischen Nationalfarben Grün, Gelb und Rot. Dazu hielt er in beiden Händen je eine Nationalflagge Frankreichs und Malis. Auch wenn man Körperbemalungen mit Nationalfarben aus dem Sport, vor allem von Fußballfans nun schon seit einiger Zeit kennt, so frappiert doch, erneut vor dem Hintergrund der Kolonialvergangenheit und auch der erwähnten Verwendung »indigener« Truppen in den Farben der französischen Trikolore, wie hier in geradezu schamanistischer Manier, den maîtres fous in Jean Rouchs gleichnamigem Film von 1956 vergleichbar, die Farben der ehemaligen Kolonialmacht buchstäblich einverleibt und verkörpert werden6. Von dieser trikoloristischen Maskerade geht auch etwas Bedrohliches, Unheimliches aus – als wäre das Bild eines Körpers, der gänzlich in ein Zeichen der Rekolonisierung verwandelt scheint, womöglich ansteckend.
6
Erwähnenswert ist, dass Rouchs Les maitres fous, der die Tänze und Rituale der Hauka im von den Briten kolonisierten Niger dokumentiert (und inszeniert), auch eine für den Film strukturell bedeutsame Fahnenparade der Hauka zeigt, die wiederum auf das britische Fahnenritual des »Trooping the Colour« verweist; vgl. Schüttpelz (2005: 305ff.).
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Abbildung 5: Joe Penney, Mann mit Körperbemalung und den Flaggen Frankreichs und Malis (2013)
Der sich hier abzeichnende Totemismus des Flaggengebrauchs steht am zu vermutenden Anfang einer Anthropologie und Soziologie der Flagge, die sich in Émile Durkheims und Marcel Mauss’ Überlegungen zu den primitiven Formen der Klassifikation von 1903 und in Durkheims Elementaren Formen des religiösen Lebens von 1912 finden lassen, wo das Totem als Emblem der Übereinkunft einer Gruppe gedeutet wird, sich als Gruppe zu betrachten. Das Totem wird von Durkheim mit der »Fahne des Clans« verglichen, dem Zeichen, mit dem sich ein Clan vom anderen unterscheidet und das zugleich Symbol Gottes wie das der Gesellschaft ist (2007: 326f.). In manchen Studien zur Zivilreligion moderner Staaten, und hier vor allem der Vereinigten Staaten von Amerika, wird die Flagge als Totem-Emblem verstanden, das zum einen sämtliche Lebensbereiche durchdringt und selbst den Körper der Staatsbürger, etwa als Tätowierung, ziert; das aber zum anderen wie ein geheiligtes Objekt in komplexen Ritualen und Rechtsordnungen vor Verunreinigung und Entweihung geschützt werden muss. »Die Definition des Heiligen als desjenigen, was ausgesondert ist, unversehrt und vollständig, eins und physisch vollkommen, macht verständlich, warum das Verbrennen oder Zerschneiden der Flagge, und die Gefahr, dass sie zerstückelt oder zerteilt wird, ein solcher Schrecken umgibt. Eine verschlissene und abgerissene Flagge ist rituell gefährlich
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und muss deshalb zeremoniell verbrannt werden, so dass rein gar nichts von ihr übrig bleibt. Die Flagge wird sowohl als ein lebendiges Wesen wie als heilige Verkörperung eines toten behandelt. Das Grauen beim Verbrennen der Flagge ist die rituelle Reaktion auf das Verbot, das Totem zu töten.« (Marvin 1999: 31; Übersetzung T.H.)
Dieser religiös-rituelle Gebrauch der Flagge steht in einer engen Beziehung zu ihrer Funktion im militärischen Kontext. Im Deutschen wird zwischen Fahnen und Standarten einerseits und Flaggen andererseits unterschieden. Während erstere zumeist aus kostbarem Material gefertigte, bemalte oder bestickte Einzelanfertigungen sind, die zu einer bestimmten militärischen Einheit gehörten und in der Neuzeit als Feldzeichen dienten, bis sie seit dem 17. Jahrhundert zunehmend standardisiert wurden, werden als Flaggen im Unterschied zu Fahnen nur auswechselbare Träger von Zeichen betrachtet. Das Material der Flagge spielt dieser Semantik nach keine ausschlaggebende Rolle, es geht allein um optische Übermittlung von Information auf weite Distanzen. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert, und insbesondere seit den Amerikanischen und Französischen Revolutionen, also mit Beginn der modernen Staatenbildung, wird die Flagge vor allem als Kennzeichen der Nationalität gebraucht, das international bestimmten Regeln folgt: so dient die Flagge z.B. als Zeichen der Inbesitznahme. Durch ihre Aufstellung oder ihr Hissen wird ein Herrschaftsanspruch über ein Territorium oder ein Gebäude verkündet. Der moderne Kult um die Flagge überträgt den Ehrbegriff der militärischen Einheit auf Nationen und politische Ideologien (Evert/ Hohrath 2007: 17f.)7.
M ATERIALITÄT
DER
F LAGGE
Sind Materialität und Materialwert der Flagge aber tatsächlich unerheblich für ihre symbolische, identitätsstiftende, affizierende Funktion? Eine Flagge mag nur ein bedrucktes Stück Stoff sein, ein Zeichen ohne Wert, schrieb schon Émile Durkheim, trotzdem würde ein Soldat dafür sterben, um sie zu retten (2007: 326). Die materielle Beschaffenheit des Signifikanten wäre unerheblich sowohl
7
In einer oft zitierten Äußerung des abolitionistischen Predigers Henry Ward Beecher, einem Bruder von Harriet Beecher-Stowe, heißt es um die Mitte des 19. Jahrhunderts: »Erblickt ein besonnener Geist die Flagge der Nation, sieht er nicht nur die Flagge selbst, sondern auch die Nation dahinter – welcher Art ihre Symbole und Insignien auch sein mögen, sieht er in ihr vorrangig ein Sinnbild für die Regierung, die Prinzipien, die Wahrheiten und für die Geschichte dieser Nation« (ebd.:18).
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in Hinblick auf das Signifikat wie auf das Zeichen selbst. Aber um so zu argumentieren, müsste man eine Zeichentheorie zugrunde legen, die von sämtlichen Trägerobjekten (oder -medien) und deren je spezifischer Materialität zugunsten eines Begriffs rein optischer Informationen abstrahiert. Mit anderen Worten, die Materialität, die Textura eines spezifischen Flaggenobjekts – gewissermaßen das Fahnenhafte an der Flagge der Nation – sorgen entscheidend für den jeweiligen Sinngehalt und Gebrauch. Zumindest in den Darstellungen des Flaggenhandelns, der Performanz der Flagge, können besondere Zustände, das Hinfällige oder Solide des In-Erscheinung-Tretens von Flaggen beträchtliche Bedeutung annehmen – diskursive Bedeutung, aber mindestens ebenso sehr affektiven Sinn. Das Geflickte der Trikolore in Penneys Fotografie aus Douentza in Mali ließe sich auf eine weit zurückreichende Tradition von Flaggen beziehen, die als unvollkommen, unfertig oder verbraucht ins Bild gesetzt werden. Dieser Bildtyp findet sich vor allem in der Ikonografie von Schlachten, aber auch Revolutionen, wo Fahnen und Flaggen erobert, verteidigt oder in der Niederlage dem Feind übergeben gezeigt werden, leicht versehrbar, deshalb schützenswert. Besonders in den USA ist das Bild der zerfetzten, zerschlissenen, der tattered Stars-&Stripes spätestens seit der Zeit des Bürgerkriegs ein beliebtes Motiv; das Posieren mit der geretteten, aus der Schlacht heimgebrachten Flagge gehörte vor den Kameras der Kriegsfotografen zur rituellen Routine. Bis heute hat jede stock image-Agentur die tattered flag im Angebot8.
V ON
DER
K INDERFLAGGE
ZUR
R EGENBOGENFAHNE
Auch wenn der Fall in Penneys Fotografie des Kindes und der Kinderflagge in Douentza anders liegt – weil die Flagge hier nicht im Krieg oder durch eine andere Katastrophe versehrt wurde, sondern der improvisierte Ausdruck der Freude und Dankbarkeit darüber, dass die französischen Soldaten gegen die islamistischen Rebellen vorgehen – demonstriert dieses Bild doch ähnlich wie die eben gezeigten, wie sehr Flaggen in äußerst materielle semiotische Ordnungen (bzw. dynamische Anordnungen, Assemblagen) eingefügt sind: als Dinge, die einen gewissen Grad an Handlungsfähigkeit, einen Eigensinn haben, und dementsprechend gebraucht, aktiviert und wahrgenommen werden können, bis hin zur animistischen Verlebendigung des Flaggenobjekts.
8
Das Motiv interessiert aber auch ambitionierte Fotografen wie z.B. Seth Butler; vgl. Tattered. Investigation of an American Icon, http://www.sethbutler.com/tattered/ (19.06.2013).
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Das Unbewegte der Komposition und die daraus resultierende geradezu meditative Stimmung von Penneys Foto sind ungewöhnlich, da der Anlass und eine sich ihm verdankende, eigentlich erwartbare Choreographie der Flaggenpräsentation fehlen. Zugleich konnte der Fotograf auf eine inter-ikonische Rezeption setzen, darauf, dass die Medienöffentlichkeit dieses Bild auf ältere Bilder des Flaggengebrauchs, aber auch auf andere aktuelle Bilder aus Mali beziehen würde. So hatten sich nur ein, zwei Tage vor seiner Aufnahme im »befreiten Timbuktu« Szenen des Jubels beim Eintreffen der malischen und französischen Truppen am 28. Januar 2013 zugetragen. Die Bevölkerung Timbuktus war vorbereitet und schwenkte die Flaggen Frankreichs und Malis, darunter viele Exemplare, die ähnlich behelfsmäßig wirkten wie die Flagge in der Hand des Kindes. Die Befreiung Timbuktus im Norden Malis hatte besonderes symbolisches Gewicht, nicht nur weil so eine der kurzfristig errichteten Hochburgen der islamistischen Rebellen erobert und wichtige Kulturgüter wie die berühmte Bibliothek und deren Handschriften vor der weiteren Zerstörung durch die Dschihadisten geschützt werden konnten, sondern weil gerade Timbuktu als legendenumwobene Wüstenstadt für die Erinnerung der Kolonialgeschichte Westafrikas und Frankreichs großes imaginäres Potential besitzt (vgl. Davoine 2003). Die malischen und französischen Trikoloren, die das Straßenbild zumindest an diesem Tag prägten, artikulieren eine Vielzahl von Gefühlen, ideologischen Überzeugungen und medienreflexiven Reaktionsweisen, aber sie verweisen auch auf die Abwesenheit jener Banner, die noch wenige Tage zuvor von den islamistischen Gruppen in der Region präsentiert worden waren, wo immer sie mit ihren Konvois auftauchten. Im öffentlichen Raum Timbuktus und der globalen Medien, die von der französischen Intervention berichten, wird die Präsenz der von der internationalen Gemeinschaft als illegitim, ja illegal geächteten Symbole der Islamisten durch jene der Farbenspiele anerkannter Nationalstaaten wie Frankreich und Mali ersetzt. Die symbolproduzierende Güterindustrie reagierte schnell und warf Amalgame des Nationalen auf die malischen Märkte, wie etwa in Bamako, wo der AFP-Korrespondent Stéphane Jourdain fotografierte, wie sich ein brandneuer Sticker mit dem Porträt François Hollandes, hinterfangen von malischen und französischen Farben, in unmittelbarer Umgebung Bugs Bunnys und des malischen Fußballspielers Seydou Keita in der Kundengunst behaupten muss9. Die Gelegenheit, die Flaggeneuphorie in Mali und jene neuen Farbkombinationen sa-
9
Vgl. »Sticker à l’effigie de François Hollande, le 21 mars 2013 au marché Dabanani de Bamako«, Direct Matin.fr, http://www.directmatin.fr/france/2013-03-22/au-malila-fievre-francophile-commence-agacer-429143 (19.06.2013).
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tirisch zu wenden, ließen sich auch die Puppenspieler von Les guignols de l’info nicht entgehen (vgl. Abb. 6).
Abbildung 6: Still der satirischen TV-Sendung Les guignols de l’info, 28. Januar 2013
In ihrer Sendung vom 28. Januar 2013 gaben sie dem Thema freilich eine spezifische innenpolitische Wendung10. Was zunächst wie der Auftakt zu einem primordialen Ritus militärisch-kolonialistischer Macht- und Territorialbehauptung aussieht (die Puppe eines französischen Soldaten am Fahnenmast, links die Andeutung einer afrikanischen Strohhütte) verändert sich schlagartig, als »In the Navy« von den Village People einsetzt und die Regenbogenfahne der Homosexuellen-Bewegung an Stelle der Trikolore gehisst wird. Der Off-Kommentar verkündet, dass die gleichgeschlechtliche Ehe nun offenbar endgültig angenommen worden sei – dass also selbst das Militär, erklärte Bastion der Homophobie, in der Begeisterung über den eigenen Erfolg in Mali alle Vorbehalte fahren lasse. Die Ähnlichkeit zwischen der Regenbogenfahne der Schwulenbewegung und der PACE-Fahne der italienischen Friedensbewegung (die im Zuge der weltweiten Demonstrationen gegen die Invasion im Irak 2003 zu einem globalen Symbol wurde) schärft die Spitze der satirischen Einlassung von Les guignols de l’info zusätzlich.
10 »La France hisse le drapeau au mali – Les guignols de l’info du 29/01/13«, http:// www.youtube.com/watch?v=Atj6CgC-oec (19.06.2013).
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D IE
WIDERSTREBENDE
F LAGGE
Natürlich sind die Lage in Mali und die Bilder, die sie hervorbringt, alles andere als eineindeutig. Obwohl (oder gerade weil) der Jubel auf den Straßen und Plätzen von Bamako und Timbuktu so überschwänglich und scheinbar an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen war, als François Hollande dem Land, in das seine Truppen nur wenige Wochen zuvor einmarschiert waren, Anfang Februar 2013, unmittelbar nach der Eroberung Timbuktus einen Besuch in der Art eines Feldherrn abstattete, meldeten sich jedoch vermehrt kritische Stimmen. Das »frankophile Fieber«11, das die Bevölkerung Malis ergriffen zu haben schien, wurde in Beziehung zu den antikolonialen Kämpfen gesetzt, zu der tief reichenden Ablehnung der ehemaligen Kolonialmacht. Eingeräumt wurde aber auch, dass die verschiedenen Generationen in Mali durchaus divergierende Auffassungen und Empfindungen angesichts der neuen triumphalen Präsenz und Retterpose Frankreichs hegen. Kritisiert wurde nicht nur die duldsame Haltung Frankreichs gegenüber der Regierung Malis, die 2012 durch einen Putsch des Militärs ans Ruder gekommen war, sondern auch, wie die französischen und anderen Medien die Lage im Norden Malis allzu vereinfachend darstellen würden: so sei die vereinheitlichende Rede von »Terroristen« und »Dschihadisten« eine Fehlrepräsentation der äußersten Heterogenität der Akteure. Wenige Tage nach der Intervention und nach Hollandes Besuch in Mali meldete sich der bekannte malische Filmautor und Theoretiker Manthia Diawara am 6. Februar 2013 mit einem längeren Essay zu Wort, in dem er nicht nur die komplexe Situation in Mali analysiert, sondern auch Ideen für eine Neuordnung der afrikanischen Staatenordnung entwickelt, die wesentlich durch eine Entkoppelung von Nation und Staat gekennzeichnet wäre. Zu Beginn seines Textes, der auch als eine Art antinationalistisches Manifest gelten kann, gibt Diawara seiner Frustration darüber Ausdruck, welchen Empfang die Malier ihren vermeintlichen Rettern bereitet hätten, und wirft – in Anspielung an das Wort von der »Bananenrepublik« – den despektierlichen Begriff »Banner-Republiken« in die Debatte: »Ich empfand die französische Intervention in Mali als eine Dosis Realismus, die man mit großer Demut, ja Scham hinnehmen muss, weil ich dachte, mein Land sei anders als diejenigen, die ich als ›Bannerrepubliken‹ [républiques bannières] betrachtete, also jene, die den Fahnen der anderen huldigen: Länder, wo der Westen immer helfen muss; Länder, die
11 Jeune Afrique, »Le Mali saisi d'une ›fièvre francophile‹ qui étonne et parfois agace« (22.03.2013), http://www.jeuneafrique.com/actu/20130322T123104Z20130322T1231 00Z/ (19.06.2013).
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versagt haben und wo sich die Menschen beim Anblick weißer Soldaten wie Kinder über den Weihnachtsmann freuen. Die Malier in den Straßen tanzen zu sehen, wie man es bei der Unabhängigkeit gemacht hatte, aber diesmal, um die französische Armee zu begrüßen, war für mich ein Standbild [arrêt sur l’image], das mich einerseits an das Scheitern unserer Unabhängigkeit und vorgeblichen nationalen Souveränität denken ließ, und andererseits an die vollständige Rückkehr unter eine französische Hegemonie wie jene eines Vaters, der seinen Sohn nicht erwachsen werden lassen will.« (Diawara 2013: o. S.; Übersetzung T.H.)
Diawara sieht in der Geste des Fahnenschwenkens eine Unterbrechung der Bewegung der Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzenden Emanzipation – eine Regression auf die Nation, sei es die eigene oder diejenige, auf deren Hilfe man angewiesen scheint. Die »Banner-Republik« wäre die Form des Nationalen, in der der »banale Nationalismus«, von dem der Sozialpsychologe Michael Billig spricht (1995), nicht ausreicht, und das Schwenken der Flagge notwendig ist oder wird, um affektive Bindungen an ein nationales Projekt zu entwickeln. Im Anschluss an Diawara könnte man Penneys Fotografie des Kindes mit der Flagge daher auch als eine Allegorie der Unreife, des Mangels an Reflexion auf die eigene, doppelte Befangenheit durch nationalistische und kolonialistische Mythen lesen, als Inbild der »Banner-Republik«, von deren kindlicher Affizierbarkeit durch kleinste Anzeichen der Dankbarkeit, des Stolzes oder auch der schadenfreudigen Überheblichkeit (gegenüber dem Unglück in den Nachbarländern, von der Diawara berichtet). Aber Penneys Bild ist für unterschiedlichste Reaktionsweisen und Erfahrungen offen, nicht nur in dem trivialen Sinne, dass jede und jeder etwas anderes in ihm erblicken dürfte. In der Präsentation der ›falschen‹ französischen Flagge, wie in dem – dokumentarische Zeugenschaft mit theatralischer Inszenierung verknüpfenden – Foto einer unterschwellig widerwilligen, widerständigen, zumindest entdramatisierten Performanz des Flaggenschwenkens, scheint das Ritual des Bekenntnisses zur Nation in seine Bestandteile zu zerfallen, schütter und instabil zu werden. Eher als eine unterwürfige Geste der Umarmung lässt sich eine stumm-beredte Verweigerung der Prinzipien der »Republique bannière« vermuten. Die Zeit der Grande Nation und die Zeit des Kindes sind nicht länger synchronisiert wie in Barthes’ Lektüre des Paris-Match-Titelbildes, sondern treten auseinander, bilden eine Heterochronie. Das Fehlen jedes Pathos der Unterwerfung in Pose und Blick des Kindes erinnert daran, wie die – in diesem Fall: ehemalige – Kolonie von Michel Foucault zu den »Gegenplatzierungen oder Widerlager[n]« (Foucault 2001) gezählt werden, also zur Raumordnung der Heterotopie. Zudem wird die Arbitrarität des Zeichens angesichts seiner ostentati-
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ven Materialität spürbar. Die verwendete visuelle Technologie, allem Anschein nach einer digitalen Spiegelreflexkamera, artikuliert durch ihre hohe Auflösung und die Lichtstärke des Objektivs eine nuanciert-brillante Farbigkeit und präpariert in extremer Detailgenauigkeit die Texturen der Gegenstände und Oberflächen aus der, ironischerweise an eine Greenbox erinnernde, VerkaufsraumBühne heraus, auf der sich neben dem Kind, der Flagge und dem Holzblock auch noch kleinere und große Kanister auf dem Boden und an der Wand sowie ein Kühlschrank entdecken lassen. In dieser Umgebung ist die Flagge – die unmittelbar zuvor genäht worden sein muss, wie bei den Schneidern in Bamako und anderswo in Mali, die sich im Januar 2013 kurzfristig auf die Produktion französischer Flaggen verlegten (und ihrerseits zum Motiv der Pressefotografen wurden)12 – ein Objekt unter anderen, charakterisiert durch seine ›individualisierende‹ Materialität und handwerkliche, präindustrielle Gemachtheit. Darüber hinaus kann (und soll) sich dieses Objekt mit seinen leuchtenden Primärfarben und dem frischen Weiß aber nicht von seiner Symbolfunktion emanzipieren. Als Flagge fügt es dem Bild ein zusätzliches semiotisches Register hinzu; es ›beschriftet‹ das Foto, organisiert maßgeblich dessen Wahrnehmung, Deutung und Verwendung. Der andere Fixpunkt der Aufmerksamkeit, die in der Betrachtung mit der Flaggenschrift unberechenbare Verbindungen und Vermischungen eingeht, ist das Gesicht des Kindes, das Penneys Foto die Signatur eines Affektbildes verleiht, bis zu dem Punkt, an dem die Präsenz der Flagge eine mimische Qualität und das Gesicht des Kindes Züge des Symbolischen annehmen. Kurzum: Jede gewünschte oder erwartete Botschaft des Fotos, jede ideologische Anrufung, die mit dem Fahnenmotiv unmittelbar verbunden ist, verfängt sich in der dichten Assemblage der Materialitäten und Uneindeutigkeiten. Dieser »arrêt sur l’image«, um mit Diawara zu sprechen, ist mit Flaggenkunde, politischer Psychologie oder semiotischen Analysemodellen allein nicht zu verstehen. Eine medienwissenschaftliche Problematisierung der militärischen und journalistischen Dispositive, die in dem Foto und durch das Foto wirken, ist geboten13 – wie eine Untersuchung des Fotos als flüchtig-erratisches Element eines von widerstrebenden politisch-affektiven Energien getriebenen sozio-technischen Assembla-
12 Vgl. z.B. das Bild, das der Reuters-Fotograf Malin Palm am 24. Januar 2013 vom Schneider Abdoulay Cissuma, der am Zentralmarkt in Bamako eine französische Flagge nähte, gemacht hat. http://www.theatlantic.com/infocus/2013/01/the-conflictin-mali/100446/ (19.06.2013). 13 Vgl. Samuel Siebers Aufsatz »Fluchtlinien. Für eine Heterotopologie der Medien« in diesem Band.
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ge-Gefüges. Das Stolpern der Souveränität im Bild (und über das Bild), das ein Emblem der Komplexität der Beziehungen von Subjektivität und Souveränität hervorbringt, eröffnet die prä- und transindividuelle Dimension des Affekts. Ausgehend von einer Kritik des Ideologiebegriffs und einer Theorie des Affekts im Kapitalismus wie sie von Gilles Deleuze und Félix Guattari begründet wurde und gegenwärtig etwa von Judith Butler, Brian Massumi oder Lauren Berlant fortgeführt wird, kann man angesichts des Kindes mit der Trikolore grundsätzlich fragen, wie »passionate or irrational attachments to normative authority and normative worlds« (Berlant 2011: 183) zu verstehen wären. Penneys Foto verhandelt solche unbewussten Anhänglichkeiten oder Abhängigkeiten auch gerade deshalb, weil es hier um das attachment eines Kindes geht, also einem per se – von der Familie und insbesondere von den Eltern – abhängigen, den häuslichen und gesellschaftlichen Normen unterworfenen, und diese Unterwerfung als Leidenschaft (Liebe usw.) erlebenden Subjekts. Für Lauren Berlant sind Kinder, nicht zuletzt durch ihre fundamentale Abhängigkeit, Verfechter eines »grausamen Optimismus«, in dem noch jede Zumutung und Zurichtung der Autoritäten als Beitrag zu einem besseren Leben aufgefasst wird: »Kinder organisieren ihren Optimismus zu leben durch Bindungen [attachments], in die einzugehen sie nie eingewilligt haben […] sie kommen mit dem aus, was vorhanden ist [what’s around], das angemessen auf ihre Bedürfnisse reagiert.« (Ebd.: 184; Übersetzung, T.H.)
Das Kind in Penneys Bild greift die Trikolore als etwas Vorhandenes (»what’s around«), als Zeichen der Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung womöglich, oder als Zeichen einer Autorität, die bestehende und bekannte Autoritäten ergänzt oder ersetzt – wie temporär auch immer. Und es erlaubt uns, den Betrachter_innen, über die Beziehungen zwischen Kindheit und Nation, zwischen Abhängigkeit und Souveränität, zwischen gefühlten Normen und normativen Gefühlen zu reflektieren. Überdies wären unsere individuellen und transindividuellen attachments zur Nation, hier der französischen, und zum neoimperialen Regime, in das der Nationalstaat integriert ist, zu untersuchen14.
14 In diesem Zusammenhang einer Politik des Affekts sollten auch neuere sozialpsychologische und neurologische Studien zur Wirkung des Anblicks spezifischer Flaggen geprüft werden, deren empirisch ermittelte Ergebnisse Aufschlüsse über die Transformation der Räume des Politischen in Räume einer prä- oder postdiskursiven Affekt-Öffentlichkeit geben könnten (vgl. Hassin/Ferguson/Shidlovski/Gross 2007; Cram/Patrikios/Mitchell 2012; Michels 2012).
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In dieser Perspektive einer erweiterten Affekttheorie des Politischen wäre das Objekt »Flagge«, als konkretes materielles Ding wie als abstraktes Symbol, nur in seiner Relationalität interessant, als Ding unter Dingen, als Aktant unter Aktanten, nur dann mithin, wenn es als Teil eines Ereignisses erfahren wird, als Element affektiver Begegnungen und soziotechnischer Gefüge, das in diesen und durch diese Rahmungen materiell wie virtuell verändert wird. Warum nicht das subakademische Fach der Vexillogie, der Fahnen- und Flaggenkunde, mit einem antiessentialistischen Begriff von »Flagge« so transdisziplinieren, dass ein differenzierteres, jenseits ideologiekritischer Reflexe situiertes Nachdenken über die Pragmatik und Performativität von Flaggen möglich wäre? Eine Reflexion, im Zuge derer die Präsenz von Flaggen in den heterotopischen und heterologischen Bildräumen der Gegenwart hinsichtlich ihrer Expressivität wie politischen Instrumentalität, ihres affirmativen wie subversiven Charakters, ihrer Banalität wie ihres Skandalisierungs- und Erregungspotentials zu betrachten wären. Bei aller berechtigten Kritik an den Zuckungen der »République bannière« könnte die Analyse der Flaggen und Flaggenschwenker in Mali Anfang 2013 zeigen, wie diese als phantasmatische Stützen in einer postnormativ-deregulierten (Welt-)Ordnung dienen – und damit zur Ökonomie der Affekte im prolongierten Ausnahmezustand beitragen.
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A BBILDUNGEN Abbildung 1 a und b: Yacouba Konate mit französischer Trikolore. Mali, Mitte Januar 2013, © REUTERS/Joe Penney. Abbildung 2: Kind mit französischer Flagge in Douentza, einer Ortschaft in Mali, die kurz zuvor durch französische Truppen befreit worden war, 29. Januar 2013, © REUTERS/Joe Penney. Abbildung 3: Titelbild Paris-Match, 26. Juni 1955, aus: Barthes, Roland, Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. Abbildung 4: »Trois couleurs, un drapeau, un empire«, Propagandaplakat, hg. v. Service d’information pour le Secretariat d’Etat aux Colonies der VichyRegierung (ca. 1940), http://chan.archivesnationales.culture.gouv.fr/sdx-23b 1-20090531-chan-pleade-2/pl/toc.xsp?id=FRDAFANCH0098_72AJ_2_ d0e 13918&qid=sdx_q0&fmt=tab&idtoc=FRDAFANCH0098_72AJ_2-pleadet oc&base=fa&n=1&ss=true&as=true&ai=standard%7C (20.06.2013). Abbildung 5: Joe Penney, Mann mit Körperbemalung und den Flaggen Frankreichs und Malis posiert auf dem Unabhängigkeitsplatz in Bamako, anlässlich des Besuchs des französischen Präsidenten François Hollande am 2. Februar 2013, © REUTERS/Joe Penney. Abbildung 6: Still der satirischen TV-Sendung Les guignols de l’info, Canal+ (28. Januar 2013), http://www.canalplus.fr/c-divertissement/pid1784-c-lesguignols.html?vid=798105 (20.06.2013).
»Justice has been done.«1 Oder: Wer hat Angst vor Scham? L INDA H ENTSCHEL
Diesmal sollte alles anders sein. Keine Fotos seines Todes würden die Öffentlichkeit erreichen. Er würde auch nicht verhaftet, nicht im Blitzgewitter der Presse einer erkennungsdienstlichen Expertise unterworfen werden, nicht in einem monatelangen Gerichtsspektakel auf seine unausweichliche Hinrichtung warten müssen. Keine Aufnahmen peinlicher Untersuchungen oder martialischer Verstümmelungen sollten den Tod besiegeln und die Wiedererlangung von Ruhe und Sicherheit feiern, keine Bilder würden demonstrativ so genannte Gerechtigkeit verkünden, sondern die Macht des Wortes: »We got him« (Darnstädt 2011: 77-91)2. Der Tote, von dem die Rede ist und dessen Tod sich um solch eine visuelle Leerstelle repräsentiert, ist Osama Bin Laden. Der Verantwortliche dieser neuen Bilderpolitik heißt Barack Obama. Statt des Toten oder des Tötens stellt er sich dar: als Chefstratege, der die Operation Geronimo3 bis ins kleinste Detail plant
1
Barack Obama in seiner Fernsehansprache am Abend des 2. Mai 2011, in der er die Tötung Osama Bin Ladens durch ein US-amerikanisches Sonderkommando verkündete. Dieser Beitrag ist die stark überarbeitete und erweiterte Fassung meines Textes (vgl. Hentschel 2011).
2
Allerdings widerspricht eine Seebestattung islamischen Beisetzungsregeln, wurde als Verhöhnung wahrgenommen und erregte massive muslimische Kritik an der respektlosen, westlichen Arroganz (vgl. Gerlach 2011: 2).
3
Die Mission ist nach dem aufständischen Anführer der Apachen Chiricahua Gokhlayeh, kurz Geronimo (1829-1909), benannt. Dieser hatte sich jahrelang einer Festnahme entziehen können. Interessanterweise soll der Großvater von George W. Bush, Prescott Bush, als Mitglied der konservativen Studentenverbindung Skull and Bones in
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oder in klassischer Denkerpose im Profil, hoch konzentriert in etwas außerhalb des Bildausschnittes vertieft (Abb. 1).
Abbildung 1: Barack Obama im Situation Room, Weißes Haus, 1. Mai 2011
Auch in jenem historischen Moment, der die Dekade nach den Anschlägen des 11. September phantasmatisch zu Ende bringen sollte, bleibt der Präsident seinem Medienimage des »No-drama-Obama« treu. Seit seinem Wahlsieg 2008 legte er großen Wert auf eine ruhige, besonnene, tiefgründige Aura, die ihn nicht nur von seinem hitzigen Vorgänger unterscheiden, sondern auch – vielleicht vor allem – vom rassistischen Stereotyp des »Angry Black Man« distanzieren sollte4. Und schließlich galt es, die Waage zu halten zwischen Obamas Image als Friedensnobelpreisträger und seinen Rollenanteilen als Oberbefehlshaber der USArmee. Der Bilderexplosion von 9/11 antwortete also zunächst die visuelle Stille des 5/1. Eine weitere Fotografie zeigt Hillary Rodham Clinton. Umgeben von ihren männlichen Kollegen, richtet auch sie mit ernstem Blick und vorgehaltener Hand ihre Aufmerksamkeit auf ein Jenseits des Bildes (Abb. 2). Sichtlich bewegt von dem, was sie sieht, uns aber verborgen bleibt, ist Clinton die Figur, in der die Frage kulminiert: Was wird uns nicht zu sehen gegeben?
Yale den Schädel Gokhlayehs aus dessen Grab gestohlen und in deren private Knochensammlung integriert haben (vgl. dazu Wittmann 2011: 12). 4
Zur »Identity Performance« des »Obama-Calm« siehe weiterführend Dietze (2013: 425f.)
»Justice has been done.«
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Abbildung 2: Nebenraum des Situation Room, Weißes Haus, 1. Mai 2011
Diese und weitere Aufnahmen entstanden am Nachmittag des 1. Mai 2011 in einem kleinen Nebenraum des Situation Room, jenem Hochsicherheitsmedienraum des Weißen Hauses, in dem Obama mit seinen engsten Sicherheitsberaterinnen und -beratern die Überwältigung Bin Ladens, keineswegs aber den Moment seiner Erschießung per Videoübertragung live mitverfolgt haben soll. Die Anspannung davor und die Entspannung danach wurden – einem Fotoroman ähnlich – von dem offiziellen Fotografen der US-Regierung, Pete Souza, festgehalten und von ihm im Auftrag des Weißen Hauses auf der Internetplattform flickr veröffentlicht5. Die größte mediale Aufmerksamkeit erreichte jedoch die Fotografie mit Hillary Clinton, die in der Folge wie eine visuelle Synopsis der Tötung zirkulieren sollte. Insbesondere ihre Geste, die Hand vor den Mund zu halten, wurde als Betroffenheit interpretiert, von ihr selbst jedoch als allergisches Niesen erklärt. Das Blickregime der Demokraten vermied eine triumphierende, mit der Vorgängerregierung assoziierte Herrschaftsattitüde, gleichwohl es um einen – ethisch
5
Das Weiße Haus veröffentlichte Aufnahmen des Fotografen Pete Souza auf der Internetplattform flickr. Siehe dazu http://www.businessinsider.com/photos-obama-aprilschedule-2011-5?op=1 (19.06.2013).
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unmöglichen – Triumph ging: den Triumph, durch Töten menschlich zu handeln: »So sollte sein Tod von allen begrüßt werden,« verkündet Obama am Abend der Erschießung in seiner TV-Rede an die Nation, »die an Frieden und Menschenwürde glaub[en]« (FAZ 2011: 2). In seinem ersten Fernsehinterview am 4. Mai 2011 gefragt, warum die US-Regierung kein Foto des toten bin Laden als Beweis veröffentliche, betonte Obama zunächst Gründe die Sicherheit betreffend: Man wolle sicherstellen, dass eine Zirkulation dieser sehr grausamen Fotografien nicht als Anstiftung zu weiterer Gewalt verstanden würden und auch nicht, so ergänzt er, »as a propaganda tool. You know, that’s not who we are. You know, we don’t trott out this stuff as trophies«6. Doch sollte sich gerade im visuellen Entzug von Gewalt eine neue Bildermacht zeigen. Was uns das Foto aus dem Situation Room wissen machen will, scheint dies: dass die US-Regierung nicht nur sich selbst nicht gefährden, sondern auch ihre politische Gegnerschaft nicht medial durch die Verbreitung von PostmortemBildern beleidigen möchte, indem sie sich als eine schamvolle Regierung in Szene setzt, die das Sterben der von ihnen Getöteten selbst nicht betrachtet. Die Aufgabe dieses Regierungsbildes ist es, die Politik des Nicht-alles-gesehenhabens – schließlich war die Videoübertragung zeitweise zusammengebrochen – und des Nicht-alles-zeigen-müssens – schließlich hatten der Präsident und seine Crew die grausam zugerichtete Leiche Bin Ladens auf den Fotografien identifiziert – zu repräsentieren. Erfüllt diese Bilderpolitik des Nicht-Zeigens jenen »Respekt« dem Toten gegenüber, den das Weiße Haus verlauten ließ7?
V ISUELLES O FF Kein Leichenbild eines Arabers, kein Herrscherbild eines Schwarzen, sondern das Betroffenheitsbild einer weißen Frau – was in diesem Blickregime umgangen wird, was sein leeres Zentrum im Off der Darstellung markiert, ist das Bild des »Angry Nonwhite Man«, das die weiße US-visuelle Kultur in ihren Suprematiephantasmen über Jahrhunderte zutiefst prägte.
6
Am 4. Mai 2011 erklärte sich Barack Obama in dem CBS-Interview 60 minutes mit Steve Kroft, vgl. http://www.cbsnews.com/8301-503544_162-20059739-503544.html (19.06.2013).
7
In der Pressekonferenz am 4. Mai 2011 betonte Pressesprecher Jay Carney mehrfach das Anliegen der US-Regierung, den Toten nach Maßstäben des respektvollen Umgangs mit islamischen Werten behandelt zu haben, vgl. http://www.whitehouse.gov/ photos-and-video/video/2011/05/04/press-briefing (19.06.2013).
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Die Tradition des visuellen Entzugs und der Verlagerung des Bildzentrums ins Off reicht weit in die westliche Repräsentationskultur hinein. Offensichtlich konnte sie sich als Machttechnik auf dem Feld des Sehens bewähren. Es scheint, als sei die Darstellung des visuell Abwesenden zu einer Art moderner Herrschaftszeremonie geworden. Denn nicht allein das Sichtbare ordnet das Bild und gibt ihm Sinn, sondern die Inszenierungsstrategie der Suspense, der Spannungssteigerung und -dehnung, in der etwas nicht zu sehen gegeben wird, das gleichwohl die sehen können, die wir betrachten. Somit werden die Betrachterinnen und Betrachter durch ein Ausweichmanöver, ein visuelles Geheimnis in die Diegese hineingenommen und mit ihr verwoben. Auch auf der Fotografie des Situation Rooms schauen wir in die Augen, die die toten Augen Bin Ladens gesehen haben. Indirekte Sichtbarkeiten regieren den Bildraum. Gewiss nicht das erste, doch eines der bekanntesten Suspense-Bilder ist Las Meninas, 1656 von Diego Velázquez gemalt (Abb. 3).
Abbildung 3: Diego Velázquez, Las Meninas (1656/57)
Kunstgeschichte, Philosophie, moderne Malerei und Installationskunst umkreisen seit dieser Zeit immer wieder die Frage: Was ist auf dem Gemälde zu sehen, dessen Leinwandrücken wir sehen?
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Michel Foucault beschrieb in seinen Überlegungen zur Ordnung der Dinge die Herstellung visueller Unzugänglichkeiten, durch die das Gemälde der Las Meninas zu schillern beginnt (vgl. Foucault 1974: 31-45). Seiner These zufolge ordnete Velázquez den Bildaufbau, seine Lichtverhältnisse, Blickachsen und Narrationslinien um ein außerhalb der Darstellung situiertes Zentrum, das in dem Maße Macht und Herrschaft repräsentiert, in dem es der Repräsentation selbst entzogen bleibt, weil es sich nur indirekt zu sehen gibt. Foucaults Antwort auf die Frage, was die Vorderseite des uns abgewandten Bildes im Bild zeige, lautete: das spanische Königspaar Philipp IV. und Marianna. Der Spiegel im Hintergrund des Gemäldes mache das Paar als schummrige Reflexion anwesend, aber nur, um es als das Außen der Repräsentation, als ihr Maßstab und ihre essenzielle Leere gebieterisch zu bewahren: »das notwendige Verschwinden dessen, was sie [die Darstellung] begründet« (ebd.: 45). Auch der Film- und Fototheoretiker Christian Metz verwies auf die Strategie des visuellen Entzugs als einer medialen Machttechnik (Metz 2003: 215-225). Unzählige Psychodramen leben davon, dass den Zuschauerinnen und Zuschauern erst am Ende offenbart wird, was die Protagonistinnen und Protagonisten bereits zu Beginn zu Tode erschreckte. Diese Ausweichmanöver des indirekten Zusehen-Gebens schaffen eine Spannung, schreibt Metz, in der die Betrachtenden, angefeuert durch ihren Wunsch, mehr zu sehen, unzugängliche Sichtbarkeiten genießen8. In jener Mischung aus Angst und Lust gepaart mit Neugierde deponieren sie ihren Blick an ebendiesen Barrieren, richten sich in der Blickfalle ein und starten von hier aus ihren Identifikationsreigen mit den Protagonistinnen und Protagonisten. Es sind demnach zuallererst die nicht zu vereinbarenden Sichtbarkeitsräume auf der und auf die Leinwand, die ein imaginäres Band zwischen Dargestellten und Betrachtenden weben. »Der Betrachter weiß nichts über das Off der Bilder […], und dennoch kann er nicht verhindern, sich ein Off vorzustellen, es zu halluzinieren und von der Form dieser Leere zu träumen […]« (ebd.: 222f.). Das Off der Darstellung rahmt das Feld des Visuellen und dessen Machteffekte. Wie nun ging das Weiße Haus mit diesem Verweis ins Leere, ins Off des Todes und des Tötens um? Sie machte ihn zu ihrem Credo und wollte in der Herstellung visueller Unzugänglichkeiten eine Geste des Humanen, keineswegs aber eine Machtdemonstration repräsentiert sehen. Das Image Obamas steht nicht für Souveränitätswahn, sondern Besonnenheit, nicht für Hass, sondern Respekt, nicht für Überlegenheit, sondern Differenz, nicht für Betrachtungen des
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Zum Begriff des Zu-Sehen-Gebens (le donner-à-voir) vgl. Lacan (1987: 122).
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Leidens Anderer9, sondern? Es braucht keine ausgewiesenen Kenntnisse der Psychoanalyse, um zu erkennen, dass der Wille zur Macht, welcher überhaupt erst die Grundlagen für die gezielte Exekution Osama Bin Ladens lieferte, sich nie im Nichts auflösen kann, sondern in andere Bilder wandert und, einer Heimsuchung gleich, das Feld des Visuellen von anderswo aufrollt. Osama Bin Ladens Tod suchte sich medial andere Wege. Berichte, Rekonstruktionen oder so genannte Dokumentationen der Operation Geronimo hatten Hochkonjunktur in TV und Internet10. In all diesen Filmen ist eine Verschiebung zu beobachten: Der Frage nach drastischen Darstellungen der letzten Minuten im Leben des Osama Bin Laden antwortet eine Fokussierung auf die Lebensgefahr, in die sich die Elitetruppe der Navy Seals begeben hatte. So war schließlich aus der Todesfrage von 2011 die Überlebensfrage von 2012 geworden. Zum ersten Todestag Bin Ladens tauschte die Maiausgabe des TIME Magazine das durchgestrichene (Medusen)Haupt von Bin Laden (Abb. 4) gegen schwarze Militärhubschrauber aus, deren lädierte Propeller den Titel »THE LAST DAYS OF OSAMA BIN LADEN« gestalterisch in Bruchstücke zerlegen (Abb. 5). Es ist schwer, darin nicht eine Anspielung an Ridley Scotts Kriegsepos Black Hawk Down (2001) zu sehen, das die Militärinvasion in Somalia von 1993 aufgreift und zeigt, wie nach einem Hubschrauberabsturz in Mogadischu US-Soldaten gelyncht und ihre toten Körper durch die Straßen gezerrt wurden. Dieser Helikopterunfall in der somalischen Hauptstadt war bereits die phantasmatische Wiederkehr jener anderen Bruchlandung Eagle Claw, die 13 Jahre zurücklag. 1980 hatte die Regierung Jimmy Carters versucht, über 50 US-Bürgerinnen und -Bürger aus der Geiselhaft in Teheran zu befreien. Wegen eines Sandsturmes stürzte einer der dafür vorgesehenen Hubschrauber ab (Abb. 6). Anhänger des damaligen Ayatollah Khomeini schleppten die Leichen mehrerer US-Soldaten durch die Stadt, das iranische Staatsfernsehen übertrug, Jimmy Carter wurde nicht wiedergewählt.
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Mit der Großschreibung des/der »Anderen« folge ich der Schreibweise von Emmanuel Levinas und Jean-Paul Sartre und betone den phantasmatischen Charakter dieser Setzung.
10 CBS erhielten für The Presidents Story: Killing Bin Laden ein Exklusivinterview mit Barack Obama im Weißen Haus, ABC News produzierten die Doku-Fiction The Kill Shot. The Story behind Bin Laden’s Death (2011), die BBC erstellte in Zusammenarbeit mit dem Weißen Haus und dem Sender VOX Die Jagd nach Bin Laden. Im Fadenkreuz der Geheimdienste (2012), die bekannte Hollywood-Regisseurin Kathryn Bigelow brachte im Dezember 2012 ihren Film Zero Dark Thirty in die Kinos, ebenfalls in Absprache mit der US-Regierung.
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Abbildung 4 und 5: Titelseite des TIME Magazine, 20. Mai 2011 (li.); Titelseite des TIME Magazine, 7. Mai 2012 (re.)
Abbildung 5: Operation Eagle Claw, Teheran, Iran, 24. April 1980
In der BBC-Produktion Die Jagd nach Bin Laden von 2012 bezieht sich Obama auf diese gescheiterte Operation und betont, ein wesentlicher Erfolg der Mission habe nicht nur in der Tötung des Terroristen, sondern im Überleben aller Navy Seals gelegen11. Zur visuellen Unterstützung dieser Aussage montiert der Film
11 Siehe Inside the Situation Room, Rockcenter by Brian Williams, NBC News, http://video.msnbc.msn.com/rock-center/47272339#47272339 (19.06.2013).
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im Schuss-Gegenschuss-Verfahren Sequenzen der Absturzsimulation mit der Fotografie aus dem Situation Room. Die Narration bekommt somit eine geschickte Wendung: Nicht der Moment der Tötung ergreift Hillary Clinton, sondern die Gefährdung der eigenen Soldaten. Ein Jahr danach sollte nicht mehr die Erzählung einer gewaltsamen Tötung, sondern die einer geglückten Rettung im Zentrum stehen. Aus dem moralisch begründeten Nicht-Zeigen des Leichenbildes war der Triumph geworden, verhindert zu haben, dass Terroristen triumphalistisch Bilder toter US-Seals zeigen. Und wir als Bildbetrachtende blicken nicht auf ein potenzielles Snuff-Publikum, sondern auf eine patriotische Gemeinschaft. War das der Wert des Versuches? Im Weiteren möchte ich überlegen, ob die offiziellen Regierungsbilder aus dem Situation Room weniger von der Scham, das Leiden Anderer zu betrachten, erzählen als vielmehr vom Ausweichen vor der Scham, die eigene Verwundbarkeit anzuerkennen: Bleibt die Bilderpolitik der visuellen Suspense vielleicht doch mehr als wir zunächst glauben möchten mit dem gewaltsamen Zeigen der Bush-Ära verbunden? Nimmt sie vielleicht nur einen anderen Ausweg aus einem Souveränitätsengpass und bleibt dem Willen nach Autonomie und Kontrolle aber treu? Denn ethisch gesehen reicht es nicht, in der Allegorie der Betroffenheit Schuld anzuerkennen, dass der Andere mir ausgeliefert ist und dafür politische Verantwortung übernehmen muss. Ethisch relevant ist vielmehr, inwiefern ich mein Ausgeliefert-sein an Andere anerkenne, der Andere mich somit zu seinem Objekt macht und mir mein Gekettet-sein an mein Sein vor Augen führt. Den Anderen nicht beschämen zu wollen, ist etwas anderes als selbst mit Scham erfüllt zu sein. Deshalb möchte ich im Folgenden überlegen, inwieweit eine Ethik der Scham eine visuelle Widerstandstechnik und einen Ausweg aus diesem gnadenlosen, autoritären, selbstimmunisierenden Seinskarussell darstellen kann, das die Bush-Regierung perfekt verkörperte und die Obama-Regierung in Teilen wiederholt. Mit Bezug auf Emmanuel Levinas und Jean Paul Sartre werde ich für eine Betrachterscham plädieren.
B ETRACHTERSCHAM Emmanuel Levinas eröffnet seinen Essay über den Ausweg aus dem Sein (1935) mit dem Widerspruch, der die Idee des Seins in der westlichen Kultur »zwischen der menschlichen Freiheit und der Unerbittlichkeit des Seins, das diese [die Freiheit] verletzt« (Levinas 2005: 3), einspannt. Die traditionelle Philosophie
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habe den Ausweg gewählt, das Subjekt nicht sich selbst, sondern der Welt entgegenzustellen: »Die Einfachheit [Ganzheit, L.H.] des Subjekts steht jenseits der Auseinandersetzungen, die das Subjekt mit sich selbst entzweien und die, im Menschen selbst, das Ich gegen das Nicht-Ich stellen. Diese Auseinandersetzungen vermögen es nicht, die Einheit des Ich zu brechen. Vielmehr ist dieses Ich, von allem gereinigt, was in ihm nicht eigentlich menschlich ist, dem Frieden mit sich selbst geweiht, vollendet sich, schließt sich und gründet sich nur auf sich selbst.« (Ebd.)
Allen Hindernissen zur imaginierten Vollendung werde, so Levinas weiter, heroisch begegnet. Offenbar hielt auch die Politik der Obama-Regierung fest an diesem Souveränitätsideal eines mit sich selbst identischen und komplettierten, nur durch äußere Widrigkeiten von innerem Frieden, Freiheit und Menschlichkeit sich entzweienden Subjekts. Sie hätte weiterlesen sollen: »Diese Konzeption eines sich selbst genügenden Ich ist eines der wesentlichen Kennzeichen des bürgerlichen Geistes […]. Der Bourgeois gesteht sich keine innere Zerrissenheit ein und würde sich eines solchen Mangels an Selbstvertrauen schämen. […] Über den Antagonismus, der ihn der Welt entgegensetzt, will er den Mantel des ›inneren Friedens‹ breiten. Sein Mangel an Skrupeln ist der beschämende Ausdruck seines ruhigen Gewissens.« (Ebd.: 5)
Levinas zufolge ist es nicht primär der Würgegriff der äußeren konkreten Realität, der das bürgerliche Subjekt leiden macht. Es ist vielmehr die Konfrontation mit der existenziellen Last des Seins, mit seinem Dasein als einem In-die-Weltgeworfen-sein, jenem Il y a, das dem Seienden vorgängig und an das das Seiende ohne die Möglichkeit eines freien Willens gekettet ist: Niemand wurde gefragt, ob er/sie geboren werden möchte. Das Sein verhält sich dem und der ZuSeienden gegenüber in einer unerträglichen Gleichgültigkeit. Deren größter Affront ist das Endlich-sein. Die Scham, so Levinas weiter, sei just der Moment, in dem das Subjekt auf sein Ausgeliefert-sein an dieses anonyme Il y a zurückgefaltet würde und mit Unwohlsein auf die eigene Nacktheit und sein Endlich-sein reagiere. Damit ist aber keineswegs eine gesellschaftlich-moralische Schamhaftigkeit gemeint, sondern die existenzielle Erfahrung des Subjekts mit dem Sein, die Begegnung mit der Potenzialität des Seins, des kommenden Seins und somit auch der Möglichkeit, dem Kommenden nicht zu entkommen.
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Es ist also gerade nicht ein äußerer Anderer, der mich beschämt, sondern mein »Mantel des inneren Friedens« (ebd.: 5), wie Levinas sagt, welcher nichts weiter verdecke als die Skrupel vor meiner inneren Zerrissenheit, eben nicht Herr im eigenen Haus zu sein. Gebunden an ein wesenloses Il y a, an die Geworfenheit des Seienden ins Sein, ein Sein, das man weder ablegen noch sich aneignen kann, existiert für Levinas Identität nur als eine dramatische Form: »Dem Bedürfnis nach Evasion erscheint das Sein nicht nur als Hindernis, […] sondern als Gefängnis, dem es zu entkommen gilt« (ebd.: 15)12. Keine der etablierten Kulturtechniken liefere einen wirklichen Ausweg aus diesem Drama: weder die phantastischen Räume der Künste, noch die Wissensakkumulationen der Wissenschaften oder die ökonomischen Prämissen der Politik – nicht, solange sie an einem Zufluchtsort für das von äußeren Zwängen und Hindernissen befreite Subjekt arbeiten und »das Sein an sich nicht in Frage stellen« (ebd.: 11). Die Evasion hingegen gehe andere Wege: »Im Gegensatz dazu stellt die Evasion gerade diesen vorgeblichen Frieden mit sich selbst in Frage, da sie ja danach strebt, die Verkettungen des Ich mit sich selbst zu durchbrechen. Sie flieht das Sein selbst, das Selbst-Sein und nicht das Begrenzt-Sein. Das Ich flieht sich in der Evasion nicht, weil es der Unendlichkeit dessen, was es nicht ist oder was es niemals werden kann, entgegengesetzt ist, sondern weil es überhaupt ist oder wird.« (Ebd.: 17)
In der Levinasschen Ethik ist Scham eine Begegnung mit dem Gekettet-sein an das Leben als fundamentaler Lebensbedingung. Sie ist somit keine eigentlich moralische, sondern eine existenzielle Erfahrung. Mit ganzer Wucht, betont Levinas, offenbare sich hier der Moment, dass die Existenz die/den Existierenden unendlich und uneinholbar überschreite13. In der Scham ist das anonyme Sein zu Gast im Leben des Subjekts – ungefragt, unangemeldet kommt es auf mich zu, macht mich geradezu zum Objekt der Begegnung. Deshalb dominiert im Augenblick der Scham das Gefühl des Entdeckt-worden-seins, nicht des Entdeckens. Und gleichzeitig kündigt sich mit der Scham ein Aufbegehren gegen das anonyme, wesenlose Sein und seine gnadenlose Inbesitznahme des Subjekts an, findet
12 Wenig später wird auch Jacques Lacan in seinem Aufsatz über das Spiegelstadium (1936) diesen Gedanken formulieren (vgl. 1996: 61-70). 1935 geschrieben, lesen sich Levinas Überlegungen zum Leiden am Sein (retrospektiv) auch als politische Reflexion über das Jude-sein im Nationalsozialismus und die Shoa. 13 »Die Unerbittlichkeit des Seins kann gar nicht anders als selbst der Ebene, auf der der Wille Hindernissen begegnen kann oder eine Tyrannei erleidet, zutiefst fremd zu sein. Denn sie ist das Kennzeichen der Existenz des Existierenden« (Levinas 2005: 57).
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ein Aufstand gegen die Ohnmächtigkeit des Gekettet-seins statt. Der Moment der Scham kann deshalb kein friedlicher Ort sein. Jean Paul Sartre beschrieb das Entgegenkommen der Scham in seiner berühmten Voyeur-Szene als ein visuelles Ereignis. In Das Sein und das Nichts, 1943 unter deutscher Besatzung verfasst, schildert er die Selbstvergessenheit eines Mannes (er selbst), der durch ein Schlüsselloch schaut, um einen Blick auf die hinter der Tür imaginierte Szene zu erhaschen. Er verschmilzt ganz mit dieser Handlung und ist dabei, »[s]ich in der Welt zu verlieren, [s]ich durch die Dinge aufsaugen zu lassen wie die Tinte durch ein Löschblatt« (2008: 468), als er ein Geräusch vernimmt und erstarrt. Mit einem Schlag sieht er sich gesehen und ertappt. Das ist das Interessante an Sartres Beschreibung des beschämten Beobachters: Die Person erlangt ein Bewusstsein von der Situation, insofern sie sich als ein Objekt für Andere wahrnimmt: »[I]ch sehe mich, weil man mich sieht. […] Das bedeutet, dass ich mit einem Schlag Bewusstsein von mir habe, insofern ich mir entgehe […], insofern ich meinen Grund außerhalb von mir habe. Ich bin für mich nur als reine Verweisung auf Andere« (ebd.: 470). Sartre lässt mit Kalkül offen, ob da wirklich ein Anderer gewesen ist oder ob er sich selbst auf dem Feld eines imaginierten Anderen angeblickt und ertappt fühlte, wie es später Jacques Lacan immer wieder herausstellen wird14. Sowohl Sartre als auch Levinas betonen jedoch, dass paradoxerweise genau dieser Moment der Dissoziation oder der Schizophrenie – und keineswegs der des »inneren Friedens« – der Funke sei, der mich meinem Dasein am nächsten bringe, »insofern es mich grundsätzlich flieht und mir nie angehören wird. Und dennoch bin ich es, ich weise es nicht zurück wie ein fremdes Bild, sondern es ist mir gegenwärtig wie ein Ich, das ich bin, ohne es zu erkennen, denn in der Scham […] entdecke ich es; die Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Anderen und mich selbst am Ziel diese Blicks, sie lassen mich die Situation eines Erblickten erleben, nicht erkennen. Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, dass ich wirklich das Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt« (ebd.: 471). Scham entfaltet demnach ein komplexes Selbstverhältnis: Sie individualisiert, weil sie das Subjekt seiner Existenz an sich zuführt, und sie sozialisiert, weil sie ihm damit zeigt, dass es an sich nicht existiert, sondern seine Grenzen nur außerhalb von sich erfahren kann. Sie bereitet einen Weg aus der Ontologie
14 »Dieser Blick, dem ich begegne – das ließe sich am Text von Sartre selbst zeigen – ist zwar nicht gesehener Blick, aber doch Blick, den ich auf dem Feld des Anderen imaginiere« (Lacan 1987: 90).
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und eine Hinwendung zur Bezüglichkeit des Seins, zum Für- und Mit-sein. Weder kann ich mich meinem Gekettet-sein länger entziehen, noch ihm etwas hinzufügen. Hier ist die Flucht zu Ende; hier ist, wie eingangs erwähnt, kein friedlicher, aber auch kein passiver, sondern ein antagonistischer Ort, an dem das Subjekt selbst in den unlösbaren Konflikt zwischen dem Willen nach Freiheit und der Unerbittlichkeit der Existenz eingespannt ist, in das Sein hineingeworfen zu sein. Und deshalb beginnt hier Verantwortung, eine ethisch soziale Verantwortung für die Existenz des Existierenden, aller Existierenden, die in der Scham nicht genichtet, sondern aufgerichtet wird. Die Niederlegung des Ichs ist somit keineswegs seine Niederlage, sondern sein Anfang. Sartre und Levinas plädieren für ein Subjekt der Scham als Widerstandsfigur gegen eine Politik, die im Namen des homologen, freien, souveränen, sich vervollständigenden Ichs geführt und »Zivilisation« genannt wird. In der Scham erkennen sie eine Verweigerung der bourgeoisen Ontologie des Selbst-seins und eine Möglichkeit, »aus sich selbst herauszugehen, d.h. die radikalste, unwiderruflichste Verkettung zu durchbrechen, nämlich die Tatsache, dass das Ich es selbst ist« (Levinas 2005: 17). Hier wird das Subjekt zu dem, »was nicht zu sein ich mich mache« (Sartre 2008: 529). Der Ausweg, der sich in der Scham ankündigt, entzieht sich dem Mantel des inneren Friedens und flieht dessen Last. Die Sorge um das Sein weicht der Sorge um einen Ausweg aus dem Selbst-sein. Der Ausweg beginne, wenn meine Welt zum Anderen hin abfließe, schreibt Sartre. Es sei ein »Übergehen zum Anderen des Seins« (Levinas 2011: 24)15. Das Denken, so Levinas, gehe dann nicht mehr vom Sein aus, sondern es [das Andere des Seins] gehe ihm [dem Denken] entgegen (ebd.: 46). »It makes me me, while preventing me from knowing who I am« (Copjec 2006: 102), schreibt Joan Copjec. Näher kann ich mir nicht kommen denn als Andere. Ob sich im allergischen Nasefließen von Hillary Clinton nun ein Ausweg aus dem Sein oder ein Ausweg vor der Scham ankündigte, weiß vielleicht selbst sie nicht. Es ging mir auch nicht um eine Antwort, sondern um eine Frage: An welcher Stelle überschneiden sich die visuelle Kultur der aktuellen, scheinbar demokratischen, nicht-beschämen-wollenden Bildverweigerung und die visuelle Herrschaftstechnik des triumphalistischen Betrachtens der Leiden Anderer? Mein Verdacht ist, dass beide visuellen Regime den Ort der Scham im Anderen, im politischen ›Feind‹ situieren, der entweder beschämt werden musste, weil er ›uns‹ beschämte oder der, aus demselben Grund, nicht mehr beschämt werden
15 »Übergehen zum Anderen des Seins, anders als sein. Nicht anderssein, sondern anders als sein. Auch nicht nichtsein« (Levinas 2011: 24).
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soll. In beiden Bilderpolitiken scheint die westliche Kultur in dem Maße vom inneren Antagonismus der Scham freigehalten, in dem sie ihre Ohnmacht gegenüber dem eigenen Ausgeliefert-sein in die gewaltsame Auslieferung des Anderen verschieben. Das Hindernis ist immer der Andere. Scham ist weiterhin in der Affektkultur der Arabischen Welt situiert, ebenso wie Empathie und Mitgefühl im westlichen Diskurs an Weiblichkeit, weiße Weiblichkeit gebunden bleibt. Dieses Kollektiv war allenfalls bereit, die politische Verantwortung und damit die legitimierbare Schuld an der Tötung des Topfeindes Osama Bin Ladens zu übernehmen, der zum Zeitpunkt seiner Erschießung als politischer Führer schon lange tot war. Vier Tage nach der Exekution Bin Ladens reiste Präsident Obama zum Ground Zero, um dort einen Kranz niederzulegen und so zu tun, als könne eine Wunde heilen, indem eine andere gerissen worden war.
S/ C / HAM Kann es also sein, dass gerade eine Fotografie wie die Aufnahme aus dem Situation Room, die einer Bilderpolitik des Triumphes eine visuelle Politik der Scham folgen lassen wollte, auf einer Zurückweisung von Scham beruht? Die Philosophin und psychoanalytische Theoretikerin Joan Copjec würde vermutlich sagen: Nicht ohne Grund! In ihren Ausführungen zur Scham bezieht sie sich ebenfalls auf Emmanuel Levinas sowie auf Jacques Lacan. Sie gibt dort zu bedenken, dass ein in westlichen Gesellschaften geführter Diskurs um ein Beschämungsverbot nicht selten eine Art Kompensationstechnik und Symptombildung sei, Scham nur in der Zurückweisung und Verneinung zu genießen. Die hartnäckige und bisweilen zwanghafte Beschäftigung mit der Scham des Anderen verweise letztlich auf den massiven Wunsch, der Scham im eigenen Leben auszuweichen, allenfalls Schuld anzuerkennen (Copjec 2007: 61). Da auch das westliche Subjekt sich nicht einfach vom Affekt der Scham freisprechen kann, bleibt es über das Prinzip der Hemmung mit der Scham – rassistisch auf dem Feld des Anderen phantasiert – verbunden. Die von Levinas und Sartre beschriebene existenzielle Unmöglichkeit, der Scham zu entkommen, könne zu einem gewissen Grad, so Copjec, in ein moralisches Verbot zu beschämen umschlagen. Dies bringt den imaginären Vorteil, ein primäres Gefühl der Unkontrollierbarkeit in eine sekundäre Phantasie der Regulierbarkeit zu wenden und damit, scheinbar, einen Affekt (Angst) in einen Willen (Kontrolle) zu konvertieren, eigentlich aber, ungewollt, einen Zwang zu erzeugen. Das Subjekt verliert dabei am Ende mehr als es gewinnt. Vor allem verliert es die Möglichkeit, Scham als eine ethische Widerstandsfigur gegen das Geket-
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tet-sein an ein ruinöses bürgerliches Autonomieideal zu erfahren, denn: »Shame is not a flight from being, but a flight into being« (Copjec 2006: 111)16. Deshalb schrieb Levinas über die Scham als eine Ethik des Für-einander-seins, nannte Sartre sie die »Geburt« des sozialen Ichs. Joan Copjec führt aus, wie das Unvermögen, Scham als eine existenzielle Lebensmodalität aller Subjekte anzuerkennen, sich in einen humanitären Aufruf, diese oder jene von einer Beschämung zu verschonen oder die Schuld dafür zu übernehmen, umwandelt: »One flees – or attempts to flee – the superego by obeying its commands to enjoy in a productive way« (ebd.: 107)17. Dafür sorgt die Strenge des »That’s not who we are«-Bildverweigerungs-Kompensationsgenießens; sie wird zu einer »non-remittable obligation« (ebd.). Dieses Kompensationsgenießen beschreibt Copjec im Unterschied zu »shame« als »sham« (ebd.: 109f.)18. Das englische Wort sham bezeichnet ins Deutsche übertragen eine Talmischam, einen Schwindel, eine Täuschung. Moralische sham ist dort, wo existenzielle Scham nicht sein darf. Dabei ist sham zu allererst ein Selbstbetrug, eine Psychotechnik der Machtillusion, noch dort Kontrolle zu haben, wo sie nie hingelangen kann19. Es erscheint nach allem, was gesagt wurde, nicht ohne Grund, dass die Beraterinnen und Betrachter Barack Obamas im Situation Room wirklich die Bilderpolitik ihrer Vorgänger erinnerten und unbedingt einen Ausweg aus ihr suchten. Sie sind dort auf halbem Weg im Off stecken geblieben – vielleicht auch, weil die Ideale nach einigen Jahren Amtszeit wegen republikanischer Verhinderungstaktiken dem Realitätsprinzip gewichen sein mögen. Ist die Vermarktung der Fotografie aus dem Situation Room eine bilderpolitische Teilkapitulation und somit ein visuelles Gegenmittel, um trotz der gescheiterten Umsetzung der Ideale die Illusion des guten Handelns aufrechterhalten zu können20?
16 Siehe auch die Formulierung von Kaja Silverman, dass Endlich-sein des Subjekts sei »more a way of inhabiting the world than of leaving it« (2003: 326). 17 In der Scham hingegen zeige sich ein Wissen um die Vergeblichkeit der Flucht aus dem Gekettet-sein, Scham sei »without any hope of escape« (Copjec 2006: 103). 18 Joan Cojec bezeichnet »sham« auch als »moral anxiety« und »guilt« (Schuld) (vgl. Copjec 2006: 103). 19 »Our feeling of powerlessness, in other words, stems from conceiving ourselves as possessors of power. […] The real thing – jouissance – can never be dutified, controlled, regimented; rather, it catches us by surprise, like a sudden, uncontrollable blush on the cheek« (Copjec 2006: 110). 20 Wendy Brown beobachtet bei der politischen Linken eine stark ausgeprägte melancholische Haltung und fragt mit Walter Benjamins Ausführungen zur »Linken Melan-
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Die demokratische Regierung begegnete den Zeichen des Triumphes aus der Vergangenheit mit einem Verbot der Beschämung auf dem Feld des Visuellen. Dies sollte ein mediales rassistisches »High-Tech-Lynching« verhindern. Eines der Probleme aber war, der arabischen Kultur erneut eine besondere Nähe zur Scham zuzuschreiben, diese Nähe geradezu zu erzwingen, um die eigene (visuelle) Politik als Schuldkultur zu reproduzieren und wie eine Tragödie zu inszenieren: Denn was wiegt die Schuld an der Tötung des Tyrannen im Vergleich zur Tapferkeit, mit dieser Tat Schlimmeres verhindert zu haben und sie, in Obamas Worten an die Nation, einzureihen in »our sacrifices to make the world a safer place«21? Im Kompensationsgenießens der sham, das mit Scham nicht zu verwechseln ist, war alle Güte dem Gut-sein-wollen zum Opfer gefallen, hatte das Erbe der Bush-Regierung die Kritik an ihr eingeholt und ist der Konservatismus der Vergangenheit zum Anachronismus der Gegenwart geworden. Diese sham-Politik ist weniger ein Zeichen tiefgreifender Menschlichkeit – dies allein hätte eine Verhaftung Bin Ladens sein können –, als eine autoritäre Geste im Regime der Sichtbarkeitsverhältnisse. Dem Anderen beim Sterben zuzusehen heißt, sich selbst beim Sterben zuzusehen, zu sehen, wie ein Stück meiner Menschlichkeit zum Tod hin abfließt, ein Tod, den ich nicht nur nicht verhinderte, sondern mit dem ich mein Leben zu retten glaubte. Dafür die Schuld zu übernehmen, ist ethisch gesehen noch nicht einmal der Anfang des Weges: »[T]he gaze under which I feel myself observed in shame is my own gaze. Lost in guilt, it is found in shame« (Copjec 2007: 75). Mit meinen Verweisen auf Levinas, Sartre und Copjec wollte ich über Auswege aus diesem S/c/ham-Seins-Karussell mit seinen Blickregimen nachdenken.
cholie« nach den Gründen. Brown betont hierbei die vielfältigen Erfahrungen von verlorenen Idealen und Enttäuschungen: »[W]e are without conviction about the Truth of the social order; we are without a rich moral-political vision of the Good to guide and sustain political work. Thus we suffer with the sense of not only a lost movement but also a lost historical moment, not only a lost theoretical and empirical coherence but also a lost way of life and a lost course of pursuit. […] But in the hollow core of all these losses, perhaps in the place of our political unconscious, is there also an unavowed loss – the promise that Left analysis and Left commitment would supply its adherents a clear and certain path toward the good, the right, and the true?« (2003: 460). 21 Siehe Barack Obamas TV-Ansprache anlässlich der Tötung Osama Bin Ladens unter: http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/barackobama/8487354/Osama-bin-Ladenkilled-Barack-Obamas-speech-in-full.html# (19.06.2013). Für die deutsche Übersetzung vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/obamas-erklaerung-der-gerechtigkeitist-genuege-getan-a-760028.html (19.06.2013).
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Weil sich in der Scham ein Widerstand gegen konservative Gerechtigkeitsphantasmen ankündigen kann, war mein Anliegen darauf hinzuweisen, dass man sich selbst in einer radikaleren Demokratie und visuellen Kultur zu schämen weiß.
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»Justice has been done.«
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Abbildung 2: Pete Souza, Situation Room, 1. Mai 2011, Weißes Haus, http:// www.businessinsider.com/photos-obama-april-schedule-2011-5?op=1 (19.06.2013). Abbildung 3: Diego Velázquez, Las Meninas (1656/57) Öl auf Leinwand, 318 x 276 cm, Museo del Prado, Madrid, http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Las_Meninas,_by_Diego_Vel%C3%A1zquez,_from_Prado_in_Google_ Earth.jpg (19.06.2013). Abbildung 4: TIME Magazine, Titelseite von Tim O’Brien, 20. Mai 2011, http:// www.bagnewsnotes.com/2011/05/whats-wrong-with-times-bin-ladin-cover/ (19.06.2013). Abbildung 5: TIME Magazine »The Last Days of Osama Bin Laden«, 7. Mai 2012, http://newamerica.net/publications/articles/2012/the_last_days_of_osa ma_bin_laden_66847 (19.06.2013). Abbildung 6: Operation Eagle Claw, Teheran, Iran, 24. April 1980, http:// www.aftabnews.ir/images/docs/000087/n00087463-r-b-007.jpg (19.06.2013).
Die Biometrie des Bösen Verbrecherbilder in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts H ANS R ICHARD B RITTNACHER
Zu den literarischen Gattungen, die um 1800 ihren Siegeszug antreten, zählt auch die Kriminalgeschichte: Anders als in der vornehmlich angelsächsisch geprägten Detektivstory geht es den zumeist in Novellenform erzählten Kriminalgeschichten in der deutschsprachigen Literatur stärker um die Konzentration auf Tat und Täter. Nach einer immer noch produktiven heuristischen Formel von Richard Alewyn beschreibt die Kriminalgeschichte ein Verbrechen, die Detektivgeschichte seine Aufklärung (vgl. Alewyn 1971: 372-403). Dass es um 1800 zur literarischen Akzeptanz der bis dahin eher auf Jahrmärkten und in Moritaten zum Vergnügen des dritten und vierten Standes verhandelten kriminellen Tatbestände kommt, dürfte sich der Kontingenzerfahrung der Sattelzeit verdanken, in der das Verbrechen zur ultimativen Metapher der Kontingenz wird. Die Aufgabe der Literatur ist es nun, diese Irritation, die vom Verbrechen und seinen Tätern ausgeht, zu veranschaulichen. Der literarische Nachvollzug von Ermittlung und Überführung des Verbrechers erscheint als Versöhnung der durch den Täter misshandelten Ordnung. Die Kriminalliteratur, die den Erfolg dieser Krisenintervention abbildet, ist so gesehen ein exemplarisches Genre der Kontingenzreduktion, belegt sie doch mit ihren Parabeln, wie das Verbrechen, der exemplarische Fall eines Angriffs auf die Ordnungsstörung, und der Täter, der exemplarische Typus des Ordnungsstörers, erfolgreich abgewehrt bzw. ausgeschaltet werden können1.
1
Zur Reichweite des Kontingenzbegriffs für eine Theorie des Bösen und des Verbrechens vgl. von Graevenitz (1998).
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Um dies zu tun, um das Verbrechen retrospektiv zu begreifen und es prospektiv zu verhindern, greift die Literatur auf die Wissensbestände und die Denkweisen sich herausbildender Disziplinen zurück. Die bekannten und trivialen Geschichten des Jahrmarkts werden nun aufklärungsphilosophisch, erfahrungsseelenkundlich, pönaljuristisch und rechtshistorisch perspektiviert. In drei Schlaglichtern wird im Folgenden gezeigt, wie dabei immer wieder das Bild vom Verbrechen zu einem des Verbrechers werden konnte und wie sich trotz aller Einsichten in den komplexen, sozial und psychologisch motivierten Charakter der verbrecherischen Tat eine Überzeugung ausbilden konnte, das Verbrechen als intentionale Tat eines Einzelnen zu begreifen, der durch besondere physische Voraussetzungen zur Asozialität disponiert sei. Diese Überzeugung hat nicht nur den leicht einsehbaren Vorzug, in sozialen Krisensituationen mit einem allein Schuldigen aufwarten zu können; sie pariert vielmehr den Krisendiskurs der Kontingenz mit dem vermeintlich untrüglichen Wissen der Biometrie, das unfehlbar den Täter ermitteln kann: sei es anhand der Zeichnung seines Antlitzes wie in der Physiognomik Lavaters (1), anhand der Beschaffenheit von Schädel und Körper wie in der Atavismustheorie Lombrosos (2) oder schließlich über die Theorie vom genetischen Fingerabdruck und der Spurensicherung am Tatort wie im zeitgenössischen forensischen Paradigma (3).
1. P HYSIOGNOMIK : D AS A NTLITZ
DES
T ÄTERS
Zu den neuen Orientierungswissenschaften, die sich in einer von Krisenerfahrungen dominierten Zeit als ein zuverlässiges Sicherungswissen empfahlen, zählt die Physiognomik des Schweizers Johann Kaspar Lavater. Sie entwickelt frühneuzeitliche Überlegungen weiter, die bereits von der äußeren Übereinstimmung zwischen Tieren und Menschen auf entsprechende charakterliche Eigenschaften geschlossen hatten, und verband sie mit theologischen Einsichten, aber sie argumentiert auch – zumindest ist ihr Autor davon überzeugt – in Übereinstimmung mit den Erfahrungswissenschaften des Aufklärungszeitalters2. Lavaters Überzeugung, »den Charakter des Menschen aus seinem Äußerlichen […] erkennen« (Lavater 1991: 10) zu können, gründet auf dem Glaubensartikel, dass allen Menschen »das Siegel Gottes auf ihrer Stirn« (Lavater 1984: 96) eingeprägt ist. »Je moralisch besser; desto schöner/Je moralisch schlimmer; desto hässlicher« (ebd.: 45) – so Lavaters Basistheorem. »Gott schuf den Menschen sich zum Bilde« (Lavater 1968: 123), dieser ist folglich, solange er Kind Gottes
2
Ausführlicher dazu: Brittnacher (1995).
Die Biometrie des Bösen
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bleibt, schön. Wer sich aber von Gott abwendet, wer die Gebote missachtet und es mit dem Bösen hält, den hat Gott in seiner Allwissenheit durch ein hässliches Erscheinungsbild markiert. Das für Lavater diesbezüglich markanteste Porträt hat der Maler Hans Holbein mit der Physiognomie des Judas geliefert, des als Verräter des Erlösers Schlechtesten aller Menschen. Judas sind Neid und Argwohn als Charakterzüge fest ins Gesicht geschrieben (vgl. Abb. 1). Wer so hässlich ist, muss über einen schlechten Charakter verfügen, so wie auch bei einem entstellten Menschen der Verdacht tiefer seelischer Verdorbenheit naheliegt. Wie sehr ein Mensch auch lügen mag, seine Silhouette verrät dem kundigen Physiognomen unweigerlich und verbindlich die Wahrheit.
Abbildung 1: Der Judas des Holbein in der Zeichnung Lavaters
Für Lavater unterlag es daher auch keinem Zweifel, dass die Physiognomik dem neuen Rechtswesen der bürgerlichen Welt unschätzbare Dienste leisten konnte: »In fünf und zwanzig Jahren wird die Physiognomik statt der Lehre von der Tortur zur Kriminalrechtswissenschaft gehören« (Lavater 1969: 226). Als ob die Literatur Lavaters Stoßseufzer vernommen hätte, liefert sie in ihren Texten der Physiognomik das willkommene Anschauungsmaterial – nicht in Gestalt von
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Detektiven, die mit pathognomischer Intuition Verbrecher überführen, sondern in der literarischen Evokation des Verbrechers als eines körperlich zum Verbrechen disponierten Übeltäters. Die Willkür der Natur, die in der Wirklichkeit gelegentlich dem Physiognomen die Deutung erschwert – dass der grundgütige Sokrates ein verknautschtes Silensgesicht trugt, rügte Lavater als einen ›Druckfehler‹ der Natur –, hat in der perfekt kalkulierten literarischen Schöpfung keinen Platz. Wer hier besonders hässlich ist, der hat auch, darauf ist Verlass, einen üblen Charakter. Der als Mediziner ausgebildete Friedrich Schiller war auf der Hohen Karlsschule u.a. auch mit Lavaters Physiognomik vertraut geworden. In seinen ersten theoretischen Schriften bezieht er deutlich Position gegen das schlichte Denken Lavaters – in seinem ersten Drama jedoch, den Räubern, bestätigt er es. In seinem großen Monolog (I,1) klagt Franz Moor die Natur an: »Warum musste sie mir diese Bürde von Hässlichkeit aufladen? […] Warum gerade mir die Lappländers Nase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? Diese Hottentottenaugen?« (Schiller 1988: 28) Für Lavater waren Schwarze und Lappländer, auf deren Physiognomie sich Franz Moor bezieht, und hier zeigt sich auch die strukturelle und semantische Nähe der Physiognomik zu rassistischen Konzepten (vgl. Blankenburg 1996; Volland 1992), Inbegriff plumper Hässlichkeit und geistiger Schwäche dazu. Geradezu empörend scheint Lavater die Vorstellung, »ein Leibniz [hätte] im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht« (Lavater 1991: 14) oder ein Newton »im Kopf eines Mohren, dessen Nase aufgedrückt, dessen Augen zum Kopf herausragen, dessen Lippen, so aufgeworfen […] sind, [dass] sie kaum die Zähne bedecken« (Lavater 1984: 39), den Gedanken von der Schwerkraft entwickelt haben können. Lavaters Gesetz einer Symmetrie von Hässlichkeit und geistiger Beschränktheit wird durch Franz gewiss nicht bestätigt, ist es doch sein intrigantes Genie, das die dramatische Handlung überhaupt in Gang setzt. Wohl aber belegt die von ihm so beklagte Hässlichkeit seines Gesichts die für die Physiognomik verbindliche Grundannahme einer Entsprechung von äußerer Schäbigkeit und verdorbenem Charakter – wie scheinbar auch in Schillers Erzählung Verbrecher aus Infamie (1786), die als der eigentliche Beginn der deutschen Kriminalerzählung gilt. Ihr Held, der später als ›Sonnenwirt‹ bekannt gewordene Bandenführer, erscheint in dieser Erzählung durch sein äußeres Erscheinungsbild für eine kriminelle Laufbahn designiert: »Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt. Eine kleine unscheinbare Figur, krauses Haar von einer unangenehmen Schwärze, eine plattgedrückte Nase und eine geschwollene Oberlippe, welche noch überdies durch den Schlag eines Pferdes aus ihrer Richtung gewichen war, gaben seinem Anblick eine Widrigkeit, welche alle Weiber vor ihm zurückscheuchte und dem Witz seiner Kameraden eine reichliche Nahrung bot.« (Schiller 2000: 565f.)
Die Biometrie des Bösen
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Die historischen und literarischen Quellen – etwa ein Bericht aus der Feder von Schillers Lehrer Jacob Friedrich Abel3 – wissen nichts von der besonderen Hässlichkeit des Sonnenwirts zu berichten. Schillers Erzählung liest sich jedoch über weite Strecken eben nicht als physiognomische Fallgeschichte, sondern als präzise soziologische Autopsie eines Außenseiters, der durch systematische Infamierung in eine Spirale aus vorenthaltener und ertrotzter Anerkennung gerät. Die Verurteilung des Wilddiebs ohne Berücksichtigung seiner seelischen und materiellen Not – »Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung des Beklagten« (ebd.: 568) – und seine Brandmarkung mit dem »Zeichen des Galgens auf den Rücken« (ebd.) haben den Wilddieb, der doch nur »honett« gestohlen, also die Wildschweine abgeschossen hat, die de jure zwar dem Landesherrn gehörten, aber dem Bauer die Felder verwüsteten, buchstäblich zum Verbrecher gestempelt. Nach der fortgesetzten ungerechten Behandlung durch das Gesetz ist Christian Wolf zuletzt entschlossen, sich das ungerechte Schicksal, das man ihm zugedacht hat, auch tatsächlich zu verdienen. Wenn er sich am Ende der Erzählung dennoch aus freien Stücken dem Gesetz ausliefert und damit den moralischen Kodex einer Gesellschaft anerkennt und gutheißt, der ihn zuvor verstoßen und kriminalisiert hat, gehört dies der Naivität von Schillers Idealismus angelastet – freilich zeigt Schiller mit dieser Wendung auch, dass Lavaters Grundannahme sich nur dann bewährt, wenn Menschen sich falsch verhalten: Denn jene, die aus der Hässlichkeit des noch unbescholtenen Christian Wolf einen verdorbenen Charakter abgeleitet haben, trieben ihn in die zunehmende Infamierung und damit erst ins Verbrechen hinein. Nicht der Physiognomisierte ist schuldig, Schuld tragen die Physiognomen, die ihm keine Chance ließen. Wie wenig freilich auch Schiller dem Sog der physiognomischen Identifizierung des Hässlichen mit dem Bösen zu entkommen vermochte, zeigt sich an einem charakteristischen Detail in der Lebensbeichte des Christian Wolf. Am Scheideweg angekommen, trifft er auf einen Versucher, der geradewegs der Hölle entstiegen scheint: »Ich schlug die Augen auf, und sah einen wilden Mann auf mich zu kommen, der eine große knotige Keule trug. Seine Figur ging ins Riesenmäßige […] und die Farbe seiner Haut war von einer gelben Mulattenschwärze, woraus das Weiße eines schielenden Auges bis zum Graßen hervortrat.« (Ebd.: 574f.)
3
Einen Vergleich der beiden Texte erlaubt die von Bernd Mahl ausgewählte Ausgabe der beiden Erzählungen (vgl. Schiller 1983).
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Unschwer ist in dieser Gestalt, mit der Christian Wolf einen förmlichen Pakt schließt, der nicht zufällig alle Merkmale einer Teufelsverschreibung aufweist, das Alter Ego des Sonnenwirts erkennbar, das Zerrbild seiner ins maßlose gesteigerten Asozialität. Dass Schiller dafür keine andere Metaphern fand als die von Lavater ins kulturelle Vokabular seiner Zeit eingespeisten Vorurteile einer abstoßenden und negroiden Hässlichkeit, belegt die erstaunliche Suggestivität der Physiognomik.
2. P HRENOLOGIE : D ER K ÖRPER
DES
T ÄTERS
Die biometrisierende Feststellung des Bösen, wie sie die Physiognomik vornahm, blieb, Lavaters Hoffnungen zum Trotz, in der Rechtspraxis bedeutungslos, aber bewährte sich in der Literatur4. Mitte des 19. Jahrhunderts gewinnt die nach wie vor von der biologisch defizitären physischen Struktur des Verbrechers überzeugte Literatur in Disziplinen wie Phrenologie und später auch Kraniometrie neue Verbündete: Die Physiognomik fasst wieder Fuß im forensischen Diskurs. Vor allem der italienische Psychiater Cesare Lombroso hat mit seinem 1876 erstmals veröffentlichten Werk L’Uomo delinquente – der Mensch als Verbrecher – eine an Lavater erinnernde Ableitung des kriminellen Charakters aus charakteristischen Merkmalen der Schädelform vorgeschlagen. In Mikrozephalie und in fliehender Stirn, in Spitzkopf, voluminösen Unterkiefern, aber auch zusammengewachsenen Augenbrauen, Henkelohren und krummen Nasen glaubte er den Ausdruck des Atavismus zu entdecken, der gegen zivilisatorische Überformungen resistent geblieben sei und sich im sozialen Leben der modernen Welt als unausrottbare Neigung zum Verbrechen zur Geltung bringe. Zigeuner, Obdachlose, Tätowierte und Epileptiker besetzen in Lombrosos Taxonomie verbrecherischer Charaktere prominente Plätze.
4
Das physiognomische Kapital in Kriminalgeschichten des 19. Jahrhunderts, namentlich bei E.T.A. Hoffmann, Annette von Droste-Hülshoff, Franz Grillparzer und Karl Emil Franzos habe ich gezeigt (Brittnacher 2010).
