Heroen – Helden. Eine Geschichte der literarischen Exorbitanz von der Antike bis zur Gegenwart [1. ed.] 9783835353114, 9783835349452


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German Pages 430 [431] Year 2022

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Christoph Petersen: Einführung. Eine Geschichte der Exorbitanz?
1. historisches Feld. Der antike Heros zwischen Göttersphäre und Geschichte
Johannes Bach: Gilgamesch ein Krieger-Held? Wandlungen einer altmesopotamischen Heldenfigur
Markus Janka: Ambivalente ἄριστοι. Zur sozialen Phänomenologie des Heroischen in Homers ›Ilias‹
Berkan Sariaydin: Arbeit an der Exorbitanz. Heldentum und Erinnerung in Vergils ›Aeneis‹
2. historisches Feld. Konfrontationen des Heroischen in mittelalterlicher Heldenepik
Matthias Teichert: ›Solches erscheint einem Völsung wenig schmerzlich.‹ Altnordische Heldenbilder zwischen Berserkertum, Wikingermythos und Ritterlichkeit
Renate Bauer: Krieger – Kraftprotz – Killer. Der Held im ›Beowulf‹
Jan-Dirk Müller: Exorbitante Helden im ›Nibelungenlied‹
Bernhard Teuber: ›Heroes in the Making‹. Der altfranzösische Roland und der altspanische Cid im Vergleich
3. historisches Feld. Vormoderne Reflexionen auf heldenepische Exorbitanz
Corinna Dörrich: Frau tötet Mann! Verhandlungen weiblicher Exorbitanz an Judith und ihren mittelalterlichen Schwestern
Cornelia Herberichs: Hercules und Eneas. Zu Exorbitanz und Normativität (un-)zeitgemäßer Helden in den mittelalterlichen Eneasromanen
Christoph Petersen: Der Eigenwert heroischer Gewalt und sein Fortleben
4. historisches Feld. Sonderbezirke heldenhafter Exorbitanz in der Literatur der Neuzeit
Markus May: Exorbitanz als Devianz. Der monströse Held
Hans Richard Brittnacher: Judas Iskarioth – der Verräter als Held?
Jana Mikota: »Es ist gar nicht schlimm, ganz normal zu sein.« Die Vielfalt der Heldenfiguren in der aktuellen Kinderliteratur
5. historisches Feld. Transmediale Echos des Exorbitanten in der Gegenwartskultur
Cord-Christian Casper: Multiversaler Heroismus im Superhelden-Genre des Comic
Elisabeth Bronfen: Die Westernheldin. Ein Gendering des Genres
Elisabeth K. Paefgen: Von zerbrochenen Brillen, gepflasterten Nasen und verbundenen Händen. Walter White als ramponierter Held
Robert Baumgartner: Ich exorbitant. Heldentum im Computerspiel als geteiltes Phänomen zwischen Spieler, Avatar und Protagonist
6. historisches Feld. Jenseits der Exorbitanz
Christoph Petersen: Der Held der Moderne. Ein archäologischer Versuch zu Rousseau, Hegel und Wagner
Beiträgerinnen und Beiträger
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Heroen – Helden. Eine Geschichte der literarischen Exorbitanz von der Antike bis zur Gegenwart [1. ed.]
 9783835353114, 9783835349452

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Publiziert mit freundlicher Unterstützung der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, Ingelheim am Rhein Richard Stury Stiftung, München Ludwig-Maximilians-Universität München

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und der Raleway Umschlaggestaltung: Verlag nach Annerose Wahl, München Lithografie: Schwab Scantechnik, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-5311-4 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4945-2

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Christoph Petersen

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Helden aller Art

Die Freiheit eines jeden, sein eigenes Verständnis des Begriffs Held zu gebrauchen, blüht heutzutage bunter denn je: Von Kriegsheimkehrern, Rettungskräften, Sportgrößen über Krebspatienten, Flüchtlingshelfer, Kindergartenkinder bis zu Zootieren, Supermarktauslagen, Bürostühlen u. v. m. bevölkern Helden aller Art die Vorstellungswelt unserer Gegenwart. Wissenschaft aber darf, sofern sie auf diese Vorstellungswelt orientierend wirken will, eine dort herrschende Vielfalt von Begriffsverwendungen nicht reproduzieren, sondern muss dieser mit ihrer eigenen, das heißt historisch und theoretisch fundierten Begriffsbildung begegnen. In dieser Hinsicht herrscht beim Begriff Held ein dringlicher Bedarf. Insbesondere die mit der europäischen Neuzeit und Gegenwart befassten Wissenschaften bilden ihren jeweiligen Begriff von Held auf der Basis der lebensweltlichen Vielfalt, so dass diese sich in einer Beliebigkeit wissenschaftlicher Begriffsverwendung widerspiegelt.1 Einen Ausweg aus diesem Kreislauf scheint vorderhand zweierlei zu bieten: Entweder man wählt eine bewusst offengehaltene und deshalb potentiell alles einschließende Begriffsbestimmung,2 oder man bekennt sich umgekehrt zur sub-

1 Anschauliches Beispiel unter vielen, wegen ihres ansonsten hohen Reflexionsniveaus hier genannt, geben die Beiträge in: Heldengedenken. Über das heroische Phantasma, hg. v. Karl Heinz Bohrer u. Kurt Scheel, Merkur 63 (2009), Nr. 724 /725. 2 Etwa Ralf von den Hoff u. a.: Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereichs 948, in: helden.heroes.héros 1 (2013), S. 7–14, die »das Heroische als ein Relationengefüge« fassen, das bewusst offengehalten ist und auch noch durch »weitere, eher akzidentielle Merkmale […] in wechselnden Kombinationen« angereichert werden kann (S. 8). Die Problematik solch definitorischer Reproduktion der lebensweltlichen Vielfalt zeigt sich bereits darin, dass ausgerechnet das in der europäischen Kulturgeschichte ursprüngliche, dauerhafteste und wirkungsreichste Definiens von Held aus ihr ausgeklammert bleibt: das »Übermenschlich-Herausragende« (ebd.). 

Christoph Petersen

jektiven Willkür eines eng definierten Begriffs.3 Beide Auswege erweisen sich jedoch als trügerisch. Denn was ihre Tragfähigkeit als Grundlage wissenschaftlicher Analysearbeit anbelangt, werden auch die Entgrenzungen oder subjektiven Einengungen des Begriffs Held von der Beliebigkeit des lebensweltlichen Befundes eingeholt. Demonstriert sei das an den zwei prominentesten Beispielen für das seit einigen Jahren vielbenutzte Schlagwort vom Postheroischen, das angeblich die europäischen Gesellschaften seit Mitte des 20. Jahrhunderts kennzeichne. In beiden Beispielen erweist Postheroik sich als eine Chimäre vor allem deswegen, weil schon ihr definitorischer Widerpart, Heroik, historisch und terminologisch beliebig ist. Bei Herfried Münkler4 beruht die These vom postheroischen Zeitalter auf einem Begriff von Heroik, für den die Bereitschaft zur kriegerischen Selbstopferung des Einzelnen für einen höheren, weil gemeinschaftlichen Wert, namentlich für eine Gesellschaft, eine Nation o. ä., wesentlich ist: »In jedem Fall […] ist, wenn das Verhalten eines Menschen als heroisch gekennzeichnet wird, der Gedanke des Opfers zentral: Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte: das des eigenen Lebens.«5 Damit schreibt Münkler einen historisch sehr spezifischen Heroismusbegriff fort, der im Zuge der europäischen Nationalstaatsbildung seit dem späten 18. Jahrhundert neu geprägt, im Umkreis der Weltkriege dann aufs Äußerste strapaziert und deshalb nachhaltig diskreditiert worden ist. Es ist dieser spezifische Heroismusbegriff, den Münkler im Begriff postheroisch als vergangen kennzeichnet und so als Orientierungsmaßstab für eine soziologisch-politologische Zeitdiagnose aufstellt. Dass Münkler seinen Begriff jedoch nominell nicht aus Reflexen politischer Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts ableitet, sondern aus heldenepischen Texten, denen jener Heroismusbegriff tatsächlich fremd ist (Ilias, Odyssee, Nibelungenlied), offenbart die subjektive Beliebigkeit dieser restriktiven Begriffsbildung. Problematisch ist diese Beliebigkeit, weil in Münklers These mit der historischen Spezifik des Heroismusbegriffs auch dessen für seine Blütezeit ja höchst charakteristische Instrumentalisierung ausgeblendet wird: die 3 Etwa Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus, Berlin 2019: »Die Helden, die ich suche« (S. 10) u. ä. 4 Herfried Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur 61 (2007), S. 742–752, mit größerer Reichweite wieder in: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 169–187. ‒ Zum Folgenden vgl. Christoph Petersen: Postheroische Perspektiven oder Die Signifikanz des Verkennens im Hildebrandslied, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 94 (2020), S. 417–443, hier 418 f. 5 Münkler: Kriegssplitter (Anm. 4), S. 169. 

Einführung

politische Ausbeutung jener heroischen Opferbereitschaft in der ideologischen Verbrämung als Heldentod. Als Bereitschaft zur Selbstopferung für andere ist Heroismus grundsätzlich positiv gewertet, in ihr ist der Held als ein sozial guter, sein Handeln als vorbildlich angesehen und sein Heldentum mit einer impliziten Appellfunktion ausgestattet, gerade auch in einer Gesellschaft, die zur postheroischen erklärt wird. Sobald dieser implizite Appell dann im publizistischen Aufruf ausdrücklich gemacht wird,6 wirkt sich die Beliebigkeit der Begriffsbildung aus in einer Blindheit für jene ideologische Instrumentalisierung der Opferbereitschaft, von welcher der Heroismusbegriff bei Münkler (wie in Ilias, Odyssee, Nibelungenlied) nichts weiß. Eine historische Einengung des Begriffs Held auf den sozial guten Helden läuft, reflektiert oder nicht, immer Gefahr, gegenüber seinen problematischen, antisozialen Implikationen unempfindlich zu sein. Differenzierter begreift Ulrich Bröckling7 das Postheroische nicht vorrangig als Epochensignatur der Gegenwart, sondern als gedankliches Verfahren der Dekonstruktion des Heroischen, die nicht ein für alle Mal, sondern in immer wieder neuen Bewegungen an unterschiedlichen Erscheinungsformen des Heroischen ansetzt und auch die Gegenbewegung einer (Re-)Heroisierung nicht ausschließt. Bröcklings lesenswerte Analysen dieser Bewegungen kranken allerdings wiederum an einer Beliebigkeit des ihnen zugrunde gelegten Begriffskonzepts Held. Er stellt ein Kaleidoskop von unsystematisierten »Bausteinen« des Heroischen zusammen, die sich mal mehr (z. B. »Handlungsmacht«), mal weniger (z. B. »Männlichkeit«) plausibel mit dem Begriff Held verbinden lassen (S. 19– 75), und wendet dann diese »Bausteine« in freier Kombinatorik auf all das an, was irgend Held genannt worden ist (S. 19 f.). Blind bleibt dieses Vorgehen vor allem für die marketingtechnischen Ausbeutungen des Helden-Prestiges in der Gegenwart, in denen ein Manager ebenso zum Helden wird (S. 150) wie eine Kuchenglasur (S. 20) und der Begriff Held jegliche kritische Unterscheidungskraft für ein »Zeitbild« der Gegenwart verloren hat. Damit bleibt auch bei Bröckling das Postheroische eine Chimäre, weil es keinen definitorischen Rückhalt findet in dem, was als das Heroische plausibel gemacht wäre. So kann er zwar gewisse soziokulturelle Phänomene klug analysieren, die mit den Bezeichnungen Held usw. etikettiert worden sind, nicht aber das Phänomen von Heldentum an sich. Für eine soziologische Gegenwartsanalyse ist das Fehlen einer kritischen Unterscheidungskraft des Begriffs Held unter anderem deshalb bedenk6 Etwa Christoph Türcke: Die Wunde der postheroischen Gesellschaft, in: Süddeutsche Zeitung, 6. 9. 2017, S. 13. 7 Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020. 11

Christoph Petersen

lich, weil es dessen marketingtechnische Ausbeutungen auf dieselbe Stufe stellt wie solche sozialen Dynamiken, die beispielsweise die Politik in den liberalen Gesellschaften der abendländischen Demokratien seit einigen Jahren kennzeichnen. Die Heroisierung politischer Führerschaft, welche etwa die letzte US-amerikanische Präsidentschaft wesentlich getragen hat ‒ am prägnantesten sichtbar in einem vom Präsidentensohn gefälschten Cover des Time Magazine, auf dem sein Vater als Superman abgebildet ist, und gipfelnd im Angriff auf das Kapitol am 6. 1. 2021 ‒, ist nicht nur Ausdruck, sondern auch treibender Teil einer Autokratisierung der abendländischen Gesellschaften. Derartiges lässt sich aber vor dem Hintergrund der Allgegenwart und Vielfalt des sogenannten Heroischen in unserer Gegenwart nur mit einem unterscheidungsfähigen Begriff abheben und analysierbar machen. Für die angesprochene Dynamik in der US-amerikanischen Gesellschaft könnte das beispielsweise entlang einer Linie vom heldenepischen Heros über Nietzsches Übermenschen und dessen Echo bei Ayn Rand bis zur breiten Rand-Rezeption in den USA bis heute profiliert werden.8 Insofern scheint eine neue, präzisierende Reflexion auf den Begriff Held alles andere als unzeitgemäß zu sein: Sie vermag auch eine Aufklärungsarbeit zu leisten, die gegen die aktuellen politischen Autokratisierungstendenzen in Stellung gebracht werden könnte. Eine solche gesellschaftliche Aufklärungsarbeit will das vorliegende Buch anstoßen. Zu diesem Zweck schlägt es, um den Definitionsproblemen des Heldenbegriffs heutzutage zu entkommen, eine Neuorientierung der wissenschaftlichen Blickrichtung vor: die Herleitung des Heldenbegriffs von heute aus seinen Ursprüngen in der vormodernen Heldenepik, aus denen sich seine Vielfalt in der heutigen Lebenswelt und Wissenschaft ja auch historisch entwickelt hat. Mit dieser Herleitung stellt das Buch im heldenepischen Helden ein Referenzkonzept auf, auf das die Vielfalt des Heldenbegriffs von heute bezogen und so wissenschaftlicher Analyse zugänglich gemacht werden kann. Das wesentliche Merkmal dieses heldenepischen Konzepts von Held sieht das Buch dabei im Phänomen der heroischen Exorbitanz.

8 Ansatzpunkt dafür müsste eine literarhistorisch informierte Analyse von Ayn Rands Roman Atlas Shrugged, New York 1957 sein, der, im Rest der Welt wenig bekannt, in einer Book List der Library of Congress von 2005 als einflussreichstes Buch nach der Bibel in den USA geführt wird. 

Einführung

Heroische Exorbitanz

Der Begriff ist von dem Skandinavisten Klaus von See in den 1970er Jahren geprägt und in Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden weiter präzisiert worden.9 Mit Exorbitanz bezeichnet von See das, was er als den Kerngegenstand der europäischen Heldensagen und -epen von der griechischen Ilias bis zum spanischen Cid ansieht: Exorbitant ist in erster Linie eine Tat, in aller Regel eine Gewalttat, die deswegen erinnerungswürdig ist, weil sie die Normalität des ›Bezirks‹ (lat. orbis) menschlicher Lebensgewohnheit außer Kraft setzt oder verletzt ; und exorbitant ist dann auch derjenige, der eine solche Tat vollbringt oder verübt. Kerngegenstand der europäischen Heldensagen und -epen sei »der Mensch, der bedenkenlos, ungehemmt seinen Impulsen folgt, der ohne Rücksicht auf sich und andere handelt, der das Außergewöhnliche, das Exorbitante tut, nicht unbedingt das Notwendige, das Pflichtgemäße, das ethisch Vorbildliche«.10 Der exorbitante Held ist also keineswegs deswegen Held, weil er und sein Tun einem sozialen bonum verpflichtet wären, wie es den vielfältigen Heldenvorstellungen der Moderne und Gegenwart meist zugrunde liegt. Er mag vielleicht auch – akzidentiell, gewissermaßen zufällig – im Sinne eines solchen bonum handeln, ist aber nicht darüber zu definieren: Er ist kein guter Held, kein für das Gute streitender, normensetzender, vorbildlicher Held, aus dessen Sein und Tun etwas Erstrebenswertes abzuleiten wäre. Der exorbitante Held ist Held, weil seine (Gewalt-)Tat – gleichviel, ob im Guten oder Schlechten – außerordentlich und deshalb denkwürdig ist. Die soziale Gleichgültigkeit heroischer Exorbitanz, ihre A-sozialität im eigentlichen Wortsinne findet im heldenepischen Erzählen immer wieder Ausdruck in einer Transgressivität heroischer Gewalt, in der Überschreitung sozialer Normen durch den Gewaltakt, der a priori nicht von diesen Normen kanalisiert und nicht für sie instrumentalisiert ist. Diese Transgressivität kann auch im Erscheinungsbild des exorbitanten Helden vergegenständlicht sein: in seiner das Menschenmaß überschreitenden kriegerischen Potenz und Kampfleistung, im übermenschlichen Quantum 9 Klaus von See: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt / M. 1971, bes. S. 61–95; ders.: Was ist Heldendichtung?, in: Europäische Heldendichtung, hg. v. dems., Darmstadt 1978, S. 1–38 (wieder in: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 1981, S. 154–193); ders.: Held und Kollektiv, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 1–35; ders.: Die Exorbitanz des Helden – die Texte und die Theorien, in: ders., Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, mit einem Vorwort v. Julia Zernack, Heidelberg 2003, S. 153–164. 10 Von See: Heldensage (Anm. 9), S. 69. 

Christoph Petersen

seines Körpers, seiner Waffen, seiner Gegner. Beide Aspekte heroischer Exorbitanz konvergieren miteinander: Asozialität ist Komplement zu und Ausdrucksform von kriegerischer Exzeptionalität und vice versa. Das ist das Konzept des heldenepischen Helden, d. h. des vorherrschenden Heldenbildes der europäischen Vormoderne. Und in dieser Konzeption ist der Begriff Held mit dem erwähnten Prestige ausgestattet worden, das seine multiplikatorische Karriere bis heute trägt. Von Sees Exorbitanz-Konzept ist kritisiert und verteidigt worden.11 Produktiv aufgenommen wurde es besonders in der germanistischen Mediävistik, wo es auf verwandte Überlegungen stieß und anhaltend diskutiert wird.12 Und seine Anschließbarkeit darüber hinaus scheint noch keineswegs ausgeschöpft zu sein – nicht nur in der germanistischen Mediävistik13

11 Gerd Wolfgang Weber: »Sem konungr skyldi«. Heldendichtung und Semiotik. Griechische und germanische heroische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur, in: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag, hg. v. Hermann Reichert u. Günter Zimmermann, Wien 1990, S. 447–481; Joachim Heinzle: Zur Funktionsanalyse heroischer Überlieferung: das Beispiel der Nibelungensage, in: New Methods in the Research of Epic / Neue Methoden der Epenforschung, hg. v. Hildegard L. C. Tristram, Tübingen 1998, S. 201–229. Vgl. dazu von See: Kollektiv und Exorbitanz (Anm. 9), sowie in diesem Buch Müller und Petersen: Eigenwert. 12 Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997; JanDirk Müller: Nibelungenlied und kulturelles Gedächtnis, in: Arbeiten zur Skandinavistik. 14. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik, 1.–5. 9. 1999 in München, hg. v. Annegret Heitmann, Frankfurt/M. u. a. 2001, S. 29–43; Julia Weitbrecht: Genealogie und Exorbitanz. Zeugung und (narrative) Erzeugung von Helden in heldenepischen Texten, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 141 (2012), S. 281–309; Hartmut Bleumer: Der Tod des Heros, die Geburt des Helden – und die Grenzen der Narratologie, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. v. Udo Friedrich u. a., Berlin 2014, S. 119–141; Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik. Eine Einführung, Berlin 2015, S. 182–184; dies.: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos, in: Beiträge zur mittelalterlichen Erzählforschung 1 (2018), S. 38–63; in literaturdidaktischer Aufbereitung: Franziska Küenzlen u. a.: Themenorientierte Literaturdidaktik: Helden im Mittelalter, Göttingen 2014, S. 50 f.; mit Übertragung auf die Gegenwart: Franziska Ascher: Erzählen im Imperativ. Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen, Bielefeld 2021, S. 140–155. – Rezeption in der Altskandinavistik: Florian Deichl: Die Welt der Völsungen. Figuren- und Weltentwurf der altnordischen Nibelungendichtung, Berlin u. Boston 2019. 13 Vgl. Udo Friedrich: Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und Gewaltreglementierung im 12. Jahrhundert, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel, Stuttgart u. Leipzig 1999, S. 149–179. 

Einführung

und nicht nur in anderen der Vormoderne gewidmeten Disziplinen,14 sondern gerade auch in der Beschäftigung mit Neuzeit, Moderne und Gegenwart.15 Das vorliegende Buch will zum einen dafür Anregungen geben, indem es das Exorbitanz-Konzept hinterfragt und weiterdenkt und seine Leistungsfähigkeit auch jenseits des Bereichs von Heldenepik erprobt. Zum anderen geht das Buch aber auch darüber hinaus, indem es das Exorbitanz-Konzept zum methodischen Leitgedanken macht, um den Heldenbegriff von heute auf die vormoderne Heldenepik zurückzuführen. Damit visiert es eine grundsätzliche und weitgefasste Dimension an: eine Geschichte der europäischen Heldenvorstellung von den überlieferten Anfängen bis zur Gegenwart. Insofern konkurriert es mit den großen Überblicksdarstellungen zur heldenepischen Tradition,16 verändert dabei aber entschieden den Überblicksfokus: Es beschränkt sich auf die Traditionslinie der Heldenepik Europas und schlägt von hier mittels des Exorbitanz-Konzepts eine Brücke in Neuzeit und Gegenwart.17 Auf diese Weise will es das genannte Referenzkonzept für die Vielfalt der Heldenvorstellungen in Moderne und Gegenwart aufstellen. 14 Vgl. Harald Patzer: Homerische und germanisch-romanische Heldendichtung, in: Antike Texte in Forschung und Lehre. Fs. f. Willibald Heilmann zum 65. Geburtstag, hg. v. Christoff Neumeister, Frankfurt / M. 1993, S. 7–27; Birgit Studt: Die Ambiguität des Helden im adeligen Tugend- und Wertediskurs, in: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption, hg. v. Oliver Auge u. Christiane Witthöft, Berlin u. Boston 2016, S. 305–316. 15 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Ritus und Geste. Die Begründung des Heldischen im Western, in: Heldengedenken (Anm. 1), S. 942–953. Umstandslos mit dem ExorbitanzKonzept harmonisierbar ist die Analyse von Schillers Tell-Figur bei Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, durchgesehene Neuausgabe, Hamburg 2013, S. 505–526. Sensibel für die historischen Wandlungen des Heldenbegriffs zeigen sich auch Reemtsmas andere Studien zum Gegenstand, gesammelt in: Helden und andere Probleme. Essays, Göttingen 2020. 16 Vor allem mit Cecil Maurice Bowra: Heldenepik. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten, übersetzt v. Hans G. Schürmann, Stuttgart 1964 (engl. London 1952). – Philologisch haltlos und (obwohl gelegentlich immer noch durch die Forschung geisternd) wissenschaftlich unbrauchbar: Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, übersetzt v. Karl Koehne, Berlin 62019 (engl. New York 1949). 17 Beides im Unterschied auch zu Dean A. Miller: The Epic Hero, Baltimore 2000. Millers Motivüberblick über die indoeuropäische Heldendichtung lässt sich ebenfalls (ohne von ihm Notiz genommen zu haben) an das Exorbitanz-Konzept anschließen: »The destructive potentiality of the hero – his negative valence, the uncontrolled operation of his enweaponed, fulminating, and lethal ego – produces typical scenarios in which every attempt at social stability, any demanded obedience to rula and order, is dissolved.« (S. 187) Am Ende bietet Miller freilich mehrere Merkmalsraster für unterschiedliche Typisierungen des Heroischen (S. 354–370). 

Christoph Petersen

Dabei ist davon auszugehen, dass alle Texte, die uns das Phänomen heroischer Exorbitanz überliefern, also auch schon die ältesten dieser Texte wie die Gilgamesch-Epen, die Ilias oder das Hildebrandslied, in die Schrift überführte Spätzeugnisse von vorgängigen mündlichen Traditionen sind – sozusagen an die Textoberfläche des tiefen Brunnens der Vergangenheit menschlicher Kulturgeschichte (Thomas Mann) getreten. Deshalb ist es von vornherein unwahrscheinlich, dass man in den überlieferten Texten dem Phänomen heroischer Exorbitanz in irgendeiner Ur- oder Reinform begegnen könnte. Vorauszusetzen ist vielmehr ‒ und sämtliche Beiträge dieses Buches bestätigen es ‒, dass Exorbitanz das wesentliche Charakteristikum des heldenepischen Helden ist, das in dem uns Überlieferten stets schon reflektiert, bearbeitet, vielleicht problematisiert in Erscheinung tritt. Genau hierin findet das Buch auch seinen methodischen Ansatzpunkt dafür, eine Geschichte der literarischen Exorbitanz von den Anfängen bis heute nachzuzeichnen.

Eine Literaturgeschichte des Helden

Eine solche Geschichte lässt sich vielleicht jenen großen Erzählungen zugesellen, deren kohärenz- und sinnstiftende, ideologisierende Effekte die poststrukturalistische Kritik (Jean-François Lyotard) zu Recht in Frage gestellt hat. Deshalb versucht die in diesem Buch vorgelegte Literaturgeschichte des Helden ihre kohärenz- und sinnstiftenden Linien selbst zu durchkreuzen durch immer wieder neu ansetzende, dem jeweiligen speziellen Gegenstand geltende Reflexionen auf die historischen und methodischen Voraussetzungen und Implikationen der literaturgeschichtlichen Konstruktionen. Angestrebt wird dies dadurch, dass die geschichtlichen Linien in eine Reihe von Einzeluntersuchungen fachwissenschaftlicher Spezialisten mit einem je eigenen Zugang zum Gegenstand zerlegt sind. Der Gedanke, der diese Untersuchungen dabei heuristisch verbindet, ist ein Verständnis von Postheroik, das gegenüber den oben genannten Verwendungen neu, sachgerecht und terminologisch haltbar ist. Eine postheorische Perspektive auf Heldentum ist nämlich keineswegs ein Spezifikum unserer Gegenwart, sondern eine Gemeinsamkeit, die uns Heutige verbindet mit dem vormodernen Heldenepikpublikum. Denn dieses hat sich, soweit man den Texten entnehmen kann, immer schon gegenüber den heldenepischen Welten als historische Nachwelt begriffen und aus dieser nachweltlichen Perspektive erzählt von einer fremden, d. h. größeren und den Normen der eigenen sozialen Welt nur partiell entsprechenden, eben exorbitanten Heroenwelt: Postheroisch ist der nachweltliche Blick 16

Einführung

auf Heroik definitionsgemäß und von jeher.18 Deshalb kann eine postheorische Perspektivik auch als verbindender Gedanke gebraucht werden, um die kulturgeschichtlichen Veränderungen der Erscheinungsweisen, Voraussetzungen und Implikationen des Erzählens vom exorbitanten Helden von der Antike bis zur Gegenwart in den Blick zu nehmen. Die unter diese Voraussetzungen gestellte Literaturgeschichte des abendländischen Helden folgt zwar auch grob der Chronologie seiner Zeugnisse, vernachlässigt aber sprach- und kulturgeographische oder literatursoziologische Ordnungsmuster, orientiert sich vielmehr an verschiedenen, in bestimmten Textgruppen zutage tretenden diskursiven Konstellationen, in deren Mittelpunkt die Figur des exorbitanten Helden steht. Diese diskursiven Konstellationen werden in sechs historischen Feldern angeordnet, aus denen sich die hier vorgelegte, durchaus neuartige Literaturgeschichte zusammensetzt. Seine erste Wurzel hat der exorbitante Held der abendländischen Kultur in Heldenerzählungen der Antike, in denen er typischerweise im Spannungsfeld »zwischen Göttersphäre und Geschichte« situiert ist, dem erste n hi sto rische n Fe ld. In diesem Feld scheint heroische Exorbitanz aus der ins Göttliche überhöhten und darin nicht unproblematischen Herausgehobenheit politischer oder sozialer Führungsgestalten (Königen) erwachsen zu sein. Deren schon in der altmesopotamischen Literatur erkennbare erzählerische Topik bildete offenbar eine Tradition aus, die in die Heldenepen des vom Vorderen Orient beeinflussten griechischen Kulturkreises und ihre römischen Adaptationen mündete. Auch in diesen Epen bleibt der exorbitante Held dem Göttlichen wie dem Geschichtlichen verbunden und erhält in Vergils Aeneis schließlich eine neue Funktion und Prägung mit größter Nachwirkung auf die europäische Neuzeit. In diesem Rahmen bringt Joh a n n e s Ba c h das Exorbitanz-Konzept zusammen mit verwandten Beobachtungen der Altorientalistik zum literarischen Typ des sumerisch-akkadischen Krieger-Helden. An dessen berühmtester Figur, Gilgamesch von Uruk, zeigt er, wie im Verlauf der Textgeschichte der ihm gewidmeten Dichtungen das ursprünglich exorbitante Heldentum des Protagonisten schließlich in ein der Stadtgemeinschaft von Uruk dienstbares, in der Gründung der Stadtmauern konkretisiertes Heldentum transformiert worden ist. Wie bei Gilgamesch zeigt sich die Problematik heroischer Exorbitanz auch bei den Helden der Ilias in Friktionen zwischen den Götter- und Menschensphären. An ihrer Hauptfigur Achilleus beschreibt Markus Janka, wie das sozial destruktive, weil auf die eigene τιμή ›Ehre‹ fixierte Heldentum der Ilias auch in gestörten 18 Vgl. Petersen (Anm. 4), S. 440 f. 