Die Biometrie des Bösen
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Abbildung 2: Tätowierter Matrose
Ein rachsüchtiger und straffälliger Matrose, dessen Tätowierungen – auch an den delikatesten Teilen des Körpers – einen für den atavistischen Täter typischen Mangel an Sensibilität verraten, ist der charakteristische Vertreter des atavistischen Kriminellen (vgl. Abb. 2). Ohne diese Schlussfolgerung ausdrücklich zu formulieren, machen Lombrosos Beispiele doch deutlich, dass er mit Lavater in der Identifizierung des Schönen mit dem Guten und des Hässlichen mit dem Bösen weitgehend übereinstimmt (ebd. 2000: 574f.). Auch Lombrosos Glauben in die unfehlbare Lesbarkeit des Verbrecherschädels ist wie Lavaters Gesichtslesekunst nicht unwidersprochen geblieben: Juristen, Anthropologen, sogar Biologen forderten eine »alternative Lesart der körperlichen Stigmata. Sie deuteten diese im Sinne einer Symptomatologie als Resultate von Degeneration, die reduzierte Widerstände und damit eine Neigung zur Kriminalität bewirkt hatten. In den Degenerierten schien sich nicht unbedingt die Bosheit ihrer ungezügelten Natur, sondern die Folge einer fehlgeleiteten Kultur und Zivilisation zu zeigen.« (Becker 1995: 149; vgl. auch Becker 1996)
Aber für beide, Lombroso wie seine Gegner, ist der Verbrecher an seiner physischen Gestalt erkennbar. Für Lombroso ist die Neigung zur Gewalt eine gewissermaßen stammesgeschichtlich verankerte Mitgift, die zuletzt, im Interesse der Allgemeinheit, nach Maßnahmen wie Kastration oder Eugenik verlangt; die De-
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generationstheoretiker hingegen glauben prinzipiell an die Möglichkeiten einer rehabilitierenden Korrektur. Sie sehen eher »die gemarterte, zerschundene Zuchthauskreatur, Lombroso die monotone Hässlichkeit der Bestie« (Strasser 2005: 56). Das Grundproblem jeder Kriminalgeschichte, ihre Einsichten in die sozialen und psychischen Bedingungen des Verbrechens zu verspielen, sobald sie der physiognomischen oder kraniometrischen Suggestion vom hässlichen oder gar physisch deformierten Täter erliegt, ob diese nun atavistisch oder degenerationstheoretisch verstanden wird, möchte ich im folgenden an der Erzählung Der Zwerg (1903) von Alfons Paquet veranschaulichen. Emanuel, von allen nur Manle genannt, wird von seinen beiden Brüdern, reichen Sägemühlenbesitzern, ohne Lohn, nicht viel besser als ein Tier gehalten. Sie glauben sich dazu berechtigt, denn »Emanuel ist ein Zwerg. Der unförmig große Kopf ist mit dichtem krausem Haar bewachsen. Wie eine Beule steht die steile Stirn über den kleinen Augen« (Paquet 1980: 5). Die immerwährende Zurücksetzung lässt in dem »starken und jähzornigen Zwerg« (ebd.) einen tiefen Groll reifen, den er vor anderen verbirgt. Manle sinkt noch tiefer in der sozialen Hierarchie, als der Vetter Tim aus der Schweiz, der mit seinem gefälligen Wesen allseits beliebt ist, den kleingewachsenen Emanuel aus seinen Arbeitsbereichen verdrängt und sogar Sandburgen für die Kinder baut. Manle »liebte Höhlen, er kannte Höhlen im Wald, die aussehen, als seien sie nur da, damit kleine Leute bis ins Innere der Erde hineinschlüpften. Was wusste der Vetter vom Geheimnis der Höhlen?« (ebd.: 7) In der Gestalt des verhassten Vetters findet die bislang richtungslose Wut des immer weiter ausgegrenzten Manle das ersehnte Objekt. Nach mehreren missglückten Mordanschlägen nützt er die Gelegenheit eines Transports schwerer Baumstämme in einer Regennacht, um den Vetter unter einen Wagen zu stoßen. Damit man den Schwerverletzen nicht findet, schleift er ihn in den tiefen Wald. Zuhause zeigt er allen seine Verachtung – »Er streckte allen die Zunge heraus und spreizte die Hände vor der Nase« (ebd.: 13). Er läuft davon, verbirgt sich in den von ihm geliebten Höhlen, aus denen er als »ein struppiger, schmutziger, mit Herbstlaub bedeckter Zwerg« (ebd.) unversehens auftaucht und die Bauersfrauen zu Tode ängstigt. Als die Mühle seiner Brüder abbrennt, ist die Geduld der Dorfbewohner erschöpft: »Da bildeten die Bauern Ketten über Felder und Waldstücke hinweg wie bei der Treibjagd […]. Endlich entdeckten sie ihn in einer Höhle« (ebd.: 14). Einsam in seiner Gefängniszelle, »klein und bärtig, taumelnd vor Schmerzen und fast blind« (ebd.), hört Manle seine Brüder nach ihm rufen. »›Aufhängen‹, brüllte Johannes. ›Uffhenke!‹ Es war ein wütender, bedingungsloser Befehl. Der Zwerg gehorchte« (ebd.).
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Geradezu mustergültig inszeniert Paquets Erzählung den Mechanismus der sozialen Marginalisierung: Die fortgesetzte Diskriminierung eines körperlich versehrten Menschen, seine ökonomische Ausbeutung und Übervorteilung sowie der achtlose Umgang mit seinen körperlichen Schmerzen und seelischen Nöten treiben Manle erst zum Selbstzweifel, dann zu ohnmächtiger Wut und schließlich in einen wahnhaften Zustand der Rebellion, in dem er grausam Rache für wirklich und vermeintlich erlittene Demütigungen nimmt. Dass die Vergeltung kein stabiles Selbstwertgefühl gewähren kann, zeigt am Ende der Erzählung Manles stumme Ergebung in den Selbstmordbefehl des Bruders. Der Täter wird nach einem kurzen, trügerischen Rausch der Genugtuung wieder zu dem Opfer, das er immer schon war. Andererseits relativiert der physiognomische Diskurs den Opferstatus des Täters: denn der Blick auf den Zwerg tastet einen unförmigen, tierhaften, unempfindlichen Körper mit »rauhem dickem Hals« und »dicken Händen« (ebd.: 6) ab. Selbst die Kleider, die Insignien der Zivilisation, umschließen den Leib der unentwickelten Kreatur wie »Borke« (ebd.: 9). Nur die Augen geben den Blick in sein finsteres Seelenleben preis: »Sein Gesicht war dunkelrot, der Bart sträubte sich schmutzig und wild, die Augen funkelten böse« (ebd.: 11). Paquets Erzählung insinuiert, dass der Zwerg ein atavistischer Charakter im Sinne Lombrosos ist – seine Kleinwüchsigkeit ist das buchstäbliche Abbild des ontogenetischen Defekts einer zurückgebliebenen Entwicklung. Wie ein Troglodyt haust Manle in Höhlen unter der Erde, wie ein Primitiver kennt er keine Moral und mordet aus dem Hinterhalt, wie ein Kind schneidet er Fratzen, wie ein Wilder ist er unempfindlich gegen Schmerzen, wie ein Raubtier schleppt er die Beute, die er gerissen hat, ins Unterholz – all dies untrügliche Anzeichen für den zurückgebliebenen, atavistischen Charakter: Im Augenblick des Triumphes bricht die verborgen gehaltene Natur des Urmenschen heraus und schafft sich in einem »heulenden Laut« (ebd.: 12) Ausdruck. Nach Manle wird nicht gefahndet, er wird wie ein Tier durch eine Treibjagd eingefangen. Dass atavistische Kreaturen wie der Zwerg aber doch nicht um die Anerkennung der Überlegenheit der Zivilisierten umhinkommen, zeigt die Servilität, mit der zuletzt der zur Strecke gebrachte kleine Unhold sich auf Befehl des Bruders erhängt. Mit den Hinweisen auf die moralische Minderwertigkeit des Zwergs, dem es nicht gelungen ist, sich aus den Klauen der Natur zu emanzipieren, revidiert Paquets Erzählung die Bedeutung der zuvor mit analytischer Präzision beschriebenen Verkettung psychosozialer Vektoren. Sie bürdet dem Zwerg die alleinige Verantwortung für Taten auf, die seine Peiniger mitzuverantworten hätten. Die Idee vom Verbrechen, das in unheimlichen, dem Kenner atavistischer Zustände aber vertrauten physischen Defekten brütet – in einem verunstalteten Gesicht
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oder in einer von der Norm abweichenden Gestalt des menschlichen Körpers – nicht aber in einem pathogenen sozialen Milieu, zählt bis heute zu den zählebigsten Klischees der Kriminalliteratur. In der ersten Phase seiner literarischen Biometrie, wie sie durch Lavaters Physiognomik gekennzeichnet ist, trägt der Verbrecher die Züge eines monströsen Rebellen: Er ist hässlich, und diese Hässlichkeit verweist auf seinen verbrecherischen Charakter, der ihn, wenn nicht als Gottesleugner so doch als verstockten Widersacher an der Seite des gefallenen Engels, des Erzempörer, sieht. Er ist der Rebell und Outlaw, der die Ordnung herausfordert. Das heißt jedoch, dass der Verbrecher durchaus auch Größe, sogar ein erhabenes Format besitzen kann – Schillers Theorie des ›erhabenen Verbrechers‹ wäre ohne die Anerkennung der titanischen Subjektivität eines Individuums, das aus der Freiheit seines Willens heraus die Entscheidung zum Normbruch fällt, undenkbar. In dieser Ambivalenz von Furcht und Faszination, die das Schreckliche am Täter sieht, aber auch seine Freiheit, hat sich noch das aufgeklärte Vertrauen in die außerordentlichen Möglichkeiten des Menschen erhalten, mögen sie im Extremfall auch zu intentionaler Asozialität führen. In der zweiten Phase dieser literarischen Biometrie, die von Lombrosos Atavismuskonzept und seinen degenerationstheoretischen Kritikern dominiert wird, artikuliert sich bereits das Bewusstsein des konsolidierten Bürgertums, das um seine Definitionsmacht weiß und zur Exklusion des Außenseiters aus dem Kreis der Mündigen entschlossen ist. Dementsprechend kann ihm der Verbrecher in seiner physischen Monstrosität nicht länger als der gefallene Engel gelten, sondern als eine zurückgebliebene, in ihrer Entwicklung gehemmte, primitive Kreatur, eine »Bestie«, die, je nach atavistischer oder degenerationstheoretischer Lesart, eliminiert oder – seltener – auch in Maßen rehabilitiert werden kann. Aber sowohl die erste wie die zweite Phase stimmen in einigen Befunden überein: Die soziale und psychologische Genese des Verbrechers wird gering veranschlagt – zumal im Vergleich mit der Eigengesetzlichkeit, mit der das in der Physis des Verbrechers sedimentierte kriminelle Kapital sich durchsetzt.
3. F ORENSIK : D IE G ENE
DES
T ÄTERS
Die Kriminalliteratur des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts wird von einem vergleichsweise neuen Tätertyp dominiert, der in den Vereinigten Staaten epidemischer aufzutreten scheint als in Europa: dem Serienmörder. Die Faszination des Killers verdankt sich nicht zuletzt dem in der US-amerikanischen Geschichte und Kultur oft libidinös besetzten Verhältnis zur Gewalt, zumal die
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Helden der amerikanischen Populärkultur den Erfolg beständiger Gewaltbereitschaft und die hohe Effizienz brachialer Konfliktlösungen demonstrieren. Die großen Verbrecher in der US-amerikanischen Kultur und Geschichte, ob sie nun Scarface, Dillinger, Al Capone oder Bonny Parker und Clyde Barrow heißen, wurden immer auch als Rebellen gesehen, gestrauchelte Brüder von James Dean oder Marlon Brando, die auf ihre Weise den amerikanischen Traum von Freiheit und Nonkonformismus lebten. Der Serienmörder, die neue Ikone des Schreckens, bzw. die von ihm infizierten Erzählungen und Filme bedienen andere Phantasien5. Nicht nur in der Genreliteratur, etwa in den Kriminalromanen von Andrew Vachss, James Ellroy, David Wiltse oder denen von Thomas Harris, dessen Figur des Hannibal Lector – Hannibal the Cannibal – auch die Leinwand eroberte, auch in der von der Kritik als hochwertig eingestuften Literatur, etwa in Bret Easton Ellis’ American Psycho, treibt der Serienmörder sein Unwesen. Kaum noch eine Krimiserie im Fernsehen, die ohne dieses Phantom auskommt, kaum noch zu zählen die Popsongs, die über Serienmörder geschrieben wurden (vgl. Ritzer 2010). Cornflakes-Packungen, denen früher Sammelbilder von Baseballstars oder von Rennwagen beilagen, liefern mittlerweile auch Killersammelkärtchen. Unter dem Konterfei des Massenmörders verzeichnet eine Legende Lebensweg und Strafregister. Wer beim Quartettspiel mit der Karte »Jeffrey Dahmers« oder »Ed Geins« auftrumpfen kann, hat beste Aussichten auf den Sieg6. Im Serienmörder, der zwar nach einem erkennbaren Schema mordet, aber ohne erkennbares Motiv, ist gewissermaßen der Albtraum der Kontingenz wahr geworden. Anders als der religiös abtrünnige, trotzige Gesellschaftsfeind bei Lavater, anders als die atavistische oder degenerierte Kreatur bei Lombroso ist der Verbrecher jetzt – notabene: so wie ihn die kollektiven Ängste ausphantasieren – eine kultivierte Erscheinung von dämonischer Intelligenz. Daher stellt der Serienmörder auch die Kriminalliteratur vor neue Anforderungen: Solange es dort um herkömmliche Verbrecher ging, reichten auch mehr oder weniger herkömmliche, allenfalls etwas intelligentere oder kräftigere Ermittler aus, den Mörder dingfest zu machen – das ist das Szenario der hard boiled-Variante des Kriminalromans von Hammett über Chandler bis zu Robert B. Parker. Wenn die Motivation eines Verbrechers aber nicht länger in blinden Affekten oder in Gewinnmaximierung besteht, sondern in seiner exzentrischen Lust am Morden, müssen sich auch die Strategien seiner Überführung ändern.
5
Vgl. dazu grundsätzlich Bartels (2004); Linder (2004); vgl. auch Stiglegger (2010).
6
Vgl. FAZ, 23.11.1994. Zu einigen so bizarren wie aufschlussreichen Auswüchsen des Serienmörderphantasmas vgl. Brittnacher (2012).
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Das geschieht auf zwei Weisen: Einerseits erscheinen in den neueren Kriminalromanen die Ermittler selbst als zwielichtige Existenzen, psychisch labile oder traumatisierte Freaks, oder aber sie müssen sich der Hilfe eines Serienmörders bedienen, um einen anderen Serienmörder zur Strecke zu bringen7. Die seelische Deformation nicht nur des Mörders, sondern auch des Helden oder seiner Helfershelfer ist die Voraussetzung, um den Algorithmus, der den mörderischen Attacken des Täters zugrunde liegt, zu ermitteln. Eine neuere Entwicklung im Genre ist der psychologischen Akrobatik des Serienkillergenres, in der psychopathische Killer von telepathisch begabten8 oder psychisch selbst traumatisierten Profilern gejagt werden, weil nur diese in der Lage sind, sich auch in die Seele der perversen Täter versetzen, offensichtlich überdrüssig. Die neuere Tendenz feiert daher wieder die vermeintlichen hard sciences, die nur noch des Labors und der Leistungen der Forensik bedürfen, um auch die bizarrsten Verbrechen aufzuklären9. Anders als die (para)psychologische Version des Serienkillerkrimis, die ihre Faszination am Täter nicht verschweigt, orientiert sich das forensische Paradigma, das in der zweiten Version dominiert, an den Opfern. Der Platz des Detektivs wird zumeist von einer Frau, einer Pathologin, eingenommen – sie ist eine Art Antigone der Toten, die sich der Pathologie als der prima scientia aller Wissenschaften verschrieben hat. Der hippokratische Eid bindet sie an den toten Patienten, den sie zum Sprechen bringt, um damit den Täter zu ermitteln. Den abenteuerlichen Spekulationen der Profiler stehen in diesen Texten, etwa in den Romanen von Patricia Cornwell um Kay Scarpetta, aber auch in denen von Kathy Reichs um die kanadische Gerichtsmedizinerin Temperance Brennan oder in der Serie CSI mit ihren diversen Ablegern die scheinbar harten, eindeutigen, interpretationsresistenten Fakten der Naturwissenschaft gegenüber. Die Sektion des Opfers – übrigens in einer ganz eigenen, neonfarbenen Ästhetik, die an die Stelle der Gruftästhetik des Schauerromans getreten ist – und eine penible Tatortbesichtigung liefern eindeutige In-
7
Ersteres ist der Fall etwa in der Lloyd Hopkins-Trilogie von James Ellroy: Blut auf dem Mond (1984), In der Tiefe der Nacht (1986), Hügel der Selbstmörder (1987). Das Zweite gilt für die beiden ersten Lector-Romane von Thomas Harris (Roter Drache (1988) und Das Schweigen der Lämmer (1990)).
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Vgl. hier beispielsweise die Romane von John Connolly um den Detektiv Charlie ›Bird‹ Parker, der seit der grausamen Ermordung seiner Frau und seines Kindes eine Verbindung zu gepeinigten Seelen im Jenseits unterhält: Das schwarze Herz (1999), Das dunkle Vermächtnis (2000), In tiefer Finsternis (2001), Die weiße Straße (2002), Der brennende Engel (2005), Der Kollektor (2007), Todbringer (2008).
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Zu dieser Tendenz vgl. Brittnacher (2004). Vgl. auch Birke/Butter/Gymnich (2008).
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dizien der Schuld. Mit speziellen Gasen wird der Schauplatz des Verbrechens eingenebelt, um mikroskopisch kleine Spuren mit Gas-Chromatographen, Massenspektrometern oder Differential-Scanning-Kalorimetern entziffern zu können. Hatte Sherlock Holmes unsichtbaren Schriften über der Flamme seines Kaminfeuers vorübergehend zur Leserlichkeit verholfen, ist es jetzt ultraviolettes Licht, das Blut- oder Spermaflecken als unmissverständliche biometrische Signatur eines Mörders identifiziert. Die flächendeckende Entnahme von Speichelproben führt unzweideutig zur DNA des Täters (vgl. Abb. 3). Das Verfahren der Forensik belegt gewissermaßen eine animistische Überzeugung des Gespensterglaubens: dass die Leiche des Verstorbenen, wenn der Verbrecher an die Bahre tritt, zu bluten beginnt.
Abbildung 3: DNA-Probe in der Serie CSI (Justin Bieber und George Eads)
Lavaters Vorhaben, vom Knochenbau eines Antlitzes auf die Seele des Täters, Lombrosos Überzeugung, von Anomalien des Schädels auf den Charakter eines Verbrechers schließen zu können, waren erste Akte in einer lange andauernden Kulturpraxis der Visualisierung des Verbrechens, die ihre Fortsetzung in der Erstellung von Verbrecherkarteien mittels des Mediums der Fotografie fand. Die Hermeneutik des Täterantlitzes hat jedoch angesichts der Empirie immer wieder ihr Versagen eingestehen müssen – wie der Lügendetektor ist auch die Physiognomik dem histrionischen Charakter des Verbrechens nicht gewachsen. Die Hoffnung, es möge ein nicht hintergehbares, unzweideutiges Modell der Verbrechenssemiotik geben, hat deshalb nicht abgenommen. Der forensische Krimi der Gegenwart mit seiner These von der unauslöschlichen biometrischen Signatur des Täters am Körper des Opfers träumt den literarischen Traum des 19. Jahrhundert von einer unfehlbaren Kriminalistik fort.
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A BBILDUNGEN Abbildung 1: Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente. Faksimiledruck der Ausgabe 1775-1778 in 4 Bänden, Zürich 1969, Bd. 1, Tafel 6 (Anhang). Abbildung 2: Becker, Peter, »Physiognomie des Bösen. Cesare Lombrosos Bemühungen um eine präventive Entzifferung des Kriminellen«, in: Claudia Schmölders (Hg.), Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 163-186, hier S. 173. Abbildung 3: Filmstill: DNA-Probe in der Serie CSI (Justin Bieber und George Eads).
INTERMEDIALE SPIEL-RÄUME
Bewegen als Ding Choreographische Kritiken des Objekts A NDRÉ L EPECKI To give oneself as a thing that feels and to take a thing that feels is the new radical experience that asserts itself on contemporary feeling. MARIO PERNIOLA To move or be moved by some thing, rather than by oneself. YVONNE RAINER
Wenn es ein charakteristisches Merkmal im jüngsten experimentellen Tanz gibt, dann ist es die auffallende Präsenz von Objekten als primären performativen Elementen. Beispiele finden sich in zahlreichen Arbeiten aus den letzten drei bis vier Jahren. Schrottplatz (2010) etwa, ein Stück des deutschen Choreographen Thomas Lehmen, ist ein 50-minütiges Solo, in dem Lehmen u.a. mit einer Lampe, mit Stühlen, einem Mikrofon, einem Hammer, einer Tomate und einer Zeitung in dem Versuch interagiert, dem einen Objekt die Funktion oder das Wesen des benachbarten Objektes zu erklären. Die sich entziehende, dabei unvermeidliche Referenzialität von Objekten erkundend, erprobt Schrottplatz die Grenzen der Signifikation, weil es ausstellt, wie die Sprache gegen die opake Oberfläche von Materie prallt. In dem Gruppenstück We are Going to Miss Everything We Don’t Need (2009) der portugiesischen Choreographin Vera Mantero begegnen wir ebenfalls einer Auseinandersetzung mit dem, was Mantero den »rebound effect« zwischen einem »object of the world« (2009: o.S.) und dem Wort, das es bezeichnet, nennt, der mehrdeutigen Bewegung zwischen der schieren Präsenz eines Objektes und seinen semantischen Resonanzen. Wie Mantero im Flyer zu ihrem
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abendfüllenden Stück schreibt, eröffnet solch ein Abprall-Effekt zwischen Körpern und Objekten, vermittelt durch Sprache, die Möglichkeit »[for] touching the other side of things« (ebd.). Die jüngste choreographische Bewegung hin zu Objekten ist aber nicht nur damit beschäftigt, die Kluft zwischen Referenzialität und Signifikation zu erkunden. In My Private Himalaya (2009) des in Amsterdam arbeitenden Choreographen und bildenden Künstlers Ibrahim Quraishi interagieren sieben Performer mit 500 Gegenständen – darunter Schaufensterpuppen, Lampen, ein Plastikhase, verschiedenste medizinische Utensilien, (künstliche und organische) Blumen, eine Replik von R2D2 aus Star Wars, unterschiedliche (alte und neue) Möbelstücke, Haushaltsputzmittel, Glasflaschen, Gummibälle sowie eine große Aristoteles-Büste. Indem er allen erdenklichen Kram auf, unter und um die Performer herum anhäuft, enthüllt Quraishi langsam das überwältigende Gesättigtsein des zeitgenössischen Lebens mit dem, was Jean Baudrillard einmal in einem Buchtitel das »System der Objekte« genannt hat1. Objekte, nun verstanden als Vektoren der Subjektivierung, finden sich auch in Em volta do buraco tudo é beira (2009) der brasilianischen Choreographin Marcela Levi und in mehreren der jüngsten Arbeiten des französischen Choreographen Christian Rizzo2. Der experimentelle Tanz, der auf Objekte setzt, ist gewissermaßen das Echo der zeitgleichen Wiederkehr des Objektes in der aktuellen Philosophie (u.a. Harmon 2005, 2002; Perniola 2004; Benso 2000), in der Literaturtheorie (Johnson 2008), der kritischen Theorie (Bennett 2010), den Critical Race Studies (Moten 2003) und in einigen kuratorischen Projekten (Part Object Part Sculpture, Wexner Center for the Arts, 2005; Not to Play with Dead Things, Villa Arson, 2008; Thingly Variations in Space, Mokum, 2010). Natürlich waren Objekte immer schon auf der Tanz-Bühne präsent. Genaugenommen ist es die Geschichte dieser Präsenz, die den lebhaften Dialog zwischen Tanz und bildender Kunst im vergangenen Jahrhundert und am markantesten seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt hat. Wie Rosalind Krauss in Passages in Modern Sculpture bemerkt: »[A] large number of postwar European and American sculptors became interested both in theater and in the extended experience of time which seemed part of the conventions of
1
Anm. d. Übers.: Der Autor bezieht sich hier auf den Titel von Baudrillards Le Système des objets: la consommation des signes (1968), das im Englischen als The System of Objects (2005), im Deutschen allerdings – entgegen der im vorliegenden Beitrag fundamentalen Unterscheidung zwischen ›Objekt‹ und ›Ding‹ – als Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen (2001) übersetzt ist.
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Insbes. Christian Lacroix Seen by … (2007-2008) u. My Love (2008).
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the stage. From this interest came some sculpture to be used as props in productions of dance and theater, some to function as surrogate performers, and some to act as the onstage generators of scenic effects.« (1981: 204)
Die jüngste Redefinition des Status von Objekten in der experimentellen Choreographie verdient indes eine Untersuchung, denn sie bewegt sich weg von den Begriffen, die Krauss benutzt, um die Verwendung von Skulpturen auf den Tanzbühnen in der Nachkriegszeit zu beschreiben. Tatsächlich verwenden die Choreographen in allen oben erwähnten Stücken genauso wie in den vier von mir in diesem Aufsatz analysierten Arbeiten keine Skulpturen von bildenden Künstlern, und zwar weder als Erzeuger szenischer Effekte noch als Ersatzperformer. Stattdessen bringen sie Zeug3 auf Bühnen, in Räume und in Galerien mittels einer Verfahrensweise, die sich von derjenigen, die Krauss beschreibt, stark unterscheidet: Objekte werden aufgegriffen, an einen Ort gebracht und dann die meiste Zeit neben den Körpern der Tänzer einfach in Ruhe gelassen. Aber liegt im ›Seinlassen‹ eines Objektes – also der Entscheidung dafür, es weder als Ersatzperformer zu manipulieren, noch als Kunst zu behaupten oder zur Erzeugung von Effekten zu benutzen – nicht schon das Provozieren einer substanziellen Transformation im Objekt? Ist nicht das Seinlassen bereits eine Bewegung auf die Entobjektivierung des Objekts hin, eine Bewegung, die das Objekt in ein bloßes Ding verwandelt, wenn wir verstehen, dass »a thing is neither an instrument, nor a utensil, nor a means« (Perniola 2004: 109), woran uns Mario Perniola, Heidegger folgend, in The Sex Appeal of the Inorganic erinnert? Wenn das Konzept des Objekts (gegenläufig zum Konzept des Dings) ontologisch mit Instrumentalität, mit Nützlichkeit, Gebrauch, Mittel verbunden ist, folgt daraus, dass Objekte in Bezug auf Subjektivität in einem symmetrischen Verhältnis existieren. In dieser Relation sind Objekte immer »an endless reproduction and confirmation of the manipulative abilities of the subject« (Benso 2000: xxxiii). Im Tanz ist die Figur des manipulativen Subjekts machtvoll an die autoritäre Figur des Choreographen gebunden, an seine Autorfunktion im Diktieren von Schritten, Kontrollieren von Gesten und Lenken von Bewegungen bis ins kleinste Detail. Kontrollieren, diktieren, damit dann präzise gehorcht wird: Deswegen hat der Choreograph William Forsythe Choreographie einmal als eine »art of command« (zit. n. Franco/Nordera 2007: 16) beschrieben. Innerhalb die-
3
Anm. d. Übers.: Der Autor verwendet im Original den Begriff »stuff«, der sowohl umgangssprachlich »Kram«, als auch in englischsprachigen Übersetzungen der Texte Heideggers »Zeug« im Sinne dessen philosophischer Terminologie bedeutet.
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ses Systems werden die Bewegungen eines Tänzers häufig als kaum mehr als die unmittelbare (manchmal sogar unvermittelte) und gehorsame Äußerung des Willens eines Choreographen wahrgenommen. Innerhalb dieser spezifischen choreographischen Ökonomie wird die Subjektivität des Tänzers als immer schon bereit zur Manipulation angesehen, als ein reines Mittel oder Instrument. In diesem Sinn kann ein Tänzer unter Umständen einem Objekt ähnlich werden. Der Tänzer wird dann lediglich zu einem Werkzeug, das der Choreograph benutzt. Es war eben dieses problematische, das choreographische Projekt definierende »politische Unbewusste« (vgl. Jameson 1981), das Yvonne Rainer so hellsichtig identifizierte und dem sie in ihrem berühmten Aufsatz von 1966, der erst 1968 publiziert wurde, so offen widerspricht. Sie verteidigt dort die Notwendigkeit, dass der Tanz durch »some thing« anstelle von »oneself« bewegt werden müsse (Rainer 1968: 269). In Anbetracht der Tatsache, dass »self« einen bestimmten Subjektivierungsmodus benennt, der auf manipulativer und instrumenteller Intentionalität basiert, was Rainer nicht länger hinnehmen konnte, wäre ein »Ding« jene unpersönliche, subjektlose Materie, jene nicht-instrumentelle Entität, welche die Bewegungen eines Tänzers freisetzen würde – in ein Feld non-hierarchischer, horizontaler Interaktionen hinein. Die (ontologische, aber auch politische, ästhetische, aber auch ethische) Aufgabe bestand darin, eine choreographische Logik zu entwerfen, in der alle Verknüpfungen zwischen »Manipulation« und »Subjekt«, »Nützlichkeit« und »Objekt« umgangen würden, damit andere Möglichkeiten für die Dinge entstehen könnten. Wenn Objekte und Subjekte einander symmetrisch mitbedingen, folgt daraus: »Wenn der Gegenstand seinen Status gründlich ändert, dann auch das Subjekt« (Deleuze 2000: 36). Unter diesem Gesichtspunkt wirft die Veränderung im Status des Objekts in der aktuellen Choreographie eine drängende Frage für die Subjektivität auf: Wenn ein Objekt die Nützlichkeit aufgibt (oder aus ihr ausgelagert wird), wenn es aus dem Bereich der Instrumentalität, aus UnterwerfungsRelationen auf ein Subjekt hin, das es manipuliert, entfernt wird, mit anderen Worten: Wenn ein Objekt nicht länger ein Objekt ist, sondern zum Ding wird – zu was wird dann ein Subjekt? Genauer: Was wird aus dem Subjekt, das tanzt? In der ko-konstitutiven Symmetrie, die zwischen Objekten und Subjekten erreicht ist, folgt das Subjekt dem Weg des Objekts: Das Subjekt ›involutioniert‹, wird Ding4. Wenn das aber tatsächlich der Fall ist, was wird in dieser Rückbil-
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»Kreative Involution« ist der Ausdruck, den Deleuze von Bergson extrahiert und dessen ursprüngliche Bedeutung – Involution als feststellende Kraft, die dem élan vital entgegenwirkt – er verändert, um den minoritären Vektor des Werdens zu bezeichnen.
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dung dann eigentlich performt, im Bereich des Choreo-Ästhetischen wie des Choreo-Politischen? Diese Fragen rahmen die Affirmation des Dings im aktuellen experimentellen Tanz, und sie durchdringen auch die vier Arbeiten, die ich hier im Detail untersuche: Rubbish City (2008) der chinesischen bildenden und PerformanceKünstlerin Yingmei Duan, Tickle the Sleeping Giant #9 (2009) des USamerikanischen Choreographen Trajal Harrell, Este corpo que me ocupa (2008) des portugiesischen Choreographen João Fiadeiro und Solo …? (2008) der spanischen Choreographin Aitana Cordero. Indem sie einen Schritt weiter gehen als Rainers Stücke teilen diese sehr verschiedenen Arbeiten einen gemeinsamen Wesenszug: Sie proklamieren und performen nicht nur das Bedürfnis, nicht von einem Selbst bewegt zu werden, sie umgehen sogar das Begehren, durch ein Ding bewegt zu werden – denn Letzteres würde heißen, die Dinge immer noch mit einer Spur der Instrumentalität zu belegen, mit einer Spur der Benutzung des Dings als notwendigem Mittel zu einem ästhetischen Zweck (Dinge würden einen Tänzer bewegen und damit zu Repräsentanten oder Substituten des Willens eines Selbst werden). Stattdessen schlagen diese vier Arbeiten Arten des Bewegens als Ding und Weisen der Ding-Werdung vor.
R UBBISH C ITY Rubbish City wurde zum ersten Mal 2008 im Lilith Performance Studio im Malmö/Schweden aufgeführt. Als Kurator des Festivals IN TRANSIT im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) lud ich Yingmei Duan im Jahr 2009 ein, das Stück im größeren Ausstellungsraum des Gebäudes neu zu realisieren. Gemeinsam mit ihrem künstlerischen Team und der Technik-Crew des HKW baute Duan eine eindringliche Umgebung aus fünf Tonnen ›sauberem‹ Berliner Müll; sie verwandelte die Hauptausstellungshalle in eine temporäre Mülldeponie. In diesem Labyrinth aus Abfall schlenderte das Publikum von nur je zehn Personen einen schmalen, gewundenen Pfad entlang, wobei man auf Tausende von Gegenständen trat, die den Boden bedeckten und bis zu drei Meter hohe Halden von Zeug überwand: verbeulte Waschmaschinen, zerrissene Vorhänge und Teppiche, Hunderte Pappkartons, Papierbündel, halb zerschlagene oder wundersamerweise heile Teller, Tassen und Gläser, ein Ofen, Fernseher und
Wie Deleuze und Guattari formulieren: »[V]orausgesetzt, man verwechselt die Involution nicht mit einer Regression. Das Werden ist involutiv, die Involution ist schöpferisch« (2005: 325); vgl. auch Moulard-Leonard (2008: 42).
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Elektrogeräte, eine Tür, Matratzen, Holzbretter, altes Spielzeug, Stofflumpen, Bücher – alles in unterschiedlichen Erhaltungs- und Zerfallsstadien. Auch begegnete das Publikum in diesem Labyrinth im Dämmerlicht fünf geisterhaften Präsenzen. Drei Menschen standen an drei verschiedenen Stellen: Ein Mädchen von etwa zwölf Jahren lag faulenzend mitten in all dem Kram am Boden; ein älterer männlicher Schauspieler saß, repetitiv halb vergessene Erinnerungen vor sich hin murmelnd, auf einem hölzernen Hocker; ein Pianist hackte halbgebrochene Melodien aus einem verstimmten (auch im Müll gefundenen) Klavier. Zwei Weitere wanderten herum: ein stiller, großer, mysteriöser Mann in einem Smoking und die nackte, stumme Figur Yingmei Duans, die den aus dem Unrat herausgeschnittenen Weg entlang schlurfte. Dieses gesamte Environment war durchdrungen von dem beißenden Geruch von Staub und Schimmel, von dem ranzigen Geruch verdreckter Kleidungsstücke und schmutziger Wäsche, und das ganze Erlebnis wurde zusammengehalten von den schwerfälligen, melancholischen Melodien aus dem verstimmten Klavier.
Abbildung 1: Yingmei Duan, Rubbish City (2008/09)
Als eine Mischung aus Installation, Butoh-Tanz, Objekttheater, durational performance, sozialer Skulptur und sozialer Choreographie, ist Rubbish City ein überwältigend harsches, trauriges und nachhaltig sensorisches Experiment. Während wir mit gegrätschten Beinen auf einem vorgeschriebenen Gang entlang gehen, während wir unseren Weg im Dämmerlicht erspüren, uns anstrengen, nicht in den Müll zu stolpern oder anzustoßen, versuchen, den mit sich selbst beschäftigten, einzelgängerischen Performern zu begegnen oder öfter noch: sie zu meiden, kommt man unausweichlich zu einer plötzlichen Erkenntnis, nämlich wie neu, wie zeitgenössisch doch all dieser Abfall ist. Uns in der Müllstadt umher bewegend, mit ihr dank der Dunkelheit und des Gestanks verschmelzend, während unsere zögerlichen Schritte in Duans eigenem Schlurfen ihren Widerhall finden, realisieren wir, dass all jene ausrangierten Dinge nicht die Relikte einer
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entfernten Vergangenheit sind. Eigentlich wurde dieses ganze Zeug weggeworfen, weil genau dies das kurzfristige Schicksal aller Waren in einer Gesellschaft des intensiven Konsumismus ist. Rubbish City bietet eine kinetisch-politische ebenso wie eine affektivpolitische Offenbarung in Hinblick auf unsere eigene Situation als Teilnehmende, Komplizen, Zeugen und Hersteller einer katastrophalen, doch augenscheinlich unaufhaltsamen Kultur der Massenproduktion, die eine symmetrische, gleichfalls katastrophale Massen-Ausmusterung erfordert (und auf ihr basiert). Im Zusammenhang mit der Verwerfung dessen, was einmal Lust-Objekte waren, dessen, was vor nicht allzu langer Zeit benutzt und nützlich war, blitzt ein wahrhaft benjaminsches »dialektisches Bild« auf, das ein Moment politischhistorischer Einsicht provoziert. Benjamin merkte an: »[J]eder dialektisch dargestellte historische Sachverhalt polarisiert sich und wird zu einem Kraftfeld, in dem die Auseinandersetzung zwischen seiner Vorgeschichte und Nachgeschichte sich abspielt. Er wird es, indem die Aktualität in ihn hineinwirkt« (1983: 587). In der Phantasmagorie von Rubbish City wirkt das Ausspielen der Vor- und Nachgeschichte des weggeworfenen Zeugs in der Gegenwart der Performance wie die Enthüllung, inwiefern alle diese Gegenstände durch den bloßen Umstand des Nicht-mehr-in-Gebrauch-Seins, des Ausgesondert-worden-Seins das erlitten haben, was Deleuze und Guattari eine »unmittelbare, körperlose Transformation« (2005: 114) nennen. Durch den simplen (F-)Akt des Weggeworfenwordenseins waren sie von dem Reich nützlicher Waren in das Reich nutzlosen Zeugs übergegangen; sie hatten aufgehört, Objekte zu sein und waren bloße Dinge geworden. Entleert von jeglichem instrumentellen Gebrauch, evozierte der sorgsam choreographierte Unrat dabei eine andere Art von Möglichkeit des In-der-WeltSeins: die des Dings. Perniola schrieb: »[O]ur ignorance and our contempt for things is such that they are generally considered only and exclusively in a relation of subordination with respect to our subjective will or to our desires« (2004: 109). Trotzdem – mittels der Erfahrung, auf Duans Pfad herumzuwandern und mit unseren Körpern gegen Berge von Dingen und anonyme Gestalten zu streifen, schlägt Rubbish City eine Umkehrung dieser Unterordnung vor, um das zu bejahen, was eine proximale Ästhetik mit Dingen genannt werden könnte, ein Nebeneinandersein ohne Identifikation. So haben, während das Publikum körperliche Nähe zu den Performern erlebt, die Performer niemals eine Beziehung zum Publikum, vermeiden sie selbst einen einfachen Augenkontakt. Und wenn der Zuschauer eine Landschaft betritt, die ganz und gar aus wohl vertrauten Alltagsgegenständen besteht, so geschieht dies nur, um diese Gegenstände in einer Existenz zu sehen,
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die weit entfernt von ihrem Verwendungszweck liegt. Wenn der Zuschauer schließlich Staub und Schimmel von all dem weggeworfenen Zeug einatmet und damit buchstäblich Geschichtspartikel inhaliert, so nur, um von einem plötzlichen Verlangen zu husten, zu niesen oder zu erbrechen überkommen zu werden – wegen einer sehr realen Einverleibung der Ausdünstung der Dinge. Diese mit Bedacht choreographierten Spannungen zwischen Nähe und Inkorporierung, Distanz und Exkorporierung, welche die affektive Atmosphäre und dramaturgische Stimmigkeit von Duans Kunstwerk stützen, bekräftigen den proximalen, dabei nicht-relationalen Modus, mit den Dingen zu sein. In Worten, die in der Erfahrung des Umherstreifens in Rubbish City ihren Widerhall finden, schlägt Silvia Benso die Erarbeitung einer solchen Ethik der Dinge vor, die die Entwicklung eines ökologischen und politischen Bewusstseins befördern würde: »Only if things are recognized in their own peculiar alterity which does not submit, because it cannot be submissible, to the categories of the subject, can any ecological project be grounded on something more profound and fundamental than the fortuitous occurrence of subjects of good will.« (Benso 2000: xxxviii)
In dem apokalyptischen Environment von Rubbish City wird klar, dass guter Wille nicht genug ist. Trotzdem schenkt uns das Stück auch eine mögliche Hoffnungsrichtung: Sobald Objekte und Subjekte von Instrumentalität, Funktionalität, Wert und Identität entkleidet sind, ist das, was sie proximal – nah bei einander – finden können, die tatsächliche Möglichkeit, einfach beieinander zu verweilen, als Ding neben Ding. Das mag als keine besondere Leistung erscheinen. Aber erinnern wir uns daran, dass das Nebeneinandersein, das immer ein dem nicht-hierarchischen Appell der Dinge Nachgeben ist, eine der notwendigen Vorbedingungen für eine Ethik des Werdens darstellt – nicht nur bei Deleuze und Guattari (bei denen das »Molekularwerden« die notwendige nichtanthropomorphe politische und ethische Bewegung ist), sondern schon gemäß Heideggers Einsicht, dass »das Nur-noch-verweilen bei« (2006: 61) derjenige Modus des Seins ist, der ein »Sichenthalten von jeglicher Hantierung und Nutzung« (ebd.: 62) erlaubt. Sich zurückhalten, eben den Modus der Subjektivierung zurückhalten, der »Selbst« genannt wird, ist nichts anderes, als ein Ding-Werden zu initiieren – dadurch, dass den Dingen Raum (in Objekten und in Subjekten) gegeben wird.
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T ICKLE
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S LEEPING G IANT #9
In den ersten Momenten seines Stückes Showpony von 2007 sitzt der Choreograph Trajal Harrall auf dem Schoß seiner Zuschauer wie auf Stühlen. Sein Publikum hat er in zwei parallelen Stuhlreihen auf beiden Seiten eines leeren Laufstegs angeordnet. Harrell kommt in den Raum und bewegt sich dann systematisch von Zuschauer zu Zuschauer, sich auf den Schoß jedes Einzelnen setzend, während der Catwalk leer bleibt. Indem sie humorvoll neu definiert, was ein »lap dance« sein könnte, hat Harrells wiederholte Geste einen sich allmählich steigernden Effekt, der schrittweise das Empfinden eines allgemeinen Unbehagens hervorruft, weil die sinnliche, peinlich berührende, witzige und intime körperliche Interaktion bloßlegt, wie einfach jemand zu einem Objekt gemacht werden kann. Indem sie Subjekte in Objekte transformiert, intensiviert die Eröffnung von Showpony die Auswirkungen eines solchen Aktes aufgrund der unausweichlichen ethnischen Akzentuierung durch Harrells braune Haut. Wie Fred Moten vorgeschlagen hat, ist ›schwarze Performance‹ geprägt von einer ontohistorischen Kraft, die er »the resistance of the object« nannte (2003: 233). Diese spezifische Art des Widerstands ist eine, in der Objekthaftigkeit und ›Blackness‹ einander eine ganze Dynamik der (Un-)Sichtbarkeit und (zum Schweigen gebrachten) Auralität [aurality] einschreiben – im Zeichen eines »deicticconfrontational field« (ebd.). In diesem »konfrontativen Feld« widerstehen Subjekte und bestehen fort, performen und handeln – trotz einer Geschichte des legalen, politischen und affektiven Reduziertwordenseins auf den Status von Objekten für Benutzung und Handel: der Geschichte der »Mittleren Passage«5, der Sklaverei und auch des Kapitalismus, einer Geschichte, in der ganze Bevölkerungsgruppen auf den Status von Waren, Maschinen oder Werkzeugen reduziert worden sind und immer noch werden. Zwei Jahre später verwischte Harrell in Tickle the Sleeping Giant #9 die feine Linie zwischen Objekt und Subjekt noch weiter. Diesmal kam er der proximalen Ästhetik und affektiven Politik der Dinge näher. Tickle the Sleeping Giant #9, das den tanzenden Körper so weit wie möglich in ein Ding verwandelte, wurde im Juni 2009 im Hauptfoyer des Haus der Kulturen der Welt, ebenfalls als Teil des IN TRANSIT Festivals präsentiert. Das Stück versammelte sechs Tänzer,
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Als »Mittlere Passage« bezeichnet man einen Teil des Atlantischen Ozeans zwischen Westafrika und den Westindischen Inseln. In den African-American Studies, Diasporic Studies und Postcolonial Studies verweist der Begriff auf das Martyrium der Sklaven auf den sie transportierenden Lastschiffen auf dieser längsten Strecke ihrer Fahrt zwischen den zwei Kontinenten.
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die alle das Schlafmittel Ambien eingenommen hatten. Dadurch, dass Harrell seine auktoriale und choreographische Kontrolle preisgegeben hatte, war weder die Dauer der Aufführung noch ihr gestischer Score durch seinen Willen bedingt. Beides wurde nicht einmal durch den Willen der Tänzer gesteuert. Stattdessen wurde das Stück gänzlich durch bloße (a-subjektive) Geschwindigkeiten im Stoffwechsel komponiert, indem der Körper eines jeden Tänzers mit dem hypnotischen chemischen Wirkstoff von Ambien, Imidazopyridine, interagierte. Die Länge des Stücks betrug ungefähr acht Stunden, vorgegeben durch die durchschnittliche Wirkdauer des Medikaments. Die sechs Tänzer nahmen das Medikament gegen Mittag ein und legten sich auf fünf rechteckige weiße Schaummatten auf den kalten Steinboden im HKW-Hauptfoyer. Was die Bewegung betrifft, so blieben die Körper, die scheinbar dazu da waren, dieses vorgeblich Wesenhafte am Tanz zu performen, zumeist regungslos – nur gelegentlich zuckend, zitternd oder sich wendend unter der Einwirkung physiologischer Kräfte6.
Abbildung 2: Trajal Harrell, Tickle the Sleeping Giant #9 (2009)
Eine ›dingliche Zone‹ wurde in Übereinstimmung mit spezifischen antichoreographischen Interessen abgesteckt und hergestellt. Wenn das, was Tanz als autonome künstlerische Disziplin innerhalb des, mit Rancière, »ästhetischen Regimes der Künste« (vgl. u.a. 2010; 2006) definiert, ein kinetisches, diszipli-
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Für eine Kritik von Tanz als Kunst der »Bewegung im Raum« siehe auch Lepecki (2006); vgl. außerdem die Kapitel 1 und 2 in Manning (2009) sowie Kapitel 3 in Sabisch (2011).
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niertes »Sein-zur-Bewegung« (Sloterdijk 1989: 37)7 ist – auf die kleinste Anweisung des Choreographen-Autoren hin immer bereit zu performen –, dann riskiert der Tänzer oder die Tänzerin, sobald er oder sie unfähig ist, eine solche Aufgabe zu erfüllen, jegliche ästhetische Brauchbarkeit oder Identität zu verlieren. Wenn allerdings ein Verlust kinetischer Leistungsfähigkeit innerhalb eines choreographischen Systems von Gehorsam die onto-ästhetischen Grundlagen dessen bedroht, was gemeinhin als Tanz bezeichnet wird, so eröffnet er auch die Möglichkeit, Bewegung anders zu denken. Statt mit Bewegung als Makro-Deplatzierung haben wir es mit kleinen Wahrnehmungen zu tun. Statt Zuschauerschaft erleben wir Fürsorge als Modus des Nebeneinanderseins mit bewusstlosen Körpern – Körpern, welche die intentionale Bewegung aufgegeben haben, um einfach ›sein zu lassen‹. Schlussendlich wird in Harrells Fall choreographische Autorschaft durch eine Art Teilnahme ersetzt. In Berlin saß Harrell während des gesamten Stückes diskret hinter einer Säule, wenige Meter von den schlafenden Tänzern entfernt, eindeutig außerhalb des Rahmens, aber dennoch anwesend. Später erzählte er mir, dass der Drang, dort, neben den Tänzern, acht Stunden lang zu sein, von der bestehenden Einsicht hergerührt habe, sich für sie verantwortlich zu fühlen, einem zwingenden Bedürfnis, sicherzustellen, dass ihnen in ihrem Schlummer nichts geschehen würde. Harrells Beschreibung dieses Impulses, der nichts mit einem auktorialen Überblick, aber alles mit einem ethischen Imperativ der Sorge zu tun hat, machte ihn weniger zu einem Choreographen als zu einem Begleiter. Dabei ist Harrells Version des Begleiters nicht diejenige, die Deleuze in der Logik der Sensation definiert: »Die ›Begleiter‹ […] sind keine Zuschauer«, sondern »Teil der Figur«, sie seien »Bezugselemente oder [eine] Konstante, hinsichtlich derer sich eine Variation ausmachen lässt« (1995: 15f.) Harrells Anwesenheit gehört nicht zum Regime der »Figur«, weil seine Präsenz außerhalb des Rahmens es ihm nie gestattet, zum »Referenzpunkt« in der Gesamt-Kompositionsfläche des Stückes zu werden. Seine teilnehmende Sorge legt vielmehr die partikularen Erotiken nahe, die Mario Perniola dem Seinsmodus zuschreibt, den er »a thing that feels« (2004: 109) nennt, ein Modus, der auf dem Umstand basiert, dass »the discovery of the essence of things goes hand in hand with the dismissal of any desire and individual cupidity. Therefore when I give myself as thing, I do not mean at all to offer myself to the exploitation and the benefit of others. I do not offer myself to the other
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Für eine Diskussion von Choreographie und Sloterdijks Begriff des »Sein-zurBewegung« siehe Kapitel 1 u. 2 in Lepecki (2006).
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but to the impersonal movement that at the same time displaces the other from himself and allows him in turn to give himself as thing and to take me as thing.« (Ebd.)
E STE
CORPO QUE ME OCUPA
In den ersten zehn Minuten von Este corpo que me ocupa (Dieser Körper, der mich einnimmt) werden Dialogzeilen zwischen zwei anonymen Gesprächspartnern an die Bühnenrückwand projiziert, in denen beliebige, das Gebäude und die Stadt der jeweiligen Aufführung involvierende Ereignisse diskutiert werden. Als die Projektion beendet ist, läuft João Fiadeiro vom Publikum aus auf die Bühne, überquert sie, öffnet eine Tür an der Rückwand und holt eine hochgewachsene Pflanze in einem Blumentopf herein. Vorsichtig legt er den Pflanzentopf auf den Bühnenboden nieder und kehrt zu seinem Platz zwischen den Zuschauern zurück. In der Bühnenmitte hat die Pflanze ein schönes Solo aus lebendiger Kreatur, unbeweglicher Materie und unmerklichen Bewegungen. Nach einer Weile steht Fiadeiro wieder von seinem Platz auf und fährt systematisch, nie hastig, fort, mehr Gegenstände auf die Bühne zu bringen: drei weitere große Pflanzen, ein Sofa, einen kleinen Rollwagen, einen Sessel, eine Lampe, einen Metallhocker, ein großes Fernsehgerät, einen Holzschemel. Er platziert alle diese Gegenstände so, wie es entweder unüblich oder explizit unpraktisch für sie ist: Der Karren, das Sofa und der Sessel werden kopfüber aufgestellt, die Pflanzen und die unangeschlossene Lampe auf der Seite gelagert und das TV-Gerät, ebenfalls unangeschlossen, mit dem Monitor auf dem Boden. Er ordnet alles in verschiedenen parallelen Diagonalen an, füllt die Bühne mit einer präzisen Komposition. Zuletzt legt sich Fiadeiro auf den Bühnenboden, das Gesicht nach unten, nimmt seine Brille ab (die er auf den Boden legt wie nur ein weiteres Ding zwischen Dingen) und reiht sich neben den Objekten ein. Este corpo que me ocupa bekräftigt das Konzept des Nebeneinanderseins, fügt ihm aber auch eine andere Dimension hinzu: verstanden als eine Erotik und eine Politik des Dingwerdens. Der Titel beinhaltet einen entscheidenden Hinweis darauf, wie Objekte und Subjekte sich wechselseitig ko-determinieren. Soweit es reine Materie betrifft, bleibt die Frage des Wissens, welcher Körper einen anderen einnimmt, ein Gegenstand für die Physik oder Chemie. Im Feld der Subjektivierung und instrumentellen Vernunft jedoch ist die Frage des Eingenommenwerdens und Zum-Besitz-Werdens von Körpern und von Objekten die entscheidende Frage. Wie Fred Moten anmerkte: »While subjectivity is defined by the subject’s possession of itself and its objects, it is troubled by a dispossessive
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force objects exert such that the subject seems to be possessed—infused, deformed—by the object it possesses« (2003: 1). Diese Dynamik des Besessenwerdens, die darauf gründet, ein Objekt zu besitzen, das dessen ungeachtet schlussendlich Besitz über die Subjektivität selbst ergreift, wird in der zweiten Hälfte von Este corpo que me ocupa deutlich demonstriert. Nach seinem nicht-instrumentellen Arrangement der Objekte performt Fiadeiro eine choreographierte Re-Organisation gemäß ihrer ›richtigen‹ Nutzung. Indem er die instrumentelle Seinsweise jedes Objektes wieder herstellt (Sofa und Hocker mit der richtigen Seite nach oben, Fernseher und Lampe in ihrer zweckmäßigen Funktionsposition und an Strom angeschlossen; Blumentöpfe vertikal stehend), kreiert Fiadeiro das Bild eines typischen Wohnzimmers. Dann nimmt er mit in sich gekehrter Energie die Position des zeitgenössischen Subjekts in Bezug auf die Besitztümer ein, die ihn zugleich besitzen und deformieren: Er lümmelt sich auf der Couch, um seine Häuslichkeit zu genießen.
Abbildung 3: João Fiadeiro, Este corpo que me ocupa (2008)
In dieser ordentlich eingerichteten Welt, in der Objekte wieder in ihre funktionalen Positionen zurückgestellt worden sind, um ihre nützlichen Zwecke zu erfüllen, sehen wir, wie ein ganzes System von Objekten in das Innerste von Subjektivität eindringt, Besitz von ihr ergreift und sie definiert. Wir sehen, dass die Systematizität dieses Systems sogar noch auf der Ebene des Begehrens bis ins kleinste Detail das Subjekt choreographiert, das vorgeblich das System kontrolliert. In dieser Art der Verwendung kristallisiert sich dank der Gestalt des einsamen Mannes, der vor dem Fernsehgerät auf dem Sofa sitzt, umgeben von gezähmter, dekorativer Natur, ein unerträgliches Porträt zeitgenössischer Passivität heraus. Diese Szene, dieses Bild, wird gegen Ende des Stücks minutenlang gehalten, wobei sie einen Effekt generiert, der ganz und gar nicht derselbe ist wie der, als Fiadeiro neben der Materie der Welt lag. Was hervortritt, ist die Vergegenwärtigung, wie »immersed in the object of enjoyment, the enjoyer is conditioned by what is enjoyed« (Benso 2000: 53).
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In diesem Erkenntnismoment schwingt in Este corpo que me ocupa nachhaltig Giorgio Agambens jüngste Kritik des Objekts mit. In seinem Essay »Was ist ein Dispositiv?«8 beschreibt Agamben das Objekt in der Gegenwart als ein überwältigend persuasives Anweisungssystem. Er schreibt: »Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern« (2008: 26). Ausgestattet mit der Fähigkeit, Gesten und Verhaltensweisen zu erfassen, zu formen und zu kontrollieren, entspricht dieses »irgendetwas« sehr genau der Definition von Choreographie, die eben als ein Dispositiv der Kontrolle von Gesten, Mobilität, Anordnungen, Körpertypen, körperlichen Intentionen und Neigungen um einer spektakulären Vorführung der Präsenz eines Körpers willen verstanden werden kann9. Wie Agambens Aufzählungen zeigen, geht seine Konzeption des Begriffes über die Vorstellung des Dispositivs als eines allgemeinen Systems der Kontrolle hinaus und nähert sich stattdessen einem sehr konkreten, sehr spezifischen Verständnis des Dispositivs als eines Objekts, das gebietet an: »[A]lso nicht nur die Gefängnisse, die Irrenanstalten, das Panoptikum, die Schulen, die Beichte, die Fabriken, die Disziplinen, die juristischen Maßnahmen etc., deren Zusammenhang mit der Macht in gewissem Sinne offensichtlich ist, sondern auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, die Computer, die Mobiltelefone […].« (Ebd.)
Zwischen Stiften und Zigaretten, Computern und Mobiltelefonen scheint es so, als ob die Zahl der Objekte, die unsere Gesten, unsere Lüste und unsere Bewegungen kontrollieren, allein durch Verfügbarkeit limitiert ist – insbesondere, weil »das äußerste Entwicklungsstadium des Kapitalismus, in dem wir leben« charakterisiert ist durch eine gigantische Anhäufung und Wucherung von Dispositiven« (ebd.: 27). Mit anderen Worten, wenn wir Gegenstände produzieren, produzieren wir Dispositive, die unsere eigene Fähigkeit verringern, nicht-
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Anm. d. Übers.: Der Autor arbeitet mit der aktuellen englischen Übersetzung von Agambens Text als »What is an apparatus?« (2009) und nutzt im Folgenden die Implikationen dieses Begriffs für seine Diskussion des Zusammenhangs von Objekt- und Dinghaftigkeit. Die deutsche Ausgabe »Was ist ein Dispositiv?« (2008) bleibt näher beim italienischen Original »Che cos'è un dispositivo?« (ders. 2006) – daher lassen sich einige Nuancen nur schwer wiedergeben.
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Für eine Diskussion von Choreographie als Erfassungs-Dispositiv vgl. Allsopp/ Lepecki (2008).
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bezwungene Subjektivität zu produzieren. Während wir Objekte herstellen, finden wir uns dabei wieder, wie wir von Objekten hergestellt werden: »Heute […] scheint es keinen einzigen Augenblick im Leben eines Individuums mehr zu geben, der nicht von irgendeinem Dispositiv geformt, kontaminiert oder kontrolliert wäre« (ebd.). Agambens Definition des Dispositivs ist folglich nützlich, um die Vorherrschaft von Objekten im jüngsten experimentellen Tanz zu verstehen: erstens, weil sein Begriff eine Performativität in Objekten freilegt, und zweitens, weil er eine choreographische Kraft identifiziert, die Objekte in der Zeitgleichheit definiert und in ihnen lebt – eine Kraft, welche die Beziehung zwischen Subjektivität und Objektivität sicherstellt, während sie die Frage des Gehorsams vermittelt, die Frage regulierender Gesten oder des Bestimmens darüber, wer wessen Bewegungen bestimmt. Es ist kein Wunder, dass der zeitgenössische experimentelle Tanz (aber auch die Performancekunst – wegen ihres offen politischen Elans und insbesondere wegen ihres Interesses dafür, wie Objekte Handlungen auslösen) das System der Objekte, welches das Leben heute bestimmt, kritisch behandeln muss, da doch Objekte unsere Subjektivität zu regieren und uns unter ihre Dispositiv-Funktion zu unterwerfen scheinen. Aber vielleicht steckt ja mehr dahinter als nur Kontrolle … Agamben hält fest, dass unter dem Einfluss des Dispositivs (Gefängnis oder Stift, Religion oder Zigarette, Landwirtschaft oder Mobiltelefon) ein »Moment der Desubjektivierung […] freilich jedem Subjektivierungsprozeß inne[wohnt]« (ebd.: 36). Die drängende Frage ist dann: Wie entsubjektiviert man ein Dispositiv und, vor allem, ein Objekt? Agambens Antwort ist »Profanierung«, das, was er ein »Gegendispositiv« (ebd.: 34) nennt. Nach Agamben ist die Profanierung die einzige Handlung, die dazu führt, die Dinge »dem freien Gebrauch der Menschen zurückzugeben« (ebd.). Dennoch wirken beide – die Wiedereinsetzung der Kategorie des »Menschen« als Gegenbewegung und der Vorrang, der dem »Gebrauch der Menschen« als instrumenteller Kraft eingeräumt wird – wie sonderbare Auswege. Ein Solo der spanischen Choreographin Aitana Cordero kann womöglich auf eine Möglichkeit hindeuten, diesen fesselnden und kontrollierenden Dispositiven zu entkommen, ohne sich auf die Kategorie »Mensch« zu berufen und ohne die Notwendigkeit eines instrumentelleren »Gebrauch[s]«.
S OLO …? Karl Marx stellte bekanntermaßen fest, dass – wenn menschliche Aktivität im Allgemeinen dazu in der Lage ist, körperliche Veränderungen an der Materie
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dadurch vorzunehmen, dass sie diese in ein Objekt des Gebrauchs umwandelt (etwa einen Holzblock in einen Tisch) – die menschliche Tätigkeit unter den besonderen Bedingungen des Kapitalismus Objekte einer zusätzlichen, magischen oder auch immateriellen Transformation aussetzt, in der sich alles für den menschlichen Gebrauch Gemachte in »ein sehr vertracktes Ding« genannt Ware verwandelt (Marx 2009: 83). Guy Debord machte in dieser befremdlichen Art der Transformation das »Prinzip des Warenfetischismus […], d.h. die Beherrschung der Gesellschaft durch ›sinnliche übersinnliche Dinge‹« (1996: 18) aus. Debord griff dieses Prinzip der Herrschaft auf und verwendete es zur Definition unserer »Gesellschaft des Spektakels«, bei der es sich nicht um eine Gesellschaft handelt, die aus Spektakeln besteht, vielmehr ist das »Spektakel […] der Moment, in welchem die Ware zur völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar; sondern man sieht nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt« (ebd.: 21). Das politische Schicksal der Ware ist es folglich, ihre totale Herrschaft über das soziale Leben einschließlich des Lebens der Dinge, aber auch über das somatische Leben zu vollenden – denn die Herrschaft der Ware schreibt sich tief in beide, anorganische und organische, Körper ein. In der Tat beherrscht die Ware nicht nur die Welt der Dinge (indem sie diese zu Instrumenten des Profits, Gebrauchs oder Austauschs macht), sondern auch den Bereich dessen, was als wahrnehmbar erachtet wird und was unwahrnehmbar (oder irrelevant) bleibt, den Bereich des Sinnlichen und den des Infra-Sinnlichen, die Domäne des Verlangens und die Domäne der Träume. Die Ware regiert sogar noch die Möglichkeit, Regierungsgewalt zu imaginieren. Wenigstens ist das ihr Impetus. In ihrem Herrschaftsbereich finden Menschen und Dinge die ihnen gemeinsame Offenheit für endlose Potenzialität gewaltsam erdrückt oder erheblich vermindert vor. Selbst wenn die Ware ein materielles Objekt ist, stellt ihre Macht sicher, dass weder Menschen noch Dinge in Ruhe gelassen werden. Somit kann man die Verbindung zwischen Agambens »Dispositiv« und Marx’ »Ware« erkennen. Während Agamben »Profanierung« anregte, schlägt Aitana Cordero’s Solo …? Revolte vor. Corderos Solo …? (2008) ist ein abendfüllendes Stück, in dem sie eine Auswahl von häuslichen Gegenständen auf die Bühne bringt, darunter einen Fernseher, Elektrogeräte, Eimer, Ventilatoren, Elektrokabel, Lampen, Schaufeln, Pflanzbewässerungssysteme, stationäre Computer und Laptops. Mit Fortschreiten des Solos verändert sich die affektive Atmosphäre mit der Art und Weise, wie Cordero die Objekte handhabt. Anfangs scheint das Stück eine Übung darin zu sein, eine Ausstellung oder ein Archiv von Alltagszubehör zu entwerfen. Minutenlang sehen wir Cordero dabei zu, wie sie nüchtern Objekte hereinbringt, sie
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auf den Boden legt und durch die allmähliche Anhäufung eine visuelle Komposition aus Farben, Texturen, Ausmaßen schafft. Als die Objekte die Bühne zu füllen und die Möglichkeiten der Anordnung sich zu erschöpfen beginnen, fängt Cordero an – zuerst langsam und dann immer heftiger – wahllos die Gegenstände zu attackieren, auf ihnen herumzustampfen, sie gegeneinander, gegen die Wand oder gegen den Fußboden zu werfen, Wege zu finden, jeden von ihnen so stark wie möglich zu zerstören. Dann geht sie dazu über, alles aufeinander zu häufen. Mit weißem Klebeband zieht sie eine gerade Linie auf dem Boden, die von einer Seite der Bühne zu dem Stapel mit den Objekten führt. Alsdann geht Cordeo in den Vierfüßlerstand und folgt, wie eine gute Tänzerin das sollte, mit Bedacht der weißen Linie, so als wäre sie eine choreographische Notation.
Abbildung 4: Aitana Cordero, Solo…? (2008)
Während Cordero immer behutsamer auf den Haufen zukriecht, dimmen die Scheinwerfer im Theaterraum langsam ins Blackout. Vorsichtig, ja fürsorglich, drückt Cordero mit hereinbrechender Dunkelheit ihren Körper in den Haufen zerstörter, nicht länger nützlicher Objekte. Sie ist weniger ein Körper unter Objekten als ein Ding unter Dingen: Performt wird eine Fusion – ein Konfusion. Das Stück endet in Ruhe, trotz oder vielleicht wegen all der vorhergehenden Gewalt gegen Objekte, die jetzt einfach sein dürfen. Hier, würde ich vorschlagen, handelt es sich nicht wirklich um eine »Profanierung« des Objektes für den »Gebrauch des Menschen« (wie Agamben gesagt hätte), sondern um eine gewalttätige Revolte, ausgeführt von einer Frau gegen die Beherrschung der Dinge und der Subjektivität durch die packende Kraft jenes kolonisierenden Dispositivs, das man als Ware kennt. Im Unterschied zu den drei zuvor diskutierten Stücken, führt Solo …? eine ganz explizite Verbindung zwischen Revolte und Revolution ein, wobei Gewalt nicht als destruktive Kraft, sondern als notwendige Handlung erscheint, um Subjekte und Objekte loszureißen und eine geteilte Seinsweise des Dingseins, des Bewegens als Ding freizustellen.
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Das Paradox jeder dinglichen Beteiligung am Kunstschaffen beruht auf dem Umstand, dass – selbst wenn eine Arbeit Modi des Ding-Werdens vorschlägt – die Arbeit selbst offensichtlich ein Kunst-Objekt bleibt. Dies ist das unhintergehbare Limit, mit dem die Dinglichkeit jede Repräsentation belegt – es liegt ebenso auf der Schwelle von Objektivität wie es die äußere Grenze von Subjektivität definiert. Und doch: Das gegenwärtige choreographische Interesse und Investment in Dinglichkeit ist genau der Moment, wo ein solches Paradox nicht zur Sackgasse wird, sondern zu einer Quelle für Energie spendende Verbindungen zwischen Kunst und Politik, Subjektivität und Objektivität, Performance und ihren Auswirkungen. Innerhalb des Regimes der Erwartungen, das die Repräsentation aufruft (ein Regime, das von Tänzern, die sich nicht gemäß eines Systems der Anordnung bewegen und von Dingen, die sich weigern, bloße Produzenten von Effekten oder Stellvertreter für menschliche Körper zu sein, unmittelbar subvertiert wird), mag die durch das Ding angeregte Auflösung der Repräsentation endlich, wenn auch nur kurz, flüchtig zu sehen sein, erfahren oder durchgespielt werden. Wenn Fiadeiro einfach neben Objekten frei von utilitaristischen oder Bedeutungszwecken liegt, wenn Cordero sanft mit einem Haufen zerstörter Waren verschmilzt, wenn Duan über ihre nackte Präsenz und Berge von kürzlich weggeworfenem Zeug in einem choreographierten Nebel aus Staub und Schimmel Geschichte, Ökologie und Politik miteinander verquickt, und wenn Harrell den betäubten Körper eines Tänzers schlafend in einem Museum als Art und Weise des Nebeneinanderseins in einer »Ethik der Dinge« präsentiert, wird die Bindung zwischen Objekthaftigkeit und Subjektivität für einen Moment erschüttert. In dieser Erschütterung wird eine Lücke oder Öffnung im Möglichkeitsfeld freigelegt und aktiviert. Diese Aktivierung ist nichts anderes als der politische Effekt, den eine choreographische Kritik des Objekts herzustellen vermag: die Formung eines »impersonal movement that at the same time displaces the other from himself and allows him in his turn to give himself as thing and to take me as thing« (Perniola 2004: 109). Aus dem Amerikanischen von Constanze Schellow.
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A BBILDUNGEN Abbildung 1: Yingmei Duan: Rubbish City, © Elin Lundgren. Abbildung 2: Trajal Harrell: Tickle the Sleeping Giant #9, © Aurelius Carson. Abbildung 3: João Fiadeiro: Este corpo que me ocupa, © Patrícia Almeida. Abbildung 4: Aitana Cordero: Solo…?, © Videographie Filip Molski.
Den Körper ins Spiel werfen Zum Verhältnis von Körper und Spiel im gegenwärtigen Theater und Tanz A NNEMARIE M ATZKE
In der Mitte des Alexanderplatzes ist ein Brunnen installiert. Auf dem Boden wurde eine einfache Metallplatte angebracht, in die Löcherreihen gestanzt sind, aus denen immer wieder Fontänen heraussprudeln, so dass sich Wände aus Wassertropfen bilden. Es entstehen flüchtige Raumsegmente, die sich nach dem Zufallsprinzip heben und senken. Der Brunnen ist einfach begehbar, keine Absperrung verhindert den Eintritt auf die Metallfläche. Versiegen die Wasserstrahlen für einen Moment, wird der Weg in die einzelnen Raumteile geöffnet. Steigen die Wasserwände wieder hoch, kann es sein, dass der Betrachter von ihnen eingeschlossen wird. Der Brunnen funktioniert dabei nach Regeln, die für den Besucher nicht zu durchschauen sind. Die Installation kann mit allen ihren Möglichkeiten erst in der Interaktion mit ihrem Regelsystem erfahren werden, wobei nicht nur die Wasserarchitektur, sondern auch man selbst in Bewegung gerät. Im Austesten verschiedener Handlungsmöglichkeiten schlägt die erste Überraschung über die Bewegungen des Wassers in ein spielerisches Umgehen mit den Bewegungsmöglichkeiten um. Die Regeln werden ausprobiert, indem die Besucher Bewegungen wiederholen, variieren und erweitern. Aus den Betrachtern – in diesem Falle sogar oft zufälligen Passanten – werden Spieler, die in der Interaktion mit dem Apparat ›Brunnen‹ ihre Körper ins Spiel werfen. Ihre Bewegungen und das Wasser in Bewegung bedingen sich spielend; wer hier wen bewegt, lässt sich nicht sagen. Diese Installation des bildenden Künstlers Jeppe Hein mit dem Titel Appearing rooms1 war Teil des Festivals Tanz im August 2005. Der Präsentationskon-
1
Erstmals wurde die Arbeit 2004 in der Villa Main in Passarino, Italien gezeigt.
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text ›Tanzfestival‹ verweist auf eine Nähe von Heins Projekt zu den szenischen Künsten, die für meine Fragestellung von besonderem Interesse ist: Welche Formen von Spielen gibt es im gegenwärtigen Theater, der Performance Art oder dem Tanz? Und wie ist in ihnen das Verhältnis von Selbst-Inszenierung und Körper des Spielenden zu beschreiben? In der bildenden Kunst finden sich zahlreiche Arbeiten, die sich erst durch die Teilnahme des Betrachters realisieren. In Objekten wie der See-saw von Robert Morris (1971), in den Situationen von Tino Sehgal (u.a. This Objective of That Object (2004), This Progress (2010) oder These Associations (2012)), aber auch in den Installationen von William Forsythe (u.a. White Bouncy Castle (1997), City of Abstracts (2000), Scattered Crowd (2002)) wird man in einer räumlich abgegrenzten Situation als Spieler involviert2. Aus der Analyse solcher Projekte ergeben sich für die Fragestellung nach der Rolle des Körpers im theatralen Spiel grundlegende Parameter in Bezug auf das Verhältnis von drei zentralen Aspekten: dem Eintritt in das Spiel, dem Körper im Spiel und dem jeweiligen Regelwerk. Ausgehend von diesen Überlegungen zu choreographischen Arbeiten aus der bildenden Kunst lassen sich auch Spielkonzepte aus dem gegenwärtigen Theater und Tanz genauer bestimmen. Im Theaterdiskurs wird die Funktion des Schauspielers traditionell mit Rollenspiel und der Verkörperung einer dramatischen Figur gleichgesetzt. Das entsprechende Spielkonzept zielt auf Mimesis. In den Installationen der bildenden Kunst dagegen gibt es Akteure, die nicht über das Konzept der spielerischen Nachahmung dramatischer Figuren oder kultureller Rollenmuster zu beschreiben sind, sondern über den körperlichen Eintritt in eine Spielsituation. Nicht Nachahmung, sondern die Handlungen und Bewegungen in einem spielerischen System von Regeln geraten in den Fokus. Es eröffnet sich ein eigener Zusammenhang aus Spiel, Körper, Bewegung und Raum. In aktuellen Formen von Performance und Tanz finden sich vermehrt genau solche Spielformate, die auf der Bühne ein zweites, eigenen Regeln folgendes Spielfeld installieren. Der Eintritt der Darsteller in dieses Spielfeld wird zum Auftritt als Spieler; die Aufführung wird zum Spiel oder anders gesagt: Ein Spiel wird aufgeführt3. Egal ob in Installationen der bildenden Kunst oder in Inszenierungen aus Theater, Performance Art oder Tanz: Immer werden die Konventio-
2
Vgl. zu diesen Beispielen u.a. Rosenthal (2010); zu den Arbeiten von Tino Sehgal vgl.
3
Dieser Aufsatz ist eine Weiterführung meiner Überlegungen zum Verhältnis von Spiel
den Beitrag von Andreas Hetzel in diesem Band. und Selbst-Inszenierung in meiner Monografie Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Selbst-Inszenierung im gegenwärtigen Theater (Matzke 2005).
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nen einer souveränen Darstellung und eines stabilen Verhältnisses von Betrachter und Objekt unterlaufen. Mit dem Eintritt ins Spiel wird zuletzt auch nach der Konstitution von Körperlichkeit gefragt. Das Konzept des Spiels lässt sich jeweils auf gleiche Weise fassen: Ein Spiel zeichnet sich in diesen Arbeiten dadurch aus, dass es in räumlich und zeitlich festgesetzten Grenzen nach eigenen Gesetzen und Konventionen in einem definierten Bereich stattfindet. Als sekundäre situative Modelle bilden Spiele ein Handlungsfeld aus und binden die Teilnehmer durch ein Regelwerk. Voraussetzung ist die gemeinsame Akzeptanz des Spielrahmens von allen Teilnehmern. Innerhalb seiner geschieht dabei etwas anderes als außerhalb. In diesem Sinne sind diese Spiele immer auch Aufführungen, die etwas zeigen4. Diese Definition trifft auch auf das Theater zu. Die Theatersituation bietet einen Spielrahmen, der auf der Übereinkunft von Zuschauern und Darstellern basiert, dass alles, was in diesem Rahmen geschieht, Theater und somit Spiel ist. Dabei spielen nicht nur die Darsteller eine Rolle, sondern auch die Zuschauer folgen Spielregeln, durch welche ihre Rolle als Zuschauer bestimmt ist. Nicht ohne Grund wird das Theater immer wieder zur Bestimmung des Spiels herangezogen. Dieses besondere Verhältnis von Theater und Spiel wird wiederum in verschiedenen Dramen zur Thematisierung der theatralen Situation genutzt. Das Motiv des Spiels im Theater ist ein bekanntes strategisches Verfahren im Drama und meist unter der Bezeichnung ›Theater im Theater‹ oder ›Spiel im Spiel‹ diskutiert worden5. Als eine Form der Selbstreflexion macht es den theatralen Rahmen selbst sichtbar. Das Kommunikationssystem ›Theater‹ wird somit in die Aufführung hineintransportiert. Innerhalb der Fiktion wird einerseits eine weitere Ebene etabliert und andererseits die Position der Zuschauer gedoppelt: Diese schauen Schauspielern zu, die auf der Bühne einer Aufführung zuschauen.
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Johan Huizinga hat bereits in den 1950er Jahren auf die Nähe zwischen Spiel und
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Manfred Pfister differenziert zwischen zwei verschiedenen Formen des ›Spiels im
Aufführung verwiesen (1991: 16). Spiel‹ im Drama: der Spielhandlung, in der das Spiel im Spiel von einem selbständigen Publikum getragen wird, und einer »Identität des Personals, bei der die fiktiven Schauspieler, die das Spiel aufführen, auch als Figuren in übergeordneten Sequenzen fungieren« (1977: 301). Am Beispiel von Schnitzlers Der grüne Kakadu (1898) zeigt Pfister, wie dieses Spiel im Spiel eine »unauflösbare Ambivalenz« (ebd.: 302) von Fiktionalität und »potenzierter Fiktionalität« (ebd.) hervorruft. Es entsteht ein komplexes Wechselverhältnis zwischen verschiedenen Fiktionalitätsebenen (vgl. ebd.: 229ff.).
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Die hier zu betrachtenden Spielformen im gegenwärtigen PerformanceTheater oder Tanz unterscheiden sich davon jedoch grundlegend. Zwar sind auch hier die Darsteller auf der Bühne identisch mit den Spielern des Spiels. Aber sie zeigen keine Darstellung einer fiktiven Handlung. Es gibt keine Figuren, keinen fiktiven Ort und keine fiktive Zeit. Keine Spiegelung der Kommunikationssituation ›Theater‹ findet statt, sondern das Spiel ist die Aufführung. Die Schauspieler sind Spieler, sie repräsentieren nicht nur Spieler. Wie sich damit das Konzept von Darsteller, Darstellung und Körperlichkeit im Spiel verschiebt, lässt sich beispielhaft anhand der durational performances des englischen PerformanceKollektivs Forced Entertainment zeigen6.
T HE G AME
OF
T ELLING S TORIES
Die Inszenierung And on the Thousandth Night7 von Forced Entertainment spielt mit der Form des Märchen-Erzählens. Auf einer langen Reihe von Stühlen sitzen die Performer vorn an der Bühnenkante. Gekleidet wie kindliche Königsdarsteller mit einem einfachen roten Umhang und einer goldenen Pappkrone, fällt der einzelne Schauspieler durch keine Besonderheit auf. Hinten auf der Bühne ist ein Tisch mit Wasser und Essen aufgebaut. Einzelne verlassen immer wieder die Stuhlreihe, um dort etwas zu essen oder zu trinken, den anderen zuzusehen und zuzuhören. Dass dies auch wirklich nötig ist, liegt an der schieren Länge der Aufführung: Die Performer erzählen über sechs Stunden ihre Geschichten. Das Spiel selbst ist durch folgende Regeln bestimmt: Einer beginnt, etwas zu erzählen. Ausgegangen wird immer von der Floskel »Once upon a time there was…«, der bekannten Einleitung zu jedem Märchen. Die Performer sprechen direkt zum Publikum. Sie erzählen alltägliche Begebenheiten ohne wirklich dramatischen Charakter oder Pointe, Filmhandlungen, bekannte Klassiker, Dramenstoffe wie Hamlet oder Faust, historische oder politische Ereignisse, persönliche Erfahrungen. Ihre Haltung bleibt dabei immer die von Märchenerzählern – so brutal oder banal die jeweilige Geschichte auch sein mag. Teils werden bekannte Stoffe so formuliert, als seien sie persönliche Erlebnisse der Darsteller;
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Forced Entertainment haben seit Mitte der 1990er Jahre eine Reihe von Inszenierungen entwickelt, die Spiele auf die Bühne bringen und dabei mit der Dauer der Aufführung spielen. 12 am: Awake and Looking Down (1993), Speak Bitterness (1994) oder Quizoola (1996) dauern zwischen zwei und sechs Stunden.
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Forced Entertainment, And on the Thousandth Night, Premiere: Festival Ayloul Beirut (2000).
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oft erscheint das Erzählte so alltäglich, als würde eine intime Erinnerung wiedergegeben. Was das Ganze zu einem besonderen Spiel macht, sind die Regeln, durch welche die Erzählung strukturiert wird. Die Performer treten in Interaktion. Erzählt wird nämlich immer solange, bis jemand »Stop!« ruft. Derjenige, der unterbrochen hat, ist nun mit dem Erzählen an der Reihe. Eine neue Geschichte beginnt: »Once upon a time …«. Die Performer haben verschiedene Möglichkeiten, an ihren Vorredner anzuschließen: Sie können Motive aus der vorangegangenen Geschichte übernehmen und sie in ihre Erzählung einbauen. Oder sie beginnen ganz von vorn und erzählen etwas anderes – nur, um nach einer Weile wiederum unterbrochen zu werden. Oder aber: Sie kommen auf eine Geschichte zurück, die sie vielleicht vor einer halben Stunde selbst erzählt haben. Es entsteht ein Kontinuum aus Geschichtenfragmenten, eine unendliche Erzählung, bestehend aus einzelnen Bruchstücken. Diese Spielstruktur fordert die Erzähler heraus: Sie können sich gegenseitig (immer wieder) unterbrechen und so nie ins Erzählen kommen lassen. Oder aber ein Erzähler wird überhaupt nicht unterbrochen, so dass er seine Geschichte immer weiter und weiter erzählen muss, über das Ende der eigentlichen Handlung hinaus. Der Moment des Abbrechens reißt Lücken – »Wie wäre die Geschichte ausgegangen?« –, die der Zuschauer selbst füllen muss. So entsteht ein konkretes und fast ironisches Spiel um die Leerstellen der Texte. Deutlich wird, dass es sich hier um eine besondere Form des Spiels im Theater handelt. Sie unterscheidet sich von anderen Spielweisen wie dem Rollenspiel. Die Offenheit der Spielsituation stellt den Status der Darsteller als Spieler in besonderer Weise aus.
T HEATER -S PIELEN Wenn Theater gemeinhin durch einen Spielrahmen definiert wird, dann wird in der oben beschriebenen Inszenierung ein zweiter Spielrahmen installiert, der im Unterschied zum Theaterrahmen seine Begrenzungen und Regeln offen legt und die spielerische Kommunikation selbst zum Gegenstand macht. Anders als beim dramatischen Verfahren des ›Spiels im Spiel‹ ist dieser Rahmen konstitutiv für die gesamte Aufführung. Er markiert keinen zeitweiligen Einbruch in das theatrale Geschehen oder eröffnet eine andere fiktive Ebene. Die Aufführung ist somit zweifach gerahmt: durch den Spielrahmen ›Theater‹ sowie durch einen weiteren Rahmen, der innerhalb des ersten ein anders organisiertes Spiel konstituiert. Der Unterschied zwischen diesen beiden Rahmen, das heißt zwischen dem aufgeführten Spiel und dem Theater als Spiel, lässt sich an der Gegenüberstel-
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lung von zwei verschiedenen Spielbegriffen im englischen Sprachgebrauch zeigen. Man unterscheidet dort zwischen game, einem Spiel das auf Regeln basiert, und play, mit dem unter anderem das Theaterstück gefasst wird. Beide sind vor allem durch die Funktion der Spielregeln für das Spiel differenziert, die einen Konflikt zwischen den Spielern um das Gewinnen konstituieren. Jedes Spiel ist durch Regeln definiert, die Handlungsmöglichkeiten vorgeben. Die Regeln sind für die Mitspieler verpflichtend. Sie definieren, wer Spieler ist und wer nicht, was dem Spieler erlaubt ist, sowie das Ziel des Spiels. Beim Spiel ›Theater‹ gehören zu solchen Regeln die Festlegung auf die Rollen von Zuschauer und Darsteller sowie deren Handlungsmuster: Schauen und Zeigen. Innerhalb dieses Rahmens von Spiel und Regeln ist der Ablauf des Spiels frei und somit nicht vorgeplant. Beim Theaterspiel, wie es eine Drameninszenierung zeigt, existiert dieser Freiraum ebenfalls. Auch das Drama gibt eine Reihe von Spielregeln vor (Anzahl der Spieler, Text, Ort, Zeit). Im Spiel mit diesen Vorgaben eröffnet sich der Freiraum der Interpretation. Der Schauspieler spielt eine Rolle, er entwirft eine Figur und bringt seinen Entwurf zur Aufführung. Dabei richtet er sich einerseits nach bestimmten Regeln und entwickelt andererseits Strategien, um sein Spiel zu strukturieren. Diese Arbeit wird im traditionellen Theater hauptsächlich in den Proben geleistet. Die Aufführung ist letztlich meist eine Wiederholung des Proben-Spiels. Die Inszenierung eines Dramas zielt darauf ab, eine Spielart des Textes zu zeigen, die vor der Aufführung festgelegt worden ist. Die Aufführung wird zum Vor-Spiel des Spielens8. Dagegen stellt die Inszenierung von Forced Entertainment den Freiraum des Spiels explizit aus. Hierfür nutzt sie dessen paradoxe Struktur, die einerseits dem Spieler ein spezifisches Regelsystem vorgibt, andererseits aber auch neue Mög-
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Auch die Aufführung ermöglicht spielerische Freiräume, doch zielt die Arbeit an der Inszenierung meist auf eine ›idealtypische‹ Inszenierung, die möglichst genau Abend für Abend wiederholt werden soll. Dies geschieht mit dem Ziel, eine gleichbleibende Qualität der Darstellung zu erreichen. So stellt der Theaterwissenschaftler Klaus Schwind fest: »Dennoch spielte der Schauspieler im Sinne einer derartigen spieltheoretischen Perspektive tatsächlich paradoxerweise nur so lange, bis er in der Aufführung spielen muß, insoweit nämlich in diesem Sinne eigentlich nur während des Inszenierungs- und Probenprozesses; aber selbst dann, wenn er bloß ›schau-spielerte‹, also so spielte, ›als ob‹ er spielte, spielt er immer noch, daß er spielt – schließlich ist er doch Schau-Spieler, in dessen Spiel mit dem Phänomen des Spielens dieses durch weitere Bedeutungsebenen potenziert wird. Vielleicht ist es eben eine Besonderheit des Theater-Spiels, daß dort mit dem Spiel selbst gespielt wird?« (Schwind 1997: 433).
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lichkeiten von Aktionen eröffnet. Denn die Spielregeln bestimmen nicht den Verlauf des Abends. Was gezeigt wird, ist keine Abbildung, sondern ein Negativabdruck der Spielregeln: »[S]ie bestimmen nicht, was geschehen darf, sondern nur was nicht geschehen darf« (Buytendijk 1933: 119). Einerseits ist das Handeln innerhalb eines Spiels also im höchsten Maße kontrolliert, andererseits bietet es die Möglichkeit zu größter Variabilität. Die Spielregeln determinieren nur, was nicht getan werden darf, aber sie können nicht alle Variationen dessen, was getan werden kann, bestimmen. Zum erfolgreichen Spielen gehört es damit meist auch, die Grenzen der Spielregeln auszutesten. Die besondere Flexibilität des Spiels liegt somit darin, dass es innerhalb gesetzter und für den Zuschauer erkennbarer Regeln frei gestaltbar ist. Eröffnet wird ein eigenes Versuchsfeld für die Darsteller. Wenn also das dramatische Verfahren des ›Spiels im Spiel‹ mit dem Wechselverhältnis verschiedener Fiktionalitätsebenen spielt, geht es hier darum, dass die Spielregeln reale Effekte auf die Darstellung zeitigen. Damit verändert sich auch die Darstellungsanforderung. Die Performer müssen im Moment reagieren und können sich nicht auf geprobte Abläufe verlassen. Sie müssen ihr Spiel entlang der Spielregeln in der Gegenwart der Aufführungssituation entwerfen. Wie ein Fußballspiel kann eine solche Darstellung zwar trainiert, aber nicht geprobt werden. Jede einzelne Aufführung wird zu einem neuen Spiel, dessen Verlauf nicht vorher bestimmt ist. Anders als bei einer freien Improvisation bleibt für den Zuschauer immer ersichtlich, wann die Darsteller Entscheidungen treffen können. Gleichzeitig wird der Darstellung durch die offen gelegten Regeln ein konkretes Ziel zugeschrieben, an dem sie gemessen werden kann. Dies lässt sich an der Differenzierung des Spielbegriffs von Roger Caillois verdeutlichen, der mimikry von agon (Wettkampf) und alea (Zufall) abgrenzt9. Ist traditionelles Rollenspiel in der Nähe zur mimikry anzusiedeln, so ist in den beschriebenen Selbst-Inszenierungen eine Verschiebung hin zum agon zu beobachten. Jedes agonale Spiel enthält einen Konflikt zwischen mindestens zwei Spielern, dessen Lösung durch Anwendung von Strategien und den Einsatz von Fertigkeiten zu Ungunsten des Mitspielers angestrebt wird. Die beschriebene Inszenierung von Forced Entertainment offenbart eine besondere agonale Struktur: Die Möglichkeit des Unterbrechens wie auch des Unterbrochen-Werdens und das Nebeneinander der Darsteller auf der Bühne eröffnen ein spezifisches Konfliktpotenzial. Die Erzähler versuchen, sich zu übertrumpfen oder die anderen
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Roger Caillois unterscheidet in seiner Systematik von Spielen vier Grundkategorien: agon (Wettkampf), alea (Zufall), mimikry (Nachahmnung), ilinx (Rausch) (1982: 36-45).