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Verhältnissen zur heroischen Vorwelt (Nestor), zur göttlichen Abstammung (Thetis) und zur von Zeus garantierten Ordnung des Menschlichen (Hektors Leichnam) Ausdruck findet. In der wichtigsten Adaptation der Ilias, in Vergils Aeneis, ist am iliadischen Heldenkonzept dann signifikant gearbeitet worden. Be rka n Sa r i a ydi n demonstriert, wie Vergil den homerischen Heldentyp geschichtlich verabschiedet und in Aeneas einen neuen Typ schafft, in dem die alte heroische Exorbitanz sich überlebt hat und zum Ausgangspunkt wird für eine Umfunktionalisierung des heldenepischen Erinnerns: vom Gedächtnis individuellen Kriegerruhms zur Stiftung einer in Einklang mit der Götterwelt stehenden kollektiven (julischen und römischen) Geschichtsidentität. Wie in den Beispielen des antiken Feldes wird auch in der zweiten Wurzel der abendländischen Heldenvorstellungen: in der mittelalterlichen, aus germanischen Traditionen stammenden Heldenepik, der exorbitante Held stets in »Konfrontationen« mit der sozialen Welt und ihren Normen vorgeführt, unserem z we i t e n h i st or i sc h e n Fe l d . In diesem Feld sind Verbindungen der Heldenfiguren zu einer vorchristlich göttlichen Sphäre irrelevant (geworden). Deutlicher wird hier hingegen, dass die Konfrontationen, wenn nicht ursächlich bedingt, dann zumindest differenziert und verstärkt worden sind durch die Überführung der zuerst mündlichen heldenepischen Traditionen in die Schriftkultur, in der die heldenepischen Welten nicht nur den Gesellschaftsbildern ihrer Rezipienten gegenüberstehen, sondern auch möglichen Einflüssen anderer poetischer wie nichtpoetischer Diskurse der Schriftkultur – Ritterepik, Historiographie, christliche Religion und Ethik u. a. m. – ausgesetzt sind. Zunächst führt Matthias Teicher t vor, wie heroische Exorbitanz als Kern- und Leitvorstellung altnordischer Heldenbilder in den Sigurd-Liedern der Lieder-Edda und in der Völsungen Saga von Figurentypen anderer Herkunft ‒ Berserker, Wikinger, Ritter ‒ beeinflusst und variiert worden ist und wie umgekehrt die Exorbitanz der germanischen Heldensage auch auf die Figurenzeichnung einiger Isländersagas eingewirkt hat. Re n at e Bauer zeigt dann, dass der Titelheld des angelsächsischen Beowulf zwar in der Plotführung des Epos als Retter einer Gemeinschaft agiert, aber als Figur – als epischer Held – seinen mosterartigen Gegnern gleicht oder angenähert ist, und dass er zwar im sprachlichen Handeln sich sozial versiert und integrationsfähig zeigt, in der figurentypischen Motivation zu seinen Kämpfen aber letztlich sozial destruktiv wirkt. Solche Ambivalenzen des heldenepischen Heros werden im Nibelungenlied, wie Jan-Dirk Müller an dessen beiden zentralen Heldenfiguren beschreibt, in zwei gegenläufigen erzählerischen Bewegungen dynamisiert: Während Siegfried, anfangs als Repräsentant des heroisch Exorbitanten prototypisch 

Einführung

führt, in Worms integriert wird, aber wegen seiner Exorbitanz widerständig bleibt und beseitigt wird, kommt in Hagen das Heroische später zur neuerlichen Entfaltung – allerdings um den Preis eines umfassenden Untergangs seiner sozialen Welt. Dieses Zerstörungspotential heroischer Exorbitanz in Bezug auf die eigene soziale Gruppe kann in der mittelalterlichen Heldenepik auch nach außen abgeleitet werden, und zwar bevorzugt im Religionskrieg gegen Andersgläubige. Be r n hard Te u b e r bespricht diese Ableitungsbewegung in der altfranzösischen Chanson de Roland und dem altspanischen Cid und zeigt, wie auch im Rahmen einer grundsätzlichen Nutzbarmachung und Legitimierung heroischer Kampfkraft für die christliche Sache die unkanalisierte, sozial destruktive Exorbitanz der Titelhelden gleichwohl Geltung behält oder kenntlich bleibt. Die Konfrontation des Exorbitanten mit den Normenkomplexen anderer Diskurse ist in der mittelalterlichen Literatur auch noch anderweitig nachvollziehbar, und zwar besonders gut dort, wo auf die heroische Überlieferung aus der Perspektive einer anderen literarischen Tradition geblickt wird. Solche »Reflexionen auf heldenepische Exorbitanz« in der Vormoderne, dem dritten Feld unserer Literaturgeschichte, führen den Heldentyp der Heldenepik als Gegenstand kulturgeschichtlicher Verhandlungen vor, dessen Bedingungen, Erscheinungsformen und Geltungsreichweiten ausgelotet und zur Debatte gestellt werden. À la longue bereiten diese Verhandlungen das Ende der Heldenepik in der europäischen Neuzeit vor. C o ri nna Dö rri c h zeigt, wie die alttestamentliche Erzählung von Judith und Holofernes an einem kulturgeschichtlich mehrfach belegten Narrativ weiblicher Exorbitanz partizipiert, und verfolgt dann, wie in mittelalterlichen Wiedererzählungen der Judith-Geschichte dieses Narrativ einerseits heldenepisch ausgestaltet und andererseits aus christlicher Perspektive problematisiert worden ist, ohne dass diese Problematisierung freilich vermocht hätte, die irritierende Faszinationskraft weiblicher Exorbitanz religiös zu neutralisieren. C or n e li a He rb e r ic hs denkt das Konzept postheroischer Perspektivik im Sinne kulturgeschichtlicher Staffelungen weiter. Sie analysiert, wie die Exorbitanz der im achten Buch der Aeneis erinnerten Hercules-Figur bei Vergil archaisierend distanziert wird und dass die mittelalterlichen Adaptationen der Aeneis dies unterschiedlich aufgreifen: der altfranzösische Roman d’Eneas durch Kanalisierung der Exorbitanz im Bild eines gesellschaftsdienlichen ritterlichen Retters, Veldekes deutscher Eneas durch Verschiebung auf Aeneas, dessen Exorbitanz allerdings als temporär nützliche Facette integriert ist in das Konzept eines vorbildlichen Herrschers. Vom Ritterideal sind auch die Texte geprägt, aus deren Spiegelungen C h r i st op h Pe t e r s e n das Phänomen heldenepischer Exorbitanz auf einen Eigenwert zurückführt, den heroi https://doi.org/10.5771/9783835349452

Christoph Petersen

sche Gewalt unabhängig von ihren narrativen Einbettungen immer besitzt. Er identifiziert diesen Eigenwert der Gewalt als Ursprungsvorstellung der europäischen Heldenepik und behauptet, indem er ihn auch in Erzählungen der Gegenwart fortleben sieht, dass die Vorstellung von Heldentum bis heute von ihrer heldenepischen Prägung beeinflusst ist. In der europäischen Neuzeit verändern sich die diskursiven Konstellationen, in denen über Helden literarisch gesprochen wird, fundamental dadurch, dass die alte Heldenepik als eine kurrente, lebendige Erzähltradition abstirbt und allenfalls noch – im Renaissance-Epos oder BarockRoman – als sprachlich-poetische Norm oder als Motiv- und Bildspender zitathaft aufgerufen wird. Das Ende der alten Heldenepik ging damit einher, dass sie im literarhistorischen Rückblick verzerrt wurde: vor allem durch Verwischungen der Traditionsgrenzen zwischen Heldenepik und Ritterroman (Ariosto, Tasso), so dass der Ritter zur Symbolfigur des Heroischen avancieren konnte (auch durch dessen Parodie im Ritter von der traurigen Gestalt hindurch) und schließlich die Kontrastfolie abgab für den Bürger als Helden.19 Im Rahmen und in der Folge dieser Entwicklungen konnte heroische Exorbitanz allenfalls in »Sonderbezirken« neuzeitlicher Literatur fortleben. In diesem v i e r t e n h i st or i s c he n Fe l d beleuchtet das Buch mögliche Erscheinungsweisen und Metamorphosen von Exorbitanz in ausgewählten Sonderbezirken schlaglichtartig: im Phantastischen, im kulturgeschichtlichen Außenseitertum und in der kindlich-adoleszenten Selbsterprobung. Markus May untersucht das dem Phänomen der Exorbitanz inhärente Moment eines potentiellen Umschlags des Heroischen ins Monströse. Er verfolgt dieses Moment in einer Linie von vormoderner Heldenepik zu Superhelden der Moderne und schließt aus ihr, dass das Einschüchterungspotential des Monströsen ein wesentlicher Bestandteil des Heldendispositivs bis heute ist. Ha n s Ri c h a rd Br i t t n ac he r zeigt, wie die Unstimmigkeiten in den urchristlichen Berichten zum Verrat und Selbstmord des Judas in der Neuzeit und Gegenwart zu literarischen Umwertungen der Figur weitergedacht und auserzählt worden sind ; dabei sind diese Umwertungen darauf gestützt, dass Judas – die Verräter-Figur der abendländischen Kulturgeschichte schlechthin – mit Zügen des exorbitanten Helden ausgestattet wird. Ja n a Mi kot a hebt aus einem Spektrum von Heldenbildern in aktuellen literarischen Erzählungen für Kinder solche heraus, in denen einerseits superheldische Selbstermächtigungen und andererseits alltagsweltliche Konformitätsverweigerungen 19 Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche, Frankfurt / M. 1973. 

Einführung

ausphantasiert und erzählerisch diskutiert werden ; beides lässt sich als Übertragung, Echo oder Analogiebildung der strukturell asozialen Selbstmächtigkeit heroischer Exorbitanz begreifen. Im 20. Jahrhundert verändert sich die Präsenz heroischer Exorbitanz im Vorstellungshaushalt der abendländischen Gesellschaften noch einmal erheblich durch den Siegeszug des visuellen Erzählens in verschiedenen Medien (vor allem Comic und Graphic Novel, Kinofilm, Fernsehen, Computerspiel). Gerade im visuellen Erzählen scheint die Aktionslastigkeit eines vormodernen, an den Kampf gebundenen Heldenbildes eine angemessene Form in Moderne und Gegenwart zu finden und in seinen Echos, die in dieser Form produziert werden, wieder aufzuleben. Grundlage dieser Wiederbelebung ist deshalb der mediale Transfer des kämpferischen Heldenbildes aus Schrift- in Bilderzählungen und von einem ins andere Medium visuellen Erzählens. Diese »transmedialen Echos« heroischer Exorbitanz bilden das f ü n f t e h i st or i sc h e Fe l d der vorliegenden Geschichte literarischen Heldentums. C o rd-Chri sti an C a sp e r untersucht, wie die exorbitante Identität der Heldenfiguren im Superhelden-Genre des Comic im Gegensatz zur Normalität der sie umgebenden Gesellschaften konstituiert wird und wie sie mittels der Vervielfältigung in Plotserien und in der Schaffung von parallelen Erzählwelten eingehegt wird: Superhelden beschränken ihre Exorbitanz, indem sie ihre eigene serielle Wiederkehr sicherstellen. Elisabeth Bro nf e n zeigt, wie der Figurentyp des lone ranger im Frontier-Mythos des US-amerikanischen Western, in dem Züge des exorbitanten Helden wiederbegegnen – exzeptionelle Bewährung im Kampf, einhergehend mit einer Existenzweise abseits der Gesellschaft –, in den weiblichen Figuren der Western-Serien Westworld und Godless gespiegelt und durch dieses Gendering neu definiert wird und wie dies jüngst im Film Nomadland auch den Effekt einer intertextuellen Heroisierung der Resilienz seiner Hauptfigur hervorbringt. Mit einer anderen Ikone europäischstämmiger US-amerikanischer Identität ist die Hauptfigur der Fernsehserie Breaking Bad verbunden: in der Namenresonanz von Walter White und Walt Whitman. Eli sa b e t h K. Pa e f g e n bildet Walter Whites Wechselexistenz zwischen bürgerlicher Normalität und krimineller Exzeptionalität ab auf die Beschädigungen, die diese Heldenfigur immer wieder kennzeichnen: Im bürgerlichen Milieu der städtischen Gegenwart ist der exorbitante als ramponierter Held kenntlich gemacht. Rober t Baum gar t n e r schließlich analysiert die strategischen Möglichkeiten von Computerspielen, die Identifikation des Spielers mit seinem Avatar, die bei gewaltbasierten Spielen eine Selbsterfahrung als selbstmächtiger und normüberschreitender, exorbitanter Held begünstigt, durch 

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führung und Entscheidungssituationen so zu steuern, dass die eigene Heroik wiederum als zweifelhaft und gar sinnlos erfahren werden kann. Zur Abrundung der Darstellung wird im se chs t e n his t o r is c he n Feld der kulturgeschichtliche Kontext »jenseits der Exorbitanz«, in den die zuvor angesprochenen Sonderbezirke und Echos des exorbitanten Helden in der abendländischen Moderne und Gegenwart eingebettet sind, selbst zum Thema gemacht. Das Konzept des sozial guten Helden, das heutzutage so unhinterfragt gilt, dass es auch den Ausgangspunkt der eingangs genannten Vervielfältigung des Heldenbegriffs bildet, wird am Konzept des exorbitanten Helden in seiner historischen Begrenztheit und Relativität durchschaubar: Der für das Gute streitende, normsetzende, vorbildliche, nachahmenswerte Held ist ein historisch spezifisches Konzept, typisch besonders für die abendländische Moderne und Gegenwart. Die daraus folgende Frage, wie es zur Ausbildung und Durchsetzung dieses Heldenkonzepts im 18. und 19. Jahrhundert gekommen ist, versucht Chri sto ph Pet e r se n zu beantworten. Diese Abrundung der Geschichte der literarischen Exorbitanz drückt ihr nicht das Siegel der Abgeschlossenheit auf, sondern akzentuiert im Gegenteil ihre Offenheit. Wichtige Gegenstände wären noch zu besprechen: die antike Heldenepik nach Ilias und Aeneis, die lateinische und volkssprachige Renaissanceepik, die slawische Heldenliedtradition, weitere Sonderbezirke und Echos des Heroischen in Neuzeit und Gegenwart (eminent: Nietzsches Übermensch). Vor allem aber will diese Geschichte offen sein dafür, die vielfältigen Heldenbilder der abendländischen Moderne und Gegenwart vom Konzept des exorbitanten Helden her neu überdenken zu helfen: ihre Bedingungen durchschaubar zu machen, ihre Gemeinsamkeiten und Ausdifferenzierungen zu beschreiben, ihre kulturellen und sozialen Funktionen zu erkennen, die dunkle Seite auch im guten Helden erklärbar zu machen ‒ und in allem zusammen: zu erkunden, worauf unsere Gewohnheit beruht, diesen und jenes in unserer Lebenswelt Held oder heroisch zu nennen. Das Buch will, indem es im Typus des exorbitanten Helden ein historisch und theoretisch haltbares Referenzkonzept für die vielfältigen Verständnisse des Begriffs Held heutzutage aufstellt, einen wissenschaftlichen Weg bahnen für weiteres Denken und Sprechen über die Relevanz von Helden in den liberalen Gesellschaften unserer Zeit.



Einführung

Editorische Notiz

Zitate in nicht gängigen Gegenwartssprachen werden stets übersetzt. Die Übersetzungen stammen, sofern nicht anders vermerkt, von den Beiträgerinnen und Beiträgern selbst. Abkürzungen folgen den gängigen Konventionen. Weniger gängiges sei hier (in alphabetischer Folge) aufgelöst: ags. = angelsächsisch ; akkad. = akkadisch ; anord. = altnordisch ; mhd. = mittelhochdeutsch ; sc. = scilicet: nämlich ; s. v. = sub voce: unter dem Stichwort. Biblische Bücher werden, auch wenn nach dem Original oder der lat. Vulgata zitiert, gemäß den in Deutschland üblichen Loccumer Richtlinien abgekürzt; vgl. https://de. wikipedia.org/wiki / Liste_biblischer_Bücher. Einen herzlichen Dank darf ich am Ende den Vielen sagen, die der Entstehung des Buches unter die Arme gegriffen haben: den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihr Engagement, sein Anliegen aufzugreifen und mitzugestalten ; Gudrun Kresnik, Susanne Reichlin, Thomas Steinbrunner, Andreas Hammer, Sven Hanuschek und Hanno Scheerer für ihre organisatorische Hilfe ; Anna-Theresa Kölczer vom Wallstein Verlag für ihre wunderbar reibungslose und zuvorkommende Betreuung ; und Jolanda Valeth für ihre höchst akkurate und umsichtige redaktionelle Mitarbeit.



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Johannes Bach

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Die Alterität vormoderner Kulturen1 stellt auch den Umgang mit den Texten der keilschriftlichen Kulturen des antiken Mesopotamiens unter besondere Bedingungen.2 Dessen archäologische Erforschung ist selektiv, und aufgrund des Überlieferungszufalls3 kann die Menge des uns unbekannten Textmaterials nur grob abgeschätzt werden. Trotz der Fortschritte in der Erschließung der vielen Sprachen des alten Mesopotamiens verbleibt manches weiterhin jenseits unserer philologischen Kompetenz.4 So ist das derzeitige Verständnis der Symbolwelten antiker Keilschriftliteraturen unweigerlich verkürzt. Hinzu kommen weitere Widrigkeiten. Wir haben wenig Einsicht in die Mentalitäten der Produzenten und Rezipienten literarischer Texte. Die Poetiken des antiken Mesopotamiens sind nie schriftlich fixiert worden, so dass unsere Kenntnis von Produktion und Rezeption literarischer Texte wenig detailliert ist.5 Zu beachten ist auch der elitäre sozio-politische Kontext mesopotamischer Literaturen: Gerade die uns bekannten Heldenerzählungen in akkadischer und sumerischer Sprache spiegeln die Sichtweisen und Ideologien dünner Oberschichten, unter deren Ägide Literatur produziert wurde.6 Trotz all 1 Vgl. Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, hg. v. Anja Becker u. Jan Mohr, Berlin 2012; Peter Strohschneider: [Art.] Alterität, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 58 f. 2 Zum keilschriftlichen Literaturbegriff und anhängigen Fragen s. Benjamin Foster: Before the Muses, Bethesda / MD 32005, S. 1–47. 3 Vgl. Alan Millard: Only Fragments from the Past. The Role of Accident in our Knowledge of the Ancient Near East, in: Writing and Ancient Near Eastern Society. Papers in Honour of Alan Millard, ed. by Piotr Bienkowski u. a., London u. New York 2005, S. 301–219. 4 Vgl. The Ancient Languages of Mesopotamia, Egypt, and Aksum, ed. by Roger Woodard, Buffalo / NY 2008. 5 Die antike gelehrte Auseinandersetzung mit keilschriftlicher Literatur bestand hauptsächlich in ihrer Kommentierung ; vgl. Eckart Frahm: Babylonian and Assyrian Text Commentaries. Origins of Interpretation, Münster 2011, S. 102–107 u. 111–121. 6 Vgl. Claus Wilcke: Wer las und schrieb in Babylonien und Assyrien? Überlegungen zur Literalität im Zweistromland, München 2000; Dominique Charpin: Reading and Writing in Babylon, Cambridge u. London 2010; Niek Vieldhuis: Levels 

Johannes Bach

dem ermöglicht das überlieferte Material eine ausreichend differenzierte Kenntnis keilschriftlicher Literaturgeschichte(n). Man nimmt an, dass etwa ab der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. literarische Texte niedergeschrieben werden konnten.7 Erhalten geblieben ist davon aber fast nichts, von der mutmaßlichen Fülle mündlicher Erzählungen und Lieder ganz zu schweigen. Die Epoche, ab welcher mesopotamische Literatur dann deutlich besser fassbar wird, ist die der Dritten Dynastie von Ur (Ur IIIZeit, 2104–1996 v. Chr.).8 Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten heute bekannten Gilgamesch-Texte.

Literaturgeschichtlicher Überblick

Nachweise der Existenz eines historischen Königs Gilgamesch von Uruk, die auf ca. 2700 v. Chr. anzusetzen wäre, sind heute unbekannt ; in den Schrift-Epochen des antiken Mesopotamiens wurde sie aber vorausgesetzt.9 Die antike Literaturgeschichte des Gilgamesch-Epos erstreckt sich über mehr als zwei Jahrtausende.10 Der Anzahl der gefundenen Fragmente nach zu urteilen, war das Gilgamesch-Epos in den Schreiberzirkeln des späten 2. und des 1. Jahrtausends v. Chr. auch außerhalb des Schulunter-

7 8

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of Literacy, in: The Oxford Handbook of Cuneiform Culture, ed. by. Karen Radner & Eleanor Robson, Oxford 2011, S. 68–89; Piotr Michalowski: Maybe Epic. The Origins and Reception of Sumerian Praise Poetry, in: Epic and History, ed. by David Konstan & Kurt Raaflaub, Hoboken / NJ 2010, S. 7–25; ders.: Divine Heroes and Historical Self-Representation, in: Bulletin of the Canadian Society for Mesopotamian Studies 16 (1988), S. 19–23; Dietz Otto Edzard: Altbabylonische Literatur und Religion, in: Die altbabylonische Zeit, hg. v. Dominique Charpin u. a., Fribourg u. Göttingen 2004, S. 485–572; Alasdair Livingston: Assyrian Literature, in: A Companion to Assyria, ed. by Eckart Frahm, Hoboken / NJ 2017, S. 359–367. Jeremy Black: Reading Sumerian Poetry, London 1998, S. 4. Alle Daten nach der Lower Middle Chronology; vgl. Sturt Manning u. a.: Integrated Tree-Ring-Radiocarbon High-Resolution Timeframe to Resolve Earlier Second Millennium BCE Mesopotamian Chronology, in: Public Library of Science ONE 11 (2016), e0157144 (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0157144). Vgl. Andrew George: The Babylonian Gilgamesh Epic, Oxford 2003, S. 101–119; Das Gilgamesch-Epos, hg., neu übersetzt u. kommentiert v. Stefan Maul, München 2005, S. 15–17. Vgl. Nathan Wasserman: The Distant Voice of Gilgameš. The Circulation and Reception of the Gilgameš Epic in Ancient Mesopotamia, in: Archiv für Orientforschung 52 (2011), S. 1–14; Andrew George: Gilgamesh and the Literary Traditions of Ancient Mesopotamia, in: The Babylonian World, ed. by Gwendolyn Leick, New York & London 2007, S. 447–459.

Gilgamesch

richts, wo es als Lehrmaterial genutzt wurde,11 sehr beliebt ; der jüngste heute bekannte Beleg wird auf ca. 130 v. Chr. datiert.12 Dagegen stammen, wie gesagt, die ältesten erhaltenen, in sumerischer Sprache abgefassten Erzählungen, in denen uns Gilgamesch als der damals schon vergöttlichte13 König der Stadt Uruk begegnet, aus der Zeit der Dritten Dynastie von Ur.14 Und noch vorausgegangen sein muss dieser Verschriftlichung eine Phase mündlicher Überlieferung. Die sumerischen Stücke sind nur lose miteinander verknüpft und behandeln Themen, die auch die späteren akkadischen Fassungen bestimmen, etwa den Zug in den Zedernwald, die Tötung des Himmelsstieres und die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Dies ist aber lediglich ein Ausschnitt aus einer uns nur in Andeutungen erkennbaren größeren Textwelt.15 Etwa ist ein Ur III-zeitlicher Text bekannt, der eine intime Begegnung zwischen einer gewissen Ninduganizi und Gilgamesch beschreibt.16 Diese Geschichte fand aber ebenso wie die Erzählung Gilgamesch und Akka17 keinen Eingang in die spätere altbabylonische Langfassung des Gilgamesch-Stoffes. Hingegen sind, trotz klarer Hinweise auf ihre Existenz, keine sumerischen Texte bekannt, die Gilgameschs Reise zum Fluthelden Ziusudra (akkadisch Utnapischtim) schildern.18 Nach dem Ende des Ur III-Staates wurden Gilgamesch-Stoffe auf Akkadisch verschriftlicht.19 Über eine Zeitspanne von etwa zwei Jahrhunderten existierte zunächst eine Vielzahl an noch nicht miteinander ver11 Vgl. Paul Delnero: Sumerian Literary Catalogues and the Scribal Curriculum, in: Zeitschrift für Assyriologie und Vorderasiatische Archäologie 100 (2010), S. 32–55; Petra Gesche: Schulunterricht in Babylonien im 1. Jahrtausend v. Chr., Münster 2001, S. 149 u. 172. 12 George (Anm. 9), S. 35–39, 381, 411 u. 740. 13 Frühester Beleg in der Götterliste von Fara (Mitte 3. Jt. v. Chr.), s. ebd., S. 119. 14 Zur Diskussion um mögliche ältere Gilgamesch-Texte s. Douglas Frayne: The Birth of Gilgamesh in Ancient Mespotamian Art, in: Bulletin of the Canadian Society for the Study of Mesopotamia 34 (1999), S. 39–49; vgl. dazu skeptisch George (Anm. 9), S. 5. 15 Vgl. ebd., S. 4–17, und Jeffrey Tigay: The Evolution of the Gilgamesh Epic, Wauconda / IL 1982, S. 34–36. 16 Gonzalo Rubio: Sumerian Literary Texts from the Ur III Period, Winona Lake / IN (voraussichtl. 2022). 17 Gilgamesh and Akka, hg., übersetzt u. kommentiert v. Dina Katz, Leiden 1993; Claus Wilcke: Gilgameš und Akka. Überlegungen zur Zeit von Entstehung und Niederschrift, wie auch zum Text des Epos mit einem Exkurs zur Überlieferung von Šulgi A und von Lugalbanda II, in: Dubsar anta-men. Studien zur Altorientalistik, hg. v. Manfred Dietrich u. Oswald Loretz, Münster 1998, S. 457–485. 18 George (Anm. 9), S. 19; Tigay (Anm. 15), S. 25 f. u. 238–240. 19 Nach der Ur III-Zeit wurden sumerische Gilgamesch-Texte zu Unterrichtszwecken zwar weiterhin kopiert, Neukompositionen auf Sumerisch sind aber 

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bundenen Gilgamesch-Geschichten. Erstmals wohl zwischen 1800 und 1600 v. Chr. wurden die Gilgamesch-Stoffe dann in eine vereinte Form gebracht, die man als ›Serie‹ bezeichnete (akkad. ischkaru). Das Altbabylonische Gilgamesch-Epos, dessen genaue Länge und Schöpfer uns unbekannt sind, wurde nach seiner Anfangszeile »schūtur eli scharrī« ›Alle Könige weit überragend‹ benannt. Diese Anfangszeile ist aber nur sekundär in Kolophonen und Katalogeinträgen belegt, denn lediglich die zweite und dritte Tafel des Altbabylonischen Gilgamesch-Epos sind heute bekannt. Die Fragmente legen nahe, dass das ältere Werk dem jüngeren Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos geähnelt haben muss. Zugleich sind von den serialisierten Fassungen der einzelnen Geschichten abweichende Nebenund Parallelversionen belegt, etwa von der Zedernwalderzählung.20 Ein weiterer altbabylonischer Text schildert Gilgameschs Zusammentreffen mit Schiduri, der göttlichen Schankwirtin im Gasthaus am Ende der Welt. Altbabylonisch nicht belegt sind die Episoden von der Tötung des Himmelsstiers und vom Treffen Gilgameschs mit Utnapischtim. Damit ist auch unklar, ob das Altbabylonische Gilgamesch-Epos bereits die Sintfluterzählung beinhaltete, die als eigenständiger altbabylonischer Text mit sumerischen Wurzeln vorliegt ; im späteren Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos erscheint die Sintfluterzählung für die Begegnung von Gilgamesch und Utnapischtim als funktional unerheblich.21 Etwa um 1200 v. Chr. wurde die Gilgamesch-Erzählung dann in die Form des 11-Tafel-Epos gebracht, im Folgenden als Standardbabylonisches Gilgamesch-Epos bezeichnet. Wie der altbabylonische Vorgänger vereint es mehrere Geschichten zu einem großen geschlossenen Zyklus,22 der wiederum nach der Anfangszeile der ersten Tafel als »scha naqba īmuru« ›der, der alles sah‹ betitelt ist und an den später noch eine zwölfte Tafel, eine akkadische Teilnacherzählung des sumerischen Stückes Gilgamesch, lich ; vgl. George (Anm. 9), S. 8 u. 17. – Im Folgenden halten sich die Übersetzungen aus dem Akkadischen generell an die angegebenen Textausgaben. 20 Daniel Fleming & Sara Milstein: The Buried Foundations of the Gilgamesh Epic, Leiden 2010. 21 Vgl. George (Anm. 9), S. 17–24, und Tigay (Anm. 15), S. 39–109; dazu Tzvi Abusch: The Development and Meaning of the Epic of Gilgamesh. An Interpretative Essay, in: Journal of the American Oriental Society 121 (2001), S. 614–622, und Andrew George: The Epic of Gilgameš. Thoughts on Genre and Meaning, in: Gilgameš and the World of Assyria, ed. by Joseph Azize & Noel Weeks, Leuven 2007, S. 37–66. 22 Vgl. neben den schon Genannten auch Gezina de Villiers: Understanding Gilgamesch. His World and His Story, Pretoria 2004, und Liesbeth Altes: Gilgamesh and the Power of Narration, in: Journal of the American Oriental Society 127 (2007), S. 183–193. Eine literarische Neuübersetzung bietet Sophus Helle: Gilgamesh. A New Translation of the Ancient Epic, New Haven / CT 2022. 

Gilgamesch

Enkidu und die Unterwelt, angefügt wurde.23 Als Urheber des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos gilt nach Ausweis eines neuassyrischen literarischen Katalogs ein gewisser Sîn-lēqi-unninni. Der Name ist möglicherweise eine antike scholarly fiction, doch er wurde wie Gilgamesch seit etwa dem 7. Jahrhundert als historisch angesehen: Zu dieser Zeit begannen einige Gelehrtenfamilien aus Uruk, ihre Genealogie auf Sînlēqi-unninni zurückzuführen ; eine seleukidische Liste machte diesen gar zum Hofgelehrten des Gilgamesch selbst.24

Exorbitanz in der mesopotamischen Literatur

Klaus von Sees Konzept des exorbitanten, für die europäischen Heldensagen und -epen charakteristischen Helden ist ein Versuch, den Begriff Held und die an ihn geknüpften moralischen und soziopolitischen Diskurse in ihrer kulturhistorischen Bedingtheit zu erfassen.25 In dieser Bedingtheit eignet das Exorbitanz-Konzept sich für transkulturelle Übertragungen. Heroische Exorbitanz manifestiert sich im Handeln wie im Sein und kann sowohl in außerordentlichen, d. h. die menschliche Ordnung transgredierenden Taten als auch in einer herausgehobenen sozialen Stellung, in exzeptioneller Geisteskraft und in übermenschlicher Körperlichkeit der Heldenfigur angezeigt werden. So entsprechen die exorbitanten Helden nicht einem menschlichen Ideal, und ihre Taten können nicht zur Nachahmung animieren: Das Faszinosum der Heldensage ist nicht in einer Vorbildlichkeit, sondern in einer durch Amoralität ermöglichten Transgressivität ihrer Protagonisten zu sehen. Diese Transgressivität, unter »Suspendierung der sonst geltenden Moral«,26 hat vielleicht den Rezi23 George (Anm. 9), S. 47–54. 24 Martin Worthington: [Art.] Sîn-lēqi-unninni, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, hg. v. Michael Streck u. a., Berlin u. Boston 2011, S. 520 f.; George (Anm. 9), S. 28–33. 25 Klaus von See: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt / M. 1971; ders.: Held und Kollektiv, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 1–35; ders.: Die Exorbitanz des Helden – die Texte und die Theorien, in: ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, mit einem Vorwort v. Julia Zernack, Heidelberg 2003, S. 153–164. Jüngste Diskussionen: Elisabeth Lienert: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos, in: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 38–63; Franziska Ascher: Erzählen im Imperativ. Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen, Bielefeld 2021, S. 145–150. 26 Ebd., S. 150. 