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zum Scheitern ihrer Erzählung zu bringen. Die so auf der Bühne entstehenden Konflikte gründen nicht in einer vorher festgelegten Figurenkonstellation, sondern resultieren aus der Spielstruktur, auf der die Aufführung basiert. Gleichzeitig markiert aber der Rahmen ›Theater‹ auch den Unterschied dieser Spielstrukturen im Theater zu anderen agonalen Spielstrukturen, beispielsweise von Sportwettkämpfen oder von Gesellschaftsspielen. Weil sich das Spielfeld auf einer Bühne befindet, wird das Spiel in besonderer Weise ausgestellt, gibt der Rahmen ›Theater‹ für den Zuschauer einen bestimmten Rezeptionsmodus vor. Eröffnet das Spiel also einen Freiraum für die Improvisation, so bleibt dieser doch immer durch den Rahmen der Bühne vermittelt. Gespielt wird mit Erzählfragmenten. In der Art, wie die Performer sich als Erzähler präsentieren, scheint ihre Körperlichkeit keine große Bedeutung zu haben. Statisch sitzen sie auf ihren Stühlen. Wenn sich jemand bewegt oder der Körper hervortritt, wirkt dies eher unabsichtlich. Die Performer rutschen beim Zuhören hin und her, sie unterstreichen ihre Rede mit Gesten, ziehen ihren Umhang zurecht oder gehen leise nach hinten an den Pausentisch. Diese Bewegungen scheinen in keiner Weise gestaltet zu sein. Der Körper ist vor allem ein Körper, der zum Erzählen gebraucht wird. Allerdings werden die Körper dennoch in besonderer Weise ins Spiel geworfen und zwar durch eine Strategie der Überforderung, die aufgrund der Länge der Aufführung entsteht. Im Verlauf der sechs Stunden wird immer deutlicher, dass die Performer eine bestimmte Kontrolliertheit nicht mehr aufrecht erhalten können. Die Aufführung über einen so langen Zeitraum unterläuft den Anspruch an eine konzentrierte und durchgeplante Darstellung. Diese Überforderungsmomente erzeugen Druck auf die Darsteller, indem diese in konkrete Entscheidungs- und Handlungssituationen gebracht werden. Die schiere Dauer, gepaart mit dem Zwang, in der Bühnensituation Entscheidungen treffen zu müssen, zielt geradezu darauf ab, die Strategien der Performer zum Scheitern zu bringen. Die Anforderungen der Situation laufen der Darstellungsaufgabe einer souveränen Bühnenperformance zuwider. Die Performer versprechen sich, beginnen zu stottern, müssen lachen, versuchen, sich das Lachen zu verkneifen oder wiederholen manche Sätze mehrmals. Trotz der klaren Form, die sich in der floskelhaften Einleitung und dem Gestus des Märchenerzählers zeigt, wirken die Geschichten zunehmend unfertig. Weitere Unsicherheiten entstehen durch das gegenseitige Unterbrechen. Die Erzählung ist gezeichnet von der angespannten Erwartung: »Wann werde ich unterbrochen?« Die ausgestellte Offenheit der Erzählsituation offenbart eine Schutzlosigkeit des Sprechenden, dem kein fertiger Text Halt bietet. Das Spiel installiert damit einen Schwebezustand zwischen der realen Situation des Schei-
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terns und dem bewussten Präsentieren des Spiels, lesbar als Kippfigur zwischen realem Spielen und theatralem Zeigen. Dabei bleibt aber immer deutlich, dass die vermeintlich spontane körperliche Reaktion – das Stottern, Lachen, Räuspern – Resultat eines bewusst konstruierten Regelsystems ist. Das, was am Körper vermeintlich authentisch erscheint, wird als Effekt des Spiels kenntlich gemacht. Vor allem der Status der Performer auf der Bühne ändert sich hier. Durch die Spielstruktur und in der Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Spielregeln konstituieren sich die Darsteller in besonderer Weise als Spieler. Sie müssen Entscheidungen treffen und ihre Selbst-Darstellung innerhalb des Regelsystems ›Spiel‹ organisieren. Dieser veränderte Status lässt sich mit der Doppelung von Spieler und Spielfigur beschreiben. Bei einem Brettspiel bekommt ein Spieler eine oder mehrere Spielfiguren zugeteilt, die sich an seiner Stelle über das Spielfeld bewegen. Die Spielfigur repräsentiert den Spieler. Diese Spielfiguren haben keine Eigenschaften außer den Funktionen, die ihnen durch die Regeln zugeschrieben sind. Erst durch den Verlauf des Spiels, die strategischen Entscheidungen des Spielers, den Zufall und die Interaktion mit anderen Spielfiguren bekommt die Spielfigur für das jeweilige Spiel eine eigene Geschichte – eine Art ›Spiel-Biografie‹. Die Spielfigur wird vom Spieler gespielt, ist aber gleichzeitig den Spielregeln und dem Zufall ausgesetzt. Ähnliches geschieht bei Forced Entertainment: Über den Abend erwächst aus den Erzählfragmenten das (vermeintliche) Wissen des Publikums über den Darsteller. Immer wieder scheint eine persönliche Geschichte aufzublitzen, die jedoch vom offen ausgestellten Rollenspiel oder vom Positionswechsel unterbrochen wird. Die Spiel-Biografie setzt sich aus den verschiedenen Erzählfragmenten und dem Wechsel der Perspektiven und Positionen zusammen, die nicht in eine einheitliche Bühnenfigur überführt werden können. Zur Aufführung kommt das Konstruieren und Konstituieren einer Bühnenfigur, deren Scheitern immer schon Teil der Inszenierung ist. Ausgestellt wird, wie Identität über körperliche Prozesse hergestellt wird. Damit wird auch die vermeintliche Authentizität des Körpers hinterfragt.
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Während die Performances von Forced Entertainment vor allem die Konstitution des Performers in den Mittelpunkt stellen, finden sich in jüngerer Zeit verstärkt Inszenierungen, die den Theaterraum selbst zum Spielfeld machen. Während durational performances wie die eben beschriebene Inszenierung vor allem über
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ihre Dauer und damit die Zeitlichkeit den Zwischenraum des Spiels herstellen, verschiebt sich in Projekten, welche die Aufführung als Spielraum nutzen, die Perspektive auf den Raum des Theaters. Ein Beispiel ist das Projekt The Host des Choreographen Andros Zins-Browne in Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Stefan Demming10. Die Zuschauer sitzen an vier Seiten des Raums um eine graue Folie herum. Über ihnen hängen Schweinwerfer, die an einfachen Stangen befestigt sind. Die Aufführung beginnt mit dem Lärm eines Gebläses, das sichtbar im Raum steht. Es folgt der Auftritt von drei Männern in Cowboy-Kostümen. Nach und nach wird deutlich, dass Luft in die graue Plane gepumpt wird, die sich an einzelnen Stellen zu heben beginnt. Die Männer laufen über das Viereck und bringen die allmählich entstehenden Luftberge durch Tritte in Form. Sie stolpern manchmal, teils haben sie Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, aber sie scheinen den sich bewegenden Boden unter Kontrolle zu haben.
Abbildung 1: Andros Zins-Browne: The Host (2010)
Die Plane wird wegzogen, und darunter kommen verschieden große einzelne Luftkissen zum Vorschein. Die Männer beginnen, die Luft aus den Kissen zu lassen. Die Anstrengung ist ihnen anzusehen; sie schwitzen, während sie sich mühsam über die Luftberge bewegen und die Kissen falten. Die Fläche leert sich, und die Männer beginnen zu tanzen: die einfachen Schrittfolgen eines linedance11. Doch schon bewegt sich der Boden unmerklich wieder. Luft strömt in
10 Andros Zins-Browne, The Host, Buda Kortrijk (2010). 11 Ein linedance ist eine Tanzform, bei der die Tänzer in Reihen vor- und nebeneinander choreographierte Schrittfolgen, meist zu Country-Musik, tanzen.
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ein weiteres großes Kissen unter ihren Füßen, immer schwieriger wird es, das Gleichgewicht zu halten, die Schritte weiter beizubehalten. Zugleich verdoppeln die ›Cowboys‹ ihr Tempo. Auch das Kissen kommt stärker in Bewegung, schaukelt hin und her. Die Männer rutschen herunter, versuchen sich wieder aufzurichten, klettern hinauf, nur um wieder hinunter zu rutschen. Musik beginnt. Sie versuchen, den Takt zu halten. Der gesamte Theaterraum scheint in Bewegung zu geraten: Die Scheinwerfer wackeln über den Zuschauern und den Performern, während Letztere immer erschöpfter gegen das immer größer werdende Luftkissen ankämpfen. Installiert wird hier in die Theatersituation eine eigene Maschinerie, mit der die Performer spielen, die aber zugleich mit ihnen spielt. Der räumliche Eintritt in das Spielsystem wird wiederum zusätzlich durch das Ausführen bestimmter Handlungen markiert. Der aufgerufene Kontext ›Cowboy‹ bildet dabei das Andere des Spiels: eine Sphäre der Arbeit (und zugleich von Männlichkeit). Über die Kostüme wird auf sie verwiesen – ohne dass sich damit auch der Sinn der Handlungen erklären würde. Die Luft wird verteilt, Kissen werden geordnet und gefaltet, und schließlich wird getanzt. Zu welchem Zweck dies alles geschieht, bleibt offen. Die Arbeitsbewegungen, die vor dem Publikum aus- und aufgeführt werden, werden in ihrer Sinnlosigkeit ausgestellt. Die Performer bleiben bei der Haltung von Cowboys: Sie machen und zeigen nichts als ihre Arbeit an und mit den Kissen. Wie beim Rodeo der Bulle oder das noch nicht zugerittene Pferd nicht-kontrollierbare Elemente bilden, werden die Luftmassen zur unkontrollierbaren Herausforderung für die Tänzer. Die Kissen, die Luftzufuhr wie auch der Raum in Bewegung haben reale Effekte auf ihre Bewegungen. Nicht die Darsteller beherrschen das Spiel, sie werden vielmehr zu Spielbällen des maschinellen Aufbaus. Das Austesten der Grenzen ihrer Darstellungsmöglichkeiten im Kontrollverlust zeigt hier von vornherein die Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten der Darsteller. Gezeigt wird aber vor allem das Bedrohliche des Spiels, das zur Herausforderung wird und zugleich das Scheitern einer (gekonnten) Darstellung erzwingt. Letzteres wird offen zur Schau gestellt und damit auch die Überforderung, sich in einer sich bewegenden Umwelt zu behaupten. Nur scheinbar kontrollieren die Performer den (Theater-)Apparat. Letztlich sind sie ihm ausgeliefert. Wer hier die Kontrolle hat, wer Bewegungen initiiert und ausführt, steht in Frage; um den Preis einer souveränen tänzerischen Darstellung werden die Körper in ein Spiel geworfen.
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Ganz ähnlichen Strategien der Überforderung und Verausgabung folgt die Inszenierung Spaar Ze des niederländischen Kollektivs Schwalbe12. Hier tanzen die Performer zu einem harten und monotonen Techno-Beat eine Stunde lang ohne Pause bis zur völligen Erschöpfung. Das Publikum wird Zeuge eines physischen Marathons, bei dem sich die zu Beginn kraftvollen Körper zunehmend ausgezehrt präsentieren – jenseits der Kontrolle der Tänzer. Der Anblick des Kollektivs der tanzenden Körper macht deutlich, wie körperliche Energie aufgebracht und verbraucht wird. In beiden Fällen – in The Host wie in Spaar Ze – wird ein Moment von körperlicher Verausgabung inszeniert, in dem nicht der individuelle Performer und dessen Darstellungsstrategie im Mittelpunkt stehen, sondern das Theater als Maschinerie gezeigt wird, deren Regeln sich ein Kollektiv von Darstellern unterwirft. Wenn es bei Forced Entertainment um das Umschlagen von theatralem Zeigen und realer Spielsituation als Kippfigur ging, wird hier durch die Dauer, die Anforderung oder die Maschine jede Form eines theatralen Spiels des ›als ob‹ unterlaufen. Was aufgeführt wird, sind reale Effekte körperlicher Erschöpfung. Wieder ist auch eine Ähnlichkeit zu den oben beschriebenen Spielen erkennbar: Es wird ein Regelsystem etabliert, das für den Zuschauer sichtbar ist. Die Aufgaben für die Performer – sich auf dem Luftkissen zu behaupten, eine Stunde lang zu tanzen – setzen einen Rahmen, in dem der Einzelne die Freiheit hat, selbst zu bestimmen, wie er sie löst und in dem er zugleich in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt ist. Um das Spezifische der beschriebenen Performances zu fassen, möchte ich noch einmal auf die Differenzierung verschiedener Spielformen durch Roger Caillois zurückkommen. Neben mimikry, agon und alea, stellt er den Rausch oder Schwindel, ilinx. Diese ›Spielart des Spielens‹ leitet er unter anderem aus seiner Beobachtung von Fahrgeschäften auf dem Jahrmarkt ab, die Schwindel erzeugen: »Man spielt, um durch eine rapide Rotations- oder Fallbewegung in sich selbst einen organischen Zustand der Verwirrung und des Außersichseins hervorzurufen« (Caillois 1982: 19). Caillois führt damit in seiner Spieltheorie ein physisches Moment ein und verweist auf das körperliche Erleben. So unterscheidet er zwischen verschiedenen Bewegungsarten, die dieses Spiel ausmachen: »Sturz oder Schweben im Raum, rapide Rotation, Gleiten, Geschwindigkeit« (ebd.: 33). Es geht um den »Zustand, in welchen der Körper versetzt wird« (ebd.). In diesem Sinne liegt in dieser Kategorie von Spielen der Fokus darauf,
12 Spaar Ze war 2008 die Abschlussarbeit von Studierenden an der Amsterdam School of Arts. Sie arbeiteten unter der Leitung der Regisseurin Lotte van den Berg unter dem Namen »Schwalbe« zusammen.
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»für einen Augenblick die Stabilität der Wahrnehmung zu stören und dem klaren Bewusstsein eine Art wollüstiger Panik einzuflößen. Es geht hier stets darum, sich in einen tranceartigen Betäubungszustand zu versetzen, der mit kühner Überlegenheit die Wirklichkeit verleugnet« (ebd.: 32). Dieser Ausnahmezustand zielt damit nicht auf eine produktive Dimension des Spielens, sondern fragt nach den aggressiven und destruktiven Elementen des Spiels: »Das Wesentliche beruht hier auf dem Begehren nach diesem spezifischen Schock, der momenthaften Panik, die der Terminus Rausch bezeichnet, und in den unbezweifelbaren Wesenszügen des Spiels, die hier vereint sind: Freiheit, sich der Prüfung zu unterziehen oder sie zu verweigern, strenge und verrückbare Grenzen, Abtrennung von der übrigen Realität.« (Ebd.: 36)
Auch The Host spielt mit einem solchen Moment der Panik. Schwindel und Rausch werden nicht auf emphatische Weise zelebriert. Es geht nicht um ein Moment der Transzendenz im Rausch, sondern um einen Kontrollverlust, der den Verlust der Stabilität als Resultat des Spiels und seiner Konstruktionen herausstellt. Die Performer werfen ihre Körper in ein Spiel, das sie selbst nicht mehr beherrschen, und verweisen mit ihrem inszenierten Eintritt in jenes Unkontrollierbare doch auf die Freiheit ihrer Entscheidung. Die Maschinerie inszeniert eine Situation des Außersichseins, die das Subjekt des Darstellers selbst aufs Spiel setzt. Dies geschieht um den Preis einer Kontrollierbarkeit der Darstellung. Mit dem Spiel kommt die Willkür der Bewegung auf die Bühne. In die Offenheit des Spiels ist hier immer zugleich das Risiko seines Scheiterns eingeschrieben. Verabschiedet wird damit das Konzept eines Darstellersubjekts, das souverän über die Bühne gebietet. Zum Auftritt kommen Körper, die ausgeliefert sind. Ins Auge stechen dabei die Unerbittlichkeit, aber auch die Maßlosigkeit, die das Spiel von den Performern fordert. Die Körper werden nicht gebraucht, sondern missbraucht und dabei auch verbraucht. Damit geht es auch um eine neue Verteilung der kulturellen Werte von Spiel und Ernst. So beschreibt Caillois, sicher auch in Anlehnung an seinen Freund Bataille, Spiele als eine unproduktive Betätigung (vgl. Bataille 1985). Der Körper unterliegt hier einer Ökonomie der Verausgabung, die an und mit seinen Grenzen arbeitet. Dies jedoch nicht, um im Sinne eines emphatischen Körperbegriffs ein Moment der Innerlichkeit oder Ekstase hervorzubringen und damit das Konzept eines vermeintlich authentischen Körpers zu beschwören. Im Gegenteil: Das Sich-Selbst-ins-Spiel-werfen lässt sich als ein bewusst gesetzter Kontrollverlust lesen. Im Missbrauch und Verbrauch der Körper als einer sinnlosen Gabe der Verausgabung hinterfragen diese Spiel-Inszenierungen damit die Ökonomien, die unseren Vorstellungen von Körpern allzu oft zu Grunde liegen.
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L ITERATUR Bataille, Georges, Die Aufhebung der Ökonomie, München: Matthes & Seitz 1985. Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes, Wesen und Sinn des Spiels, Berlin: Kurt Wolff 1933. Caillois, Roger, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Frankfurt a.M.: Ullstein 1982. Huizinger, Johan, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1991. Matzke, Annemarie, Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Selbst-Inszenierung im gegenwärtigen Theater, Hildesheim/New York/Zürich: Olms 2005. Mead, George Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Rosenthal, Stephanie (Hg.), Move. Choreographing You. Art and Dance Since the 1960s, London/Köln: Walther König 2010. Pfister, Manfred, Das Drama. Theorie und Analyse, München: UTB 1977. Schwind, Klaus, »Theater im Spiel-Spiel im Theater«, in: Weimarer Beiträge 43, 199 (1997), S. 419-443.
A BBILDUNGEN Abbildung 1: Andros Zins-Browne, The Host, © Raymond Mallentjer.
Funny Games – Ein Spiel ohne Grenzen N INA S CHIMMEL
Der Titel des Films, der Gegenstand dieses Aufsatzes sein wird, verspricht Funny Games (1997), also »lustige Spiele«. In Anbetracht des Genres ›Thriller‹, dem dieser Film üblicherweise zugeordnet wird, scheint vielleicht der Verdacht einer gewissen Deplaziertheit der Titulierung nicht unangebracht. Für gewöhnlich soll ein Thriller den Zuschauer Angst erleben lassen, da nicht in erster Linie die Aufklärung eines Verbrechens, sondern das Verbrechen selbst im Zentrum des Films steht. Um welche Art von Spielen, die auch noch lustig sind, kann es also gehen? Dieser Frage möchte ich hier auf den Grund gehen. Der Regisseur Michael Haneke drehte zwei Versionen seines Films: Die erste Fassung von 1997 entstand mit deutschsprachigen Schauspielern in Österreich, die zweite verlagerte Haneke zehn Jahre später in die USA, wo er sein Projekt mit amerikanischen Schauspielern noch einmal für ein englischsprachiges Publikum realisierte. Die Handlung hat er dabei bis auf die Veränderung des Schauplatzes und einiger kleiner Details unverändert beibehalten. Das Besondere an Funny Games ist, dass der Film durch die Überspitzung der klassischen Elemente eines Thrillers dem Zuschauer seine eigene Schaulust vor Augen führt und sich dabei selbst als Mittel der Manipulation entlarvt. Diese provokative ›Vorführung‹ des Zuschauers durch den Film provozierte kontroverse Diskussionen – sowohl bei Kinozuschauern als auch bei Kritikern. Ehe ich zu den Ergebnissen meiner Filmanalyse komme, möchte ich zunächst erläutern, was unter einem ›Spiel‹ zu verstehen ist, welche Spielformen es gibt und in welchem Verhältnis diese zum Komischen stehen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen werde ich anschließend auf Funny Games eingehen und versuchen, die Frage zu beantworten, was an und/oder in diesem Film als ›Spiel‹ bezeichnet werden kann. Dabei werde ich drei Ebenen berücksichtigen: die Kinoebene, die Filmebene und die Zuschauerebene.
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1. Z U F UNNY
UND
G AME
1.1 Game Nach Johan Huizinga ist das Spiel vor allem ein freies und freiwilliges Handeln, das im Grunde genommen überflüssig ist und jederzeit ausgesetzt werden kann. Das Spiel ist ›nicht so gemeint‹; es steht außerhalb des gewöhnlichen Lebens: »So wenigstens stellt sich uns das Spiel an sich und in erster Instanz betrachtet dar: als ein Intermezzo im täglichen Leben, als Betätigung in der Erholungszeit und zur Erholung« (Huizinga 1956: 16). Mittels seiner Spannungselemente, etwa der Ungewissheit und Chance, vermag das Spiel, den Spielenden in den Bann zu ziehen, wohl wissend, dass das, was er tut, eben ›nur ein Spiel‹ ist. Noch einmal Huizinga: »Die Ziele, denen es [das Spiel] dient, liegen selbst außerhalb des Bereichs des direkt materiellen Interesses oder der individuellen Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten« (ebd.). Jedes Spiel hat Spielregeln, die von allen Beteiligten akzeptiert und befolgt werden müssen. Es findet zudem stets innerhalb einer bestimmten räumlichzeitlichen Grenze statt und hat seinen Sinn in sich selbst. Seine wesentlichste Eigenschaft, so Huizinga, ist seine Wiederholbarkeit. Innerhalb seiner räumlichen Begrenzung, wie z.B. der Arena, des Tempels, der Bühne oder der Filmleinwand, herrscht die vom bzw. für das Spiel geschaffene Ordnung und bringt so eine zeitweilige, begrenzte Vollkommenheit in das sonst durch Verworrenheit gekennzeichnete Leben (vgl. ebd.: 17). 1.2 Funny Das Lachen und das Komische sind, mit Huizinga gesprochen, ebenso wie das Spiel dem »Nichternst« (ebd.: 50) zuzusprechen. Dennoch bilden beide keine festen Bestandteile des Spiels: »An sich ist Spiel nicht komisch, weder für den Spieler, noch für den Zuschauer« (ebd.: 13). Und weiter: »Wenn wir eine Posse und ein Lustspiel komisch finden, geschieht es nicht wegen der Spielhandlung selbst, sondern wegen des Gedankeninhalts« (ebd.). Obwohl die Ernsthaftigkeit also kein Charakteristikum des Spielens ist, so birgt doch eine Vielzahl von Spielen ein Potenzial von Ernsthaftigkeit in sich. Der sportliche Wettkampf beispielsweise wird ›im Ernst‹ betrieben und erfüllt zugleich alle Kennzeichen eines Spiels (vgl. ebd.: 53f.). Auch bei Roger Caillois bildet der Wettkampf oder Agon eine Kategorie des Spiels – neben Zufall, Maskierung und Rausch – bei der sich die Rivalen in einer spezifischen Disziplin messen (vgl. 1982: 19). Kinder, aber auch Fußballspieler, nehmen ihr Spiel sehr ernst (vgl. Huizinga 1956: 13). Dies
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gilt auch für diejenigen, die gar nicht selbst an einem Spiel teilnehmen, aber dafür aus der Beobachtung desselben eine ernste Angelegenheit machen: »Der Ausgang eines Spiels oder eines Wettkampfes wird nur für die wichtig, die sich als Mitspieler oder Zuschauer […] in die Sphäre des Spiels begeben und seine Regeln angenommen haben« (ebd.: 54). Für das Wort »funny« im Titel des hier analysierten Films ließe sich zuletzt auch noch eine weitere Bedeutungsebene finden, nämlich in dem Sinn wie eine der Hauptfiguren den Begriff gebraucht: als Bezeichnung für ein »komisches« (Funny Games: 00:17:40) – im Sinne eines »seltsamen« – Spiel, das sich nicht als Spiel zu erkennen gibt. 1.3 Funny Games Trotz der scheinbaren Gegensätzlichkeit zwischen dem kombinierten Begriffspaar »funny« und »game«, stellt sich der Titel Funny Games als treffende Pointierung heraus. Mit diesem Begriff werden in der Computerspiel-Terminologie alternativ auch Jump’n Run-Spiele bezeichnet, deren Hauptmerkmal die Geschicklichkeit ist. Sie zeichnen sich durch eine farbenfrohe Spielwelt aus, die auf der Tonebene von einer dazu passenden fröhlichen Musik unterstützt wird. Die Spieler sollen auf diese Weise »in eine entsprechende beschwingte Stimmung versetzt [werden]« (Eichner 2005: 480). Dabei ist die Spielfigur zumeist comicartig gestaltet. Der Spieler muss sie etwa durch Labyrinthe steuern oder sie hüpfen und springen lassen, um Aufgaben zu lösen und an das Ziel zu gelangen. Vor dem Hintergrund dieser allgemeineren Anmerkungen möchte ich mich nun im Detail der deutschsprachigen Fassung von Funny Games widmen.
2. D ER F ILM F UNNY G AMES Die Frage, die sich stellt, ist nun: Liegt in Hanekes Film nach Huizingas Definition überhaupt ein Spiel vor – so wie der Titel es zu versprechen scheint? Um eine Antwort geben zu können, ist es notwendig, die verschiedenen Ebenen (Kino-, Film- und Zuschauerebene) zunächst einzeln näher zu beleuchten. 2.1 Die Kinoebene Wenn man die oben genannten Grundprinzipien eines Spiels mit denen des Kinofilms vergleicht, so lässt sich zunächst festhalten, dass dieser zahlreiche Merkmale eines Spiels aufweist: Die Vorführung eines Kinofilms findet immer
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zu einer bestimmten Zeit und innerhalb einer bestimmten, in Bezug auf Dauer und Raum, begrenzten Situation statt. Die Zuschauer lassen sich als (passive) ›Mitspieler‹ auf die Regeln des Films bzw. die Bedingungen der Kinosituation ein: Sie akzeptieren etwa, dass es für dessen Dauer dunkel ist, dass nicht gesprochen werden darf und dass sie auf der Leinwand ein – zumeist – fiktionales Geschehen verfolgen. Während des Films weiß der Zuschauer, dass es sich ›nur um einen Film‹ handelt, und trotz dieser Gewissheit vermag das Mitverfolgen des fiktiven Geschehens Affekte wie Freude oder Angst bei ihm zu erzeugen. Auch bei einem Spiel wissen wir wie schon mit Huizinga beschrieben, dass es ›nur ein Spiel‹ ist, und dennoch lassen sich gewisse Emotionen, wie z.B. Wut, Freude oder Trauer nicht vermeiden. Darin erkennt auch Kendall Walton einen Zusammenhang zwischen einem Spiel und dem Rezipieren eines Films, den er als ein »game of make-believe« (1976: 10) bezeichnet. Wie das Spiel sticht der Film aus dem wirklichen Leben heraus, als ein Freizeitvergnügen. Der Zuschauer (im Sinne eines ›Mitspielenden‹) kann sich der Kinosituation (als Spiel) immer wieder aussetzen oder aber – sollte es ihm nicht gefallen – den Kinosaal verlassen. Damit würde er gemäß dieser Logik die Spielsituation beenden. Wenn man sagen kann, dass es sich beim Film und/oder bei einer Filmsituation um ein Spiel handelt, dann muss man – mit Huizinga gesprochen – feststellen, dass der Regisseur von Funny Games, Michael Haneke, gewissermaßen ein Falschspieler oder auch ein Spielverderber ist, und das gleich auf mehreren Ebenen. Sein Film scheint zunächst im Einklang mit den Motiven und den Regeln eines klassischen Thrillers zu stehen: Eine glückliche Kleinfamilie (Vater Georg, Mutter Anna, Sohn Schorschi und Hund Rolfie) fährt mit ihrem Boot zum Haus am See. Diese Idylle und Ruhe wird durch zwei Eindringlinge1 ge- bzw. zerstört, indem sie erst höflich, dann mit Gewalt in das Haus eindringen. Es scheint allerdings, als würde der Film Funny Games die Regeln eines klassischen Thrillers nur deswegen einhalten, um mit ihnen brechen zu können. Gebrochen wird nämlich nicht nur mit den für einen Thriller typischen Regeln, sondern auch mit dem erwarteten Handlungsverlauf. Der erste ›Regelbruch‹ findet nach 28 Minuten
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Wie Stefan Höltgen richtig bemerkt, sind die beiden Männer im Grunde namenlos. Obwohl Haneke sie »Peter« und »Paul« nennt, wird schnell deutlich, dass diese Namen zu der von ihnen errichteten Fassade gehören und beliebig austauschbar sind. So rufen sie sich später »Beavis« und »Butthead« oder auch »Tom« und »Jerry«. Analog dazu sind auch die von ihnen hervorgebrachten Gründe für ihre Taten stereotyper Natur (Drogensucht, Scheidungskind, gelangweilter Jugendlicher), von denen wahrscheinlich kein einziger zutrifft (vgl. Höltgen 2010: 309).
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statt: Paul zwinkert dem Zuschauer ein erstes Mal zu. Dann spricht er ihn auch noch direkt an, wodurch die Spielsituation als eine solche entlarvt und die Fiktionalität des Films offengelegt wird2. Im Vorfeld hatte Haneke zunächst so getan, als würde er der Erwartung einer geschlossenen Fiktion im Spielfilms entsprechen – ganz gemäß Huizingas Charakterisierung eines Spielverderbers: »Der Spieler, der sich den Regeln widersetzt oder sich ihnen entzieht, ist Spielverderber. Der Spielverderber ist ganz etwas anderes als der Falschspieler. Dieser stellt sich so, als spielte er das Spiel und erkennt dem Scheine nach den Zauberkreis des Spiels immer noch an. Ihm vergibt die Spielgemeinschaft seine Sünde leichter als dem Spielverderber, denn dieser zertrümmert ihre Welt selbst.« (Huizinga 1956: 18f.)
Haneke wäre demnach ein Spielverderber, der für 28 Minuten die Rolle des Falschspielers einnimmt. Die ›Spielregel‹, dass die Zuschauer in der Dunkelheit des Kinosaals verborgene Beobachter sind, wird von der Figur Paul als eine eben solche entlarvt, indem er die vierte Wand der Leinwand durchbricht. Er macht darauf aufmerksam, dass der Zuschauer gerade einen Film sieht, und dass er dabei von der Leinwand aus beobachtet wird. Damit verdirbt er ihm das schlichte Genießen der ungebrochenen Fiktion. Denn, dies macht Christian Metz in Der imaginäre Signifikant deutlich: Die Lust am Kinoerlebnis entsteht normalerweise gerade durch die Gewissheit der Unsichtbarkeit – dadurch, dass der Beobachtende im Dunkel des Kinoraums verborgen bleibt (vgl. Metz 2000: 77). Im und durch die Medialität des Filmischen wird in Funny Games somit das Verhältnis zwischen ›Sehen und Gesehen Werden‹, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Verbergen und dem Zeigen thematisiert, oder, wenn man so will: Es wird die intentionale Struktur des filmischen Narrativs offengelegt. Haneke erleuchtet, metaphorisch gesagt, den Kinoraum; er macht im Gegensatz zu den klassischen Filmen die Kulisse und mit ihr denjenigen sichtbar, der schaut. Indem die Darsteller nicht nur den Zuschauer als Zuschauenden entlarven, sondern auch noch auf die Situation aufmerksam machen, dass es sich um einen Spielfilm handelt, verändert sich der Blickwinkel. Problematisiert wird das Verhältnis zwischen Zuschauer und Film. Anders ausgedrückt: Haneke versucht das Blickregime3, wel-
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Gleichzeitig, das zeigt Alexander Darius Ornella, stellt sich bei den Zuschauern eine
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Zum Thema Blickregime vgl. Lacan (1978). Eine Zusammenführung von Blickregime
Art des »Mitgefangen-Seins« ein (vgl. 2008: 220). und Film wird von dessen Schüler Slavoj Žižek (2001) vorgenommen. Damit macht Žižek Lacans Theorien sowohl für die Populärkultur als auch für die Filmtheorie
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ches das Blickfeld von einer verborgenen Stelle aus lenkt, in den Vorstellungsbereich des Rezipienten zu rücken, da es »in die Sichtbarkeit höchstens als Phantasma ein[treten kann]« (Elsaesser/Hagener 2011: 130). Noch ein ungeschriebenes Gesetz wird in Funny Games gebrochen: das Töten eines Kindes. Dieses scheint üblicherweise im Film nur dann ethisch annehmbar zu sein, wenn sich Kinder bereits in Vampire oder Zombies verwandelt haben und sich somit außerhalb der Gruppe besonders unschuldiger und schützenswerter menschlicher Wesen befinden, zu der sie normalerweise gehören (vgl. dazu Schimmel 2013). Alfred Hitchcock beging einen solchen Regelbruch in Sabotage (1936). Als er in diesem Film einen Jungen sterben ließ, der ein Paket mit einer Bombe darin transportierte, war das Entsetzen des Publikums so groß, dass Hitchcock dies später in seinem berühmten Interview mit François Truffaut bereute (vgl. Truffaut 1960: 118). Michael Haneke nun lässt Paul den Sohn Schorschi vor den Augen seiner Eltern töten. Die Art und Weise, wie dies inszeniert ist, macht genau auf den Aspekt aufmerksam, dass es sich um eine Zäsur handelt: Die Ermordung des Jungen findet außerhalb des Filmbildes statt. Aufgrund der Trennung von Bild- und Tonebene sieht der Zuschauer eine unwichtige Nebenhandlung, während er die Tötung des Jungen nur hört. Karl Ossenagg schreibt dazu: »Haneke hat das eigentliche Geschehen auf die Tonspur verlagert, in der Erkenntnis, dass das Ohr, im Gegensatz zum Auge, ereignishaft strukturiert ist, d.h. es provoziert das Betroffensein und Involviertsein in weit höherem Maße« (2008: 67). Gerade durch das Aussparen der Bilder wird zum einen ein Bruch in der Erwartungshaltung der Zuschauer erzeugt, durch welchen die Wirkung der Szene an Intensität gewinnt und zum anderen offenbart sie eine erschreckende Selbsterkenntnis: den Wunsch, den Gewaltakt zu sehen. Durch diese dem klassischen Hollywoodkino zuwider laufende Technik wird darauf aufmerksam gemacht, wie alltäglich die Erwartungen von Gewaltdarstellungen im Film geworden sind. Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass durch Hanekes Offenlegungen und Regelbrüche, die allesamt filmische Konventionen untergraben, die geregelte Welt des Spiels/Films zusammenbricht und ihre genuinen Eigenschaften verliert.
fruchtbar. Für einen Überblick über die filmtheoretische Verortung von Lacans Theoriemodellen vgl. Elsaesser/Hagener (2011), siehe auch zum aktuellen Stand der Forschung zum Blickregime Elia-Borer/Sieber/Tholen (2011).
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2.2 Die Filmebene Das Spiel, welches Peter und Paul mit der Familie spielen wollen, basiert auf einer Wette: »Wir wetten, dass ihr in 12 Stunden alle drei kaputt seid« (Paul in Funny Games: 00:40:09). Nach Huizinga ist eine Wette durchaus ein Spiel, jedoch nur, wenn die Regeln von beiden Seiten akzeptiert werden. Roger Caillois betont, dass es bei einer Wette notwendig ist, dass »die Menschen aufhören können, wann es ihnen gefällt, [sie] müssen sagen können: Ich spiele nicht mehr« (Caillois 1982: 12f.). Diese Entscheidungsfreiheit liegt bei der Wette von Peter und Paul nicht vor. Die Schobers werden dazu gezwungen, die Regeln anzuerkennen, die sie auch nicht verändern können (vgl. Schacht 2008: 267). Als die Familie sich weigert, dieses Spiel mitzuspielen, sagt Peter nur: »Die Wette läuft noch. Die kann man nicht einseitig aufkünden!« (Funny Games: 01:31:20). Nach Huizinga und Caillois gibt es somit überhaupt keine Spielsituation. Die Einzigen, welche die Regeln des Spiels festlegen und so manipulieren können, wie es ihnen passt, sind die beiden Eindringlinge. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass in der berühmten Rückspulsequenz nur Paul nach dem Zurückspulen des Erschießens von Peter sein Verhalten ändern und vor Anna zum Gewehr greifen kann4. Peter und Paul beherrschen die Lage; die Familienmitglieder sind bloße Figuren auf einem Spielbrett. So wird die eingangs erwähnte doppelte Bedeutung des Wortes funny wieder aufgenommen: Für die Familie Schober ist es ein ›seltsames‹ Spiel, da sie zum Spielen gezwungen wird und es sich somit für sie eher um ein ›Pseudo-Spiel‹ handelt. Für die beiden Männer hingegen ist das Spiel, durch ihre (All-)Machtposition bedingt, durchaus ein ›lustiges‹. Neben der Wette gibt es noch weitere Spiele, die Paul spielen möchte. Etwa Das Kätzchen im Sack, was in diesem Falle bedeutet, dass der kleine Schorschi einen Kissenbezug über den Kopf gestülpt bekommt, damit er nicht mit ansehen muss, wie seine Mutter gezwungen wird, sich auszuziehen (»zur Wahrung des moralischen Anstandes« (Funny Games: 00:45:00), wie Paul sagt). Gleichzeitig ist dieser ›Schutz‹ aber auch ein Instrument, um die Mutter dazu zu zwingen zu tun, was von ihr verlangt wird. An diesem ›Spiel‹ ist noch ein anderer Aspekt interessant: Die Redewendung »die Katze im Sack kaufen« bezeichnet normaler-
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Leland Monk hingegen schreibt in seinem Aufsatz Hollywood Endgames, es sei seltsam, dass die Mutter Anna nicht einfach nach der Fernbedienung greift und bis an den Anfang des Spiels zurückspult (vgl. 2010: 425). Dagegen bleibt einzuwenden, dass Peter und Paul die Regeln festgelegt haben, so dass sie diese auch nach ihrem Belieben verändern können. Anna hingegen ist nur eine Spielfigur, die nach diesen Regeln handeln muss.
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weise, dass man etwas kauft, ohne es vorher zur prüfen. In Funny Games wird das Sprichwort umgedreht, denn hier soll, um es metaphorisch auszudrücken, die Katze den Käufer nicht sehen und nicht umgekehrt. Die Abzählreime gehören ebenfalls zu den beliebten Spielen in diesem ›Spiel-Film‹ der besonderen Art: Es wird derjenige ausgezählt, der als nächstes sterben soll. Nach einem Fehler wird Paul von seinem Spielgefährten zur Einhaltung der Spielregeln ermahnt: Er solle nicht denjenigen töten, der ausgezählt wird, sondern denjenigen, der beim Auszählen übrig bleibt. Dies führt dazu, dass der Junge Schorschi zuerst sterben muss. Die beiden Männer verbinden somit die naivsten und kindlichsten Spiele, wie die Abzählreime, mit dem höchsten Ernst, dem Tod. Aber es werden nicht nur Kinderspiele instrumentalisiert und dekontextualisiert, sondern auch ›unschuldiges‹ Gerät wie das Golfequipment von Vater Georg wird zweckentfremdet: Der Golfschläger, mit dem Paul – wie er sagt – nur einmal einen Abschlag machen möchte, wird dazu verwendet, den Hund der Familie zu töten und kurze Zeit später das Bein des Vaters zu zertrümmern. Das sportliche Spielgerät wird zu einer Waffe und zu einem Repressionsinstrument umfunktioniert. Für gewöhnlich harmlose Spiele werden in Funny Games zum Medium der Umsetzung der psychopathischen Absichten und Neigungen der beiden Täter. Durch dieses Aufeinanderprallen der Gegensätze (vgl. Sterneborg 2011: 67) werden die Spiele ihrer Unschuld beraubt und verwandeln sich in blutigen Ernst. Gleichzeitig wird dabei aber das Spiel nicht nur zu etwas Ernstem, sondern auch der Ernst zu etwas Spielerischem, zu etwas Harmlosem stilisiert. 2.3 Die Zuschauerebene Der Zuschauer ist in Funny Games fast genauso machtlos wie die Schobers: So wie Peter und Paul mit der Familie spielen, spielt der Regisseur Haneke mit ihm, indem er mit bestehenden Regeln (eines Thrillers, eines Films) bricht und seine eigenen festlegt. Es entsteht also eine Situation des Spielzwangs auf beiden Ebenen, aus der allerdings der Zuschauer, anders als die Familie, die Möglichkeit hätte, zu entfliehen – was er allerdings so lange nicht tut wie er in der Kinosituation verbleibt. An sich besteht nämlich allein zwischen dem Zuschauer und den beiden Männern Peter und Paul eine Spielsituation, die man als ›wirklich‹ (d.h. gemäß der Definition Huizingas als harmlos) bezeichnen kann. ›Wirklich‹ ist die Spielsituation insofern, als der Zuschauer durch das Verweilen im Kinosaal die Regeln des Spiels akzeptiert, die von den Eindringlingen aufgestellt und der Familie aufgezwungen werden. Er erkennt somit das Spiel als ein solches an. Auf die
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Frage von Anna, warum sie denn nicht sofort umgebracht würden, antwortet Peter nur: »Sie dürfen den Unterhaltungswert nicht vergessen. Wir würden doch alle um unseren Spaß gebracht!« (Funny Games: 00:50:44). Durch die Verwendung der Worte »wir alle« wird deutlich, dass Peter nicht nur sich selbst und seinen Freund Paul meint, sondern dass er hier auch den Zuschauer in das Geschehen (und seine Aussage) mit einschließt. Es wird davon ausgegangen, dass der Zuschauer, der sich einen Thriller ansieht, nicht nur weiß, sondern auch erwartet, dass Gewalt gezeigt wird, daher – so Peters Aussage – können sie als die Täter nicht einfach damit aufhören. Dies würde schließlich zu einem vorzeitigen Ende des Spiels und der ›Unterhaltung‹ führen. Spätestens mit dem Satz »Wir wollen dem Publikum doch etwas bieten« (Funny Games: 01:29:36) wird explizit ausgesprochen, dass Peter und Paul dieses Spiel womöglich sogar nur für die Zuschauer spielen. Durch dieses Aufdecken der Zuschauerfunktion wird den zunächst und für gewöhnlich distanzierten Beobachtern ihre Rolle als Opfer und Mittäter bewusst gemacht. 2.4 Zusammenfassung Für Peter und Paul ist ihr Tun ein Spiel, denn: Sie bestimmen die Regeln, legen fest, wann, wo und wie lange das Spiel dauert. Nicht zuletzt können sie es bei beliebig vielen Leuten wiederholen. In der letzten Sequenz des Films fragt Paul bei Nachbarn der Familie Schober nach Eiern. Damit wiederholt sich die Szene, in welcher der erste Kontakt zwischen den Tätern und ihren Opfern in Funny Games zustande kam: Paul fragt bei Anna nach Eiern. Während Peter und Paul also ganz klar (und immer weiter) spielen, handelt es sich für ihre jeweiligen ›Spielpartner‹ nicht um ein Spiel, denn sie werden zur Einhaltung der Spielregeln gezwungen. Der Zuschauer zu guter Letzt akzeptiert, solange er sich weiterhin im Kinosaal befindet, die Regeln von Peter und Paul. Solange er zuschaut, wird gespielt und nur so lange ist es auch ein Spiel.
3. W ER
VERLIERT ?
Die Grenze zwischen Spiel und Ernst wird zu einem Spiel banalisiert, das am Ende von Funny Games noch einmal ganz explizit zum Thema wird, wenn nämlich die beiden Männer über den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion diskutieren. Paul verweist darauf, dass die Fiktion, die man in einem Film sieht, ebenso wirklich sei wie die Wirklichkeit, da man beide ja wahrnehmen könne. Er spricht hier, diesmal indirekt, erneut den Zuschauer an. Wenn man davon
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ausgeht, dass der Kinofilm eine Art von Spiel ist, wie ich eingangs gezeigt habe, so lässt sich folgern, dass für Paul kein Unterschied zwischen ›Spiel‹ und ›Wirklichkeit‹ bzw. ›Ernst‹ besteht. Durch diese Aussage schließt sich nun der Kreis zu den Geschicklichkeitsspielen, die Funny Games genannt werden. Für Paul ist alles ein Spiel, ein eben solches Computerspiel, bei dem man jede Sequenz, die man nicht erfolgreich gemeistert hat, einfach wiederholen kann – so wie bei der Rückspul-Sequenz im Film: »Für Paul ist die Realität längst verschwunden, sie kämpft höchstens noch ihre letzten Gefechte in Gestalt von Menschen, die an der Unterscheidung von Spiel und Leben, VideoGame und Alltag festhalten – aber die müssen im Auftrag einer perfekten Spielewelt beseitigt werden!« (Metelmann 2003: 141)
So laufen die beiden Männer wie programmiert durch ihre (Spiele-)Welt, optisch im Film hervorgehoben durch ihre weiße Bekleidung5, die sie durchaus comicartig erscheinen lässt. Der Zuschauer ist dabei derjenige, der nur scheinbar bestimmen kann, ob und wie lange er dem Spiel beiwohnen möchte. Er kann zwar den Kinosaal verlassen oder aber – zu Hause auf dem Sofa – den Film auf Video oder DVD zurückspulen bzw. ausschalten. Damit würde dann das ›Spiel‹ allerdings nicht zu Ende gespielt. Wenn der Zuschauer dagegen den Film bis zum Ende sieht, wird er nur dadurch belohnt, dass das letzte Filmbild einfriert und die roten Buchstaben »Funny Games« darüber eingeblendet werden (vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: Letzte Einstellung des Films Funny Games
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Die Bekleidung von Peter und Paul kann auch – und für diesen Hinweis danke ich Bettina Wodianka – als Zitat auf Stanley Kubricks A Clockwork Orange (1971) gelesen werden: Die ebenfalls weiße Kleidung von Alex und seinen Droogs fungiert dort als Maske, hinter der die wahren Absichten verborgen bleiben, und steht somit auch nur scheinbar für die Unschuld (vgl. dazu Sepp 2005: 245; Buovolo 2004).
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Dieser Effekt erinnert wiederum stark an das »Game Over« eines Computerspiels. Man könnte sich die Frage stellen, wer der Verlierer des Spiels ist. Meine Antwort darauf lautet: der Zuschauer. Ganz genau wie die Opfer im Film kann er nur verlieren – wenn er den Film ausschaltet oder wenn er ihn bis zum Ende sieht – in beiden Fällen verliert er. Weil, wie dem Opfer, auch dem Zuschauer selbst, nur die Illusion einer freien Entscheidung zur Verfügung gestellt wird.
L ITERATUR Buovolo, Marisa, »Masken der Gewalt. Die Sprache der Kleidung in A Clockwork Orange«, in: Kinematograph Nr. 19: Stanley Kubrick, Frankfurt a.M.: Deutsches Filmmuseum, 2004, S. 148-155. Caillois, Roger, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Frankfurt a.M.: Ullstein 1982. Eichner, Susanne, »Videospielanalyse«, in: Lothar Mikos/Claudia Wegener (Hg.), Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch, Konstanz: UVK 2005, S. 474-483. Elia-Borer, Nadja/Sieber, Samuel/Tholen, Georg Christoph (Hg.), Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, Bielefeld: transcript 2011. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte, Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2011. Huizinga, Johan, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg: Rowohlt 1956. Höltgen, Stefan, Schnittstellen. Serienmord im Film, Marburg: Schüren 2010. Lacan, Jacques, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten: Walter 1978. Metelmann, Jörg, Zur Kritik der Kino-Gewalt. Die Filme von Michael Haneke, München: Fink 2003. Metz, Christian, Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster: Nodus Publikationen 1992. Monk, Leland, »Hollywood Endgames«, in: Roy Grundmann (Hg.), A Companion to Michael Haneke, Chichester: Wiley-Blackwell 2010, S. 420-438. Ornella, Alexander Darius: »Das Spiel mit der Wirklichkeit. Gedanken zur medialen Konstruktion von Wirklichkeit anhand des Films FUNNY GAMES«, in: Christian Wessely/Gerhard Larcher/Franz Grabner (Hg.), Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Marburg: Schüren 2008, S. 213-221. Ossenagg, Karl, »Der wahre Horror liegt im Blick. Michael Hanekes Ästhetik der Gewalt«, in: Christian Wessely/Gerhard Larcher/Franz Grabner (Hg.),
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Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Marburg: Schüren 2008, S. 53-82. Schacht, Benjamin, »Rituale, Regeln und Paradoxien in Michael Hanekes Gesellschafts-Spielen«, in: Christian Wessely/Gerhard Larcher/Franz Grabner (Hg.), Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Marburg: Schüren 2008, S. 249-270. Schimmel, Nina, »Untote töten? Zombiekinder im Film«, in: Christian F. Hoffstadt (Hg.), Tod. Aspekte der Medizinphilosophie, Bochum: Projekt-Verlag 2013 (im Erscheinen). Seeßlen, Georg, Thriller. Kino der Angst, Marburg: Schüren 1995. Sepp, Hans Rainer, »Die Maskierung der Gewalt. Stanley Kubricks A Clockwork Orange«, in: Harun Maye/ders., Phänomenologie und Gewalt, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S. 244-262. Sterneborg, Anke, »Funny Games. Gewalt und Medien im Werk von Michael Haneke«, in: Thomas Koebner/Fabienne Liptay (Hg.), Film-Konzepte. Heft 21: Michael Haneke. München: edition text + kritik 2011, S. 65-75. Truffaut, François, Hitchcock, London: Panther 1960. Walton, Kendall, »Fearing Fictions«, in: The Journal of Philosophy 75, 1 (1978), S. 5-27. Žižek, Slavoj, Die Furcht vor echten Tränen. Krystof Kieslowski und die »Nahtstelle«, Berlin: Volk & Welt, 2001.
F ILME A Clockwork Orange (GB 1971, Regie: Stanley Kubrick). Funny Games (AT 1997, Regie: Michael Haneke). Sabotage (GB 1936, Regie: Alfred Hitchcock).
A BBILDUNGEN Abbildung 1: Filmstill aus dem Film Funny Games (1997).
Serialität als Intermedialität M ICHAELA W ÜNSCH [Television] worlds the world as an englobing, endless series of images. RICHARD DIENST
1. E INLEITUNG Fernsehen zeichnet sich vor allem durch Serialität aus, wenn man an einen Begriff des Seriellen anknüpft, der diesen als eine Wiederholung des Formats mit jeweils aktuellen Inhalten wie beispielsweise in Nachrichtensendungen begreift oder als fortgesetzte Narration wie in den seriellen Fernsehserien (im Unterschied zu Episodenserien). Unter seriell wird also die Wiederkehr des Rahmens mit der Differenz des jeweils Aktuellen betrachtet. Fernsehen ist aber nicht nur konstitutiv seriell, sondern ebenso intermedial. Obwohl viele Formate genuin für das Fernsehen produziert werden und das Fernsehen viele Jahre lang ausschließlich live für das Fernsehen produzierte Formate gesendet hat, wurden Theateraufführungen und in den USA ab den 1940er Jahren und in Deutschland ab den 1960er Jahren Kinofilme im Fernsehen gezeigt1. Dabei hat das Fernsehen die Filmtechnologie nicht adaptiert, dem es nach Williams visuell unterlegen bleibt (Williams 1974: 28f.), noch ist es angetreten, um es abzulösen. »On the contrary, a range of visual textures persists on television, cut looose from any regulating ideal« (Dienst 1994: 19). Fernsehen absorbiert und vermischt verschiedene kulturelle und mediale Formen und lässt sie unter seinem Gesetz zirkulieren: »Perhaps television can absorb only so much cinema before it reasserts its own for-
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Die ARD begann 1966 mit einer neu gegründeten Filmredaktion den Aufbau eines systematischen Spielfilmprogramms, zuvor wurden aber auch bereits Spielfilme in das Programm aufgenommen. Vgl. http://web.ard.de/ard-chronik/index/6748 (19.06.2013).
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mal laws« (ebd.: 93). Das Fernsehen inkorporiert kinematografische Dispositive, aber transformiert sie dabei. Zentral wird dabei der Aspekt der Zeit: »The question of cinema versus television crystallizes around the use of time« (ebd.). Dieser Text wird die Differenz zwischen Kino und Fernsehen und die Vermischung der medialen Grenzen am Beispiel von Mildred Pierce (2011) genauer untersuchen. Das Fernsehen ist nicht nur intermedial, weil es sich andere Medien einverleibt (hat), sondern weil die Grenzen des Fernsehens fließend sind, wie auch Tony Fry anmerkt: »The nature of the televisual’s materiality, immateriality, culture and economy is ever fluid. The medium is extreme evasive, it sweeps outside of its circuitiy and place creation and encounter« (1993a: 13). Auch wenn die Grenzen des Fernsehens schwer bestimmbar sind, so wird doch an dem Medienwechsel das Spezifische des jeweiligen Mediums deutlich. Zudem kann die transmediale Interreferenzialität des Fernsehens selbst als seriell gefasst werden, wenn man eine »serielle Ästhetik« als »Zitationsprozess« (Rösch 2008: 477) begreift, in dem Zeichen »keine stabile Entität« sind, sondern Ereignisse, die in immer anderen medialen und kulturellen Kontexten »Verformungsprozessen ausgeliefert« bleiben (ebd.). Serialität wäre in diesem Sinne relational, ein unabschließbarer Prozess der Transformation. Diese serielle Ästhetik beruht auch auf der Idee einer nichtidentischen, (nicht-)ursprünglichen Wiederholung, die im Folgenden als ein Kennzeichen intermedialer Serialität verdeutlicht werden soll.
2. Ä STHETIK
DER
W IEDERHOLUNG
2.1 Schockprinzip oder Zyklizität Wenn es um den Status der Wiederholung im Fernsehen in der Medientheorie geht, wird diese häufig entweder mit der Lebens- oder der Todesnähe, mit der vermeintlichen Unmittelbarkeit oder unvermeidbaren tödlichen Langeweile und Redundanz des Fernsehens in Verbindung gebracht. Dazu möchte ich zunächst zwei Positionen zitieren: »Was hier Berühmtheit erlangt ist eine Art Sieg des Lebens über die Kunst mit dem paradoxen Ergebnis, dass sich im Zeitalter der Elektronik – statt des Phänomens des Schocks, der Unterbrechung, der Neuigkeit […] – eine Wiederkehr des Zyklischen, des Periodischen, des Regelhaften abzeichnet.« (Eco 1989: 319)
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Demgegenüber schreibt Mary Ann Doane zur Zeitlichkeit des Fernsehens: »Das, was in die täglichen sozialen Rythmen des Alltagslebens nicht hineinpasst, ist vor allem der Tod. Auf einer gewissen Ebene handelt die Katastrophe immer vom Körper, von der Begegnung mit dem Tod. Bei aller Ideologie des ›Live‹-Charakters, des Lebendigen, dürfte es der Tod sein, der den Faszinationspunkt des Fernsehens bildet.« (2006: 116)
Obwohl beide AutorInnen auf das »Zeitalter der Elektronik« bzw. »Information« referieren, kommen sie zu gegensätzlichen Schlussfolgerungen: Für Eco zeichnet sich das Fernsehen gerade nicht durch Schocks und Unterbrechungen aus, mit denen sonst häufig das »elektronische Zeitalter« charakterisiert wird, sondern es besitzt aufgrund seiner ›Lebensnähe‹, Alltäglichkeit, unendlichen Variabilität und Iterabilität ästhetischen Wert. Damit unterscheidet sich Ecos Position auch von fernsehwissenschaftlichen wie denen von Hickethier oder Giesenfeld, die dem Fernsehen gerade aufgrund seiner Alltäglichkeit, seiner zirkulären Wiederholung diesen ästhetischen Wert abgesprochen haben. Obwohl Doane auch das Kontinuierliche des Fernsehens berücksichtigt und diese Anpassung der Zeitstruktur an den Arbeitstag und die Arbeitswoche ebenfalls als ordnend, also konservativ bewertet (ebd.: 115), repräsentiert das Ereignis und der Live-Anspruch des Fernsehens »Diskontinuität in einem ansonsten stabilen System« (ebd.). Demnach ist das Fernsehen dem Modell der Katastrophe nachgebildet (ebd.: 111). Es unterscheidet sich vom Film durch die Abwesenheit von Gedächtnis und Vernichtung von Geschichte. Nach Doane ist das Fernsehen nur auf sich selbst bezogen, also gerade nicht intermedial oder iterativ. Ob das Fernsehen »Präsenz und Unmittelbarkeit« (ebd: 106) erzeugt, ob die einzige Historizität, zu der es fähig ist, die Nostalgie ist, sind daraus resultierende Fragen, die ich in folgende Überlegungen einbeziehen werde. 2.2. Tot oder lebendig Für die Wiederholung in audiovisuellen Medien scheint in besonderer Weise das dem Verhältnis von Kunst und Leben eingeschriebene Paradox zu gelten, dass technische und als tot begriffene Medien einen Zugang zur Unmittelbarkeit des Lebens gewähren sollen, ihre Medialität also verdecken (vgl. Winkler 1994). Dieses Paradox scheint auf das Fernsehen in besonderer Weise zuzutreffen: Der technische Apparat ist als ein ›totes‹ Objekt im Raum präsent, während die Koppelung des Programms an den alltäglichen Lebensablauf des Publikums und der Live-Charakter der Sendungen Lebendigkeit suggerieren.
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Die Wiederholung wird jedoch nicht erst seit der technischen medialen Reproduzierbarkeit in eine automatisierte, tote und eine am Leben orientierte unterschieden, wie ich im Folgenden, zunächst anhand von Kierkegaards Schrift zur Wiederholung, skizzieren möchte. Sören Kierkegaard hat die Wiederholung in eine ästhetische, ethische und religiöse Form unterschieden. Die ästhetische Wiederholung hat er mit Automatismus, Ähnlichkeit und Reproduktion in Verbindung gebracht und für unmöglich erklärt, da es keine identische Reproduktion desselben geben könne. Die ästhetische Wiederholung ist für ihn rein »mechanisch« und nicht nur aus diesem Grund »tot«, sondern auch, weil sie nichts Neues hervorbringt. Sie ist eher mit einer imaginären, nostalgischen Erinnerung gleichzusetzen, die sich unmittelbar im Hier und Jetzt zu realisieren versucht. Diese Position wäre mit der von Doane kompatibel. Dagegen stellt Kierkegaard eine ethische Wiederholung, in der Veränderung mitgedacht wird, da diese prozesshaft ist. Die ethische Wiederholung ist die Verinnerlichung der Wiederholung, die ein Werden, eine Bewegung einschließt. Diese Form der Wiederholung ist insofern am Leben orientiert, aber auch, weil sie das Singuläre und das Mögliche, sowie dessen immer differente Aktualisierung betont. Als Beispiel für diese Wiederholung nennt Kierkegaard den Klang des Posthorns: »Es lebe das Posthorn! Das ist mein Instrument, aus vielen Gründen und namentlich aus dem, dass man niemals mit Sicherheit diesem Instrument den gleichen Ton entlocken kann; denn es liegt eine unendliche Möglichkeit in einem Posthorn, und wer es an seinen Mund setzt und all seine Weisheit dahineinlegt, der wird sich niemals einer Wiederholung schuldig machen. […] Wie die alten Asketen einen Totenkopf auf den Tisch setzten, dessen Beschauung ihre Lebensbetrachtung war, so soll das Posthorn auf meinem Tisch mich allezeit daran erinnern, was des Lebens Bedeutung ist.« (Kierkegaard 1984: 45)
Die Wiederholung des Posthorns ist keine automatisch reproduzierte, identische (und deshalb nach Kierkegaards Definition keine ästhetische), sondern eine, welche die Differenz betont. Obwohl diese Form der Wiederholung dem Leben in seinen Veränderungsmöglichkeiten und Bewegungen gerecht wird, betrachtet sie das Leben vom Tod aus. Wie Kierkegaard weiter schreibt: »Weil das Leben nicht zu fesseln weiß, wie der Tod es kann, weil das Leben nicht die Überredungskraft besitzt wie der Tod« (ebd.: 46). Das Posthorn ist das Instrument des memento mori (Strowick 1999: 17). In dieser ethischen Wiederholung wird sowohl die Sehnsucht nach exotischen Abenteuern überwunden als auch der nostalgische Blick zurück, wie Žižek Kierkegaard interpretiert (Žižek 1993: 79). Sie
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lässt sich mit dem Moment des Sterbens vergleichen, in dem das Leben an dem Sterbenden vorbeizieht wie ein Film. Wie Gertrud Koch schreibt: »Es gehört zu den ondits des Kinematischen, dass Sterbende die Momente ihres Lebens an ihrem inneren Auge vorbeiziehen sähen wie in einem Film – und es hat nicht lange gedauert, bis der Film in endlosen Wiederholungen von der Rückblende bis zur Überblendung oder Mehrfachbelichtung diese Strukturierung der Lebenszeit als vorlaufender Entschlossenheit zum Tode übernommen hat.« (Koch 2009: 62)
Auf Heidegger rekurrierend bestimmt Koch das Kino als diejenige Institution, die immer wieder die Grenzerfahrung des Todes thematisiert, nicht nur thematisch, sondern auch im Hinblick auf die Visualität. Als bewegtes Bild kann der Film Unbeweglichkeit selbst zeigen, aber vor allem in der »medialen Differenz«: im Still oder der Fotografie im Film oder eben in der Wiederholung, denn in der Reproduktion erscheint der Moment des Todes sogar noch bewegender, wie Bazin argumentiert (Bazin 1999: 145). Man kann diese Wiederholung mit Kierkegaards ethischer Wiederholung vergleichen, in der das Leben vom Tode her betrachtet wird. Der Tod wird in dieser Form der Wiederholung nicht verdrängt, sondern filmisch transformiert. »Genuin kinematografisch sind jene Momente, die aufgrund ihrer Plötzlichkeit in der Zeit entstehen und vergehen«, argumentiert Koch weiter und, dass der Film den »reinsten« Moment wiederholbar werden lässt. »Als eine Kunst, deren Wesen die Zeit ist, erfreut sich das Kino des einzigartigen Privilegs einen Moment immer wieder durchleben zu können« (ebd.: 144). Die ethische Wiederholung, die auf dem Leben als ein Werden basiert, bildet auch eine Grundlage für die Verwandlung der ›Realität‹ des Todes in die Zeit des Films, in der sich die Dauer mit dem Augenblick verknüpft. Diese doppelte Zeitstruktur des Kinos ist jedoch nicht dieselbe Form von Wiederholung, die das Fernsehen für Eco ästhetisch wertvoll macht, denn diese holt ein Ereignis wie das des Todes nicht näher heran, sondern schafft durch Iterationen Distanz. Diese wird anhand des intermedialen Wechsels vom Kino zum Fernsehen deutlich. Joachim Michael schreibt zu diesem Wechsel: »Das Kino entwickelt seine eigene Dramaturgie in der Genrevielfalt seiner Spiel- und Kunstfilme, das Fernsehen entwickelt Erzählformen audiovisueller Serialität. Dramenstoffe mögen diesen Narrationsweisen weiterhin zur Vorlage dienen, das enunziative Ergebnis wird jedoch eines dem jeweiligen Dispositiv angepasstes sein.« (Michael 2010: 90)
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Die Narration und ihre Inhalte verändert sich also mit dem medialen Wechsel, wie Michael anhand eines anderen Materials, der Telenovela, nachweist. Ich möchte diese Hypothese anhand von Mildred Pierce überprüfen und danach fragen, in welche Richtung diese Transformation möglicherweise stattfindet.
3. I NTERMEDIALITÄT
IN
M ILDRED P IERCE
Als Beispiel für die intermediale Transformation möchte ich den Roman, Film und die Fernsehserie Mildred Pierce analysieren. Der Film von 1945 (Regie: Michael Curtiz) beginnt, Kochs These entsprechend, mit einem Mord und einer Leiche. Mehrere AutorInnen haben bereits darauf hingewiesen, dass sich der Erzählstil des Films aus Elementen des Film Noirs und Melodramas zusammensetzt (vgl. Cook 2005; Williams 1988). Die Gegenwart wird im Noir-Stil erzählt: Ein Detektiv verhört die Mordverdächtige Mildred Pierce (Joan Crawford). In Rückblenden entspinnt sich, ausgehend von dem Verhör, eine melodramatische Familiengeschichte, in deren Zentrum ein Mutter-Tochter-Verhältnis steht: Nach der Scheidung von ihrem Mann muss Mildred sich und ihre beiden Töchter selbst ernähren und baut, nachdem sie anfänglich als Kellnerin arbeitet, eine erfolgreiche Restaurantkette zu Beginn der 1940er Jahre auf. Nachdem eine ihrer Töchter an einer Krankheit stirbt, während Mildred ihren neuen Liebhaber Monty (Zachary Scott) trifft, entwickelt sie eine nahezu obsessive Fürsorge für ihre ältere Tochter Veda (Ann Blyth), die sie jedoch für ihre soziale Herkunft verachtet und eine Affäre mit dem reichen Liebhaber der Mutter beginnt. Der Film endet im Jetzt der Detektivgeschichte mit der Aufdeckung der Mörderin, nämlich Veda, und der Wiedervereinigung von Mildred und ihrem ersten Ehemann. Pam Cook interpretiert in ihrem Buch zu Erinnerung und Nostalgie die Rückblenden gerade nicht als nostalgisch, sondern im Rahmen der Genrekonventionen als melodramatisch und Repräsentation der ›Stimme‹ Mildreds innerhalb des patriarchalen Diskurses des Detektivs im Film Noir (Cook 2005: 33). Der Tod des Liebhabers ist dabei ein Teil des temporären Zusammenbruchs der patriarchalen Ordnung, die zu Tod und Betrug führt. Am Ende werde das patriarchale Gesetz wiederhergestellt (ebd.). Für Amelie Hastie ist Todd Haynes’ HBO-Adaption von Mildred Pierce (USA 2011) unter anderem ein Ergebnis der ausgiebigen feministischen Debatte um den Film, auch wenn Haynes selbst angab, sich nicht auf diesen zu beziehen, sondern lediglich auf den Roman von James M. Cain von 1941. »In this refusal, I would argue that Haynes also ›adapts‹ and even remakes the feminist film theory that took on the earlier film some thirty years after it originally appeared« (Hastie 2011: 27).
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Und obwohl Haynes auch verneinte, dass es sich um eine Fernsehserie handelt, ist diese Mini-Serie »very much television« (ebd.: 26). Hastie begründet dies damit, dass es, im Unterschied zum sonstigen Wiederholungszwang des Fernsehens, die immergleiche Mordszene zu wiederholen, in der Mini-Serie keinen Mord gibt, sondern Haynes in seiner »textual repetition« den Kuchen zurückbringt2. Die verschiedenen Anfangsszenen des Films und der Serie machen meiner Ansicht nach die intermediale Transformation der jeweiligen Dispositive des Kinos und des Fernsehens deutlich, auch wenn Hastie bedingt zuzustimmen ist, dass Mord auch im Fernsehen seinen Platz hat. Und obwohl der Film auch seriell ist, wird in der Narration und Ästhetik das Serielle in der Wiederholung des Fernsehens differenziert: Während der Film Mildred Pierce mit dem einzigartigen Augenblick des Todes beginnt, ist die Serie von Beginn am Leben und Alltag, ebenso wie an Hausarbeit und Lohnarbeit, Handwerk und künstlerischer Arbeit orientiert. Auch wenn wie im Film ein ödipales Drama inszeniert wird3, überträgt die Serie das Mutter-Tochter-Verhältnis auf die Rollenverteilung kreativer Arbeit und letztlich die Frage von Kunst und Technik. »There’s scene after admiring, careful scene where we (and often Veda too) watch Mildred baking, waitressing, running her successful restaurant business. These scenes are put into dialogue with ones of Veda playing piano or singing. It’s like a philosophical opposition between different kinds of creativity that’s transferred onto the mother–daughter relation. It’s more than psychology, more than psychopathology. I contend that Haynes forces the question away from a mother-who-loves-too-much construction to the far more interesting question (explored also in the work of feminist theorist Luce Irigaray) of the possibility of representing mother and daughter outside Oedipal psychologizing […]. So rather than the question of what these women want, I would prefer to ask: what are they creating (both inside the fiction and outside, for the viewer)?« (Jacobs/White 2012: o.S.)
Eco weist darauf hin, dass erst die moderne Ästhetik Kunst und Handwerk unterschieden hat. Diese Unterscheidung wird durch das Serielle hinterfragt. Neben Eco bringen einige andere AutorInnen das Serielle mit der techné in Verbindung. Jacques Derrida hebt in Wahrheit der Malerei auf die ursprüngliche Iterabilität jeder Kunst als techné ab. Auch in Die Tode von Roland Barthes unterstreicht er, dass die Reproduktionstechnik in keiner Weise strukturell verschieden ist von
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Mildreds Karriere beginnt damit, dass sie bereits in der Ehe Kuchen verkauft. Interessant ist, dass, obwohl das Backen ihr später zu Reichtum verhilft, sie im Film nur ein einziges Mal beim Kuchenbacken gezeigt wird.
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Vgl. dazu ausführlich Cook (2005).
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jeder anderen Form handwerklicher bzw. technizistischer Reproduktion und damit der techné als solcher. »Das Eigentliche der Technik, ihr Ereignis ist die Latenz ursprünglicher Reproduzierbarkeit in einer unabsehbaren Serialisierung von Kontexten […]« (Derrida 1987: 45; vgl. auch Rösch 2008: 212). Während es in dieser Auseinandersetzung auch darum geht, dass jede Kunst bzw. jedes Bild, sei es »fotomechanisch oder handwerklich« (Rösch 2008: 213), die Möglichkeit der Wiederholbarkeit in sich trägt und seriell »prinzipiell unabgeschlossen bleibt« (ebd.: 216), also nicht ›einzigartig‹ ist, soll an dieser Stelle nicht danach gefragt werden, ob die techné von der Kunst unterschieden werden muss, sondern wie und ob sich anhand der narrativen Einbindung des Technischen etwas über das spezifische Medium ableiten lässt. 3.1 Handwerk, Kunst und Arbeit in Mildred Pierce Haynes bringt gleich zu Beginn die besonders für den banalen Alltag stehende Hausarbeit in den Mittelpunkt, die im Laufe der Erzählung aufgewertet, also bezahlt wird4, wenn sie die Form des Handwerks annimmt, als Mildred mit der seriellen Produktion der Kuchen beginnt und schließlich ein Restaurant eröffnet, dass sich zur Kette ›serialisiert‹. Diese Verschiebung der Erzählung auf das Serielle und die Sichtbarmachung des seriellen Charakters weist auch auf den Medienwechsel, den die Narration erfahren hat. Tania Modleski hat die Strukturierung des Tagesprogramms des Fernsehens mit den Rhythmen der Hausarbeit verglichen (Modleski 1979; 1987). Haynes Serie rückt diese Arbeit insbesondere in der ersten Episode in den Vordergrund. Auch die Opernkarriere der Tochter Veda wird als ebenso seriell wie kommerziell, aber dennoch »ätherisch« inszeniert. »Veda’s singing may be ethereal but it’s a commodity too« (Jacobs/White 2012: o.S.). Demgegenüber wird im Film Vedas Arbeit als Nummer einer Show in einer Bar abgewertet. Man könnte diese Differenz damit erklären, dass das Kino und insbesondere das Hollywoodkino der Zeit wenig Interesse an so etwas Banalem wie Lohnarbeit hatte und diese daher abwertet oder naturalisiert (vgl. Jurca 2002; Williams 1988). Anders das Fernsehen, dessen Narrationen häufig in Arbeitsumfeldern (Krankenhaus, Büros, etc.) angesiedelt sind. Hausarbeit, Restaurantarbeit und künstlerische Arbeit gelten in der Mini-Serie also als (fast) gleichwertige kreative Leistungen, die auch immer in Relation zu seriellen kapitalistischen Produk-
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Zur Thematisierung der Arbeitsverhältnisse und einer Feminisierung der Arbeit im Film Mildred Pierce vgl. Jurca (2002). Ihre These ist, dass der Film Marktverhältnisse naturalisiert, in dem sie mit Mutterschaft assoziiert werden.
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tionsverhältnissen gestellt werden. Anders als der Film, der die Geschichte Anfang der 1940er Jahre verortet5, beginnt die Serie wie der Roman zur Zeit der amerikanischen Depression und thematisiert diese kapitalistische Krise, wie auch die geschlechtliche Arbeitsteilung und Klassenverhältnisse. 3.2 Genrewechsel in Mildred Pierce Zudem transformiert Haynes den Genremix aus Film Noir und Melodrama gänzlich in ein Melodram6. Haynes, der über Rainer Werner Fassbinder zu Douglas Sirks Filmen kam, was sich vor allem in seinem Melodram Far From Heaven (USA 2002) ausdrückte, referiert auch in Mildred Pierce auf die Melodramen der 1940er und 1950er Jahre, ebenso wie auf die Genre-Filme der 1970er wie Godfather, Klute oder The Parallax View, die »were drawn from the genre tradition, but they dressed down the stylistic telling of those traditions and genres«, wie Todd Haynes selbst angibt. Was Haynes’ Arbeit mit diesen Filmen verbindet, ist die Referenz und Anlehnung an ein Genre, das in der Wiederholung kontextualisiert und transformiert wird. Neben Mildred Pierce wären andere Serien, wie zum Beispiel die Sopranos (USA 1999-2007, Creator: David Chase) Beispiele dafür, wie in diesem Fall das Mafiagenre im Medienwechsel zum Fernsehen transformiert wird. Einige Autorinnen haben darauf hingewiesen, dass die Melodramen des Kinos in den Soap Operas des Fernsehens eine Fortsetzung fanden. Obwohl sich die Mini-Serie Mildred Pierce natürlich formal von Soap Operas allein dadurch unterscheidet, dass sie auf ein baldiges Ende zuläuft, nutzt sie doch die Möglichkeit der langen Erzählweise, indem beispielsweise Mildreds Arbeitssuche und ihre ersten Arbeitstage sehr detailliert gezeigt werden. »Todd Haynes, on the other hand, has the luxury of time, he tells you more, much more, about the day-to-day, hour-by-hour nature of Mildred Pierce's life; we get a clearer view
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Obwohl einige KritikerInnen sich kritisch auf diese zeitliche Verschiebung im Film beziehen, geht Linda Williams in ihrem Essay »Feminist Film Theory: Mildred Pierce and the Second World War« (2002) am intensivsten auf diesen Aspekt ein. Unter Bezugnahme auf Fredric Jamesons Konzept des politisch Unbewussten arbeitet Williams heraus, wie der Film die Widersprüche des historischen Moments reflektiert als auch verdrängt zugunsten eines individuellen Schicksals.
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Zu der Serie im Kontext des melodramatischen Genres und Haynes’ früheren Arbeiten vgl. Chris Tedjasukmana (im Erscheinen). Tedjasukmana kreiert den neuen GenreBegriff des ›Camp Realismus‹ für Haynes’ Serie.
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of the context for the melodramatic events, and so the drama tips away from nightmare and noir, into something more daylit.« (Bradshaw 2011: o.S.)
Bradshaw weist sowohl auf die Alltags- und »Tageslicht«-nähe, wie auf die melodramatischen und Seifenopernanteile der Serie, die er jedoch vor allem dem Medium Fernsehen zurechnet. »It looks a bit soapy, and yet the ordinariness and drabness Haynes goes to such lengths to portray in the opening episode only look soapy because they are happening on the small screen« (ebd.). Erst auf dem kleinen Bildschirm wirkt die Mini-Serie wie eine Seifenoper, im Kino würde sie wie ein »akribisch ausgearbeitetes Beispiel realistischer Kunstfertigkeit« wirken (ebd., Übersetzung M.W.)7. Jane Feuer hat in ihrem Vergleich der Seifenoper mit dem Melodram herausgestellt, dass beide Genres zwar gefühlsbetont und frauen- bzw. mutterzentriert seien8, es der Soap jedoch an der visuellen Üppigkeit fehle, die beim Melodram zu einer kritischen Distanz zu den narrativen Inhalten führe. Sie bezieht sich dabei auf eine filmtheoretische Debatte, die sich ebenfalls an Sirks Filmen entsponnen hat. Demnach bestünden Sirks Melodramen aus zwei Texten: einem »Primärtext«, der sich an ein Massenpublikum richtet und einem »Sekundärtext«, der durch eine Intensivierung der melodramatischen Codes und Exzesse – Pathos, Choreographie, Musik, Dekor, beispielsweise spiegelübersäte Wände – zu einer kritischen Distanz führt (Feuer 1987: 14; vgl. auch Willemen 1971; Elsaesser 1994). Obwohl Feuer zunächst einwendet, dass Seifenopern und Abendserien wie Dallas oder Dynasty im Vergleich zu Melodramen wie Written in the Wind (USA 1956, Regie: Douglas Sirk) der visuelle Exzess fehle, trifft dies nur zu, wenn man sie an den Standards der Mise-en-scène und Schnitt-Technik der Kinofilme misst. Im Zusammenhang des Mediums Fernsehen unterlaufen bzw. unterliefen, wie man aus heutiger Perspektive schreiben muss, diese Abendserien die Gattungscodes des Fernsehens durch Kombinationen aus Nahaufnahmen, Dekor und Hintergrundmusik oder durch einen »Schlag« längere Schuss-GegenschussAufnahmen9. Einen Hauptunterschied zu den melodramatischen filmischen Vorläufern sieht Feuer jedoch in der Serienform. Diese unterlaufe durch ihre Unab-
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Tatsächlich wurde die Serie auch im Kino gezeigt. Sie hatte ihre Kinopremiere auf
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Vgl. zu dem Sujet der Mutter im Melodram auch Modleski (1979), zum Mutter-
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Diese einige Sekunden längeren als üblichen Einstellungen finden sich zum Beispiel
den Filmfestspielen in Venedig und wurde auch auf der Viennale 2011 gezeigt. Tochter-Konflikt Cook (2005). auch in der Serie Mad Men (USA 2007, Creator: Matthew Weiner), worauf Rustad Gry und Timotheus Vermeulen bereits hinweisen (2013).
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geschlossenheit eine »teleologische Metaphysik« (Feuer 1987: 19). Obwohl dies nur bedingt auf die Mini-Serie zutrifft, wurde bereits herausgestellt, dass sie statt auf ein Ende zuzulaufen, sich zwar nicht in die Breite, dafür aber in die Tiefe der Erzählzeit ausdehnt. Zudem ähnelt das Ende fast der zirkulären Stasis der Episodenserie, denn am Schluss kehrt Mildred zu Bert zurück; sie hat ihr Geschäft verloren und der vorherige anfängliche Zustand ist wieder hergestellt. Eine ähnliche kritische Distanzierung wie Feuer für die melodramatischen Seifernopern hat auch Eco für das serielle Fernsehen behauptet. Er nennt als ein weiteres Kriterium für den ästhetischen Wert des Seriellen den intertextuellen Dialog, der auch auf Haynes’ Film zutrifft. Durch das erkennbare Zitat oder die Wiederaufnahme würden nach Eco kritische Zuschauer geschaffen, die sich nicht mehr in die affektive Strategie der Erzählung verwickeln ließen, sondern Lust an einer unendlichen Variabilität entwickeln würden. Diesen kritischen Zuschauer stellt Eco dem naiven Zuschauer gegenüber, der sich aus einem infantilen Bedürfnis heraus an der Wiederkehr des Gleichen und dem Alltäglichen der Wiederholung freut. Modleski geht ebenfalls auf diese Lust an der Wiederholung ein: »The spectator comes to enjoy repetition for it’s own sake« (1979: 42). Was jedoch ebenfalls zu einer kritischen Distanzierung führen könnte, resultiert nach Modleski in einer Aussöhnung mit der »meaningless, repetitive nature of her life and work within the home« (ebd.). Für die Mini-Serie treffen sowohl einige Kriterien zu, die für eine kritische Distanzierung sprechen würden, wie die Wiederaufnahme und die melodramatische Überhöhung unter fernsehtechnischen Bedingungen. Andererseits ist die Serie tatsächlich naturalistischer als die klassischen Melodramen und an den Alltag angelehnt. Ob dies allerdings zu einer ›naiveren‹ Lesart führt, bleibt fraglich, so dass die Serie diese Dualität möglicherweise selbst in Frage stellt.
4. S INNLICHE P RÄSENZ E INRAHMUNG
VERSUS
F ERNSEHEN
ALS
Jacques Rancière hat dagegen die Lebensnähe selbst als ein ästhetisches Kriterium benannt. Für ihn ist bereits der Film eine Kunst, weil es diesen Bewegungen des Lebens gerecht wird, sie aufzeichnet und für das menschliche Auge sichtbar macht (Rancière 2006a: 2). »Die kinematografischen Automatismen legten den Streit zwischen Kunst und Technik bei, indem sie den Status des ›Realen‹ änderten« (ebd.): Die Dinge wurden nun aufgezeichnet, wie sie das menschliche Auge nicht sehen kann und erst im narrativen Kontext sichtbar.
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Die automatische Wiederholung im Film ist demnach als ästhetisch zu bezeichnen, weil sie eine Sichtbarmachung der anonymen Individuen, ein Anschaulichwerden der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Lebenswelt beansprucht. Im Film werden demnach die Erfahrungen der Individuen und die Gesetzmäßigkeiten der sozialen Welt sinnlich wahrnehmbar (Rancière 2006b: 54). Das Fernsehen ist nach Rancière selten Gegenstand dieser Utopie, und obwohl es den Massen und anonymen Individuen zur Sichtbarkeit verhilft, sei es bislang nicht als Kunst anerkannt worden. Wie bei Modleski wird es gerade aufgrund seiner Wiederholungsstruktur oftmals als konservativ im Sinne von Gewohnheiten reproduzierend bewertet. Doch nach Rancière ist das Fernsehen kein »Instrument des Massenkonsums, das den Tod der großen Künste durchbuchstabiert« (2006a: 18, Übersetzung M.W.). »It is, more profound and also more ironically, the machine of vision that suppresses the mimetic gap and thus realizes, in its own way, the new art’s panaesthetic project of immediate sensible presence« (ebd.). Das Fernsehen erfüllt nach Rancière nicht nur das, wonach der Film herhinkt, sondern prägt auch ein wesentliches Merkmal des Verhältnisses von Denken und Kunst im ästhetischen Regime: eine Abschaffung der mimetischen Kluft zwischen dem sinnlichen Wahrnehmen und abstrakten Denken zugunsten einer unmittelbaren sinnlichen Präsenz. Die Serie Mildred Pierce würde trotz ihrer Alltagsnähe und ihrem Realismus dieser These widersprechen. Zum einen wäre meine These, dass durch die Wiederaufnahme des Stoffes, durch die Intermedialität, Distanz statt Präsenz produziert wird. Zudem gibt es in Mildred Pierce auf der visuellen Ebene Mittel der Distanzierung und zwar durch eine Reihe von Einstellungen, in denen das Bild zusätzlich durch Fenster, Türen und andere Durchgänge gerahmt ist (vgl. Abb. 1-3).
Abbildung 1: Todd Haynes: Mildred Pierce (2011)
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Haynes beantwortet eine Frage nach diesen Einstellungen damit, dass der Umstand vermittelt werden sollte, dass in dem Privatraum der Familie immer jemand zuguckt, was narrativ dadurch verarbeitet wird, dass Mildreds Tochter Veda immer wieder die Schränke ihrer Mutter durchsucht. Zudem begründet Haynes diese Einstellungen mit der Einbindung des Zuschauers. »Außerdem regen diese Rahmen den Zuschauer an, sich selbst in Verbindung zum Gesehenen zu setzen. Wenn man das Fenster zeigt, durch das man auf diese andere Realität schaut, bezieht das auch den Zuschauer mit ein« (Haynes 2011: o.S.).
Abbildung 2: Todd Haynes: Mildred Pierce (2011)
Doch der Zuschauer wird nicht immersiv einbezogen, sondern in seiner Position als Zuschauer. Durch die Rahmen gewinnt er eine Distanz zum Gesehenen. Einige Fernsehtheorien, die sich insbesondere auf Heideggers Philosophie beziehen, haben dieses Verhältnis von Nähe und Distanz, Präsenz und Absenz thematisiert. Zum einen beziehen sie sich dabei auf Heideggers direkte Äußerungen zum Fernsehen, das den »Gipfel aller Beseitigung aller Entfernung« erreiche (Heidegger 1994: 3). Doch trotz dieser Beseitigung aller Entfernungen bleibe die Nähe aus, wie Heidegger postuliert (ebd.: 4). Fernsehen überwindet zwar die Entfernungen, doch vermittelt es keine ›unmittelbare‹ Präsenz, es bringt die Dinge nicht näher, macht sie also nicht ›sinnlich präsent‹, könnte man argumentieren, auch wenn diese Nähe nicht gleichbedeutend ist mit sinnlicher Präsenz. »Proximity involves neither sensuous experience nor cognitive appropriation«, schreibt Richard Dienst in seinem Buch Still Life in Real Time. Theory after Television dazu (1994: 109). Das Fernsehen lässt dagegen die Welt zum Bild werden. Tony Fry schreibt zum selben Abschnitt bei Heidegger: »In bringing the
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picture to picturing, as a coming ›to be‹ in the picture, Dasein is neither here nor there but in the picture, the everywhere, the world is pictured. Such a bringing to presence and present is always pre-sent« (1993b: 37). Präsenz vermittelt durch das Fernsehen ist immer Teil eines Prozesses oder Kreislaufs der Übertragungen und Wiederholungen. Wie Fry weiter schreibt, handelt es sich um einen »constant return in the returning circuit of continual transmission« (ebd.).
Abbildung 3: Todd Haynes: Mildred Pierce (2011)
Das ›Reale‹ wird dabei nicht sinnlich präsent oder als solches sichtbar, sondern ist nur erfahrbar durch »the translatory error of ›our‹ interpretative and inscriptive creations of representational forms of all modalities of textuality. In this understanding of the real, the making of representations of the real become part of the real while only partly revealing it« (ebd.). Die Wiederkehr der medial gerahmten Bilder in einem konstanten Kreislauf der Wiederaufnahmen und Adaptionen, wird meiner Ansicht nach in der Serie Mildred Pierce vor allem anhand der gerahmten Bilder deutlich. Heideggers Begriff des »Ge-Stells« wird häufig ins Englische als »Enframing«10 übersetzt, also als Einrahmung, ein Wort das für die Theoretisierung der Medialität des Films und insbesondere des Fernsehens geeignet scheint. Dienst (und andere) nutzen den Begriff des »Ge-Stells« oder »Enframing« im Kontext des Fernsehens und
10 Alternative Übersetzungen sind »installation«, »frameworking« oder »construct« (vgl. Dienst 1994: 113). Samuel Weber wählt das englische Wort »emplacement«, da es seiner Ansicht nach der Bedeutung des Gestellt-Werdens, bzw. des Platz-Einnehmens am ehesten gerecht wird (Weber 1989: 988).