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pienten von Heldensage ermöglicht, sich selbst »am frühesten und nachhaltigsten« als autonom zu begreifen.27 In der Forschung zum mesopotamischen Altertum sind Untersuchungen heroischer Diskurse selten.28 Ein Konzept keilschriftliterarischen Heldentums, das dem von See’schen Modell in Kernpunkten ähnelt, wurde von Annette Zgoll vorgestellt, die ebenfalls die Überschreitung sozialer Normen und Grenzen in verschiedenster Form als das Schlüsselelement mesopotamischen Heldentums identifiziert.29 In Zgolls Modell bleibt zwar die Einbettung der Heldenfigur in Moraldiskurse entscheidend, definiert aber nicht Heldentum an sich. Mesopotamische Heldenfiguren können aufgrund ihrer hervorragenden Eigenschaften positive, gesellschaftserhaltende Funktionen erfüllen, z. B. der mutige Kriegergott Ninurta als Rächer und Beschützer. Sie können aber auch exorbitant, ohne Rückbindung an das Gemeinwohl handeln, wie etwa Gilgamesch und Enkidu. Im Extremfalle erscheinen transgressive Heldenfiguren als destruktive Anti-Heroen, beispielsweise der König Narām-Sîn in Fluch über Akkade oder der Gott Enlil in der Sintfluterzählung.30 Zgoll charakterisiert den altmesopotamischen Helden als Person, die liminale Prozesse durchlebt und sich und ihre Welt durch ihre Außergewöhnlichkeit, ihre Erlebnisse und Taten irreversibel verändert. Schwellensituationen sind vor allem der Kampf und die Schlacht, aber auch, wie eine mittelassyrische Geburtsbeschwörung zeigt,31 die damit verglichene Geburt eines Kindes. Zgoll verortet die Heldenfiguren in einem axial angelegten System und unterscheidet zwei grenzüberschreitende, exorbitante mesopotamische Heldentypen, den horizontalen und den vertikalen Helden. Die Kategorien sind als polare Zuspitzungen zu betrachten, die an Ernst Robert Curtius’ Dyade von heroisch-herrscherlicher fortitudo ›Tap27 Lienert (Anm. 25), S. 39. 28 Beispiele: Bendt Alster: The Paradigmatic Character of Mesopotamian Heroes, in: Revue d’Assyriologie 68 (1974), S. 49–60; zum Motiv des jungen Helden s. Le jeune héros, publ. par Jean-Marie Durand u. a., Fribourg u. Göttingen 2011; außerdem Michalowski: Origins (Anm. 6) u. ders.: Heroes (Anm. 6). – Ich gebrauche im Folgenden das Maskulinum Held, da im antiken Mesopotamien mit Ausnahme mythologischer Erzählungen über die regelmäßig als Heldin betitelte und handelnde Göttin Ischtar (aktueller Überblick: Louise Pryke: Ishtar, London 2017) nicht-männliche Heldenfiguren äußerst rar sind. 29 Annette Zgoll: Grenzerfahrungen. Eine Typologie des Helden anhand antiker mesopotamischer Quellen, in: Saeculum 59 (2008), S. 1–27. 30 Ebd., S. 5 u. ö. 31 Wilfred Lambert: A Middle Assyrian Medical Text, in: Iraq 31 (1969), S. 28–39, hier 31 f.: ›Die Gebärende […], wie ein Held, der kämpft, liegt sie darnieder in ihrem eigenen Blut‹ (Z. 36 u. 40). 

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ferkeit‹ und sapientia ›Weisheit‹ erinnern.32 Zgolls horizontale Helden sind Krieger und Eroberer, vertikale Helden hingegen Weisheitsfiguren und Zivilisationsstifter. Zwar gibt es einige Charaktere, die man fast als reine Formen betrachten kann, doch viele Helden der mesopotamischen Literatur weisen Züge beider Typen auf. Nur Vertreter des horizontalen Heldentypus werden in der mesopotamischen Literatur explizit als Helden bezeichnet.33 Das sumerische Wort für Held ist ur-sag, was etwa als ›herausragende Person‹ oder ›vorzügliche Entität‹ gedeutet werden kann,34 aber auch kriegerische Konnotationen hat. Für den größeren Teil der antiken Textgeschichte des Gilgamesch-Epos war allerdings der akkadische Heldenbegriff relevanter. Im Akkadischen gibt es mehrere Wörter für Held. Die häufigsten sind qarrādu und qurādu, zwei semantisch etwa gleichwertige Ableitungen von der Wurzel qrd, welche ›kriegerisch sein‹ bedeutet. Zwar können dem qarrādu-Helden auch weniger kämpferische Aspekte zugeschrieben werden. Gewöhnlich besitzen aber die akkadischen Heldenbezeichnungen martialisch konnotierte Merkmale, etwa überschießende Energie, jugendliche Männlichkeit, Stärke, Mut und körperliche Perfektion.35 Im Sinne des von See’schen Exorbitanz-Konzepts kann man den genannten Punkten auch den emotionalen Exzess beigesellen.36 Ein neuassyrisches Wörterbuch demonstriert einige dieser Zuschreibungen am Beispiel Gilgamesch: Es bezieht den arkanen sumerischen Namen kal-gaimin ›Stärkster von Sieben (= allen)‹ zuerst auf Gilgamesch und ordnet ihm dann die akkadischen Begriffe für ›Kämpfer‹ und ›Vorangehender, Anführer‹ zu.37 Vor diesem Hintergrund wird Gilgamesch auch im Titel dieses Beitrags als ›Krieger-Held‹ bezeichnet, als akkadischer qarrādu. Die Bezeichnung »Held« kann im Sumerischen und Akkadischen auf Götter wie auch Menschen angewandt werden. Im Heldentum berührten 32 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen u. Basel 111993, S. 176–190. 33 Zgoll (Anm. 29), S. 13–16 u. 18–22. 34 Ursprünglich mag ur-sag einen unverheirateten Jugendlichen bezeichnet haben ; vgl. Jeremy Black: The Slain Heroes. Some Monsters of Ancient Mesopotamia, in: Bulletin of the Canadian Society for the Study of Mesopotamia 15 (1988), S. 19–25, hier 20. 35 Zgoll (Anm. 29), S. 6 f. u. 19 f. Zum jungen Gilgamesch vgl. Nele Ziegler: Gilgameš. Le roi heroïque et son ami, in: Durand u. a. (Anm. 28), S. 289–305. 36 Karen Sonik: Gilgamesh and Emotional Excess. The King without Counsel in the SB Gilgamesh Epic, in: The Expression of Emotions in Ancient Egypt and Mesopotamia, ed. by Shi-Wei Hsu & Jaume Llop Raduà, Leiden 2020, S. 390–409; Helle (Anm. 22), S. 164–181. 37 Cuneiform Texts Bd. 18, S. 30, Kol. iv, Z. 6–10, s. George (Anm. 9), S. 86 f., 96 u. 143. 

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sich somit Menschliches und Göttliches, war die Grenze zwischen beidem durchlässig. Bei manchen weltlichen Herrschern ging deren in Inschriften und Hymnen verkündete Heldenhaftigkeit mit der Verehrung als lebender Gottheit einher, etwa bei Narām-Sîn von Akkade oder bei den Königen der Ur III-Zeit.38 Wie bei von See ist auch bei Zgoll Heldentum nicht notwendig mit ethischer Vorbildlichkeit oder gar Selbstaufopferungsbereitschaft verbunden. In der mesopotamischen Literatur kann Heldenhaftigkeit auch epischen Antagonisten, Dämonen und Todesgöttern zugeschrieben werden,39 etwa im sumerischen Gilgamesch und Huwawa B, der ältesten bekannten Fassung der Zedernwalderzählung: Sowohl Protagonist als auch Antagonist werden hier als »ur-sag« ›Krieger-Held‹ bezeichnet, doch es ist Gilgamesch, der als unaufrichtig dargestellt wird.40 Der horizontale Held erscheint oft als Figur, die sich dauernden Nachruhm durch Ausnahmetaten zu erwerben sucht. Ein Kernaspekt der nichtgöttlichen horizontalen Heldenfiguration ist der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit und damit einhergehend der Versuch, diese zu überschreiten. Eine Möglichkeit besteht eben darin, durch glorreiche Taten in Erinnerung zu bleiben. Dies spiegelt sich in der gewichtigen Formel »sich einen Namen Setzen« wider. Zum Akt des Namensetzens, mit Zgoll das Fernziel des horizontalen Helden, gehört ein Direktziel als Mittel zum Erreichen des Fernzieles. Typische Direktziele sind das räumlich weit Ausschweifende und Erobernde, der Zug ins ferne Land, wo man sich Ruhm erwirbt, und die erfolgreiche Rückkehr nach Hause.41 Im Gegensatz dazu wird der in anderen Bereichen exorbitante vertikale Held ungewollt ins Heroentum geworfen. Aufgrund seiner besonderen Eigenschaften, aber meist ohne viel eigenes Zutun, wird er in Situationen verstrickt, die statt zu Kampf und Eroberung zum Erlangen von Wissen 38 Zgoll (Anm. 29), S. 4, Anm. 4; Nicole Brisch: Of Gods and Kings. Divine Kingship in Mesopotamia, in: Religious Compass 7 (2013), S. 37–46. Zur im 24. Jh. bereits belegten göttlichen Verehrung des Gilgamesch s. George (Anm. 9), S. 123–135. 39 Beispielsweise dem Kriegsgott Erra und seinen Helden, den Sebettu; vgl. Gina Konstantopoulos: They are Seven. Demons and Monsters in Mesopotamian Textual and Artistic Tradition, Michigan 2015 (https://deepblue.lib.umich.edu/handle/2027.42 / 113660); auch Black (Anm. 34). 40 Gilgamesch und Huwawa B, Z. 128–130, s. Claus Wilcke: Gilgameš und Huwawa. Zwei Versionen der Zedernwaldepisode nebst einer Edition der Version B, München 1993, S. 16–34; Fleming / Milstein (Anm. 20), S. 198–205. Die Charakterisierung Huwawas als eines Helden wurde in der späteren Version Gilgamesch und Huwawa A größtenteils aufgegeben ; vgl. ebd., S. 80, Anm. 14. 41 Zgoll (Anm. 29), S. 8 f., 13 u. 18; vgl. dies.: Einen Namen will ich mir machen! Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit im Alten Orient, in: Saeculum 54 (2003), S. 1–11; Karen Radner: Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien zur Selbsterhaltung, Wiesbaden 2005. 

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und Einsicht führen. Die Vertreter dieses Typs werden durchgängig nicht als Krieger-Helden (qarrādu /qurādu) bezeichnet, sondern tragen Weisheitsepitheta. Auch vertikale Helden gehören den obersten Gesellschaftsschichten an und zeichnen sich als hervorragende, den Göttern ergebene Vertreter ihrer Professionen aus. Sie durchmessen andere Räume als horizontale Helden und müssen sich in mythischen Räumen (Himmel, Unterwelt) zurechtfinden. Neben ihren Rollen in philosophischen Weisheitsmythen wie etwa Adapa und der Südwind figurieren vertikale Helden auch als Gründer und als Vermittler von Zivilisationstechniken, so etwa Etana, ein König von Kisch, der die Pflanze der Geburt im Himmel findet, oder die »Sieben Weisen« des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos, welche die Fundamente der Mauern von Uruk legten, oder Enmeduranki von Sippar, der die Menschen die Ölwahrsagung lehrte.42 Gilgamesch wird von Zgoll zutreffend beiden Helden-Typen zugeordnet. Er trägt von Anfang an vertikale und horizontale Züge.43 Schon früher hatte Tzvi Abusch festgestellt, dass sich in der Entwicklung der akkadischen Gilgamesch-Dichtung die Konflikte zwischen heroischen und nicht-heroischen Aspekten von Gilgameschs Identität mehrfach wandelten: Zuerst stehen sich altbabylonisch Held und Mensch, dann standardbabylonisch Held und König und schließlich in der 12-Tafel-Version Held und Gott gegenüber ; und diese Konflikte würden stets zugunsten des Nicht-Heroischen aufgelöst.44 Man kann den Sachverhalt aber auch so interpretieren, dass Gilgameschs heroische Exorbitanz eben nicht aufgegeben, sondern stattdessen gezähmt, verwandelt und in gesellschaftskonforme Bahnen geleitet wird. Der Exzess des gesellschaftlich problematischen horizontalen Heldentums ist nötig, um Gilgamesch, dessen ichbezogenes Verhalten der Gesellschaft bisher nur abträglich war,45 schlussendlich eine Wandlung ins positiv vertikale Heldentum vollziehen zu lassen. Die Konzeptionen von Zgoll und von See ermöglichen es, solche Transformation zu berücksichtigen und kulturwissenschaftlich neu zu verorten: In der narrativen Logik des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos kommt das horizontale Heldentum zwar zu einem Ende, sein Ergebnis ist 42 Zgoll (Anm. 29), S. 10–14 u. 17 f.; vgl. Shlomo Izre’el: Adapa and the South Wind, Winona Lake / IN 2001; Michael Haul: Das Etana-Epos. Ein Mythos von der Himmelfahrt des Königs von Kiš, Göttingen 2000; Wilfred Lambert: Enmeduranki and Related Matters, in: Journal of Cuneiform Studies 21 (1967), S. 126–138. 43 Zgoll (Anm. 29), S. 2–5, 7 f. u. 21; anders Louise Pryke: Gilgamesh, London u. New York 2019, S. 67–87, die zwischen Held und Krieger Gilgamesch unterscheidet. 44 Abusch (Anm. 21), S. 616, vgl. S. 618 f. zum Ende des Epos ; ähnlich Andrew George: The Mayfly on the River. Individual and Collective Destiny in the Epic of Gilgamesh, in: KASKAL 9 (2012), S. 227–242, bes. 237. 45 Ebd., S. 228. 

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aber die für Gilgamesch als Individuum höchst schmerzlich erlangte Befähigung zum Herrschen als nun vertikaler Heldenkönig. Daher mündet die literaturgeschichtliche Entwicklung des Gilgamesch-Stoffes meines Erachtens nicht in der Abschreibung, sondern in der Umschreibung von Heldentum. Diese programmatischen Verschiebungen der Gewichtung von horizontalem zu vertikalem Heldentum zeigen sich in der diachronen Analyse der Stoffentwicklung.46 Der ältere Gilgamesch ist deutlich ausgeprägter ein horizontaler Held als der Gilgamesch des Standardbabylonischen GilgameschEpos, dessen Heldenhaftigkeit in einen umfassend weisheitlichen Rahmen eingebettet und schließlich gesellschaftlich nutzbringend kanalisiert wird. Die Behandlung heroischer Exorbitanz wandelt sich dementsprechend: Horizontale Exorbitanz wird fortschreitend gebrochen – ironisiert, bagatellisiert und in seiner Anmaßung entlarvt ; vertikales Heldentum hingegen wird in den Vordergrund geschrieben. In Tafel XI des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos schließlich ermöglicht die narrative Demonstration der Unmöglichkeit übermäßig ichbezogener vertikaler Exorbitanz – nämlich Gilgameschs fortwährendes Versagen bei dem Versuch, Unsterblichkeit zu erlangen –, dass der Möglichkeitsrahmen für Heldentum durch dessen gesellschaftliche Ausrichtung neu bestimmt wird. Aspekte dieses Wandels von Gilgameschs Heldentum zeigen sich besonders in der Entwicklung dreier Textabschnitte: der Zedernwaldgeschichte, des Treffens von Gilgamesch und Schiduri sowie der Einleitung des Epos.