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zwar einerseits in einem ähnlichen Sinne, wie dem eben angesprochenen, als Kontextualisierung des Gesehenen. »Das Ge-Stell stellt dann die Weise, wie jedes Anwesende jetzt anwest« (1994: 40), wie Heidegger schreibt, und ich würde die Betonung darauf legen, als die Weise wie etwas »jetzt anwest« (und nicht als solches). Denn nicht das Ding als solches ist präsent oder wird gezeigt. »The representations given by the Ge-stell are rather emplacements, set-ups, showing no thing in itself, but only aspects of ordering, angles, corners of the framing, coordinates and emplacement. A self-regulating, self-regarding system« (Dienst 1994: 115). Für Dienst ist das Fernsehen als »Enframing« oder »Ge-Stell« sogar seinem Inhalt gegenüber indifferent: »It is not a matter of form and content – that fine old Platonic division – since televisionas-Enframing remains indifferent to what it shows or represents […] The most potent device of Enframing is, then, literally the frame: the gesture of bracketing that makes something seen at the expense of everything else.« (Ebd.: 123)
Fernsehen rahmt Dinge, wie auch Paul Adams schreibt (1993: 59), es stellt Differenz her und überwindet sie, es eröffnet einen Raum, in dem Dinge zugleich nah und fern sind. Eine Doppelbewegung, die Dreyfus mit Heideggers »Entfernung« umschreibt (Dreyfus 1991: 130). Das Fernsehen macht einen Unterschied, ebenso wie das »Ge-Stell« als Wesen der Technik. Heidegger bezeichnet das »Ge-Stell« als Wesen der Technik und das Wesen der Technik als »GeStell« (Heidegger 1994: 40). Mit Technik meint er nicht die Maschinentechnik (ebd.: 33), ebenso wenig ist das »Wesen der Technik« etwas Technisches (ebd.: 34). »By determining the goings-on of technics as radically different from technics itself, Heidegger leads his readers in a quest after something that is not equivalent to technology, although it is that without which technology would not be« (Weber 1989: 982). Gerade das Ausbleiben der Nähe, der Unter-schied geht mit der »Wesensentfaltung der Technik« (Heidegger 1994: 45) zusammen, die als prozesshafte Bewegung zu denken ist. Heidegger sucht dieses Wesen der Technik in der Unverborgenheit (Aletheia) oder Vergessenheit des Wesens des Seins (ebd.: 51). »Das Ge-Stell als Wesen des Seins setzt das Sein aus der Wahrheit seines Wesens heraus, entsetzt das Sein seiner Wahrheit« (ebd.: 52). Das Wesen des Seins wird aber erst erfahrbar im Tod (ebd.: 56), womit ich auf den Beginn dieses Textes zurückkomme. Dieses Wesen des Todes bleibt dem Menschen jedoch – durch das »Ge-Stell« – verstellt (ebd.: 56). »Die Gefahr [des Todes] verbirgt sich, indem sie sich durch das Ge-Stell verstellt. Dieses selber wiederverhüllt sich in dem, was es wesen lässt, in der Technik« (ebd.). Obwohl die Aletheia als Zu-
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gang zur Wahrheit, als »Entbergung« diese Verborgenheit verlangt (ebd.: 49), ist es nicht die Verbergung des »Ge-stells«, welche die Entbergung ermöglicht. So bleibt bei Heidegger die Trennung von Innen und Außen des Rahmens oder »Ge-stells« gewahrt, wie Derrida kritisiert11: »Die ständige Suche – zwischen dem inneren oder eigentlichen Sinn und dem Umstand des Objekts, von dem man spricht zu unterscheiden – organisiert alle philosophischen Diskurse über die Kunst, den Sinn der Kunst und ganz einfach den Sinn, von Platon bis Hegel, Husserl und Heidegger. Es setzt einen Diskurs über die Grenze zwischen Innen und Außen […] voraus, hier einen Diskurs über den Rahmen.« (Derrida 1992: 65)
In seiner Auseinandersetzung mit Kants Begriff des Parergon betont Derrida die Unentscheidbarkeit von Innen und Außen, Original und Nachahmung. »Anders als bei Heidegger […] ist die Struktur des Werkes für Derrida nicht mehr als auf die Struktur von adaequatio oder aletheia reduzierbar. […] Was Derrida die unentscheidbare Atopie des Parergons nennt, ist für das Kunstwerk konstitutiv« (Rösch 2008: 198). Derrida begreift den Rahmen nicht als Begrenzung, sondern fragt nach seiner Zerstreuung und Ausdehnung: »Ich weiß nicht, was an einem Werk wesentlich ist und was nebensächlich ist. […] Wo hat der Rahmen seinen Ort? Hat er einen Ort? Wo beginnt er? Wo endet er? Was ist seine innere Grenze? Seine äußere Grenze? Und seine Oberfläche zwischen den beiden Grenzen?« (ebd.: 84). Diese Entgrenzung schließt eine intertextuelle Iteration ein, die auch für das Fernsehen charakteristisch ist. »Television [:] does not simply ›transport‹ previous forms (theatre, film, radio) but rather translates and recombines them. This shift to a new technology is […] a dual process of de-materialization and deliteralization. The televisual system dreams […] of an immaterial world« (Dienst 1994: 142). Eine ähnliche Tendenz zum Immateriellen findet sich auch am Schluss der Serie Mildred Pierce. Im Unterschied zum Film, der damit endet, dass Mildred und ihr Exmann im Sonnenaufgang das Polizeigebäude verlassen und dabei an zwei Frauen vorbeigehen, die den Boden wischen, was noch einmal die Klassenunterschiede betont12, endet die Serie mit der Versöhnung von Mildred und Bert, der zu Mildred sagt: »Let’s get stinko.« Nachdem Geldverdienen, Karriere und
11 Weber übersetzt dagegen Entbergung mit »unsecuring«, was zwar auch das Gegenteil, »sichern« impliziert, das auch von der Technik ausgeht, aber ebenso die prozesshafte Öffnung, dem »Wesen« als »going-on« der Technik, zuschreibt (Weber 1989: 985; 987). 12 Vgl. dazu Williams (1988: 17) und Nelson (1977: 70).
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Geschäft, die hohen materiellen Ansprüche der Tochter Veda, der finanzielle Niedergang des zweiten Ehemanns und dann auch Mildreds im Zentrum der Geschichte standen, scheint dies am Ende gleichgültig.13
L ITERATUR Adams, Paul, »In TV: On ›Nearness‹, on Heidegger and on Television«, in: Tony Fry (Hg.), RUA TV? Heidegger and the Televisual, Sydney: Power 1993, S. 45-67. Bradshaw, Peter, »Todd Haynes’s Mildred Pierce: the crystal meth of quality television«, in: The Guardian vom 23.01.2011, http://www.guardian.co.uk/ film/2011/jun/23/todd-haynes-mildred-pierce-kate-winslet (19.06.2013). Coulthard, Lisa, »›Let’s Get Stinko‹: Melodrama and the Mundane in Todd Haynes’s Mildred Pierce«, in: Flow TV (2011), http://flowtv.org/2011/04/ lets-get-stinko (19.06.2013). Cook, Pam, Screening the Past. Memory and Nostalgia in Cinema, New York/London: Routledge 2005. Derrida, Jacques, Die Wahrheit in der Malerei, Wien: Passagen 1992. Derrida, Jacques, Die Tode von Roland Barthes, Berlin: D. Nishen 1989. Dienst, Richard, Still Life in Real Time. Theory after Television, Durham/ London: Duke UP 1994. Dreyfus, Hubert, Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Division I, Cambridge Mass.: MIT Press 1991. Eco, Umberto, »Serialität im Universum der Kunst und Massenmedien«, in: ders. (Hg.), Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig: Reclam 1989, S. 301-324. Elsaesser, Thomas, »Tales of Sound and Fury. Anmerkungen zum Familienmelodram«, in: Christian Cargnelli/Michael Palm (Hg.), Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen, Wien: PVS 1994, S. 93-131. Fine, Marshall, »Todd Haynes Talks About Mildred Pierce«, Huffington Post 25.3.2011, http://www.huffingtonpost.com/marshall-fine/todd-haynes-talksabout-i_b_840638.html (03.10.2012). Fry, Tony (Hg.), RUA TV? Heidegger and the Televisual, Sydney: Power 1993 (= Fry 1993a). Fry, Tony, »Switchings«, in: ders. (Hg.), RUA TV? Heidegger and the Televisual, Sydney: Power 1993, S. 24-45 (= Fry 1993b).
13 Vgl. dazu auch Coulthard (2011).
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Serialität als Intermedialität
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F ILME Mildred Pierce (USA 2011, Regie: Todd Haynes).
A BBILDUNGEN Abbildungen 1-3: Filmstills aus der Mini-Serie Mildred Pierce (2011; Regie: Todd Haynes).
Weißer Schwan und schwarzer Schwan Intermediale Reflexionen zu einem Ballettmythos C HRISTINA T HURNER
»Wir alle kennen die Handlung. […] Schwanensee – ein alter Hut, ich weiß, aber nicht in der Art. […] Aber wer von euch kann beide Schwäne verkörpern – den weißen und den schwarzen Schwan?« Vincent Cassel alias Thomas Leroy, Direktor des New York City Ballet, macht hier gleich zu Beginn des Films Black Swan (USA 2010, Regie: Darren Aronofsky) einige Aussagen, die den ›Mythos Schwanensee‹ eigentlich schon prägnant umreißen: Er erzählt kurz den Plot von der im Körper eines weißen Schwans gefangenen Frau, die nur die wahre, reine Liebe erlösen kann, der jedoch das Böse in Gestalt eines schwarzen Schwans diese Aussicht auf Erlösung zerstört. Dann verweist Thomas auf die Historizität und die Geschichtsträchtigkeit des Balletts und auf dessen Potenzial, immer wieder aktualisiert zu werden1. Außerdem nennt er zuletzt das wesentliche Merkmal von Schwanensee: Der weiße und der schwarze Schwan – Odette und Odile – werden in der Regel von ein und derselben Tänzerin verkörpert. Ihre ungewöhnliche Doppelstruktur macht diese Rolle zu einem der anspruchsvollsten und gleichzeitig zu einem der begehrtesten Ballettparts seit dem Zeitpunkt der Uraufführung (Moskau 1877) und insbesondere seit der St. Petersburger Version des Stücks (1895) bis heute2. Die Ballerina muss zwei komplett verschiedene Charaktertypen beherrschen, während normalerweise eine Tänzerin jeweils nur einen ›Typ‹ verkörpert. Die
1
Vgl. zur Faszination des Schwanenmythos zur Zeit der Entstehung des Balletts auch
2
Auf die Geschichte des Balletts und die verschiedenen Versionen wird weiter unten
Cassel (1863). noch genauer eingegangen.
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Hauptrolle im Schwanensee umfasst lyrisches ebenso wie dämonisches Tanzen. Dazu schreiben Klaus Kieser und Katja Schneider in der 13. Auflage von Reclams Ballettführer: »Die Bewegungen von Odette, dem weißen Schwan, lassen sich als Ausdruck von Introvertiertheit, Verletzlichkeit sehen, während Odile, der schwarze Schwan, eine Verkörperung der verführerischen, rassigen Frau darstellt« (Kieser/Schneider 2002: 417). Die doppelte weibliche Hauptfigur ist also nicht nur tanztechnisch, sondern auch psychologisch gesehen ein besonders fordernder Part, da die Charaktergegensätze von Gut und Böse, rein und abgründig, kontrolliert und triebhaft, hell und dunkel oder eben Weiß und Schwarz als zwei Facetten einer Person/Figur erscheinen und damit eine bipolare Rolleninterpretation voraussetzen. Auf diesem Faktum fußt nun eigentlich auch der Stoff des eingangs erwähnten Hollywood-Films von Darren Aronofsky. Im Zentrum steht die technisch perfekte und gut aussehende Tänzerin Nina Sayers, gespielt von Natalie Portman. Nina hat nur einen Makel: Sie ist zu lyrisch, zu rein, zu kontrolliert. Deshalb soll und muss sie in Black Swan, um eben diesen tanzen zu können, zuerst ihre Libido aktivieren, Triebe erfahren und die dunklen Seiten ihrer Psyche anregen. Letzteres hilft ihr zwar für ihre Rolle, bekommt ihr als Person aber nicht gut: Die Bipolarität wächst sich bei Nina zur Persönlichkeitsspaltung mit krankhaften Folgen und tödlichen Auswirkungen aus. Zwar brilliert die Ballerina auf der Bühne nach dem im Wahn imaginierten Mord an ihrer dunklen Rivalin – einer anderen, als Konkurrentin eingeführten Tänzerin aus der Compagnie. Sie stirbt aber schließlich, weil sie nicht etwa jemand anderen, sondern sich selbst – die dunkle Seite ihres eigenen Ichs – tödlich verletzt hat. In der schauerlichen Schlussszene schminkt sich Portman als Nina einmal weiß und einmal schwarz; ihr Körper nimmt mittels aufwändiger filmischer Spezialeffekte animalische Formen an, um sich dann – weiß und perfekt – im gleißenden Licht aufzulösen. Black Swan war ein außerordentlicher Kinoerfolg. Dabei hat der Film das Publikum gespalten und vor allem in der Ballettwelt große Empörung ausgelöst (vgl. Brug 2011; Weickmann 2011). Seiner Hauptdarstellerin Natalie Portman hat er neben dem Oscar und dem Golden Globe Award mehrere Auszeichnungen eingetragen, obwohl sie nicht einmal alle Ballettsequenzen selbst getanzt hatte. Schwanensee, der »alte Hut«, ist offenbar – wie Ballettchef Thomas auf der Leinwand richtig vermutet – nach wie vor aktuell: Im Kino ist Black Swan keineswegs der einzige Film, der auf dem Ballettstoff basiert oder auf ihn referiert3. Aber auch auf der Bühne gibt es immer neue Interpretationen. In einer früheren
3
Auch darauf wird weiter unten noch eingegangen.
Weißer Schwan und schwarzer Schwan
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Auflage von Reclams Ballettführer wird Schwanensee gar als »das populärste Ballett überhaupt« bezeichnet: »Für viele ist es ein Synonym für Ballett geworden, indem ihnen bei der Nennung der Gattungsbezeichnungen zuerst einmal die ›weißen Schwäne‹ einfallen. Man kann fast schon von einem Archetyp sprechen. Wie tief tatsächlich das Trauma ›Schwanensee‹ geht, beweist die Werbung jeden Tag, die mit der ›Schwanenkönigin‹ auf oft recht geschmacklose Weise für Dinge wirbt, wie z.B. Eisschränke, die absolut nichts mehr mit Ballett zu tun haben.« (Regitz/Regner/Schneiders 1996: 553)
Auch wenn die Behauptung, wir seien täglich mit Schwanenseefiguren konfrontiert, wahrscheinlich übertrieben ist, so trifft sicherlich die Beobachtung zu, dass dieses Ballett wie kein anderes zum Mythos geworden ist. Im Folgenden soll deshalb der Mythos Schwanensee mit Fokus auf der bipolaren Hauptrolle diskutiert werden, und zwar in drei Schritten: erstens in Bezug auf die Geschichte (vor allem die Historie) des Balletts, zweitens anhand seiner Aktualisierungen auf der Bühne und drittens über intermediale Annäherungen im Medium Film.
G ESCHICHTE
DES
S CHWANENSEE -B ALLETTS
Auf die Gefahr hin, dass der eine oder die andere Leser/in die Historie dieses Ballettklassikers kennt, sollen doch zunächst einige wichtige Daten und Informationen genannt werden. Wie so oft im Ballett mit seiner spezifischen oralen oder genauer physischen Überlieferungstradition4, ist es nicht einfach, ein ›Original‹ oder eine ›Urfassung‹ zu bestimmen. Eine frühe Version, die verschiedentlich in der Forschung als Uraufführung von Schwanensee angegeben wird, ist die Fassung, die erstmals 1877 im Bolschoi-Theater in Moskau zu sehen war. Berühmter und der Referenzpunkt für viele Neu-Choreographien ist allerdings die St. Petersburger Version von 1895. Erstere – also die frühere Moskauer Fassung – wurde von Julius Wenzel Reisinger als Ballett in vier Akten choreographiert. Allerdings existiert bisher keine überlieferte Aufzeichnung, und auch das Libretto von Wladimir Begitschew und Wassili Gelzer gilt als verschollen. Die Librettisten sollen sich
4
Im Ballett werden die Rollen traditionsgemäß mündlich überliefert bzw. durch persönliche Einstudierung von einem/r Tänzer/in auf eine/n nächste/n übertragen, d.h. aus dem Körpergedächtnis des einen ›Rollenträgers‹ dem neuen übermittelt und einverleibt.
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auf ältere Quellen bezogen haben, vermutlich u.a. auf das Märchen Der geraubte Schleier aus Johann Karl August Musäus’ Sammlung Volksmärchen der Deutschen. »Reisinger […] hatte eine nach den Maßstäben der Zeit durchschnittlich erfolgreiche Choreographie geschaffen, die sich, mit kleinen Veränderungen, bis 1883 im Repertoire des Bolschoi-Theaters hielt« (Kieser/Schneider 2002: 415). Die Musik stammt von Peter Iljitsch Tschaikowski, der bereits 1875 mit der Komposition begonnen hatte, für den die Uraufführung jedoch eine der größten Enttäuschungen seines Lebens bedeuten sollte. Er fühlte sich und seine Musik komplett unverstanden, und führte dies darauf zurück, dass Reisinger ganze Teile und Melodien gestrichen sowie Umstellungen in der Reihenfolge der musikalischen Nummern vorgenommen hatte (vgl. ebd). Über Tschaikowskis Schwanensee-Komposition heißt es wiederum in Reclams Ballettführer, sie sei »nicht nur höchst theatralisch im Sinne einer Motivierung von Situationen, sondern auch treffend […], indem sie Charaktere […] zu zeichnen vermag, die glaubhaft sind, nicht nur, wenn sie gut oder böse, sondern auch dann, wenn sie zärtlich oder traurig sind, und die darüber hinaus wahr sind, obwohl oder gerade weil sie in einem Märchen auftreten« (Regitz/Regner/Schneiders 1996: 554). Was nun genau im Zitat mit »wahr« gemeint ist, sei dahingestellt, aber vermutlich liegt auch in der damit benannten Qualität der Musik ein Teil des Potenzials, das Ballett immer wieder neu zu interpretieren und damit zu aktualisieren. Konkreter: Die Hauptfiguren, die der Komponist mit Leitmotiven ausgestattet hat, sind offenbar nicht einfach starre Typen, sondern komplexere, vielstimmige und vielschichtigere Charaktere. Die Popularität von Schwanensee geht aber, wie schon bemerkt, nicht auf Wenzel Reisingers Kreation zurück, sondern auf die knapp zwanzig Jahre jüngere St. Petersburger Inszenierung von Marius Petipa und Lew Iwanow am Marientheater. Diese Version bildet den Ausgangspunkt der bis heute andauernden Aufführungstradition, die insbesondere die so genannten weißen Akte (II. und IV. Akt) als Inbegriff »klassischer Ballettkultur weitgehend original konservierte« (Kieser/Schneider 2002: 415). Der II. Akt war schon ein Jahr zuvor, 1894, aus Anlass von Tschaikowskis erstem Todestag bei einem Gedenkkonzert in der Choreographie von Lew Iwanow aufgeführt worden (vgl. ebd.: 416). Das Ballett von Petipa und Iwanow wartete mit einem revidierten Libretto auf. Als wesentliche Änderungen werden von Kieser und Schneider folgende genannt: »Odettes Schilderung, wie es zu ihrer Verzauberung gekommen sei, und ihre Erklärung, wie sie erlöst werden könne: Odette und die anderen Mädchen sind nun Opfer eines bösen Geistes, der bisweilen als Eule auftritt, und retten kann sie nur die Liebe eines Mannes, der nie zuvor geliebt hat« (ebd.). Auch der Schluss wurde modifiziert: Odette verzeiht dem Prinzen Siegfried, dass er
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sich vom schwarzen Schwan Odile hat täuschen lassen, und gemeinsam gehen sie ins Wasser, wodurch die Macht des Bösen zerstört wird. Produktionstechnisch teilten sich Petipa und Iwanow die choreographische Arbeit an den vier Bildern auf: Petipa choreographierte die ›Gesellschaftsbilder‹, Iwanow die ›Schwanenbilder‹. Erstere spiegeln Petipas charakteristisches und in zahlreichen Balletten erprobtes dichotomes Schema aus pantomimischen und getanzten Passagen. Er kreierte im III. Akt außerdem eine choreographische Steigerung von den verschiedenen Nationaltänzen der eintreffenden Prinzessinnen und potenziellen Bräute des Prinzen bis zum so genannten Schwarzen-SchwanPas-de-deux von Siegfried und Odile. Iwanow dagegen betonte das lyrische Element. Den Schwänen gab er relativ einfache Schrittfolgen mit weich schwingenden Armbewegungen bei leicht geneigtem Kopf, was das kinetische Verhalten der Tiere möglichst adäquat nachahmen sollte (vgl. ebd.: 416f.). Man könnte mit Gabriele Brandstetter »den Kontrast und die innere Spannung zwischen den weißen und den bunten Akten des Balletts auf den Gegensatz
Abbildungen 1 und 2: Polina Semionova als Odette (diese Seite) und Odile (nächste Seite) mit Vladimir Malakhov als Prinz Siegfried in der Schwanensee-Choreographie von Patrice Bart, Staatsballett Berlin
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von zwei jeweils charakteristischen Ballett-Figuren oder ›Pas‹ zurückführen und diese gleichsam als Metaphern für die ambivalente Grundstruktur von ›Schwanensee‹ begreifen: nämlich die Pose der ›Arabesque‹ einerseits und die Drehfigur des ›Fouetté‹ andererseits« (1995: 5-8). Insbesondere jene Szenen, in denen die Arabesque dominiert, und auf der anderen Seite die Ballszene mit den berühmten 32 Fouettés, mit denen Odile den Prinzen und das Publikum beeindruckt, zeigen, was im Ballett mit dem Kontrast zwischen lyrischem und virtuosem Tanz gemeint ist. Brandstetter schreibt im Programmheft der Schwanensee-Aufführung der Bayerischen Staatsoper München 1995: »Die berühmten 32 Fouettés – ein Prüfstein für jede Ballerina –, mit denen Odile in ihrer Variation im III. Akt brilliert, sind ein tänzerischer und dramaturgischer Höhepunkt kurz vor der tragischen Wende, die mit Siegfrieds Erkenntnis seiner Verblendung einsetzt« (1995: 8)5. Jene peitschenden, auf Spit-
5
Brandstetter beschreibt die Anekdote, wie es zu dieser Szene kam, nämlich »daß Pierina Legnani, die Primaballerina des kaiserlichen Balletts und Darstellerin der Odette/Odile in der Petersburger Aufführung von 1895, eine hervorragende Technik besaß. Sie soll damals die einzige Tänzerin gewesen [s]ein, die diese 32 Fouettés beherrschte, und das Publikum erwartete diese Glanznummer auch bei ihrem Auftritt in ›Schwanensee‹. Petipa berücksichtigte – wie es damals üblich war – den Wunsch seines Stars, Virtuosität im Ballett auszustellen. Über diesen aufführungspragmatischen
Weißer Schwan und schwarzer Schwan
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ze ausgeführten Pirouetten sind Ausdruck des Wesens von Odile, der dunkel geheimnisvollen Femme fatale, die in ihrer Virtuosität verführerisch, aber auch technisch kalt erscheinen soll. Dagegen verkörpert die Ballerina in Odette, der in den weißen Schwan verzauberten Prinzessin, das Idealbild der Femme fragile (vgl. ebd). Den Fouettés von Odile steht hierbei die Arabesque gegenüber, die als leitmotivische tänzerische Figur Odette charakterisiert und jene Position im Ballett ist, die maximales Gleichgewicht voraussetzt und Leichtigkeit bis zur Schwerelosigkeit symbolisiert (vgl. ebd.: 11). Brandstetter stellt weiter fest: »Dieses transzendente Bewegungsmuster der Arabesque, das die Freiheit vom Gewicht des Körpers, von der irdischen Last des Menschseins suggeriert, wird zuletzt zum Symbol des [weißen] Schwans […]. So verbindet sich im ›Schwanensee‹-Märchen von einer über den Tod hinausreichenden Liebe das mythische Bild des Schwans mit dem Inbegriff dessen, was das Ballett als Form darstellt: die Idee von der Überschreitung der Fesseln des Materiellen, die Metamorphose als Verwandlung der Gestalt. Der fortwirkende Zauber von ›Schwanensee‹ ist zuletzt der Mythos des Balletts selbst.« (Ebd.)
Schwanensee ist demnach das Ballett, das mit dessen narrativen und tanztechnischen Mitteln den ›Mythos Ballett‹ fest- und fortschreibt. Dies ist sicherlich auch der wichtigste Grund dafür, warum in Filmen, die im und mit dem Ballettmilieu spielen, so oft Schwanensee getanzt wird und – mehr noch – warum Schwanensee nicht nur stellvertretend für Ballettwerke, sondern auch für den BallettBetrieb steht, also etwa für die Konstitution der Ballerina, für die Praxis der Disziplinierung, für Verwandlung, unerfüllte Wünsche usw. Ehe diesbezüglich auf zwei Filmbeispiele genauer eingegangen wird, sollen zunächst einige Bemerkungen zu den verschiedenen Bühnenversionen vorausgeschickt sein.
A KTUALISIERUNGEN /I NTERPRETATIONEN : B ÜHNE Die Tanzzeitschrift ballettanz (seit 2010 heißt sie nur noch tanz) widmete ihr Jahrbuch 2009 dem Thema ›Klassik‹ und brachte zur Hefteröffnung – jeweils auf Doppelseiten – die bekanntesten Klassiker je mit Bild und kurzem Text. Der Aufmacher-Artikel galt wenig überraschend: Schwanensee (vgl. Fischer 2009: 8).
historischen Zusammenhang hinaus besitzen die 32 Fouettés freilich eine prinzipielle dramaturgische Funktion im Ballett ›Schwanensee‹« (1995: 8).
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Im Ballett ist die Pflege von Repertoire, also die Wieder- und Neuinszenierungen von Klassikern, gängige Praxis. Lange waren diese Werke einzig über die physische Tradierung von Tänzergeneration zu Tänzergeneration der Nachwelt zu erhalten. Man muss dementsprechend bei jeder ›Ballettklassiker‹-Aufführung fragen, in welchem Verhältnis die jeweilige Version zu anderen, historischen Versionen steht, ob es sich um eine (und wenn ja, was für eine) Rekonstruktion oder um eine Neuinszenierung handelt usw. Die Zahl und die Varietät der Neufassungen von Schwanensee ist bemerkenswert – im Folgenden eine unvollständige Liste (vgl. auch Kieser/Schneider 2002: 418f.): 1877 Wenzel Reisinger, Moskau 1895 Marius Petipa und Lew Iwanow, St. Petersburg 1901 Alexander Gorski, Moskau 1911 Michel Fokine, Ballets Russes, London 1922 George Gé, Helsinki 1934 Nikolai Sergejew, London 1946 Tatjana Gsovsky, Paris 1951 George Balanchine, New York 1960 Nicholas Beriozoff, Stuttgart 1963 John Cranko, Stuttgart 1964 Rudolf Nurejew, Wien 1969 Kenneth MacMillan, Berlin 1976 John Neumeier, Hamburg 1986 Heinz Spoerli, Basel 1987 Mats Ek, Umeå 1995 Matthew Bourne, London 2005 Heinz Spoerli, Zürich Im 20. Jahrhundert wurde die Handlung des Balletts zunehmend psychologisiert. Dies gilt auch über die Figur der Schwanenkönigin hinaus. So hat etwa John Neumeier in Illusionen – wie Schwanensee (1976) Bezüge zwischen der Figur des Siegfried und dem bayrischen König Ludwig II. hergestellt. Mats Ek zeigte 1987 Siegfried, der ja heiraten soll, tiefenpsychologisch als Prinzen mit Mutterkomplex und legte seiner Choreographie, wie bei Ek üblich, groteskes Bewegungsmaterial zugrunde (vgl. ebd.: 419). Eine der Aufsehen erregendsten Neuinterpretationen stammt von dem britischen Choreographen Matthew Bourne. Sein Swan Lake wurde 1995 im Londoner Theater Sadler’s Wells uraufgeführt und tourt seither durch die ganze Welt.
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Bournes Version fußt weitgehend auf der Schwanensee-Musik von Tschaikowski und hält sich auch in groben Zügen an die klassische Handlung. Die wichtigste und radikale Neuerung betrifft jedoch die Besetzung der Schwäne: Diese werden hier ausschließlich von Männern getanzt, und zwar nicht als Travestie – wie sie als satirische Version des II. (Iwanow-)Aktes etwa eine Bravournummer der ›Ballerinen‹-Drag-Queens von den Ballets Trockadero de Monte Carlo darstellt6 – sondern als männliche Schwäne, die den Prinzen mit homosexueller Neigung verführen. Auch bei Bourne hat der Prinz eine harte, distanzierte Mutter und findet erst in der Liebe zum weißen Schwan ›wahre‹ Zuneigung. Die schwarze Figur tritt als böser Gegenpart wie gewohnt auf dem Ball in Erscheinung. Der Prinz fühlt sich zu ihr ebenso erotisch hingezogen wie die Königin. Alles endet schließlich mit dem Tod des Prinzen, der von den schwarzen Schwänen zu Tode gehackt wird. Bournes Stück ist nicht frei von Klischees, allerdings ist dem Choreographen zugute zu halten, dass insbesondere in den Pas de deux zwischen dem Prinzen und dem weißen Schwan das Liebeswerben sehr lyrisch und bewegend zum Ausdruck kommt. Der Tänzer, der die Doppelrolle des weißen Schwans und des schwarzen Verführers in Bournes Schwanensee-Version als Erster und mit Abstand am erfolgreichsten verkörperte, war Adam Cooper. Ihm brachte diese Rolle in der Tanzwelt den Status eines Stars ein: Cooper avancierte durch Swan Lake zu einem der bekanntesten Tänzer Großbritanniens. Diesen Umstand wiederum belegt nicht zuletzt sein Gastauftritt als Schwan in einem anderen Medium: der britischen Film-Produktion Billy Elliot, die im Jahr 2000 in der Regie von Stephen Daldry in die Kinos kam und als dessen Spielfilmdebüt eine unerwartet große Popularität erreichte.
I NTERMEDIALE A NNÄHERUNGEN : F ILM Schwanensee spielt – darauf wurde bereits hingewiesen – in verschiedensten Filmen eine Rolle, die auf die eine oder andere Art das Ballett thematisieren. Besonders aussagekräftig im Hinblick auf eine intermediale Reflexion des Ballettmythos sind dabei gerade in der Verschiedenheit ihrer Herangehensweisen und filmischen Thematik die Adaptationen in Billy Elliot (UK 2000, Regie: Stephen Daldry) und Black Swan (USA 2010, Regie: Darren Aronofsky). In Billy Elliot – I will dance, wie der Film im englischsprachigen Original heißt, möchte ein Junge aus der Arbeiterklasse tanzen, was ihm jedoch wegen
6
Vgl. http://www.trockadero.org/swanlake.html (19.06.2013).
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verbreiteter Vorurteile gegenüber dem Ballett in seinem Umfeld, vor allem von seinem Vater untersagt wird. Dieser lässt sich nur mühsam vom offenkundigen Talent des Sohnes überzeugen, willigt aber schließlich in dessen Ballettausbildung ein. Mehr noch: Nun tut er alles Mögliche, um die Finanzierung von Billys Reise zur Aufnahmeprüfung an einer namhaften Schule zu sichern. Am Ende sitzt der Vater stolz im Publikum einer Aufführung seines Sohnes, der mittlerweile erwachsen und ein Star geworden ist. Die Referenzen zum Schwanensee sind in Billy Elliot zahlreich: Billys Ballettlehrerin hört im Auto die Musik von Tschaikowski; ihre Ballettsternchen proben in weißen Tutus Bewegungen aus dem Ballett. Das entscheidende Zitat – und zwar von Bournes und nicht etwa von Petipa/Iwanows Schwanensee – besteht aber aus der genannten Schlussszene. Billy, den zu bewundern sein Vater ins Theater gekommen ist, springt kraftvoll auf die Bühne. Der inzwischen erwachsene Protagonist wird gespielt von eben jenem Adam Cooper, der als Tänzer in Bournes originalem Swan Lake-Cast Furore gemacht hatte. In diesem Sprung und im Zusammenzug von der Leinwand- und der Bühnen-›Realität‹ erkennt der tanzinteressierte Betrachter (bzw. zu der Zeit, als Billy Elliot in die Kinos kam, mit Sicherheit ein Großteil des britischen Filmpublikums) anhand von Coopers Kostümierung, dass dieser auch als Billy seine Paraderolle verkörpert: den verführerischen Schwan in Swan Lake.
Abbildung 3: Adam Cooper als weißer Schwan in Matthew Bournes Swan Lake (li.) und als erwachsener Billy Elliot im Finale des Films Billy Elliot – I will dance (2000, re.)
Das Entscheidende ist die Kontextualisierung und Rahmung von Coopers alias Billys Auftritt. Wir sehen zunächst Billys Vater und Bruder das Theater betreten. Neben ihnen sitzt Michael, ein Jugendfreund Billys, der als Junge mit erwachenden homosexuellen Neigungen gezeigt wurde und jetzt offenkundig schwul ist. Der Vater weint beim Auftritt seines Sohnes vor Rührung.
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Dieses Ende ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Während in Billy Elliot auf der Figurenebene das Ballett generell mit Homosexualität konnotiert und von Billys familiärem Umfeld im Arbeitermilieu – sein Vater arbeitet im Bergbau – abgelehnt, ja geradezu verteufelt wird, ereignet sich mit der Schlussszene des Films sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Figurenebene eine m.E. überraschende Wende. Es ist nämlich nicht nur so, dass Billy seinen Vater auf der Bühne mit einer beliebigen virtuosen Ballettrolle beeindruckt, er tanzt vielmehr einerseits in dem Ballett überhaupt, in Schwanensee, er tanzt aber andererseits auch die am deutlichsten mit Homosexualität in Verbindung zu bringende Rolle einer Schwanensee-Fassung: Matthew Bournes Schwanenkönig. Deutet man die Tränen von Billys Vater als versöhnliche Tränen der Rührung, so hätte eine solche Versöhnung nicht nur mit dem Ballett als Berufsfeld und Institution stattgefunden, sondern auch mit dem wohl prominentesten Klischee, dem Männer im Tanzbereich immer wieder ausgesetzt sind: der Engführung von männlichem Tanz und Homosexualität. Damit würde der Film besagtes Klischee, indem er es indirekt aufgreift, bestätigen oder zumindest sehr prominent thematisieren, wobei offen bleibt, ob der Tänzer Billy, wenn er die Rolle des schwulen Schwans tanzt, selbst schwul ist. So oder so steht die Figur Billy auf der Handlungsebene für eine kindlich unschuldige Begeisterung für den Tanz. Ihre Inszenierung in der Schlussszene könnte man als eine Befragung des Gegensatzes von Gut und Böse als solches verstehen, der hier letztlich als eine Frage der Perspektive darstellt wird – im Hinblick auf den Tanz, vielleicht aber eher noch auf die Klischees von Tanz bzw. Ballett. In Darren Aronofskys Psychothriller Black Swan (USA 2010) wird, wie eingangs skizziert, das Verhältnis von Gut und Böse, von Weiß und Schwarz ebenfalls als ein komplexes verhandelt. Zwar gibt es auch hier plakative Momente, jedoch begegnet man keinen eindeutig ›guten‹ weißen oder eindeutig ›bösen‹ schwarzen Figuren. Die gegensätzlichen Farben werden dagegen auf mehrere Personen jeweils mit unterschiedlicher Deutlichkeit und Signifikanz verteilt, aber auch immer wieder umverteilt. So ist beispielsweise Ninas vermeintliche Gegenspielerin, die Tänzerin Lily (Mila Kunis), auffällig in dunkeln Farben dargestellt. Sie trägt oft Schwarz, leiht sogar Nina bei deren gemeinsamem Ausgang ein schwarzes Top; sie hat dunklere Haut und Augen, die mit schwarzer Schminke zusätzlich betont sind. Aber auch Ninas Mutter Erica Sayers (Barbara Hershey) ist vielfach schwarz gekleidet. Sie stellt eine, dem sprichwörtlichen Klischee der ›Ballettmutter‹ entsprechend, ihre Tochter überbehütende und -fördernde frustrierte ehemalige Ballerina dar, die wegen des Kindes ihre Karriere aufgegeben hat. Nina dagegen hat helle Haut, trägt meist helle Kleider in Weiß oder Rosa. In diesen Farben zeigt sich auch ihr Zimmer – das Zimmer
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eines Kindes vor jeglicher ›dunklen‹ und sexuellen Erfahrung. Doch auch Nina ist nicht so gut und rein, wie es scheint. Sie hat eine zerstörerische, ja selbstzerstörerische Veranlagung, die sich allmählich, zuerst über ihr auto-aggressives Kratzen, dann aber auch über gängige, mit dem Ballett in Verbindung gebrachte Masochismen zeigt: geschundene Füße, blutende Zehen, einen anorektischen und bulimischen Körper usw. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Vertreter des Ballettbetriebs sich empörten, als der Film in die Kinos kam. Schon seit den 1980er Jahren wird das Zerstörerische am Beruf der Ballerina v.a. von feministischer Seite thematisiert (vgl. z.B. Lorenz 1987). Zum Teil geschieht dies freilich zu Recht, zum Teil aber, insbesondere im Verhältnis zur Beurteilung anderer Berufe, die physisch ebenfalls hohe und extreme Anforderungen stellen, auf nicht besonders differenzierte Weise.
Abbildung 4: Natalie Portman als Tänzerin Nina Sayers in den Rollen als schwarzer (li.) und weißer Schwan (re.) in dem Film Black Swan (2010)
Das Besondere der Figurenzeichnung in Black Swan ist, wie das Zerstörerische bei Nina an die von ihr angestrebte perfekte Erfüllung der polaren Rolle des Schwans geknüpft wird. Nina trägt beide Seiten in sich, wobei die eine – die weiße, fragile, kindliche Seite – bisher dominierte und die dunkle unterdrückt war. Für die Verkörperung der Schwanen-Doppelrolle muss nun aber gerade Letztere hervorgekehrt werden, eine Bewegung, die tödlich endet. Die Ballerina löscht ihre dunkle Seite, damit aber auch sich selbst aus. Die Szene, in der Nina sich die Spiegelscherbe aus dem Leib zieht, die sie sich selbst hineingerammt hat, ist psychologisch sehr aufgeladen und erinnert an die Erzählung Die Tänzerin und der Leib von Alfred Döblin aus dem Jahr 1910 (vgl. Döblin 1910). Es geht bei Döblin ebenfalls um eine Tänzerin, die ihre Kontrollsucht über ihren Körper in die Krankheit und schließlich in den Tod, die Selbsttötung treibt. Ihre Persönlichkeit ist gespalten: Subjekt ist der Geist, der Wille der Tänzerin, Objekt ihr Leib. Während sie, also ihr Geist, den widerspenstigen Körper züchtigt, diszipliniert und bezwingt, kommt es zwischenzeitlich zu einer Umkehrung des Herrschafts- bzw. Subjekt-Objekt-Verhältnisses:
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Die Krankheit dreht die Rangordnung zwischen unterworfenem Körper und despotischem Geist oder Willen um – bis zum letzten ›Ausweg‹ der Tötung. Auch Nina tötet ihre Libido, um schließlich in Reinheit und Perfektion buchstäblich auf- und unterzugehen. Auch sie meint, eigentlich ihre Gegenspielerin, den schwarzen Schwan, beseitigt zu haben und muss im zerbrochenen Spiegel angesichts des zersplitterten ›Ichs‹ erkennen, dass sie sich selbst getroffen hat. Der schwarze und der weiße Schwan im Schwanensee sind – seit der St. Petersburger Aufführung – zwei Facetten einer Rolle, der Rolle im Ballett. Odette und Odile bilden eine polare Dualität. Dies wird balletttechnisch je in tänzerischen Ausdrucksformen umgesetzt, die höchste Anforderungen an das Gleichgewicht stellen, ob dies nun die Arabesken, die Fouettés oder andere getanzte ›Pas‹ sind. Diese Figuren sollen uns glaubhaft machen, dass hier zwar ein Gegensatz zwischen Weiß und Schwarz, Hell und Dunkel, Gut und Böse besteht, dass dieser aber ganz so einfach als Polarität im Sinne einer klaren Trennung nicht zu halten ist, wie ich anhand von Bühnenversionen des Schwanensee und exemplarischer filmischer Adaptationen bzw. Bezugnahmen zu zeigen versucht habe. Odette und Odile sind Gegenfiguren in einer Figur, die diese einerseits spalten, aber andererseits auch fibrös durchdringen. Damit ist dieses Ballettmotiv verschiedentlich interpretierbar und aktualisierbar. Es wird intermedial zum semantischen Ausgangspunkt sowie zur Metapher für diverse Reflexionen zur Polarität von Gut und Böse und auf diese Weise auch zu einer Heterotopie bipolarer Normen.
L ITERATUR Brandstetter, Gabriele, »Schwanensee: Zauber des Balletts«, in: Schwanensee, Programmheft der Bayerischen Staatsoper München, März 1995, S. 3-14. Brug, Manuel, »Aufreger des Jahres ›Pina‹ und ›Black Swan‹«, in: tanz Jahrbuch (2011), S. 126-129. Cassel, Paulus, Der Schwan in Sage und Leben. Eine Abhandlung, Berlin: Verlag Eduard Beck 1863. Döblin, Alfred, »Die Tänzerin und der Leib«, in: Gabriele Brandstetter (Hg.), Aufforderung zum Tanz. Geschichten und Gedichte. Stuttgart: Reclam 1993 (1920), S. 121-126. Fischer, Eva-Elisabeth, »Schwanensee«, in: ballettanz Jahrbuch 2009, S. 8. Kieser, Klaus/Schneider, Katja, Reclams Ballettführer, 13. Aufl., Stuttgart: Reclam 2002.
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Lorenz, Verna, PrimaBallerina. Der zerbrechliche Traum auf Spitzen, Frankfurt a.M.: Athenäum 1987. Regitz, Hartmut/Regner, Otto Friedrich/Schneiders, Heinz-Ludwig, Reclams Ballettführer, 12. Aufl., Stuttgart: Reclam 1996. Weickmann, Dorion, »Black swan«, in: tanz 1 (2011), S. 12-15.
F ILME Black Swan (USA 2010, Regie: Darren Aronofsky). Billy Elliot – I will dance (UK 2000, Regie: Stephen Daldry).
A BBILDUNGEN Abbildungen 1 und 2: Schwanensee, Choreographie von Patrice Bart, Staatsballett Berlin, © Enrico Nawrath. Abbildung 3: Swan Lake, Choreographie von Matthew Bourne (li.) und der Film Billy Elliot (2000), Filmstills. Abbildung 4: Black Swan (2010), Filmstills.
»Ein solches Tragisches gehört nur für Cannibalen.« Gerstenbergs Ugolino als Skandalon im Theaterdiskurs des 18. Jahrhunderts S EBASTIAN T REYZ Il n’y a pas de grand théâtre sans théâtralité dévorante [...]. ROLAND BARTHES
D AS
TRAGISCHE
S CHAU -S PIEL
EINER
V ERHUNGERUNG
»Selbst Verhungern zu milde! Verhungern sehn! […] Das ist das große Gericht!« (Gerstenberg 2005: 40). In diesem Klageruf des mit seinen Söhnen in einen Turmkerker eingesperrten Grafen erreicht die Katastrophe von Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Tragödie ihren gleichermaßen tragischen wie metatheatralen Höhepunkt. Nicht nur zum Erdulden der eigenen Qualen verdammt, sondern zur Mitleidenschaft verurteilt, erkennt Ugolino im gebrechlichen Antlitz seiner Söhne den »fürchterlichsten Tod«, den er als »Vater und Mensch« (ebd.: 44) ertragen muss. Keine maliziöse Folter hat sich sein »Erzfeind« für ihn ersonnen: Am »eignen Fleische leiden: eine Kleinigkeit! Ich soll mit meinen Kindern langsam sterben, eine volle Weide an eurer Marter nehmen und dann fallen« (ebd.: 38). Mit außergewöhnlicher Insistenz verweist Ugolino auf seine verheerende Bürde der Augenzeugenschaft: »Kann ich den Hülflosen sehn, den ich nicht zu retten weiß? […] Nirgend ein Winkel, der mir nicht einen Gegenstand des Grauens darbeut. Soweit die Schöpfung reicht ist kein Ort,
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von dem der Erschaffende seinen Blick abwandte als der Ort der ewigen Finsternis und dieser!« (Ebd.: 60)
Die Verweise auf die verhängnisvolle Kopräsenz und Spektralität des Leidens fungieren allerdings nicht nur auf der internen Kommunikationsebene als atmosphärische Strategien, welche die Tortur der Internierung beglaubigen (vgl. Schmidt 1979: 177f.) und den Rezipienten von der morbiden Drastik des Familiendesasters durch eine »Sichtbarmachung der Affekte« (Siegrist 2001: 149) überzeugen sollen. Als Prospektfiguren eröffnen sie vielmehr das entsetzliche visuelle Dispositiv des theatralen Schau-Spiels selbst: Der Blick des Zuschauers spiegelt sich in der Agonie jener »gebrochnen weißschimmernden Augen« (Gerstenberg 2005: 62) und avanciert zum eigentlichen Referenzpunkt des Tragischen. Bezieht man jene Passagen, – die das bedrückende Moment der Schau angesichts der unabwendbaren Schmerzen des Anderen betonen1, – auf ihre implizite Theatralität, entfaltet ihre Anschaulichkeit eine repulsive Dynamik: Das aisthetische Vergnügen des Zuschauens wird auf der Bühne in eine mise en abyme der Grausamkeit verkehrt, die den Beobachter im Parterre in Form einer abgründigen Schwellenerfahrung entsetzt. Diese unterscheidet sich von einem Entsetzen, das im Barockdrama noch als abschreckende Schocktherapie angesichts von Gräuelszenen glorifiziert worden war, welche die Zuschauer in viri perculsi (vgl. Fischer-Lichte 2012) verwandeln sollte, da »diese Welt […] ein Kerker und dieses Leben […] eine stete Folter« seien (Gryphius 2007: 88). Um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatten die Theaterreformer ihr erzieherisches Augenmerk bereits auf eine andere Dimension der Schaubühne gelegt, die sich als emotional thrill beschreiben lässt: Der affektive Selbstbezug des Einzelnen sollte als Katalysator einer auf reziproke Anteilnahme ausgerichteten Erprobung von Gemeinschaftlichkeit dienen, um die Individuen zu sympathiefähigen Subjekten auszubilden. Auf der Basis einer neuen Anthropologie zielten folglich auch die zeitgenössischen Dramenpoetiken auf eine mediendidaktisch sublimierte Funktionalisierung der menschlichen Leidensfähigkeit: Kollektiv erlebte Rühremphase und ansteckende Tränenseligkeit sollten garantieren, dass der während des Theaterbesuchs freigesetzte »verdrüßliche[] Schmerz« zur »volle[n] Empfindung der Menschlichkeit« (Gellert 2007: 125) hinführe. Gegen die unkontrollierte Zirkulation der Leidenschaften als perturbationes animi entwickelten die sensualistischen Poetiken ein fein gesponnenes movere-Programm, das
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Christoph Steier bemerkt treffend: »In der Rede der Figuren, die stets eine Rede von Zuschauern an Zuschauer ist, scheint schon geleistet, ›vor-gemacht‹, was das Publikum als Zuschauer zweiter Ordnung erst noch zu leisten hätte« (Steier 2011: 324; 331).
Gerstenbergs Ugolino als Skandalon
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auf eine rigide Lenkung der Zuschaueraffekte getrimmt war. Diese im Falle des Trauerspiels vorzugsweise anhand von mitleiderregenden Sterbeszenen (vgl. Matt 1994; Meyer-Kalkus 1998) hypostasierte Empfindungsfähigkeit von Figuren, Schauspielern und Theaterbesuchern gerät in Gerstenbergs Ugolino allerdings aus ihren medienpolitischen Fugen, da das in ihm »gegründete ʌĮșȠȢ« (Gerstenberg 1987: 517) das ethisch-ästhetische Regime probater Leidenstoleranz durchkreuzt. Für das Theater der Aufklärung erschien das »kühne[] Unternehmen«, die Hungerturm-Episode aus Dantes Divina Commedia »in ein Drama zu bringen« (Jacobi 1768: 600), gerade aus diesem Grund als Skandalon, dessen Sprengkraft sich Gerstenberg durchaus bewusst war, da doch »die meisten Leser und mehr noch die Zuschauer, eine gewaltige Disproportion zwischen dem Verbrechen und dem Leiden finden« werden (Gerstenberg 1987: 518). Es wäre sicherlich übertrieben, wollte man die Ugolino-Kontroverse um die Mitte des 18. Jahrhunderts, an der sich zahlreiche Schriftsteller beteiligten (vgl. Friederich 1950: 358-384), mit der kunsttheoretischen Brisanz des LaokoonParadigmas vergleichen (vgl. Gustafson 1999; Meyer-Kalkus 1995). Dennoch entfaltet Gerstenbergs Tragödie ihre Renitenz insbesondere vor dem diskursiven Hintergrund dieser Debatten, die in Form von Lessings Abhandlung wohl auch die Niederschrift des Stücks motiviert haben dürften (vgl. Yates 1951: 103; Zelle 1987: 407). Das Drama provoziert – gleichsam als der kleinere Bruder Laokoons – die Frage, inwiefern das Leiden der menschlichen Kreatur durch die künstlerische Form mediatisiert werden kann, darf und soll; genauer jedoch, ob die »bittre[n] Thränen« und der »Schauder« zu »Hauptempfindungen« (Herder 1770: 9) eines Trauerspiels taugen dürfen, das die theatralische Sendung der auf Einfühlungsvermögen ausgerichteten Erziehung des Menschengeschlechts desavouiert. Anhand der Extremsituation im Turmkerker zeichnet Gerstenberg ein »kühne[s] […] Bild des idealischen und animalischen Lebens« (Gerstenberg 1890: 112), das dem Impetus einer integrativen Gefühlskultur und temperierten Affektökonomie im Theater widerspricht.
S CHMERZVOLLE B LICK -R EPULSIONEN Schon der erste Vers dimensioniert die Verbindung von Anteilnahme und Sichtbarkeit im Verweis auf die hilflose Beobachtung von physiognomischen Leidenszeichen und deutet somit implizit auf die Position des Zuschauers hin. Der 13-jährige Anselmo vermag das »eingefallene bleiche Gesicht« seines jüngeren Bruders »nicht ohne Schmerz« anzusehen: »Hilf dem armen Gaddo, mein Vater! Sein Anblick dringt mir ans Herz« (Gerstenberg 2005: 7). Kurz darauf verkehrt
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sich das fürsorgliche Mitgefühl, wenn nun Gaddo seinem Bruder zuruft: »Erblasse nicht so, Anselmo! Du erschreckst mich nur mehr« (ebd.:12). Die von den Figuren praktizierte »mimische Lektüre« (Košenina 1995: 192) wird mit der fortschreitenden Erschöpfung ihrer Physis zunehmend erschwert, da »die Referenzlosigkeit und Totalität des körperlichen Schmerzes [auch] die selbst-redende Rhetorik des Körpers« (Alefeld 2002: 65) ruiniert. Den Höhepunkt dieser Selbstund Weltentfremdung gestaltet Gerstenberg bereits während der Turmverriegelung, in der das nonverbale Repertoire zärtlicher Interaktionsformen durch eine visuelle Repulsion konterkariert wird: Die düstere Atmosphäre des »schreckenvollen Stillschweigen[s]« (Gerstenberg 2005: 45) wird durch die szenische Ausgestaltung einer horrenden eloquentia corporis untermalt, und das »unbewegliche Auge« des Vaters lässt die von den Regiebemerkungen2 markierten Annäherungsversuche des Sohnes ins Leere laufen: »Sieh unsern Vater. Erstarrt? Versteinert? Bleich war sein Antlitz, unsers Vaters; aber sieh, Francesco, itzt ist’s schrecklich. Weh mir! Ihm ins rote, ins unbewegliche Auge zu sehn, schaudert mich! Ach mein Vater! (Küßt seine Hand) Und auch du, Francesco? Du schweigst? Seufzest? Auch du, Francesco? Und schluchzest? Mein Vater (küßt seine Hand noch einmal, sieht auf und erschrickt). Auf dich wirft er einen schnellzurückgezognen Blick, und auf mich, und auf Gaddo! Blut strömt vom gewaltigen Biß seiner Lippen! Seine Gesichtsmuskeln stehn aufwärts gedrängt und starr! Mein Vater (wirft sich ihm zu Füßen).« (Ebd.)
Hatten die Kinder anfangs noch die »belebende Kraft« und die wohlwollenden Regungen ihres Familienoberhauptes als lesbare Gesichtszüge beschworen – »Unser Vater ist wunderbar bewegt. Wie er mir die Hand drückt! […] Er wendet sich zu uns. Holdseliger Vater! Wie er uns anlächelt!« (ebd.: 12) –, so verzerrt sich Ugolinos Mienenspiel nun vollends zur zornigen Grimasse, die für seine Söhne wie für den Zuschauer zum grotesken Signum der Barbarei arriviert und dem Modell der sympathetischen Seelenkommunikation einen Schock erteilt: ein »entstellte[s] Antlitz« (ebd.: 63), am Ende selbst »angestarrt von jenen weitoffnen Augen [seiner] Erschlagenen« (ebd.: 65). Auch in der Anthropophagie-Szene wird die theatrale Emergenz des grausamen Spektakels anhand der Reaktion Ugolinos deutlich: Als Anselmo sich an-
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Wie Anke Detken in ihrer Analyse des Dramas betont, werden diese Indikatoren des Grausamen durch eine in den Regiebemerkungen explizierte Strategie der Dämpfung ergänzt, die vornehmlich für den Leser eine textimmanente Distanzierung bewirkt (Detken 2009: 204; 226).
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schickt, den Leichnam seiner eigenen Mutter anzunagen, perhorresziert sein Vater ihn zunächst als ein widerliches »Gräuel meiner Augen« (ebd.: 59) und evoziert sodann antike und alttestamentarische Strafszenarien, um sich von der Bürde des Zuschauens zu entlasten: »Was hab ich nicht erlitten! Könnt’ ich, wie das morgenländische Weib, eine Marmorsäule dastehn, so wollt’ ich zurückschaun! […] Daß ich mit Blindheit geschlagen wäre! Mein Auge nichts sähe! […] Sind alle Leiden der Erde in eine einzige Stunde zusammengedrängt?« (Ebd.: 59-61)
Während die Protagonisten durch die Evokation von ikonischen Leidensfigurationen (vgl. Schmidt 1979: 177; Port 2005: 154) versuchen, das factum brutum ihrer Schmerzen durch den Vergleich mit tradierten Archetypen objektivierbar zu machen, gewinnen Ugolinos Ausrufe hier eine metatheatrale Dimension: Als sublime lectio spectatoris fordern sie die Autarkie des beobachteten Spielgeschehens heraus und amalgamieren die hoffnungslose Figurenperspektive mit dem Wahrnehmungsmodus des erschütterten Rezipienten. Im Blick auf die Katastrophe zerbricht die schützende vierte Wand des »abscheulichen Turmkerker[s]« (Gerstenberg 2005: 19). Und im sich wiederholenden Pathos der »gelben Blicke« (ebd.: 63) auf den unerträglichen Tod, in der visuellen Tortur und Torsion, »[v]erhungern [zu] sehn«, verkehrt sich der Theatersaal zu einem »Wohnhaus des Schreckens« (ebd.: 43), dessen Insassen und Besucher beide als Zuschauer »ein wenig stärker als bloß zum Amüsement leiden« sollen (Gerstenberg 1987: 516).
R EZEPTIONSZEUGNISSE Angesichts solcher Verweise im Stück auf die Marter der Zeugenschaft scheint es kaum verwunderlich, dass bereits Gerstenbergs Zeitgenossen die Aufführbarkeit seiner Tragödie gerade im Hinblick auf ihr prekäres Empathie-Potential skeptisch beurteilten: »Besteht das Bewunderungswürdige eines tragischen Originals darinnen, daß es nie aufgeführt werden kann? O so ist Ugolino ein Meisterstück!« (Schmid 1769: 352) Um die in diesem ironischen Kommentar verhüllte Kritik zu illustrieren, sollen im Folgenden einige Rezeptionsdokumente auszugsweise zu Wort kommen. Dabei zeigt sich, dass sie den Aspekt der Gattungsdifferenz zwischen Dantes Erzählung und Gerstenbergs Drama mit einer rezeptionsästhetischen Argumentation verknüpfen, die den Affektkatalog bühnentauglicher Trauerspiele im Rekurs auf eine moralische Wirkungsdidaxe limitiert.
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Interessanterweise hatte bereits Johann Jakob Bodmer einige Jahre vor der Niederschrift der Tragödie die abscheuliche Wirkungskraft einer szenischen Bearbeitung der Ugolino-Episode aus Dantes Divina Commedia antizipiert: »Was für Abscheu würde die Ansichtigung der Verhungerung des Grafen Ugolino und seiner Söhne in dem Gefängniß zu Pisa bey uns verursachen, statt daß die natürliche Beschreibung derselben in Dantes Gedichte von der Höllen […] etwas angenehmes für uns [hat]?« (Bodmer 1941: 30)
In seiner Gegenüberstellung der Abscheu erregenden Visualisierung und der angenehmen Erzählkunst orientiert sich Bodmer am mimesistheoretischen Paradigma einer Schmerzenslust (vgl. Zelle 1990), die sich weniger an den destabilisierenden Effekten des schrecklichen Sujets als vielmehr am Geschmacksurteil über die gelungene Darstellung desselben entzündet. Entsprechend wies Bodmer bereits in seinem Brief-Wechsel (1736) darauf hin, dass die dem Ugolino-Stoff eigene »Grausamkeit« nur in ein »hohes Ergetzen« und »Wohlgefallen« transformiert werden könne, wenn der Rezipient sich auf die Kunstfertigkeit der poetischen Nachahmung konzentriert: Allein die »Betrachtung der Kunst […] tröstet« und lässt die Bekümmerung und Verdrießlichkeit »in die Luft zerstiebe[n]« (Bodmer 1736: 87). Während Bodmer im Rahmen seiner intellektualistischen Ästhetik gerade auf die Erkenntnis des »künstlichen Betrugs« (ebd.) besonderen Wert legt, argumentieren die zeitgenössischen Rezensionen von Gerstenbergs Tragödie anders: Sie sehen die überschrittene Leidenstoleranz auf Seiten der Zuschauer gerade als das Hauptdilemma eines Trauerspiels an, das »nur […] Cannibalen« (Jacobi 1768: 618) begeistern könne. Schon der in der Hallischen Zeitung kurz nach der Veröffentlichung des Stücks getätigte »hämische[] Angrif« (Daunicht 1971: 265) eines anonymen Rezensenten erhitzt seine Polemik an der Überschreitung von Anstandsgrenzen. Man werde das Stück »nicht ohne Schaudern […] lesen« können: »Lesen sagen wir, aber nicht sehen; denn nach dem Begriffe, den uns die Bekanntschaft mit dem Theater verschaft hat, möchte diese Tragödie auf der Bühne sich wohl kein Glück zu versprechen haben. Schon das Subject hat mehr Eckel und Schrecken, als Mitleid. […] Welcher Zuschauer wird es aushalten, diese hungernden vier Personen in unveränderter Situation bis ans Ende […] zu sehen?« (Anonymus 1768: 707)
In der finalen Partie steige »das Entsetzen und Schrecken […] so hoch, daß es schlechterdings die Illusion verdrängt. […] Man stelle sich hier die Vorstellung auf der Bühne vor, wie wird dem Zuschauer dabey werden?« (ebd.: 708f.) Hatte
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Bodmer die Aufdeckung der Illusion noch als heilsamen Umschlagspunkt vom Schrecken zum Vergnügen begriffen, so bemängelt der Autor dieser Rezension gerade die vom Exzess des Leidens ausgehende, desillusionierend wirkende Überschreitung des Dezenzgebotes. Johann Georg Jacobi bringt in seiner in der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften erschienenen Besprechung den Kontrast zu Dantes Divina Commedia in die Diskussion ein: »Die kurzen Reden, das tagelange Stillschweigen, die stumme Beredsamkeit des Vaters, der den Kindern ins Gesicht sieht, sich die Hände zernagt: wo blieb alles dieses in der theatralischen Vorstellung?« (Jacobi 1768: 600). Am Ende fällt auch sein Urteil über Gerstenbergs Tragödie gerade im Hinblick auf den beim Publikum freigesetzten Gefühlstumult negativ aus: »Immer heftiger werden die Situationen, und die Seele des Zuschauers wird von neuem angegriffen, wenn sie auf dem höchsten Grade des Entsetzens zu seyn glaubt, und […] kaum noch etwas Neues erwartet. […] Hier aber fiengen wir auch an zu zweifeln, ob das Stück auf unserm Theater einer Vorstellung fähig sey? […] Heißt dieses nicht das Entsetzliche zu weit treiben? Hier empört sich die Menschlichkeit.« (Ebd.: 610f.; 615)
Die von Jacobi unternommene Dantereplik wird auch von Christian Heinrich Schmid zur Abwertung des Stücks eingesetzt, dem er eine nahezu monströse Genremutation unterstellt: »Bloß das Verlangen gräßlich zu seyn, konnte Gerstenbergen bewegen den Ugolino zum Stof eines Trauerspiels zu wählen. […] So eine gräßliche Erzählung so gedehnt, ist unausstehlich eckelhaft. Aus der kleinen Episode ist eine lange dialogisierte episch poetisch prosaische Erzählung geworden, die dem Zuschauer alles zu sehr ausmalt, ihn nichts hinzudenken läßt. […] Die Personen solchen Hungers sterben zu sehen, welcher Anblick! […] Das Theater ist kein Tollhaus.« (Schmid 1769: 355f.)
Die von den Rezensionen geäußerte Skepsis an der Aufführbarkeit speist sich aus einer Verknüpfung der gattungsspezifischen Argumentation mit der geschmacklichen Überforderung des Rezipienten. Die Kritik wird folglich von einer normativen Kontrastierung der gattungsäquivalenten Repräsentationstabus legitimiert: Während Dante das maßlose Leid Ugolinos durch die Lakonie seiner Erzählung komprimiere und so jegliche emotive Infektion verhindere, könne eine Bühnenversion des Dramas qua ihrer scheinbaren Unmittelbarkeit des VorAugen-Stellens (vgl. Hölter 2002: 94f.) nur Ekel und Entsetzen hervorrufen. Der
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immer wiederkehrende Verweis auf Dantes Urtext instrumentalisiert die epische Darstellungsform, um das Bestialische des Sujets von der Bühne zu verbannen.
D IE P ROVOKATION
DER
M ITLEIDSDRAMATURGIE
Gerstenberg übersandte die erste Fassung seiner Tragödie im Sommer 1767 an Lessing und bat ihn in einem verschollenen Brief, das Manuskript durchzusehen. Doch erst, als im Februar des nächsten Jahres ein weiteres Schreiben Gerstenbergs bei Lessing eintraf, antwortete dieser auf das Gesuch des jüngeren Autors, sein Drama zu kommentieren. Das Schauspiel habe ihn, bekennt Lessing, »auf eine so angenehme Art überrascht, daß es mir damit gegangen wie dem Kinde, dem man unverhofft ein Geschenk macht, nach welchem es sich längst gesehnet; vor lauter Freuden vergißt es, sich dafür zu bedanken« (Lessing 1987: 504). Die Rhetorik kollegialer Wertschätzung wird allerdings von einigen Wendungen ergänzt, die auf eine intensive Auseinandersetzung mit der Tragödie schließen lassen: »Ich fand gleich auf Ihren ersten Brief so viel zu antworten, und über Dinge, die mir nicht gleichgültig sind, daß ich mir Zeit dazu nehmen mußte« (ebd.). Gerstenberg habe sich »ein Sujet gewählet, dessen Contextur sich aller dramatischen Form zu verweigern scheint: aber es hat müssen werden, was Sie gewollt haben. Sie haben Schwierigkeiten überstiegen, die mich zur Verzweiflung gebracht hätten. Der körperliche Schmerz ist unstreitig unter allen Leiden am schwersten zu behandeln: und Sie haben die schrecklichste Art desselben mit so großer Wahrheit, und mit so mannigfaltiger Wahrheit behandelt, daß meine Rührung mehr als einmal durch das Erstaunen über die Kunst unterbrochen worden.« (Ebd.)
Die »Schwierigkeiten«, von denen Lessing hier spricht, hatte er selbst bekanntermaßen im Laokoon eingehend reflektiert. So war dort die Behandlung des körperlichen Schmerzes bereits mit dem Darstellungsproblem des Hungerleidens als »schrecklichste[r] Art desselben« in Verbindung gebracht worden: Es gäbe »eine Art von Schrecklichem […], zu dem der Weg dem Dichter fast einzig und allein durch das Ekelhafte offen stehet. Es ist das Schreckliche des Hungers« (Lessing 2007: 178). Da der »Anblick eines Hungrigen« die Hungerqualen nur über den Umweg der »unnahrhaften, ungesunden und besonders ekeln Dinge« nachvollziehbar machen könne, bereite schon Dante die »Verhungerung des Ugolino« durch dessen »ekelhafteste, gräßlichste Stellung […] in der Höllen« vor (ebd.: 180). Dieses »Ekelhafte« körperlicher Leiden dürfe jedoch, »da seine
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unangenehme Wirkung [auch in der Nachahmung] die heftigere ist, […] noch weniger als das Häßliche an und vor sich selbst ein Gegenstand weder der Poesie, noch der Malerei werden« (ebd.: 174f.), sondern nur als funktionales »Ingrediens« des »Schrecklichen« oder »Lächerlichen« (ebd.: 165; 171) verwendet werden: Da die »Empfindungen des Eckels« – wie Moses Mendelsohn in seinem 82. Literaturbrief dargelegt hatte – »allezeit Natur, niemals Nachahmung« (Mendelsohn 1991: 132) sind, lassen sie jegliche illudierende Sublimierung über das Als-Ob der Kunst kollabieren (vgl. Menninghaus 2010: 145f.; Zelle 1987: 381-395). Auf diesen Aspekt war Lessing bereits im vierten Abschnitt seiner Abhandlung zu sprechen gekommen: Während in der erzählenden Dichtung das Exzessive körperlicher Leiden durch das »Vorhergehende so vorbereitet, oder […] durch das Folgende so gemildert und vergütet [werde], daß er seinen einzeln Eindruck verlieret, und in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt tut« (Lessing 2007: 36), müsse das Drama, »welches für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt ist« (ebd.), besondere Vorsicht walten lassen, um die »Augen und Ohren« der Zuschauer nicht durch die »höchste Staffel« eines Schmerzensaffekts (ebd.: 32) zu beleidigen. Da die Schaubühne die vom Akteur verkörperten Leidenschaften als natürliche Zeichen inszeniert, seien alle dramaturgischen und schauspielerischen Energien aufzuwenden, um die bedrängende Gegenwärtigkeit des Ekelhaften, seine »flagrante Hyperrealität« (Wellbery 1994: 193) zu depotenzieren. Die phänomenale »sichtbare Hülle« (Lessing 2007: 35) des Schauspielers und die von ihm gemimten Leidenschaften dürfen nur insofern wahrgenommen werden, als sie die eindeutig tugendhafte oder lasterhafte Charakterdisposition der Rollenfigur repräsentieren. In seiner kruden Gestalt gilt der leidende Körper als Tabu, da die vollkommene Illusion durch seine hybride Sinn(en)fälligkeit verdrängt (vgl. Koppenfels 2002: 126) und das Mitleid des Zuschauers mit der leidenden Figur torpediert wird: »Was wir [in der Erzählung] nur hören, daß es geschehen sei, sehen wir hier wirklich geschehen; woran wir dort noch zweifeln können, davon überzeugt uns unser eigener Sinn hier zu unwidersprechlich; bei der bloßen Möglichkeit ergötzte uns das Sinnreiche der Tat, bei ihrer Wirklichkeit sehen wir bloß ihre Schwärze; der Einfall vergnügte unsern Witz, aber die Ausführung des Einfalls empört unsere ganze Empfindlichkeit.« (Lessing 2010: 359)
Die Grässlichkeit des Ekelhaften wirkt nur dann »nicht ganz unangenehm«, fährt Lessing im Laokoon fort, »wenn unser Mitleid dabei interessiert wird« (Lessing 2007: 178). Im eigentlichen Sinne interessiert wird das Mitleid des Zuschauers
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aber nur, wenn er die »entstellende Heftigkeit« (ebd.: 32) der körperlichen Schmerzen auf die Tragik der figuralen Leiden als solcher beziehen kann: »Zudem ist der körperliche Schmerz überhaupt des Mitleidens nicht fähig […]. Unsere Einbildung kann zu wenig in ihm unterscheiden, als daß die bloße Erblickung desselben etwas von einem gleichmäßigen Gefühl in uns hervor zu bringen vermöchte« (ebd.: 36f.). War im Anschluss an Aristoteles der dramatischen Form noch der Vorzug erteilt worden, durch ein »anwesendes Übel [in] gegenwärtiger Anschauung« (Lessing 2010: 568) das Mitleid verstärken zu können, so scheint diese Gegenwärtigkeit und Anschaulichkeit für Lessing in Anbetracht von Gerstenbergs Ugolino eine gefährliche Dynamik zu entwickeln. Der am Anfang seines Briefes produktionsästhetisch fundierte »Lobspruch«, seine »Rührung [wäre] mehr als einmal durch das Erstaunen über die Kunst unterbrochen worden«, verkehrt sich folglich nicht ganz unbegründet in sein Gegenteil, und zwar in einer rezeptionsästhetisch fundierten »Anmerkung«, die »aus einem Gefühle entstanden, daß ich mich bei keiner Tragödie gehabt zu haben erinnerte, als bei dem Ugolino«: »Mein Mitleid ist mir zur Last geworden: oder vielmehr, mein Mitleid hörte auf Mitleid zu sein, und ward zu einer gänzlich schmerzhaften Empfindung« (Lessing 1987: 505). In diesem Aperçu schlägt sich mehr als die individuelle Transformation eines subjektiven Eindrucks nieder: Es artikuliert die von Gerstenbergs Tragödie ausgehende Bedrohung des rezeptionsästhetischen Mitleidskalküls als einer aus Lust und Unlust gemischten Empfindung. Wie Lessing, im Anschluss an Mendelsohn, eingehender in der Hamburgischen Dramaturgie differenziert, kann die Anteilnahme am tragischen Unglück der Figuren nur erfolgen, wenn sie »aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist« (Lessing 2010: 554). Entscheidend ist hier jedoch die Art und Weise der Zusammensetzung, wie Lessing schon im Briefwechsel anhand der Leidensgeschichte eines hungernden Bettlers demonstrierte: Nur wenn das Gleichgewicht von Unglück und Verdienst gewahrt bleibt, wird das »weinende Mitleid« (Lessing 1972: 68) freigesetzt. Andernfalls schlägt die Anteilnahme in »Beklemmung« um – was Lessing durch ein Szenario beschreibt, das Ugolinos Schicksal ähnelt: Der Bettler »wird überall schimpflich abgewiesen; unterdessen geräth er in Wuth; er ermordet seine Frau, seine Kinder und sich. – Weinen Sie noch? – Hier erstickt der Schmerz die Thränen […]« (ebd.). Vor dem diskursiven Hintergrund dieser Analogstellen scheint es nun kaum mehr verwunderlich, dass Lessing an Gerstenbergs Stück sowohl das von der Handlungsarmut verfehlte Identifikationspotential als auch die Aufhebung des kausalen Schuld-Sühne-Zusammenhangs bemängelt. Die fatale Omnipräsenz des
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Leidens und das unmotivierte qualvolle Moratorium vertiefen die Kluft zwischen der Anteilnahme des Zuschauers und dem Unglück der Figuren. So mokiert sich Lessing in seinem Antwortschreiben: »Ihre Personen leiden alle. […] doch gar nicht in Proportion ihrer Schuld, ihres ȐȝĮȡIJȘȝĮ, welches völlig außer dem Stücke ist, und von dem wir fast nichts erfahren« (Lessing 1987: 505). Insbesondere die Qualen der kindlichen Protagonisten seien durch das Schicksal des Vaters keineswegs zureichend begründet: »Kinder müssten die Schuld ihres Vaters nie mit tragen« (ebd.)3. Auch wenn man geteilter Meinung sein kann, ob Lessing das zwischen extravaganter Vaterfixierung und brüderlichem Konkurrenzdrang changierende Psychodrama in Ugolinos Familie nicht unterschätzt4, bringt er kurz drauf ein folgenreiches Argument ins Spiel, das den »Unterschied der Gattung« für die Disproportion von Schuld und Leiden verantwortlich macht: »Bei dem Dante hören wir die Geschichte als ›geschehen‹: bei ihnen sehn wir sie als ›geschehend‹. Es ist ganz etwas andres, ob ich das Schreckliche hinter mir, oder vor mir erblicke. Ganz etwas anders, ob ich höre, durch dieses Elend kam der Held hindurch, das überstand er: oder ob ich sehe, durch dieses soll er hindurch, dieses soll er überstehen. Der Unterschied der Gattung macht hier alles.« (Ebd.: 505)
Im doppelten Rekurs auf die divergente Erwartungshaltung des Rezipienten und auf die temporale Struktur des Darstellungsmediums wird dieser Einwand in der nachfolgenden Briefpassage weiter differenziert: Die vom Zuschauer gehegte »Hoffnung«, Ugolino von seinem Leiden erlöst zu sehen, gerate »mit der Gewißheit, die wir, ich will nicht sagen aus der vorläufigen Kenntnis der Geschichte, sondern aus dem Wesen der Gattung, aus der Anlage des Dichters haben, in eine sonderbare Collision« (ebd.: 506). Nicht das Vorwissen des Rezipienten, sondern die ausgesparte Schuld nivelliert im Falle von Gerstenbergs Ugolino das
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In der Hamburgischen Dramaturgie wiederholt Lessing dieses Argument: In seiner Beurteilung von Christian Felix Weißes Richard der Dritte sieht er in dem »Unglücke ganz guter, ganz unschuldiger Personen« den Umschlagspunkt von der »süße[n] Qual« des Mitleids in eine »fremde, herbe Empfindung«: »Wer wird leugnen, daß sie unsern ganzen Jammer verdienen? Aber ist […] dieser Jammer – ich will nicht fragen Mitleid? – Er heiße wie er wolle – Aber ist er das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte?« (Lessing 2010: 576f.).
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Interessanterweise hat Gerstenberg besonders viel Aufmerksamkeit auf eine psychologisch plausible Motivation dieser Leidensübertragung gelegt, indem er sie auf der Folie einer Anerkennungsmanie gestaltete (vgl. Sørensen 1984: 104f.; Alefeld 2002: 71f.).
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Mitleid, welches in Lessings Gattungs-Theorie des bürgerlichen Trauerspiels nie von der »eben so unrichtig[en] als gotteslästerlich[en]« (Lessing 2010: 593) Konstellation eines unverschuldeten Unglücks verstört werden darf. Angesichts der unabwendbaren Fatalität sei Lessing – wie er gegenüber Gerstenberg bekennt – »unwillig, daß [Ugolino] aushält«, und könne »vor der Bühne […] den Augenblick kaum erwarten, da er endlich den Entschluß faßt, seiner und meiner Marter auf die kürzeste die beste Art ein Ende zu machen« (Lessing 1987: 506f.). In seinem Antwortbrief knüpft Gerstenberg an einige Hauptpunkte von Lessings Beurteilung an: Ausführlich begründet er einige Veränderungen an der Schlussszene des Stücks, um »dem Zuschauer, nachdem er über die Folgen des Selbstmordes gezittert hat, eine viel heitere Aussicht« (Gerstenberg 1987: 517) zu lassen. In einem anderen Passus des Schreibens heißt es dagegen: »Ferner scheint es mir, daß es manchmal gut sei, den Zuschauer bei dem Unglück eines Nebenmenschen ein wenig stärker als bloß zum Amüsement leiden zu lassen. Wenn freilich die Nachahmung gewisse Gränzen überschreitet, wenn sie abscheulich, oder ekelhaft, oder der Vorsehung nachteilig wird, so mag es der Dichter verantworten.« (Ebd.: 516)
Gerstenberg plädiert hier für eine vom genialischen Dichter verantwortete Poesie, die sich den »Begriffen des Parterre« (ebd.: 517) widersetzt. Während von der Forschung häufig auf seine vermeintliche Geringschätzung der »theatralen Illusion« (vgl. Detken 2009: 202f.) als solcher verwiesen wird, geht es ihm jedoch keineswegs um eine radikale Suspendierung des Wirkungsaspekts, sondern um dessen Verschärfung. In Zweifel gezogen wird, »ob der Dichter wohl tue, sich auch dann nach den Empfindungen des Zuschauers zu bequemen, wenn diese nicht sowohl in der Natur der Sache, als vielmehr in einer zufälligen und doch immer noch streitigen Richtung seines Verstandes gegründet sind« (Gerstenberg 1987: 516). Die von »der Natur der Sache« vorgegebene Extremsituation des Hungers, müsse notwendig zu einem emotionalen Desaster im Zuschauerraum führen. Aus diesem Grund kommt Gerstenberg schließlich auf die »ȐȝĮȡIJȘȝĮ der Hauptpersonen« und die »gewaltige Disproportion zwischen dem Verbrechen und dem Leiden« zu sprechen: »Dies rührt aber nicht daher, weil dergleichen Verhältnis in dem Laufe der Welt etwas so ungewöhnliches, oder weil das gegenwärtige Leiden gerade eine so grausame Art von Leiden […] ist, sondern, wie mich dünkt, bloß daher, weil wir auf der Bühne sowohl als in der Geschichte und im gem. Leben immer noch mehr, von den Factis im Ganzen als von
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ihrem wahren Detail zu erfahren pflegen. Ein in allen seinen Teilen empfundenes Unglück […] wird meistenteils die Wirkung haben, daß der Zuschauer und der, der es leidet, beide es allzuhart finden.« (Ebd.: 518)
Gerstenbergs für Theater, Geschichte und Lebenswelt gleichermaßen geltende Favorisierung der »wahre[n] Details« gegenüber den »Factis im Ganzen« verleugnet en passant ein Basispostulat von Lessings wirkungsästhetischer Kunsttheorie (vgl. Sheppard 1997: 61; Alefeld 2002: 67), nämlich jene ganzheitliche Verbindung von Hamartia und Mitleid, die Lessing schon einige Jahre zuvor in einem Brief an Mendelsohn formuliert hatte: »Aber warum diese ȐȝĮȡIJȚĮ […]? Ich glaube, die einzig richtige Ursache gefunden zu haben; sie ist diese: weil ohne den Fehler, der das Unglück über ihn zieht, sein Charakter und sein Unglück kein Ganzes ausmachen würden, weil das eine nicht in dem andern gegründet wäre, und wir jedes von diesen zwei Stücken besonders denken würden.« (Lessing 1972: 83)
Das von den Figuren und den Rezipienten »allzuhart« empfundene »Unglück« zerschlägt den im Trauerspiel idealiter geflochtenen Knoten aus Katastrophe und Mitleid, da beide nicht mehr im »ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge« (Lessing 2010: 577) aufgehoben sind. Diese theodizeekonforme Entsprechung erweist sich jedoch als ein Kerngedanke von Lessings Ästhetik, der im 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie formuliert wird, dessen Überlegungen vom Briefwechsel mit Gerstenberg mit motiviert sein dürften (vgl. Zelle 1987: 406). »Was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheint«, wird in diesem »Zusammenhang« als »Weisheit und Güte« erkennbar: »Das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein« (Lessing 2010: 577). Die Entschiedenheit, mit der Gerstenberg durch die perverse Faktizität des Hungerschmerzes eine »Re-Pathetisierung der Tragödie« (Meyer-Kalkus 1998: 109) vollzieht, suspendiert die von Lessing gepriesene Korrespondenz von Kosmos, Trauerspiel und Mitleid: Im Affront gegen diese Wirkungsstrategie erhebt Gerstenberg das Pathos passiven Erduldens zum Ausweis einer Selbstanklage der leidenden Kreatur und die »Verwesung der Unschuldigen« (Gerstenberg 2005: 65) auf der Bühne vollstreckt – um eine Formulierung Walter Benjamins leicht zu variieren – die Verfallenheit des unverschuldeten Lebens an die Natur.
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HETEROCHRONIEN
Situationen Philosophische und künstlerische Annäherungen A NDREAS H ETZEL Es ist von jeher die wichtigste Seite der Kunst gewesen, interessante Situationen zu finden. G.W.F. HEGEL
»Das menschliche Leben«, so Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik, »ist ein Leben des Streits, der Kämpfe und Schmerzen« (1985: 178). Wir erfahren es als endlich, widersprüchlich, häufig absurd; es bewegt sich entlang von Brüchen, Mängeln und Kontingenzen, bleibt sich selbst fremd, findet sich eingewoben in ein Netz aus unsteten Zeichen, Affekten, Institutionen und Dingen, die in sein Selbstverhältnis eine unauflösliche Fremdheit einschreiben. Über die Irreduzibilität seines Leibes nimmt jeder Mensch eine singuläre Position in diesem nie gänzlich zu überschauenden Netz ein, sein Dasein bindet sich an eine partikulare Perspektive auf die ihn umgebenden Welt. Diese Welt präsentiert sich ihm niemals als Ganze, als »der allgemeine Weltzustand« (ebd.: 179), sondern in der Besonderheit einer je konkreten Situation, die sich von allen anderen Situationen durch eine einmalige Weise abhebt, in der sich ihre Elemente wechselseitig Bedeutung verleihen. Dem ›Sein in Situationen‹ nähere ich mich in diesem Text nach einigen einleitenden Überlegungen aus zwei Richtungen: aus der Perspektive einer Philosophie, die der Situation in ihrer Flüchtigkeit begrifflich Rechnung zu tragen sucht, sowie aus der Perspektive einer Gegenwartskunst, die sich, exemplarisch im Werk Tino Sehgals, als eine Arbeit in und mit Situationen begreift. Im folgenden Abschnitt versuche ich zunächst, das Charakteristische der Situation über ein Denken der Abwesenheit zu umkreisen.
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S ITUATIONEN
DER
A BWESENHEIT
Die alltäglichen Situationen, in denen wir uns immer schon vorfinden, wären nur unzureichend als Summe positiver Elemente und Bedeutungen zu kennzeichnen; weit eher sind sie Manifestationen einer mehrdimensionalen Abwesenheit. Sie definieren sich geradezu über Absenzen, konkret über: • die Abwesenheit einer substanziellen Mitte: Situationen bleiben wesentlich of-
fen und indeterminiert, sie gruppieren sich um eine Leere, aus der heraus jederzeit etwas Unerwartetes geschehen kann. Die agora der klassisch-antiken Polis, der Versammlungsort, auf dem die öffentlichen Angelegenheiten beratschlagt und entschieden wurden, war vielleicht nichts anderes als der Versuch einer Institutionalisierung der Situation gerade in ihrer irreduziblen Kontingenz. • die Abwesenheit eines Ursprungs oder Grundes: Situationen entstehen niemals
ex nihilo, sondern immer nur aus anderen Situationen; sie sind im wörtlichen Sinne an-archisch, ohne Ursprung, dessen Stelle durch ein Spiel kontingenter Herkünfte ersetzt wird; sie dulden kein oberstes, sie regierendes Prinzip, auf das sich all ihre Elemente zurückführen ließen. • die Abwesenheit einer allen Situationen gemeinsamen Definition: Jede Situa-
tion ist eine je besondere und d.h. kein besonderer Fall einer allgemeinen Klasse. Situationen korrespondieren einander allenfalls im Modus wittgensteinscher Familienähnlichkeiten und nicht über allen gemeinsame Eigenschaften oder Prinzipien. • die Abwesenheit eines Wissens um ihre Grenzen: Situationen lassen sich nie
vollständig definieren. Es bleibt bis zu einem gewissen Grade unentscheidbar, was noch zur Situation selbst gehört und was bereits zu ihren Kontexten. Da sich uns ihre Grenzen entziehen wie dem Seefahrer der Horizont, bleiben die Momente der Situation unzählbar – umso unzählbarer, je weiter wir unsere Blicke über den vertrauten Nahbereich hinaus richten oder je genauer wir das vermeintlich Vertraute in den Blick zu nehmen suchen. Situationen sind mannigfaltig und fließend, ohne sich freilich dem Chaos anzugleichen. Die unzählbaren Elemente der Situationen bestimmen sich wechselseitig, aber nie vollständig; auf die Situation wirken darüber hinaus Kräfte von außen ein, die sie formen, ohne dass sich das Ergebnis dieser Formungsprozesse voraussagen ließe.
Situationen
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• die Abwesenheit eines Wissens darum, wie sie erfolgreich bewältigt werden
können: Die Situation definiert sich durch die gleichzeitige Notwendigkeit, auf sie reagieren zu müssen, und eine Widerständigkeit gegen unsere Reaktionen. Eine Situation lässt sich nicht wie ein Objekt manipulieren. In vielen Hinsichten widerfährt sie mir eher, als dass sie sich meinen Intentionen fügen würde. Wenn ich in sie eingreifen, sie umgestalten möchte, kann ich nur sehr bedingt der Absehbarkeit von Ursache-Wirkungs-Ketten vertrauen, bin ihr aber auch nicht, wie dem Traum, als einem blinden Schicksal ausgeliefert. Situationen haben Potenzialitätsgefälle, die ich erkennen und strategisch nutzen kann. • die Abwesenheit ihrer eigenen Präsenz: Situationen sind veränderlich, sie ge-
hen permanent in andere Situationen über; sie sind Übergängigkeit, eher Möglichkeit als Wirklichkeit, eher offener Prozess als Zustand. Situationen haben immer mehrere Ausgänge, die in ein Pluriversum möglicher Welten führen. Wie der Mensch in ihr kann sich auch die Situation ihrer selbst nie gänzlich innewerden. Jede Theorie oder Repräsentation der Situation wäre wiederum nur ein weiteres ihrer Elemente. • die Abwesenheit eines Außen, ihre Internität oder Medialität: Ich kann die Si-
tuation, in der ich mich vorfinde, nicht prinzipiell überschreiten, sondern nur auf andere Situationen hin. »Überschreiten« sollte in diesem Kontext also weniger räumlich (als ein Heraustreten) verstanden werden, denn als eine Praxis. So überschreite ich die Situation, indem ich sie handelnd zu einer anderen mache. Wenn ich auf diesem Weg vielleicht eine einzelne Situation überschreiten kann, trage ich die Situationalität mit mir wie einen Horizont. Situationslos wäre allenfalls der Tod. • die Abwesenheit einer gemeinsamen Perspektive: Situationen sind niemals nur
meine, sie werden – wiederum im Gegensatz zum Traum – intersubjektiv geteilt1, bleiben aber zugleich wesentlich umstritten. Kommunikation ist der Streit um die Definition geteilter Situationen. Die Situation, in der wir uns befinden, stiftet zugleich eine Kontinuität und eine Diskontinuität, sie trennt und verbindet uns, verbindet uns vielleicht gerade in denjenigen ihrer Aspekte, durch die sie uns trennt.
1
Die Sozialität von Situationen wird insbesondere von Erving Goffman betont: »[A] situation arises whenever two or more individuals find themselves in one another’s immediate presence, and it lasts until the next-to-last person leaves« (1964: 135).
490 | Andreas Hetzel • die Abwesenheit einer Skala, mit deren Hilfe sich ihr Wert bemessen ließe: Si-
tuationen werden unterschiedlich relevant. Im Alltag erscheinen sie oft als selbstverständlich und bleiben über lange Zeit unthematisiert, wir bewegen uns in ihnen dann gleichsam wie Wasser im Wasser. Wo uns die Situation als Situation bewusst wird, ist sie bereits in eine Krise geraten, die auf eine Antwort drängt, welche nur in der Konstruktion einer neuen Situation bestehen kann. Ein Denken der Situationen hätte von einer Kritik aller Universalismen auszugehen, von einer Kritik insbesondere philosophischer und wissenschaftlicher Versuche, über eine Reduktion von Kontingenz und Unbestimmtheit eine transsituative Wirklichkeit des Menschen, der Vernunft oder der Welt zu etablieren, eine Reduktion, die insbesondere die Philosophie nur um den Preis einer Austreibung der Erfahrung aus ihren Texten, Verfahren und Institutionen zu erkaufen vermochte. Die Rückgewinnung der Situationen wäre zugleich eine Rückgewinnung der Erfahrung, einer vollen Erfahrung ohne Geländer, aus der das Subjekt dieser Erfahrung erst, als verändertes, hervorginge und sie insofern nicht machen oder fundieren, sondern sich ihr unterziehen würde. Die von ihr ausgehende Kritik rückt das Konzept der Situation in eine gewisse Nähe zu zwei anderen postfundationalistischen und antiuniversalistischen Figuren: a) Performanz und b) Ereignis: a) Eine Performanz ist ein in sich selbst gründender Vollzug, der gerade nicht als Ausdruck einer ihn bedingenden Kompetenz begriffen werden kann. John L. Austin führte den Begriff performativer Äußerungen ein, um auf eine gewisse Nichtgegründetheit der Wirksamkeit von Rede hinzuweisen, oder präziser: darauf, dass Rede wesentlich in ihrem Vollzug gründet und nicht in Regeln, Intentionen oder Institutionen, die ihr als Möglichkeitsbedingungen vorausgingen (vgl. Austin 1975). Die Performativität der Rede zu thematisieren, bedeutet also, neben ihrer Adressiertheit, Wirksamkeit und Übergängigkeit vor allem auch ihrer Situationalität Rechnung zu tragen. b) Im zeitgenössischen postfundationalistischen Denken steht das Ereignis für eine sich mit der Situation kreuzende Diskontinuität bzw. Inkommensurabilität. Das Ereignis2, wie es etwa von Heidegger und Badiou beschrieben wird, gehört weniger einer Dimension des Seins an als einem Nichtsein. Es ist kein Etwas, kein bestimmtes Element der Situation, sondern steht für das Aussetzen jeder Bestimmtheit. Es taucht unerwartet auf, kann nicht kausal auf die Koordinaten der Situation, der es entspringt, zurückgeführt werden. Ein Ereignis betrifft
2
Zur neueren Diskussion um den Ereignisbegriff vgl. die Beiträge in Rölli (2004).
Situationen
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allerdings immer eine konkrete Situation, es muss sie, in den Worten Badious, »supplementieren« (Badiou 1997: 21). Es tritt nur an ihr auf, als ihre immanente Kritik. »Supplementieren« kann hier durchaus im Sinne Derridas verstanden werden: Das Ereignis fügt sich zu einer Situation hinzu und ersetzt sie durch eine andere Situation. Es ist »nicht nur im Hinblick auf seine Lage, sondern auch in Hinblick auf seine verfügbare Sprache überzählig« (ebd.: 86) und »stellt sich als reine Gabe dar« (Badiou 2002: 119). In ihm verkörpert sich eine Unangemessenheit der Situation an sich selbst, ihr Mangel oder ihre Unvollständigkeit.
S TATIONEN
EINES
D ENKENS
DER
S ITUATION
Der Begriff der Situation konnte erst in einer kontingenzbewussten Moderne zu einem philosophischen Begriff sui generis avancieren. Als Disziplin, die ihr Selbstverständnis daraus schöpft, allem Besonderen einen allgemeinen Grund zu geben, Partikulares auf ein Universales hin zu überschreiten, die Mannigfaltigkeit der Welt auf ein mit sich identisches und ewiges Sein zurückzuführen, definiert sich die vormoderne Philosophie regelrecht über eine Indifferenz gegenüber Situationen, über ihre Überschreitung auf die transsituative Wahrheit einer kosmischen Ordnung hin. Als Inbegriff des Kontingenten, Flüchtigen, Partikularen und Unbestimmten gilt die Situation den Philosophen seit Parmenides als Nichtseiendes, das zugleich nicht sein soll. Erstmals umfassend thematisiert und untersucht wird die Situation insofern auch nicht in der Philosophie, sondern in der klassischen Rhetorik3. Hegels Dramentheorie In der neuzeitlichen Philosophie wird der Situationsbegriff erstmals in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik ausführlich reflektiert und zwar in einem Kontext, in dem sich Hegel für die Entstehungsbedingungen der antiken Tragödien zu interessieren beginnt. Die Tragödie, die von Aristoteles als »Nachahmung einer ernsthaften und in sich geschlossenen Handlung [praxis] von einer bestimmten Größe« (Aristoteles 1986: 1449b) definiert wurde, erschließt für Hegel nicht länger (wie noch die archaische Plastik) einen »allgemeinen Weltzustand«, sondern bezieht sich auf die »Besonderheit« eines Zustands der Welt, auf eine »Situation und deren Konflikte« (Hegel 1985: 179). Die Situation vermittelt dabei zwischen »dem allgemeinen Weltzustand« und der »eigentlichen Handlung«
3
Vgl. hierzu ausführlicher Hetzel (2011: 235-264).
492 | Andreas Hetzel
(ebd.: 179). In ihr ist der Weltzustand »zur Bestimmtheit partikularisiert«, so dass er »von den Individuen ergriffen werden« (ebd.: 198) kann. Handeln, das sich in der Tragödie erstmals selbst reflektiert, wäre genau dieses Ergreifen. Es wird erst in einer Welt möglich, die sich zu einer Situation verbesondert und damit die »Situation der Situationslosigkeit« (ebd.) hinter sich gelassen hat. Die Bestimmung der Situation erfolgt über eine »Entzweiung« oder »Kollision« (ebd.), eine »wesentliche Differenz« oder »Verletzung« (ebd.: 203), mittels derer sich die »Situation« vom bloßen »Zustand« unterscheidet; erst diese »Verletzung, die nicht Verletzung bleiben kann« (ebd.), macht ein Handeln zugleich notwendig und möglich. Das Handeln entspringt für Hegel also wesentlich aus der Situation, aus einem Ergreifen genau jener Verletzung, die einen Zustand erst zur Situation macht. Als solche Verletzungen diskutiert Hegel zunächst »Kollisionen, welche aus rein physischen, natürlichen Zuständen hervorgehen« (ebd.: 204), also etwa Krankheiten oder Katastrophen, die uns in unseren Routinen erschüttern und zu einer bewussten Reaktion zwingen. An zweiter Stelle nennt er »geistige Kollisionen, welche auf Naturgrundlagen beruhen« (ebd.) und denkt hier an soziale Konflikte, die auf natürliche Ursachen (wie etwa Verwandtschaftsverhältnisse) zurückführbar sind; Hegel erwähnt in diesem Zusammenhang den von Ödipus begangenen Inzest. An dritter Stelle folgen »Zwiespalte, die in geistigen Differenzen ihren Grund finden und erst als die wahrhaft interessanten Gegensätze aufzutreten berechtigt sind, insofern sie aus der eigenen Tat des Menschen hervorgehen« (ebd.). Diesem dritten Typ gilt Hegels besonderes Interesse; er charakterisiert ihn dadurch, dass hier der »Widerstreit des Bewußtseins und der Absicht bei der Tat und des nachfolgenden Bewußtseins dessen, was die Tat an sich war, [den] Grund des Konflikts aus[macht]« (ebd.: 211), was er ebenfalls am Beispiel des Ödipus illustriert. Die Tragödiendichter von Aischylos bis Shakespeare gestalten, wie Hegel ausführlich zeigt, vor allem Kollisionen dieses Typs. Im Sinne seiner Definition ist nun, und das macht Hegels Situationstheorie über den engeren Kontext der Dramentheorie hinaus relevant, alles Handeln dramatisch, da alles Handeln, wie Hegel insbesondere in der Phänomenologie des Geistes zeigt, von einer Diskrepanz zwischen Absicht und Folge heimgesucht wird, die immer wieder neue Verletzungen und damit neue Situationen produziert. Für Hegel ist »die kollisionsvolle Situation vornehmlich der Gegenstand der dramatischen Kunst« (ebd.: 203), deren spezifische Schönheit sich daraus ergeben soll, dass die Verletzung in eine Entwicklung überführt werde. Die Tragödie inszeniere kollisionsvolle Situationen, die dann handelnd einer Auflösung zugeführt werden können. Damit führe sie uns eine Dialektik von Situation und Handlung vor Augen, die auch unser außerkünstlerisches Handeln präge. Die Si-
Situationen
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tuation wird in Kunst und Leben nicht einfach als vorfindliche vorausgesetzt, sondern emergiert gleichsam im dramatischen Geschehen, das sich zwischen Situation und Handlung entspannt, sie fällt selbst unter die dramatis personae. Genauso wie das Handeln von der Situation abhängig bleibt, lässt sich die Situation erst nachträglich, von einem Handeln aus, als solche ansprechen: Für Hegel »werden […] die äußeren und inneren bestimmten Umstände und Zustände und Verhältnisse zur Situation erst durch das Gemüt, die Leidenschaft, welche sie auffaßt und in ihnen sich erhält« (ebd.: 214). Das Subjekt der Handlung ist letztlich nichts anderes als die ergriffene Verletzung, die ergriffene Kollision in der Situation. Indem er das Verhältnis von Subjekt und Situation als eines der wechselseitigen Konstitution und Dekonstitution beschreibt, bereitet Hegel das antifundationalistische und negativistische Denken einer Moderne vor, für die das Konzept der Situation zentral wird. Existenzialismus und Pragmatismus Eine zunehmend kontingenzbewusster werdende philosophische Moderne wendet sich, etwa im Pragmatismus und Existenzialismus, von einer Suche nach letzten Gründen und Fundamenten ab und den je konkreten Situationen menschlichen In-der-Welt-Seins zu. Wie Hegel betonen auch die Existenzialisten und Pragmatisten ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis von Situation und Praxis. Für den Existenzialismus zeichnet sich das menschliche Dasein seit Heidegger durch eine Geworfenheit in Situationen aus, über die wir nicht frei verfügen können. Jaspers hebt diese Geworfenheit deutlich hervor, wenn er schreibt: »Niemals kann ich als Dasein aus dem In-Situationen-Sein heraus« (1974: 56). Bei Sartre wird dieser Gedanke dadurch erweitert, dass die Situation zugleich als Bedingung der Unmöglichkeit und Möglichkeit meiner Freiheit erscheint: »Sie ist die totale Faktizität, die absolute Kontingenz der Welt, meiner Geburt, meines Platzes, meiner Vergangenheit, meiner Umgebung, der Tatsache meines Nächsten – und sie ist meine grenzenlose Freiheit als das, was macht, dass es für mich eine Faktizität gibt« (1991: 943). Zum Geworfensein in Situationen gehört für Sartre auch die Freiheit, auf die Situation zu antworten, sie zu distanzieren: »Es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die menschliche-Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche-Realität ist.« (Ebd.: 845)
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Als überdeterminierte Gefüge von Handlungsspielräumen und -beschränkungen sind die Situationen auch für die Existenzialisten antinomisch verfasst. Die Handlungen, die in einer Situation zusammenkommen, sind in der Regel gegenstrebig. Die Situation ist mehreren Akteuren gerade darin gemeinsam, dass diese sie in unterschiedlicher Weise interpretieren und in unterschiedlicher Weise an sie anschließen wollen. Die Möglichkeiten, welche die Situation dem einen darbietet, erweisen sich als Hindernisse für den anderen. Da sie in mehrere Richtungen und Dimensionen überschritten werden können, begegnen uns Situationen als unentschiedener agon. Martin Buber trägt dem antinomischen Sinn der Situation Rechnung, wenn er schreibt: »Wer die These annimmt und die Antithese ablehnt, verletzt den Sinn der Situation. Wer eine Synthese zu denken sucht, zerstört den Sinn der Situation. Wer die Antinomik zu relativieren strebt, hebt den Sinn der Situation auf. […] Der Sinn der Situation ist, daß sie in all ihrer Antinomik gelebt und nur gelebt und immer wieder, immer neu, unvorhersehbar, unvordenkbar, unvorschreibbar gelebt wird.« (Buber 1984: 97)
Die Gründerväter des Pragmatismus beschreiben den Umgang mit dieser Antinomik als experimentellen Prozess. In seinem 1938 erschienenen Hauptwerk Logik. Die Theorie der Forschung begreift Dewey Forschung weniger als institutionalisierte Wissenschaft, denn als experimentellen Modus der Transformation von Situationen, der für alles (und insofern nicht nur für das menschliche) Leben charakteristisch sei. Dewey charakterisiert die Situation ganz explizit durch eine »negative Aussage«: »Was durch das Wort ›Situation‹ bezeichnet wird, ist weder ein einzelnes Objekt oder Ereignis, noch eine Menge von Objekten und Ereignissen« (2002: 87), sondern, so ließe sich ergänzen, die offene Interaktion von Objekten bzw. Ereignissen und ihrem »kontextuellen Ganzen« (ebd.: 87). Erfahrungen machen wir nicht mit isolierten Objekten oder Ereignissen, sondern nur mit solchen, die »ein besonderer Teil, eine besondere Phase oder ein besonderer Aspekt einer umgebenden Erfahrungswelt – einer Situation« (ebd.: 88) sind. Umgekehrt sind Situationen auch für Dewey nicht einfach gegeben, sondern eine Funktion dessen, »was sie mit uns« und wir mit ihnen »machen« (ebd.: 252). Die Situationen, in denen wir uns immer schon vorfinden, sind für Dewey zunächst »unbestimmt« (ebd.: 132). Forschung besteht für ihn in einer Weise des Umgangs mit dieser Unbestimmtheit: Sie ist die »gesteuerte oder gelenkte Umformung einer unbestimmten Situation in eine Situation, die in ihren konstitutiven Merkmalen und Beziehungen so bestimmt ist, dass die Elemente der ursprünglichen Situation in ein einheitliches Ganzes umgewandelt werden« (ebd.:
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131). Forschung beginnt also, wie die Handlung bei Hegel, mit und ausgehend von einer verletzten Situation, einer Situation, die »gestört, aufgewühlt, mehrdeutig, verworren, widersprüchlich, dunkel usf.« (ebd.: 132) ist. Die Praxis der Forschung, die sich auch in eine künstlerische Form kleiden kann, überführt eine in die Krise geratene Lebenspraxis in eine neue Gestalt oder Situation.
K ÜNSTLERISCHE S ITUATIONSERKUNDUNGEN Nehmen wir die von Hegel, den Pragmatisten und den Existenzialisten herausgestellte Antinomik von Situationen ernst, dann können diese nie vollständig erkannt, sondern allenfalls durchlebt werden. Einem solchen Durchleben widmet sich die Kunst, die, wie Hegel erkannt hat, seit der klassischen Tragödie versucht, »interessante Situationen zu finden« und zu gestalten (1985: 198). Explizit geschieht dies seit den historischen Avantgarden, die sich für die künstlerische Situation selbst zu interessieren beginnen und mit Situationen künstlerischer Produktion und ästhetischer Rezeption experimentieren. Die künstlerische Situation wird dabei nicht nur zum Material sondern – wie sich am Werk Tino Sehgals4 zeigen wird – selbst zum Akteur. Bereits Dada und Surrealismus vollziehen eine Wende zu Negativität und Performanz, zu Installation und Ereignis; sie definieren sich durch eine Abwendung von Werk, Autor und von den traditionellen Kunstinstitutionen. Das Kunstwerk wird hier in einer vergleichbaren Weise entgründet wie die Sprache bei Wittgenstein und Austin. Was bleibt, sind offene, spontane, paradoxe Situationen. Aufgegriffen und zum reflexiven Programm erhoben wird diese Entwick-
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Tino Sehgal, ein 1976 in London geborener, britisch-deutscher, heute in Berlin lebender Künstler, studierte Volkswirtschaftslehre und Choreographie in Berlin und Essen. Nach Zusammenarbeiten mit den Choreographen Jérôme Bel und Xavier Le Roy, inszeniert er seit 2000 viel beachtete, von Laiendarstellern bespielte Situationen in Galerien und Museen. So gestaltete er den deutschen Pavillon der 51. Biennale in Venedig und steuerte zur 13. documenta 2012 in Kassel eine seiner Situationen bei. Neben This Situation, auf das sich meine Darstellung im Folgenden konzentrieren wird, sind vor allem folgende Werke bekannt geworden: I promise it’s political (Museum Ludwig, Köln 2000), Le Plein (Galerie Jan Mot, Berlin 2003), This is right (Wrong Gallery, London 2003), Utopia Station (50. Internationale Kunstausstellung der Biennale Venedig 2003), This objective of that object (Galerie Johnen & Schöttle, Köln 2004), This is so contemporary (Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M. 2007), These Associations (documenta 13, Kassel 2012).
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lung im Situationismus Guy Debords, einem künstlerisch-politischen Doppelprojekt, das durch die Konstruktion heterogener Situationen die hyperreal gewordene, spätkapitalistische »Gesellschaft des Spektakels« (vgl. Debord 1996) mit einer symbolischen Gabe zu unterlaufen sucht, die diese Gesellschaft nicht wieder reökonomisieren kann. Mit This Situation5 bringt Tino Sehgal den Situationismus gleichsam ins Museum. Die Materialität der Arbeit erschöpft sich in den (Sprech-)Handlungen und Bewegungen von jeweils sechs Interpreten in einem ansonsten leeren Ausstellungsraum. Der Museumsbesucher sieht sich nur auf das Hier und Jetzt der Situation selbst verwiesen und kann auf keine vorbereitenden Dokumente (Kataloge, Filme, Fotografien etc.) zurückgreifen. Die Rolle des Künstlers ähnelt am ehesten derjenigen eines Regisseurs ohne Stück; sie beschränkt sich darauf, den Kreis der Interpreten (in Frankfurt waren es etwa 30 Personen, zu denen ich selbst zählte) auszuwählen und, zunächst in Einzelgesprächen, dann in Proben, einzuweisen, außerdem einen Korpus von gesprächseröffnenden Zitaten bereitzustellen sowie einige wenige Regeln vorzugeben, welche die Konversation und die körperlichen Performanzen strukturieren. Vom Beginn der ersten Aufführung an enthält sich Sehgal jeglicher Interventionen. This Situation nimmt ihren Lauf, entwickelt eine eigene Dynamik und eigene Geschichten. Bestimmte choreographierte Gesten und Stellungen, die sich an Figurenkonstellationen in klassischen Tafelbildern orientieren, dienen allenfalls als Ausgangspunkte einer ansonsten offenen Inszenierung, in der die Situation selbst die Hauptrolle übernimmt und ihre Stimme erhebt. Die Abwesenheit von Protokollen und Dokumenten (beides wird vom Künstler explizit untersagt) macht es schwer, aus einer (kunst-)theoretischen Perspektive über This Situation zu sprechen. Jeder Versuch einer Interpretation könnte sich nur auf die wenigen, sich wiederholenden Muster stützen und wird damit gerade dem, was immer wieder neu und anders wird, der Performanz oder dem Ereignis, nicht wirklich gerecht. Die sechs sich jeweils im Raum befindlichen Interpreten gruppieren sich zur Eröffnung einer Ausstellungssequenz zu über den Raum verteilten lebenden Bildern. In der idealen Situation, die sich freilich selten einstellt, da immer schon Besucher anwesend sind, betritt ein erster Besucher oder eine Besuchergruppe den Ausstellungsraum, in dem er außer den Interpreten nur weiße Wände vorfindet. Von den Interpreten wird er oder sie mit den Worten »Welcome to this Situation!« begrüßt. Daraufhin lösen sich die Interpreten aus ihrem Bild, drehen sich zur Wand, atmen tief und geräuschvoll ein und wechseln in die nächste vorgege-
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Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M. (2007); Solomon R. Guggenheim Museum, New York City (2010); Tate Modern, London (2012).
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bene Stellung. Dort angekommen, rezitiert ein Interpret ein beliebiges Zitat aus einem Fundus von etwa fünfzig anonymisierten Zitaten, die drei Themenbereichen zugehören: »Überfluss«, »Ästhetik der Existenz« sowie schließlich der Begriff der »Situation« selbst. Beispiele für diese Zitate wären etwa die folgenden: »In 1588 somebody said: Unseren Charakter auszuarbeiten ist unsere Pflicht, nicht Bücher auszuarbeiten und nicht Schlachten und Provinzen zu gewinnen, sondern Ordnung und Ruhe in unserem Verhalten. (Unser großes und glorreiches Meisterwerk ist es, angemessen zu leben.)« »In 1957 the Situationists said: Die Leidenschaften sind oft genug interpretiert worden – es kommt jetzt darauf an, neue zu finden. … die neue Schönheit kann nur die einer Situation sein.« »In 1956 somebody said: Ein reiches Land, das seine Angelegenheiten nach den Vorgehensweisen eines anderen, ärmeren Zeitalters regelt, wird sich aufgrund dieses Selbst-Missverständnisses in Krisenzeiten unweigerlich die falsche Medizin verschreiben. Dies ist, in einem beunruhigenden Ausmaß, unsere gegenwärtige Tendenz.« »In 1983 somebody said: Nun, es war nie wirklich sehr klar, was die Situationisten eigentlich mit der ›Konstruktion von neuen Situationen‹ meinten. Immer wenn wir darüber sprachen, nannte ich ein Bespiel: die Liebe. Aber sie wollten mit meinem Beispiel nichts zu tun haben. Ich sagte zu ihnen: In der Antike kannte man leidenschaftliche Liebe, aber nicht individuelle Liebe, Lie6
be zu einem Individuum.«
Nach der Rezitation des Zitats lösen sich die Interpreten in Zeitlupentempo, das sie in ihren weiteren Bewegungen beibehalten werden, erneut aus dem Bild und beginnen in normalem Gesprächstempo eine Diskussion über das Zitat. Die Situation ist wesentlich diese Diskussion, die in ihrer teilformalisierten Verfasstheit vage an die Salonkultur des 18. Jahrhunderts erinnert. Von einem bestimmten Zeitpunkt an können die Besucher mit der direkten Anrede »Oder, was denken Sie?« in das Gespräch eingebunden werden. Eine weitere Möglichkeit der Integration des Publikums besteht darin, einem Besucher ein ausgesuchtes Kompli-
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Die Zitate wurden von Tino Sehgal ausgewählt, an die Interpreten ausgeteilt und von diesen auswendig gelernt.
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ment zu machen, das dem Gespräch eine wiederum vollkommen andere Richtung zu geben vermag. Jeder Interpret kann die Diskussion zu einem beliebigen Zeitpunkt unterbrechen und die Situation neu beginnen lassen, indem er für alle anderen laut vernehmbar einatmet und sich zur Wand wendet. Die anderen Interpreten werden ihm darin folgen, die nächste in der Choreographie vorgesehene Stellung einnehmen und mit einem neuen Zitat eine neue Sequenz einleiten. Der Einsatz der Interpreten dauert in der Regel drei bis vier Stunden; sie werden im laufenden Spiel abgelöst. Vor der Schließung des Museums wird geschwiegen, bis die letzten Besucher den Ausstellungsraum verlassen haben. Bei großem Besucherandrang sind die Interpreten auf den ersten Blick kaum vom Publikum zu unterscheiden. Eine gewisse Artifizialität kommt ihnen allenfalls über die Diskrepanz zwischen der verlangsamten Geschwindigkeit der Gesten und Bewegungen einerseits und dem normalen Sprechtempo andererseits zu. Der Körper »kollidiert« hier mit der Konversation. Die Unangemessenheit der Sprache an den sprechenden Körpers macht die Situation erst zur Situation, »verletzt« sie im Sinne Hegels. Gerade in dieser Unangemessenheit inkorporiert sich die Situation, findet sie ihre Sprache. Ein wesentlicher Effekt von This Situation ergibt sich aus dem Nichtwissen des Publikums. Die wenigsten Besucher sind vorab über andere Arbeiten Tino Sehgals informiert. Wer den Raum betritt, weiß (zumindest im Jahr 2007, inzwischen dürfte sich das aufgrund der immensen Popularität des Künstlers geändert haben) in der Regel nicht, was auf ihn oder sie zukommt. In Frankfurt, wo This Situation drei Monate aufgeführt wird, findet das Projekt in einem separaten Raum unmittelbar neben dem Museum statt, in New York im Hauptgebäude des Guggenheim-Museums selbst, in dem die dort ausgestellten Gemälde abgehängt wurden. Gelegentlich reagiert das Publikum desorientiert, etwa mit der Frage, wo es hier zur Ausstellung gehe. Diese Irritation wird in Frankfurt architektonisch noch dadurch verstärkt, dass der Raum suggeriert, passierbar zu sein und über einen dem Eingang gegenüberliegenden Ausgang zu verfügen, der sich allerdings als Sackgasse erweist. Direkte Fragen zum Kunstwerk werden von den Interpreten nicht oder nur auf Umwegen beantwortet. Nach der ersten Irritation lässt sich das Publikum oft von der Situation gefangen nehmen. In Frankfurt bildete sich bereits nach wenigen Tagen eine Art Fankultur: regelmäßig wiederkehrende Gäste, die sich auf die Situation einließen, 20 bis 40 Minuten zuhörten und nach und nach auch von der Möglichkeit zu partizipieren Gebrauch machten. Oft bedankte sich das Publikum bei Verlassen des Raumes bei den Interpreten. Wenn kein Publikum anwesend war, wurde das
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Spiel je nach Intensitätsgrad des Gesprächs teilweise fortgesetzt, gelegentlich wurde aber auch pausiert. Die Situation von This Situation wird getragen von den eingangs erwähnten Abwesenheiten, die in ihr zugleich diskursiviert werden. Der Diskurs, der hier geführt wird, ist grundlos und unreglementiert. Die Situation ist von niemandem zu überblicken, weder von den Interpreten, die immer nur einen kleinen zeitlichen Ausschnitt bespielen können, noch gar vom Publikum und auch nicht vom Künstler. Das »This« in This Situation verstrickt sich in eine Dialektik sinnlicher Gewissheit: Nach Hegel sind ›ich‹, ›hier‹ und ›jetzt‹, die ein je Besonderes, die Präsenz einer realen Gegenwart, indizieren sollen, die abstraktesten Begriffe überhaupt, da jeder, immer und überall »ich«, »hier« und »jetzt« sagen kann. This Situation entzieht sich, ist im permanenten Umbau und Übergang und doch nicht chaotisch. Es gibt Regeln, doch nur solche, zu denen man sich im Spiel verhalten kann. Selbst der Kanon der Zitate ist nicht vollkommen kanonisch: Den Interpreten ist es erlaubt, pro Tag ein neues Zitat selbst mit einzubringen. Die Grenze der Situation bleibt unscharf. Die Diskussionen werden oft eigentümlich real, engagiert; so wurden bestimmte Konflikte zwischen den Interpreten immer wieder aufgenommen oder auch nach dem Ende der Schicht fortgeführt – Beziehungs- und Inhaltsaspekte lassen sich oft so wenig trennen wie im wirklichen Leben. Ein Gefühl der ästhetischen Stimmigkeit ergibt sich vor allem aus dem Sinn der Interpreten und des Publikums für das Gelingen der Konversation, wobei sich dieses Gelingen gerade nicht an einer gelungenen Definition der Situation oder der Lösung eines Problems festmacht, sondern eher an einem Spiel unterschiedlicher Perspektiven, die keiner vorschnellen Versöhnung zugeführt werden können und die stattdessen etwas in Gang halten, was jede einzelne Perspektive übersteigt, was in immer wieder neue, überraschende Richtungen führt: »Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang. / Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet, / Ein Zeichen liegts vor uns, daß zwischen ihm und andern / Ein Bündnis zwischen ihm und andern Mächten ist.« (Hölderlin 1962: 430)
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L ITERATUR Aristoteles, Poetik, Griechisch/Deutsch, Stuttgart: Reclam 1986. Austin, John L., How To Do Things With Words, Cambridge: Harvard University Press 1975. Badiou, Alain, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München: Sequenzia 2002. Badiou, Alain, Manifest für die Philosophie, Wien: Turia + Kant 1997. Buber, Martin, »Ich und Du«, in: ders., Das dialogische Prinzip, Darmstadt: WBG 1984, S. 7-138. Debord, Guy, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat 1996. Dewey, John, Art as experience, New York: Penguin 2005. Dewey, John, Logik. Die Theorie der Forschung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Goffman, Erving, »The Neglected Situation«, in: American Anthropologist 66, 6/2 (1964), S. 133-136. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik, hg. v. F. Bassenge, Berlin: deb 1985. Hetzel, Andreas, Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld: transcript 2011. Hölderlin, Friedrich, »Friedensfeier«, in: Sämtliche Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe, Bd. 1-6, hg. v. Friedrich Beissner, Stuttgart: Cotta 1946-1962, Bd. 3, S. 430. Jaspers, Karl, Philosophie, Bd. 1. Philosophische Weltorientierung, Berlin: Springer 1974. Rölli, Marc (Hg.), Ereignis auf Französisch. Ereigniskonzeptionen der französischen Gegenwartsphilosophie, München: Fink 2004. Sartre, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1991.
Beweglicher Zugang, Bewegung als Zugang Performance – Geschichte(n) – Ausstellen B ARBARA B ÜSCHER
In den vergangenen Jahren widmete sich eine stetig steigende Anzahl von Ausstellungen (und Reenactments) der Vergegenwärtigung und Re-Vision der Geschichte von Performance-Kunst und integrierte Aufführungen in diesen Kontext. Die prominentesten Beispiele sind die Serie von Reenactments, die Marina Abramovic unter dem Titel Seven Easy Pieces (2005) im Guggenheim Museum New York zeigte, sowie ihre Show The Artist is Present im Museum of Modern Art New York (2010). Die Auflistung könnte auch mit der Ausstellung Art, Lies and Videotapes. Exposing Performance in der TATE Liverpool (2003) beginnen. Diese trägt schon im Titel die Reflexion über die Bedingungen und Möglichkeiten, Irrtümer und Paradoxa, die sich mit Fragen der Archivierbarkeit und Re/Präsentation von Performance Kunst verbinden lassen. 2007 thematisierte die Kuratorin Alice Maude-Roxby mit Live Art on Camera in der John Hansard Gallery in Southampton mediale Aspekte der gezeigten Artefakte und Zeugnisse aus der Geschichte der Performance-Kunst, die zugleich als solche der Fotografie-Geschichte zu lesen sind. Allan Kaprow – Art as Life (2006/2007), u.a. im Haus der Kunst in München, ist zu nennen, ebenso die dort 2010/2011 programmierte Ausstellung MOVE. Choreographing You sowie re.act. feminism (2008/2009) in der Berliner Akademie der Künste (vgl. Büscher 2009)1.
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Die Erfassung, Beschreibung und Analyse der Ausstellungen ist Teil des von der DFG geförderten Forschungsprojektes Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste, das von Franz Anton Cramer und mir geleitet wird.
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Sind diese Ausstellungen einerseits Ausdruck einer Institutionalisierung und Sicherung vergangener Ereignisse wie auch von deren Verwertung auf dem Kunstmarkt2, so zeigen sie gleichzeitig in ihrer gegenwärtigen Inszenierung und aktuellen Kontextualisierung neue Formen der Aneignung. Sie sind beweglicher Umgang mit den Archiven. Sie aktualisieren die Frage nach dem Charakter der Artefakte, auf die sich alte und neue Erzählungen zu und über Geschichte(n) der Performance beziehen, und sie thematisieren deren Lesbarkeit in je neuen Zusammenhängen. Man kann sie auch als Positionen in der Diskussion um den ontologischen Status von Performance Art – wie sie vor allem Peggy Phelan angestoßen hat – begreifen (vgl. Phelan 1996; Roms 2010; Giannachi/Kaye/Shanks 2009). Die kuratorische und inszenatorische Praxis, der die Ausstellungen sich verdanken, hat, oft explizit reflektierend, die Auffassung überschrieben, dass es um den Nachvollzug (oder eben unwiderruflichen Verlust) einer performativen Authentizität gehen könnte. Insofern kreuzt das Besondere der Historisierung und Re-Aktualisierung von Performance-Kunst in den Fragen nach Ereignis und Evidenz, nach Narrationen und beweglichem Zugang, nach Archiven und ihrer Wirkmacht, das Allgemeine der Geschichtsschreibung. In verschiedener Weise bewegt sich die Untersuchung dieses Feldes an intermedialen und interdiskursiven Schnittstellen: Sie lässt sich in einen wissenschaftlichen Teilbereich einfügen, der sich dem Ausstellen als einer Form der Wissensordnung und Re/Präsentation widmet. Sie greift Studien zum Thema ›Raum‹ auf, in denen dieser als konfigurierende Größe für unterschiedliche Beziehungen zwischen Betrachter/Zuschauer und Akteur/Objekt beschrieben wird. Räumliche Anordnung wird so als Handlungsanweisung sichtbar. Ferner stützt sich eine solche Auseinandersetzung auf Medientheorie und Medienarchäologie, da der mediale Charakter der ausgestellten und präsentierten Artefakte eine zentrale Rolle für ihre Lesbarkeit spielt. Insbesondere Fragen nach dem Dokumentarischen als Strategie sowie nach der Transparenz der medialen Transformation oder ihrem Hervortreten verweisen auf die Ambivalenz der Artefakte zwischen Zeugnis, Relikt, Spur und eigenständigem Kunstwerk.
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Die Kuratorin Barbara Clausen hat die Frage aufgeworfen, »inwiefern das derzeitige gesellschaftspolitische und kulturelle Begehren, sich aktionistische Gesten aus der Vergangenheit anzueignen, mit der derzeitigen Institutionalisierung und Kommerzialisierung der Performancekunst zusammenhängt« (2006: 9).
Beweglicher Zugang
A USSTELLEN : P RAKTIKEN DES Z EIGENS – I NSZENIEREN
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R AUM
Ausstellung, Galerie und Museum lassen sich als aufeinander bezogene Orte und Praktiken des Zeigens, des Zur-Schau-Stellens und des Versammelns von Artefakten beschreiben. Die Reflexion der Formen des An-Ordnens von Dingen im Raum, deren typologisierende Beschreibung ebenso wie ihre diskursanalytische Untersuchung auf visuelle Rhetoriken, aber auch das wiederum vor-zeigende Nachdenken über Ausstellen in Ausstellungen bilden das breite Spektrum aktueller Veröffentlichungen3. Die Gestaltung von Raum, die Inszenierung in Räumen, das Anordnen von Artefakten und deren Kontextualisierung – solche für Kuratoren und Ausstellungsmacher wesentlichen Aspekte des Ausstellens als Handlung finden sich auch in einem aktualisierten Begriff von ›Szenographie‹ wieder4. Dieser legt ebenso wie der Begriff der ›Inszenierung‹, der inzwischen zum Repertoire des Nachdenkens über Ausstellung und Museum gehört, eine Verbindung von Bühne/Performance und Kunst-Präsentation nahe. Als Inszenierung im Raum teilt die Ausstellung mit der Performance die Dimension des Temporären und Ephemeren. Ausstellungen sind auch als Aufführungen zu verstehen und als Ereignisse zu beschreiben (vgl. u.a. Bismarck 2006). »Das Interesse gilt mehr und mehr der Inszenierung selbst, der Szenografie, ihren Regelwerken und Institutionen. Der völlige Verzicht auf das isolierte Objekt zu Gunsten der Thematisierung des Raumes als institutioneller Rahmung, gesellschaftlicher Definition aber auch als Wahrnehmungsdisposition bildet den Höhepunkt.« (Schneemann 2007: 73)
Wenn Schneemann davon spricht, dass das isolierte Objekt zu Gunsten des Raumes aufgegeben wird, so verweist er auf eine gegenüber dem klassischen Kunstmuseum veränderte Wahrnehmungsstrategie. Die Idee vom Betrachten des Werkes als »Eins-zu-Eins-Gegenüberstellung von Objekt und Betrachter-Subjekt« (Richter 2008: 89), wie es u.a. Dorothee Richter formuliert hat, wird als historisch gewordene Vorstellung und Praxis durchstrichen. Die Geschichte dieses
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Beispielhaft seien hier genannt: Barchert/Koch-Haag/Sierek (2003); Bianchi (2007); Götz (2008); Hanak-Lettner (2011); von Hantelmann/Meister (2010); Heesen (2012); Heesen (2005); John/Richter/Schade (2008); Klonk (2009).
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Vgl. z.B. Brandstetter/Wiens (2010). In Kürze erscheint Büscher/Eitel/Pilgrim (2013). Der Band enthält Texte von Birgit Wiens, Detlef Weitz u.a. zum aktuellen Verständnis von Szenographie, vgl. hierzu auch den Beitrag von Birgit Wiens in diesem Band.
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Blickregimes als eines bürgerlichen hat Tony Bennett untersucht und herausgestellt, wie in der Anordnung der Dinge in verschiedenen Arten von Museen, in ihrer Kommentierung oder eben Isolierung Aspekte visueller Kompetenz, der Einübung von Kontemplation und Selbstbildung verankert werden (vgl. z.B. Bennett 2010; 2004). Auch verweist er darauf, dass sich die Adressierung des Betrachters und die in der Inszenierung im Raum entworfene Wahrnehmungsdisposition im 20. Jahrhundert verändern. »So kann man auch die aktuelle Neubestimmung der Ausstellung als Erfahrungsraum, wie sie seit der Minimal Art der 1960er Jahre und verstärkt seit den 1990er Jahren in Erscheinung tritt, im Spiegel gesellschaftlicher und ökonomischer Transformationsprozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts betrachten. […] Die Ausstellung als jener Ort, der sich unserem differenzierten Verhältnis zum Objekt widmet, wird immer mehr zu einem Ort, an dem es um die Erfahrung eines Verhältnisses zu sich selbst und zu anderen geht.« (von Hantelmann/Meister 2010: 17)
Welche anderen Formen und Konzepte der Adressierung und eventuell auch der physischen Aktivierung des Betrachters werden entwickelt? Dieser Frage gehen Analysen zu Inszenierung im Raum und zu Display-Entwürfen nach, und sie wird auch für die Beschreibung neuer Formen der Verbindung von Aufführen und Ausstellen im vorliegenden Beitrag bedeutsam werden. Wenn neben der Auswahl der Artefakte die Inszenierung im Raum das zentrale kuratorische Statement darstellt – muss dann eine je neue, originelle und überraschende Setzung als Kennzeichen neuen Ausstellens5 angesehen werden? An eine derartige Dynamisierung der Rauminszenierung schließen sich weitere Fragen an, sobald man die Beobachtung aufnimmt, dass und wie man »den [in der Anordnung im Raum und der Inszenierung der Objekte] eingelagerten Narrativen erst durch analytische Anstrengung auf die Spur kommen« (Muttenthaler 2008: 179) kann. Dass die Anordnung im Raum eine Lenkung des Betrachters ist, auch ein machtvolles Instrument zur Konstruktion von Wissen, Meinungen und Wertungen, hat u.a. die Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal am Beispiel des New Yorker Museum of Natural History gezeigt (Bal 2002). Untersuchungen wie die ihre widmen sich vorrangig der Inszenierung in historischen, ethnographischen oder ähnlichen Museen. Das scheint aufgrund der Zielsetzung solcher Institutionen, Wissen und politisch-soziale Haltungen zu vermitteln, naheliegend
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Vgl. dazu der thematische Schwerpunkt »Das neue Ausstellen« der Zeitschrift Kunstforum International in der Juni/Juli-Ausgabe 2007 (Bianchi 2007).
Beweglicher Zugang
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und mündet oftmals in eine politische Kritik, die sich u.a. auf den Entstehungskontext der jeweiligen Museen beziehen lässt. Kunstmuseen sind seit den 1960er Jahren zunächst von Künstlern selbst, im Rahmen der später so genannten institutional critique untersucht, unterlaufen und ihre Inszenierungspraktiken wahrnehmbar gemacht worden6. Unlängst hat Charlotte Klonk in ihrer Studie Spaces of Experience die Inszenierungsstrategien von Museen und Ausstellungen an historischen Wendepunkten untersucht und gefragt: »How have Western cultures used the art gallery since the eighteenth century to conceptualize the nature of subjective experience, its value and its relationship to the ideal of society pursued at the time?« (Klonk 2009: 3; vgl. auch dies. 2010). Ob und wie werden in den Präsentationen selbst die An-Ordnungen als Ordnungen durchschaubar gemacht? Gibt es eine darauf zielende explizite Kontextualisierung der Artefakte? Oder: Gibt es stattdessen Mehrdeutigkeit und beweglichen Zugang, verschiedene Wege der Aneignung? Neben die Fokussierung auf die Inszenierung im Raum treten je nach Typ der Ausstellung und dem musealen Kontext Überlegungen zum Status der Artefakte, die jeweils angeordnet werden. Wie etwa gestaltet sich der Übersetzungsvorgang vom Archiv- oder Sammlungsobjekt zum Exponat7? Gerhard Korff hat, bezogen auf (kultur-)historische Ausstellungen und Museen, festgestellt: »Das Museum, so schreibt Paul Valery, ist das Haus des Nichtzusammengehörigen, wo elternlose Dinge ihren Ort haben und dort in neuen, der Erkenntnis und der Unterhaltung dienenden Ordnungen vorgeführt werden. […] Die Ausstellungsarchitekten u.a. gestalten Räume, die Objekte in ›falschen‹ Zusammenhängen, aber ›instruktiven‹ Ordnungen zeigen und machen dabei die Räume selbst zu bedeutungsgenerierenden Konstellationen.« (Korff 2008: 124f.)
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Beispielhaft sei hier verwiesen auf die Ausführungen zur Arbeit Daniel Burens bei Dorothea von Hantelmann. Sie schreibt: »Welche Ebenen der ›Kontext‹ eines Kunstwerks umfassen kann, hat Buren in seinen Arbeiten der letzten vier Jahrzehnte aufgezeigt: Der Kontext kann ein räumlicher, diskursiver, institutioneller, ökonomischer oder auch ideologischer sein. Er kann von der Architektur des jeweiligen Ortes ausgehen oder von den Konventionen seiner Benutzung, von seinem Verhältnis zur Stadt, zur Geschichte, zur Gesellschaft« (von Hantelmann 2007: 79).
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Das ist eine der Fragen, denen das vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsprojekt Wissen und Museum 2009-2012 nachging, vgl. http://www.wissen-und-museum.uni-tuebingen.de/ (19.06.2013).
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Die Rede vom Objekt im ›falschen‹ Zusammenhang lässt sich nicht einfach auf das Ausstellen von Kunst/Werken übertragen, scheint die Ausstellung doch heutzutage deren ureigenster Präsentations- und ›Gebrauchs‹-Zusammenhang zu sein. Und doch gibt es auch hier eine Form der Dekontextualisierung, die bei einer alleinigen Konzentration auf den Wert des Ästhetischen, Einmaligen, Dauerhaften der Werke verschwindet. Das Verhältnis zwischen dem Status der Artefakte im musealen Zusammenhang von Wissensvermittlung, als Verweis und Zeugnis mit besonderer sinnlicher Anmutung (vgl. z.B. Thiemeyer 2011), und dem Status der Werke in Kunstmuseen, wirft in dem hier thematisierten Zusammenhang wichtige Fragen auf und weist auf den ambivalenten, mehrdeutigen Charakter der Artefakte hin. Lässt sich diese Idee der ›Objekte im falschen Zusammenhang‹ nicht auf den Bereich des Ausstellens von Performance-Kunst anwenden, auch wenn die genannten Präsentationen an Orten zeitgenössischer Kunst stattfinden? Werden nicht die Relikte, Spuren, Zeugnisse vergangener Ereignisse aus ihrem Kontext herausgelöst und in einen neuen Zugang eingestellt? Sollten die in diesem Kontext ausgestellten Artefakte sowohl als Zeugnisse wie als Kunstwerke/-prozesse verstanden werden?
E XKURS : … IM M EDIUM DER A USSTELLUNG . RÄUME , W EGE , Z ONEN ( VISUELL UND AUDITIV ) An dieser Stelle möchte ich auf eine Ausstellung hinweisen, die sich in diesem Sinne als Versuch, als Experiment mit offenem Ausgang verstanden hat: die von Jean-François Lyotard und Thierry Chaput gemeinsam mit dem Ausstellungsarchitekten Philippe Délis und einer großen Gruppe von Kuratoren 1985 im Pariser Centre Pompidou inszenierte Schau Les Immatériaux8. In dem Versuch, das Ausstellen als Medium des Philosophierens zu praktizieren, wurde eine Vielzahl von Situationen und Räumen inszeniert, die Artefakte aus den unterschiedlichsten Bereichen (Kunstwerke, Dokumente, Gegenstände der Alltagskultur, technische Apparate, Texte usw.) zueinander anordneten und die kulturell eingeübten Hierarchien ihrer Wertschätzung unterliefen. Dies ist ein Aspekt, der an die Frage nach dem ambivalenten Charakter der ausgestellten Artefakte andockt.
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Vgl. v.a. Wunderlich (2008), aber auch die Beiträge zu der internationalen Konferenz Landmark Exhibitions, die 2008 in der Tate Modern London stattfand: Rajchman (2009); Heinich (2009); Hudek (2009).
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»Es interessiert mich zu erfahren«, hatte Lyotard 1985 im Gespräch gesagt, »ob die Philosophie in der Lage ist, sich in einen großen Raum ›einzuschreiben‹ – indem sie nicht ein einziges, sondern viele Materialien benutzt: Raum, Ton, Licht, Malerei, Photographie, Video, synthetische Bilder, audiovisuelle Instrumente etc. Diese Ausstellung befindet sich an einem Schnittpunkt zwischen Schrift und Kultur: ein riskantes Spiel« (Härle/Syring 1985: 106). Als eines der Ziele dieser Einschreibung von Philosophie in ein anderes Medium als das Buch (Lyotard 1985: 62) ist in einer Presseerklärung die Sensibilisierung des Publikums für den Abschluss eines Zeitabschnitts, die Neugier auf den Anbruch der Postmoderne genannt. Es gehe darum, eine Sensibilität zu wecken, »von der wir glauben, dass sie beim Publikum bereits vorhanden ist, jedoch noch ohne Ausdrucksmittel« (ebd.: 11). Die Einschreibung des Denkens in den Raum erfordert ein Höchstmaß an Reflexion der An-Ordnung und der Anmutungsqualitäten der ausgestellten und in Zusammenhang gebrachten Artefakte. Die vom ganzen Körper aus gedachte Wahrnehmung und Aneignung der im Parcours ausgefalteten Ideen und Fragen betont immer wieder das Gehen und Sehen, das Gehen als Sehen und Hören, dem sich in Les Immatériaux explizit ein Audioprogramm widmete, welches als eigenständige, nicht erläuternde, sondern erweiternde Ebene zu den visuellen Artefakten hinzutrat9. Die Körper-Bewegung des Betrachters in ihrem Unterschied zum Kino oder Theaterraum wird hier als eine Möglichkeit der aktiven Aneignung von Situationen und An-Ordnungen begriffen. Etabliert wird ein komplexes Wegesystem, das mehrere Varianten offen hält, nicht auf eine lineare Erzählung in der Abfolge setzen will und kann, und so die Such-Bewegung der Ausstellungskonzeption quasi körperlich für den Betrachter erfahrbar macht10. Oder wie es ein Text zur Ausstellung beschreibt: »Der Besucher spaziert in einem Rhizom herum, in dem kein Wissensfaden aufscheint, sondern generalisierte Interaktionen, Deplatzie-
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Zum Audioprogramm vgl. Wunderlich (2008: 49f.). Eine detaillierte Untersuchung zu diesem Aspekt von Les Immatériaux gibt es meines Wissens nicht.
10 Wunderlich gibt in ihrer Einleitung einen ersten Überblick: »Lyotard, sein Mitkurator Thierry Chaput und der Ausstellungsarchitekt Philippe Délis gliederten die Ausstellungsfläche in einen aus fünf Wegen bestehenden Parcours. Ein kompletter Rundgang durch die sparsam beleuchteten Räume, deren Grundfarbe ein dunkles Grau war, führte an insgesamt 61 Stationen entlang, die als eigenständige Einheiten konzipiert waren. Zudem wurde jedem Besucher am Eingang ein Kopfhörer ausgehändigt, mit dem er Texte und Klänge empfangen konnte, die in 31 über die Ausstellung verteilten Infrarot-Sendezonen ausgestrahlt wurden« (Wunderlich 2008: 10).
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rungsprozesse, in denen der Mensch nicht mehr als ein Interface-Knoten ist« (zit. nach Wunderlich 2008: 56)11. Und an anderer Stelle, im Konzept zu Immaterialien, heißt es, dem Auge werde das Exklusivrecht, das ihm die moderne Galerie zuspricht, entzogen: »Die zur Reflexion zwingende Unruhe, das von der Ausstellung angestrebte Ziel, kann durch einen vorgezeichneten Weg durch die Ausstellung nicht bewirkt werden. Es darf keine Ausstellung (exposition) sein, sondern es sollte eine Überausstellung (surexposition) sein im Sinne der ›überbelichteten Stadt‹ (ville surexposée), von der Virilio spricht. Die ausgestellten Objekte sollen auch nicht mehr nach ›Materien‹, Themen oder Disziplinen verteilt werden, als sei die Aufteilung, auf der diese beruhen, heute noch intakt.« (Lyotard 1985: 88)
Das Schreiben über eine solche Inszenierung im Raum, welche die Ordnung der Dinge und ihre Befragung körperlich erfahrbar machen will und zugleich das Schwindelerregende als Teil der Arbeit an neuem Wissen nahelegt, muss im Grunde den Vorgang der ›Einschreibung in ein anderes Medium‹ wieder rückgängig machen bzw. ihn transformieren. Es verdeutlicht aber auch, wie schwierig es ist, gerade in solchen Fällen der experimentellen Neu-Fassung eine Idee von der Adressierung des Betrachters zu re-konstruieren. Wunderlich hat das im dritten Teil ihres Bandes versucht und dazu eine abgewandelte Form der ›dichten Beschreibung‹ (nach Clifford Geertz) vorgeschlagen12.
11 Das Zitat ist die deutsche Fassung der folgenden Stelle aus dem Album – einer der Publikationen zur Ausstellung: »Monsieur Lyotard ne voit pas l’exposition comme un voyage de connaissances ou récit de formation. Pour lui, il n’y a pas de chemin préférentiels. Le visiteur déambule dans un rhizome où apparait, non pas un fil de connaissances, mais des interactions généralisées, des processus de déplacement dans lesquels l’homme n’est qu’un noeud d’interface« (Centre Georges Pompidou 1985, Bd. 2: 13). 12 »Es handelt sich um eine ›dichte Nacherzählung‹ (den Begriff der ›dichten Beschreibung‹ von Geertz modifizierend) eines fiktiven Besuches der Ausstellung, in der objektivierbare Daten mit einer subjektiven Vorstellung davon, wie ein solcher Besuch von statten gegangen sein könnte, zusammenfließen« (Wunderlich 2008: 17f.).
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P ERFORMANCE (G ESCHICHTE ) A USSTELLEN – B EWEGUNG IM R AUM Der Raum der Ausstellung wird nicht nur zum zentralen Parameter der kuratorischen Inszenierung sondern auch zur Handlungsanweisung an die Besucher/Betrachter/Akteure. Die Abfolge der Räume im Raum, der Situationen oder Stationen und das offene oder stark lenkende Wegesystem laden ihn ein oder weisen ihn an, wie die Zusammenstellung der Artefakte zu ›lesen‹ ist, wie sie auch gelesen werden kann oder wie man Sichtweisen variieren soll. Für die folgenden Überlegungen zu zwei beispielhaften Ausstellungen, die sich in sehr unterschiedlicher Weise der Geschichte von und dem aktuellen Zugang zu performativen Kunstformen widmen, sollen genau diese Aspekte eine Rolle spielen: • Wie werden ein Konzept und eine Auffassung vom Umgang mit PerformanceGeschichte nicht nur in der Auswahl von Artefakten deutlich, sondern wie werden sie in eine markante Inszenierung im Raum transferiert? • Wie wird die Auswahl der Artefakte kontextualisiert, also ihr besonderer Status sichtbar gemacht bzw. reflektiert? • Wie wird der Betrachter (bzw. werden verschiedene Arten von Publikum) adressiert, welche Wege werden eröffnet, wie ein aktueller Zugang geschaffen? Welche Handlungsanweisungen werden nahegelegt? Gibt es so etwas wie eine Dramaturgie, eine Entfaltung der Konzeption/Narration des kuratorischen Konzeptes in der Zeit? Allan Kaprow – Art is Life (2006-2008) Die Ausstellung Allan Kaprow – Art is Life wurde von Eva Meyer-Hermann und Stephanie Rosenthal kuratiert und in einer Szenographie des in Berlin ansässigen Büros cheweitz & rosapple inszeniert. 2006/2007 wurde sie zunächst im Haus der Kunst in München gezeigt, dann in Eindhoven, Bern, Genua und 2008 in Los Angeles. Ein erstes Merkmal, welches das Projekt nicht unbedingt von traditionellen Kunstausstellungen, wohl aber von dem zweiten Beispiel meiner Überlegungen hier unterscheidet, ist die Tatsache, dass es sich um eine monografische Ausstellung handelt. Sie widmet sich dem Werk eines Künstlers und rückt dabei seine performativen Arbeiten ins Zentrum. »What is a Happening? – A game, an adventure, a number of activities, engaged in by participants for the sake of playing. (Allan Kaprow 1967)« – diese Kurzdefinition findet sich auf dem Cover des Begleitheftes zur Ausstellung. Mit
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ihr verweisen die Autorinnen zugleich auf einen wesentlichen Aspekt ihrer Konzeption, die Stephanie Rosenthal im Gespräch so beschreibt: »The focus of the concept Eva Meyer-Hermann and I developed together was less on documentation of past events. The main idea of the exhibition was to make the scores Kaprow had selected available to the public so that Happenings could be restaged. Instead of reporting on events, the exhibition would produce New Happenings.« (Rosenthal 2012: 24)
Es ist interessant zu wissen, dass Kaprow an der Vorbereitung der Ausstellung noch mitwirken konnte – er starb 2006. Seiner Skepsis gegenüber einer Musealisierung seiner Kunst hatte er dadurch Ausdruck verliehen, dass er nicht von exhibition, sondern von presentation seiner Arbeit sprach (Meyer-Herrmann 2007: 70). Kaprow übergab seine Handlungsanweisungen in Form der Scores ausdrücklich dem Publikum, auf dass es sie ›neu erfinde‹: »Since Kaprow’s Happenings and Activities were about participation, it seems logical to allow new versions to be made by other people […]. So he decided, for the purposes of this exhibition, to invite others to realize new versions of Happenings, in effect to ›re-invent‹ them« (Rosenthal 2007: 74). Reinvention war der Begriff, den Kaprow solchen aktuellen Aneignungen gab.
Abbildung 1: Ansichten aus Allan Kaprow. Kunst als Leben, Haus der Kunst, München, 2006
Beide Kuratorinnen sprechen in verschiedenen Texten (Meyer-Herrmann 2007; Rosenthal 2007; beide auch in: Potts 2008) von zwei leitenden Ideen, die das Projekt motivierten und eben dazu führten, dass nicht nur erstens die einzelnen Räume des Museums mit verschiedenen Formaten ›bespielt‹ wurden und man dem Konzept so eine spezifische Form der räumlichen Inszenierung zuordnete, sondern dass zweitens das Projekt in den Stadtraum und andere Aufführungsräume übergriff. Diese beiden Ideen, die auch eine Antwort auf die grundlegende
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Skepsis des Künstlers versuchten, bezeichnen die Ausstellungsmacherinnen als »museum as mediation« und »agency for action« (Meyer-Herrmann 2007: 71; Rosenthal 2007: 73). Der Grundriss der räumlichen Aufteilung im Haus der Kunst in München zeigt verschiedene Zonen, die mit unterschiedlichen Materialien, Informationen und Handlungsmöglichkeiten die Besucher adressierten13. In der zentralen Eingangshalle, die ohne Eintrittskarte zugänglich war, wurden aktuelle Aneignungen von Environments und ein Teil der Scores in Vervielfältigungen gezeigt. Entschied man sich, die Ausstellung zu besuchen, fand man zunächst in zwei Räumen Malerei und Collagen Kaprows aus der Zeit, bevor er seine Arbeit um räumliche und zeitliche Dimensionen erweiterte. Rosenthal erläutert diese AnOrdnung und das Zusammenspiel verschiedener Aspekte im Umgang mit den historischen Artefakten, die hier sowohl als materielle Zeugnisse wie als Handlungsanweisungen für künftiges Spiel verstanden sind: »An essential part of our exhibition was the idea of opening the archive to the public. […] We felt it was necessary in the exhibition to show the audience the context in which the Happenings had originated. So in addition to the original scores and the reproductions of Kaprow’s photographs, we also showed his early paintings, which we saw as an important starting point for his development of the Environment and Happening concepts. Although we led off at the Haus der Kunst with the Environments, in the big entry hall, and with Kaprow’s paintings, in the first exhibition space, the exhibition was primarily structured around the image of a library or archive. Our point of departure was the idea of an active engagement with archived materials, with copies of the scores and projected reproductions of photographs.« (Rosenthal 2012: 24ff.)
Ergänzt wurden die Artefakte durch eine umfassende Video- und Filmsammlung, die dem Besucher erlaubte nachzuvollziehen, dass und wie Kaprow seine Scores wiederholt und in anderen Zusammenhängen und an wechselnden Orten performativ realisiert hatte. So dominierte den zentralen Ausstellungsraum eine Archiv-Inszenierung des historischen Materials, in der die Möblierung (Arbeitstische, Overheadprojektoren, Stationen zur Durch- und Ansicht von Film- und Videomaterial) dem Besucher eine Arbeitsatmosphäre offerierte und ihn einlud,
13 Es ist interessant zu sehen, wie sich eine solche Konzeption mit dem Ort, in den sie sich einfügen soll, verändert. So ist im Grundriss der Eindhovener Ausstellung eine inszenatorische Variante realisiert worden, die dem Besucher aufgrund der spezifischen architektonischen Gegebenheiten eine anfängliche Wahlmöglichkeit für den Parcours eröffnete.
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das Material zu studieren. In einem Papier der Szenographen Detlev Weitz und Rose Epple wird die Wahl der Ausstattung auch als Reaktion auf »den starren architektonischen Monumentalismus« des Münchener Hauses beschrieben: »Alle Materialien der Szenografie, etwa aus dem Modellbau stammende Schaumstoffe und Pappen (aus denen die Sitz- und Liegemöbel gemacht sind), Post-Its als Beschriftungsschilder etc. evozieren zusammen mit den Stahltischen, Overheadprojektoren, Bürohockern ein kreatives Büro oder eine Werkstatt. Der Charakter dieses Interieurs wirkt dem erhabenen Rahmen des Großen Saals entgegen.« (Weitz/Epple o.J.)14
Wenn auf der einen Seite innerhalb der Ausstellungsinszenierung die Möglichkeit bestand, sich wie in einem Archiv mit reproduzierten Scores, Fotos und den Filmen zu verschiedenen Varianten und Aufführungen von Kaprows Happenings zu beschäftigen, wurden andererseits auf ›klassische Weise‹ Originale präsentiert: »While we presented archival material such as old booklets and scores in vitrines, the photos were only accessible via overhead projectors. […] On the other hand, by using copies, we emphasized that documentary materials and scores have various qualities: besides their function as instructions for action, the scores also possess particular value as exhibits. Formal aspects such as Kaprow’s choice of paper, his placement of words, and the way he wrote on the paper create an independent meaning for the original object. Many of the pages resemble concrete poetry.« (Rosenthal 2012: 26)
Indem zu der Ausstellung in den Räumen des Hauses der Kunst die Re-Invention von Happenings und Aktionen durch verschiedene Gruppen von Akteuren trat (agency for action nannten die Kuratorinnen diesen Teil), wurde der Raum des Projektes erweitert: zum einen in die Innenstadt, den Außenraum hinein, in dem eine breitere Öffentlichkeit adressiert und jenseits der Rahmung durch den Kunstkontext mit diesen Aktivitäten konfrontiert wurde. Zum anderen ergänzte die Schau ein gesondert gebautes Environment im Haus der Kunst, in dem das ›Redoing‹ (Lepecki 2009; 2007) von 18 Happenings in 6 Parts aufgeführt wurde15. In einem weiteren Raum war der Choreograph Thomas Lehmen eingeladen,
14 Vgl. www.szenografie.org/data/downloads/CWRA_Kaprow_d.pdf (19.06.2013). Detlef Weitz wird in seinem Text für den Band Büscher/Eitel/Pilgrim (2013) auch diese Ausstellung reflektieren. 15 Unter der Leitung von André Lepecki fand dieses Re-Doing mit professionellen Performern und Tänzern statt. Den unterschiedlichen Zugang zu dieser Arbeit begründet
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für einige Tage seine interaktive Installation Invitation16 zu zeigen (vgl. Ploebst 2006). Auf die beschriebene Weise machte die Ausstellung das Ambivalente sowie die unterschiedlichen Qualitäten der Artefakte zum Thema und in-szenierte diese in verschiedenen räumlichen Anordnungen. Sie beschränkte sich nicht auf das Ausstellen im engen Sinne, sondern lud die Besucher ein, sich das Material aktiv anzueignen und beauftragte außerdem Experten mit der performativen ReAktualisierung der Scores. Die konzeptionelle Grundidee der Verbindung eines temporären Archivs mit öffentlichem Zugang mit einer Ausstellung haben einige Projekte aufgegriffen und je eigene Varianten entwickelt. Dazu gehört u.a. das Archiv- und Ausstellungsprojekt re.act feminism#2: a performing archive, ein internationales Videoarchiv zu Arbeiten von ca. 120 Künstlerinnen, das von Oktober 2011 bis September 2013 durch Europa tourte und an den einzelnen Stationen jeweils ergänzt, kommentiert, bearbeitet und diskutiert wurde17. Ebenso zu nennen wäre das bereits abgeschlossene, in Basel von einer Forscherinnengruppe der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) mit verschiedenen Kooperationspartnern realisierte archiv performativ18. MOVE – Choreographing You: Kunst und Tanz seit den 60er Jahren (2010-11) 2010 kuratierte Stephanie Rosenthal, die Ko-Kuratorin des Kaprow-Projektes, für die Londoner Hayward Gallery Move. Choreographing You. Unter dem Titel MOVE. Kunst und Tanz seit den 60er Jahren wurde die Ausstellung 2011 wiederum im Haus der Kunst in München sowie in der Kunstsammlung NRW K 20 in Düsseldorf gezeigt. Diese Ausstellung untersuchte und präsentierte das Verhältnis von visueller Kunst und Performance/Tanz. Ausgangspunkt war die These, dass mit den expe-
deren von späteren Happenings unterschiedener Charakter: »It was the only work that we reenacted rather than reinvented for the purposes of the exhibition. A transitional work, 18 Happenings had a structure that differed significantly from the later Happenings. Designed so that it could be re-enacted, 18 Happenings follows a highly detailed score that consists of a complicated sequence of actions and pauses, combined with music and light« (Rosenthal 2008: 66). 16 Vgl. www.thomaslehmen.de (19.06.2013). 17 Vgl. http://www.reactfeminism.org/prog_overview.php (19.06.2013). 18 Vgl. www.zhdk.ch/?archivperformativ (19.06.2013).
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rimentierenden Bewegungen der Künstler der 1960er Jahre eine Markierung gesetzt wurde, die das Verständnis von Choreographie und professionellem Kunst-Tanz neu bestimmte. Es waren sowohl Skulpturen und Installationen aus dieser Zeit wie auch aktuelle Arbeiten von Choreografen zu sehen, die wiederum Anlass für körperliche Bewegung der Besucher wurden. Entscheidend für das kuratorische Konzept von MOVE war die Aufforderung und Einladung an die Besucher, aktiv zu partizipieren – was im englischen Titel deutlich hervortritt. »To what extent do sculpture and installation define, manipulate and choreograph the movements of exhibition visitors? How can we historically trace the way an exhibition visitor becomes a dancer? These questions constituted the starting point for the exhibition […]. This concept is circumscribed by two decisions: First, the question only achieves significance as an exhibition concept if it works in relation to the visitor. Second, at the same time, I had the feeling that it would be interesting to tell the story of the connection between visual arts and dance from a broad perspective of contemporary positions from different backgrounds.« (Rosenthal 2012a: 133)
Hier scheinen verschiedene Motive auf, die historische Aspekte mit aktuellen Entwicklungen verbinden. Dazu gehört die Überlegung, dass jede Ausstellung die Bewegung ihrer Besucher ordnet und lenkt, um Sehen und Gehen als zwei verschiedene Modi der Wahrnehmung zu koppeln. Rosenthal hat das an anderer Stelle noch deutlicher formuliert19. Im Pressetext zur Düsseldorfer Ausgabe heißt es: »Sehen und Bewegen, so die These von MOVE, sind gleichrangige Mittel der Wahrnehmung und Erkenntnis«20. Dies, und daran knüpft die Auswahl der Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre an, ist zum Gegenstand, Thema und impliziten Gestaltungsparameter der Künstler selbst geworden, wenn diese Installationen entwerfen, in denen die Bewegung(serfahrung) der Besucher wesentlich
19 Im Text des Katalogbuchs schreibt Rosenthal u.a.: »Works of art invite visitors to an exhibition to perform certain movements, effectively creating a choreography for them. Movement becomes an element of the artwork by virtue either of the traces it leaves on the canvas or of the interaction between viewer and work. My interest, then, is in the ways in which artists strategically employ choreography in their installations and sculptures« (Rosenthal 2010a: 10). 20 Die Pressemappe zur Düsseldorfer Variante der Ausstellung findet man hier: http:// www.kunstsammlung.de/fileadmin/user_upload/pdf/Pressemappe_MOVE_final.pdf (19.06.2013).
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wird. Die gezeigten Installationen von Bruce Nauman, Dan Graham, Robert Morris u.a. sind hierfür Beispiele21. Die aus derselben Zeit stammenden choreographischen Objekte22 von Simone Forti, Yvonne Rainer und Trisha Brown wiederum zeugen von einer konzeptionellen Nähe zwischen Tanz/Choreographie und Bildender Kunst, wie sie Rainer zu Beginn ihres berühmten, 1966 verfassten Textes A Quasi Survey of Some ›Minimalist‹ Tendencies (1974) auflistet. Die skulpturalen oder installativen Objekte fungieren entweder als Impulsgeber für die Bewegung professioneller Tänzer oder als Aufforderung an Besucher zur Partizipation. In beiden Fällen verweisen sie auf alltägliche Bewegungen jenseits von tänzerischer Virtuosität (vgl. u.a. Büscher 2003). Sie bieten dem Besucher an, die in den Objekten implementierte Idee der Choreographie am eigenen Leib zu vollziehen, und sie treiben die Idee und die Auffassung, dass Raum als Handlungsanweisung zu verstehen ist, in eine neue Dimension: »The exhibition is about the use of one’s own body« (Rosenthal 2012: 138). Auch wenn die räumlich-konzeptuellen Bedingungen der drei Ausgaben von MOVE sehr unterschiedlich waren23, die konkreten An-Ordnungen variierten und dabei die Erfahrungen vorhergehender Stationen aufgenommen wurden, standen die choreographischen Objekte, Skulpturen und Installationen, die dem Besucher einen Parcours zur eigenen körperlichen Bewegung anboten, immer im Zentrum. »The pieces become sculpture through participation. That’s why we decided in Munich and Düsseldorf to do without exhibition architecture, provided we could find appropriate spaces. […] In both places there was that great hall that provided the lead-in, so that you could say, this is the heart of it. That’s were the pieces from the 1960s and 1970s were displayed.« (Ebd.: 136-137)
21 Unter dem Titel Walkaround Time gibt das Katalogbuch einen Überblick über die Arbeiten und Aktivitäten in und um die Londoner Ausstellung, der gleichzeitig als Chronologie gelesen werden soll (vgl. Rosenthal 2010: 164-168). 22 Den Begriff habe ich von dem Choreographen William Forsythe adaptiert (vgl. Forsythe 2008). Dieser stellt damit die Verbindung zwischen den historischen Arbeiten und seiner eigenen Arbeit The Fact of Matter (2009) her, die in der Ausstellung vertreten war. 23 Rosenthal verweist selbst auf die jeweils durch Ort und Raum bedingten Unterschiede zwischen den drei Ausstellungsvarianten. Dies wäre weiterführend differenziert zu untersuchen (vgl. Rosenthal 2012a).
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Dass die choreographierten Situationen mit Besucherpartizipation gelegentlich wie ein großer Spielplatz mit mehr oder weniger schwierig zu bewältigenden Turnübungen erschienen, ist ein Aspekt, der die Frage nach dem Verhältnis von Spiel und Reflexion auch für die Kuratorin im Nachdenken über die Reaktionen der Besucher aufgeworfen hat. »Lots of things were very different from what I expected, like the sometimes intense performance situation/participation by the public. In those cases, the joy and lightness of taking part in the work seemed to outweigh any reflection on a work’s concept. I’m not sure I really succeeded in getting visitors to question their own actions in relation to their understanding of sculpture and performance.« (Rosenthal 2012a: 139)
Die aktuellen Arbeiten der eingeladenen Choreographen – Boris Charmatz, La Ribot, Mårten Spångberg/Xavier Le Roy u.a. – reagierten mit selbstreflexivem Gestus auf die Ausstellungs-Inszenierung, wie es z.B. in der Arbeit production erkennbar ist24. Für die Düsseldorfer Variante ergab sich aufgrund von Charakter und Profil des Hauses ein zusätzlicher Aspekt: Aus der Sammlung wurden Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre – z.B. von Jackson Pollock – integriert, die zwar nicht zur Interaktion gedacht waren, aber »das Nebeneinander formaler Analogien« (Krystof 2011: o.S.) in genau geführten Blickachsen in den beiden Hallen hervorhoben und damit einen kunsthistorischen Zusammenhang offerierten: »The perspective we created in Düsseldorf was more an art-historical contextualization and inquiry. There my concept was based on an examination of Jackson Pollock« (Rosenthal 2012a: 137). Diese kunsthistorische Kontextualisierung wurde wie schon in der Kaprow-Schau durch die Kombination von Ausstellung und Archiv unterstützt. Das Archiv hatte Rosenthal gemeinsam mit André Lepecki zusammengestellt. Es war in einer nach verschiedenen Kategorien navigierbaren Datenbank organisiert, die an Arbeitsplätzen am Rand der Ausstellung zur Vertiefung in das historische Material einlud. Verfügbar gemacht wurde so Ma-
24 production von Le Roy und Spångberg ist ein Kommentar zu der zentralen konzeptionellen Setzung von MOVE, indem hier Tänzer die Zuschauer in ein Gespräch über eine oder mehrere Arbeiten verwickeln. Damit wird die Reduktion auf einfache körperliche Bewegungen als Moment der Aneignung in Frage gestellt: »The performers invite the visitors to participate in a conversation about a work – a choreography of intellectual exchange« (Rosenthal 2010a: 20).
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terial zu 175 Arbeiten von 140 Künstlern – vorwiegend Filme, aber auch Fotografien und Partituren25. Relevant im Zusammenhang mit der hier diskutierten Frage nach dem ambivalenten Charakter der Artefakte ist, dass die Kuratorin in Hinblick auf die in dieser Datenbank als Archiv zugänglichen Artefakte eine eindeutig abgrenzende Auffassung vertritt: »The question of whether a documentation of a performance becomes a work in its own right, or constitutes an autonomous position in the presentation of an exhibition, did not arise for me with this show, because all the materials presented in the archive are documentations. There’s no mixing of media works and documentary materials.« (Rosenthal 2012a: 134)
Z UM S CHLUSS In den aktuellen Diskussionen und Reflektionen zu Methoden der Archivierung und Geschichtsschreibung performativer Künste verbinden sich Überlegungen zu einem beweglichen Zugang mit medientheoretischen Fragen. Die Beglaubigungsstrategien, welche Aussagen und Bilder als Dokumente oder Zeugnisse auszeichnen, werden als solche sichtbar gemacht und befragt. Dokumente oder Spuren – beide Begriffe sind medientheoretisch aufgeladen26 – von Performances oder allgemeiner von Aufführungen werden als mediale Transformationen verstanden, deren technisch-apparative und ästhetisch-diskursive Bedingungen reflektiert werden müssen. Ihre Medialität darf nicht mehr als notwendige Voraussetzung vernachlässigt werden, sondern muss gerade als Bedingung aktueller Lesarten und Kontextualisierungen begriffen werden. Was wird unter welchen Bedingungen wie als Bewegung aufgezeichnet? So könnte eine der sich hier anschließenden Fragen lauten. Für die Lesbarkeit unterschiedlicher audiovisueller Artefakte eines Performance-Archivs sind die Kontextualisierung in der Präsentation und ihre An-Ordnung zueinander entscheidend. Installative Anordnungen von Archiv-Materialien unterschiedlichen me-
25 Die Untersuchung der An-Ordnung des Archiv-Materials in neun verschiedene Kategorien soll weiterführend an anderer Stelle unternommen werden. Das Archiv selbst war temporär und ist mittlerweile wieder aufgelöst worden. Es bleiben nur die Beschreibungen und Listen, die der Katalog enthält. 26 Vgl. zum Thema Spur z.B. Krämer (2007) und zum Themenkomplex insgesamt Büscher (2009).
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dialen Charakters erlauben dem Betrachter, einen wechselnden Standpunkt einzunehmen und im Raum ein Verhältnis zwischen verschiedenen medialen Formaten herzustellen. Womit wir erneut bei den Wegen, Räumen und räumlichen Dispositiven als Medien der Reflexion und Bedeutungsgenerierung sind.
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Die (un)wissenden Körper Choreographie als Reflexionsraum für Körperbilder und Tänzerkörper J ULIA W EHREN
»Even if you don’t know how to name an arabesque and you see it, it is still possible to reconstruct it. You can find in yourself a kind of archeology of things you thought you would never know, but you actually do know« (Charmatz 2010: 15). Ausgehend vom Sehen also, ohne genau zu wissen, um was es sich handelt, kann eine Bewegung, so der französische Choreograph Boris Charmatz, rekonstruiert werden. In Bezug auf Bewegung ist demzufolge ein Wissen vorhanden, nur »weiß« man dies nicht. Es gründet auf einem erst noch zu erschließenden und zu erarbeitenden archäologischen Fundus, einem Archiv des Körpers, zu dem sich der Choreograph im künstlerischen Prozess Zugang verschafft und das wiederum dem Publikum mittels der Tänzerkörper zugänglich wird1. Dieses ›Archiv des Körpers‹, seine Übertragung und Historisierung sollen im Folgenden anhand der beiden Choreographien 50 ans de danse und Flip Book (beide 2009) von Boris Charmatz diskutiert werden. Zwei Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: Wie wird im und am Körper gespeichertes Wissen in diesen Stücken aktualisiert und reflektiert? Und welche Körperbilder und Körperkonzepte lassen sich beobachten? Boris Charmatz, Leiter des Musée de la danse in Rennes, entwarf 2007 auf der Grundlage eines Bildbandes zu Merce Cunningham ein einfaches choreographisches Konzept zur Transposition von Bildern in Bewegung. Es besteht aus dem Nachstellen der auf den Fotografien des Buches sichtbaren Posen, von
1
Zum Begriff »Archiv des Körpers« bzw. »Körperarchiv« vgl. Cramer (2013: 219221).
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denen ausgehend nach möglichen Bewegungen vor, nach und zwischen den einzelnen Bildern gesucht wird2. Rund 300 Fotografien aus den Jahren 1944 bis 1994 bilden die Quellen für die Nachbildung historischer Bewegungen sowie die Basis für die Generierung von neuem Bewegungsmaterial. Charmatz behält die Anordnung der Abbildungen für seine Komposition bei und lässt gemäss der visuell-dramaturgischen Ordnung des Buches einen tänzerischen Bilderreigen – eine Art Flip-Book – entstehen: ein getanztes choreographisches Daumenkino, zusammengesetzt aus Einzelbildern, die im schnellen Durchgang, in Bewegung gesetzt, als fortlaufende Folge aufscheinen. Während jeder Aufführung wird der Bildband jeweils sichtbar am vorderen Bühnenrand wie eine Partitur durchgeblättert; er erscheint als eine zeitliche und räumliche Orientierung für die Tanzenden und die Zuschauenden. Gleichzeitig markiert dieses Ausstellen eine präsentische und präsente Erinnerung an das ›Original‹: Nicht die Bewegung selbst, sondern deren fotografisches Bild bildet den Bezugspunkt des Tanzes, wobei die Übersetzung des Bildes in Bewegung nicht etwa eine Rückführung in ein Original bedeutet, sondern vielmehr den Entwurf von etwas Neuem3. Das strenge Korsett für den Kreationsprozesses und die choreographische Ordnung werden bei Charmatz aufgebrochen durch die Tänzerkörper, ihre Formung, Gestalt und Bewegungsausführung. Sie dienen neben den Fotografien ihrerseits als Quellen für die Bewegungsfindung. Geformt durch Tanztechniken, alltägliche Praktiken, kulturelle, soziale und historische Eindrücke sowie deren Diskurse, bieten sie einen Fundus an körperlich gespeicherten Bewegungen, die sich der Choreograph im künstlerischen Prozess zunutze macht.
2
Bei dem Bildband handelt es sich um David Vaughans Merce Cunningham. Un DemiSiècle de Danse. Chronique et Commentaire (1997). Das choreographische Konzept wurde 2007 als Projekt All Cunningham im Ausbildungskontext des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin entwickelt. Eine erste Umsetzung mit professionellen Tänzern fand 2008 in Saint-Nazaire statt; die erste offizielle Aufführung mit nichtprofessionellen Tänzern folgte 2009 zur Eröffnung des Musée de la danse in Rennes. Die Version 50 ans de danse mit ehemaligen Tänzerinnen und Tänzern der Merce Cunningham Dance Company schließlich wurde 2009 im Théâtre des Abbesses im Rahmen des Festival d'Automne in Paris uraufgeführt. Seither werden unter dem Premierendatum 2009 drei verschiedene Versionen zusammengefasst: Roman Photo mit nicht-professionellen Tänzerinnen und Tänzern, Flip Book mit professionellen Tänzern und 50 ans de danse bzw. 50 years of mit ehemaligen Cunningham-Tänzern; vgl. www.museedeladanse.com (19.06.2013).
3
Vgl. zum Verhältnis von Fotografie und Original z.B. Krauss (1998).
Die (un)wissenden Körper
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In diesem Aufsatz werden zwei Varianten von Boris Charmatz’ Projekt diskutiert, die von jeweils dezidiert verschiedenen Tänzerkörpern ausgehen: 50 ans de danse (2009) wurde mit ehemaligen Cunningham-Tänzerinnen und Tänzern unterschiedlichen Alters erarbeitet. Sie sind in dessen Technik trainiert, mit seiner choreographischen Methode vertraut und z.T. sogar selbst auf den Fotografien im Buch abgebildet. Flip Book (2009) hingegen entstand mit professionellen zeitgenössischen Tänzern aus dem näheren Umfeld von Charmatz. Ihre Körper werden zur Basis für die zu findende Körper- und Bewegungssprache.
B ILDER
IN
B EWEGUNG
SETZEN
In 50 ans de danse durchlaufen sieben Tänzerinnen und Tänzer in farbigen Trikots einen rhythmisierten Bilderreigen4. Welches die Posen, die nachgebildeten Momentaufnahmen der Fotografien aus dem Bildband sind, wird je durch ein kaum wahrnehmbares Innehalten der Tanzenden markiert, verwischt aber oftmals mit den nachfolgenden Bewegungen. Der Eindruck einer gewissen Bildhaftigkeit bleibt dennoch bestehen und wird noch verstärkt durch die ständigen Aufund Abgänge, das jeweilige ›Ins-Bild-Fallen‹, der Tanzenden. Zu sehen sind viele Sprünge mit angewinkelten Beinen, Attitudes mit nach vorne gebeugtem Oberkörper, relevés auf Halbspitze, Balance-Akte, curves, tilts, arches, twists – alles Bewegungen, die zweifellos an Merce Cunninghams Körpertechnik erinnern5. Die Tatsache, dass einzelne der Auftretenden die auf den Fotografien abgelichteten Tänzerinnen und Tänzer selbst sind, macht aus dem getanzten Flip Book, so könnte man sagen, ein Pop-up Book: die lebendige Verräumlichung einer zweidimensionalen Vorlage. Allerdings bestehen zu dieser Vorlage je individuelle zeitliche Abstände, und die Körper zeigen sich in der Bühnenversion nicht nur gealtert, sondern verweisen auch darauf, dass Körperkonzepte grundsätzlich Veränderungen unterliegen.
4
In der Uraufführung tanzten Thomas Caley, Ashley Chen, Foofwa d'Imobilité, Banu
5
Curves, tilts, arches, twists bezeichnen in der von Cunningham begründeten Technik
Ogan, Valda Setterfield, Gus Solomons und Cheryl Therrien. grundlegende Bewegungsrichtungen des Torsos: die Vorwärts-, Seitwärts-, Rückwärtsneigung sowie die horizontale Drehung in der senkrechten Achse; weiterführend zu den Prinzipien der Cunningham-Technik vgl. Huschka (2000) u. Diehl/Lampert (2010: 186-207).
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Abbildung 1: Boris Charmatz, 50 ans de danse (2012)
Vordergründig informiert jeder der Tänzerkörper über die historische Figur des Choreographen Cunningham und dessen Tanztechnik: mit seiner unterschiedlichen Bezugnahme zu den Bildquellen, seinen individuellen Erinnerungen an die Cunningham-Bewegungen sowie mit der spezifischen Prägung durch andere Stationen der jeweiligen Tänzer-Biografie. Cunningham-Tänzerkörper zeichnen sich durch schnelle Gewichts- und Fokuswechsel aus, durch polyrhythmische Bewegungen verschiedener Körperteile und variable Zentren. Sie erscheinen als dezentralisierte Körper, die komplexe räumliche und zeitliche Bewegungsmuster artikulieren. Durch Zufallsoperationen generiert, streben ihre Bewegungen einen non-hierarchischen Gebrauch von Zeit und Raum an, losgelöst von der Entscheidungsmacht des Choreographen, konfrontiert mit dem Raum des ›Unmöglichen‹ (vgl. Huschka 2000: 288). Um diesen Körperbildern und Bewegungsanforderungen entsprechen zu können, erfahren die Tänzer ein spezifisches Training zur Ausbildung einer außerordentlichen Mobilität des gesamten Körpers. Erreicht wird diese unter anderem durch die Segmentierung der Wirbelsäule in drei unabhängig voneinander agierende Bereiche sowie durch die Etablierung eines im Unterrücken angesiedelten Körperzentrums6. Die Cunningham-Technik benötigt
6
Dies steht im Gegensatz beispielsweise zur Ballett-Technik, in der das Körperzentrum unterhalb des Bauchnabels liegt (vgl. Huschka 2000: 311).
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und formt gleichzeitig kraftvolle und geschmeidige, wendige und im Sinne der Bewegungsartikulation ›eloquente‹ Körper. Mit solchen ›Cunningham-Körpern‹ haben wir es in 50 ans de danse zu tun. Und doch handelt es sich bei der Choreographie nicht um einen ›Cunningham‹, sondern um einen ›Charmatz‹. Wir sehen die überlangen Arme und Beine des ältesten Tänzers, seine schlaksigen Bewegungen, die mit den geschmeidigen Wendungen und den schier endlos mit Leichtigkeit gehaltenen Posen der Tänzerin Banu Ogan kontrastieren. Der muskulöse Körper von Foofwa d’Imobilité fällt auf, seine schnellen Blickwechsel und kleinen Gesten, während bei anderen wiederum die langen Linien und großräumigen Bewegungen hervorstechen. Charmatz spricht in Zusammenhang mit 50 ans de danse auch von einem »Fake Cunningham«, bei dem es sich vor allem um ein Stück über Cunningham handle, ein »event méta-cunninghamien« mit Einblick in Leben und Werk des Choreographen (vgl. Charmatz 2012). Mit dem Bildband sei ein Leben zum Buch geworden, und dieses Buch würde nun wiederum übertragen in Körper. Charmatz betont mit diesem Kommentar die Möglichkeiten der Aktualisierung und Überlieferung von historischem Tanzwissen. Bei 50 ans de danse und Flip Book handelt es sich jedoch nicht (nur) um Arbeiten über und Aktualisierungen von Cunningham, sondern darüber hinaus, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, um choreographische Reflexionen zu Körperkonzepten und Prozessen der Übertragung.
K ÖRPERTECHNIKEN
UND
T ÄNZERKÖRPER
Charmatz’ choreographische Arbeiten machen deutlich, dass Körper – der professionelle Tänzerkörper, aber auch der Amateurkörper auf der Bühne – plurale Körper sind, durchkreuzt von verschiedenen Techniken, Methoden, Praktiken und Diskursen, die sie fortwährend formen, gestalten und transformieren. Dazu gehören physische und verbale Praktiken, aber auch das Verhalten anderer, gesellschaftlicher Codes und Vorschriften, Tätigkeiten wie die Arbeit sowie all die kulturellen Praktiken, die Marcel Mauss als »Techniken des Körpers« bezeichnet: so genannte Modalitäten des Körpergebrauchs, wie das Gehen, Schwimmen, die Sexualität oder auch das Einschlafen, für die der Körper bestimmte nervliche und muskuläre Synergien einsetzen muss7. All diese Praktiken bilden die Struktur einer
7
Allerdings verfolgte Mauss ein lineares Vermittlungskonzept, das sich innerhalb von Kulturen durch Nachahmung und Weitergabe über Generationen überträgt, während der hier vorgeschlagene plurale Körper sich heterogen und dynamisch herausbildet (vgl. Mauss 1989).
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Kultur heraus und ›markieren‹ den Körper im Sinne einer Disziplinierung (vgl. Foucault 2010: 37); wir kennen ihn nur als Resultat dieser Kultivierungstechniken. Tänzerkörper werden nun darüber hinaus und in besonderem Maße spezifisch und gerichtet auf ein ästhetisches Konzept hin kultiviert. Tanztechniken bilden den Körper im Hinblick auf seine Kraft, Flexibilität, Balance, auf Alignement, Form und Gestalt, Rhythmus, Qualität, Dynamik und Spannung sowie deren Verbindungen aus. Der entsprechende Formungsprozess führt zum Erlangen einer räumlichen Orientierung im und am Körper ebenso wie zu einer Orientierung der Körper im Raum sowie in Relation zu anderen Körpern. Er basiert auf Übungen und nonverbalen wie verbalen Anleitungen, die über lange Zeiträume hinweg wiederholt werden. Es geht dabei um nichts weniger als um das Kreieren eines Körpers. Dieser Körper wird durch die Repetition im Sinne Judith Butlers überhaupt erst konstruiert: In performativen Akten – im Training und in der Performance – produziert und destabilisiert, bringt ein solcher Körper Subjekte und Handlungen zur Erscheinung (vgl. Butler 1997: 32). Kurz gesagt: Tanztechniken bringen bestimmte Tänzerkörper und Tänzertypen hervor. Die US-amerikanische Tanzwissenschaftlerin Susan Foster unterscheidet in Bezug auf den Tänzerkörper drei verschiedene solcher Typen. Die ersten beiden bilden sich vor allem im Training heraus, wenn der Tänzer den Körper durch Techniken zu formen versucht, dieser sich den Instruktionen jedoch entzieht: »The prevailing experience, however, is one of loss, of failing to regulate a miragelike substance. Dancers constantly apprehend the dicrepancy between what they want to do and what they can do« (Foster 1997: 237). »What they can do« bestimmt, so Foster weiter, den wahrgenommenen Körper (»perceptive body«) und »what they want to do« im Gegenzug den idealen Körper (»ideal body«). Zwischen diesen beiden Körpern – der Selbstwahrnehmung und dem ästhetischen Ideal – besteht eine Spannung, in die der demonstrative Körper (»demonstrative body«) in Gestalt einer Lehrperson oder in Form ›des Anderen‹ tritt. Dieser Andere erscheint als »bodily instantiation of desired or undesired, correct or incorrect, values« (ebd.: 238). Es handelt sich bei den beiden sich in Fosters Konzeption gegenüber stehenden Körpern keinesfalls um stabile, sondern um höchst dynamische Entitäten, was dazu führt, dass die Relationen zwischen ihnen ebenfalls in ständiger Bewegung sind. In 50 ans de danse ist der abgebildete historische Cunningham-Körper beides: der ideale Körper, in dessen Hülle man für einen kurzen Moment – im Durchgang der Pose – schlüpft, aber auch der im Sinne einer Orientierung justierende und gleichzeitig der differierende ›andere‹ Körper, mit dem die ehemaligen Cunningham-Tänzer heute nicht (mehr) zur Deckung kommen können. Wenn Susan Foster in Bezug auf ein Tänzertraining auf den »Widerstand« und die
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»Unfähigkeit« der Körper im Sinne eines Defizits, einem gewissen Ideal zu entsprechen, verweist, so wird gerade dies bei Boris Charmatz ins Positive gewendet: Er macht die Verschiedenartigkeit der Körper produktiv. Nicht etwa, um zu zeigen, dass die Cunningham-Körper unwiederbringlich verloren sind, sondern um das Differente in ihnen gerade augenfällig zu machen und sie dadurch weiter zu denken. Die amerikanischen Modern Dance-Techniken der 1950er und 1960er Jahre, zu denen die Cunningham-Technik zu zählen ist, bilden alle verschiedene Tänzertypen aus. Sie sind sozusagen je exklusiv auf ein spezifisches ästhetisches Projekt ausgerichtet, was auch mit sich bringt, dass sie mit bestimmten anderen ästhetischen Konzepten weniger kompatibel sind. Das bedeutet beispielsweise, dass Cunningham-Tänzer in aller Regel nicht zu Graham-Tänzern oder RosasTänzern werden, und umgekehrt8. Heute werden diese paradigmatischen Tanztechniken zwar noch unterrichtet, allerdings kaum mehr in ihrer Ausschliesslichkeit. Tänzer lernen in der Ausbildung vielmehr verschiedene Techniken und sind entsprechend vielfältig trainiert – erfordern die heutigen Verhältnisse des internationalisierten Tanz-Marktes mit seinen vornehmlich projektbezogenen, kurzlebigen Formaten doch weitaus flexiblere Körper als dies noch Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Ära der großen, ganz auf einen Choreographen und dessen Handschrift ausgerichteten Kompanien, der Fall war (vgl. z.B. Brandstetter 2005: 14). Um diesen Anforderungen entsprechen zu können, müssen Tänzerinnen und Tänzer heute genreübergreifend einsetzbar sein und ein eklektisches Vokabular bedienen können. Die Kehrseite hiervon ist, dass sie keines der mit einer bestimmten Technik verbundenen ästhetischen Konzepte mit der früheren Unbedingtheit verinnerlicht haben.