Zedernwaldzug

Der Plot der Zedernwaldgeschichte ist in fast allen Versionen der gleiche: Gilgamesch und Enkidu ziehen in den Zedernwald, töten den Riesen Humbaba, fällen seine Zedern und kehren triumphierend nach Uruk zurück. In den sumerischen Fassungen der Episode ist dabei die Motivation des Namensetzens prominent. Die Furcht vor dem eigenen Tod und Vergessen motiviert den Protagonisten zum Zug in den Zedernwald. Zu Beginn von Gilgamesch und Huwawa A betet Gilgamesch zum Sonnengott Utu: 46 Zu den frühen Überlagerungen von vertikalem durch horizontales Heldentum in den sumerischen Zedernwalderzählungen s. Zgoll (Anm. 29), S. 21, Anm. 96. Zur Erzählstoffforschung s. Mythische Sphärenwechsel. Methodisch neue Zugänge zu antiken Mythen in Orient und Okzident, hg. v. Annette u. Christian Zgoll, Berlin 2019. 

Gilgamesch

›Utu, […] in meiner Stadt stirbt man, ist man voller Unruhe. Menschen sind verloren gegangen – das hat mich mit Widerwillen erfüllt. Ich habe den Hals über die Mauer gestreckt: Die Leichen im Wasser bringen den Fluss schier zum Überfließen. Das sah ich. Auch mir wird es so ergehen, das ist der Lauf der Dinge. Mag einer noch so hoch sein, zum Himmel kann er sich nicht recken. Mag einer noch so breit sein, über die ganze Erde kann er sich nicht strecken. Da ein Mensch das Ende des Lebens nicht überschreiten kann, will ich ins Gebirge ziehen, um mir da einen Namen zu setzen !‹ (Z. 21–32)47 Auch im Altbabylonischen Gilgamesch-Epos überwiegt das horizontale Heldentum. Der Vorschlag zum Zug in den Zedernwald ist nun Teil der Versuche des Gilgamesch, Enkidu, der die Wildnis der Steppe vermisst, durch eine Großtat wieder aufleben zu lassen. Das Motiv des Namensetzens ist dabei leicht verändert. Gilgamesch hält seinem Freund vor, Angst vor dem Tod zu haben. Der Beginn seiner Rede kann als Absage an ein vertikales Heldentum gelesen werden: ›Wer, mein Freund, kann zum Himm[el] aufsteigen? Es sind die Götter, die ewiglich mit der Sonne [verweilen]. Was die Menschen betrifft, so sind ihre Tage gezählt, all ihre Taten bloßer Wind. Und hier bist du, du fürchtest den Tod! […] Ich werde Dir vorangehen ! […] Sollte ich sterben, so habe ich mir immerhin einen Namen gemacht ! [Die Menschen werden sagen,] Gilgamesch hat sich dem wilden Humbaba zum Kampfe gestellt! […] [Aber D]u sprichst wie ein Feigling. Dein Mundwerk erschlaffte, du vergälltest [mir] mein Herz. Ich will [Hand] anlegen, ich will die Zeder fällen ! Einen [Namen, der] ewig fortdauert, will ich [mir] setzen!‹ (Yale-Tafel, Kol. iii, Z. 140–160; George [Anm. 9], S. 200 f.) Trotz des weiterhin prominenten Motivs des Namensetzens deutet sich hier bereits eine Ironisierung von Gilgameschs Geltungsdrang an. Vor dem Aufbruch präsentiert er sein Vorhaben den Ältesten der Stadt. Obwohl diese seinen Plan schließlich absegnen, ist das Unterfangen in ihren Augen der Stellung und Verantwortung des Gilgamesch unangemessen (Z. 247–271; ebd., S. 204–207). So finden sich unter den ansonsten wohlwollenden Wünschen der Ratsmitglieder auch durchaus spöttische Worte: 47 Dietz Otto Edzard: Gilgameš und Huwawa A, 1. Teil, in: Zeitschrift für Assyriologie und Vorderasiatische Archäologie 80 (1990), S. 165–203, hier 184; Fleming / Milstein (Anm. 20), S. 184. 

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›[Dein Vater, der göttliche] Lugalbanda möge Dir in Deinem Wunsch zur Seite stehen ! Erlange Deinen Wunsch wie ein kleines Kind !‹ (Z. 263–265; ebd., S. 206 f.) Der Vergleich mit einem Säugling schafft ein ironisierend-reflektierendes Distanzverhältnis zu Gilgameschs ichbezogener Exorbitanz.48 Ein solcher postheroischer Blick auf den Helden tritt dann im späteren Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos viel deutlicher hervor.49 Tatsächlich stellen der Zug in den Zedernwald und die Tötung des Humbaba schon in den ältesten Versionen der Geschichte ein Sakrileg dar. Zum Schluss des sumerischen Stückes Gilgamesch und Huwawa A klagt der Gott Enlil unter Inversion des Namensmotivs den Helden Gilgamesch an: ›Warum habt Ihr so gehandelt? War es bestimmt, dass sein [= Huwawas] Name von der Erde getilgt wird? Er hätte vor Euch sitzen sollen. Er hätte das Brot, das Ihr esst, essen sollen. Er hätte das Wasser, das Ihr trinkt, trinken sollen! Er hätte vor Euch geehrt werden sollen!‹ (Z. 187– 192; Edzard [Anm. 47], S. 190, Fleming / Milstein [Anm. 20], S. 189) Der Zorn der Götter über den Tod des Humbaba ist in der altbabylonischen Version nicht erhalten geblieben, findet sich aber später im Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos. Obwohl die jüngere Version der Zedernwalderzählung den älteren Vorgängern oft entspricht, zeigen sich doch einige markante Veränderungen, die das in dieser Episode weiterhin horizontale Heldentum des Gilgamesch nun dämpfen. Das Motiv des Namensetzens spielt hier keine auslösende Rolle mehr. Stattdessen appelliert Gilgamesch an die frühere stolze Wildheit des Enkidu: ›Warum nur, mein Freund, redest Du wie ein Schwächling? Du betrübtest mir mein Herz, da Dir Dein Mundwerk erschlaffte ! Was die Menschen betrifft, so sind ihre Tage gezählt, all ihre Taten bloßer Wind. […] Du wurdest in der Steppe geboren, Du wuchsest dort auf – vor Dir gerieten selbst die Löwen in Angst ! […] Dein wissendes Herz ist doch des Kampfes kundig !‹ (Tafel II, Z. 231–241; George [Anm. 9], S. 566–569; Maul [Anm. 9], S. 62) 48 Altes (Anm. 22), S. 187. 49 Begriff nach Christoph Petersen: Postheroische Perspektiven oder Die Signifikanz des Verkennens im Hildebrandslied, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 94 (2020), S. 417–443. 

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Vor den jungen Männern der Stadt begründet Gilgamesch das Unternehmen mit der überbordenden Kraft, die ihn zum Zug in den Zedernwald befähigt: ›Ich bin erstarkt zu solcher Kraft, dass ich den weiten Weg zu gehen vermag, dorthin, wo Humbaba wohnt. Einem Kampfe, den ich nicht kenne, werde ich mich stellen, eine Straße, die ich nicht kenne, werde ich befahren.‹ (ebd., Z. 262–264; George, S. 568 f.; Maul, S. 62) Der Ältestenrat verzichtet auf Segenswünsche und beschränkt sich auf Warnungen. In seiner Redeeröffnung weist der Vorsteher Gilgamesch zurecht: ›Du bist [noch] jung, Gilgamesch. Dein Herz trägt Dich empor. Und wovon auch immer Du sprichst – Du verstehst es nicht !‹ (ebd., Z. 289–290; George, S. 570 f.; Maul, S. 63) Gilgameschs Reaktion, die im standardbabylonischen Epos größtenteils verloren ist, hat nach einer älteren assyrischen Version50 nur Gelächter für die Empfehlungen des Rates übrig.51 Zuletzt gibt Gilgamesch im Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos den Einwohnern der Stadt Anweisungen für die Zeit seiner und Enkidus Abwesenheit (Tafel III, Z. 202–211; George, S. 584 f.; Maul, S. 70 f.). Dabei wird der oben zitierte altbabylonische Spott des Ältestenrates nun dem Protagonisten selbst in den Mund gelegt: ›[Diese Anweisungen sollen gelten] bis wir uns, wie ein kleiner Säugling, unser Begehr erfüllt haben, bis wir im Tor des Humbaba unsere Waffen aufgepflanzt haben.‹ (ebd., Z. 210 f.; George, S. 584 f.; Maul, S. 71) Durch die Zuschreibung des Säuglingsvergleichs an Gilgamesch selbst wird die Unternehmung der beiden Helden noch stärker aus dem rationalen Bereich der Erwachsenenwelt hinausgeschrieben. Gemäß der narrativen Logik des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos, nach der die ichbezogene heroische Exorbitanz erzählerisch vorgeführt und am Ende als schädlich entlarvt wird, erscheint der Vergleich als dem Helden selbst unbewusste beißende Ironie.

50 George (Anm. 9), S. 356–361 (Assyrian Manuscript Y). 51 Maul (Anm. 9), S. 160. 

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Das Motiv des Namensetzens begegnet aber zumindest einmal in der Zedernwaldepisode des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos. In allen Versionen der Geschichte hat Gilgamesch auf dem Weg zu Humbaba prophetische Alpträume. In der standardbabylonischen Version überwindet er nach dem letzten Traum seine Furcht und verkündet mit Todesverachtung, dass er sich durch heldenhaftes Benehmen »einen Namen setzen« wird (Tafel IV, Z. 245–248; George, S. 600 f.; Maul, S. 81). Doch als die Helden kurz darauf vor dem Zedernwaldriesen Humbaba stehen, ist Gilgamesch wieder tief verängstigt. Daraufhin reizt ihn Enkidu so, wie er einst selbst von Gilgamesch verspottet wurde: ›Warum nur, mein Freund, redest Du wie ein Schwächling? Du betrübtest mir mein Herz, da Dir Dein Mundwerk erschlaffte.‹ (Tafel V, Z. 100 f.; George, S. 606 f.; Maul, S. 85) Nachdem Humbaba überwältigt ist, überzeugt Enkidu den zögernden Gilgamesch, ihn auch zu töten.52 Dann wird das Motiv des Namensetzens in seiner ganzen Ambivalenz zur Sprache gebracht. Enkidu sagt zu Gilgamesch: ›[Wenn wir Humbaba töten, so] werden die großen Götter gegen uns in Zorn geraten, [sie] werden gegen uns grollen ! Errichte die ewige [Kunde], dass Gilgamesch den [wüsten] Humbaba erschlug !‹ (ebd., Z. 243–245; George, S. 610–613; Maul, S. 88) Die in allen Manuskripten beschädigte Stelle scheint statt »Name« das akkadische Wort für »Kunde, Nachricht« zu enthalten, doch die Aussage ist klar: Zwar mag man sich von Gilgamesch, dem Riesentöter, in Zukunft erzählen ; aber auch die Götter erreicht diese Kunde, und sie werden deswegen Enkidu töten (vgl. Tafel VII). Dadurch, dass Gilgamesch die ewige Kunde seiner Tat ›errichtet‹, überwindet er nicht den eigenen Tod, sondern löst den seines geliebten Freundes aus.

52 Zur sich wandelnden Rolle des Enkidu in der Geschichte der Zedernwalderzählung s. Fleming / Milstein (Anm. 20). 

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Schiduri-Erzählung

Die Tendenzen des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos, Gilgameschs Exorbitanz vom horizontalen Heldentum zu einer weisheitlich geprägten vertikalen Reorientierung zu verschieben, zeigen sich auch beim Vergleich der altbabylonischen mit der standardbabylonischen Version der Schiduri-Geschichte.53 In beiden Texten ist Schiduri die göttliche Schänkin im Gasthaus am Ende der Welt. Nur ein einziges altbabylonisches Manuskript der Episode ist bekannt. Die Tafel ist unvollständig erhalten, so dass Teile des vorangehenden Kontextes fehlen.54 Dem späteren Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos zufolge hatte sich der nach Tod und Begräbnis des Enkidu (Tafeln VII und VIII) zutiefst niedergeschlagene Gilgamesch sozial isoliert und zu einem wilden, umherschweifenden Leben in die Steppe zurückgezogen.55 Erneuten Antrieb erlangt er erst wieder durch ein göttlich gesandtes Traumgesicht, das ihm eine Reise zu Utnapischtim, dem Überlebenden der Sintflut, ankündigt. Dieser Traum markiert den Beginn der Transformation des vorerst weiterhin seiner Ichbezogenheit verhafteten Gilgamesch in einen vertikalen Helden. Wieder von »Lebensfreude« erfasst macht Gilgamesch sich auf den Weg zu Utnapischtims Wohnstatt (Tafel IX, Z. 1–18 u. Tafel X, Z. 46–71). Nach der Durchquerung des Sonnentunnels unter dem Māschu-Gebirge und des Gartens der Götter mit Fruchtbäumen aus Edelsteinen56 langt er bei Schiduris Haus am Meer an. Es bleibt unklar, wie viel von dem standardbabylonischen Text bereits altbabylonisch war. Das Altbabylonische Gilgamesch-Epos hat vor dem Dialog zwischen Schiduri und Gilgamesch nur ein Schlaglicht auf den sich in Primitivismus ergehenden trauernden Helden in der Steppe bewahrt. Dabei befindet sich dieser aber bereits auf der Suche nach der Unsterblichkeit (Kol. i, Z. 1’-15’).57 Nach einer Lücke setzt der Text in der Klagerede des Gilgamesch wieder ein. Gilgamesch 53 Zur Schiduri-Geschichte s. Tzvi Abusch: Gilgamesh’s Request and Siduri’s Denial, Part I, in: The Tablet and the Scroll. Near Eastern Studies in Honor of William H. Hallo, ed. by Mark Cohen u. a., Bethesda / MD 1993, S. 1–14, u. ders.: Gilgamesh’s Request and Siduri’s Denial, Part II, in: Journal of Near Eastern Studies 22 (1993), S. 3–17. Eine konkrete Verortung der Schiduri-Geschichte im altbabylonischen serialisierten Epos ist nicht möglich, vgl. George (Anm. 9), S. 273. 54 Ebd., S. 276–286. 55 Vgl. Michael Barré: Wandering about as a Topos of Depression in Ancient Near Eastern Literature and in the Bible, in: Journal of Near Eastern Studies 60 (2001), S. 177–187. 56 Keith Dickson: The Jewelled Trees. Alterity in Gilgamesh, in: Comparative Literature 59 (2007), S. 193–208. 57 Vgl. Kol. i, Z. 7 f.; George (Anm. 9), S. 275. 