8
Der amerikanische Modern Dance propagierte seit Ende der 1920er Jahre den Körper als Medium des modernen (US-amerikanischen) Lebensgefühls und bestimmte die Körperbewegung zum Fundament des ästhetischen Ausdrucks. Zu den bekanntesten Vertreterinnen und Vertretern gehören Martha Graham, Doris Humphrey und Charles Weidmann sowie Merce Cunningham. Sie entwickelten je eigene tanztechnische Trainingssysteme, um Kraft, Beweglichkeit und Dynamik des Körpers im Hinblick auf ihre jeweiligen Bewegungsprinzipien zu formen, vgl. Huschka (2002). Die Compagnie Rosas der zeitgenössischen Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker wurde 1983 in Brüssel gegründet und prägte mit ihrem streng strukturierten, minimalistischen, aber doch energievollen Repertoire maßgeblich die flämische Tanzszene. 1995 gründete de Keersmaeker ihre Schule P.A.R.T.S. (Performing Arts Research and Training Studios, vgl. www.rosas.be (19.06.2013)).
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Susan Foster beklagt diese allgemeine Verfügbarkeit bzw. die Unspezifität des Tänzerkörpers als eine Reduktion auf den pragmatischen ›Handel mit Bewegungen‹. Der Körper sei als Resultat der beschriebenen Entwicklung nicht als eine Collage all der erlernten Techniken zu verstehen, die er wahlweise abrufen könne, sondern es handle sich um einen homogenisierten Körper, der Stile und Vokabulare unter einer undurchdringlichen Oberfläche subsumiere: »Uncommitted to any specific aesthetic vision«, schreibt Foster, »it is a body for hire: it trains in order to make a living at dancing« (1997: 255). Dieser Kritik am vielseitig trainierten Körper ist zu entgegnen, dass in einem solchen »hired body« genauso wie in früheren historischen Typen von Tänzerkörpern konsequent ein bestimmtes ästhetisches Konzept angelegt ist, das entsprechend verfolgt wird: eben dasjenige der Flexibilität und Unspezifität.
Abbildung 2: Boris Charmatz, Flip Book (2010)
Die professionell ausgebildeten Tänzerkörper in Boris Charmatz’ Stück Flip Book könnte man als »hired bodies« im Sinne Fosters verstehen. Sechs Tänzerinnen und Tänzer aus der aktuellen französischen Tanzszene setzen sich nach dem beschriebenen Prozedere mit den Fotografien des Cunningham-Bildbands auseinander9.
9
Neben Boris Charmatz selbst sind dies François Chaignaud, Raphaëlle Delaunay, Christophe Ives, Marlène Monteiro-Freitas, Olivia Grandville, Laurent Pichaud, Pascal Quéneau.
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Ihre Ausführungen der Posen, die Auf- und Abgänge geschehen technisch nahezu reibungslos, allerdings anders als in 50 ans de danse in einem distanzierten und verspielten Gestus mit auffallender Mimik und in hohem Tempo. Die Bewegungsfindungen und -interpretationen wirken wie Kommentare, beispielsweise wenn das Kamerateam von Beach Birds for camera nachgestellt wird – eine Bildinterpretation, wie sie in 50 ans de danse so nicht erscheint10. Dem homogenen Erscheinungsbild der Tanzenden geschuldet, richtet sich der Fokus diesmal weniger auf die Körper (abgesehen von den augenfälligen Frisuren), sondern stärker auf das Vokabular und die Struktur der Choreographie. Durch den distanzierteren Umgang mit dem Material und im Sinne des vielseitig versierten zeitgenössischen Tänzerkörpers könnte man auch sagen, dass die Spannung zwischen Fosters drei Typen – »perceptive«, »ideal« und »demonstrative« – kleiner ist als in 50 ans de danse. Der »perceptive« und der »ideal body« sind näher zusammengerückt, und Merce Cunningham ist nicht die Instanz, an der sich der »perceptive body« misst, sondern der Ausgangspunkt für ein lustvolles Spielen mit Bewegungsmaterial. Entstanden ist daraus etwas Neues, ein ›Charmatz‹ mit multitalentierten und flexibel-unspezifischen Körpern, die zwar um die historischen Körper wissen, aber keinem von deren Idealen verpflichtet sind. Sie verweisen spielerisch auf die Tatsache, dass im Tanz stets bestimmte Körperkonzepte und Körperbilder manifest werden, die in der neuerlichen künstlerischen Auseinandersetzung nicht nur eine produktive Aktualisierung erfahren, sondern überhaupt erst hervorgebracht werden. Und sie weisen Tanzgeschichte aus als eine Körpergeschichte, die wiederum durch Körper, ihre Techniken und Diskurse immer erst und stets von Neuem geschrieben wird. Flip Book und 50 ans de danse reihen sich ein in eine Vielzahl von Choreographien, die seit Mitte der 1990er Jahre im zeitgenössischen Tanz in Europa zu einem Aushandlungsort für Positionen der Vergangenheit im Hinblick auf Erkenntnisse für die Gegenwart geworden sind. Sie nehmen historisches Material zum Ausgangspunkt, suchen nach Weisen des Zugangs zu einem historischen Wissen und erproben Möglichkeiten der Rekonstruktion von Bewegung, um letztlich die gegenwärtige künstlerische Praxis und ihre Rahmungen in der tänzerischen Auseinandersetzung und mittels choreographischer Strategien zu reflektieren. So verweisen die Choreographien von Boris Charmatz spielerisch auf die Tatsache, dass im Tanz stets bestimmte Körperkonzepte und Körperbilder manifest werden, die in der neuerlichen künstlerischen Auseinandersetzung nicht nur eine produkti-
10 In Beach Birds for camera (USA 1991, Regie: Elliot Caplan), der Filmversion der Naturstudie Beach Birds (1991) für die Bühne, lotete Cunningham die Möglichkeiten der Arbeit mit der Kamera im Tanz aus.
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ve Aktualisierung erfahren, sondern überhaupt erst hervorgebracht werden. Sie weisen Tanzgeschichte aus als eine Körpergeschichte, die wiederum durch Körper, ihre Techniken und Diskurse immer erst und stets von Neuem geschrieben wird.
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Ancient Egypt Revisited Über Fakten und Fiktionen im populären Film M IRIAM V. R ONSDORF
Die Popularität des Alten Ägypten in der westlichen Welt ist ungebrochen: Ägyptenmythen werden genutzt, um das Interesse eines breiten Publikums zu wecken. Elemente wie Pyramiden, Hieroglyphen, altägyptische Priester oder Gottheiten und nicht zuletzt Mumien dienen beispielsweise der Inszenierung einer (pseudo-)ägyptischen Kulisse als geheimnisvollem Hintergrund finanziell erfolgreicher Kino-Produktionen wie Steven Spielbergs Raiders of the Lost Ark (1981), Roland Emmerichs Stargate (1994) oder Stephen Sommers’ The Mummy (1999). Innerhalb solcher populären Spielfilme zirkuliert eine fiktionale Vergangenheitsversion des pharaonischen Ägyptens. Filme mit Ägyptenthematik greifen auf eine Inszenierung historischer Welten zurück, die durch die diskontinuierliche Überlieferung der ägyptischen Geschichte bedingt ist und auf Brüchen und Fragmenten beruht (vgl. A. Assmann 1997: 176). Innerhalb medialer Repräsentationen wird eine vermeintliche Historie stetig remediatisiert, um Mythosaktualisierungen ergänzt und in medialen Präsentationen, wie eben dem populären Film, entsprechend des jeweiligen Zeitgeistes geformt. Die geschickte und zumeist – insbesondere im Hollywoodfilm – unmerkliche Verbindung von realhistorischen (›Fakten‹) und mythischen Elementen (›Fiktionen‹) suggeriert dem Zuschauer eine für den Filmgenuss notwendige innerfilmische Authentizität, die jedoch über die Filmrezeption hinaus fortwirkt. Die zentrale These meines Beitrages ist, dass sich eine aus der Anschauung eines solchen Films resultierende mythische Erinnerung (vgl. Wodianka 2003: 72) in der Vorstellungswelt und im Geschichtsbild der Zuschauer verankern kann. Am Beispiel von Spielbergs Raiders of the Lost Ark soll das Beeinflussungspotential der in den populären Film integrierten fiktiven Elemente aufge-
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zeigt werden. Dieses Potenzial stellt sich im Zusammenspiel mit den Fragmenten historisch belegter Ereignisse, Personen und Orte her. Die fiktiven Elemente können somit die ›Realweltvorstellungen‹ (real world beliefs) der Zuschauer zum Thema ›Altägypten‹ modifizieren.
D AS
ABENDLÄNDISCHE
Ä GYPTENBILD
Statt direkter Traditionslinien existiert zwischen der westlichen Kultur und dem Alten Ägypten ein Bruch in der Überlieferung (vgl. Hornung 1993: 154). Das seit der Antike erzeugte Ägyptenbild stellt eine abendländische Konstruktion dar, die unter Einbezug gesellschaftlicher Diskurse stetig geformt, aktualisiert und tradiert worden ist. Diese Konstruktion basiert auf (Fehl-)Deutungen der westlichen Gesellschaft und generiert ihrerseits stetig Variationen bestehender Inhalte des imaginierten Altägyptens. Bereits das spätzeitliche Ägypten (747-332 v.Chr.) erlag der Anziehungskraft der eigenen jahrtausendealten Historie. Sowohl die Ägypter selbst als auch die griechischen Fremdherrscher und Besucher waren beeindruckt von der Monumentalität und Dauerhaftigkeit der Bauten sowie der eindringlichen Ästhetik der funerären Hinterlassenschaften wie etwa der Mumien und Grabbeigaben. Diese Faszination bedingte, dass die tatsächlichen gesellschaftlichen, religiösen oder politischen Zustände hinter einer nachträglich konstruierten Vorstellung von Altägypten zurücktraten (vgl. Assmann 2000: 9f.). Ein stark philosophisch orientiertes Interesse an Altägypten samt seiner esoterischen Komponente berührt Fragen nach einem höheren Sinn (vgl. Grimm 2006: 65) und kann als Ägyptosophie bezeichnet werden: »Es geht um Ägypten als zeitlose Idee, die mit der geschichtlichen Wirklichkeit nur in einem losen Zusammenhang steht« (Hornung 1999: 10f.). Damit verbunden und oft gleichgesetzt wird das Phänomen der Ägyptomanie, das sich durch gesteigerte Medienpräsenz und Interesse von Einzelpersonen oder Personengruppen an ägyptischen Einzelthemen manifestiert und in eine regelrechte Ägyptenmode münden kann. Ein esoterisches Interesse ist aber nicht zwangsläufig mit einem solchen Ägyptenfieber verbunden, obschon die Grenzen fließend verlaufen (vgl. Hornung 1997: 333). Die Fachwissenschaft der Ägyptologie, die sich seit 1822 mit der Entzifferung der Hieroglyphen durch den französischen Gelehrten und Sprachwissenschaftler Jean-François Champollion (1790-1832) etablierte, steht mit ihrem Anspruch einer möglichst unverstellten Geschichtsrekonstruktion im Gegensatz zu den ägyptosophischen und ägyptomanischen Zugängen. Sie scheiterte jedoch da-
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rin, auch ausserhalb der Akademie die esoterische Prägung des bestehenden Ägyptenbildes zu korrigieren und durch eine dezidiert sachliche Attitüde zu ersetzen. Infolgedessen existieren das ägyptologische, das ägyptosophische und das ägyptomane Ägyptenbild heute nebeneinander und vermischen sich in den medialen Erscheinungsformen Altägyptens (vgl. Endrödi 2000: 160; Loprieno 2007: 8). Das konstruierte Ägyptenbild einer Zeit ist prinzipiell unabgeschlossen und basiert nur zu einem kleinen Teil auf historischen Gegebenheiten. Es speist sich aus einer Vielzahl von Setzungen, die unter kontemporären Einflüssen sowie aus einem eurozentristischen und selbstreferenziellen Blickwinkel geformt werden (vgl. Hornung 1999: 113; Assmann 2006: 11). Altägypten impliziert zumeist das Fremde, das Andere, aber auch das Spiegelbild der abendländischen Kultur; es wird als faszinierend, zauberhaft und gefährlich dargestellt. Häufig dient das so konstruierte Bild fast mehr dazu, die Fragen der eigenen Zeit zu bearbeiten (vgl. Hornung 1999: 196). Es enthält eine assoziierte Mitbedeutung, die dem Betrachter jedoch als wahr und nicht äußerlich und nachträglich geprägt erscheint: den Mythos Ägypten. Der populäre Film fungiert in diesem Zusammenhang als wirkmächtiges Medium der Vergangenheitsdarstellung und -deutung (vgl. Kircher 2012: 12; Rice/MacDonald 2003: 11). Er visualisiert in der Regel keine spezifische historische Epoche, sondern eine allgemeine westlich geprägte Vorstellung, die Altägypten typischer Weise mit uralten Geheimnissen, Weisheit sowie Magie verbindet (vgl. Endrödi 2000: 160; Hornung 1999: 195).
S TEVEN S PIELBERGS R AIDERS
OF THE
L OST A RK (1981)
Spielbergs für elf Oscars nominierter Film gewann bei den Academy Awards 1982 in den Kategorien ›Visuelle Effekte‹, ›Schnitt‹, ›Szenenbild‹ und ›Ton‹. Das musikalische Leitmotiv der Titelfigur Indiana Jones, der Raiders March, wurde weltbekannt und bildet das Herzstück der Filmmusik von John Williams. Mit der Figur Dr. Henry Indiana Jones Junior, kurz Indiana Jones, wurden ein völlig neuartiger Heldentypus, ein neuer Stil des ironischen Abenteuer-ActionFilms und darüber hinaus etliche Klischees kreiert, die noch heute erfolgreich Verwendung finden1.
1
Raiders of the Lost Ark hatte bislang drei Sequels: Indiana Jones and the Temple of Doom (USA 1994, Regie: Steven Spielberg), Indiana Jones and the Last Crusade (USA 1989, Regie: Steven Spielberg) sowie Indiana Jones and the Kingdom of Crystal Skull (USA 2008, Regie: Steven Spielberg). Das Original inspirierte außerdem Filme wie Romancing the Stone (USA 1984, Regie: Robert Zemeckis), Quartermaine:
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Der Film spielt im Jahr 1936 und handelt vom Auftrag des US-amerikanischen Archäologen Indiana Jones, die biblische Bundeslade für den Geheimdienst der Vereinigten Staaten zu finden, ehe Adolf Hitler sie entdeckt und als militärische Geheimwaffe zur Erlangung der Weltherrschaft nutzen kann. Der englische Originaltitel spielt mit der Vorstellung der unrechtmäßigen Aneignung und Schändung der biblischen Bundeslade. Der deutsche Titel Jäger des verlorenen Schatzes klingt dagegen positiver und verzichtet auf den Hinweis auf den biblischen Hintergrund des Plots. Beide verweisen auf das Motiv der Schatzbzw. eine modernisierte Version des Motivs der Gralssuche. Die Bundeslade wird im Film, entsprechend der biblischen Beschreibungen, als eine vergoldete Holztruhe mit Tragebalken dargestellt, auf deren Oberseite zwei Cherubim montiert sind, die ihre Schwingen über die Lade halten (vgl. Ex 25, 10-20). Diese befindet sich in einem verzierten steinernen Sarkophag, der, von einem Baldachin begrenzt, wiederum auf einem Podest am Ende des Raumes steht, wo die Lade untergebracht ist. Kein ägyptischer König liegt hier begraben, sondern die Bundeslade selbst ist es, die Indiana Jones aus ihrem schützenden Sarkophag bergen muss. Raiders of the Lost Ark spielt an dieser Stelle mit den Assoziationen des Zuschauers: Indem der verlorene Schatz ähnlich einer hochrangigen ägyptischen Persönlichkeit bestattet liegt, wird einem Artefakt die Aura einer Wesenheit zugestanden. Das Dunkelblau der Umgebung wird durch einen warmen Goldton einiger Ausstattungselemente kontrastiert und die Relevanz der Ruhestörung durch die Illumination verstärkt, welche die göttliche Macht und Wirkkraft der Bundeslade betont.
M YTHOS Ä GYPTEN Der Mythos wird in diesem Kontext weniger als Denk-, sondern vielmehr als spezielle Erinnerungsform behandelt. Die Art und Weise des Erinnerns steht im Vordergrund und erlaubt es, das Mythische weniger als vorgeblich stabiles Erinnerungsobjekt in Bezug auf das Gedächtnis zu betrachten; es fungiert stattdessen als Erinnerungsmodus in Bezug auf allgemeine Erinnerung (vgl. Wodianka 2006a: 2ff.). Populäre Filme mit Ägyptenthematik greifen zumeist auf präexistente Bestandteile des Mythos Ägypten zurück und organisieren dessen Elemente
King Solomons Mines (USA 1985, Regie: J. Lee Thompson), The Jewel of the Nile (USA 1985, Regie: Lewis Teague), The Mummy (USA 1999, Regie: Stephen Sommers), The Mummy Returns (USA 2001, Regie: Stephen Sommers) oder Lara Croft: Tomb Raider (USA 2001, Regie: Simon West).
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jeweils neu. Das Ergebnis sind flexible Arrangements oder Aktualisierungen des Mythenbestandes im Sinne einer ›Mythenbricolage‹. Nachzuprüfen ist, in welcher Art und Weise sich die mythische Erinnerung an Altägypten als spezifische Erinnerungsform formiert, die sich gleichermaßen aus den Fakten und Fiktionen des Populärfilms speist, wobei diese den Zuschauern mittels ihrer mythologisierenden Erzählweise Authentizität suggerieren. Innerhalb eines Films mit historischem Setting werden die mythischen Elemente durch das Vortäuschen einer historischen Faktizität modelliert und den Zuschauern als Authentizitätsfiktion dargeboten. Dies ist eine legitime Eigenart jeder Fiktion, also auch von Spielfilmen, jedoch erweist sich hier der Umgang mit der Illusion von Authentizität besonders für den wissenschaftlichen Fachexperten keineswegs als leicht, da akademische Forschungsergebnisse und Rekonstruktionen als Fundus für die an populären Vorstellungen orientierte Drehbuchgestaltung dienen (vgl. Wirtz 2008: 195). Die stetige Remediation bereits bekannter und in der Gesellschaft zirkulierender Bilder oder Narrationen sorgt dafür, dass die Zuschauer das Gesehene als glaubhaft empfinden. Gleichzeitig werden mit jeder solchen Remediation neue Bilder in Umlauf gebracht, die künftige Filmrezeptionen beeinflussen können. Je mehr Vor-Wissen und Vor-Bilder einbezogen und in die filmische Repräsentation von Geschichte encodiert werden, desto größer ist die Chance, die Erwartungshaltung der Zuschauer zu befriedigen. Klare Regeln dazu gibt es nicht (vgl. Zimmermann 2008: 141). Roland Barthes beschreibt die Konnotation bei der Konstruktion von Alltagsmythen, zu dem auch der Mythos Altägypten gezählt werden kann, als Ideologie. Mythen des Alltags sind demnach Konstruktionen und Relevanzzuschreibungen, die den Menschen der westlichen Gesellschaften in Bezug auf die existenzielle Frage nach dem Sinn und der Orientierung im täglichen Leben Halt bieten. Innerhalb der von Barthes geleisteten ideologiekritischen Analyse betrachtet dieser den Mythos als eine Aussage mit Mitteilungscharakter. Er beschreibt ihn als eine Botschaft, eine Weise des Bedeutens, eine Form. Der Mythos bedingt das Durchsetzen eines intentionalen Begriffs mit naturalisierender Wirkung ohne geschichtliche Realitäten. Alltagsmythen weichen dabei keineswegs von den Strukturen traditioneller Mythen ab, doch entstehen sie um Personen, Ereignisse oder Gegenstände, ohne selbst geschichtlich gewachsen zu sein. Durch die Flexibilität seiner medialen Gestaltung kann der Mythos neben der oralen und schriftlichen Form auch als Fotografie, im Theater, Internet oder Film auftreten. Jeder Gegenstand, alles Geschriebene, Gesprochene, Gezeigte kann zum Mythos werden (vgl. Barthes 2003: 91ff.). In Raiders of the Lost Ark ist etwa der Mythos des titelgebenden Artefakts ein wesentliches Element des Films.
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Barthes greift in seinen Ausführungen auf das Zeichensystem Ferdinand de Saussures zurück und geht davon aus, dass der Mythos auf einer semiologischen Kette aufbaut, die vor ihm existiert. Der Mythos stellt ein sekundäres semiologisches System dar, das in das primäre Zeichensystem integriert ist. Die Elemente dieses Systems sind das Bedeutende (Buchstabenfolge, Lautbild, Objekt) und das Bedeutete (Vorstellung). Die Wechselbeziehung der beiden Systeme, die von unterschiedlichen Sprachen Gebrauch machen, bildet das Zeichen. Dem Mythosmodell Barthes‘ entsprechend, erscheint die Bundeslade in der filmischen Welt von Indiana Jones als das Bedeutende der objektsprachlichen Ebene, das gemeinsam mit dem Bedeuteten (der Gegenwart Gottes) das Zeichen herausbildet (die Unbezwingbarkeit des jüdischen Volkes). Dieses mit Sinn ausgestattete Zeichen wiederum fungiert als Bedeutendes der metasprachlichen Ebene. Ergänzt durch das Bedeutete der durch den Mythos konstruierten Metaebene (feindvernichtende Strahlkraft Gottes) entsteht nun ein neues Zeichen: der Mythos der Bundeslade als militärischer Wunderwaffe. Die fortan sinnentleerte Form wird vom Zuschauer jedoch nicht als solche erkannt, da er in der Regel dem Mythos im zweiten Teil der semiologischen Kette erliegt (vgl. ebd.: 94ff.).
Abbildung 1: Mythos Bundeslade (eigene Grafik nach Barthes (2003: 95))
Raiders of the Lost Ark greift die Frage um die Existenz und den Verbleib der israelitischen Bundeslade auf und verknüpft diese mit einem nur eingeschränkt historisch belegbaren, zumindest aber in der Bibel erwähnten Palästinafeldzug des Pharao Scheschonq I. (945-924 v.Chr., vgl. 1 Kön 14: 25f.)2. Dem siegreichen ägyptischen König wurden demzufolge im Jahr 925 v.Chr. die Palast- und Tempelschätze Jerusalems übergeben auf dass er die Stadt verschone (vgl. Schneider 2002: 250). Der Film spielt vor diesem Hintergrund mit der Idee, dass
2
Der Film benennt den ägyptischen König mit der hebräischen Form als Schischak.
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die Bundeslade in der Folge nach Ägypten überführt worden ist und seither in der Stadt Tanis verwahrt wird. Der Gott der Juden, heißt es, bestrafte nun die Ägypter für ihren Diebstahl und zerstörte die Stadt durch einen Sandsturm. Die Bundeslade lagert immer noch unangetastet in Tanis in einer geheimen Kammer mit dem Namen Quelle der Seelen (Well of Souls). Innerfilmisch wird der Bundeslade der Status einer portablen Wunderwaffe zugesprochen, deren übernatürliche Kraft eine Armee unbesiegbar macht. Goldgelbe Lichtstrahlen, die direkt aus der Lade heraustreten, dienen dabei der Feindvernichtung durch den Zorn Gottes. Zwei historische Ebenen werden genutzt, um das Hauptartefakt zu inszenieren und den Mythos der biblischen Bundeslade in die filmische Handlung zu integrieren: Die erste Ebene spielt im Jahr 1936 und thematisiert den Wettstreit zwischen Indiana Jones und dem von den Nationalsozialisten beauftragten französischen Archäologen René Belloq um das Auffinden der Bundeslade. In diesem Zusammenhang werden mythische Vorstellungen zum Okkultismus der Nationalsozialisten in die Filmhandlung encodiert (vgl. u.a. Goodrick-Clarke 2000). Die zweite Ebene bezieht sich auf das Altertum und beschreibt, unter Bezugnahme auf die Bibel, die Plünderung des Tempels zu Jerusalem durch ägyptische Truppen. Pharao Scheschonq I. wird dafür verantwortlich gemacht, die Bundeslade in die ägyptische Stadt Tanis verschleppt zu haben. Beiden Ebenen ist gemein, dass sowohl die Nationalsozialisten als auch die Ägypter für die jeweilige Epoche das absolut Böse repräsentieren sollen, das sich um das magischgöttliche Artefakt Bundeslade bemüht. Gemäß der mittelalterlichen Exegese des Alten Testaments (vgl. Gen und Ex) wird Altägypten in Raiders of the Lost Ark als negative Kontrastfolie und Gegenpol zum Gottesvolk Israel konzipiert. Während die Ägyptenrezeption der Antike ein vornehmlich positives Bild des Landes als Hort der Weisheit und Wiege bedeutender Erfindungen wie der Geometrie, der Astronomie u.a. entwarf, war das mittelalterliche Ägyptenbild zumeist abwertend gestaltet und beinhaltete negative Vorstellungen von Zauberei, Sklaverei und despotischen Königen. Bis in die heutige Zeit ist die populäre Vorstellung vom Alten Ägypten von dieser Ambivalenz geprägt und umfasst beide durch die antike und mittelalterliche Rezeption gestalteten Pole der Ägyptophilie und Ägyptophobie (vgl. Glück/Morenz 2007: 13; Scharff 2007: 160ff.).
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Abbildung 2: Die Bundeslade in Raiders of the Lost Ark (1981)
K ONTEXTVARIANZEN Filmische Erzählungen verfügen über eine narrative Wirkung (narrative impact) und beeinflussen die Anschauungen, das Wissen und die Erinnerung des Zuschauers (vgl. Johnson 2002: ix). Bloße Behauptungen können in solchen Erzählungen durch Kontextspezifikation markiert werden. Der dadurch initiierte referenzielle Kontext kategorisiert die in der Fiktion präsentierte Information als ›nicht real‹. Dennoch kann es auch dazu kommen, dass der Zuschauer unwahre, falsche oder nicht beweisbare Information, die ihm im fiktionalen Diskurs präsentiert wird, als ›wahr‹ erachtet (Strange 2002: 268). Kontextvarianzen3 entstehen durch sein Unvermögen, die im Film inszenierten Fakten und Fiktionen in der Erinnerung sauber zu trennen. Jede Filmrezeption kann Kontextvarianzen nach sich ziehen, ohne dass sich der Zuschauer ihrer bewusst ist. Sie ermöglichen, dass fiktionale Informationen einen Weg in das Welt- oder Geschichtsbild der Zuschauer finden und dort ein Eigenleben als mythische Erinnerung entfalten. Dies geschieht weder zwangsläufig noch mit jeder Behauptung im fiktionalen Film und kann unterschiedliche Wirkkraft haben. Für den populären Film mit
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Die von Jeffrey J. Strange als context failure betitelten Interpretationen sollen im Folgenden vielmehr als Kontextvarianzen bezeichnet werden, um ihren außerhalb der Beurteilung von ›wahr‹ und ›falsch‹ liegenden mythischen Inhalten in Bezug auf die Ägyptenthematik gerecht zu werden. »Context specification failure is an intrinsic propensity of fiction as a mode of discourse that permits the liberal mingling of unmarked assertions of fact, hypothesis and fancy. It denotes the case in which readers come to believe an assertion because they wrongly interpret it to be a claim about the real world« (Strange 2002: 268f.).
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Ägyptenthematik sind fünf unterschiedliche, zum Teil eng miteinander in Bezug stehende und sich teilweise überschneidende Kontextvarianzen feststellbar, die im Folgenden anhand von Raiders of the Lost Ark analysiert werden sollen. 1.
Spezifikationsvarianz – Indiana Jones als Hochschuldozent am Marshall College
Die Filmfigur Dr. Jones ist ein US-amerikanischer Hochschullehrer und Abenteurer, dessen charakteristische Ausrüstungsgegenstände − eine abgetragene Lederjacke, ein Fedora-Hut sowie eine Lederpeitsche − zu weltweit bekannten Stilelementen geworden sind. Für viele Menschen symbolisieren sie bis heute die typische Kleidung eines Archäologen. Indiana Jones ist zu einer anhaltend erfolgreichen und finanziell gewinnbringenden Kulturikone sowie zu einer Symbolfigur für das ›Abenteuer Archäologie‹ aufgestiegen. In ihm spiegeln sich Werte, Normen und Ideale der westlichen Gesellschaft bezüglich der archäologischen Tätigkeit wider. Indiana Jones gilt ungeachtet seiner äußerst zweifelhaften und eigennützig-gierigen Motive sowie seines zerstörerischen Vorgehens bei der Fundsicherung selbst in Archäologiekreisen als ›negatives Idealbild‹ eines Archäologen (vgl. Röll 1998: 170). Als Vorlage für die Filmfigur kann der ebenfalls USamerikanische Paläontologe und Entdecker Roy Chapman Andrews (1884-1960) gelten4. Spezifikationsvarianzen entstehen durch den intrinsischen Hang populärer Unterhaltungsfilme, großzügig (historische) ›Realitäten‹ und Behauptungen im fiktionalen Plot miteinander zu vermischen. So wie der Zuschauer bestimmte, im Film gemachte Aussagen als ›realweltliche‹ Gegebenheiten interpretiert, können auch fiktive Orte als existierend erachtet werden. Raiders of the Lost Ark entfaltet eine potenziell realitätsstiftende Wirkung, indem der Film − etwa durch seine allgemeine geografische Verortung oder das Situieren bestimmter Fundorte − neue Möglichkeiten zur Einbindung des filmisch Inszenierten in die realweltlichen Vorstellungen der Zuschauer eröffnet. Dies bedeutet, dass der Zuschauer etwa die Information, dass Jones am fiktiven Marshall College5 in Connecticut/
4
Andrews unternahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche waghalsige und abenteuerliche Expeditionen in zum Teil noch unerforschte Gebiete der Erde und war später Direktor des American Museum of Natural History in New York City (vgl. Preston 1993: 97f.).
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Die Namensgebung ›Marshall College‹ stellt dabei lediglich eine Hommage an den Produzenten des Films, Frank Marshall, dar.
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USA lehrt, möglicher Weise nicht korrekt einordnen kann und fälschlich von der tatsächlichen Existenz der Lehreinrichtung und ihrer Lehrperson ausgeht6. 2.
Vergessen der Kontextspezifikation – Deutsche Ausgrabungen in Tanis (Ägypten)
Das Vergessen der Kontextspezifikation erweitert die oben benannte Kontextvarianz in der Weise, dass dem Zuschauer ursprünglich eine Tatsache bekannt war. Im Unterschied zur Spezifikationsvarianz, bei der von vornherein eine filmische Behauptung als wahr erachtet wird, kodiert, begreift und akzeptiert der Zuschauer beim Vergessen der Kontextspezifikation selbige zunächst. Indem er jedoch vergisst, welche Aussage im Film ›real‹ oder ›fiktiv‹ ist, können Fakten und Fiktionen bezüglich ›realhistorischer‹ Persönlichkeiten, Zitate, Ereignisse usw. vertauscht werden. Filmische Behauptungen können in der Folge als Fakten erinnert und in das eigene Welt- oder Geschichtsbild integriert werden. Die in Raiders of the Lost Ark gezeigten deutschen Ausgrabungen im Jahr 1936 im ägyptischen Tanis lassen sich angesichts der politischen Situation als historisches Geschehen nicht halten. Ägypten wurde rund vierzig Jahre von britischen Kolonialherren regiert, ehe es 1922 zum weitgehend unabhängigen Königreich wurde und mit dem Tod König Fu‘ads I. (1868-1936) endgültig die Souveränität erhielt. Aufgrund finanzieller Abhängigkeiten verließen die britischen Truppen das Land erst Mitte des letzten Jahrhunderts, nach der Fertigstellung des Suezkanals. In den Jahren zwischen 1929 und 1939 leitete tatsächlich – scheinbar im Einklang mit der Erzählung des Films – ein französischer Wissenschaftler die Grabungen in Tanis. Der Ägyptologe Pierre Montet (1885-1966) fand dort mehrere intakte Königsgräber. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhinderte damals eine ähnliche öffentliche und mediale Begeisterung wie bei der Entdeckung des Grabschatzes von König Tutanchamun (1336-1327 v.Chr.), obschon Montets Funde nicht minder eindrucksvoll waren und einen neuen Blick auf denjenigen Teil der altägyptischen Geschichte ermöglichten, zu dem auch der in der Bibel erwähnte König Scheschonq I. gehört (vgl. Dawson 1995: 206).
6
So wurde etwa die Internetpräsenz »Are the Bembridge Scholars real?« eingerichtet: http://bembridgescholars.wordpress.com/2011/02/04/are-the-bembridge-scholars-real (19.06.2013).
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3.
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Abgrenzungsvarianz – Die Quelle der Seelen in Tanis (Ägypten)
In Raiders of the Lost Ark wird das Artefakt Bundeslage in einem altägyptischen Tempel in der unterägyptischen Stadt Tanis aufbewahrt. Dort, so heißt es, lagert sie seit Jahrhunderten – verborgen in einem als Quelle der Seelen bezeichneten unterirdischen Komplex. Die Quelle der Seelen (arabisch: Bir el-Arweh) wird nach heutigen Forschungserkenntnissen eigentlich in einer etwa sieben mal sieben Meter großen Höhle unter dem Gründungsstein im Felsendom von Jerusalem lokalisiert. Nach muslimischer Vorstellung gilt sie als Zwischenstation der Seelen Verstorbener auf ihrem Weg in die Hölle oder außerdem als das Grab des Zacharias (vgl. Shanks 2007: 174). Über das Unterschlagen des Quellenbelegs können ›konkrete‹ Informationen zu fiktiven Orten in alltagsweltliche Vorstellungen oder Geschichtsbilder transferiert werden, da es dem Zuschauer misslingt, sie der ursprünglichen Informationsquelle zuzuordnen7. 4.
Aktivierungsvarianz – Schlangenabwehr durch Feuer
Der Archäologe Indiana Jones leidet an einer Schlangenphobie. Ausgerechnet von diesen wimmelt es nun aber in dem Raum der Quelle der Seelen. Mit Fackeln halten sich Jones und seine Begleiterin die Tiere notdürftig vom Leib – mit Erfolg. Die Schlangen bleiben den beiden Abenteurern fern, obwohl die Reptilien nach den Erkenntnissen der Biologie in der Realität eigentlich zunächst durch das wärmende Feuer angezogen werden müssten. Die filmisch präsentierte Aussage über eine grundsätzliche Feuerscheu der Schlangen kann sich beim Zuschauer als Tatsache verfestigen, wenn dieser bei der Beurteilung des Kontextes darin scheitert, den Wahrheitsgehalt der biologisch fundierten Information abzufragen bzw. zu aktivieren8.
7
Als verlässliche Referenz würde der Zuschauer ein Geschichtsbuch, eine Dokumentarsendung usw. annehmen.
8
Ein typisches Beispiel hierfür wäre die im Film häufig verwendete Setzung, dass Autos nach einem Unfall zwangsläufig explodieren. In Anbetracht derartiger erinnerter (Film-)Szenerien kann auch in der Realität Unbehagen oder gar Panik in der Nähe eines verunglückten Wagens entstehen.
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5.
Kontextzusammenbruch – Die sichere Verwahrung der Bundeslade
Die nahezu kafkaeske Schlusseinstellung des Films zeigt, wie die Bundeslade als ›Staatsgeheimnis‹ in einer riesigen Lagerhalle des US-Geheimdienstes eingelagert wird. Weder Indiana Jones noch andere sollen künftig auf sie zugreifen können. Unter den Tausenden gleichartigen Kisten ist die Bundeslade somit ein weiteres Mal verschollen (vgl. Kleiner 2004: 149). Der Zuschauer weiß natürlich, dass eine filmische Behauptung ansich auf keinerlei Fakten beruhen muss, und dennoch ist er in der Lage, sie in seine realweltlichen Vorstellungen und in sein Geschichtsbild einzufügen. Sie enthält somit eine potenziell realitätsstiftende Wirkung – und das obwohl es dem Zuschauer bei der Kontextbeurteilung gelingt, den Wahrheitsgehalt abzufragen. Die Vorstellungen historischer Ereignisse werden durch die Rezeption medialer Fiktionen beeinflusst, und die Beurteilung in einem solchen Rezeptionsprozess erfolgt mehr nach persönlicher Meinung als nach verbürgter Faktenlage. Trotz des Wissens um die Haltlosigkeit und trotz einer entsprechend skeptischen Grundhaltung gegenüber der medial präsentierten fiktionalen ›Informationen‹ kann der Zuschauer diese paradoxer Weise in seine realweltlichen Vorstellungen integrieren (»true-if-it-fits-strategy«, Strange 2002: 273). Bezogen auf Raiders of the Lost Ark bedeutet dies: Es kann das stimmige Empfinden entstehen, dass die biblische Bundeslade tatsächlich existiert und nun in einem Geheimarchiv des FBI aufbewahrt wird.
Abbildung 3: Die Lagerung der Bundeslade in Raiders of the Lost Ark (1981)
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Z USAMMENFASSUNG Der ursprünglich keineswegs als ein Medium zur Erzeugung von Erinnerung produzierte fiktionale (Unterhaltungs-)Film generiert, wenn auch keineswegs stringent, eine mythische Erinnerung an Altägypten. Im Gegensatz zum Mythos umfasst diese Erinnerung auch die Ebene der Rezeption und vollzieht sich, von der filmischen Repräsentation entkoppelt, als zumeist unbewusster kognitiver Prozess beim Zuschauer (vgl. Wodianka 2003: 72). Indem der Zuschauer filmische Aussagen erinnert, gestaltet und rekonstruiert er gleichzeitig das Gesehene. Die dabei möglichen Kontextvarianzen haben das Potenzial, Fiktionen und Fakten der filmischen Aussagen miteinander zu verschmelzen. Das filmische Bewegtbild als mediale Erscheinungsform des Mythos Ägypten naturalisiert die fiktionale Ebene und ermöglicht so ein performatives Zusammenspiel von Tradierung und Generierung (vgl. Wodianka 2006b: V). Die geschilderten potenziell und individuell auftretenden Kontextvarianzen resultieren aus dem Zusammenspiel fiktiver und faktualer Aussagen, die in den jeweiligen Film encodiert sind und über eine realitäts- und sinnstiftende Wirkung verfügen können: »Stories can both reconstruct life experiences and invent new experiential forms. Given their thematic breadth and stylistic diversity, no single model can possibly capture either the processes through which stories spill over into life, or the kinds of judgement and behavior they influence.« (Strange 2002: 282)
Individuelle (Fehl-)Deutungen des Zuschauers tragen dazu bei, das sich stets wandelnde abendländische Ägyptenbild zu modifizieren und um Mythosaktualisierungen zu ergänzen. Filmemacher werden zu Mythosproduzenten, indem sie Angebote zur Welterklärung in ihren Film integrieren. Damit übernimmt der populäre Film sinnstiftende und identitätsbildende Aufgaben wie sie einst Mythen und Religionen inne hatten (vgl. Glassen 2010: 12; Herrmann 2001: 93; Skarics 2004: 153). Die Sinnebene dient dem Zuschauer als Orientierungshilfe in einer Welt, die durch ihr wertepluralistisches Überangebot oft überfordernd auf ihn wirkt. In Kinofilmen mit Ägyptenthematik wie Raiders of the Lost Ark tritt außerdem der westliche Blick als maßgebliche Ideologie in Erscheinung und konstruiert Altägypten entsprechend der oben beschriebenen Setzungen als das ›Andere‹, das ›Fremde‹ und das ›Exotische‹. Sich vordergründig um triviale Filmplots des Hollywoodkinos formierend, verbindet sich eine ägyptosophisch orientierte Beschäftigung mit Altägypten mit aktuellen Diskursen und Ideologien der westlichen Gesellschaft. Statt sich als ägyptomanischer Hype an Einzelphänomen oder -events (Ausstellungen, Grabungsfunden, Filmproduktionen usw.) zu orientieren, kann ge-
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rade eine so ausgerichtete Ägyptenkonstruktion ihre Wirkmacht nachhaltig entfalten. Die mythische Erinnerung speist sich aus teils als wahr angenommenen Geschichtskonstruktionen mit fiktionalem Hintergrund und fügt diese in eine Reihe mit den bestehenden abendländischen Ägypten-Interpretationen ein. Das Angebot wissenschaftlich fundierter ägyptologischer Rekonstruktionen weitgehend ignorierend, unterstützt sie die kontinuierliche Remediatisierung des Mythos Ägypten.
L ITERATUR Assmann, Aleida, »Ex Oriente Nox. Ägypten als das kulturelle Unbewusste der abendländischen Tadition«, in: Elisabeth Staehelin/Bertrand Jäger (Hg.), Ägypten-Bilder, Freiburg (Schweiz): Univ.-Verl./Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 173-186. Assmann, Jan, Weisheit und Mysterium. Das Bild der Griechen von Ägypten, München: Beck 2000. Barthes, Roland, »Mythen des Alltags«, in: Wilfried Barner/Anke Detken/Jörg Wesche (Hg.), Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart: Reclam 2003, S. 91-105. Endrödi, Julia, »Die Ewigkeit der Ägyptomanie«, in: Wilfried Seipel (Hg.), Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute, Wien: Kunsthistorisches Museum 2000, S. 159-167. Dawson, Warren Royal, Who was who in Egyptology, London: Egypt Exploration Society 1995. Glassen, Peter, Markenmythos. Mythologische Bilder in der Markenwerbung. Eine semiologisch-ikonologische Analyse, Basel: Dissertation 2010. Glück, Thomas/Morenz, Ludwig, »Ägyptenrezeptionen. Einführende Überlegungen«, in: dies. (Hg.), Exotisch, Weisheitlich und Uralt. Europäische Konstruktionen Altägyptens, Hamburg: LIT 2007, S. 5-53. Goodrick-Clarke, Nicholas, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz: Leopold Stocker 2000. Grimm, Alfred, »Wege – Werke – Wirkungen: Anfänge und Kritik ägyptologischer Forschung im 19. Jahrhundert«, in: Bernd U. Schipper (Hg.), Ägyptologie als Wissenschaft. Adolf Ermann (1854-1937) in seiner Zeit, Berlin/New York: De Gruyter 2006, S. 65-89. Hornung, Erik, Das esoterische Ägypten. Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluss auf das Abendland, München: Beck 1999. Hornung, Erik, »Hermetische Weisheit: Umrisse einer Ägyptosophie«, in: Elisabeth Staehelin/Bertrand Jaeger (Hg.), Ägypten-Bilder, Freiburg (Schweiz): Univ.-Verl./Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1997, S. 333-342.
Ancient Egypt Revisited
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F ILME Raiders of the Lost Ark (USA 1981, Regie: Steven Spielberg). Stargate (USA/Frankreich 1994, Regie: Roland Emmerich). The Mummy (USA 1999, Regie: Stephen Sommers).
A BKÜRZUNGEN B IBELZITATE Ex = Exodus Gen = Genesis 1 Kön = Das 1. Buch der Könige
A BBILDUNGEN Abbildung 1: Mythos Bundeslade (eigene Grafik nach Barthes 2003: 95). Abbildung 2: Filmstill aus Raiders of the Lost Ark (1981), http://www.midnight watchmen.com/Images/Editorials/indiana_jones_and_the_raiders_of_the_lost_ ark_1981_1600x1200_872221.jpeg (19.06.2013). Abbildung 3: Filmstill aus Raiders of the Lost Ark (1981), http://4.bp.blogspot. com/-YSGFcPSw4ac/TmK08W-bcGI/AAAAAAAAEUQ/bt7FKSGvUkg/s16 00/raiders_of_the_lost_ark_end.jpg (19.06.2013).
»Römische Katastrophe« oder »germanischer Freiheitskampf«? Die Varusschlacht in Dokumentarfilmen und die Wiederbelebung eines deutschen Nationalmythos M IRIAM S ÉNÉCHEAU
1. E RINNERUNGSKULTUR
UND
G ESCHICHTSPOLITIK
Im Jahr 9 n.Chr. schlug der Germane Arminius zusammen mit anderen germanischen Kriegern drei römische Legionen und deren Feldherrn Varus1. Dieses Ereignis, das als eine der größten Niederlagen Roms in die Geschichtsschreibung einging, bildet zusammen mit der antiken Überlieferung den Kern eines deutschen Nationalmythos2: Arminius alias ›Hermann der Cherusker‹, siegreich aus der ›Schlacht im Teutoburger Wald‹ hervorgegangen, besetzte vom Humanismus an als Identifikationsfigur im Pantheon der deutschen Heldenverehrung einen so bedeutenden Platz, dass er 2001 als ›Gedächtnisort‹ im Sinne von Pierre Noras lieux de mémoire in die Reihe Deutsche Erinnerungsorte (François/Schulze 2001) Eingang fand. Der Historiker Werner M. Doyé zeichnet in seinem dort vorgelegten Beitrag Arminius’ Rolle durch die deutsche Rezeptionsgeschichte hindurch bis zur Gegenwart nach (Doyé 2001). Sein Beitrag endet mit der Frage nach der heutigen Bedeutung eines Mythos, der nach 1945 zunehmend in Vergessenheit geriet und nur in der DDR noch eine gewisse Wertschätzung erfahren hatte (ebd.: 600). Doyé resümiert: Arminius spiele – neben einigen Randerschei-
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Zur Varusschlacht zusammenfassend Wolters (2009).
2
Dazu u.a. Kösters (2009); Dörner (1996). Dörner spricht gar von »dem zentralen Mythos der Nation« (2000: 73).
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nungen in der extrem Rechten Szene – gegenwärtig nur noch als »bloßer Werbeträger« einer kleinen, dem Hermannsdenkmal verbundenen Region eine Rolle; die Öffnung der Mauer habe »an diesem Zustand nicht viel geändert«, und auch für das Jubiläumsjahr 2009 wollte Doyé keine spürbare Veränderung prognostizieren (ebd.: 601). Er kam zu folgendem Schluss: »Der Gedächtnisort Arminius, der die Deutschen über Jahrhunderte bei allen Bemühungen begleitete, sich als Nation zu erfinden und zu definieren, hat seine Wandlungsfähigkeit verloren […]. Ein sich einigendes Europa wird andere Helden brauchen und dabei vermutlich auf das letzte real existierende gesamteuropäische Reich zurückgreifen, das antike Rom.« (ebd.: 602)
Der Blick auf Medien bis zur Jahrtausendwende bestätigt zunächst diese Einschätzung. Überlegungen zur Identitätsstiftung im Europa-Diskurs der 1990er Jahre speisten sich in der Tat aus der Idee eines verbindenden kulturellen Erbes (vgl. Assmann 2006: 250-254; Frevert 2005: 111-114) und der Suche nach gemeinsamen europäischen Wurzeln in der Antike. Diese sinnstiftenden Vergangenheitskonstruktionen schlugen sich nicht zuletzt auch in Formulierungen und Inhalten deutscher Lehrpläne und Schulbücher nieder (Bsp. in Sénécheau 2008a: 782-788; 2008b: Taf. 13.2). An die Idee einer Europa einenden antiken Vergangenheit war in den entsprechenden geschichtskulturellen Diskursen eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber dem Römischen Reich gekoppelt, das für seine zivilisatorischen Errungenschaften geschätzt und insgesamt – wirtschaftlich, sozial und kulturell – als Vorbild betrachtet wurde. Die Varusschlacht spielte in diesen Kontexten allenfalls eine kleine Rolle als Beispiel für eine lange Reihe römischer Auseinandersetzungen mit Völkerschaften an den Grenzen des Reichs. Aber wo stehen wir heute, ein gutes Jahrzehnt nach Doyés Prognosen? Meines Erachtens können wir derzeit einen Wandel beobachten. In Schulbüchern und Lehrplänen, staatlich approbierten Instrumenten der Geschichtsvermittlung3,
3
»Schulbücher stehen für staatlich approbiertes und hinreichend legitimiertes Wissen, das von den Deutungseliten einer Gesellschaft als relevant eingestuft und als gesichert verstanden wird […]. Durch den Zwang zur didaktischen Reduktion verweisen sie vergleichsweise präzise darauf, welche Wissensbestände aus der Fülle von Angeboten ausgewählt und an kommende Generationen weitergegeben, also ins kulturelle Gedächtnis einer Nation bzw. Gesellschaft eingeschrieben werden sollen« (Lässig 2012: 46f.). Dabei haben Schulbücher unter anderem die Aufgabe, »kohärente Deutungen und überzeugende Embleme (nationaler) Zugehörigkeit zu vermitteln« (ebd.: 46).
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ist dieser offensichtlich: Dort erfahren die Germanen in Kontrastierung zu den Römern, oft auch zusammen mit dem Thema ›Varusschlacht‹, aktuell wieder eine verstärkte Berücksichtigung, ihre Kultur wird gegenüber früheren Darstellungen aufgewertet (dazu vgl. Sénécheau 2012). Der im Bildungssektor feststellbare ›Germanenboom‹ hängt dort weniger mit einer Wiederbelebung nationaler Mythen als mit neuen didaktischen Kontexten zusammen, in denen die Germanen heute behandelt werden sollen. Aber auch diese didaktischen Ansätze spiegeln auf ihre Weise Zeitgeist: Bis in die späten 1980er Jahre beleuchteten Lehrpläne und Schulbücher vor allem die Kultur der Römer in den römischen Provinzen und stellten den Gewinn für die eroberten Gebiete heraus – das passte zum deutschen Selbstbild nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg unter der Besatzung durch die westlichen Alliierten. Eine tendenziell kritischere Haltung gegenüber Rom begegnet uns in den letzten Jahren immer häufiger mit dem Blick auf die Germanen als Opfer des römischen Imperialismus, die in der Varusschlacht ›zu Recht‹ für ihre Freiheit kämpften. Gleichzeitig fragt man heute nach Vor- und Nachteilen von Kulturbegegnungen, nach Gründen für Konflikte sowie nach Konfliktlösungen. Kalkriese und die Varusschlacht, Römer und Germanen werden dabei zum konkreten Anknüpfungspunkt für eine grundsätzliche Beschäftigung mit Krieg und Frieden, mit Gegenwehr und Anpassung, mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen sowie mit Toleranz und Integration (vgl. ebd.: 228). Solche Themen interessieren uns heute aus unserer aktuellen Situation heraus. Sie prägen auch andere Formen der Geschichtsaneignung und -präsentation: darunter Ausstellungen, an ein breites Publikum gerichtete Geschichtszeitschriften, Beiträge zum Kulturprogramm rund um Detmold und Kalkriese im Jubiläumsjahr 2009 – und, wie hier noch zu zeigen wird, Fernsehdokumentationen. Dass es ›die Germanen‹, dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Konsens folgend, als kulturelle oder politische Einheit nicht gab und dass sie auch in der Varusschlacht nicht als ›gesamtes Volk der Germanen‹ gegen Rom kämpften, wird dabei nur selten berücksichtigt. Die gegenwärtigen Tendenzen sind von ihrem gesellschaftlichen Hintergrund nicht zu trennen und meines Erachtens unmittelbar mit einer veränderten soziopolitischen Ausgangslage verknüpft: Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung kam Deutschland in eine Situation, in der es wieder Sinn machte, nach den Ursprüngen zu suchen, nach den verbindenden Wurzeln von Ost und West, nach den Anfängen der gemeinsamen Geschichte und dem historischen Werdegang einer freiheitlich westlichen Demokratie4. Damit rücken – unter anderem –
4
Zum Thema vgl. Götz (2011); Oberndörfer (2000); und die Beiträge von Bizeul, Becker und Wächter in Bizeul (im Druck). Becker geht u.a. auf die Fußballweltmeister-
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auch die Germanen wieder in den Vordergrund. Durch das Aussterben der Nachkriegsgeneration, die sich noch persönlich mit der deutschen Schuldfrage konfrontiert sah, ist Raum für ein Wiedererstarken des deutschen Selbstbewusstseins5, auch im Hinblick auf die Nation. Ein neuer deutscher Opferdiskurs in Bezug auf die NS-Zeit und ihre Folgen (vgl. Salzborn 2003) tritt in den Medien vermehrt an die Stelle eines negativ besetzten deutschen Gründungsmythos. Zeitlich damit einhergehend ist es nicht mehr zwingend ein Tabubruch, die einst für die Nation politisch vereinnahmten ›germanischen Vorfahren‹ (vgl. Killguss 2009; Landesverband Lippe 2009) wieder als identitätsstiftende Figuren an den Anfang einer ›deutschen‹ Geschichte zu stellen6. Auf diesen veränderten Boden fällt ein archäologisches Ereignis: die auch in den öffentlichen Medien breit thematisierte Identifizierung des antiken Schlachtfeldes von Kalkriese bei Osnabrück als möglichem Ort der Varusschlacht7. Vorausgesetzt, die Interpretation ist korrekt8, wäre ein seit 500 Jahren diskutierter Erinnerungsort der deutschen Geschichte endlich auf der Landkarte lokalisierbar – nicht ohne dabei zugleich einer strukturschwachen Region zu neuer Aufmerksamkeit zu verhelfen (vgl. Wolters 2009: 200f.; Kehne 2003). Auf die Entdeckung des antiken Schlachtfeldes folgte just wenige Jahre später die 2000Jahr-Feier zur Varusschlacht. In ihrem Kontext wurden die Ergebnisse der Grabungen spätestens allgemein publik, und zusammen mit den Römern lebten auch die Germanen als Thema gesellschaftlichen Interesses wieder auf. Das Jubilä-
5 6
7
8
schaft 2006 als Projektionsfläche für ein neues Deutschlandbild ein. Zusätzlich: Grütter (1994: 45). Siehe auch die Ausstellung Was ist deutsch? Fragen zum Selbstverständnis einer grübelnden Nation, die 2006 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg gezeigt wurde. Zum Wiedererstarken des deutschen Selbstbewusstseins als kulturelles Phänomen vgl. Hamann/Brehm/Happe (2006). Vgl. z.B. die im Rundgang der 2006 eröffneten Dauerausstellung Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen des Deutschen Historischen Museums in Berlin am Anfang platzierten Exponate: Der erste Ausstellungsteil beginnt mit Objekten ab dem 1. Jh. v.Chr. und thematisiert u.a. die Germanen und die Varusschlacht. Dazu kritisch Hartung (2007: 7). Aus der Fülle an Literatur zum Schlachtfeld von Kalkriese siehe etwa Varusschlacht (2009) und Schlüter (2003). Zur Wahrnehmung in den Medien vgl. Wolters (2009: 200). Die Interpretation des Schlachtfeldes von Kalkriese als Ort der Varusschlacht stützt sich auf die Summe der bisher ergrabenen Funde und Befunde sowie auf die Münzdatierung (terminus post quem 7 n.Chr.); sie ist nicht unumstritten (vgl. Kehne 2003; Wolters 2000).
»Römische Katastrophe« oder »germanischer Freiheitskampf«?
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umsjahr 2009 gab den Medien wie der Wissenschaft und Einrichtungen der kulturellen Bildung einen neuen Anlass, sich intensiv mit dem Ereignis auseinanderzusetzen; die Varusschlacht wurde zum Medienevent (vgl. Zelle 2010: bes. 279). Dass davon auch die inhaltlichen Schwerpunkte der Darstellungen nicht unberührt bleiben, soll im Folgenden exemplarisch anhand von Dokumentarfilmen zur Varusschlacht aufgezeigt werden.
2. D IE V ARUSSCHLACHT IN D OKUMENTARFILMEN : P ERSPEKTIVEN UND B EDEUTUNGSZUSCHREIBUNGEN Filme über archäologische und historische Themen sind im Deutschen Fernsehen so beliebt, dass sie häufig die Prime Time bespielen (vgl. Kircher 2012: 174f.). Als Medium für die Massen charakterisiert sie eine Zuschneidung auf die vermuteten Bedürfnisse und Erwartungen eines breiten Fernsehpublikums. Ihr an der Quote gemessener Erfolg spiegelt, so eine allgemein verbreitete Annahme, ebendiese Erwartungen und Bedürfnisse der Zuschauer wieder (vgl. Oppermann im Druck). Zumindest enthalten die Filme diejenigen Botschaften, mit denen spätestens die Sender dachten, ihr Publikum am besten erreichen zu können – und das macht sie als Untersuchungsmaterial interessant. Die hier einbezogenen Filme (fünf TV-Dokumentarproduktionen aus den Jahren 1998 bis 2009)9 waren nicht nur im Fernsehen erfolgreich: Sie gingen darüber hinaus – inklusive ihrer spezifischen Merkmale als Massen- und Unterhaltungsmedium – in Medien für den Geschichtsunterricht ein, etwa als 30’-Versionen für das Schulfernsehen sowie als 1:1-Übernahmen oder gekürzte Adaptationen für Unterrichtsfilme (vgl. Abb. 1)10. Dadurch sind ihre Inhalte auch im Rahmen der historischen Bildung relevant.
9
Diese Auswahl beinhaltet originär deutschsprachige Dokumentarfilme konkret zur Varusschlacht für ein erwachsenes Fernsehpublikum. Manche Filme existieren wie angegeben in zwei verschieden langen Fassungen. Zu weiteren Varusschlacht-Filmen vgl. Tode/Stern (2003) und Tode (2009). Auf die erfrischend anders gestalteten Produktionen Varusschlacht und Archäologische Ausgrabungen aus der Sendung mit der Maus (D 2005, Regie: A. Maiwald, UA: WDR 2005) kann hier nicht eingegangen werden.
10 Auf Einzelheiten zu den Übernahmen und Adaptionen muss in diesem Beitrag verzichtet werden. Verwiesen sei auf Sénécheau (2010a; 2010b).
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TVͲFilm
Artder Unterrichtsfilm/VerbindungzumGeschichtsunterricht Verbindung
C14–SchatzjägerinDeutschland ZDF1998/1999,4Folgen Folge4 (45’) ÆdarinTeilfilm3:DieVarusschlacht (11’18’’)
a)Geschichteganznah–AusgrabungeninDeutschland 2Teile,FWU2000 Teil1:DerKeltenfürstvomGlauberg,DieVarusschlacht(23’) ÆdarinTeilfilm2:DieVarusschlacht (11’18’’) Æ Übernahme 1:1 b)DieRömernördlichderAlpen FWU2003 DVDmitFilmsequenzen(105’)undZusatzmaterialien ÆdarinTeilfilm1.1.3 (11’18’’)
SturmüberEuropa ZDF/arte2002,4Folgen Folge2:VarusschlachtundGotensaga (45’/52’)* ÆdarinAbschnittzurVarusschlacht (10’)
Æ Adaptation
Völkerwanderung 2Teile,FWU2002 Teil1:Kimbern,VarusschlachtundAngelsachsen(22’) ÆdarinTeilfilmVarusschlacht (2’30’’)
Æ Adaptation
a)DieGermanen,Schulfernsehen/PlanetSchuleWDR/SWR 2008 Teil2:DieVarusschlacht (30’) b)DieVarusschlachtimJahre9n.Chr. WBF2009 DVDmitFilmundZusatzmaterialien (11’13’’)
DieGermanen WDR2007,4Folgen, Folge2:DieVarusschlacht (45’/52’)*
DieVarusschlacht:WiedieLegionen untergingen BR2008 eigenständigeDokumentation (45’) KampfumGermanien ZDF2009,2Folgen, Folge1:DerVerratdesArminius(45’) Folge2:DieVarusschlacht(45’) (90’gesamt)
ͲͲ
ͲͲ
KampfumGermanien ZDF/VGD2009 Æ Verwendung LehrermaterialienonlineinZusammenarbeitmitdemVerband 1:1 derGeschichtslehrerDeutschlandse.V. (http://www.zdf.de/ZDF/zdfportal/blob/22557498/2 /data.pdf)
*längereFassungfürarte
Abbildung 1: Filme zur Varusschlacht: TV-Produktionen und Unterrichtsmaterial (ab 1998)
Die Filme zur Varusschlacht durchlaufen im Hinblick auf den eingangs umrissenen gesellschaftlichen Gesamtkontext charakteristische Entwicklungen. Der Wandel wird bei einer chronologischen Reihung der Produktionen bezüglich folgender Fragen deutlich: Wie wird die Varusschlacht bewertet? Aus welcher Perspektive wird von dem Ereignis erzählt? Welche Rolle spielen Kalkriese und die Funde im Vergleich zu anderen Bildinhalten, und welche Funktion haben die Funde? Was ist die zentrale Botschaft des Films? Insgesamt: Welche Entwick-
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lung durchschreitet die Darstellung der Varusschlacht mit der Zeit, gibt es signifikante Unterschiede zwischen den Produktionen der letzten 15 Jahre11? 2.1 C14 – Schatzjäger in Deutschland Der älteste Film dieser Analyse ist Die Varusschlacht (1998/99), ein 11minütiger Streifen der Reihe C14 – Schatzjäger in Deutschland von Gisela Graichen. Hier geht es um die clades Variana in ihrer Bedeutung als eine »Schlacht, die auf Jahrhunderte die Zukunft Europas bestimmen sollte« (0’19’’). Der Regisseur, Ingo Helm, inszenierte 1998 das Thema als aufwändige Suche nach dem Ort der Auseinandersetzung. Archäologische Funde, u.a. aus Kalkriese, dienen im Film als Beweis für den Erfolg dieser Suche. Eine Münze mit dem Gegenstempel VAR (für Varus) übernimmt dabei zusätzlich eine (archäologisch allerdings nicht haltbare) Rolle als Hinweis auf die Präsenz des Varus auf dem Schlachtfeld – über diesen Fund holt man den menschlichen Protagonisten an den Ort und konstruiert so einen Zusammenhang zwischen Ort/Objekt und Person. Die inzwischen zum Wahrzeichen von Kalkriese gewordene römische Reitermaske, ursprünglich mit Silberblech überzogen, fungiert als Beleg für die pietätlose Plünderung des Schlachtfeldes durch Germanen. Menschliche Skelettreste dienen als letztes Beweisstück in der Indizienkette für Kalkriese als Ort der Schlacht; die Knochenreste stehen für die zu Tode gekommenen Römer. Hier – wie so oft – sieht man die Funde in den Händen von namhaften Wissenschaftlern, was, so der Effekt, die Glaubwürdigkeit der Interpretation unterstreicht. Die Berichterstattung erfolgt aus römischer Perspektive. Reenactments, dargestellt durch eine »Römerkohorte aus dem Rheinland« (5’33’’), zeigen ausschließlich Römer auf dem Weg durch unwegsames Gelände, keine Germanen. Der im Park Kalkriese nach originalen Befunden rekonstruierte Grassodenwall dient in der Narration des Films als Beleg für den sorgfältig geplanten germanischen Hinterhalt. Er wird später zusätzlich als Rekonstruktion in einem Zinnfigurendiorama mit Kamerafahrt abgefilmt. Das Diorama – nicht, wie in späteren Filmen, das Reenactment – veranschaulicht das Schlachtgeschehen, und nur hier sehen wir germanische Krieger ›in Aktion‹.
11 Die folgenden Einschätzungen beschränken sich auf eine qualitative Analyse der Filminhalte. Zahlreiche medienspezifische Aspekte, beispielsweise ästhetische Gesichtspunkte, wurden hier außer Acht gelassen. Der Blick auf die Filme erfolgt einseitig aus geschichtswissenschaftlicher (nicht medien- oder filmwissenschaftlicher) Perspektive.
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Über die Germanen selbst und ihre Motivation für den Aufstand erfahren wir nichts. Die pro-römische Perspektive wird zusätzlich unterstrichen durch Funde aus Waldgirmes, die im Film die hochstehende Kultur der Römer veranschaulichen sollen. Der Kommentar dazu, die römische Siedlung sei »kurz nach der Varusschlacht […] niedergebrannt« (7’31’’) worden, impliziert, dies sei durch angreifende Germanen geschehen, intensiviert also den anti-germanischen Blick auf das Geschehen. Die gefundenen Stücke ließen »ahnen, welche kulturelle Blüte die barbarischen Germanen hier verhindert« hätten (7’36’’). Das führt zur zentralen Aussage des Films, dass aufgrund des Ausgangs der Schlacht der »größte Teil Germaniens« mit den »Segnungen der römischen Hochkultur nicht mehr in Berührung« gekommen sei (11’08’’). Rückblickend wird, der Bilanz Tacitus’ folgend (Tac. ann. II, 88, 2), ohne einen weiteren Kommentar Hermann der Cherusker als Nationalheld der Deutschen festgehalten, der »die entscheidende Schlacht in unserer Frühgeschichte« gewann (10’55’’), ehe wir fliehende Soldaten sehen, deren Erzählungen ihren Landsleuten noch »Jahrhunderte lang Angst und Schrecken« einjagten (11’05’’). Fazit für diesen Film: Die Perspektive ist ausschließlich pro-römisch, der Ausgang der Schlacht wird als negativ für Deutschland bzw. einen Teil Europas beschrieben. Das war 1998/99. 2.2 Sturm über Europa Der Vierteiler Sturm über Europa (2002) erzählt die Geschichte römischgermanischer Konfrontationen vom Zug der Kimbern und Teutonen bis zum Ende der Völkerwanderungszeit. Beabsichtigt war mit der Produktion, an den Beginn »unserer europäischen Geschichte«12 und den Grundstein für die »Entstehung des mittelalterlichen Europas«13 zu erinnern. Für die zahlreichen, damals noch im Verfahren des ›Step Frame Printing‹14 produzierten Reenactmentszenen wurde mit Three Brothers Production Prag kooperiert, einer inzwischen auf die Bespielung von TV-Dokumentationen spezialisierten Firma15.
12 Sendungsbeschreibung des ZDF, »Sturm über Europa. Die Völkerwanderung«, http://www.wunschliste.de/10979 (19.06.2013). 13 Sendungsbeschreibung der Gruppe 5, »Sturm über Europa – Die Völkerwanderung«, http://www.gruppe5film.de/g5/geschichte/sturm_ueber_europa_-_die_voelkerwander ung.htm (19.06.2013). 14 Informationen des ZDF, »Making of Sturm über Europa«, http://www.zdf.de/TerraX/Making-of-5196940.html (19.06.2013). 15 Vgl. die Website der Firma: http://www.historicalmovie.com/ (19.06.2013).
»Römische Katastrophe« oder »germanischer Freiheitskampf«?
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Folge 2 enthält einen etwa zehnminütigen Abschnitt zur Varusschlacht. Der Bericht erfolgt ebenfalls zunächst aus römischer Perspektive. Arminius tritt bildlich lediglich historisiert in Form des Hermannsdenkmals auf, aber der Sprecher fragt – erstmals – nach Beweggründen der Germanen für den Aufstand sowie Arminius’ persönlicher Motivation: »[…] ging es ihm wirklich um Freiheit, oder wollte er nur König der Cherusker werden?« (19’05’’)16. Im Vordergrund steht allerdings die Bedeutung der Schlacht für Rom als »Schock« (10’21’’), als »Katastrophe« (10’03’’), als Auslöschung von »15.000« Legionären (17’53’’) und als »bittere Lektion« (19’17’’). Die Inszenierung von Funden erfolgt ganz in diesem Sinne: Die in einer Sequenz gezeigten Schädel von in der Schlacht gefallenen Männern dienen quasi als pars pro toto für die gesamte römische, »der Welt beste Armee«, die hier »vernichtet« wurde (10’17’’). Die Schädelfunde authentifizieren zusätzlich die ausgedehnten Reenactmentszenen, die, dem Bericht des Tacitus folgend (Tac. ann. I, 61), Germanicus bei der Rückkehr auf das Schlachtfeld sechs Jahre später zeigen. Die Gräuel des Schlachtfeldes erfahren eine Unterstreichung durch flankierende Aufnahmen von Grabungen mit folgendem Kommentar: »Noch heute umweht der grauenvolle Geruch des Todes die Fundstücke. Sie erzählen vom Untergang eines großen Heeres« (15’10’’) – die Funde erzählen, den Tod können wir durch sie sogar riechen. Die Maske von Kalkriese spielt auch in dieser Dokumentation eine Rolle als Symbol für die römische Niederlage. Sturm über Europa enthält entsprechend eine Spielszene, in der ein plündernder Germane auf dem Schlachtfeld das Silberblech von der Gesichtsmaske reißt. Römische Funde stehen wie im C14-Film für die Zivilisation, die die Römer nach Germanien hätten bringen können – was ihnen aber nicht gelungen sei: Dies wird als wichtigstes Ergebnis der Auseinandersetzung festgehalten. Was bleibt, ist das Bild von Germanien als »finstere[s] Land mit […] unberechenbaren Einwohnern« (19’20’’). Mit ihnen will man sich als Zuschauer nicht identifizieren, eher mit den Römern, die hier in eine Falle gerieten und hinterhältig niedergemacht wurden. »Sie hätten die römische Zivilisation bringen, die Blutrache abschaffen und bürgerliche Rechte einführen können« (18’19’’) – wäre nicht die Varusschlacht gewesen. Funde dienen wie in C14 neben der Stützung dieses Gesamtnarrativs außerdem zur sachlichen Beweisführung in Bezug auf die Verortung der Varusschlacht in Kalkriese. Dabei scheute man sich auch nicht, die komplexe Frage nach der Datierung des Platzes durch die Fundmünzen auf eine zentrale Botschaft herunterzubrechen, die aus archäologischer Sicht schlichtweg falsch ist: »Letztlich sind es die Münzen, die beweisen, dass die Varusschlacht wirklich in
16 Die Angabe der Filmminuten bezieht sich stets auf die kürzere Fassung von 45 Minuten.
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Kalkriese stattfand […]. Der jüngste Münzstempel datiert aus dem Jahr 9, exakt das Jahr der Varusschlacht« (15’46’’) – es liegt bislang keine Münze vor, die aufgrund des Stempels auf 9 n.Chr. datiert werden kann. Deutlich ist das Bemühen, den Funden ihre Anonymität zu nehmen und sie den historischen Protagonisten des Geschehens zuzuschreiben. Die TV-Doku holt mit einem römischen Truhenschlüssel – mehr ist der Fund nicht – stellvertretend Varus und die Kriegskasse auf den Fundplatz und verknüpft die Maske mit der historischen Überlieferung zur (hier auch im Reenactment gezeigten) Rückkehr des Germanicus auf das Schlachtfeld. Arminius wird wie in C14 nur historisiert in Form des Denkmals gezeigt. Fazit auch hier: eine gänzlich römische Perspektive. Allerdings: eine größere Einbeziehung der Germanen als Akteure bei gleichzeitiger Integration ihrer – wenn auch negativ besetzten – Rolle in die Geschichte Europas. 2.3 Die Germanen Der Vierteiler Die Germanen widmet sich 2007 dann hauptsächlich den Germanen, ihrer Geschichte und Kultur von den Anfängen bis zum Frühmittelalter. Damit rücken nun programmatisch – erstmals seit langer Zeit – wieder die Germanen in den Mittelpunkt. Folge 2, Die Varusschlacht, beschäftigt sich in der ganzen Filmlänge mit der Varusschlacht. Arminius wird, auch das ist neu, als handelnde Figur in den Reenactments inszeniert. Wir hören ihn aber nicht sprechen. Dies übernimmt ein anderer Ich-Erzähler: die fiktive Figur des Notker, der Arminius von Kindheit an bis zu dessen Tod begleitet und einige der ansonsten stummen bzw. für uns nicht verständlichen Spielszenen kommentiert. In diesem Film werden die Varusschlacht als Freiheitskampf der Germanen und Arminius als ihr »Anführer im Kampf um die Freiheit« (2’26’’) dargestellt. Erklärungen für sein Handeln werden gesucht, und diese, im Unterschied zu den vorangegangenen Filmen, klar auf der Seite der Römer identifiziert: Es ist, Cassius Dio folgend (56, 18, 2-4), von Ungerechtigkeiten, Unterdrückung, Willkür und Maßlosigkeit der Römer nicht nur die Rede – diese Elemente werden auch wirkungsvoll durch nachgespielte Auspeitschungen, Hinrichtungen etc. in Szene gesetzt. Auch hier stützen archäologische Objekte Details des Narrativs. Sie beziehen sich nun aber vor allem auf emotional aufgeladene Inhalte, Arminius und die Germanen betreffend: etwa die nicht eindeutig belegte Annahme, dass er als Geisel nach Rom gelangte, oder die Anwendung von Gewalt gegenüber der unterworfenen Bevölkerung. Zur Illustration dienen Münzbilder und Reliefs, welche per se nicht unmittelbar in einem Zusammenhang mit der Varusschlacht stehen, hier also neu kontextualisiert werden. Häufig erfolgt außerdem eine Ver-
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schränkung von Reenactment, Archäologie und Schriftüberlieferung. Den zitierten antiken Autoren kommt dabei gleichsam eine authentifizierende Funktion als Zeitzeugen zu. Beispielsweise beschließen in einer Sequenz die Germanen bei Vollmond auf dem Thing den Kampf; flankierend wird ein als Thingplatz interpretierter Fundort gezeigt und ein Zitat von Tacitus (Tac. Germ. 11) wiedergegeben (26’08’’) – Szenen, Objekte und Quellen bestärken sich gegenseitig in ihrer Aussagekraft17. Der Verlust auf römischer Seite wird mit 20.000 Mann beziffert, was hier dazu dient, die Leistung des Arminius zu unterstreichen18. Für die Römer weckt der Film erst Empathie, als es um die Gräuel des Kampfes geht: in einer Szene, die ähnlich wie in Sturm über Europa den römischen Feldherrn Germanicus auf dem ehemaligen Schlachtfeld zeigt. Im Film präsentierte Knochenfunde aus Kalkriese lassen am Ende der Indizienkette keinen Zweifel mehr daran, dass die Varusschlacht in Kalkriese stattgefunden habe. Festzuhalten ist als Stilmittel die immer gleiche Reihenfolge: Erst kommt das Reenactment, dann die Argumentation aus der Archäologie, welche die Story stützt. Nie geht man den umgekehrten Weg, dass auf die Darstellung der Befunde ein Reenactment in Bezug auf die Frage folgt, welche Geschichte(n) man auf der Grundlage von Forschungsergebnissen hätte stricken können. Der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung wird hier also quasi umgedreht zugunsten einer eindeutigen, unilinearen Interpretation ohne offene Fragen, Brüche und Widersprüche19. Der Film arbeitet mit zahlreichen digitalen Rekonstruktionen, so auch mit einer 3D-Animation zur römischen Siedlung bei Waldgirmes20. Für den Lebensalltag in dieser Stadt betont der Film das friedliche Zusammenleben von Römern und Germanen vor der Varusschlacht. Zum Ende von Waldgirmes heißt es, die Römer hätten die Stadt selbst niedergebrannt (39’56’’) – in C14 waren es, implizit, noch die Germanen. Letztere erscheinen nun nicht mehr als Täter (als Angreifer und Zerstörer der römischen Kultur), sondern als Opfer (einer römischen Unterdrückungspolitik) im berechtigten Kampf für ihre Freiheit. Diesen Wandel in der Perspektivübernahme symbolisiert letztlich auch die schon mehrfach zitierte Maske. Sie versinnbildlicht in Die Germanen nicht mehr zwingend die rö-
17 Wolf spricht für vergleichbare Beobachtungen bei Dokumentationen zur Zeitgeschichte von einer »Harmonisierung von dokumentarischem und fiktivem Material«, einer »fast absurden Verweistechnik« (2005: 16f.). 18 Kritisch zu solchen Zahlen etwa Tode (2009: 215). 19 Laut Wolf (2005: 13; 15) ein typisches Merkmal aktueller Geschichtsdokumentationen. 20 Die 3D-Rekonstruktionen stammen von der auf Geschichte und Archäologie spezialisierten Firma FaberCourtial.
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mische Niederlage, sondern kann auch für die Seite der ›Freiheitskämpfer‹ stehen: »Kämpfte der Soldat [mit der Maske] auf der Seite Roms oder gehörte er zu den Aufständischen?« (33’56’’). Am Ende bleibt das Bild einer »den Lauf der Geschichte« (40’20’’) verändernden germanischen Glanzleistung: »Arminius wird im 19. Jh. von national gesinnten Deutschen mit dem pompösen Hermannsdenkmal gefeiert. Eindeutig ist, dass er die Romanisierung der Germanen dauerhaft verhinderte. Tacitus [ann. II, 88, 2] schreibt über Arminius: ›Er war unstreitig der Befreier Germaniens. Noch heute besingt man ihn bei den barbarischen Völkern‹ […]. Unter seiner Führung hatten die Germanen den entscheidenden Sieg errungen.« (41’08’’; 42’23’’)
Mit ihrem Urteil treten die Macher im Grunde in die Fußstapfen der politisch motivierten Arminius-Überhöhungen des 19. Jahrhunderts. Fazit: In diesem Film steht die Perspektive der Germanen im Zentrum. Ihre negativ besetzte Rolle als Täter haben sie gegen eine (Identifikation anbietende) Opferrolle eingetauscht. Aus dem Angriff auf Rom und damit die Zivilisation ist ein Freiheitskampf keineswegs kulturloser Barbaren gegen imperialistische Unterdrückung geworden. 2.4 Die Varusschlacht: Wie die Legionen untergingen Die Varusschlacht: Wie die Legionen untergingen (2008) widmet sich erstmals als alleinstehende Dokumentation, nicht als Teil einer Folge, der Varusschlacht, die gleich in der ersten Filmminute als »Anfang der deutschen Geschichte« bezeichnet wird (0’50’’). Ähnlich wie Die Germanen berichtet der Film überwiegend aus der Perspektive der Germanen, fragt nach deren Motiven für den Aufstand, rückt dabei aber noch stärker Arminius als Person in den Vordergrund – und, komplementär dazu, auch Varus. Arminius erfährt eine Inszenierung als »Freiheitskämpfer« (0’59’’), der verhindert habe, dass »Germanien und damit das heutige Deutschland Teil der römischen Welt geworden ist« (1’02’’). Er erfährt vor allem eine sehr persönliche Charakterisierung als »Mann im Aufeinanderprall zweier Welten« (1’17’’) und »gespaltener Loyalitäten« (1’20’’), als »junge[r], dynamische[r] Aufsteiger« (22’21’’) wachen Geistes mit besonderem Ehrgeiz: Er will eine »Machtposition erringen« (16’39’’) »in königsgleicher Stellung, wie sie vor ihm noch kein Germane besessen hat« (17’41’’). Arminius spricht in diesem Film ebenfalls nicht, wir sehen ihn allenfalls in Spielszenen agieren. Als ein neues Gestaltungselement bedient sich der Film einer Art inszenierter Zeitzeugenaussagen: Fiktive Beteiligte des Geschehens berichten von ihren Er-
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lebnissen und Gefühlen – eine Germanin, ein kampfbegeisterter ArminiusAnhänger, ein Arminius-kritischer Germane aus der Oberschicht und ein überlebender römischer Legionär. Dadurch gelingt eine noch stärkere Emotionalisierung und Verknüpfung von persönlichen Schicksalen mit dem historischen Ereignis. Die Aussagen dieser ›Zeitzeugen‹ haben fast das gleiche Gewicht wie die Äußerungen von Marcus Junkelmann, der als einziger Experte durch den Film führt. Je nachdem, worüber er gerade spricht, wird er wechselweise als »Experimentalarchäologe«, »Historiker« oder »Militärexperte« bezeichnet und vor einer entsprechend changierenden Kulisse präsentiert: archäologisches Objekt, Bibliothek oder Schlachtfeld. Auf Funde oder Grabungen wird nur an wenigen Stellen gesondert eingegangen. Das Wissen um sie und ihre Interpretation im Hinblick auf Kalkriese als Ort der Varusschlacht hat sich quasi verselbstständigt und verlangt keine besondere Erörterung mehr. Die Maske gehört in diesem Film zur Ausstattung des Arminius, dessen Gesicht sie oft verbirgt. Sie sei, so Junkelmann in einer Schlussszene, Symbol für den Untergang der Legionen Roms. In der Interpretation des Films ist sie zugleich ein Symbol dafür, wie der Ehrgeiz und das Ringen um Macht, vor allem eines Mannes, den römischen Legionen den Untergang gebracht hat – hier nun hat die Maske die Seite gewechselt: von den Römern zu den Germanen. Fazit: Nachdem sich der Schwerpunkt der Darstellungen schon in Die Germanen zur germanischen Seite hin verschob, rücken nun die Person des Arminius und seine Verdienste für Germanien/Deutschland stärker in den Mittelpunkt. Fiktive ›Zeitzeugen‹, die zugleich als Opfer politischer Systeme dargestellt werden, lassen die Zuschauer teilhaben an menschlichen Schicksalen im Kontext großer historischer Ereignisse. 2.5 Kampf um Germanien Kampf um Germanien widmet sich 2009 in zwei Teilen mit insgesamt 90 Minuten ganz der Varusschlacht. Ihre Folgen hätten »die Geschichte Europas« geprägt (2: 2’16’’). Wir finden hier noch mehr Reenactment, noch mehr 3DAnimation, noch mehr Schlachtszenen, insgesamt weniger Funde und kürzere Experteninterviews. Neu ist, dass die Hauptfiguren nicht nur handeln (und dabei stumm oder unverständlich bleiben), sondern tatsächlich sprechen. Der Film verfolgt den Lebensweg des Arminius als »Zerrissener zwischen den Kulturen« (2: 43’21’’). Wir sehen ihn als kleinen germanischen Jungen, als gepflegten römischen Bürger und Legionär, als nachdenklich-verzweifelten Heimkehrer in der Krise und schließlich als langhaarig-unrasierten, zum Kampf
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entschlossenen germanischen Krieger im Aufstand gegen Rom. Partei für die Germanen übernimmt Arminius hier ganz klar aufgrund der ebenfalls wirkmächtig in Szene gesetzten Unterdrückung der freiheitsliebenden Germanen durch die Römer: »Arminius […] hatte seine Landsleute in der Kindheit als freie, stolze Krieger erlebt. Als Heimkehrer trifft er auf Entrechtete, unterdrückt ausgerechnet von der Macht, in deren Diensten er steht« (1: 33’44’’). Wer Zerrissenheit zwischen den Kulturen glaubwürdig inszenieren will, muss beide Kulturen in scharfem Kontrast gegeneinander setzen. Das geschieht hier vielfach, bildlich und sprachlich, unter Heranziehung zahlreicher Klischees, die über Römer und Germanen schon lange verbreitet sind. Veranschaulicht wird auf der einen Seite gepflegtes und luxuriöses Stadtleben in Rom (»steinerne Häuser, dicht an dicht«, 1: 12’44’’), auf der anderen Seite schmutziges und einfachstes Leben der als »unzivilisierte Wilde ohne Kultur« (1: 7’37’’) beschriebenen Germanen in den wilden, stets finsteren und nebligen Wäldern Germaniens: »Die germanischen Urwälder sind ein Kulturschock« für die römischen Legionäre (1: 9’05’’). Auffällig ist die Heraufbeschwörung noch anderer Topoi. Dazu gehört die Vorstellung vom »Germanische[n] Geist« als »Geist der Freiheit«, ein Zitat Hegels, das als allererstes, noch im Vorspann, eingeblendet wird (1: 0’30’’). Die Germanen hätten ein »gesundes Volksempfinden« gehabt (1: 32’34’’), die meisten seien »Hardliner, die auf Freiheit und Selbstbestimmung beharrten« (1: 24’17’’) gewesen und »freie, stolze Krieger« (1: 33’48’’). Die Macher wollen sich zwar von »Nationalromantikern« des 19. Jahrhunderts distanzieren (2: 42’35’’), knüpfen allerdings mit solchen Formulierungen direkt an entsprechende Auffassungen an, die schließlich im nationalsozialistisch ideologisierten Germanenbild gipfelten. Beschworen wird die Einheit der Germanen unter Arminius, der gemeinsame Wille, das Volk der Germanen: »Unter Arminius erleben die Germanen zum ersten Mal, dass eine Befehlshierarchie und organisiertes Handeln zum Erfolg führen. Indem Arminius den Stammeskriegern einen gemeinsamen Willen gibt, ist er der erste Germane, der aus dem Dunkel ihrer Geschichte für uns fassbar wird. Ein Barbar, der vielleicht von einer höheren Kultur für sein Volk träumte« (2: 21’41’’). Dies alles erinnert letztlich an das NS-Bild der kämpfenden Volksgemeinschaft, welches »versprach, das Unglück der Gegenwart zu beenden und in der Zukunft Gerechtigkeit, Wohlergehen und Anerkennung zu erreichen« (Wirsching 2012: 12). Da hilft es nur wenig, wenn später vom Ehrgeiz des Arminius sowie vom Zerfall dieser Einheit die Rede ist und der Held zumindest sprachlich dekonstruiert wird. »Ein strahlender Held war Arminius bestimmt nicht, ein militärisches Genie gewiss, ein Machtmensch auch« heißt es, um dann zu schließen: »Doch ist es nicht verwerflich, sich an die
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Spitze eines Volkes im Kampf gegen eine Besatzungsmacht zu stellen« (2: 43’05’’). Und das ist quasi eine Integration des alten Mythos in eine neue gesellschaftspolitische Situation, die Partei ergreift für die Unterdrückten, wider den Imperialismus. Als Deutsche in Europa und Teil der globalen Welt können wir uns schließlich auch persönlich mit Arminius identifizieren: »Ausgerechnet seine Feinde haben uns seine Geschichte überliefert, und in dieser erscheint er als ein dramatisch Zerrissener zwischen den Kulturen. Nicht zuletzt dieser Identitätskonflikt macht ihn zu einer modernen Figur für uns heute.« (2: 43’13’’)
Fazit für diesen Film: Wir landen 2009 wieder bei Arminius als Projektionsfläche für das, was ›uns‹ – kollektiv und individuell – bewegt.
3. Z USAMMENFASSUNG
UND
F AZIT
In der Gesamtschau durchlaufen die genannten Filme zur Varusschlacht Entwicklungen in Bezug auf die folgenden Gesichtspunkte: 1. Zeit und Stellenwert: Das Thema Varusschlacht gewinnt, gemessen am Stellenwert innerhalb einer Sendung oder Sendereihe, an Bedeutung, bei einer gleichzeitigen Erweiterung der ihm gewidmeten Zeit um fast das Zehnfache (vgl. Abb. 1). Mit dem Stellenwert und neuen technischen Möglichkeiten wuchs auch der Aufwand, der für die Produktion betrieben wurde (z.B. in Bezug auf die Professionalität der Reenactments und der digitalen Effekte). Die Filme zur Varusschlacht können diesbezüglich als Teil des allgemeinen, noch immer anhaltenden Geschichtsbooms im Fernsehen betrachtet werden, in dessen Rahmen Themen zur Ur- und Frühgeschichte neuerdings insgesamt mehr Beachtung finden (vgl. Wolf 2005: bes. 12-14). Sie dokumentieren zugleich das mediale Interesse am Thema sowohl im Vorfeld als auch während des Jubiläums 2009 und unterstreichen damit die Bedeutung von Geschichte als ›Medienereignis‹, insbesondere im Rahmen von Jubiläen. 2. Perspektive: Mit dem wachsenden Interesse an der Varusschlacht und ihren Protagonisten änderte sich im Lauf der Zeit die Perspektive auf das Geschehen. Die hier am Anfang stehenden Filme vertraten noch klar die Position Roms. Schritt für Schritt fand ein Perspektivwechsel statt, der die Motivation der Germanen für ihren ›Freiheitskampf‹ stärker in die Darstellung einbindet und Kritik an der römischen Imperialpolitik übt. Schlussendlich wurden die Rollen in den Täter-Opfergeschichten getauscht: von den Römern als Opfer eines germa-
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nischen Hinterhalts zu den Germanen als Opfer einer römischen Unterdrückungspolitik. 3. Akteure: In den Filmen rücken zeitgleich mit diesem Perspektivwechsel Arminius selbst und die Germanen stärker in den Vordergrund. Erstmals kurz vor dem Jubiläum sehen wir Arminius als Person agieren, zunächst nicht als Berichterstatter, schließlich aber in einer der Hauptrollen in einer Produktion, die seinen Lebensweg inszeniert. Die Schwerpunktverlagerung vollzieht sich von den Römern weg hin zu den Germanen bis hin zu Arminius selbst. Diesen präsentiert man als ambivalente Persönlichkeit: Motivationen für seinen Freiheitskampf werden auch mit Machtstreben und Ehrgeiz begründet. Arminius wird zur innerlich zerrissenen und schließlich gescheiterten Person – was heute politisch korrekt scheinen mag, im Film aber zugleich ein wirkungsmächtig inszenierbares Gestaltungsmittel innerhalb der Dramaturgie der zur erzählenden Story bildet (vgl. Wolf 2005: bes. 13). 4. Plot und Bildinhalte: Zeitnah zur Entdeckung von Kalkriese als möglichem Ort des Geschehens nehmen Funde eine wichtige Position zur Visualisierung und Authentifizierung ein21, überwiegend als Hinweis oder Beweis für die Lokalisierung des Schlachtfeldes oder zur Dokumentation römisch-germanischer Beziehungen. Der Trend geht dahin, mit weniger Bildern von Originalen auszukommen. Der Authentizitätsanspruch des Gezeigten verlagert sich in die Ausstattung der Darsteller und Kulissen sowie in die Spielhandlung, die zunehmend professioneller gestaltet ist. Während anfangs noch Funde und die Diskussion um Kalkriese den Plot der Dokumentation bestimmten, die Archäologie im Zentrum stand, sind es am Ende Menschen, ihre Charaktere und Beweggründe, die »eigene biographische Erfahrung und die Innensicht der Geschichte, das subjektive Erleben der historischen Ereignisse« (Grütter 1994: 49), die interessieren. Entsprechend räumen Objekte den Spielszenen und immer aufwändiger gestalteten Reenactments im Dokudrama und der Dokufiktion das Feld22 – mit mehr oder weniger fiktiven Biografien als elementarem Bestandteil. 5. Bedeutung des Ereignisses: Anfangs wurde die Bedeutung der Varusschlacht und der Römer für die Geschichte Europas betont. Sturm über Europa zeigt erstmals den Versuch, in diese auf Europa abzielende Identitätskonstruktion die Germanen ebenso einzubinden wie die Römer. Ab 2007 dann finden wir mit dem Vierteiler Die Germanen Hinweise auf eine Reintegration des Themas in die Geschichte Deutschlands und der Deutschen, die sich wieder mit ›ihrer‹ Ge-
21 Ausführlicher zur Rolle von Funden in TV-Dokumentationen Sénécheau (2010a). 22 Vgl. auch Beobachtungen zu allgemeinen Trends bei der Darstellung von Geschichte im Fernsehen (Wolf 2005: 12-19).
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schichte identifizieren sollen, innerhalb derer die Varusschlacht ein wichtiges Ereignis im Kampf um Freiheit darstellt. In fast allen Filmen wird, egal in welcher Ausrichtung, die historische Bedeutung der Schlacht überbewertet, oftmals verbunden mit dem Topos der »Rettung der Nation« (vgl. Tode 2009: 218-220, hier: 219). 6. Nationale Deutungsmuster und Opferrhetorik: Je mehr sich die Filme inhaltlich der Perspektive der Germanen nähern, desto stärker gewinnen politische Mythen des 19. Jahrhunderts wieder an Bedeutung. Wie auch immer man versucht, das Erbe aus Germanenideologie und Arminiusverherrlichung zu umgehen, etwa durch die Zeichnung ambivalenter Persönlichkeiten – das 19. Jahrhundert schwingt immer mit (vgl. ebd.: 219f.). Wir werden uns davon nicht lösen können: kein Film ohne das Hermannsdenkmal, kein Film, der nicht Germanentopoi des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts aufgreift, sie neu inszeniert, und dies nur in Teilen angepasst an aktuelle gesellschaftspolitische Kontexte, um sie darin zu reintegrieren. Ein wesentlicher Unterschied zum Nationalismus besteht allerdings in der Tatsache, dass mit der Persönlichkeit des Arminius kein unhinterfragbarer siegreicher Held dargestellt wird, sondern er eine Charakterisierung als ambivalente Person und Opfer eines Systems erfährt. Zum Tragen kommt dabei eine klassische Opferrhetorik (vgl. Paris 2009): Vor allem in den letzten drei hier vorgestellten Filmbeispielen erscheinen die Germanen als Opfer von Gewalt. Die Darstellung des römisch-germanischen Konfliktes ist affektiv aufgeladen (wir fühlen mit den Opfern mit); die kriegerischen Auseinandersetzungen erfahren letztlich eine Aufladung als Kulturkampf. Die Germanen gelten als Opfer wirtschaftlicher und politischer Machtausübung, so dass die äußeren Verhältnisse – so die Darstellungen – Arminius und seinen Anhängern keine andere Wahl als den kriegerischen Aufstand lassen. Der Opfer-Diskurs enthält Sinnbezüge, darüber, dass die Darstellungen des hier stilisierten Freiheitskampfs der Germanen teleologisch auf das demokratische Deutschland des 21. Jahrhunderts ausgerichtet sind23.
23 Vgl. Lässig zur Darstellung von NS-Zeit und Holocaust in deutschen Schulbüchern: Auch in neuen Lehrwerken sind Akzentverschiebungen zu beobachten. Es geht um Handlungsoptionen unter den Bedingungen des politischen Systems, um Opfer des Systems, um Empathie mit den Opfern sowie um verschiedene Opfergruppen; der Opferdiskurs bezieht sich auch auf Deutsche (vgl. Lässig 2012: 50; 53). Die zeitlich folgende Geschichte der alten BRD ist dann eingebettet in eine Fortschritts- und Erfolgserzählung, die in den Schulbüchern, vielfach positiv konnotiert, im Ende sozialistischer Diktaturen und/oder der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten mündet (ebd.: 51).
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Entgegen der vor nunmehr über zehn Jahren formulierten Annahme Doyés hat der »Gedächtnisort Arminius, der die Deutschen über Jahrhunderte bei allen Bemühungen begleitete, sich als Nation zu erfinden und zu definieren«, seine »Wandlungsfähigkeit« doch nicht »verloren« (Doyé 2001: 602). Wieder – oder immer noch? – auf der Suche nach Sinnstiftung auf Grundlage der ›eigenen Geschichte‹, beruft man sich in deutschen Vergangenheitskonstruktionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eben nicht (mehr) wie im Kontext des Europäisierungsprozesses auf das antike Rom; stattdessen erfreut sich Arminius zusammen mit den germanischen Freiheitskämpfern eines Comebacks unter veränderten Vorzeichen. Die jüngeren Varusschlacht-Filme passen damit insgesamt in ein Bild, in dessen Kontext auch der Erfolg der Dokumentationsreihe Die Deutschen (Deutschland 2008) zu sehen ist: Nach langen Jahren, während derer sich das Geschichtsfernsehen überwiegend mit der NS-Zeit als einem ›dunklen Kapitel‹ der deutschen Geschichte beschäftigte, nimmt das Fernsehpublikum dankbar neue Angebote für eine positiv attribuierte nationale Identitätsbildung aus einer deutschen Geschichte vor 1933 an, um diese in ein »neues deutsches Selbstbewusstsein« zu integrieren (Oppermann im Druck). Dabei wird Geschichte letztlich wieder anhand bedeutender Persönlichkeiten erzählt. Es geht um Deutschlands Werdegang von seinen Ursprüngen an, zerrissen zwischen der Bemühung um Einheit und den gegebenen Zersplitterungen, in einer Abfolge bedeutender Schlachten, übermittelt mit den schon klassischen Methoden von Personalisierung, Dramatisierung und Emotionalisierung, aufgehängt an überzeitlichen Motiven: innere Konflikte, Schicksal, Kampf gegen Feinde oder um Macht (vgl. Oppermann im Druck; Wolf 2005: 13). Die jüngeren Filme zur Varusschlacht lassen sich dabei in eine Vielzahl geschichtskultureller Manifestationen einreihen, welche allesamt die neue Suche der Deutschen nach ›ihrer‹ Geschichte illustrieren24. Dass man sich in diesem Prozess auch der Archäologie mit ihren Funden und Interpretationen bedient, ist nicht neu und zeigt nur einmal mehr die Relevanz eines verantwortungsvollen und selbstreflektierenden Umgangs mit Geschichte seitens der Wissenschaft. Die aktuell in Deutschland feststellbare Rückbesinnung auf die Nation, auf ihre Alleinstellungsmerkmale gegenüber Anderen, auf ihre Geschichte und ihre Helden ist in Europa kein Einzelfall: Insgesamt beobachten wir derzeit auch in anderen Staaten die Wiederkehr nationaler Paradig-
24 Beispiele bei Hamann/Brehm/Happe (2006); vgl. auch Über die Deutschen, wo Demandt zur Beschreibung der Kulturgeschichte immer wieder auf die Germanen rekurriert (2007).
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men in der Geschichtsschreibung und eine Wiederbelebung der Gattung Nationalgeschichte25 – die sich in Deutschland vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus nur verhaltener zeigt und daher immer wieder zwischen Europa und der Nation als Bezugsgröße für die Relevanz historischer Ereignisse changiert. Die Bedienung nationaler Selbstvergewisserungsbedürfnisse stellt nur einen Anreiz unter vielen dar, den die Beschäftigung mit dem Germanenthema und den römisch-germanischen Auseinandersetzungen bieten kann. Die ›Wiederbelebung‹ der Germanen geschieht im Rahmen einer allgemein zu beobachtenden Konjunktur von Themen der Ur- und Frühgeschichte in den Medien26, die parallel mit einer Ausweitung der Geschichtsformate im Fernsehen einhergeht, in denen Geschichte zur Erlebnis- und Erfahrungswelt wird27. Die Gründe für diese mediale Allgegenwärtigkeit früher Menschheitsgeschichte sind zahlreich; nur einer soll hier explizit genannt werden: Mit dem Alltag in weit zurückliegenden Epochen verbinden viele Menschen zunächst die Vorstellung von einem Leben im Einklang mit der Natur und in Abhängigkeit von der Natur. Es fällt auf, dass besonders in Zeiten des Fortschrittsoptimismus wirtschaftlich und technisch weit entwickelte Kulturen wie etwa die römische Zivilisation in der öffentlichen Beschäftigung mit Geschichte Konjunktur haben, in Zeiten des Kulturpessimismus und der Fortschrittskritik jedoch eher die Nähe zu Gesellschaften gesucht wird, deren Alltag und Sozialstrukturen als ›einfach‹ imaginiert werden. Die Beschäftigung mit der Ur- und Frühgeschichte (oder auch mit dem Mittelalter), die Illusion des ›Eintauchens‹ in vormoderne Lebenswelten, ist daher nicht selten zu starken Anteilen durch Gegenwartsflucht motiviert28. Wirtschaftskrisen, gekoppelt an einen Verlust des Wachstumsglaubens und eine kritische Sicht auf die globalisierte Welt, mögen mit zu individuellen und gesellschaftlichen Rückversicherungen führen, für die u.a. die Ur- und Frühgeschichte als Projektionsfläche dient. Das Aufleben des Germanenthemas – nicht nur im Fernsehen, sondern ebenso in Formaten der lebendigen Geschichtsaneignung wie Living History und
25 Vgl. Berger (2005: 12f.); Bizeul (im Druck); Grever (2009: 46f.). 26 Samida (2012a) spricht von einer medialisierten, durch Inszenierung und Kommerzialisierung geprägten Archäologie. 27 Z.B. in Living-History-Sendereihen wie Steinzeit – Das Experiment – Leben wie vor 5000 Jahren (Deutschland 2007, Regie: Marti Buchholz/Harold Woetzel). 28 Siehe Grütter (1994: 45f.) sowie die Ergebnisse von Samida und Kommer auf Grundlage von Interviews mit Personen aus der Living-History-Szene (Samida 2012b: bes. 212, 214f.; Kommer 2011: 197).
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Reenactment29 – kann auch in diesen Kontext eingeordnet werden und ist damit Teil eines größeren gesellschaftlichen Phänomens. Von der für das 19. Jahrhundert typischen Funktionalisierung von Geschichte zur Schaffung »nationale[r] Monumente einer kollektiven Vergangenheit«, die als »historische Referenzen auf kollektive Abstammungen in der ersten Person Plural« dienten, unterscheidet sich die gegenwärtige Geschichtspopularisierung vor allem durch einen zusätzlichen »neuen Modus: die Personalisierung auf Rezipientenseite« (Groebner im Druck)30. Diese macht »personalisierte affektive Bindung« (ebd.) zur imaginierten Vergangenheit möglich und bindet neben dem Kollektiv vor allem das Individuum in Sinnstiftungsprozesse ein.
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29 Dazu Samida (2012b: 210). 30 Groebner bezieht sich hier auf Tourismus als Form der Geschichtsaneignung und -produktion im Hinblick auf das Mittelalter. Seine Thesen sind m.E. auf die ausgehend von den Varusschlacht-Filmen formulierten, für die Ur- und Frühgeschichte verallgemeinerbaren Beobachtungen übertragbar.
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»Römische Katastrophe« oder »germanischer Freiheitskampf«?
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F ILME C14 – Schatzjäger in Deutschland (D 1998/99, Regie: Gisela Graichen), 4 Folgen. Folge 4 (45’), Teilfilm 3: Die Varusschlacht (11’18’’, Regie: Ingo Helm). UA: ZDF 1999. Sturm über Europa (D 2002, Regie: Christian Feyerabend/Uwe Kersken), 4 Folgen. Folge 2 (45’/52’): Varusschlacht und Gotensaga (darin Abschnitt zur Varusschlacht: 10’). UA: ZDF/arte 2002. Die Germanen (D 2007, Regie: Judith Voelker/Stefan Koester/Schoko Okroy), 4 Folgen. Folge 2 (45’/52’): Die Varusschlacht, UA: arte 2007/ WDR 2008. Die Varusschlacht: Wie die Legionen untergingen (D 2008, Regie: Christian Lappe) (45’). UA: BR 2008. Kampf um Germanien (D 2009, Regie: Christian Twente), 2 Folgen. Folge 1: Der Verrat des Arminius (45’), Folge 2: Die Varusschlacht (45’). UA: ZDF 2009.
A BBILDUNGEN Abbildung 1: Filme zur Varusschlacht: TV-Produktionen und Unterrichtsmaterial (ab 1998) © Miriam Sénécheau.
INTERDISKURSIVE REFLEXIONEN
Immer hier und selten da Die Politik der choreographierten Tanztheoretisierung als Zwischenraum J ENS R ICHARD G IERSDORF
Dieser Text entstand aus der Frustration eines Dazwischen-Seins heraus und angesichts eines Unvermögens der internationalen Tanzwissenschaft, mit diesem Zwischenraum produktiv umzugehen1. Sowohl mein Dazwischen-Sein als auch der Zwischenraum selbst sind das Resultat zweier ausschließlicher Ansätze der Theoretisierung des Tanzes, die ich hier zum Zweck der Veranschaulichung modellhaft als »deutsch« und »US-amerikanisch« bezeichne. Bevor ich versuche, die Art ihrer Unterschiede genauer zu diskutieren, ist es wichtig zu betonen, dass beide Positionen sehr viel umfassendere historische Entwicklungen in der generellen Theoretisierung sozialer Strukturen in Deutschland und in den USA widerspiegeln bzw. wiederholen. Interessant für mich ist nun die Frage, wie die beiden Tanzwissenschaftsmodelle eine unterschiedliche Kontrolle über Tanz und Körper ausüben. USamerikanische und europäische Positionen im Feld der Tanzwissenschaft grenzen sich voneinander tendenziell durch ihre divergenten und teils scheinbar unvereinbaren Politik- und Korporealitätsverständnisse ab. Nicht zuletzt deshalb findet internationale Kommunikation innerhalb unserer Disziplin oft nur – eine Kritik ausschließend – auf der reinen Informationsebene statt. Eine solche Vermeidung kritischer Auseinandersetzung jedoch verfestigt lokal-akademische Normen nationaler Tanzwissenschaftsmodelle. Sie verschließt den betreffenden,
1
Ich beschränke meine Betrachtungen hier ausschließlich auf die Tanzwissenschaft – obwohl sich auch andere Forschungs- und Lehrgebiete, wie z.B. Theater- oder Medienwissenschaft mit ähnlichen Problemen auseinandersetzen könnten.
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eingangs angesprochenen Zwischenraum, mit dem ich mich im Folgenden, angeregt durch eine künstlerische Arbeit, beschäftige. Ich untersuche Trajal Harrells Stück Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (L) (2012), in dem Aspekte beider noch genauer zu bestimmenden Zugänge zur Reflexion von Tanz neben- und miteinander wirken, als das Modell einer choreographierten Tanztheoretisierung. Mit anderen Worten: Harrells Arbeit besetzt nicht nur beide Positionen, sondern bespielt auch konstruktiv ihren Zwischenraum. Damit unterwandert und befragt er implizit Ansätze der Theoretisierung und Historisierung von Tanz auf der Bühne und in der Tanzwissenschaft. Deshalb lassen sich anhand seines Fallbeispiels die genannten nationalspezifischen Unterschiede in der Theorie auf ihre politische Bedeutung hin untersuchen. Hier zunächst drei Beobachtungen in bewusst nicht chronologischer Reihenfolge: 1. Die deutsche Tanzwissenschaftlerin saß neben mir, während wir uns im Jahr 2010 den Hauptvortrag einer US-amerikanischen Tanzkonferenz mit internationaler Beteiligung anhörten. Sie und ich hatten uns während der letzten Tage interessiert über die unterschiedlichen disziplinären Tanzwissenschaftsstrukturen, -inhalte und -methoden in Deutschland und den USA ausgetauscht. Der Redner, einer der bekanntesten afroamerikanischen Tanzwissenschaftler, versuchte vehement, dem Publikum seine Theoretisierung des Konzepts einer »Schwarzen Ästhetik«2 im Tanz zu vermitteln. Allein der Umstand, dass er den Terminus »black beauty« in fast jedem zweiten Satz verwendete, deutete darauf hin, dass er es mit dem Definieren nicht so leicht hatte. Nach etwa 15 Minuten beugte sich die deutsche Tanzwissenschaftlerin zu mir herüber und fragte: »Warum benutzt er denn den Begriff ›black beauty‹ – er ist doch braun?« Ein kurzer Seitenblick meinerseits vermittelte mir den Eindruck, dass sie nicht etwa einen politisch inkorrekten Witz machte, sondern offenbar ernsthaft fragte. Um ehrlich zu sein, konnte ich nicht antworten.
2
»Schwarze Ästhetik« und »black beauty« sind Konzepte der strategischen Affirmierung und Essenzialisierung afroamerikanischer Attribute in der Vorgeschichte des Civil Rights Movements, speziell der Harlem Renaissance. Es geht dabei weniger um eine abstrakte Untersuchung von Ästhetik als um die Hervorhebung und Zelebrierung spezifisch afroamerikanischer Ausdrucksformen und -weisen. Ausgehend von der bildenden Kunst und Musik sowie in direkter Auseinandersetzung mit den Theorien der Moderne, beeinflusste diese kulturelle Entwicklung auch andere Kunstformen wie z.B. Tanz (vgl. Manning 2006; DeFrantz 2007).
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2. 1986 beschrieb Susan Manning in ihrem Artikel »An American Perspective on Tanztheater« einen Austausch zwischen Protagonisten der US-amerikanischen und der deutschen Tanzszene auf einem Symposium im Goethe-Haus in New York (Manning 1986: 57-79). Die Tanzkritikerin der New York Times, Anna Kisselgoff, wendete sich mit Verzweiflung in der Stimme an Reinhild Hoffmann: »Aber warum interessieren Sie sich denn nicht ausgiebiger für Tanzvokabulars?« Ohne zu antworten, drehte sich Hoffmann zu der New Yorker Choreographin Nina Wiener um und fragte: »Aber warum interessiert Ihr Euch nicht mehr für die sozialen Probleme in einer Stadt wie New York?« (ebd.: 57). Wiener antwortete ebenfalls nicht. Manning betrachtete diesen Austausch zweier Fragen, die beide keine Antworten erhielten, als einen Indikator für die Divergenzen des zeitgenössischen Tanzes und Postmodern Dance in den USA und des Tanzes in Deutschland. Während amerikanische Choreographen grundsätzlich die Expressivität reiner Bewegung und nicht Erzähl- und Repräsentationsstrukturen stark machten, so Manning, würden sich deutsche Choreographen mehr mit Inhalten auseinandersetzen. Ihr zufolge schien dieser Gegensatz in der Tanzkritik und -theorie ebenfalls zu bestehen: Während die Amerikaner das neoexpressionistische Verständnis von Tanz im Tanztheater in Frage stellten und sich mehr der Tanzbeschreibung als der Tanzinterpretation zuwandten, sprachen die Deutschen damals von der Bedeutungslosigkeit und dem Formalismus des amerikanischen Tanzes (ebd.)3. 3. 1956 hielt Theodor W. Adorno einen Vortrag mit dem Titel »Some Aspects of a Comparison between German and American Culture« in der Historischen Gesellschaft der Third Armored Division der US Army in Hanau. Zwei Jahre später wiederholte er seine Rede auf Deutsch unter dem Titel »Kultur und Culture« während der hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung in Bad Wildungen (Adorno 1958: 246-59). Adorno, der als privilegierter Immigrant elf Jahre in den USA lebte, versucht in beiden Vorträgen, die, wie er an anderer Stelle formuliert hat, »fatale Antithese von Kultur und Culture« zu überwinden (Adorno 2003: 697). Insbesondere wolle er die »zivilisationsfeindlichen Traditionen befragen, in der man sich dem anderen Kontinent überlegen glaubt, weil er nichts als Eisschränke und Autos hervorgebracht hätte und Deutschland die Geisteskultur« (ebd.: 697). Ausgehend von der Bedeutung des lateinischen colere als »bewirtschaften«, »den Acker bestellen« oder »sich um das Vieh kümmern«, definiert Adorno Kultur als das Verhältnis zur und das Verständnis von Natur. Ohne eine Seite zu pri-
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Manning benutzt die Unterscheidung zwischen Formalismus und Neo-Expressionismus, um die US-amerikanische und die deutsche Position zu beschreiben (2010: 10).
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vilegieren, baut er seine weitere Argumentation auf der Prämisse auf, dass die USA und Europa sich in ihrer Haltung der Natur gegenüber grundsätzlich unterscheiden und daher das Konzept »Natur« auch unterschiedlich benutzen. Die eine Seite versuche, die äußere Natur oder Umwelt zu meistern und beziehe in diese Beherrschung auch die innere Natur mit ein; die andere Seite versuche die äußere Natur zu erhalten, zerstöre sie allerdings in der Nutzung (Adorno 2009: 146). Es ist nicht erstaunlich, dass Adorno die erste Position mit den USA gleichsetzt und die zweite mit Europa bzw. insbesondere mit Deutschland. Er argumentiert, die verschiedenen Einstellungen und Nutzungen von Natur beruhten auf fundamental unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen. Die USA erscheinen dabei als eine voll entwickelte kapitalistische Gesellschaft – als das, was Frederic Jameson »Monopolkapitalismus« (ebd.: 141) und Lenin »Imperialismus« (1960) nannte. Diese Gesellschaft definiere sich über das Zelebrieren der Formung von Realität und des Wirkens, und nicht über die Reflexion über dieses Wirken. Deutschland dagegen sei, so Adorno, ob der gescheiterten bürgerlichen Revolutionen, eine nicht voll entwickelte bürgerliche Gesellschaft und daher ein Land, das sich über das selbstreflexive Verherrlichen einer »eigenartigen Vergeistigung und Geisteskultur« (Adorno 2009: 147) auszeichne. USamerikanische Kultur ist, so könnte man diese Analyse zuspitzen, eine angewandte Kultur, während die deutsche Kultur zu Abstraktion und Universalisierung tendiert. Man könnte Adornos Überlegungen als obskur oder nur mehr historisch abtun. Die nationalen Unterschiede in der Produktion, der Rezeption (oder wie Adorno sagen würde: dem Konsum) sowie insbesondere der Historisierung und Theoretisierung von Kultur und Kunst, mit denen das Feld der Tanzwissenschaft in den letzten zehn Jahren zunehmend konfrontiert ist, machen es allerdings nicht so leicht, seine Diagnosen gänzlich abzutun4. Auch wenn ich mit Adornos behaupteter Nichtprivilegierung eines der beiden Begriffe von Kultur voll übereinstimme – die Realität sieht, wie Mannings Darstellung der wechselseitigen Polemiken zeigt, oft anders aus. Ich möchte deshalb die Auswirkungen der Verwendung von unterschiedlichen Kulturvorstellungen kritisch beleuchten und zeigen, wie sich deren Macht in akademischen und künstlerischen Systemen manifestiert.
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»Kunst« ist natürlich nicht mit »Kultur« gleichzusetzen. Da Kunst allerdings Teil der Kultur und des kulturellen Lebens ist, gibt es Überschneidungen in der Struktur und Funktion beider. Vor diesem Hintergrund diskutiere ich sie hier gemeinsam.
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Indem ich die verschiedenen Strategien der Politisierung von Tanz als entweder aktivistische oder ästhetische Kategorie anspreche, hoffe ich zu befragen, welche Ansätze je als institutionalisierte Paradigmen für die Situierung von Tanz in disziplinären und politischen Strukturen dominant werden. Aufbauend auf einer früheren Untersuchung zur Tanzwissenschaft als disziplinärem Diskurs in der DDR, Großbritannien und den USA, zeichne ich im vorliegenden Beitrag weniger historische Entwicklungen nach, als Kategorisierungen modellhaft zu akzentuieren (vgl. Giersdorf 2009)5. Ich hebe somit für die Tanzwissenschaft hervor, was Pierre Bourdieu den akademischen Habitus einer Disziplin für die Produktion und Erhaltung von kulturellem Kapital nennt (1998) und was Michel Foucault als diskursive Formierung von disziplinären Gegenständen und Untersuchungsbereichen innerhalb einer Disziplin bezeichnet (1972). Doch vorerst zurück zu den drei Beobachtungen. Im ersten Fall verlangte die in deutschen Universitätsstrukturen erfolgreiche Tanzwissenschaftlerin, eine Produzentin von Bildung im schillerschen Sinne, dass der afroamerikanische Professor spezifisch und angewandt in Bezug auf seine Identitätspolitik und Korporealität agiert. Konzepte ästhetischer Erziehung oder Bildung, etwa in der Nachfolge Schillers und Wilhelm von Humboldts, die sich auf Kants Verortung der Kapazität der kritischen Reflexion in der Vernunft und im nicht empirischem Wissen beziehen, betrachten Kultur und Kunst als wichtige und regulierende Mechanismen in der menschlichen Entwicklung (vgl. Schiller 2000; Humboldt 1986; Kant 2005). Kultur ist natürlich auch hier national konnotiert; Bildungsund Kulturinstitutionen, deren akademische Disziplinen und Kunstproduktionen, unterstützen die Konstruktion einer nationalen Identität und des Bürgers als nationales Subjekt. Wie Bill Reading feststellt, haben sich Ausrichtung und Funktion von Bildungsinstitutionen in den USA stark verschoben und in letzter Zeit zunehmend an dem Vorbild globaler Konzerne orientiert (1996). Einer Auffassung von Bildung als Berufsausbildung hatten sich die so genannten land-grant-Institutionen6
5
Eine verkürzte Fassung des Artikels liegt auf Deutsch vor (vgl. Giersdorf 2011: 161-
6
Als Reaktion auf die industrielle Revolution und den sich damit verändernden An-
184). spruch an Arbeitskräfte vergab die US-Regierung mit Hilfe der Morrill Acts von 1862 Land an die Staaten, um Institutionen zu schaffen, die sich auf landwirtschaftliche, naturwissenschaftliche, militärische Ausbildung und jene von Ingenieuren konzentrierten. Obwohl diese Bildungsinstitutionen die klassischen geisteswissenschaftlichen Studienfelder nicht vernachlässigen sollten, wurden sie bewusst im Gegensatz zu den nicht angewandten Studien der liberal arts-Institutionen gegründet.
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in jedem Staat der USA bereits Ende des 19. Jahrhunderts verschrieben. Das einflussreiche Konzept der »Identitätspolitik« wurde zuerst 1969 mit der Gründung einer Abteilung für Ethnic Studies nach lang anhaltenden Studentenprotesten an einer dieser Universitäten, der University of California in Berkeley, etabliert. Von dort aus fand sie ihren Einzug als akademische Disziplin in alle anderen Bildungsinstitutionen Amerikas. Identitätspolitik, die fast alle Human-, Sozialund Kunstwissenschaften in den USA stark beeinflusst, hat trotz einer Fusion mit den ursprünglich britischen Cultural Studies aus der Birmingham School nie ganz ihre aktivistischen Wurzeln verloren7. Die Tatsache, dass methodologisch in den USA deshalb oft ein strategischer Essenzialismus, also eine bewusste reduktive Ontologie, dem Sozialkonstruktivismus vorgezogen wird, steht in Zusammenhang mit dieser Entwicklung. Strategischer Essenzialismus8 ist nicht gleichbedeutend mit dem Glauben an eine Essenz. Wie der Name sagt, handelt es sich um eine politische Strategie, die es konkreten marginalisierten Gruppen erlaubt, über lokale Unterschiede hinweg eine Identifizierung und Solidarität zu etablieren. Vor diesem Hintergrund wird auch die Ansicht der deutschen Tanzwissenschaftlerin verständlicher, der afroamerikanische Professor sei trotz (oder gerade wegen) seines offensichtlichen Versuches, eine US-amerikanische, strategisch essenzialisierende Identitätspolitik mit einem abstrakten europäischen Ästhetikbegriff zu vereinbaren, nicht konkret genug. Seine nationale und physische Identität determinierte für sie offenbar die Theoretisierung von Körper, Tanz und Bewegung. So erklären sich auch die Schwierigkeit des vortragenden Professors, eine »schwarze Ästhetik« zu definieren und mein eigenes betretenes Schweigen. Zwei unterschiedliche Politikverständnisse treffen hier aufeinander und bewegen sich aneinander vorbei. Es verwundert deshalb auch nicht, dass die Fragen 1986 im Goethe-Haus nie eine Antwort bekamen. Das Schweigen macht die gänzlich unterschiedliche Situierung von agency in den choreographischen Ansätzen beider Seiten sichtbar. Agency, ein Konzept, das in den US-amerikanischen Human- und Sozialwissenschaften die Möglichkeit eines Individuums zum Handeln innerhalb der Gemeinschaft definiert, betont mit Anthony Appiah weniger die moralische Basis oder
7
Jill Dolan beleuchtet den Zusammenhang zwischen Bildung, Theater und politischem Aktivismus in den USA (vgl. 2001).
8
Gayatri Spivak verwendete den Terminus in ihren postkolonialen Veröffentlichungen erstmals, und er wurde von dort aus in feministischer und schwul-lesbischer Theoretisierung und im entsprechenden Aktivismus aufgegriffen. Spivak selbst hat sich von diesem Konzept mittlerweile abgewandt (Ray 2009: 11-112).
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Autonomie in diesem Handeln, sondern seine politische Bedingung (2005: 58f.). Sie wird von den US-amerikanischen Choreographen im räumlich-temporären Experimentieren und im choreographischen Potenzial situiert9. Dieser, um auf Adornos Unterscheidung zurückzukommen, voll ausgeprägten bürgerlichen Geste, oder zumindest der nostalgischen Untersuchung einer solchen, mit Giorgio Agamben, »bourgeoise gesture« (vgl. 1993) – und also auch der Kritik an der expressiven Moderne durch den postmodernen US-amerikanischen Tanz – steht die kritische Wiederholung einer theatralen Geste gegenüber. Wo die Mehrzahl US-amerikanischer choreographischer Ansätze sich durch Bewegung selbst befragen, findet der deutsche Ansatz sich nicht etwa in dem Verschwinden von Bewegung wieder, wie André Lepecki in seinem Verständnis zeitgenössischer Choreographie erläutert (vgl. 2006), sondern in der Schaffung eines temporären kollektiven Körpers, der zwischen Zuschauer und Tänzer im theatralen Raum entsteht. Das heißt: Bewegung (oder Nicht-Bewegung) wird in diesem Fall dazu benutzt, ein Verhältnis herzustellen, das dann eine Reflexion erlaubt. Wird in den USA die Bewegung also direkt als Untersuchungsmethode eingesetzt, dient sie in Deutschland tendenziell dazu, ein abstrahiertes Verhältnis zu schaffen, das wiederum hilft, soziale Strukturen zu verstehen. Die Kinetik des Postmodern Dance in den USA steht somit einem korporealen Verhältnis in der deutschen Choreographie derselben Zeit gegenüber. Diese radikal unterschiedlichen Interessen, Schwerpunkte und Ausrichtungen spiegeln sich auch in der Tanztheoretisierung wider. In Deutschland gab es ursprünglich an keiner Universität eine praktische Tanzausbildung. In den USA wurde Tanz als Fach dagegen bereits Anfang des 20. Jahrhunderts an Universitäten und Colleges etabliert (Ross 2001). Diese Entwicklung nahm ihren Ausgang in den sogenannten physical education departments. Sie war auf die Emanzipierung und Erziehung von »citizens« und daher nicht nur ästhetisch, sondern identitätspolitisch ausgerichtet. Mit der Etablierung des Modern Dance in den USA verbreitete sich die praktische Tanzausbildung und war bald nicht nur an der Mehrzahl der höheren Bildungsinstitutionen integriert, sondern weitete mit der Zeit das Lehrvokabular auf nicht-westliche Tanzformen aus und bezog schon früh männliche Tänzer ein. Mit der Entwicklung des Postmodern Dance verschob sich der Fokus vieler Tanzabteilungen zur Choreographie hin. Die Tanzwissenschaft in den USA – das erste Doktorandenprogramm wurde 1993 von Susan Leigh Foster an der University of California in Riverside einge-
9
Für eine Diskussion des Konzeptes agency im Zusammenhang mit Tanz und politischer Aktion vgl. Martin (1998: 29-54); zum Verständnis von agency und Geste vgl. Noland (2009).
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richtet – musste sich zum Tanz als Universitätsfach, aber auch zu dem oben skizzierten Einfluss der Identitätspolitik und zu den im Entstehen befindlichen Postcolonial Studies10 ins Verhältnis setzen. »Choreographie« wurde im Zuge dieser Entwicklung nicht nur zum Untersuchungsgegenstand, sondern zur Untersuchungsmethode (Foster 1996; 1995). Women’s Studies, Queer Studies, African American Studies, Asian American Studies, Post-colonial Studies und Ethnographie lieferten weitere Untersuchungsansätze. Tanz diente in diesem Zusammenhang weniger als Objekt der Forschung, sondern als eigenständige Methode des Verständnisses und der Formung von sozialen Strukturen. Universalisierende Abstraktion ist bei einem so gearteten Zugang, der sich in erster Linie auf konkrete Fallstudien aus dem gesamtgesellschaftlichen Kontext richtet, nur bedingt möglich bzw. produktiv. Das erste Tanzwissenschaftsprogramm an einer höheren Bildungseinrichtung in den beiden deutschen Staaten wurde 1986 in der DDR in Leipzig, ebenfalls innerhalb einer Choreographieausbildung, gegründet. Es war schwerpunktmäßig auf die Archivierung von Tanz ausgerichtet und damit auf Tanz als Konservierungs- und Forschungsobjekt. Die beiden heutigen, den gesamtdeutschen Diskurs dominierenden Tanzwissenschaftsprogramme in Berlin und Hamburg, die nach der Wiedervereinigung durch ihre Leiterinnen aus soziologischen (Gabriele Klein in Hamburg) und literaturwissenschaftlichen (Gabriele Brandstetter in Berlin) Ansätzen heraus gegründet wurden, setzen sich vor allem ins Verhältnis zur Theaterwissenschaft oder den Performance Studies11. Auch hier ist Tanz oder Choreographie – als Bühnenform, performative oder soziale Praxis – oft
10 Die Entwicklung der Postcolonial Studies steht in einem komplexen Verhältnis zum Konzept der Identitätspolitik. Frühe Protagonisten des Faches wie Edward Saïd, Frantz Fanon und Gayatri Chakravorty Spivak setzten sich mit dem Übergang von der kolonialen zur postkolonialen Macht und mit der Umwandlung der kolonialen Strukturen auseinander. Obwohl sie mit den verschiedenen Identitätsstudien natürlich im Austausch standen, fokussierten beide Felder auf unterschiedliche Projekte. Identitätspolitik ist von der Diskrepanz zwischen den Idealen der US-Verfassung und der Aktualität von Rassismus, Sexismus, Diskriminierung usw. getrieben. Ihre Studien sowie der mit ihr verbundene politische Aktivismus stehen deshalb in einem komplizierten Verhältnis zu den Postcolonial Studies – schließlich wurden die USA selbst unabhängig von der britischen Kolonialmacht, agierten aber gleichzeitig kolonialistisch gegenüber anderen Rassen und ethnisch markierten Immigranten. 11 Zum Verständnis der Genealogie und des Verhältnisses von Theaterwissenschaft und Performance Studies in den USA siehe Jackson (2004).
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eher das Objekt der Untersuchung und seltener eine Methode wie ursprünglich an der University of California, Riverside. Mehr als eine Erarbeitung ausführlicher Genealogien interessieren mich an dieser Stelle jedoch die Zwischenräume, die zwischen den beiden aus vielen Gründen so verschiedenen Modellen und Historien von Tanztheoretisierung entstehen und die diese miteinander verbinden, sie negieren bzw. befragen. Gibt es eine Art und Weise des Umgangs mit solchen Zwischenräumen, die sie konstruktiv als heterotope Räume erschließt, welche den Zwang der Zuordnung vermeiden und die Simultanität verschiedener Politiken der Theoretisierung erlauben? Hier komme ich nun auf Trajal Harrells Choreographie Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (L) zu sprechen.
H ISTORISCHES M ATERIAL ALS F ORM : A NTIGONE S R ./T WENTY L OOKS OR P ARIS AT T HE J UDSON C HURCH (L)
IS
B URNING
Obgleich formal auf den ersten Blick nicht eindeutig als solche erkennbar, betrachte ich Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (L) als eine Spielart der Lecture Performance, wie sie seit einigen Jahren in Europa vermehrt auftritt. Wie Maaike Bleeker feststellt: »[L]ecture performances emerge as a genre that gives expression to an understanding of dance as a form of knowledge production – knowledge not (or not only) about dance but also dance as a specific form of knowledge that raises questions about the nature of knowledge and about practices of doing research.« (2012: 233)
Bleeker versteht insbesondere die Selbstreflexion als den modus operandi der Lecture Performance. Produktion und Rezeption verschmelzend, wendet sich diese alternativen Formen zu, die gewohnte Praktiken, Erwartungen, Meinungen und Institutionen überdenken, um das Potenzial des eigenen Arbeitsfeldes zu erweitern. Es ist diese Definition, die eine Betrachtung von Harrells Choreographie als Lecture Performance nahe legt. Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (L) ist die jüngste Sequenz in Harrells facettenreicher Auseinandersetzung mit einem fiktiven Austausch zwischen der Voguing-Szene in Harlem und dem in Downtown angesiedelten Postmodern Dance im New York der 1960er Jahre. Diese beiden nur wenige Meilen voneinander entfernt entstandenen Tanzszenen fanden
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nicht nur wegen ihrer unterschiedlichen Akteure nicht zueinander – Voguing12 wurde hauptsächlich von mittellosen Afroamerikanern und Latinos entwickelt, während es Weiße aus der Mittel- und Oberschicht waren, die mit dem Postmodern Dance gegen etablierte Normen des Modern Dance rebellierten. Die ›postmoderne Rebellion‹ wird in der New Yorker Tanzszene immer noch als ein wichtiger Bestandteil der lokalen und nationalen Tanzhistorie zelebriert und hat seit einiger Zeit auch international wieder Beachtung gefunden – sogar oder vor allem außerhalb der Tanzkuration in musealen Strukturen und der bildenden Kunst13. Voguing hatte Anfang der 1990er Jahre eine kurze, aber weitaus globalere Hochzeit, als Madonna mit ihrem Hit »Vogue« eine breitere Öffentlichkeit mit einem Teil des Voguing-Vokabulars vertraut machte. Im selben Jahr erlaubte Jennie Livingstons Film Paris Is Burning (1990) einen Einblick in die BallKultur des Voguing. Der entscheidende Unterschied zwischen der kanonisierten Hochkultur und der fast ins Vergessen geratenen Subkultur liegt in der in beiden gegensätzlichen Funktion und Form von Tanz. In Harrells Choreographien überlagern sich zudem unterschiedliche Verständnisse von Repräsentation. Während die Künstler von Judson Church jede Art von Theatralität ablehnten und sich mit dem Konzept der Authentizität auseinandersetzten, stand für die Hausmitglieder beim Voguing »realness« im Zentrum ihrer Auftritte. »Realness« definiert die hoch stili-
12 Wie der Name sagt, ist Voguing ein Bewegungsvokabular, das Posen von Models aus Modemagazinen wie z.B. der Vogue kopiert, indem vor allem die Arme zur Rahmung des Gesichts und des Körpers benutzt werden. Voguing entstand in den 1960er Jahren in Harlem, wo sich ab den 1970er Jahren sozial marginalisierte afroamerikanische und hispanische Homosexuelle, Transvestiten und Transsexuelle in so genannten »Häusern« als Gegenmodellen zur heterosexuellen Familienstruktur organisierten und Bälle veranstalteten, in denen sie Voguing in gewaltlosen Kampf- und Wettbewerbsstrukturen praktizierten. 13 Siehe Platform 2012: Judson Now. Zum 50-jährigen Jubiläum des ersten »concerts« in der Judson Memorial Church organisierte DanceSpaceProject in New York City diese Veranstaltungsserie, um den Einfluss der Künstler des Judson Dance Theaters auf die zeitgenössische Tanzszene hervorzuheben. In Deutschland wurden alte und neue Arbeiten von Trisha Brown und Yvonne Rainer bei der documenta 12 in Kassel gezeigt. Inwieweit Tanz, der als Performance Art in Museen präsentiert wird, noch als Tanz funktioniert und was die Politik einer solchen Repräsentation ist, wären interessante Fragen, die allerdings über den Rahmen dieses Beitrages hinausgehen. Vgl. zu Fragen des Ausstellens als Wahrnehmungsdispositiv in Bezug auf Tanz und Performance auch den Beitrag von Barbara Büscher in diesem Band.
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sierte Nachahmung bestimmter sozialer Rollen über Geschlechts- und Rassengrenzen hinweg, wie z.B. der des Supermodels oder der des Businessman. Das festgelegte Vokabular, die verschiedenen Stile und das Imitieren von Geschlechter- und Rassenrollen konstruieren »realness« als eine bewusst nicht naturalistische Form der Repräsentation, die sich durch eine simultane Präsenz des Signifikanten und des Referenten auszeichnet. Harrell verkompliziert das Konglomerat der disparaten Repräsentationskonzepte noch weiter, indem er die griechische Tragödie der Antigone als lose Narrationsstruktur verwendet. Die Auseinandersetzung mit dem griechischen Theater und dessen rein männlichen Akteuren gibt er auch als Grund für die rein männliche Besetzung dieser Ausgabe von Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (L) an14. Die Aufführung beginnt mit der Diagnose Harrells, die Bühne sei für diese Arbeit eigentlich zu klein und er, die Darsteller und die Bühnenbildner befänden sich noch im Prozess der Fertigstellung. In bester Judson-Church-Tradition wird damit die Prozesshaftigkeit unterstrichen. Das Publikum wird zu Teilnehmenden an einer Untersuchung statt zu Konsumenten eines Theaterprodukts erklärt. Diese Strategie weist zugleich Anklänge an die Arbeitsweise der Lecture Performance auf und etabliert Harrell als den Autor und Moderator. Diese Rolle arbeitet er nun in verschiedensten Inkarnationen durch, verkompliziert durch die eindeutige afroamerikanische Herkunft des Choreographen, der die sonst durchweg weißen Tänzer wie Trabanten in seinem Orbit koordiniert. Es gelingt Harrell, gleichzeitig Objekt der theatralen Struktur und Subjekt eines Schaffungsprozesses zu sein. Diese Doppelstruktur wird offensichtlich, als er fast eine Stunde nach Beginn auf einem lose in Stoff gehüllten Podium in der Mitte des Raumes sitzt, während vier Tänzer auf angedeuteten Laufstegen um ihn herum in Voguing-Tradition unterschiedlichste Kostümierungen vorführen. Antigone interessiert Harrell als die Geschichte einer starken Frau in einer männlich dominierten Gesellschaft, aber auch als Referenz auf die griechische Theatertradition der männlichen Verkörperung weiblicher Rollen. Er legt Gemeinsamkeiten der Stilisierung des griechischen Theaters und der VoguingKultur offen (Boynton 2012). Stilisierung wird hier auf der Ebene der Inszenierung als Strategie über extreme kulturelle, temporäre und räumliche Grenzen hinweg dazu benutzt, um fiktives und pseudo-historisches Material zu rekonstruieren. Dies entspricht einem radikal anderen Verständnis von Rekonstruktion als es einer regelrechten Welle von Rekonstruktionen im zeitgenössischen Tanz in
14 Ich verwende im Folgenden die Abkürzung (L). Es gibt auch Ausgaben des Projektes in »Jr«, »S«, »M«, »Made to Measure (M2M)«. Eine »XL«-Ausgabe soll demnächst als Buch erscheinen.
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Europa zu Grunde liegt15. Das dortige generelle Interesse an Rekonstruktion hat sich in die USA und auf den identitätspolitisch geprägten Tanz ausgeweitet16. Hier wird nicht die Möglichkeit oder Unfähigkeit der Kontrolle über historisches Material thematisiert, sondern es werden etablierte Temporalitäten befragend benutzt oder sogar neu-kreiert. Harrell setzt den scheinbar rekonstruktiven Zugang zu griechischer Theaterpraxis, Voguing-Kultur und Postmodern Dance gegen eine Fetischisierung der Vergänglichkeit von Tanz wie ihn etwa Peggy Phelan stark machte (1993). Er belebt nicht nur das Vergangene im Gegenwärtigen wieder, sondern weist, wie Mark Franko vorschlägt, mittels eines überdachten Erneut-Aufführens in die Zukunft. Oder wie Harrell selbst es formuliert: »[P]erformance can be a way in which we collectively reimagine the impossibilities of history and thus make room for new possibilities in the world we make today« (2012). Doch vorerst zurück zu Harrell, der auf seinem Podest in einer vage feminin anmutenden Position mit untergezogenen Beinen in einem überlangen T-ShirtKleid sitzt. »When I lose I find, my identity« – das Ende der Ballade The Darkest Side der australischen Band The Middle East, die Harrell mit übertriebenem Pathos gemeinsam mit dem Tänzer Thibault Lac gerade mitgesungen hatte, hängt noch im Raum. Gewissenhaft befestigt nun Lac einen Faden am Finger Harrells. Er rollt ihn von einer Spule und gibt ihn, über Zuschauer hinwegkletternd, einem von diesen in die Hand. Durch die mehrfache Wiederholung dieses Vorganges ist Harrell am Ende mit dem Publikum direkt verbunden. Viele Zuschauer hätten nun die Möglichkeit, ihn durch einen kurzen Zug an dem Faden zu bewegen. Auch materialisieren die Fäden den Blick des Publikums. Während Harrell über einen Laptop neben sich die Musik steuert, sieht man im Hintergrund, nur teils von Vorhängen verdeckt, wie die Tänzer sich umziehen.
15 Neben Stücken aus der europäischen Tanzmoderne wurde dank entsprechender lokaler Finanzierungs- und Festivalstrukturen vor allem auch der Postmodern Dance der 1960er und 1970er Jahre zum Objekt zeitgenössischer Rekonstruktionen. Yvonne Rainer, Trisha Brown, Deborah Hay und ihre früheren Arbeiten sind derzeit heiß begehrte Kulturgüter im internationalen ökonomischen Tanzaustausch. 16 Davon zeugen Arbeiten wie Ishmael Houston-Jones’ Rekonstruktion seiner Choreographie THEM von 1986 für P.S. 122 im Jahr 2010, das später u.a. auch 2012 beim Berliner Festival Tanz im August programmiert wurde.
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Abbildung 1: Trajal Harrell, Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (L) (2012)
Harrell kündigt die erste Kategorie im Voguing-Wettstreit an: »The King’s Speech vs. The Prince of Tides«17. Nun entfalten er und sein Ensemble ein Netzwerk von Referenzen, Hinweisen, Anspielungen, das in seiner Vielschichtigkeit in Kürze kaum wiederzugeben ist. Der Choreograph kommentiert mit dem Tänzer Rob Fordeyn, der in hohen Hackenschuhen auf und ab stolziert, das Geschehen, wobei sich beide gegenseitig zu übertreffen suchen. Die übrigen Tänzer werfen sich in immer extravagantere Kostüme, die vage an ethnische und historische Varianten königlicher Ornate erinnern, und führen diese – mit Rücksicht auf die gespannten Fäden – wie Models vor. Harrell und Fordeyns Position changiert zwischen der von Moderatoren oder Kommentatoren (die etwa darauf hinweisen, dass die Bestandteile eines Outfits mit einer goldenen Tasche als Kopfschmuck auch in Möbel umzuwandeln seien) oder von Dozenten, die uns den »schwarzen Hintern« kulturtheoretisch erläutern und sich fragen, ob »the mythical black ass« auch beim schwarzen Mann von Bedeutung sei. Dann erscheinen sie wieder als Teilnehmer eines Voguing-Balls, die »Fake Hermés!« rufen, wenn ein Tänzer, nur mit zwei Hermés-Tüchern über den Schultern bekleidet, hereinstolziert. Tanzgeschichtliche Referenzen fehlen nicht, wenn etwa Stephen Thompson in
17 In der Voguing-Kultur veranstalten die Häuser Bälle, in denen mit Hilfe des VoguingVokabulars auf angedeuteten Laufstegen Wettbewerbe um die beste Interpretation in verschiedenen Kategorien wie Butch Queen Realness, American Runway, Legendary/ Iconic Categories ausgetragen werden. Harrell benutzt diese Struktur and erweitert sie um die Referenzen der Figuren in Antigone, aber auch solche aus Film- und Popkultur. The King’s Speech etwa rekurriert auf den gleichnamigen Film über König Georg VI, der vier Oscars gewann (UK 2010, Regie: Tom Hooper), The Prince of Tides auf den ebenfalls gleichnamigen Film von Barbra Streisand (USA 1991), der in der Schwulenszene und damit auch in der Ballkultur ikonische Bedeutung hat.
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einem orientalisierenden Umhang Ballettvariationen exerziert oder wenn im Hintergrund der Bühne eine Säule installiert ist, auf die Isamu Noguchi, der heute ikonische Bühnenbildner von Martha Graham, stolz gewesen wäre. Endlich kehren wir auch wieder zu Antigone zurück. »I am the Prince of the runway«, singt Harrell immer wieder. Auf seine Ankündigung »I am the prince of preservation« hin tritt der Tänzer Ondrej Vidlar auf, der als Haimon, Prinz von Theben, vorgestellt wird. Während sich Harrell mit übertriebenem Pathos in der Stimme ständig neue Identitäten zuweist, bricht Vidlar in immer theatralischerem Gestus zusammen. Am Ende erklärt Vidlar, dass er tot sei. Alle Tänzer brechen sterbend um ihn herum zusammen, während sie gemeinsam mit Harrell in einen Chor von I want your love einstimmen. Schließlich befreit Harrell, der die ganze Zeit mit den Fäden an der Hand agierte, sich einfach mit einer Schere von den Zuschauern. Im theatralen Raum erlaubt diese Sequenz dem Publikum simultanen Zugang zu scheinbar disparaten ›Geschichten‹: zur Narration der Antigone und der Tradition des griechischen Theaters, zu der Geschichte und Praxis des Voguing mit seiner Obsession von realness und zu dem, was Mark Franko das komplexe Verhältnis zwischen Emotionalität und Expressivität im modernen Tanz genannt hat, samt der augenscheinlichen Lösung dieser Problematik durch die Untersuchung von Authentizität im Postmodern Dance (Franko 1995: xi). Temporär und räumlich voneinander getrennte historische loci werden übereinander gelagert, befragt und durch Parodie relativiert. Außerdem macht Harrell den theatralen Raum als Konstruktion und Institution erfahrbar, indem er die Sichtbarmachung theatraler Arbeit betont. Geschichte und im besonderen Tanzgeschichte wird neu konstruiert und ästhetisiert. Inhalte werden choreographisch untersucht; Choreographie ihrerseits wird mit Hilfe des sichtbar gemachten kollektiven Theaterkörpers auf ihre Funktion in der Repräsentierung von Identitätsstrukturen und politischen Aktionen hin befragt. Die Fäden zwischen Harrell und dem Publikum materialisieren und erweitern nicht nur den von Laura Mulvey in Bezug auf das Kino verhandelten Blick als Machtergreifung und Projektion, indem sie Harrells afroamerikanischen Körper als Objekt des Zuschauerblicks hervorheben, sondern Identitätskategorien werden als solche entlarvt und verkompliziert, indem sie nicht nur gespielt, sondern auch kommentiert und kontextualisiert werden (vgl. Mulvey 1999: 58ff.). Die männlichen Tänzer stellen die Königs- und Prinzen-Kategorien wie Tunten in einem Voguing-Wettstreit dar – was einem analytischen Verständnis von Geschlechterrollen entspricht. Im Fall all dieser Zitate benutzt Harrell historisches Material als Form, die es zu untersuchen gilt. Gleichzeitig verweist er auf dieses Material als Teil eines Pools von kulturellem Wissen. Die abstrakte choreogra-
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phische Untersuchung wird mit der Verkörperung konkreter Geschichte verbunden18. Hervorgehoben wird dabei immer wieder Ausdruck und nicht Emotionalität. Exzess kommt als Mittel der Distanzierung in verschiedenster Form zum Einsatz. Wo die Stücke, die klassisch als Lecture Performances diskutiert werden, bewusst auf ›Normalität‹ setzen, um die Grenze zwischen Performance und Vortrag zu verwischen oder mittels einer beiläufigen Intellektualisierung operieren, schafft Harrell ein choreographiertes Spektakel, das durch Tanz eine neuartige Untersuchung von sozialen Strukturen und deren Theoretisierung ermöglicht. Meiner Meinung nach erlaubt diese Gegenrichtung zu bisherigen Konzepten von Lecture Performance in letzter Konsequenz sogar die Gleichzeitigkeit und dabei die Politisierung der eingangs beschriebenen nationalen Zugänge zur Tanztheoretisierung. Obwohl Harrell natürlich vertrauter mit der Identitätspolitik der Amerikaner ist, versteht er es, selbstreflexive, abstrakte Konzepte dieser angewandten Form von Theoretisierung in Bewegung umzusetzen. Damit nimmt er, könnte man zuspitzen, die oben erwähnte »europäische Position« mit ihrer Tendenz zur Objektivierung von Tanz ein. Seine Choreographie dieser ›Haltung‹ (im doppelten Wortsinn) zeigt nicht nur, dass beide hier von mir modellhaft mit »europäisch« und »US-amerikanisch« identifizierten Ansätze und Zugriffe auf Tanz immer simultan bei der Arbeit sind, sondern enthüllt sie auch gleichermaßen als zwei Formen der Essenzialisierung. Indem er und die Tänzer sich nicht nur im Zuschauerraum umziehen, sondern diesen Akt auch als Teil des Voguing-Spektakels lesbar und verständlich machen, schafft und unterbricht Harrell die Möglichkeit der Abstraktion. Dadurch wird die Konzeptualisierung einer Geste gleichzeitig zu einem Erzeuger von Identität, und Harrell und seine Tänzer choreographieren implizit einen heterotopen Zugang sowie die Befragung der diskrepanten nationalen Modelle von Tanztheoretisierung. Oder ist es doch nur eine Utopie?
18 Für eine ähnliche Untersuchung der performativen Verkörperung von Rasse, queerness und sozialer Schicht siehe auch Muñoz (1999).
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A BBILDUNGEN Abbildung 1: Trajal Harrell, Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (L), © Miana Jun (li.); © Benkt Gustafsson (re.).
Zu zwei Diskurs-Choreographien zwischen Tanz/Theorie und Philosophie C ONSTANZE S CHELLOW … kann er gehen, mehr noch kann er tanzen? FRIEDRICH NIETZSCHE
»Heute also ist das tanzende Wunder auf den mit Teppichen bespannten Brettern der Uraniabühne vor der Öffentlichkeit erschienen […], ein tanzender Philosoph und mimender Historiker« (zit. n. Niehaus 1988: 37f.). So berichtet das Neue Politische Volksblatt in Budapest am 20. April 1902. Isadora Duncan stellt bei »außerordentlich erhöhten Preisen« (ebd.) ihre umstrittene neue Tanzkunst im Rahmen ihrer ersten Europa-Tournee vor. Auf die hier vorweggenommene mögliche Verbindung mit dem tanzenden Philosophen wird Duncans Freund Karl Federn sie erst zwei Jahre später aufmerksam machen: Er empfiehlt ihr, Nietzsche zu lesen. Erst durch ihn, so Federn, würde sie »zur vollen Erkenntnis jenes Ausdruckes im Tanz gelangen« (Duncan 1928: 139), den sie suche. Während die philosophische Nietzsche-Rezeption sich in ihrer ersten Phase mehrheitlich auf den Moral- und Gesellschaftskritiker konzentriert, wird Nietzsches Ästhetik vor allem in Künstlerkreisen wahrgenommen. Der intensive Bezug auf seine Philosophie in tanztheoretischen Texten zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland ist Teil dieses Phänomens. Schon Nietzsche selbst hatte in Bezug auf seinen Erstling Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik auf dessen Eignung für eine ›künstlerische‹ Rezeption hingewiesen; allerdings sah er dies rückblickend auch als die ›philosophische‹ Schwäche des Textes an. In seinem der Neuauflage von 1886 vorangestellten »Versuch einer Selbstkritik« heißt es, es handle sich um »ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten (das heisst für eine Ausnahme-Art von Künstlern, nach denen man suchen muss und nicht einmal suchen möchte …)[…]« (Nietzsche 1988a: 13).
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In der tanzwissenschaftlichen Aufarbeitung von Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz in Europa seit den 1990er Jahren begegnet man heute vermehrt genau einer solchen – bei Nietzsche noch als unerwünschte »Ausnahme-Art« abgetanen – Art von Künstlern, die sich durch einen »Nebenhang[] analytischer und retrospektiver Fähigkeiten« auszeichnen. Eine ganze Generation, beginnend mit Choreographen wie Jérôme Bel oder Xavier Le Roy, wird als in besonderem Maß philosophie- oder theorieaffin beschrieben. Zwischen 2006 und 2007 gibt André Lepecki auf Einladung Richard Schechners drei Ausgaben der Zeitschrift Drama Review unter dem Schwerpunkttitel »Dance Composes Philosophy Composes Dance« heraus1. Lepecki begründet sein Projekt wie folgt: »the mutual interrogation of dance and philosophy might recompose another agency for both disciplines« (2009: XII). Diese Hoffnung steht in Zusammenhang mit einer These des Autors aus seiner Monographie Exhausting Dance: »any dance that probes and complicates […] where it establishes its ground of being, suggests for critical dance studies the need to establish a renewed dialogue with contemporary philosophy« (2006: 5). Durch seine explizite Verschränkung mit philosophischen Konzepten erfordere der zeitgenössische Tanz eine explizit philosophische Tanzforschung. Die Verbindung bildet hier das Interesse im Tanz am Tanz, seine Problematisierung des eigenen Mediums oder anders gesagt: der Umstand, dass er die im Kern ontologische Frage nach der eigenen medialen Wesenhaftigkeit stellt. Lepecki konstruiert regelrechte Duette zwischen Choreographen und Philosophen. Seine eigene Aufgabe versteht er nurmehr als Rückführung der choreographischen Ansätze auf die in ihnen sozusagen performativ gewordenen Philosophien: »Vera Mantero dialogues directly with Deleuze’s notion of immanence, […] Jérôme Bel quotes the importance of Deleuze’s notion of repetition and difference for his work, […] while Xavier Le Roy explicitly acknowledges Elizabeth Grosz. […] I do little more, than to listen to each choreographer’s proposals and then foreground the philosophy they deploy.« (Ebd.: 6)
Doch zunächst zurück zu Nietzsches ›Auftritten‹ in den Analysen der Tanztheorie nach 19002. Obwohl seine Schriften von Metaphern des Tänzers und des
1
Vgl. Drama Review, Part I: Vol. 50, Nr. 4 (T 192), Winter 2006; Part II: Vol. 51, Nr. 2 (T 194), Summer 2007; Part III: Vol. 51, Nr. 3 (T 195), Fall 2007.
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Ich verwende in Bezug auf die theoretische Literatur über Tanz im frühen 20. Jahrhundert den Begriff »Tanztheorie«. Dagegen werden die Arbeiten von Bel und Le Roy bereits im Rahmen einer universitär institutionalisierten Tanzwissenschaft rezipiert.
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Tanzes in großer Dichte durchzogen sind, überrascht die Buchstäblichkeit, mit der man Nietzsche für die Sache des Tanzes einspannt3. So datiert der Tanzhistoriker Fritz Böhme 1926 in Die Tanzkunst den Beginn der Revolution, als eine von deren Leitfiguren Isadora Duncan gilt, zurück ins 19. Jahrhundert – denn da »hatte ein junger Baseler Universitätsprofessor dieser ganzen Welt, die einer Fanny Elßler und einer Maria Taglioni zugejubelt hatte und eigentlich mit Bewegung nichts anzufangen wußte, den Fehdehandschuh hingeworfen« (1926: 137). Für das Kapitel »Der neue Tanz« (ebd.: 128-162) trägt der Autor teils ausgewiesene, teils paraphrasierte Nietzsche-Zitate als Folie für seine Diskussion experimenteller Bühnentanzformen zusammen4. Er rechnet es dem Philosophen, obwohl dieser »kein Tänzer in des Wortes unmittelbarer Bedeutung« (ebd.: 139) gewesen sei, als Verdienst an, »diesem Wort [Tänzer], das eine Bezeichnung für spitzfindige Fußakrobaten und unlebendige Mätzchenschmiede geworden war« (ebd.: 138), wieder Relevanz verliehen zu haben. Ähnlich urteilte Hans Brandenburg 1917 in seiner Einleitung zu Der moderne Tanz: »Friedrich Nietzsche [hat] das Problem des Tanzes bis zu seiner eigentlichen Herzwurzel durchdrungen« (1917: 11). Die Zeit nach 1900 ist im europäischen Bühnentanz durch die kritische Auseinandersetzung mit der klassischen Tradition geprägt. Neben dem Erneuerungsprojekt der Ballets Russes stehen Tanzformen, die sich in Opposition zum Ballett definieren. Sie werden anfangs uneinheitlich »Neuer Tanz« oder »Freier Tanz« genannt5. Von der Etablierung einer wissenschaftlichen Disziplin ist die Refle-
3
Mit dem Zweiten Weltkrieg bricht die tanztheoretische Bezugnahme auf Nietzsche ab. Erst Ende des 20. Jahrhunderts stellen philosophische Studien Nietzsches Tanzbegriff erneut zur Diskussion – nun mit einem Fokus auf dessen metaphorischer Qualität (vgl. u.a. Murphy 1984; Stauth 1988; Röller/zur Lippe 2001; Langer 2010). Den gleichen Schwerpunkt setzen Untersuchungen in der Germanistik (Müller Farguell 1995) oder das im Tanzmagazin Ballett international/Tanz aktuell publizierte »Nietzsches TanzLexikon« (Sträßner 2000). Eine Ausnahme bildet LaMothes religionswissenschaftlich gefärbte Forschung zum direkten Einfluss von Nietzsches Kritik körperfeindlicher Aspekte im Christentum auf die Tänze Martha Grahams und Isadora Duncans (2006).
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»Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden« (Böhme 1926: 138; vgl. Nietzsche 1988d: 366); »Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können« (Böhme 1926: 138; vgl. Nietzsche 1988d: 19).
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Gabriele Brandstetter schlägt vor, als »freien Tanz« alle Ansätze zu bezeichnen, die eine Befreiung vom Kanon des Balletts proklamierten und davon ihrerseits wieder einen Trainings- oder Formen-Kanon hervorbringende Schulen wie etwa die labansche zu unterscheiden (1995: 33f.).
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xion über Tanz weit entfernt, jedoch steht der wachsenden Zahl an Tanzschaffenden eine rapide ansteigende Zahl an Autoren gegenüber, die sich dem Tanz zuwenden. Die Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern des Balletts und den Anhängern des Freien Tanzes bildet einen der ersten Diskurse, der unter dem Eindruck eines zunächst anti-akademischen Kunsttanzes diesen nicht nur kunsttheoretisch, sondern als Gegenstand gesellschaftspolitischer Bedeutung diskutiert. In den tanztheoretischen Schriften wird deutlich, wie stark die eigenen Programme der Kunst- und Kulturkritiker das bedingen, was sie je als die Eigenschaften und Werte der neuen Tanzformen präsentieren (vgl. z.B. Schur 1910; Brandenburg 1913; Thiess 1920; Rochowanski 1923; von Boehn 1925; Schikowski 1926; Böhme 1926). In den 1920er und den 1930er Jahren bewegt sich das Nachdenken über den Tanz in Deutschland in einer politisch heiklen Balance. Duncan oder Rudolf von Laban hatten statt idealtypischer Bewegungsformen die Ermächtigung des Individuums, seinen eigenen Ausdruck zu finden, ins Zentrum gestellt. Ihre frühen pädagogischen Grundsätze richteten sich auf die ermöglichende Einübung des Einzelnen in die Nutzung seiner Potenziale; die Vereinheitlichung von Lebensund Arbeitsrhythmen durch die Taylorisierung diente ihnen dabei ebenso als Feindbild wie der Formalismus des Balletts. Die kontinuierliche Aufwertung der Funktion von Hygiene, Ernährung, Körperformung in ihren Schulsystemen lässt hingegen neue Normierungen erkennen: von Lebens- statt von Bewegungsgestaltung. Nachvollziehbarer Weise besaß dieser Schritt hin zu der Formung von Individuen in Bezug auf das Konzept eines ›Volkskörpers‹ und dessen Optimierung in einem zunehmend prä-faschistisch geprägten Gesellschaftsklima besondere Attraktivität6. Die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des deutschsprachigen Tanz-Diskurses nach 1900 spielen für mich im Folgenden nur insofern eine Rolle, als sie meinem Gedankenexperiment, diesen als Vorläufer der heutigen tanzwissenschaftlichen Diskussion zur Diskursivität im zeitgenössischen Tanz zu denken, historische Grenzen der Vergleichbarkeit setzen, derer ich mir bewusst bin. Gleichzeitig kann die vergleichende Betrachtung beider dazu beitragen, die gegenwärtige Feststellung einer Interaktion von als ›innovativ‹ apostrophiertem Tanz mit philosophischer Theorie diskursanalytisch zu beleuchten. Die Figur des »tanzenden Philosophen« enthält schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts mehr als ihre Nietzsche-Referenz. Zeitgenossen nehmen Duncan
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Diese Entwicklung ließe sich anhand der wechselvollen Debatte über den Stellenwert der Gymnastik im Rahmen etwa der Ausbildung der Duncan Schule nachverfolgen – eine lohnende Untersuchung, die an dieser Stelle zu weit führt.
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positiv als Auslöser einer »ganzen Bewegung« (Böhme 1926: 30) wahr: »Die Duncan war ein Programm« (Schur 1910: 37). Programmatisch ist, dass sie ihre Auftritte mit »theoretischen Vorträgen« (Schikowski 1926: 133) bzw. in den Worten ihrer Kritiker »Hopsen und springen mit Akkompagnement schöner Redensarten« (von Boehn 1925: 109) verbindet. Max von Boehn, der hier spottet, baut sein Kompendium Der Tanz zweiteilig auf: Seinem eigenen Abriss der Tanzgeschichte folgt eine mit »Dokumente« überschriebene Zusammenstellung von Texten über Tanz, die von Lucian von Samatosa über Gottfried Taubert und Jean-Georges Noverre bis hin zu Heinrich Heine reicht. Nietzsche oder neuere philosophische Positionen fehlen dabei nicht ohne Grund. Der Autor bekundet seine Skepsis gegenüber einer bestimmten Entwicklung im Tanz und seiner Theorie: »Wenn sie [Duncan] ›Tanz eine Gravitation des Willens im Individuum‹ nennt, so entschuldigt sie sich immerhin noch, daß sie sich der Ausdrucksweise Schopenhauers bediene, aber dann auch los dafür und ’rin ins Programm« (ebd.: 122). Was sich von Boehn zufolge beobachten lässt, sei nicht nur der von ihm als Missbrauch und Banalisierung dargestellte Übergriff einer Tänzerin auf das Terrain der Philosophie. Auch das Schreiben über Tanz seiner Kollegen kritisiert er für die Begleiterscheinungen eines ›Philosophisch-Werdens‹. Der Rückgriff auf Philosophie durch die Tanzerneuerin und philosophische Tendenzen in der Tanztheorie werden in einen Zusammenhang gestellt. Der Tanz habe seit der Jahrhundertwende »eine Literatur gezeitigt, die nach Umfang und Art weder übersehen, noch leicht verstanden werden kann. Czerwinski, Voß, Boehme, […] nüchtern, sachlich, dem Gegenstande zugewendet, und nun nehme man die Modernen zur Hand: Ernst Schur, Hans Brandenburg […], Rudolf von Laban. Üppiger Welterlöserstil! So schrieb man vor hundert Jahren über Metaphysik. Geist, nur Geist. Alles transzendental übersteigert […]. Schaumschlägerei, dass jeder Konditor neidisch werden könnte.« (Ebd.)7
Auch im Feld tanzwissenschaftlicher Publikationen seit 2000 steht die Darstellung der Philosophie als Nukleus zwischen Tanz und Tanztheorie, die André Lepecki in Exhausting Dance betonte, keineswegs allein. Die Wirksamkeit der Projekte von Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Boris Charmatz oder Thomas Lehmen und ebenso der jüngeren Generation – Mette Ingvartsen oder Antonia Baehr – wird auf choreographische Bewegungen der ›Konzeptualität‹ und ›Diskursivität‹ zu-
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Mit Laban wird hier ein Choreograph bruchlos unter die kritisierten Theoretiker eingereiht, was deutlich macht, dass der betreffende Diskurs über Tanz von Theoretikern und Praktikern gleichermaßen geführt wird.
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rückgeführt8. Der Begriff ›Konzept-Tanz‹ als in der Regel nicht weiter begründete, gerne mit Anführungszeichen oder dem Attribut ›so genannt‹ versehene Anleihe bei der bildenden Kunst dient dazu, eine Aufwertung der ideellen gegenüber der materiellen Ebene im Tanz zu beschreiben. Mit den Worten von Gabriele Klein: »[I]m so genannten Konzepttanz, [steht] nicht das Tanzen, also die Aufführung, im Vordergrund […], sondern eine choreographische Idee« (2005a: 17)9. Der Begriff der ›Diskursivität‹ wird im tanzwissenschaftlichen Sprachgebrauch selten mittels spezifischer Diskurstheorien unterfüttert. Häufig scheint das ›Diskursive‹ gemäß Michel Foucaults früher Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken oder im Sinne der in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangenen Bedeutung als Synonym von ›Diskussion‹, ›Text‹, ›Aussage‹ zu funktionieren. Foucaults von ihm selbst immer wieder problematisiertes Diskurs-Verständnis macht die ungelöste Spannung zwischen Diskursivität und Praxis auf, die im Raum steht, wann immer heute vom ›TanzDiskurs‹ die Rede ist: Diskurs, verstanden als »Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (2008b: 525), aber auch als »eine Folge von Ereignissen« (2003: 595)10. Wenn nun ausgerechnet der Tanz das Mittel »diskursiver Intervention« (Cvéjic 2005: o.S.) ergreift, wird in der Tanzwissenschaft betont, dass dahinter nicht etwa eine verbindende Ästhetik steht, sondern mit Lepecki ein »common ground of concerns« (2006: 71) bei gleichzeitiger ästhetischer Heteronomie, »a critical
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Für Lepecki nötigt jede choreographische Konzeptualisierung als methodisch-strukturelle Re-Konzeptualisierung der medialen Basis von Tanz die Tanzwissenschaft zu einer ebensolchen Re-Konzeptualisierung ihrer methodisch-strukturellen Konzepte (vgl. 2001).
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Als fester Topos findet sich der Konzept-Tanz u.a. bei Klein (2005b; 2010), Eiermann (2009), Hardt (2010). Brandstetter konstatiert, »[p]ostmoderne Choreographie« sei »Concept Art« (2005: 63). Helmut Ploebst spricht von »konzeptuellen« (2004: 328) bzw. »konzeptualistischen Formen der Choreographie« (2005: 118). In dem Band New German Dance Studies steht der »Konzepttanz« als eingeführte historische Kategorisierung bereits auf einer Ebene mit »Tanztheater« (vgl. Manning/Ruprecht 2012: 8ff.). Für eine kritische Diskussion des Begriffs vgl. Husemann (2009; 2002) sowie Cvéjic/Le Roy/Siegmund (2006) und Siegmund (2007).
10 In Die Ordnung der Dinge beschreibt Foucault noch die »Aussageordnungen« der Wissenschaft als Prototyp dessen, was er einen »Diskurs« nennt (vgl. 2008a). Dabei versteht er in seiner späteren Machtanalytik weder den Körper noch die Praxis als nicht-diskursiv; das Diskursive ist eben gerade nicht allein das Sprachliche.
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mass, a certain momentum and a certain specificity that allows it to be qualified as an artistic movement« (ebd.: 72). Der Tanz habe, so Helmut Ploebst, einen »Diskursschub« erfahren (Haitzinger/Ploebst 2011: 11). Pirkko Husemann nennt die Stücke von Stuart, Le Roy und Bel wörtlich »ein mentales workout, ein Denktraining« (2002: 80), einen »Metatanz« und »Tanz des Diskurses« (ebd.: 95). Zurück geht die Formulierung »Tanz des Diskurses« auf Mårten Spångberg, der bei einer Veranstaltung an der Universität Gießen im Jahr 2000 den zeitgenössischen Tanz (eben den »dance of discourse«) auf diese Weise vom modernen Tanz (»dance of the flesh«) und dem postmodernen Tanz (»dance of the bones«) abgegrenzt hatte (vgl. ebd.). Laut Katja Schneider taucht Tanz bei Choreographen wie Jérôme Bel überhaupt nur mehr »im Metadiskurs auf« (2004: 366). Ebenso zentral scheint der Diskursbegriff für die Kritiker derselben Entwicklung zu sein. So nennt Michal Sapir das Foucaults »Heterotopie« offen aufgreifende Stück Hetérotopia (2006) von William Forsythe abfällig eine »abstract literalisation of buzz-concepts from cultural theory« (2009: 10). Und Gabriele Wittmann warnt vor einer Modeerscheinung: »Wer spricht im Tanz? […] Es sind meist diejenigen, die einen Diskurs mitbringen aus der Theater- oder Musikwissenschaft, der Literatur- oder Sportwissenschaft. Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Frage: Welcher Diskurs ist gerade in Mode? Zur Zeit scheint es mir der Diskurs der Philosophie zu sein. Seit Choreographen wie Jérome Bel die postmodernen Philosophen […] entdeckt haben, ist Bel der Renner auf allen Festivals, und der philosophische Zugang zum Tanz en vogue [Hervorhebungen von mir – C.S.] […].« (2002: 587)
Das ›Diskursive‹, wie es in solchen Debatten aufscheint, schließt die Interaktion von Tanz und Philosophie mit ein, meint aber mehr. Zeitgenössische Choreographen beteiligen sich an etwas, das auch als das Kerngebiet tanzwissenschaftlicher Analyse gilt: die Kontextualisierung ihrer Kunst auf einer Meta-Ebene. Dies reicht von der strategisch manipulativen Mitgestaltung der die Performance rahmenden Informationsmedien im Sinne einer »overall dramaturgy« (Schuhmacher 2008) bis hin zu Manifesten11, Essays, Statements auf persönlichen Blogs und Webseiten12, auf Online-Plattformen13 oder in Sammelbänden, die außerhalb der
11 Vgl. etwa Mette Ingvartsens auf ihrer Webseite publiziertes Yes Manifesto (2004), das sich an Yvonne Rainers No Manifesto von 1965 anlehnt. 12 Vgl. z.B. den »Spangbergianism«-Blog von Mårten Spångberg, http://spangbergian ism.wordpress.com/author/spangberg1000/ (19.06.2013). Jérôme Bels mit den Laboratoires d'Aubervilliers konzipiertes Online-Archiv enthält mit Selbstkommentaren
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und teils dezidiert gegen die Konventionen akademischen Publizierens konzipiert werden. Das ›Philosophisch-Werden‹ des zeitgenössischen Tanzes steht in diesem größeren Zusammenhang. Es umfasst auch Kollaborationen auf der Bühne wie im Fall der Zusammenarbeit des Künstlerzwillings deufert+plischke mit dem Philosophen und Herausgeber der Zeitschrift Inaesthetics, Marcus Steinweg, oder von Jean-Luc Nancy mit der Choreographin Mathilde Monnier in dem Stück Allitérations (2002) und einer gleichnamigen Publikation (Monnier/ Nancy/Denis 2005). Tanzwissenschaftlich werden solche Projekte gerne mit einem »desire or demand for an epistemological claim long held within dance [Hervorhebung von mir – C.S.]« (Solomon 2009: 173) begründet, einem Begehren, das auf den Nachweis einer Wesensverwandtschaft und Gleichwertigkeit zwischen Tanzpraxis und philosophischer Spekulation gerichtet ist. Meines Erachtens ist hier ein Perspektivwechsel geboten. Philosophische Texte, etwa Alain Badious Tanz als Metapher für das Denken (2001) oder Nancys Corpus (2003) machen ›den Tanz‹ oder ›den Körper‹ als Denkfigur im Rahmen ihrer Theorien produktiv. Der Beschäftigung mit einem ›philosophischen Engagement‹ des Tanzes muss folglich eine Untersuchung des Engagements für Tanz der Philosophie an die Seite gestellt werden, vor allem, seit philosophische Konzepte in tanzwissenschaftlichen Aufführungsanalysen buchstäblich auftreten – wenn etwa der »organlose Körper« von Gilles Deleuze und Félix Guattari leibhaftig als »[d]er organlose Körper Bels« (Husemann 2002: 48) oder »Le Roy’s organloser Körper« (Siegmund 2006: 288) auf der Bühne vorgefunden wird. Auch die Nietzsche-Rezeption seitens der frühen deutschen Tanztheorie praktizierte eine freimütige Übernahme von dessen ›tänzerischem‹ Begriffsrepertoire aus der Geburt der Tragödie (1988a) und der Fröhlichen Wissenschaft (1988b)14, aber auch aus Menschliches, Allzumenschliches (1988c) und Also sprach Zarathustra (1988d). So paraphrasiert Rochowanski die Szene des dionysischen Taumels aus der Geburt: »Seht ihr die Leute?
versehene Aufzeichnungen seiner Stücke zwischen 1994 und 2005, vgl. http://www. catalogueraisonne-jeromebel.com/ (19.06.2013). 13 Vgl. z.B. das belgische Projekt Sarma, siehe http://www.sarma.be/ (19.05.2013) oder das österreichische CORPUS, siehe http://www.corpusweb.net/ (19.05.2013). 14 Aus diesem Text stammt das Nietzsche-Zitat zu Anfang dieses Beitrags: »Werthfrage […], in Bezug auf Buch, Mensch und Musik […]: kann er gehen? mehr noch, kann er tanzen?« (1988b: 614).
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Sie haben das Gehen verlernt!« (1923: 1)15. Böhme macht diejenige Passage aus dem Zarathustra zum Motto für sein Buch, die Nietzsche im »Versuch einer Selbstkritik« nachträglich seiner Geburt der Tragödie voranstellte: »Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!« (zit. n. Böhme 1926: o.S.; vgl. Nietzsche 1988a: 22). Die Episode über den tödlichen Absturz des Seiltänzers im Zarathustra – jenes »Thier, das man zu tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen« (Nietzsche 1988d: 22) – ist wiederum Stichwortgeber für Schurs Urteil, klassischer Tanz habe als Form der Dressur »etwas Seiltänzerartiges« (1910: 33) an sich. Die philosophische Widerständigkeit und Funktion eines Tanzes, der theoretisch entlang der Kehrtwenden von Nietzsches Denken immer neu und anders ausgespielt wird, (oder des »organlosen Körpers« in der Philosophie von Deleuze und Guattari) werden deren Eignung für den tanzwissenschaftlichen Gebrauch untergeordnet. Der Rückgriff auf philosophische Theorie erfolgt dabei heute so wenig wie in den Analysen des Freien Tanzes allein in Reaktion auf die Kunst. Die Feststellung eines tänzerischen Umbruchs dient immer auch einer Repositionierung innerhalb des eigenen Diskursfeldes, verstanden im Sinne von Foucaults Definition als ihren Gegenstand schaffende – hier: theoretische – Praktiken. Die universitäre Tanzwissenschaft in Deutschland ist durch die Fach-Hintergründe ihrer ersten Generation von Professorinnen geprägt worden: Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Soziologie. Galt die Aufmerksamkeit der Tanzforschung in ihrer akademischen Gründungsphase vor allem der Erarbeitung eines Methodenkanons, so wird in den letzten Jahren »[d]ie Selbstthematisierung des eigenen Standpunktes im Sinne […] eine[r] Selbst-Reflexivität« als »Desiderat der Tanzwissenschaft« (Brandstetter/Klein 2007: 14) benannt. Die Forderung eines stärkeren Anschlusses an die Philosophie lässt sich vor diesem Hintergrund als Abgrenzungsgeste gegenüber der Theaterwissenschaft, den Performance Studies und den mehr den Cultural Studies verpflichteten Dance Studies US-amerikanischen Zuschnitts deuten. Theorien des Performativen und des Postdramatischen, etwa von Hans-Thies Lehmann (1999), Peggy Phelan (2001) und Erika Fischer-Lichte (2004) die Tanz-Beispiele als Belege in ihre vom Theater bzw. der Performance her gedachten Modelle integriert hatten, werden aus dem Blickwinkel einer disziplinär selbstständig und selbstbewusst gewordenen
15 Vgl. die Passage bei Nietzsche: »Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied der höheren Gemeinschaft: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen« (1988a: 30).
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Tanzwissenschaft einer kritischen Relektüre unterzogen. In diesem Zusammenhang schlägt Helmut Ploebst schon 2002 den Begriff »Neue Choreographie« vor, da Tanz nicht einfach unter »Postdramatisches Theater« zu subsumieren sei (2002: 270f.). Und Gabriele Klein und Christa Zipprich argumentieren, der Tanz habe anders als das Theater seine »performative Wende« bereits in den 1920er Jahren des 20. Jahrhunderts vollzogen (2002: 2). Ich schlage vor, den Diskurs zur Diskursivität von Tanz gemäß einer bestimmten Lesart des Begriffes ›Choreographie‹ zu verstehen: als Feststellung und Konzeptualisierung einer Kunstpraxis, welche ihrerseits Aspekte von Sprachlichkeit und Konzeptualität verinnerlicht. Dabei schließe ich an Susan Fosters Überlegungen zur quasi-choreographischen Dimension tanzhistorischer Arbeit als einer festschreibenden Operation je konkreter Wissenschaftler-Körper an anderen (an- oder abwesenden) Körpern an (1995: 4-11). So betrachtet, ist der Tanz-Diskurs mindestens ein doppelter, wenn nicht sogar ein dreifacher: Er wird tanzpraktisch, tanzwissenschaftlich und philosophisch mit je unterschiedlichen Politiken geführt, die sich zwar berühren und beeinflussen, aber nie deckungsgleich sind. Der Begriff ›Diskurs-Choreographie‹, den ich hier als eine Arbeitshypothese vorschlagen möchte, bündelt in seiner Ambivalenz die zu differenzierenden Ebenen, auf denen Diskursivität und Choreographie interagieren. Dabei steht Diskurs gerade nicht, mit Theoretisierung und Reflexivität gleichgesetzt, in Opposition zu Tanz. Vielmehr zeugt die Präferenz, die Künstler wie Le Roy heute dem Begriff ›Choreographie‹ gegenüber dem Begriff ›Tanz‹ einräumen, davon, dass die angestrebte Befreiung von einer mit Begriffen wie Gesetz, Vorschrift, Disziplinierung belegten ›Institution Choreographie‹ sich in ein neues Interesse für deren spezifische Produktivität verwandelt hat (vgl. Siegmund 2010; Husemann 2009). Dennoch gilt: Wenn Ramsay Burt und Susan Foster es 2006 in einem Editorial zu dem von ihnen am Laban Centre London herausgegebenen Magazin Discourses in Dance als die große Leistung kritischer Tanzforschung der letzten Jahre bezeichnen, die Wirksamkeit disziplinatorischer Macht am tanzenden Körper beleuchtet zu haben, ist dabei die disziplinäre Macht der Tanzwissenschaft unbedingt mitzudenken (Burt/Foster 2006: 3). Wie Christina Thurner vorschlägt, lassen sich »Dispositive […], die sich im ästhetischen Diskurs als paradigmatisch und prägend für das (Selbst-)Verständnis von Tanz« erweisen, insbesondere in historischen »Umbruchzeiten anhand (selbst-)reflexiv programmatischer Definitions-, Kontextualisierungs- und Abgrenzungsversuche ablesen und auswerten« (2009: 201). Dies gilt in meiner Weiterführung dieses Gedankens auch für eine Tanzwissenschaft, die angesichts einer diskursiv oder selbstreflexiv agierenden Tanzpraxis in den letzten Jahren
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ihrerseits verstärkt zu Definitions-, Kontextualisierungs- und Abgrenzungsversuchen ansetzt. Der signifikante Punkt der ›Umbruchzeit‹ wird dabei ebenso für die eigenen Zwecke genutzt wie zuallererst mit formuliert und erschrieben. Jede tanzwissenschaftliche Beschäftigung mit der Diskursivität im Tanz muss sich mit den Choreographien ihrer eigenen Operationen auseinandersetzen. Oder mit den Worten Foucaults: Zwar können wir mittels der für die Diskursanalyse unverzichtbaren »Äußerlichkeit« und »Distanz« allein über solche Diskurse verfügen, die »gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein«, doch entbindet dies die diskursanalytische Operation nicht von der Herausforderung, sich »möglichst weit dieser Positivität, der sie selbst gehorcht, […] an[zu]nähern«, also »den Ort aus[zu]machen, von wo aus sie selbst spricht« (2008b: 615). Auch auf die Gefahr hin, dass solche Verrenkungen Muskelkater nach sich ziehen.