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schildert Schiduri seine Trauer über Enkidus Tod und seine Angst vor dem Sterben (erhaltene Reste der Kol. ii).58 Der Rat, den sie Gilgamesch dann gibt, gilt als eine der prominentesten Formulierungen des carpe-diemMotivs in akkadischer Literatur.59 Schiduri findet wohlmeinende, aber auch deutliche Worte für Gilgamesch: ›Gilgamesch, wohin wanderst Du? Das Leben, das Du suchst, wirst Du nicht finden. Als die Götter die Menschen schufen, haben sie ihnen den Tod bestimmt, das Leben aber sich selbst behalten. Du, Gilgamesch, lass Deinen Magen voll sein, sei freudig Tag und Nacht. Lass täglich Frohsinn sein, tanze und spiele Tag und Nacht. Lass Deine Kleidung sauber, Deinen Kopf gereinigt und Dich selbst in Wasser gebadet sein. Betrachte genau das kleine Wesen, das Deine Hand hält. Lass Deine Frau sich immer wieder an Deinem Schoße erfreuen! Dies ist das Schicksal [der Menschen], dass wer lebt […]‹ (aB VA+BM, Kol. iii, Z. 1–15)60 Die Rede Schiduris kann als Entwurf für ein normal-sterbliches Leben Gilgameschs nach seiner Rückkehr nach Uruk gelesen werden.61 Ihr Rat bleibt jedoch wirkungslos, denn anstatt umzukehren, erzwingt Gilgamesch daraufhin von Ur-schanabi, dem nahebei weilenden Fährmann des Utnapischtim, die Überfahrt über den Ozean.62 Der Rest der Tafel ist nicht erhalten. Im Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos fehlt der Ratschlag der Schiduri.63 Diese erscheint hier größtenteils als zurückhaltende Zuhörerin. Gilgamesch, gerade aus dem unterirdischen Tunnel der Sonne emporgestiegen, betritt die Szene als Rabauke und Wüterich. Nach einiger Zeit erst kommt es zum Austausch mit Schiduri. Gilgamesch beklagt sich bitterlich über das Ableben des Enkidu und erzählt Schiduri, dass er aus Furcht vor dem eigenen Tod Utnapischtim um das Geheimnis der Unsterblichkeit bitten will. Schiduri erteilt nicht wie zuvor Rat, erkundigt sich aber nach Gilgameschs schwer gezeichnetem Aussehen und Gemüt (Tafel X, Z. 35–45). Als dieser sie um Hinweise für die Überfahrt zu Utnapischtim bittet, versucht Schiduri nur halbherzig, ihn abzuhalten, und fragt lediglich nach seinen Plänen im Falle einer Rückkehr (Z. 78–86): 58 Abusch (Anm. 53), Part I, S. 6, 9–12 u. ö. überlegt, ob Gilgamesch ursprünglich ein Zusammenleben mit der Göttin erstrebte, um so den Tod zu überwinden. 59 Über die Einordnung des Ratschlags bestehen konträre Auffassungen ; vgl. Abusch (Anm. 53), Part II, S. 17, u. George (Anm. 11), S. 275. 60 Ebd., S. 278 f.; Abusch (Anm. 53), Part I, S. 7; Part II, S. 16. 61 Abusch(Anm. 53); George (Anm. 9), S. 275. 62 aB VA+BM, Kol. iii, Z. 16 ff.; George (Anm. 9), S. 278–281. 63 Ebd., S. 32 u. 274 f. (»curiously absent from the Standard Babylonian Epic«); Tigay (Anm. 15), S. 99, Anm. 57 (»I am at a loss to explain its apparent omission«). 

Gilgamesch

›Gilgamesch, selbst wenn Du das Meer überquert haben solltest, wenn Du die Wasser des Todes erreicht haben wirst – was machst Du denn dann?‹ (Tafel X, Z. 85 f.; George, S. 678–683; Maul, S. 127 u. 129) Statt Gilgamesch wie zuvor eine vernünftige Besinnung auf die Freuden des irdischen Lebens zu raten, wirft die Schiduri des standardbabylonischen Epos ihn allein auf sich selbst zurück. Schlussendlich kann sie seinem Drängen nichts entgegensetzen und verweist ihn an den Fährmann Ur-schanabi (Tafel X, Z. 87–91; George, S. 682–685; Maul, S. 129). In der altbabylonischen Schiduri-Erzählung wird der zu erstrebende Lohn des Heldenlebens, trotz aller Namensetzerei und Grenzüberschreitung, mit den Annehmlichkeiten eines friedlichen Lebens zuhause korreliert. Die Verabschiedung des Abenteurers bleibt eine individuelle Angelegenheit und kommt dem Gemeinwohl wenig zugute. Das Standardbabylonische Gilgamesch-Epos hat hingegen den Rat der Siduri ausgetilgt und setzt das Gemeinwohl der ganzen Stadt an die Stelle des persönlichen Wohlergehens. Möglicherweise bereitet die Tilgung des Ratschlages der Siduri die spätere erzählerische Demonstration der Fehlleitung übermäßig ichbezogener Vertikalität vor, die dann in der Begegnung mit Utnapischtim, der Sintfluterzählung und dem fehlschlagenden Versuch, Unsterblichkeit zu erlangen, Inhalt von Tafel XI ist.64

Epische Einleitung

Einer der markantesten Unterschiede zwischen dem Altbabylonischen und dem Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos ist die Gestaltung der Einleitung. Die erste Tafel der altbabylonischen Serie ist nicht erhalten. Aus Schreiberzusätzen und Katalogeinträgen ist aber bekannt, dass die erste Zeile der altbabylonischen Tafel I (und somit der Titel der Serie) »schūtur eli scharrī« ›alle Könige weit überragend‹ gelautet haben muss.65 Einen mit diesen Worten beginnenden Hymnus an Gilgamesch findet man innerhalb des Textes der ersten Tafel des Standardbabylonischen GilgameschEpos (Tafel I, Z. 29–48). Dies legt nahe, dass in letzterem die Eröffnungspassage der älteren Fassung als Hypotext integriert und so bewahrt wurde. In der jüngeren, kunstvollen und durchdachten Konstruktion ist der alten Einleitungspassage ein zweiteiliger Zusatz vorangestellt: Nach einem (weiter unten zu besprechenden) Hymnus auf Gilgamesch als »scha naqba 64 Vgl. Altes (Anm. 22), S. 188 f. 65 George (Anm. 9), S. 447 f.; vgl. oben S. 30. 

Johannes Bach

īmuru« ›den, der alles gesehen‹ (Z. 1–12) wird dann der Leser adressiert und zum Betrachter Uruks gemacht (Z. 13–28; George, S. 538 f.; Maul, S. 46 f.), bevor dann die ältere Textschicht folgt.66 Die Ansprache des Lesers verbindet als ein Textgelenk den ihr vorangehenden neuen mit dem ihr folgenden alten Einleitungshymnus. In einer narrativen Metalepse67 wird der Leser aufgefordert: Steig doch hinauf, auf der Mauer von Uruk wandle umher ! Die Fundamente beschaue und das Ziegelwerk prüfe: Ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein [besteht], und ob die Sieben Weisen nicht [selbst] ihre Grundmauern legten! Eine [ganze] Quadratmeile ist Stadt, eine [ganze] Quadratmeile ist Gartenland, eine [ganze] Quadratmeile ist Aue, eine halbe Quadratmeile der Tempel der Ischtar. Drei Quadratmeilen und eine halbe, das ist Uruk, das sind [ihre] Maße! (Tafel I, Z. 18–23; George, S. 538 f.; Maul, S. 46)68 Wie ein älteres Fragment aus Ugarit69 zeigt, geht die Einleitung des »scha naqba īmuru« betitelten jüngeren Epos auf sehr ähnlich gestaltete Vorläufer zurück, in denen das Textgelenk aber noch intern ausgerichtet war: Hier bestieg der Protagonist, der gealterte König Gilgamesch, die Mauern von Uruk und prüfte sie, bevor er sich der Lektüre seiner Autobiographie und einer anschließenden Ausbesserung der Verteidigungsanlage zuwandte.70 So ist die metaleptische Leseradresse, die abgeschlossen wird durch einen autoreferentiellen Verweis auf den Träger des Textes selbst,71 66 Ebd., S. 538 f.; Maul (Anm. 9), S. 46 f. 67 Vgl. Alexander Bareis: Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe, Göteborg 2008, S. 189–214. 68 Vgl. dazu Altes (Anm. 22), bes. S. 191 ff.; Annette Zgoll: monumentum aere perennius. Mauerring und Ringkomposition im Gilgameš-Epos, in: Von Göttern und Menschen. Beiträge zur Literatur und Geschichte des Alten Orients. Fs. f. Brigitte Groneberg, hg. v. Dahlia Shehata u. a., Leiden u. Boston 2010, S. 443–470; Keith Dickson: The Wall of Uruk. Iconicity in Gilgamesh, in: Journal of Ancient Near Eastern Religion 9 (2009), S. 25–50. 69 Daniel Arnaud: Corpus des Textes de Bibliothèque de Ras Shamra-Ougarit (1936– 2000) en sumérien, babylonien et assyrien, Barcelona 2007, S. 130–138; Andrew George: The Gilgameš Epic at Ugarit, in: Aula Orientalis 25 (2007), S. 237–254. 70 Zgoll (Anm. 68), S. 458 f. mit Diskussion der Unterschiede ; vgl. Arnaud (Anm. 69), S. 130–138; George (Anm. 69). 71 Vgl. dazu George (Anm. 9), S. 446, u. Jennifer Finn: Much Ado about Marduk. Questioning Discourses of Royalty in First Millennium Mesopotamian Literature, Berlin u. Boston 2017, S. 64–71. 

Gilgamesch

in der standardbabylonischen Einleitung als eine postheroische Distanzierung ihrer Rezipienten vom Protagonisten funktionalisiert worden.72 Diese Distanzierung hat aber auch ein eigenes empathisches Potential, da sie den Leser selbst in die erzählte Welt zieht und zum Helden macht: zum heroischen Surrogat im Akt der Rezeption, das Gilgamesch durch das Erfahren seiner Taten ein neues, aktuelles Leben verleiht.73 Auf die beiden neuen Vorsätze der standardbabylonischen Version folgt dann die einstige Einleitung der altbabylonischen Serie. Die alte Einleitung betont die horizontal-heldenhaften Aspekte des Gilgamesch.74 Sie eröffnet mit der Suprematie des Protagonisten als ›alle Könige weit überragend‹, preist seine kriegerischen Fähigkeiten und bedient sich der Motive der weiten Reise und des Pioniers (Tafel I, Z. 29–40). Schließlich werden das Treffen mit Utnapischtim erwähnt und Gilgameschs größte Heldentaten genannt, das Wiedererrichten der von der Sintflut zerstörten Heiligtümer und das Wiedereinsetzen der vorsintflutlichen Riten (Z. 41– 44; George, S. 538–541; Maul, S. 46 f.). Der Abschluss der Passage nimmt das Thema königlicher Suprematie wieder auf. Die neue Einleitung des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos distanziert sich von dieser größtenteils horizontal-heroischen Konstruktion, die sie durch ihre Position als Texteröffnung überschreibt.75 Im Unterschied zur alten Einleitung thematisiert sie Gilgameschs Weisheit, seine arkanen Einsichten, sein allumfassendes Wissen und seine Kunde aus der Zeit vor der Sintflut. Der extreme Charakter dieser Erfahrungen wird durch ihre Korrelation mit dem Aufsuchen der »naqbu« ›Tiefe, Quelle‹ und der »ischdu« ›Grundfeste‹ des Landes herausgestellt. Die Reisen des Protagonisten werden von ihrem Endpunkt aus retrospektiv und horizontal antidynamisch im Motiv des ermüdeten, heimgekehrten Helden nur angespielt. Durch einen Verweis auf die Niederschrift der Taten des Gilgamesch auf einem Steinmonument wird die zeitliche Distanz zwischen Geschichte und Rezipienten bewusst akzentuiert. Zuletzt werden die Arbeiten des heimgekehrten Gilgamesch an der Mauer von Uruk hervorgehoben.76 Dabei deutet der Kontext des nachfolgenden metaleptischen Textgelenks an, dass das in Tafel I, Z. 10 erwähnte Steinmonument sowie eine wenig später (Z. 24–27) angeführte, auf der Mauerkrone in einer Schatulle deponierte Lapislazuli-Tafel – beide Schriftträger des 72 Altes (Anm. 22), S. 189 f. 73 Ebd., S. 191–193; Dickson (Anm. 68), S. 32 u. 44 f.; Helle (Anm. 22), S. 195–199; vgl. Lienert (Anm. 25), S. 39. 74 George (Anm. 9), S. 92–101 u. 447. 75 Vgl. ebd., S. 32 f.; Tigay (Anm. 15), S. 140–149; Finn (Anm. 71), S. 69 f. 76 George (Anm. 9), S. 538 f.; Maul (Anm. 9), S. 46. 

Johannes Bach

Epos – ikonische und mit diesen verzahnte Transformation der Stadtmauern selbst darstellen. Gilgameschs Bauleistungen sind die originäre, materielle Einschreibung seines Heldentums in die Welt: Mauerbau und Namensetzung fallen in eins. Die erzählerische Manifestation von Gilgameschs Heldentum im Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos ist seiner architektonischen Manifestation äquivalent.77 Schlussbetrachtung: Held und Stadt

Die standardbabylonische Neugestaltung der Einleitung des GilgameschEpos ist programmatisch. Wie Gilgamesch sehen die Leser die ›Tiefe‹ und ›Quelle‹, indem sie in den Zeilen der Einleitung durch die literarhistorischen Schichten des Epos in thematischer Regression hinabtauchen. Das Interesse an den Reisen und Taten des Gilgamesch ist nicht mehr an diesen selbst bzw. am Nachruhm des Helden ausgerichtet. Stattdessen sind die explorativ-kriegerischen Episoden im Standardbabylonischen GilgameschEpos die notwendige Vorbedingung, sozusagen die ›Grundfeste‹ für die Verwandlung des horizontalen in den vertikalen Helden. Die Einleitung des Epos korrespondiert mit der Ironisierung des Zedernwaldzuges und der Ausdünnung der Siduri-Episode. Gilgameschs horizontale Exorbitanz ist gezähmt, distanziert und biographisiert worden. Zu ihrem Zweck wird es, Gilgamesch in die Lage zu versetzen, seine größte, vertikale und selbstlose Tat zu vollbringen, nämlich die Erneuerung der von der Sintflut zerschmetterten Heiligtümer und das Wiedereinsetzen der vorsintflutlichen Riten. Und doch sind es gerade diese vertikalen Heldentaten, die nur anspielungsweise erwähnt werden – so, als ob ihr Medium gewechselt habe und sie nicht mehr in Taten und deren Erzählung, sondern in Werken wie der Mauer von Uruk manifest würden. Das Ende des Standardbabylonischen Gilgamesch-Epos ist eine wörtliche Wiederholung der Beschreibung der Stadt Uruk und ihrer Mauer im metaleptischen Textgelenk der Einleitung. So umfasst die Mauer von Uruk den Gilgamesch als Werk in einer ikonischen Ringkomposition.78 Die Mauer von Uruk und die Stadt des hochheiligen Eanna selbst sind aber auch technokratische Symbole der Zivilisation mit, wenn man so 77 Zgoll (Anm. 68), S. 447–452; Dickson (Anm. 68), S. 30–32. – Die Einstürzenden Neubauten haben ähnliche Gedanken in ihrem Titel Architektur ist Geiselnahme formuliert (in: Berlin Babylon, Our Choice / Zomba, Berlin 2001, Nr. 11): »Bauwut / Ein Senkblei als Winkelmaß der Geschichte / Fassadenschwindel / Was der Sänger, Sänger singt / Stein um Stein um Stein / Ist was der Sänger sieht / von Fassadenlügnern […] Architektur ist Geiselnahme«. 78 Zgoll (Anm. 68) und Dickson (Anm. 68). 