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Spiegel im Spiegel Heterotopischer Raum im Computerspiel und seine Reflexion in der Literatur C HRISTOF Z URSCHMITTEN
Die fortschreitende Institutionalisierung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Computerspiel ist zwar keineswegs als abgeschlossen zu betrachten; doch auf dem wechselhaften Feldzug zu mehr Anerkennung hat sie immerhin ein Banner gefunden, hinter dem sich die Mitstreiter sammeln können: das der Game Studies. Diese gemeinsame Benennung vermag allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der gemeinsame Nenner nach wie vor der kleinstmögliche ist: Was die Disziplin – sofern sie als solche bezeichnet werden kann – zusammenhält, ist außer dem geteilten Interesse am Forschungsgegenstand Computerspiel letztlich wenig. Der Name »Game Studies« hält tatsächlich mehr schlecht als recht eine Unzahl von Konzepten, Methoden und Disziplinen zusammen, die nicht immer in harmonischer Weise koexistieren. Im Gegenteil: Der Prozess der Institutionalisierung, der zumindest anfänglich nicht zuletzt eine Bewegung der »Kolonialisierung und Rekolonialisierung« (Kücklich 2004: 285) seitens bereits etablierter Disziplinen war, zog eine Reihe durchaus heftiger akademischer Auseinandersetzungen nach sich, die sich zu regelrechten »blood feuds« (Jenkins 2004: 118) auswachsen konnten1. Umso erstaunlicher ist es, dass die Game Studies aller inneren Heterogenität zum Trotz von Anfang an eine Konsensposition kannten, die Espen Aarseth vor mehr als zehn Jahren wie folgt zusammenfasste: »The defining element in computer games is spatiality« (2001:
1
Deren bekannteste, die zwischen Narratologen und Ludologen, ist über die Game Studies hinaus berühmt-berüchtigt geworden (vgl. dazu zusammenfassend Murray 2005; Kücklich 2004).
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154). Bis heute gilt der ›Raum‹ als neutraler Grund, auf dem die einzelnen Kräfte innerhalb des Feldes zueinander finden können: »Indeed, space is the one category that has come to be accepted as the central issue of game studies, and the one in which all previous categories are integrated« (Günzel 2008: 171). Auch dieser Beitrag sucht hier Anschluss. Er fokussiert jedoch nicht das Computerspiel an sich, sondern die Spuren, die es in der Literatur hinterlassen hat. Dabei stehen allerdings ausdrücklich nicht jene vielfältigen Spielarten im Vordergrund, mit denen die Literatur die Nähe zum neuen Medium sucht(e), indem sie sich auf technologischer Ebene neu erfunden hat – in Gestalt dessen, was verschiedentlich als ›Hypertext Literature‹, als ›Cybertext‹, ›Interactive Fiction‹ oder auch als ›Ergodic Literature‹ bezeichnet wurde. Das Augenmerk liegt damit explizit nicht auf literarischen Texten, bei denen »a non-trivial effort is required to allow the reader to traverse the text« (Aarseth 1997: 1), Texten also, bei denen die Rezeption über den rein mentalen Akt des Lesens hinausgeht und sich zu einer aktiven (Teil-)Konstruktion einer semiotischen Sequenz hinentwickelt. Anders gesagt: Was im Folgenden betrachtet wird, ist Literatur mit ›trivialer‹ Rezeptionsweise; es handelt sich um narrative, lineare Texte, die allesamt in Form des gedruckten Buchs erschienen sind. Diskutiert werden soll die Frage, wie diese ›herkömmliche‹ Form der Literatur das Aufkommen des Computerspiels reflektiert. Das Spannungsverhältnis zwischen dem ›traditionellen‹ Medium der Literatur und dem jüngeren, in vielerlei Hinsicht anders beschaffenen Medium des Computerspiels eröffnet dabei, so die These, interessante ästhetische Phänomene, denen bislang selten wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Naturgemäß kann hier nur ein Teil der vielfältigen Implikationen dieser intermedialen Gemengelage reflektiert werden. Was läge also näher, als den Gegenstand einzugrenzen, indem man dem Raum als zentraler Kategorie des Computerspiels den Vorzug gibt? Im Sinne des Titels dieses Bandes lautet daher die leitende These, dass für das Computerspiel eine räumliche Formation typisch ist, die im Sinne Foucaults als Heterotopie beschrieben werden kann – eine Raumkonstruktion, die sich allerdings in der Literatur nicht reproduzieren lässt. Wie Letztere dennoch versucht, sich mit ihren eigenen medialen Mitteln, allen voran der Metalepse, dem heterotopischen Raum des Computerspiels anzunähern, soll nach einigen theoretischen Vorüberlegungen an zwei Beispielen erläutert werden: der Erzählung Prince of Gosplan (1998) des russischen Schriftstellers Viktor Pelevin und dem Roman Lucky Wander Boy (2003) des USamerikanischen Autors D.B. Weiss.
Spiegel im Spiegel
H ETEROTOPISCHER R AUM
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Angesichts der Bedeutung, die dem Raumaspekt innerhalb des Computerspiels beigemessen wird, überrascht es nicht, dass auch die Forschungsliteratur dazu umfangreich ist, wenn sie auch sehr unterschiedliche Schwerpunkte setzt. So interessierten sich etwa frühe Analysen insbesondere für die Techniken der Darstellung des Raumes, respektive für die Mechanismen der Erzeugung einer Illusion von Raum. Wie in der ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Medium üblich (vgl. Leschke 2003: 23), wurde die Annäherung mehrheitlich gesucht, indem Parallelen gezogen und Differenzen zu älteren Medien und Kunstformen markiert wurden. Diese Parallelen fanden sich durchaus, was naheliegt, hält man sich vor Augen, dass das Computerspiel als Form des Mediums Computer – also des »Medium[s] der Medienintegration« (Tholen 2005: 151) schlechthin – alle bekannten Medientechniken nachbilden bzw. nutzen kann. So wurde etwa eine Nähe zu den Strategien aufgezeigt, mittels derer in Malerei (vgl. Poole 2000) oder Film (vgl. Wolf 2002) Räume konstruiert werden. Desweiteren stellten verschiedene Studien Verbindungen zur Architektur und zum Vergnügungspark-Design her (Jenkins 2004), oder blickten auf die raumorientierte Strukturierung der Narration in historischen Formen der Erzählung zurück (Manovich 2002: 245f.). Solche Forschungsvorhaben warfen durchaus wichtige Schlaglichter auf das Medium. Zugleich aber musste mit diesem rein vergleichenden Ansatz das Spezifische des neuen Mediums zumindest partiell im Dunkeln bleiben. Mit Gernot Böhme lässt sich festhalten, dass bei einer konsequenten Reduktion des Computerspielraumes auf die aus anderen Medien bekannten Illusionstechniken »die sog. virtuellen Räume gar nicht virtuell [sind], sondern es sind schlicht Bilder, d.h. zwei- oder mehrdimensionale Medien, in denen eine Mannigfaltigkeit zur Darstellung kommt« (Böhme 2004: 137). Damit die Computerspielräume den Status des Bildes im engen Sinn transzendieren und zu genuin virtuellen Räumen werden können, muss etwas Spezifisches hinzutreten. Nun waren auch die Game Studies seit ihren Anfängen nicht blind für diese Problematik. Die Versuche, das Spezifische von Computerspielräumen zu definieren, sind zahlreich und heterogen. Mehr oder weniger vage Konzepte wie das der »Interaktion« oder der »Navigation« (Wolf 2002; 2011) wurden ebenso herangezogen wie Überlegungen zur technischen bzw. technologischen Basis des Mediums. So nimmt etwa Lev Manovich (2002) den Datenbankcharakter als Ausgangspunkt seiner Definition, während Dieter Mersch (2008) eine Bestimmung über Digitalität bzw. die digitale Entscheidungslogik versucht, welche dem Computerspiel zugrunde liegt. Keiner dieser Ansätze erhebt einen Exklusi-
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vitätsanspruch, und wo sie im Einzelnen kompatibel bzw. inkompatibel sind, kann hier nicht ausgeführt werden. Gemeinsam ist den meisten Positionen jedoch, dass sie auf formale und/oder technologische Aspekte der Räumlichkeit des Computerspiels fokussiert bleiben und damit den Raum letztlich als isolierte Größe betrachten. Dies ist ein legitimer Ansatz, der allerdings auf unausgesprochenen Prämissen basiert. Für Alexander Wade stellt eine solche Haltung einen Atavismus dar, der nicht immer hinreichend als solcher reflektiert wird (2009: 75). Seiner Ansicht nach zeigt sich sowohl in der Betonung der herausragenden Bedeutung der räumlichen Dimension für das Computerspiel als auch in der Tendenz, diese als abgeschlossene Entität zu betrachten, das Erbe einer der frühesten spieltheoretischen Schriften – Johan Huizingas Homo Ludens. Als wirkmächtig erwiesen hat sich vor allem Huizingas These, dass die Bedingung für die Konstituierung eines Spiels seine Isolierung sei, d.h. seine Existenz in einem besonderen, abgeschlossenen Rahmen und Raum. Huizinga prägte dafür die Metapher des ›Zauberkreises‹: »Auffallender noch als seine zeitliche Begrenzung ist die räumliche Begrenzung des Spiels. Jedes Spiel bewegt sich innerhalb seines Spielraums, seines Spielplatzes, der materiell oder nur ideell, absichtlich oder wie selbstverständlich im voraus abgesteckt worden ist. Wie der Form nach kein Unterschied zwischen einem Spiel und einer geweihten Handlung besteht, d.h. wie die heilige Handlung sich in denselben Formen wie ein Spiel bewegt, so ist auch der geweihte Platz formell nicht von einem Spielplatz zu unterscheiden. Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d.h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere Regeln gelten. Sie sind zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen.« (2011: 18f.)
Für Huizinga oszilliert der Raum, der sich im Spiel konstituiert und der zugleich das Spiel konstituiert, also zwischen Metapher und deren Manifestation. In jedem Fall suggeriert das Bild des ›Kreises‹ aber eine trügerische Geschlossenheit und Undurchlässigkeit. Bei verschiedenen Spielen – und beim Computerspiel in besonderem Maße – kann nämlich argumentiert werden, dass der geschaffene (Spiel-)Raum keineswegs in sich abgeschlossen ist: Die Überschreitung der Kreis- und Trennlinie zwischen Spiel und Nicht-Spiel kann im Gegenteil geradezu als zentrales Element des Dispositivs ›Spiel‹ betrachtet werden. Genau dies ist der Punkt, an dem auch Anschluss gefunden werden kann an das Konzept der Heterotopie, genauer gesagt, an einen der Entwürfe zur Hetero-
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topie bei Michel Foucault in dessen Ausführungen in dem Aufsatz »Andere Räume« (1998). Der Plural ›Entwürfe‹ ist dabei bewusst gewählt – bekanntlich ist das Konzept der Heterotopie bei Foucault fragmentarisch geblieben und durchaus nicht einheitlich definiert worden. In »Andere Räume« begegnet uns eine Vielfalt nur bedingt miteinander in Einklang zu bringender Beispiele und Gedankenansätze, die das Konzept ›Heterotopie‹ einigermaßen offen lassen. Dies muss jedoch kein Nachteil sein; im Gegenteil lädt diese Offenheit dazu ein, in selektiver und assoziativer Weise auf die bei Foucault ausgelegten Fäden zuzugreifen, um mit ihnen eigene Thesen zu spinnen. Den wichtigsten Ansatzpunkt für diesen Beitrag bilden Foucaults quasiparadoxe Ausführungen zum Spiegel, welchen er als utopisch und heterotopisch zugleich beschreibt. Die Passage verdient ein ausführliches Zitat: »Der Spiegel ist nämlich eine Utopie, sofern er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, der mir meine eigene Sichtbarkeit gibt, der mich mich erblicken läßt, wo ich abwesend bin: Utopie des Spiegels. Aber der Spiegel ist auch eine Heterotopie, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme; vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da wieder einzufinden, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.« (1998: 39)
Diese Stelle ist in ihrer Hintergründigkeit natürlich unterschiedlichsten Lesarten zugänglich. Im Folgenden soll sie als mediologische Ausführung interpretiert werden. Dies scheint legitimierbar durch eine andere Passage, in der Foucault auch das Kino als Heterotopie beschreibt, als einen »merkwürdige[n] viereckige[n] Saal, in dessen Hintergrund man einen zweidimensionalen Schirm einen dreidimensionalen Raum sich projizieren sieht« (ebd.: 42). Die Heterotopie als Überblendung des Raums des Betrachters und des betrachteten Raums beschränkt sich also keineswegs auf den Spiegel, sondern kann ebenso mittels anderer medialer Dispositive zustande kommen – via Leinwand etwa, oder, so ließe sich weiterdenken, via Bildschirm. Foucaults Ausführungen zur Heterotopie
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wären somit auf das Computerspiel übertragbar2, und tatsächlich bieten sich verschiedenste Verknüpfungen zu Ansätzen der Game Studies geradezu an. So besteht für Hartmut Böhme das Spezifikum des Computerspiels darin, dass es aus dem lediglich dargestellten Raum, dem reinen Bild also, einen virtuellen Raum macht; dies geschieht, indem die Präsenz des Rezipienten in den Raum projiziert wird, so dass dieser »im Raum der Darstellung virtuell, nämlich durch einen Avatar anwesend ist« (Böhme 2004: 137). Dadurch nähert sich der Raum im Computerspiel graduell an das an, was Böhme als »Raum leiblicher Anwesenheit« beschrieben hat – also einen Raum, in den das Subjekt »in dreifacher Weise involviert [ist]: als handelnder, als wahrnehmender und als atmosphärisch spürender Mensch« (ebd.: 135). Die Differenz zum nicht-virtuellen Raum besteht lediglich darin, dass der virtuelle primär ein Handlungsraum ist, während die anderen Dimensionen der Involvierung nur durch einen erhöhten Grad an Mittelbarkeit erreicht werden können – etwa indem der Spieler »durch die Identifikation mit dem Avatar […] den virtuellen Raum auch als Stimmungsraum erfahren [kann]« (ebd.: 138). Diesem Dispositiv wohnt ein Aspekt inne, der es in die Nähe des Spiegels rückt: die Selbstbeobachtung. Florian Leitner hebt ihre Bedeutung für den Computerspielraum hervor, wenn er argumentiert, dass »im Computerspiel-Dispositiv […] der menschliche Spieler in einer theatralen Als-ob-Relation zu einer imaginären Kunstfigur steht« (2004: 304ff.). Diese Kunstfigur, der Avatar, ist in erster Linie ein Interface, das erst die Handlung im Raum ermöglicht. Allerdings unterscheidet es sich wesentlich von simpleren Interface-Formen (etwa einem Mauszeiger) dadurch, dass ein Element der mimikry hinzutritt, so Leitner: »Der Spieler wird zum Anderen, bewegt sich als dieser Andere durch den virtuellen Raum und beobachtet gleichzeitig die Bewegung dieses Anderen. Das ist postorganische Theatralität, wie sie im Computerspiel-Dispositiv in Erscheinung tritt« (ebd.). Beim Spiegel wie beim Computerspiel haben wir es mit einem heterotopischen und zugleich utopischen Dispositiv zu tun, in dem ein gedoppelter Raum und ein verdoppelter Betrachter miteinander interagieren3. Entscheidend ist, dass
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Tatsächlich ist der vorliegende Aufsatz nicht der erste, der die Heterotopie mit dem Computerspiel in Verbindung bringt. So hat z.B. Sara McNamee (2000) das Konzept ihrer Studie zugrunde gelegt, die sich mit der primär eskapistischen Funktion des Computerspiels für Kinder auseinandersetzt.
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Oder gar vervielfachter: Michael Nitsche etwa fügt zum »mediated space« (dem auf dem Schirm dargestellten Raum) und zum »play space« (dem physischen Raum, in dem sich der Spieler befindet) noch weitere Dimensionen des Computerspielraums
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beide Seiten der Doppelung wesentlich für das Dispositiv sind, das stets zugleich ein Hier-wie-dort und ein Weder-hier-noch-dort bildet.
A NNÄHERUNGEN
DER L ITERATUR AN DAS HETEROTOPISCHE D ISPOSITIV DES C OMPUTERSPIELS
Für Schriftsteller, die sich mittels der Literatur mit dem Computerspiel auseinandersetzen wollen, scheint diese Ausgangslage Segen und Fluch zugleich zu sein: Einerseits zeigt sich hier einer der charakteristischsten und interessantesten Aspekte dieses Mediums, der eine Reflexion geradezu herausfordert. Andererseits kann die Literatur, zumindest in ihren klassischen Formaten, dieses für das Computerspiel spezifische Dispositiv nicht nachbilden. Der von ihr und in ihr dargestellte Raum ist via Identifikation mit einer Figur bestenfalls als ›Stimmungsraum‹ erfahrbar, aber nie als ›Handlungsraum‹. Damit entfallen auch das Element der Theatralität, die Selbstbeobachtung und damit letztlich das heterotopisch/utopische Dispositiv an sich. Nun bestehen intermediale Bezugnahmen aufgrund der medialen Unterschiede jedoch in den seltensten Fällen in der exakten Nachbildung medialer Elemente. Wo aufgrund der Differenzen die Aktualisierung bzw. die Reproduktion von Aspekten des anderen Mediums nicht möglich ist, bleiben als Mittel der Referenz aber immer noch die Simulation bzw. die Evokation mit den jeweils spezifischen medialen Mitteln (Rajewsky 2002: 196). Die Literatur kann den heterotopischen Raum nicht nachbilden, aber sie kann ihn unter Umständen reflektieren und die Illusion eines Als-ob errichten. Grundsätzlich sind unterschiedliche Strategien denkbar, die einen solchen Effekt erzielen könnten. Im Folgenden wird jedoch eine ins Zentrum gerückt, die sich in auffällig vielen literarischen Auseinandersetzungen mit dem Computerspiel findet: die Metalepse. Diese wird in der Tradition Gerard Genettes definiert als »logikwidrige Überschreitung von diegetischen Ebenen« (Klimek 2010: 35); der Begriff der Metalepse bezeichnet also all »jene Paradoxien, die die Darstellungslogik hierarchisch angeordneter und einander hervorbringender Darstellungsebenen unterlaufen« (ebd.: 43f.). Wie Sonja Klimek nachweist, erlebte die Metalepse eine Blütezeit in der postmodernen Erzählliteratur, in der sie zumeist mit illusionsbrechender Absicht verwendet wurde (ebd.: 24). Dies hat sich mittlerweile gewandelt: »[U]nter den Bedingungen der postmodernen Mediengesellschaft« hat
hinzu und betont, dass das mediale Dispositiv erst durch das Zusammenspiel all dieser Schichten verständlich werde (2008: 15f.).
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die Metalepse derart »große Präsenz im öffentlichen Bewusstsein erlangt« (ebd.: 26f.), dass sie als konventionalisierte narrative Strategie medienübergreifend geradezu ubiquitär geworden ist. Diese Verbreitung hat auch dazu beigetragen, dass sie keineswegs mehr zwingend als befremdendes oder illusionsbrechendes Element wahrgenommen werden muss. Metaleptische Strukturen können in literarischen Texten als intermediale Referenzen dienen und zugleich an der Reflexion der »Bedingungen der postmodernen Mediengesellschaft« teilhaben, der die literarischen Texte – und das Computerspiel als vielleicht vollkommenste mediale Verkörperung dieser Bedingungen – ihr Entstehen verdanken. Es gilt also in jedem Fall, die literarischen Strategien doppelt zu durchleuchten: aus der Perspektive einer narratologischen Form-Analyse intermedialer Bezüge, aber auch aus derjenigen einer hermeneutischen Analyse der Funktion, die diese Bezüge für den Gesamttext einnehmen. Zum Abschluss soll dies anhand zweier literarischer Beispiele in kursorischer und exemplarischer Weise angedeutet werden. Das erste Beispiel stammt aus Viktor Pelevins Erzählung Prince of Gosplan (im Original: ɉɪɢɧɰ Ƚɨɫɩɥɚɧɚ), die erstmals 1994 veröffentlicht wurde4. Dass sich hier metaleptische Strukturen finden, ist wenig überraschend, gilt Pelevin doch als wichtiger Vertreter der russischen Literatur der Postmoderne. Bereits der Titel der Erzählung fügt sich in dieses Bild: Er ist pures Pastiche. Gosplan ist die abgekürzte Bezeichnung für das Komitee für Wirtschaftsplanung der Sowjetunion – jene Einrichtung, die unter anderem für die Erstellung der FünfJahres-Pläne verantwortlich war. Insofern steht der Begriff nicht lediglich für eine Institution, sondern sinnbildlich für die Gigantomanie des gesamten sowjetischen Staatsapparates. Die zweite Hälfte des Titels dagegen hat ihren Ursprung in einem Computerspiel: Jordan Mechners Prince of Persia (1989)5. Auch das Wort Persien ist mehr als eine bloße geografische Verortung. Es impliziert eine Nähe zu einem bestimmten Kulturkreis und dessen narrativer Tradition, die in der Handlung des Spiels tatsächlich manifest wird: Im Zentrum steht ein machtgieriger Wesir, der die Prinzessin heiraten will und deshalb ihren Geliebten in
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Eine deutsche Übersetzung, die im Rahmen einer studentischen Arbeitsgruppe am Institut für Slawistik der Universität Innsbruck entstand, existiert zwar (vgl. Pelevin 2000). Aus verschiedenen Gründen – u.a. dem, dass der Titel intakt gehalten wurde – wird hier aber der englischen Übersetzung der Vorzug gegeben.
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Prince of Persia legte den Grundstein für ein Franchise, das mittlerweile um eine Unzahl von Portierungen, Sequels, Remakes, Spin-offs und Tie-in-Produkten angewachsen ist, darunter der Disney-Kinofilm, Prince of Persia: The Sands of Time (USA 2010, Regie: Mike Newell), dessen Drehbuch Mechner verfasst hat.
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ein dunkles Verlies wirft. Der Spieler hat in der Rolle dieses Gefangenen die Aufgabe, zu entkommen und den Wesir aufzuhalten, bevor es zu der unheilvollen Hochzeit kommen kann. Sowjet-Bürokratie hier, 1001 Nacht dort – die Welten, die der Titel Prince of Gosplan in sich birgt, könnten kaum disparater sein. Hier wird die Metalepse, gebrochen durch das Prisma des Computerspiels, für Pelevin zu einem Kunstgriff, mit dem er den Zusammenschluss der beiden Ebenen gegen alle Widerstände erzwingen kann. Ein kurzer Ausschnitt soll dies zeigen: »On the landing one floor below, two men dressed in identical overalls of fine English wool were smoking: each of them had a gold wrench sticking out of his breast pocket. Listening to their conversation, Sacha realized that they were from the game Pipes. Sacha had seen the game, he’d even gone to install it on some deputy minister’s hard disk, but he didn’t like […] the fact that up in the top left corner it had an image of a loathsomelooking plumber who began laughing every time one of the pipes burst. These two, however, seemed to be seriously involved.« (Pelevin 1998: 164)
Die Grenze zwischen den diegetischen Ebenen ist hier komplett durchlässig: Es wird kein Unterschied gemacht zwischen den Klempnern, die Teil des Computerspiels sind, und jenen, die Teil der Welt sind, in der Computerspiele auf einem Rechner installiert werden können. Dies ist die zentrale literarische Strategie in Pelevins Text: Er überblendet den Überlebenskampf des Avatars im persischen Kerker mit den existentiellen Nöten eines Lebens innerhalb der monströsen bürokratischen Maschinerie, die ihre letzten Tage erlebt. Sacha, der Protagonist der Geschichte, ist ein simpler Informatiker, ein Niemand in der bürokratischen Hierarchie – und er ist zugleich der Prinz, der allen Widerständen zum Trotz voranschreitet zu einem diffusen Ziel. Sacha und der Prinz sind ein und dieselbe Person, gefangen im Hier-wie-dort und Weder-hier-noch-dort zweier spiegelbildlicher Welten, die sich in der Metalepse wechselseitig durchdringen. An einer Stelle der Erzählung überlegt Sacha: »What will I be doing here a year from now? They may be very stupid, but they see everything – and they understand everything. And they never forgive anything. What a chameleon you have to be to work here.« (Pelevin 1998: 164)
Der Protagonist spricht hier von sich selbst in beiden Identitäten zugleich, und damit auch über Gosplan und das Computerspiel: Beide sind in Pelevins Erzählung repressive Systeme, in beiden Fällen ist eine Person der totalen Überwachung und Kontrolle durch eine höhere Autorität ausgeliefert. Insofern erlaubt es
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die Metalepse als Reflexion des heterotopischen Dispositivs, das Sowjet-System im Computerspiel zu spiegeln – und umgekehrt. Das zweite Beispiel ist simpler konstruiert, aber nicht minder illustrativ. Es ist Lucky Wander Boy entnommen, dem bislang einzigen Roman des USamerikanischen Autors und Drehbuchschreibers Daniel B. Weiss. Der Erzähler in Weiss’ Roman wirkt, ähnlich wie Sasha im Prince of Gosplan, wie eine Verkörperung eines Spieler-Stereotyps: Er ist männlich, jung, gebildet und steht am Anfang einer wenig versprechenden Karrierelaufbahn. Die existentielle Leere des eigenen Lebens füllt er mit einer Obsession, die einem (fiktiven) alten Arcade-Spiel namens Lucky Wander Boy gilt. Diesem werden geradezu mystische Qualitäten angedichtet; insbesondere soll es darin ein geheimes drittes Level geben, das ein besonderes Objekt birgt: Es ist (bezeichnender Weise) ein Spiegel, in dem der Spieler in grobpixeliger Grafik sein eigenes Gesicht repräsentiert sieht. Das Level selbst soll den Gerüchten zufolge sein Aussehen verändern, indem es sich den Vorstellungen und Wünschen des Spielers anpasst. Nachdem das Leben des Erzählers im Lauf des Romans immer mehr an Stabilität eingebüßt hat, gelangt er schließlich an das Ziel seiner manischen Suche: Er findet eine jener mythischen Lucky Wander Boy-Maschinen, beginnt zu spielen, und … ist gefangen. Da er seiner Obsession mit dem Spiel nicht entgehen kann, zeigt ihm das Spiel nichts als seine Obsession: Der Erzähler verschwindet in einer Abwärtsspirale aus Metalepsen und Spiegelbildern. Hier sollen nur zwei ihrer Umdrehungen zitiert werden; die Passage ist allerdings im Original deutlich länger: »They even had a Lucky Wander Boy machine, enshrined in its very own corner. There was nothing I’d rather play. […] And in the mirror I saw my face And then I stepped through the mirror into Stage III And time stopped And I was in the picture And I knew where I was immediately. Peacock Palace, a new order of beauty higher than the last, a refinement of a refinement And my mother, and my father And my grandparents And my friends […] And the Lucky Wander Boy Machine, enshrined in its very own dark corner. There was nothing I’d rather do.
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Everyone gathered around as I stepped to it, and reached into my pocket for an infinite number of quarters, and dropped the coin in the slot and played through the stages until the mirror floated from my Lucky’s pocket, and I ran towards it as the desert rose up around me Mirror. Face. Stage III. In the picture. Peacock Palace. Mother. Father. Grandparents. Other people, ghosts like me. […] … the Lucky Wander Boy machine, enshrined in its very own dark corner, a corner so dark it refused to spit out a single shard of light. I could not think of a single better thing to do, a single better place to be, than right in front of that machine.« (Weiss 2003: 269ff.)
Natürlich ist dies eine nicht sonderlich subtile Metapher für die Risiken und Gefahren, die gemeinhin mit dem Computerspiel assoziiert werden. Man kann, um zu einem Schlusswort zu kommen, aber nicht umhin, darin auch eine poetologische Absichtserklärung zu lesen: Die Literatur kann den heterotopischen Raum des Computerspiels nie reproduzieren – der Leser bleibt stets außerhalb der Diegese, in die er nicht eingreifen kann. In dieser Situation dient die Metalepse als Spiegel, der dem Spiegel vorgehalten wird: Die Literatur kann uns nicht in die Welt hinter dem Spiegel treten lassen. Sie kann uns aber jemanden zeigen, der dies an unserer Stelle tut. Und indem wir jemanden betrachten, der sich selbst im Spiegel betrachtet, sehen wir uns selbst, und mit uns den Spiegel und die Welt, die in ihm reflektiert wird … Spiegel im Spiegel im Spiegel: eine Versenkung, die nicht zwingend in den Wahnsinn und die Unendlichkeit führt wie in Lucky Wander Boy, sondern unter Umständen auch zur (Selbst-)Reflexion im vollen Sinn des Wortes.
L ITERATUR Aarseth, Espen, »Allegories of Space: The Question of Spatiality in Computer Games«, in: Markku Eskelinen/Raine Koskimaa (Hg.), CyberText Yearbook 2000, Jyvaskyla: Research Centre for Contemporary Culture 2001, S. 152-171. Aarseth, Espen, Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1997. Böhme, Gernot, »Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München: Fink 2004, S. 129-140.
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Der Schrecken anderer Räume Zum literarischen Ausnahmezustand des Spukhauses A RNO M ETELING
1. D ER
GESPENSTISCHE
R AUM
Spätestens seit dem Schauerroman des 18. Jahrhunderts ist das Auftreten eines Gespenstes in der Literatur auffällig an einen räumlich begrenzten Ort, meistens an ein Gebäude, gekoppelt. Der Spuk hat also eine diskrete Adresse. Abseits nichtfiktionaler Gespenstersichtungen in meist touristisch erschlossenen Geisterschlössern und haunted houses folgen auch populäre Gespenstergeschichten wie Henry James‘ The Turn of the Screw (1898), Shirley Jacksons The Haunting of Hill House (1959), Richard Mathesons Hell House (1971) und Stephen Kings The Shining (1977) dem Primat der räumlichen Limitierung des Spuks (vgl. Peeren/Pilar Blanco 2010). Der diegetische Grund für diese Fixierung liegt im Ursprung des Gespenstischen. So nennt Gero von Wilpert sechs Begründungen für das literarische Gespensterereignis: Dies sind die Art des Todes, die Art der Bestattung, die Schuld der Nachwelt gegenüber dem Toten, die Schuld des Toten gegenüber der Nachwelt, der Charakter des Todes und das Motiv der Rache (vgl. Wilpert 1994: 11f.). Ein hochkonzentriertes Beispiel dafür ist Heinrich von Kleists kurze Erzählung Das Bettelweib von Locarno (1810). Das Spukzimmer im Schloss ist nicht nur der Ort, wo die alte Bettlerin zu Tode kommt, sondern es ist ebenso der Ort der Schuld, dort, wo der Schlossbesitzer, der italienische Marchese, die Alte hinter einen Ofen scheucht, woraufhin sie stürzt und qualvoll verstirbt, um einige Jahre später zur Geisterstunde als – akustischer – Spuk zurückzukehren. Was aber macht das Spukhaus als Raum interessant? Was kennzeichnet diesen als Heterotopie und damit als einen Ort, der im Sinne Michel Foucaults die Epistemologien und Machtstrukturen einer Kultur darzustellen und auf diese Weise, so könnte man hinzufügen, einen Verdichtungs- wie Reflexionsraum die-
624 | Arno Meteling
ser Strukturen herzustellen vermag, um auf mögliche alternative Strukturen zu verweisen (Foucault 1992)? Entscheidend ist zunächst die Existenz des Spukhauses als Nicht-Ort – nicht als kontrafaktische Utopie und nicht allein im Sinne des Monofunktionalen oder Ephemeren, das den Nicht-Ort bei Marc Augé (1994) oder Michel de Certeau (1988) charakterisiert. Das Spukhaus existiert und verbleibt ausschließlich im Imaginären. Zwar ist kein Haus in der Literatur real, aber das Spukhaus weist durch die Unmöglichkeit des Gespenstischen auf seine Zugehörigkeit zum Wunderbaren und damit auf seinen metafiktionalen Status hin. Themen sind deshalb die Grenze, die Liminalität und das Oszillieren – zum Beispiel zwischen Leben und Tod oder zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Als Element phantastischer Literatur lässt das Spukhaus allerdings keine Diskussion bezüglich seiner Referenzialität zu. Wer an Spukhäuser glaubt, muss sich Immanuel Kants Verdikt über Emanuel von Swedenborg in den Träumen eines Geistersehers (1765) gefallen lassen: nämlich ein »Erzphantast unter allen Phantasten« (Kant 1977: 966) zu sein sowie »Unsinn« (ebd.: 973) und »Hirngespinste« (ebd.: 980) zu verbreiten. Dem Spukhaus lässt sich demzufolge nur mit einer Wissenschaft des Imaginären beikommen. So hat bislang auch die Psychoanalyse – und hier besonders Sigmund Freuds Aufsatz über das Unheimliche (1919) – den Königsweg für die Interpretation von Gespenstergeschichten bereitgestellt. Ein Hauptzugang ist dabei die Psychoetymologie des »Heimlich-Unheimlichen«, ein Konzept, das den Ort des Heims, des heimeligen wie heimischen Hauses, als Raum des Unheimlichen und damit Gespenstischen im Sinne auch einer Wiederkehr des Verdrängten – oder eben: eines zuvor Enträumlichten – etabliert. Psychischer und literarischer Raum werden auf diese Weise im Bereich des Symbolischen, der Sprache, zu Spiegelfiguren. Freud weist nicht zuletzt darauf hin, dass der moderne Sprachgebrauch in manchen Sprachen den Begriff »ein unheimliches Haus« gar nicht anders wiedergeben könnten, als durch die Umschreibung »ein Haus, in dem es spukt« (Freud 1993: 161).
2. D IE A RCHITEKTUR DER (H ORACE W ALPOLE )
GOTHIC NOVEL
Die paradigmatische literarische Umsetzung eines Spuks, der an ein Gebäude gekoppelt ist, findet sich in der Gattung der gothic novel. Neben Figuren und Narrativen wie Gespenstern, Familienflüchen, damsels in distress und überlebensgroßen Bösewichten zeichnet den Schauerroman vor allem das Setting aus. Die Figuren bewegen sich in Spukhäusern, Geisterschlössern, düsteren Gewöl-
Der Schrecken anderer Räume
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ben, unterirdischen Gängen oder Grüften, auf Friedhöfen oder Dachböden (vgl. Praz 1994; Bernauer 2008). Die Herausgeber des Sammelbandes The New Gothic verweisen allerdings nicht allein auf die Bedeutung der Architektur, sondern ebenso auf das literarische Interieur: »In ihren Anfängen erkannte man ›the gothic‹ an den Requisiten und Kulissen, die es verwendete, an seinem Mobiliar. Dunkle Wälder und vor Feuchtigkeit triefende Keller, Klosterruinen voller geheimer Gänge, klirrende Ketten, Skelette, Gewitter und Mondlicht – aus diesen Materialien schufen die ersten Autoren des Genres ihre Erzählungen.« (McGrath/Bradford 1992: 9)
Der Raum der gothic novel spielt dabei eine doppelte Rolle: Erstens spiegeln die düsteren, verfallenen und labyrinthischen Räume die Seelenlage der Figuren. Ein wirkungsmächtiges Beispiel dafür ist im 19. Jahrhundert Edgar Allan Poes Erzählung The Fall of the House of Usher (1839), die von der metonymischen Verbindung zwischen Hauptfigur und Gebäude berichtet (vgl. Ressmeyer 1980). Roderick Ushers fragiler Geist reflektiert den prekären Zustand des Hauses, an dem von Beginn an ein Riss diagnostiziert wird, und umgekehrt. Zum Schluss brechen bekanntlich beide zusammen1. Zweitens gewinnt der Raum der gothic novel mitunter selbst an – gespenstischer – Handlungsmacht, tritt als Akteur auf und wird zumindest in Teilen anthropomorph. Diese Matrix ist schon in der ersten gothic novel, Horace Walpoles The Castle of Otranto (1764), zu finden. Der Roman handelt von dem Tyrannen Manfred, der, nachdem sein Sohn Conrad von dem Helm einer riesigen Rüstung erschlagen wird, dessen Braut Isabella nachstellt, um die Erblinie der Familie zu erhalten. Isabella kann mit Hilfe von Theodore, eines anderen Gefangenen, durch unterirdische Gänge erst in die Schlosskapelle und dann in eine Waldhöhle fliehen. Einige Verwechslungen und Spukerscheinungen später ersticht Manfred versehentlich seine Tochter Matilda, und Theodore, der sich als der wahre Erbe von Otranto herausstellt, heiratet Isabella. Soweit die Familienverhältnisse. Dem Handeln des Bösewichts Manfred und auch dem Auftauchen der Gespenster im
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Ein Jahrhundert später kippt das Verhältnis zwischen Psyche und Raum noch weiter. So muss in Daphne du Mauriers nichtphantastischem Schauerroman Rebecca (1938) der Landsitz Manderley als Konsequenz psychischer Probleme am Ende in Flammen aufgehen. Das Gespenst der verstorbenen ersten Frau Rebecca de Winter wird dabei nachdrücklich zur Projektion der namenlosen Heldin und Erzählerin erklärt – befördert durch deren Unsicherheit, die Boshaftigkeit der Haushälterin Mrs. Danvers und durch die Atmosphäre des Hauses, das als drohendes Monument der Erinnerung fungiert.
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Roman liegt dabei eine alte Prophezeiung zugrunde, die den Untergang der Familie Manfreds ankündigt, wenn, so heißt es, der wahre Besitzer von Otranto zu groß geworden sei. Auffällig bindet diese Prophezeiung den drohenden familiärdynastischen Untergang an den Untergang des Schlosses Otranto, denn seine Auflösung findet der Roman tatsächlich in dem Zusammenbrechen des Gebäudes unter der ins Riesenhafte wachsenden Statue der Schlosskapelle. Diese stellt den Ritter Alfonso dar, dem einst das Schloss von Manfreds Großvater geraubt wurde. Welche Bedeutung das Geisterschloss für den Roman hat, wird schon vor Beginn der Geschichte deutlich. So schickt Walpole in der ersten Auflage dem Text folgendes Vorwort voraus: »Though the machinery is invention, and the names of the actors imaginary, I cannot but believe that the ground-work of the story is founded on truth. The scene is undoubtedly laid in some real castle. The author seems frequently, without design, to describe particular parts. The chamber, says he, on the right-hand; the door on the left-hand; the distance from the chapel to Conrad’s apartment: these and other passages are strong presumptions that the author had some certain building in his eye.« (Walpole 2001: 7)
Walpole setzt also, trotz der Schilderung zahlreicher übernatürlicher Ereignisse, bezüglich eines Aspekts auf Authentizität und zwar hinsichtlich des Titel gebenden Schlosses. Nicht nur – so Walpole in seiner Herausgeberfiktion – habe der Autor ein ganz bestimmtes Gebäude im Blick gehabt, sondern, wie der Satz in kursiv zeigt, kann der Leser den Figuren auch bei aller obscuritas und labyrinthischen Qualität des Schlosses gut folgen und das Gebäude beinahe grundrisshaft visualisieren. Weiterhin sind es stets dunkle unterirdische Räume wie die Gänge, die Höhle im Wald und vor allem die Schlosskapelle, die entscheidende Stellen oder Wendungen im Text markieren, Momente der Aufklärung und der anagnorisis, aber mehr noch Momente der tödlichen Verwechslung und des Einschlusses. Während Isabella beispielsweise vor Manfred zu fliehen sucht, landet sie unweigerlich in den Gewölben, »as she recollected a subterraneous passage which led from the vaults of the castle to the church of saint Nicholas« (ebd.: 61). Das Schloss selbst wird als »long labyrinth of darkness« (ebd.) beschrieben, in dem »now and then some blasts of wind […] shook the doors she had passed, and which grating on the rusty hinges were re-echoed« (ebd.). Die ›Handlungsmacht‹ von Otranto zeigt sich allerdings noch direkter: So beginnt der Roman mit einem riesenhaften Rittergespenst und endet mit dem zerstörerischen Riesenwachstum der Ritterstatue Alfonsos. Eine dritte Inkarnation der gespenstischen Macht des Schlosses hat dann auch theoretisch Karriere gemacht:
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»The spectre marched […] to the end of the gallery and turned into a chamber on the right hand. Manfred accompanied him at a little distance, full of anxiety and horror, but resolved. As he would have entered the chamber, the door was clapped-to with violence by an invisible hand.« (Walpole 2001: 25)
Ganz wie in Adam Smiths bekanntem ökonomischem Konzept fungiert hier neben dem als »spectre« benannten Gespenst noch eine unsichtbare Hand als korrigierende und buchstäblich manipulative Extension des Schlosses, um die Prophezeiung aus der Vergangenheit zu erfüllen (vgl. Andriopoulos 1999; Ellrich/ Maye/Meteling 2009).
3. D IE H ANDLUNGSMACHT (S HIRLEY J ACKSON )
IM
G ESPENSTERROMAN
Moderne Gespenstergeschichten tradieren die Korrespondenz von Figur, Gespenst und Gebäude, welche die gothic novel vorgibt, und beschreiben das Spukhaus dabei getreu der etablierten psychoanalytischen Vorstellungen als Speicher verdrängter Erinnerungen, meistens traumatischer und/oder schuldbehafteter Art. Die Verfahrensweisen verändern sich dabei nur wenig. Es gelten weiterhin das Reflexionsverhältnis von Figur und Raum, die Evokation einer düster gotischen Atmosphäre und die Anthropomorphisierung des Gebäudes – bis hin zur Ausbildung gespenstischer Extremitäten wie der invisible hand. Das bekannteste Beispiel dieser Figurationen findet sich in Shirley Jacksons Roman The Haunting of Hill House (1959). Verkürzt geht es um eine Forschergruppe, die dem Spuk des achtzigjährigen Hill House auf den Grund gehen möchte. Die Gruppe besteht aus dem Wissenschaftler Dr. John Montague, Theodora, einer parapsychisch Begabten, Luke Sanderson, dem Erben des Hauses, und Eleanor Vance, der Haupt- und Reflektorfigur des Romans, die nach und nach von dem Haus besessen wird. Wie in Castle of Otranto wird auch hier immer wieder auf die labyrinthische Architektur des Hauses verwiesen. Der ehemalige Besitzer, so wird erklärt, hat es selbst gebaut und, so Montague, »[…]every angle is slightly wrong. Hugh Crain must have detested other people and their sensible squared-away houses, because he made his house to suit his mind. Angles which you assume are the right angles you are accustomed to, and have every right to expect are true, are actually a fraction of a degree off in one direction or another.« (Jackson 2006: 77)
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Die Exzentrizität der Räumlichkeiten spiegelt also die des Bauherren und erweist sich im Verlauf der Geschichte als Infrastruktur eines anthropomorphisierten und eigenmächtig handelnden Hauses, das schon am Ende des ersten Kapitels so charakterisiert wird: »Hill House is vile, it is diseases; get away from here at once« (ebd.: 23). Auch die ersten Sätze des Romans stimmen darauf ein: »Hill House, not sane, stood by itself against its hills, holding darkness within; it had stood so for eighty years and might stand for eighty more« (ebd.: 1). Wie Otranto erschafft auch Hill House eine unsichtbare Hand und damit einen direkten Kontakt zwischen Figur und Gebäude: »Now, Eleanor thought, perceiving that she was lying sideways on the bed in the black darkness, holding with both hands to Theodora’s hand, holding so tight she could feel the fine bones of Theodora’s fingers« (ebd.: 120). Dies geschieht während einer beängstigenden Nacht voller Spukgeräusche, in der Eleanor glaubt, ihre Zimmergenossin Theodora liege bei ihr im Bett. Als aber das Licht angeht, sieht sie Theodora aufrecht in ihrem eigenen Bett sitzen. Das Kapitel schließt mit Eleanors erschreckender Erkenntnis: »God, God, Eleanor said, flinging herself out of bed and across the room to stand shuddering in a corner, ›God God – whose hand was I holding?‹« (ebd.). Zu der metaphorischen Spiegelung von Angst und Wahnsinn der Figuren durch den Raum kommt also noch die metonymische dazu: nämlich die Verdichtung des Raums zur eigenständig und buchstäblich handelnden Identität, zum Akteur.
4. M NEMOTECHNIK Der Ort des Spuks kann häufig als Sekundäreffekt temporaler Verdichtung oder Verschränkung, mithin einer Heterochronie gelesen werden, denn das Gespenst ist wesentlich durch seine Existenz nach dem Tod und damit als Hinweis auf ein vergangenes Leben bestimmt. Dass Gespenster sich dann nicht mehr verändern, sondern immer wieder dasselbe Bild oder dieselbe Szene abrufen, lässt sie bekanntlich auch unter dieselbe Definition fallen wie technische Speichermedien. Gespenster wie Medien leisten Gedächtnisarbeit und referieren – vergleichbar dem Trauma oder der Krypta in der Psychoanalyse – auf eine nicht mehr zu verändernde Vergangenheit; sie rufen mechanisch etwas Gespeichertes auf, das immer und unverändert wiederholt wird (vgl. Derrida 1979). Dass dieses Gedächtnis räumlich gefasst wird, verbindet das Gespenstische in The Castle of Otranto und The Haunting of Hill House. Neben einer Assemblage von Figur und Raum, die als Psychoarchitektur begriffen werden kann, und neben der Handlungsmacht des Räumlichen selbst, wird diese Figuration in vielen Punkten
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von der Vorstellung antiker und mittelalterlicher Mnemotechnik oder ars memoria präfiguriert. Das Modell entspricht dabei einer Vorstellung vom Gedächtnis, wie es bis in die moderne Literatur verfolgt wird. Ein Beispiel dafür findet sich im ersten Gespräch zwischen Dr. Watson und Sherlock Holmes im ersten Holmes-Roman A Study in Scarlet (1887). Hier beschreibt der Detektiv, dessen Allgemeinbildung bekanntlich eklatante Lücken aufweist, das Gehirn folgendermaßen: »›You see‹, he explained, ›I consider that a man’s brain originally is like a little empty attic, and you have to stock it with such furniture as you choose‹« (Doyle 1992: 11). Eine der wichtigsten Methoden der Mnemotechnik wird seit der Frühen Neuzeit als »Gedächtnispalast« oder »Gedächtnistheater« bezeichnet. Dieses Gedankengebäude organisiert das Gedächtnis dadurch, dass Bilder der Erinnerungen, die imagines, in separaten Lagerräumen gespeichert werden, so dass den mentalen Bildern diskrete Adressen, die loci, zugeordnet werden. Um Fakten abzurufen, geht der Mnemotechniker durch die Räume des imaginären Schlosses oder Theaters. Hergestellt werden die Räume also durch die Platzierung der Erinnerungen. Erst die Signifikation erschafft den Ort (vgl. Yates 1966). Mnemotechnik fungiert aber nicht nur als Erinnerungshilfe, sondern sie bringt auch Ordnung und damit Sinn in die Welt. Als von entscheidender Bedeutung für die Idee von Gespenst und Spukhaus kann deshalb die mythische Urszene der Mnemotechnik gelten – nämlich die des Dichters und Rhetors Simonides von Keos (556-468 v. Chr.), wie sie in Ciceros De oratore (55 v. Chr.) und später in Quintilians Institutio oratoria (95 n. Chr.) erzählt wird: Nachdem die Decke eines Bankettsaales während eines Festmahls, zu das Simonides eingeladen war, eingebrochen ist und der Dichter allein der Katastrophe entkommen konnte, ist er fähig, jeden einzelnen Toten unter den Trümmern zu identifizieren – und zwar anhand des Ortes, an dem der oder die Feiernde am Banketttisch gesessen hat. Man kann also schließen, dass der Ursprung von Mnemotechnik nicht nur die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, sondern auch die Zeit mit dem Raum. Überdies restatuiert Simonides durch seine Gedächtnisleistung Ordnung und Sinn der Welt. Denn die Leichen unter den Trümmern des Dachs wurden in nicht identifizierbares Chaos verwandelt, und erst durch die Erinnerung an ihre Sitzplätze, also durch den lokalisierenden Akt der zuweisenden Signifikation, kann ihre Identität ausfindig gemacht werden. Zuletzt zeigt diese Anekdote auch, dass vom Beginn der Mnemotechnik an diese mit dem Aspekt des Todes verbunden ist.
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5. D IE M EDIEN
DES
S PIRITISMUS (G EORG K LEIN )
Ein Beispiel dafür, wie die Gespenster in der Gegenwartsliteratur einerseits dem Modell der Mnemotechnik folgen und andererseits von der räumlichen Begrenzung des Spukhauses in die ephemeren Nicht- und Gedächtnis-Orte der technischen Medien wandern, ist Georg Kleins Erzählung Unsere lieben Toten. Ein spiritistischer Versuch (2003). Klein ist bekannt für die Emulation literarischer Trivialgenres2. Man könnte deshalb zunächst vermuten, dass er sich mit dieser Erzählung der Gespenstergeschichte annimmt. Betrachtet man allerdings den Einsatz der Medien in Unsere lieben Toten, erkennt man schnell, dass die neue Welle an Gespensterfilmen um 2000 die Folie dieses Textes bildet. Es handelt sich vornehmlich um japanische Filme, die das Gespensterthema häufig an technische Medien koppeln. Populäre Beispiele sind Takashi Shimizus Ju-on-Reihe (The Grudge) (1998-2009) und Kiyoshi Kurosawas Kaïro (Pulse) (2001). Das erfolgreichste Format ist allerdings das transmediale Ringu-Narrativ (The Ring) mit Kǀji Suzukis Roman (1991) und seinen Fortsetzungen: einer MangaUmsetzung, einer japanischen Verfilmung (1998) von Hideo Nakata mit ihrerseits drei Fortsetzungen, einem koreanischen Remake, einer japanischen Fernsehserie und zwei Hollywoodverfilmungen (vgl. Meikle 2005; Meteling 2006; Bickenbach 2009)3.
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Sein erster Roman Libidissi (1998) adaptiert den Agenten- oder Spionagethriller, während Barbar Rosa (2001) die »Detektivgeschichte« noch im Untertitel trägt. Der Roman Die Sonne scheint uns (2004) weist alle Merkmale eines Horror-Romans auf.
3
In drei Punkten weicht Ringu dabei von dem konventionellen Modell der Gespenstergeschichte ab: Erstens wird der Rachegeist nicht durch die detektivische Aufdeckung des Schuldkomplexes und das Auffinden der Leiche erlöst. Zweitens ist er auf einem Videoband gebannt, weshalb er drittens kopiert und weitergereicht werden kann. Die Methode, sich vor dem mordenden Rachegeist zu schützen, besteht sogar darin, der Medienlogik technischer Reproduzierbarkeit zu folgen. Man stirbt nämlich nicht, wenn man eine Kopie des Videos weitergegeben hat. Eine Szene, die im Roman nicht auftaucht, aber die Verfilmung von Nakata zu einem globalen Erfolg hat werden lassen, leistet allerdings eine deutliche Rückbindung an den Aspekt des HäuslichUnheimlichen in Freuds psychoetymologischen Ausführungen. Denn der Grund dafür, dass die Menschen aus Angst sterben, ist die Tatsache, dass der Geist nicht nur den heimischen Fernseher und damit das eigene Wohnzimmer heimsucht, sondern dass dieser dann unaufhaltsam dem Fernsehbildschirm entsteigt und auf den Fernsehzuschauer zugeht.
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Kleins Erzählung nun verschiebt in der Literaturgeschichte des Gespenstes zunächst auffällig die Perspektive und berichtet aus dem Fokus eines Verstorbenen heraus. Zu Beginn sieht dieser, wie seine Leiche in einem Krankenhaus liegt. Sein sogenannter »Totenblick« bemerkt dann, wie es heißt, seinen neuen »Totenkörper«. Dieser wird als farblose Hülle beschrieben und als etwas, das überdies sofort in den Referenzrahmen des Mediums Film übernommen wird: »In älteren Hollywood-Filmen, in Schwarzweißproduktionen aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wurden die Toten so dargestellt, wie Sie jetzt aussehen: fast wie im Leben, die normale Statur, komplett bekleidet, allerdings farblos, in fein abgestuften Grautönen schimmernd, als wäre Ihre Totengestalt durch einen weichzeichnenden Filter gelaufen. Und so gilt Ihr erstes Staunen im anderen Zustand der Erkenntnis, wie gut die amerikanische Unterhaltungsindustrie damals, mitten im Zweiten Weltkrieg, die Wirklichkeit der Toten getroffen hat.« (Klein 2003: 107)
Erzählt wird die Geschichte in der zweiten Person Singular. Angesprochen wird der fokalisierte Verstorbene, dem mitgeteilt wird, welche Veränderungen ihn erwarten. Dazu gehört, dass, obwohl der Tote immer noch hören kann, alles für ihn – hier folgt eine weitere Filmreferenz – wie der »Soundtrack des Totseins« (ebd.: 108) klingt. Den Geist treiben unsichtbare Mächte dann wie selbstverständlich in die Abteilung für Unterhaltungselektronik des nächsten KarstadtKaufhauses. Merkwürdig genug, ist der Tote allerdings nicht mehr fähig, die Bilder der in der Abteilung laufenden Fernsehgeräte zu erkennen. Stattdessen sieht er, während er vor einer Wand aus Fernsehgeräten steht, etwas Weißes aus ihnen quellen, eine Art, wie es heißt, »elektronische« (ebd.: 115) »mediale[…] Milch« (ebd.: 109). In dem Kaufhaus trifft der Jüngstverstorbene auf einen anderen Toten. Dieser Mann ist der berühmte deutsche Boxer Gustav ›Bubi‹ Scholz (1930-2000). Scholz warnt vor allem vor »Gertraud der Grausamen«, einer pensionierten Geschichtslehrerin und passionierten Radiospiritistin, die versucht, ihren toten Bruder mittels »schlitzäugiger Technologie«, namentlich einem Langwellenradio der Firma Sony, zu kontaktieren, etwas, das wiederum auf die Folie japanischer Gespensterfilme verweist: »Gertraud ist ein großes Medium. In der radiophonen Mnemotechnik macht ihr keiner etwas vor« (ebd.: 112). Er stellt also explizit eine Verbindung zwischen dem Spiritismus, der Beschwörung von Geistern, der antiken Gedächtnistechnik und den neuen Medien her. Man könnte daraus schließen, dass aus der kommunikationskritischen Perspektive eines Gespenstes der Spiritismus nichts anderes als Gedächtnisarbeit ist, und als der wichtigste Aspekt im Nachleben erweisen sich denn auch die sogenannten »Mnemotonen«.
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Dies sind die Partikel der elektronischen Milch, die aus den Fernsehern quillt und die Nahrung für die Toten bildet, indem sie diese davor bewahrt, »Flockenwirbel im magnetischen Schneesturm des Vergessens« (ebd.: 117) zu werden. Solange sich Menschen also an die Toten erinnern, so die medienkritische Logik der Erzählung, so lange verbleiben sie in ihrer schwarzweißen filmischen Geisterexistenz. Im Gegensatz zur gothic novel sind diese Geister also frei zu gehen, wohin sie möchten – de facto hängen sie aber an den Medien und müssen in der Nähe von Zeitungen, Radios, Telefonen oder Fernsehgeräten sein, um Mnemotonen aufzunehmen. Die Gespenster, so lässt sich folgern, bestehen aus kondensierter Erinnerung, und die letzte Stufe der toten Existenz ist die Transformation in Weißes Rauschen, der entropischen Auflösung jeder Information. Was ist also das Leben nach dem Tode im Sinne Kleins? Es ist eine Medienexistenz, die von Aufmerksamkeit und Erinnerung diktiert wird. Wenn sich niemand mehr an den Toten erinnert, löst dieser sich auf. Dieses Ende wird vom Erzähler allerdings ambivalent betrachtet. Denn die Erlösung liegt nicht in der Erinnerung mit ihrem mnemotechnischen Supplement technischer Medien, sondern im Gegenteil in der Vergessenheit, die allein durch die Zerstörung der Medien gewährleistet werden kann. Spiritistische Praktiken dienen deshalb bestenfalls als Erinnerungs- mithin Trauerarbeit der Lebenden.
6. D ER S CHRECKEN
DER
T ROPOLOGIE
Abseits psychologischer Angstlust-Theorien (Balint 1999) und wirkungsästhetischen Modellen zu phobos und eleos, dem Jammern und Schaudern in der Poetik Aristoteles‘ (ca. 335 v. Chr.) oder in Lessings Hamburgischer Dramaturgie (17671769), gibt es ein duales Wirkungsmodell von Gespenstergeschichte und Schauerroman, das eine poetologische Aussage hinsichtlich des Verhältnisses von »Struktur« und »Ereignis« (vgl. Kremer 1992) in einem literarischen Text tätigt: In ihrem Essay On the Supernatural in Poetry (1826) differenziert Ann Radcliffe zwischen den literarischen Ängsten des »Horrors« und des »Terrors« (Radcliffe 1826; vgl. Miller 1968: 641-668). »Horror« definiert sie als den Schrecken und die Abscheu nach einem Ereignis. Er bezieht sich auf einen schockhaften Affekt, der sich mit Gefühlen des Ekels und der Abstoßung mischt. Beispiele dafür sind die Darstellung von Gewalt oder Grausamkeit. »Terror« hingegen ist nach Radcliffe die gespannte Angst, welche vor dem schrecklichen Ereignis herrscht und damit also von der Struktur zehrt – dem suspense bei Alfred Hitchcock nicht ganz unähnlich. Wertend bestimmt Radcliffe die Effekte von Terror als Erweiterung der Seele, während der Horror diese lähmt. Der Terror des Unsichtbaren ist
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für sie überdies das stärkere Motiv. Das bedeutet, wenn nicht die Sichtbarkeit des Gespenstes Angst oder Spannung erzeugen, sondern der Raum oder die Situation, dann wirken diese zwar subtiler, aber dafür nachhaltiger. Nachvollziehbar wird diese Definition besonders, wenn man die Implementierung technischer Medien in eine Gespenstergeschichte beobachtet. Denn die neuen Medien sorgen im Gegensatz zum räumlich definierten Spukhaus dafür, dass die Gespenster erstens überall sein können und dass sie zweitens auch den Gedanken nahelegen, sie könnten unbemerkt in unser Haus, in unser Heim, eindringen – mittels unsichtbarer Kanäle wie Radio, Telefon, Fernseher oder Heimcomputer (vgl. Meteling 2006). Nach Paul de Mans Lektüre der Kritik der Urteilskraft (1790) von Immanuel Kant kennt das Erhabene »keine Grenzen oder Begrenzungen, und doch muss es als bestimmte Totalität erscheinen«: »Auf philosophischer Ebene ist es so etwas wie ein Monstrum oder, besser, ein Gespenst […]« (de Man 1993: 14). Auf die Literatur übertragen, wird das Unvermögen, erhabene Größe zu erfassen, von einer Stelle markiert, die »sich als Wechsel von einem tropologischen Sprachmodus in einen anderen bestimmen lässt« (ebd.: 36). Literatur entkommt also ihren Tropen, ihrer Figuralität, nicht. Das Erhabene in der Literatur ist nach de Mans Kant-Lektüre deshalb letztlich in ihrer Materialität zu finden, in der Unerfassbarkeit langer und komplizierter Texte, zum Beispiel in der Sprachzergliederung bei Heinrich von Kleist oder auch, so die Pointe, in der Kritik der Urteilskraft. Für die Gespenstergeschichte lässt sich in dieser Hinsicht ein topologischtropologisches Gattungsmodell in Betracht ziehen, das man »rhetorische Latenz« nennen könnte, und zwar in dem Sinne, wie Anselm Haverkamp »Latenz« – vom lateinischen latens oder latere, »verborgen, versteckt sein«, – als »aus dem Verborgenen drohen« (Haverkamp 2002: 7) übersetzt (vgl. Ellrich/Maye/Meteling 2009). Denn die Gespenstergeschichte kann wie die Rhetorik nicht von dem Verdacht befreit werden, künstliche oder technische Verfahren einzusetzen, um das Unmögliche oder Wunderbare des Gespenstischen zum Ereignis werden zu lassen. Mit Jules Verne in seinem Antigespensterroman Das Karpathenschloß (1892) gesprochen, benutzt die Literatur technische »Tricks« (Verne 1977: 272), um Gespenster heraufzubeschwören. Aus der Sicht des Lesers lauert also immer eine verborgene Ebene unter der künstlichen Oberfläche des Textes, etwas, das wie die traumatische oder kryptische Geschichte eines Spukhauses entschlüsselt werden muss. Dies bezeichnet aber ausdrücklich keine verborgene Sinnebene in hermeneutischer Perspektive, sondern ist allein auf das konstruierte Jenseits struktureller Verfahren beschränkt. Immer, so ja der Verdacht de Mans, wird in der Literatur uneigentlich gesprochen – und zwischen Literalität und Figuralität
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eines Textes kann nicht unterschieden werden. Die diegetischen Gespensterereignisse sind in dieser Hinsicht Stellen im Text, deren spezifische Tropologie poetologisch auf die obscuritas der Struktur des eigenen Textes verweisen und damit das Technische und Rhetorische des Wunderbaren als Symptom des uneigentlichen figuralen Sprechens in der Literatur offenbaren. Letztlich gewinnt damit auch die Forderung Tzvetan Todorovs Gültigkeit, die er zu Beginn seiner Einführung in die fantastische Literatur formuliert: »Die Beschäftigung mit der fantastischen Literatur verlangt, dass man weiß, was eine ›literarische Gattung‹ ist« (Todorov 1972: 7). Man könnte so weit gehen und feststellen, dass die spezifisch heterochron hergestellte Heterotopie des Spukhauses, die Punktverknüpfung von Zeit und Raum sowie von Leben und Tod, das Changieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die das Gespensterereignis erst hervorbringt, die Rhetorizität und damit das Oszillieren der Literatur zwischen Literalität und Figuralität anzeigt. Die gattungstheoretische Konsequenz dieser Aussage im Angesicht des Schreckens gespenstischer Rhetorik könnte dann so gefasst werden: Das Gespenstische ist das Gattungsmerkmal von Literatur.
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Der Schrecken anderer Räume
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Autorinnen und Autoren
Aggermann, Lorenz, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig Universität Gießen. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, europäischen Ethnologie und Germanistik an den Universitäten in Wien und Berlin. Er war einige Jahre als Dramaturg im Bereich Musiktheater tätig, ehe er als Assistent an das Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern wechselte. Publikationen (Auswahl): Beograd Gazela – Reiseführer in eine Elendssiedlung (mit Can Gülcü/Eduard Freudmann, 2008); Der offene Mund. Über ein zentrales Phänomen des Pathischen (2013). Brittnacher, Hans Richard, ist Professor am Institut für Deutsche Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Phantastische Literatur und Intermedialität des Phantastischen, Literatur und Kultur der Goethezeit, Ästhetik des Hässlichen, Imagologie der Zigeuner, Literaturgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Vom Erhabenen und vom Komischen. Über eine prekäre Konstellation (hg. mit Thomas Koebner, 2010); Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst (2012). Büscher, Barbara, ist Professorin für Medientheorie/-geschichte, Intermedialität an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen über freies Theater und Performance, neue Technologien/Medien und Aufführungskünste. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Medialität der Artefakte von Performance-Archiven. Sie ist Initiatorin und Mitherausgeberin des Online-Journals MAP media – archive – performance (www.perfomap.de). Gemeinsam mit Franz Anton Cramer (UdK Berlin) leitet sie seit 2012 das von der DFG geförderte Projekt »Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste«.
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Elia-Borer, Nadja, ist Koordinatorin des ProDoc Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz Universität Basel und Leiterin von Art & Design Museums Basel. Studium der Medienwissenschaft, Kunstgeschichte, Geschichte und Italianistik an der Universität La Sapienza in Rom und in Basel. 2012 Promotion mit einer Arbeit zu den »Ästhetiken des Kulturfernsehens«. 2009 bis 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des vom SNF geförderten ProDoc Intermediale Ästhetik sowie Assistentin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Georg Christoph Tholen. 2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Sigrid Schade am ICS der ZHdK. Seit 2008 Lehrbeauftragte am Seminar für Medienwissenschaft an der Universität Basel. Publikationen (Auswahl): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien (hg. mit Samuel Sieber/Georg Christoph Tholen, 2011); »Schau-Fenster-Blicke – Strategien des Zeigens und Sichtbarkeitsproduktionen eines Massenmediums«, in: Ruth Scheel (Hg.), Schaufensterkultur – Inszenierte Warenwelt in Basel (2013), S. 96-103. Giersdorf, Jens Richard, ist Professor für Critical Dance Studies an der University of California, Riverside. Studium der Tanz-, Theater- und Musiktheaterwissenschaften an der Theaterhochschule in Leipzig, Promotion in Dance History and Theory an der University California, Riverside. Er war Lecturer B in Dance Studies an der University of Surrey, Guildford. Publikationen u.a. in Dance Research Journal, Theatre Journal und Jahrbuch für Tanzforschung und in Anthologien in den USA, Großbritannien, Italien, Frankreich und Deutschland. Zurzeit arbeitet Giersdorf in Co-Autorenschaft mit Gay Morris an einem Sammelband über Tanz im Verhältnis zu Kriegen des 21. Jahrhunderts. Harenberg, Michael, ist Komponist sowie Musik- und Medienwissenschaftler in Bern und Karlsruhe. Er leitet zusammen mit Daniel Weissberg den Studiengang Musik und Medienkunst an der Hochschule der Künste Bern. Studium der systematischen Musikwissenschaft in Giessen und Komposition bei Toni Völker in Darmstadt. Medienwissenschaftliche Promotion zum Thema »Virtuelle Instrumente im akustischen Cyberspace« bei Prof. Dr. Georg Christoph Tholen, Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: digitale Soundcultures, experimentelle Interfaces, kompositorische Virtualitätsmodelle des Digitalen, elektroakustische Musik im Rahmen instrumentaler und installativer Settings. Harenberg war von 2004-2013 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für elektroakustische Musik e.V. (DEGEM) und ist weiter Leiter des »DEGEM WebRadio@ZKM« (www.degem.de/webradio).
Autorinnen und Autoren
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Hentschel, Linda, ist Verwaltungsprofessorin für Kunstwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der optischen Medien und der visuellen Wahrnehmung, Foto- und Filmtheorie, Medien und Gewalt, Raumwissenschaften, kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung. Aktuelles Buchprojekt: Die Ordnung der Bilder. Krieg, Terror und visuelle Kultur. Neuere Publikationen: Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse (2008); Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne (2001). Hetzel, Andreas, ist Privatdozent am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie (Diskurse radikaler Demokratie), Sozialphilosophie der Moderne (Theorien der Macht), Sprachphilosophie (Pragmatik und klassische Rhetorik), Umweltethik (Antworten auf die Biodiversitätskrise). Publikationen (Auswahl): Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur (2001); Interpretationen: Hauptwerke Sozialphilosophie (hg. mit Gerhard Gamm/Markus Lilienthal, 2001); Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie (2011). Holert, Tom, ist Kunsthistoriker. Studium der Kunstgeschichte, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Philosophie in Hamburg und Paris. 1995 Promotion in Kunstgeschichte in Frankfurt a.M. 2000. Gründung des »Institute for Studies in Visual Culture« (ISCV) mit Mark Terkessidis. Von 2006 bis 2011 lehrte und forschte Holert an der Akademie der bildenden Künste Wien. Gründungsmitglied der Akademie der Künste der Welt in Köln. Publikationen (Auswahl): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft (hg. mit Mark Terkessidis, 1996); Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit (hg. 2000); Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert (mit Mark Terkessidis, 2002); Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen (2006); Regieren im Bildraum (2008). Kolesch, Doris, ist Universitäts-Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Ästhetik von Theater und Literatur, Theatralität und Performativität, Kultur- und Mediengeschichte, Ästhetik der Stimme, kulturwissenschaftliche Emotionsforschung. Ihre wissenschaftliche Arbeit wurde unter anderem mit dem Heinz-Maier-LeibnitzPreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Essay-Preis der Gesellschaft
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für Theaterwissenschaft sowie der Berufung in die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. (2006); Stimme. Annäherung an ein Phänomen (hg. mit Sybille Krämer, 2006); Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven (hg. mit Jenny Schrödl/Vito Pinto, 2009). Lehmann, Hans-Thies, war von 1988 bis 2010 Professor für Theaterwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.; Gründung und Leitung des Studiengangs Dramaturgie (2002) sowie führende Mitarbeit am Aufbau des Hauptfach-Studiengangs Theater-, Film- und Medienwissenschaft (Frankfurt) und der Studiengänge für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen. Gastdozenturen in u.a. Frankreich, Litauen, Polen und den USA. Publikationen (Auswahl): Theater und Mythos (1991); Postdramatisches Theater (1999, 3. Auflage 2005, übersetzt in 20 Sprachen); Das politische Schreiben (2002, 2. erw. Aufl. 2012); Heiner Müller Handbuch (hg. mit Patrick Primavesi, 2003); Theater in Japan (hg. mit Hirata Eiichirô, 2009); Populärkultur im Gegenwartstheater (hg. mit Martina Groß, 2012); Tragödie und dramatisches Theater (erscheint im September 2013). Lepecki, André, ist Associate Professor am Department für Performance Studies der Tisch School of the Arts der New York University. Forschungsschwerpunkte: Critical Dance Studies, Performance Studies, Kritische Theorie, kontinentale Philosophie und zeitgenössischer Tanz, Curatorial Studies in Performance, Tanz und der bildenden Kunst seit 1950. Er war Resident Fellow am Institute of Advanced Studies Interweaving Performance Cultures der Freien Universität Berlin. Tätigkeiten als Kurator (2008 ausgezeichnet mit dem AICA Award Best Performance) und Mitglied der editorial boards von u.a. Performance Research, Inflexions und Choreographic Practices. Seine Monografie Exhausting Dance. Performance and the politics of movement (2006) wurde in neun Sprachen übersetzt. Leschke, Rainer, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Siegen. Studium der Germanistik und der Philosophie in Bochum. Promotion 1986 mit einer Arbeit zum Verhältnis von Hermeneutik und Poststrukturalismus. 1998 Habilitation in Medienwissenschaft/Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit einer Arbeit zu Reproduktionszyklen und seriellen Strukturen in der Literatur an der Universität Siegen. Lehraufträge an den Universitäten Siegen, Bochum, Innsbruck und Basel. Publikationen (Auswahl): Einführung in die Medienethik
Autorinnen und Autoren
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(2003); Einführung in die Medientheorie (2003); Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne (hg. mit Jochen Venus, 2007); Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien (2010); Formen der Figur. Figurenkonzepte in Künsten und Medien (hg. mit Henriette Heidbrink, 2010). Marchart, Oliver, ist Professor für Soziologie an der Kunstakademie Düsseldorf. Studium der Philosophie an der Universität Wien, sowie der politischen Theorie und Diskursanalyse an der University of Essex. 1999 Dissertation an der Universität Wien. 2003 Promotion an der University of Essex bei Ernesto Laclau mit einer Arbeit zum Thema »Politics and the Political«. 2006 bis 2012 Förderungsprofessor des Schweizerischen Nationalfonds am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, Politische Theorie, Kunst- und Kultursoziologie. Zuletzt erschienen: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben (2010). Matzke, Annemarie, ist Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim und Mitglied des PerformanceKollektivs She She Pop. Nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen Promotion über »Formen der Selbst-Inszenierung im zeitgenössischen Theater«; danach wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin; 2009 Habilitation an der FU Berlin (Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, 2012). Arbeitsschwerpunkte: Praxis und Theorie des Gegenwartstheaters, Geschichte und Theorie der Theaterprobe, Performance Art und theatrale Raumkonzepte. Mersch, Dieter, ist Professor für Medientheorie und Medienwissenschaften an der Universität Potsdam. Studium der Mathematik und Philosophie in Köln und Bochum. Promotion und Habilitation in Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Zwischen 2001 und 2004 Gastprofessor für Kunstphilosophie und Ästhetik an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel, sowie zahlreiche Gastprofessuren an den Universitäten Chicago, Wien, Budapest, Luzern. Forschungsschwerpunkte: Medienphilosophie, Kunstphilosophie, Semiotik, Sprachphilosophie, Ästhetik sowie Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Logik des Bildlichen (hg. mit Martina Heßler, 2009); Posthermeneutik (2010); Ordo ab chao – Order from Noise (2013).
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Meteling, Arno, ist Literatur- und Medienwissenschaftler in Köln. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Medientheorie, Filmtheorie und -geschichte, Imaginationen des Krieges. Veröffentlichungen (Auswahl): Monster. Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm (2006), Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz (hg. mit Lutz Ellrich/Harun Maye, 2009); The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung (hg. mit Marcus Krause/Markus Stauff, 2011). Meyer, Petra Maria, ist Professorin für Kultur- und Medienwissenschaft an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Von 2004-2008 war sie Intendantin des Center for Interdisciplinary Studies an dieser Hochschule. Promotion in Philosophie und Habilitation in Theaterwissenschaft. Langjährige Tätigkeit als Autorin, Dramaturgin und Lektorin für den WDR-Köln. Forschungsschwerpunkte: Medien- und Kunstphilosophie, Intermedialität, Akustische Kunst und Szenographie. Buchpublikationen (Auswahl): Intermedialität des Theaters: Entwurf einer Semiotik der Überraschung (2001); Performance im medialen Wandel (2006); acoustic turn (2008); Gegenbilder. Zu abweichenden Strategien der Kriegsdarstellung (2009); Intuition. Erinnerungs-, Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeiten der Künste (2013). Ronsdorf, Miriam V., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Vizerektorat Lehre der Universität Basel. Studium der Ägyptologie, Medienwissenschaft, Geschichte und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Basel und Berlin (Technische Universität). 2013 Promotion zum Thema Das Alte Ägypten im populären Film im Rahmen des ProDoc-Graduiertenkollegs Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz an der Universität Basel. Veröffentlichungen: Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung. Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte (hg. mit Andy Blättler/Doris Gassert/Susanna Parikka-Hug, 2010). Schellow, Constanze, promoviert als Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds im ProDoc-Graduiertenkolleg Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz der Universitäten Basel und Bern. Studium der Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Berlin sowie der Performing Arts in Antwerpen. Forschungsschwerpunkte: Tanz und Philosophie, Theorien des Zeitgenössischen, diskursanalytische Zugänge zur Tanzforschung. Bis 2008 Publizistin mit Schwerpunkt Tanz, u.a. für Theater der Zeit, tanzjournal, Die Welt. Gastlehraufträge an Kunsthochschulen und Universitäten u.a. in Hildesheim, Köln und Berlin. Künstlerische und dramaturgische Kollaborationen mit u.a. Sara Manente, Antonia Baehr und Doris Uhlich. Publikationen: 56 ways (not) to (2009).
Autorinnen und Autoren
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Schimmel, Nina, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Alexander Honold und Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds im ProDoc-Graduiertenkolleg Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz der Universitäten Basel und Bern. Studium der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Siegen und Basel. Ihr Dissertationsprojekt trägt den Arbeitstitel Zur Ambivalenz des ›bösen Kindes‹ in Literatur und Film. Forschungsschwerpunkte: Verhältnis von Ethik und Ästhetik, Erzähltheorie, Filmästhetik, Filmtheorie. Zuletzt erschienen: »The Bad Seed oder: Kinder des Grauens«, in: Corina Erk/Christoph Naumann (Hg.), Gegenbilder. Literarisch, filmisch, fotografisch (2013). Sénécheau, Miriam, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Teilprojektleiterin in der DFG-Forschergruppe 875 »Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart« mit einem Projekt über die Darstellung und Funktion ›keltischer‹, ›römischer‹ und ›germanischer‹ Vergangenheiten im binationalen Vergleich (Deutschland und Frankreich). Studium der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie sowie Mittelalterlichen und Neueren Geschichte in Tübingen, Aix-en-Provence und Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Archäologie und Öffentlichkeit in verschiedenen medialen Kontexten (Museum, Schulbuch, Film, Literatur), Forschungs-, Ideen- und Rezeptionsgeschichte. Publikationen (Auswahl): Geschichte, Archäologie, Öffentlichkeit: Für einen neuen Dialog zwischen Wissenschaft und Medien. Standpunkte aus Forschung und Praxis (hg. mit Hans-Joachim Gehrke, 2010). Sieber, Samuel, forscht und lehrt am Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel. Studium der Medienwissenschaft, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Fribourg und Basel. Seit Januar 2010 Doktorand im ProDoc-Graduiertenkolleg Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz mit dem Projekt »Dispositive der Medien und Figuren des Politischen«. Forschungsschwerpunkte: Diskurs- und Dispositivanalyse, politische Philosophie, Medientheorie und -philosophie sowie Game Studies. Publikationen (Auswahl): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien (hg. mit Nadja Elia-Borer/Georg Christoph Tholen, 2011); »Strategien der Dysfunktion. Zur gouvernementalen ›Polizei‹ medialer Dispositive«, in: kultuRRevolution 61 (2012). Solomon-Godeau, Abigail, ist emeritierte Professorin für Kunstgeschichte an der University of California, Santa Barbara. Zuvor war sie als freiberufliche Kritikerin und Kuratorin tätig. Forschungsschwerpunkte: Fotografie, zeitgenössische Kunst, französische Kunst des 19. Jahrhunderts, feministische und kritische
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Theorie. Publikationen (Auswahl): Photography at the Dock. Essay on Photographic History, Institutions, and Practices (1991); Male Trouble. A Crisis in Representation, on the Imagery of Masculinity in French Neoclassicism (1997); The Face of Difference. Gender, Race and the Politics of Self-Representation (im Erscheinen); Gender, Genre and the Nude in French Art (im Erscheinen). Spielmann, Yvonne, ist Dean of the Faculty of Fine Arts am Lasalle College of the Arts in Singapore. Zuvor war sie Forschungsprofessorin und Lehrstuhlinhaberin für Neue Medien an der University of the West of Scotland. 2009 Preisträgerin des Lewis Mumford Award for Outstanding Scholarship in the Ecology of Technics und 2011 Preis für schwedisch-deutsche Forschungskooperation vom Riksbankens Jubiläumsfond. Zuletzt erschienen: Hybridkultur (deutsch 2010; englisch 2012); Video. Das reflexive Medium (deutsch 2005; englisch 2008). Stauff, Markus, arbeitet am Department Media Studies der Universität Amsterdam (UvA). Forschungsschwerpunkte: Fernsehtheorie, Cultural Studies, Mediensport. Zuletzt erschienen: Mediensport. Strategien der Grenzziehung (hg. mit Felix Axster u.a., 2009); The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung (hg. mit Arno Meteling/Marcus Krause, 2010); »Zuschauern Zuschauen. Fernsehen als Social Medium«, in: Andrea Seier/Thomas Waitz (Hg.), Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen (im Erscheinen). Tholen, Georg Christoph, Prof. Dr. em. ist Leiter des ProDoc Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz an der Universität Basel. Von 2001 bis 2012 Ordinarius für Medienwissenschaft mit kulturphilosophischem Schwerpunkt an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Medien, Zeit und Raum, Erinnern und Vergessen, Aisthesis und Medialität. Veröffentlichungen u.a.: »Dazwischen – Die Medialität der Medien«, in: Heike Adam u.a. (Hg.), Medienbewegungen (2011), »Das Erhabene und Undarstellbare bei Jean-François Lyotard«, in: Simone Bernet/Christine Blättler (Hg.), Kant Nietzsche gewidmet. Eine virtuelle Begegnung (2009); »Mit und nach McLuhan. Bemerkungen zur Theorie der Medien jenseits des anthropologischen und instrumentellen Diskurses«, in: Derick de Kerckhove u.a. (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert (2008); Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien (hg. mit Nadja Elia-Borer/Samuel Sieber, 2011); Mnêma – Derrida zum Andenken (hg. mit Hans-Joachim Lenger, 2007); Schnittstellen. Basler Beiträge zur Medienwissenschaft (hg. mit Sigrid Schade/Thomas Sieber, 2006); Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen (2002); Computer als Medium (hg. mit Norbert Bolz/Friedrich Kittler,
Autorinnen und Autoren
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1999); Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien (hg. mit Sigrid Schade, 1999). Thurner, Christina, ist Professorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern sowie Leiterin zweier Forschungsmodule des ProDoc-Graduiertenkollegs Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz der Universitäten Basel und Bern. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Tanzgeschichte und -ästhetik vom 18. bis 21. Jahrhundert, Zeitgenössischer Tanz und Performance, Tanz-Historiographie, Tanzkritik. Neuere Publikationen: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten (2009); Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz (hg. mit Julia Wehren, 2010); Berner Almanach Tanz (hg. mit Daria Gusberti/Julia Wehren, 2012). Treyz, Sebastian, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Alexander Honold und Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds im ProDoc-Graduiertenkolleg Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz der Universitäten Basel und Bern. Studium der Germanistik, Philosophie und katholischen Theologie an der Hochschule für Philosophie München, der LudwigMaximilians-Universität München und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. Sein Dissertationsprojekt ist im Forschungsmodul: »Gut und böse. Zur Polarität des dramatischen Feldes« angesiedelt und trägt den Arbeitstitel: »Das Theater der Tugend. Studien zum Verhältnis von Ästhetik und Moral im 18. Jahrhundert«. Wehren, Julia, ist Stipendiatin des ProDoc-Graduiertenkollegs Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz und promoviert zur Vergegenwärtigung des Vergangenen im zeitgenössischen Tanz. Sie ist Dozentin für Tanzkritik am DAS Nachdiplomstudiengang TanzKultur der Universität Bern, unterrichtet Tanzgeschichte im akar Studio Bern und leitet Workshops für professionelle Tanzschaffende. Studium der Theaterwissenschaft, Medienwissenschaft, Kunstgeschichte in Bern und des zeitgenössischen Tanzes an der Rotterdamse Dansacademie. 2007-2011 Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft, Universität Bern. 2001-2006 Tanzjournalistin und Übersetzerin für dansesuisse.ch und Der Bund. Bis 2007 Tänzerin in der Freien Szene. Wiens, Birgit, ist Privatdozentin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im WS 2013/14 Vertretungsprofessur für Theaterwissenschaft ebd. 2004–09 Professur für Theaterwissenschaft an der
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Hochschule für Bildende Künste Dresden (FB Bühnen- und Kostümbild). 2010-13 Realisierung des DFG-geförderten Forschungsprojekts »Intermediale Szenographie« am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. 2013 Habilitation. Forschungsschwerpunkte: Dramaturgie (in Geschichte und Gegenwart), Schauspiel- und Performancetheorie, Szenographie im 20. und 21. Jahrhundert, Theater und Medien, Visual Studies, Theorien des Raums. Neuere Publikationen: Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater (hg. mit Gabriele Brandstetter, 2010); Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts (voraussichtlich Ende 2013). Wodianka, Bettina, forscht und lehrt am Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel. Studium der Theaterwissenschaft, Neueren deutschen Literatur und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2011 ist sie Doktorandin der Medienwissenschaft an der Universität Basel bei Prof. Dr. Georg Christoph Tholen und realisiert innerhalb des SNF-Graduiertenkollegs ProDoc Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz ihr Dissertationsprojekt im Forschungsmodul »Intermedialität im Hörspiel der Gegenwart«. Zuletzt erschienen: »Intermediale Spielräume im Hörspiel der Gegenwart. Zwischen Dokumentation und Fiktion, Originalton und Manipulation, akustischer Kunst und Radiophonie, Theater und Installation«, in: Jens Schröter/Axel Volmar (Hg.), Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung (2013). Wünsch, Michaela, ist derzeit Marie-Curie Outgoing Fellow an der University of California Riverside in Kooperation mit der Universität Potsdam und arbeitet an einem Forschungsprojekt zu Wiederholung und Serialität in Psychoanalyse und Fernsehen. Promotion 2008 im Fach Kulturwissenschaft an der HU Berlin. Seitdem Post-Doc an der Jan-van-Eyck-Academie Maastricht, dem Institute for Cultural Inquiry Berlin und Gastprofessorin an der Universität Wien. Zuletzt erschienen: Angst. Lektüren zu Lacans Seminar X. (2012); »Die Stimme als Objekt des Unheimlichen, der Angst und der Furcht«, in: Y – Revue für Psychonalyse 2 (2012); »Serialität aus medienphilosophischer Perspektive«, in: Thomas Morsch (Hg.), Genre und Serie (2013). Zurschmitten, Christof, ist Assistent an der Pädagogischen Hochschule in Bern und arbeitet an der Universität Basel an einer Dissertation zur Aneignung fiktionaler und realer Prätexte im Computerspiel S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl. Studium der Germanistik, Geschichte und Medienwissenschaften in Bern
Autorinnen und Autoren
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und Berlin. Tätigkeit als Blogger und freier Journalist für diverse Print- und Online-Publikationen. Zuletzt erschienen: »Die Zone als Ort der Erinnerung und des freien Sprechens? S.T.A.L.K.E.R. – Shadow of Chernobyl: Der Versuch eines Computerspiels als Erinnerungsmedium«, in: Daniel Appel/Christian Huberts/Tim Raupach/Sebastian Standke (Hg.), Welt|Kriegs|Shooter: Computerspiele als realistische Erinnerungsmedien? (2012).
MedienAnalysen Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber, Georg Christoph Tholen (Hg.) Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien Medienwissenschaft|Medientheorie 2011, 346 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1779-5
Michael Harenberg Virtuelle Instrumente im akustischen Cyberspace Zur musikalischen Ästhetik des digitalen Zeitalters 2012, 264 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2175-4
Till A. Heilmann Textverarbeitung Eine Mediengeschichte des Computers als Schreibmaschine 2012, 290 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1333-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
MedienAnalysen Till A. Heilmann, Anne von der Heiden, Anna Tuschling (Hg.) medias in res Medienkulturwissenschaftliche Positionen 2011, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1181-6
Stefan Münker Philosophie nach dem »Medial Turn« Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft 2009, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1159-5
Claudia Reiche Digitale Körper, geschlechtlicher Raum Das medizinisch Imaginäre des »Visible Human Project« 2011, 398 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1713-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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