Gilgamesch

will, totalen Zügen. Die Stadt ist die dominante Form des Daseins, alles muss ihr untergeordnet sein – sogar ihr Herrscher. Alle Reisen und Abenteuer des Gilgamesch sind nur Versuche, aus dieser Welt auszubrechen, sich zu wandeln und unabhängig zu machen. Doch zum Ende der Tafel XI hat Gilgamesch alles verloren. Sein Freund Enkidu ist tot, das ewige Leben hat er nicht erhalten, da er bei der Probe, die ihm Utnapischtim stellte, versagt hat. Ihm bleibt nur das Kraut der Verjüngung, das man ihm zum Trost gab. Zusammen mit Ur-schanabi, dem Fährmann, macht er sich auf den Heimweg nach Uruk. Immer noch ist Gilgamesch nur auf sich konzentriert. Er will das Kraut der Verjüngung an einem alten Mann testen, um es dann sicher selbst nutzen zu können. Der Verlust der Pflanze, die ihm die Schlange im Schlaf raubt, ist für ihn niederschmetternd. Als sich Gilgamesch und Ur-schanabi schließlich Uruk nähern, zeigt sich der Held als gebrochen, als bereit, die Stadt in ihrer Totalität als seinen Lebenszweck zu akzeptieren. Der Sieg der Stadt ist der Sieg des vertikalen Heldentums. Die Ankunft in Uruk markiert den Abschluss einer Transformation, die mit dem Auf bruch aus der Steppe in Tafel IX begann. Diese Umwandlung lässt Gilgameschs Heldentum aber nicht enden, sondern unterwirft es dem Gemeinwesen und richtet seine zuerst noch ichbezogene Vertikalität nun für die Stadt nutzbringend aus. Ganz zum Ende des Epos wendet sich Gilgamesch zu Ur-schanabi um, und das Letzte, das man von dem Geschlagenen vernimmt, ist sein unvermeidlicher Lobpreis der Stadt Uruk und ihrer Mauer: ›Steig doch hinauf, Ur-schanābi, auf der Mauer von Uruk wandle umher. Die Fundamente beschaue und das Ziegelwerk prüfe: Ob ihr Ziegelwerk nicht aus Backstein [besteht], und ob die Sieben Weisen nicht [selbst] ihre Grundmauern legten!‹ Eine [ganze] Quadratmeile ist Stadt, eine [ganze] Quadratmeile ist Gartenland, eine [ganze] Quadratmeile ist Aue, eine halbe Quadratmeile der Tempel der Ischtar. Drei Quadratmeilen und eine halbe, das ist Uruk, das sind [ihre] Maße. (Tafel XI, Z. 323–328; George, S. 724 f.; Maul, S. 153)



Markus Janka

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Zeitdiagnosen vom Postheroismus zur Krise des Helden

Damit die den Launen der Überlieferungsgeschichte geschuldete Anfangsvereinsamung der homerischen Epik nicht den Blick der Interpreten auf die offenbar bereits im archaischen Griechenland spannungsreichen Verhandlungen heroischer Exorbitanz verstellt,1 soll eine aktuelle literarische Diagnose heroischer Anfechtbarkeit den Rückweg zu den epischen Quellen bahnen helfen. Der namenlose Ich-Erzähler, eine das vermeintliche Kentern und Ertrinken ihres daedalischen Vaters, des alten Fallmeisters am Weißen Fluss, überlebende und diesem nachforschende, als Hydrotechniker arbeitende Icarus-Figur, zeichnet in Christoph Ransmayrs hyper-ovidischer KlimaDystopie Der Fallmeister das Werden seiner Gegenwart, »etwa zweihundert Jahre in der Zukunft«,2 folgendermaßen: Kommissariate, Republiken, Grafschaften, Alpenbezirke, Matriarchate, Patriarchate, Herzogtümer und welche Namen sich die Zwerge auch 1 Zur kritischen Relativierung der Fixierung traditioneller Forschungsansätze auf den zum »Urknall« der europäischen Literatur verklärten Architext der homerischen Epen vgl. etwa Homer: The Resonance of Epic, ed. by Barbara Graziosi & Johannes Haubold, London u. a. 2005, S. 11–13. 2 So Tilman Spreckelsen: Anschreiben gegen die Gischt. Die flüssigen Hände der Schwester: Christoph Ransmayrs Roman Der Fallmeister erzählt von der Welt nach dem Klimawandel. Und wie man als Autor dem Wasser Konkurrenz macht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 3. 2021, S. 10: »Ransmayrs Erzähler, als Spezialist für Wasserbau ein hochbegehrter Mitarbeiter international agierender Konzerne, schildert eine Welt, deren politische Systeme in kleine Einheiten zerfallen sind und so den mächtigen Syndikaten nichts entgegenzusetzen haben. Der Klimawandel bringt Überschwemmungen und Stürme hervor, zugleich ist das Trinkwasser knapp, und die Allerweltsprognose, dass die Kriege der Zukunft ums Wasser geführt werden, ist hier vollständig eingetroffen, ergänzt allerdings um terroristische Anschläge auf die knappe Ressource – das Vergiften von Trinkwasservorräten scheint hier bereits traurige Realität.« 

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immer gaben – jede Scherbe wollte ihre eigene Hymne, ihre eigene, grotesk kostümierte und bis zum Staatsbankrott hochgerüstete Armee, ihre eigene Heraldik und wollte vor allem: eine eigene triumphale Geschichte und wollte selbst innerhalb der Evolution einen eigenen, ganz besonders heroisch gewundenen Weg von der Affenhorde zum bissigen Kleinstaat zurückgelegt haben. So unterschiedlich alle diese Kleinstaaten, alle diese Stämme, Clans und bösartigen Zwergenreiche auch waren, die entlang von Abertausenden Uferkilometern ihre vermeintliche Einzigartigkeit feierten – an einem Glauben hielt doch jede dieser Scherben einer nahezu vergessenen kontinentalen Größe mit fanatischer Beharrlichkeit fest: Der jeweils andere stand in der Ordnung der Welt unter dem eigenen Rang. Nur der eigene Rang glänzte, und seine Strahlkraft mußte mit allen Mitteln gegen den minderwertigen Rest der Welt verteidigt werden.3 Der räsonierende Rückblick auf den Zerfall der staatlichen Ordnung »im zerrissenen Europa« (S. 41), der bei aller universalhistorisch anmutenden Weite nach dem historischen Muster des Auseinanderbrechens der Donaumonarchie modelliert zu sein scheint, geißelt das Heroische als Instrument einer fehlgeleiteten und überhitzten, nationalistisch grundierten Traditionsschöpfung. Das Heroische rückt in dieser poststaatlichen Welt ins trübe Licht des als Spaltpilz desintegrierenden und das jeweils Eigene auf Kosten des jeweils Nächsten verherrlichenden Distinktivs. Es wird so zum Paradigma einer unheilvollen, dem Partikularinteresse verschriebenen Selbstbezogenheit und einer sich aus Überlegenheitsdünkel speisenden Agonalität. Eine solche Diagnose weist historisch auch auf das fragile System der griechischen Stadtstaaten (πόλεις) sowie auf die diese mythisch präfigurierenden, nach Stammesverbandsgebieten definierten Kontingente der Achaier vor Troia zurück.4 Etwa ein Jahr vor Ransmayrs Roman hat der Freiburger Kultursoziologe Ulrich Bröckling in seiner in der Einführung zum vorliegenden Buch angesprochenen Monographie die »gegenstrebigen Gleichzeitigkeiten« von postheroischen und neuheroischen Leitbildern zum Ausgangspunkt für seine mit einem »Zeitbild« verbundene Reflexionsgeschichte des Heroi-

3 Christoph Ransmayr: Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten, Frankfurt/M. 2021, S. 40. 4 Zur geographischen und historischen Kontextualisierung der homerischen Epen vgl. etwa Andrea Bignasca: Die mediterrane Welt und das griechische Westkleinasien zur Zeit Homers, in: Homer. Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst, hg. v. Joachim Latacz u. a., München 2008, S. 35–42 (mit weiterer Literatur). 

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schen (mit dem Schwerpunkt auf der Moderne) gewählt.5 Die kategorisierende Orientierung auch für die auf Heldenfiguren bezogene Deutung literarischer Texte erleichtern seine im zweiten Kapitel vorgestellten soziologischen Bausteine einer zeitdiagnostischen »Theorie des Heroischen«: Aus diesem Blickwinkel heraus lassen sich […] Elemente des Heroischen identifizieren, die mir als heuristischer Kompass dienen werden. Nicht immer kommen alle diese Elemente zusammen, außerdem wechselt ihre Gewichtung, und gewiss lassen sich noch weitere entdecken. Aber mehr als nur eines von ihnen findet sich in jeder Heldengeschichte und in jeder postheroischen Dekonstruktion von Heldengeschichten. Vorab sei gesagt, dass sie auf unterschiedlichen Analyseebenen liegen: Ein Teil von ihnen bezieht sich auf Eigenschaften heroischer Figuren (Exzeptionalität, Transgression, Agonalität, Männlichkeit, Handlungsmacht, Opfer), andere auf Besonderheiten heroischer Narrative (Tragik, moralische Affektion, ästhetische Inszenierung, Mythos), wieder andere auf Diskursarenen (Pädagogik) und analytische Zugriffsweisen (Typologien, Historiografie).6 Die von Ransmayrs Erzählerfigur als geschichtsmächtig beim Verschwinden staatlicher Ordnungsstrukturen ausgemachte Spannung von Heroisierung und Deheroisierung mit ihren »Modi und Dynamiken«7 erachtet Bröckling als wesentlich für eine »Theorie des Heroischen«. Die Gegenstrebigkeit dieser Ausprägungsformen scheint herosbezogenen Interpretamenten also ebenso inhärent wie das Milieu der Krise oder Krisenhaftigkeit als Zone der Bewährung.8 Die von Bröckling bevorzugten Wesensmerkmale heroischer Figuren berühren sich zu einem Teil mit dem Konzept der Exorbitanz nach Klaus von See,9 der allerdings – anders 5 6 7 8

Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, Zitat S. 14. Ebd., S. 22 f. Ebd., S. 21. Vgl. die Besprechung durch Stephan Speicher: Sollte es auf große Taten denn noch ankommen? Ausnahmegestalten sind so interessant wie verdächtig. Ulrich Bröckling hat an Helden und Heroismus nicht viel Vergnügen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 3. 2020, S. 10: »Der Heldenallergiker könnte sich also beruhigen. Doch was den jungen Engels begeisterte, der Wunsch nach Durchbrechung der Routinen, wird sich nicht einfach auflösen. Der Held ist ein Produkt der Krise, aber krisenfreie Entwicklungen sind selten.« 9 Zu von Sees Konzept vgl. aus der Sicht der Klassischen Philologie Harald Patzer: Homerische und germanisch-romanische Heldendichtung, in: Antike Texte in Forschung und Schule. Fs. f. Willibald Heilmann zum 65. Geburtstag, hg. v. Christoff Neumeister, Frankfurt / M. 1993, S. 7–27, hier 8 f.: »Die Faszination, die nach von See von den ungeheuerlichen Taten des Helden ausgeht, müsse auf ein Ziel gerichtet 

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etwa als Joseph Campbell10 und Karl Reinhardt11 – in der stattlichen Reihe der im Anmerkungsapparat aufgerufenen Referenzautoren fehlt. Von Campbell bedenkt Bröckling (sehr kritisch) indes wenig mehr als den auf James Joyce zurückgeführten Begriff monomyth, während er den klassischen Philologen Karl Reinhardt lediglich als Stichwortgeber für die kulturübergreifende Wirksamkeit von Heroen braucht. Dabei übersieht er, dass Reinhardts Bestimmung des Heros sich zwischen soziokultureller Affirmation, Selbstreflexion und Krisensymptomatik einpendelt und damit auch das von Bröckling getrennt behandelte »Modell der Geschichte des Heroischen«, nämlich »die Vorstellung von Heroismen als Indikatoren und Bearbeitungsmechanismen von Krisen«12 bereits in dialektischer Denkweise integriert: Der Held übersteigt in der Regel nicht Menschenmaß schlechthin, wohl aber gewohntes Maß. Menschenmaß schlechthin übersteigt der magische oder der mythische Held, z. B. Herakles, wie der ihm verwandte Märchenheld. Nicht durchaus, aber bisweilen ist der Held auch kultischen Ursprungs und kann ebenso auch wieder im Kultischen enden. Streng genommen, ist das in der Tat sein Ende. Der wahre Held muß erreichbar, darf nicht der Kritik entzogen sein. Der Held, nach allem, gehört zum Schatz der Urformen menschlicher Selbstdarstellung sowohl rühmender wie selbsterkennender Art. Der Mensch feiert im Helden seine Triumphe, Wünsche, Gefahren, Siege, Niederlagen, Ängste, Tapferkeiten, Überwindungen, Opfer, Schmerzen usw. Die epischen Helden gehören zwar zu gewissen Landschaften, Stämmen, Geschlechtern, aber zu Helden werden sie erst, indem sie deren Grenzen überschreiten.13 Diese feine Funktionsbeschreibung billigt Heldenfiguren bei aller »höchster ἀρετή-Bewährung«14 eine lediglich bedingte Inkommensurabilität zu,

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sein, das für sich genommen den Hörern des Liedes bewundernswert erschien, nur eben dass es auf exzessive oder gar unzulässige Weise erreicht wurde. In diesem Sinne spricht von See von einem problematischen Helden. […] Nur ist dieses Individuum kein gesellschaftlich ortloser Einzelner, sondern er ist durch seinen ἀρετή-Rang definiert, also der gerade normgemäß nach höchster ἀρετή-Bewährung Strebende«. Bröckling (Anm. 5), S. 64 f. mit Anm. 79 (S. 247). Ebd., S. 72 mit Anm. 91 (S. 248). Ebd., S. 72. Karl Reinhardt: Die Krise des Helden (Vortrag von 1953), in: ders.: Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, hg. v. Carl Becker, Göttingen 1960, S. 420– 427, hier 420 f. Siehe oben Anm. 9.

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verankert die Heroisierung in der für die Antike religionssoziologisch so bedeutsamen Kultaitiologie und bindet die exorbitant wirkenden Transgressionen, die solche Aktanten in unterschiedlichsten Sphären ihres Wirkens vollführen, an die anthropologisch so bedeutsame Ambivalenz zurück.15 Diese soll mithin als heuristisches Instrument bei den folgenden Textinterpretationen zum Einsatz kommen. Neueren Forschungsentwicklungen werde ich dabei sowohl durch die Einbeziehung modernster Heroenreflexion als auch durch die Einbindung einer historischen Perspektivierung Rechnung tragen. Die althistorische Forschung hat epochenübergreifende Diskursfelder abgesteckt, die im Rückblick von der voll entfalteten Poliskultur im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. auf deren Präfigurationen in der archaischen Epik anwendbar werden. So zeigt sich, dass heroische Exorbitanz sich von Anbeginn in einem Spannungsfeld von Sieghaftigkeit, Agonalität, Konflikt / Konsens, Ethos-Eliten-Exzellenz und Oratorik16 entfaltet und dadurch von vornherein als diskursiv eingehegt erweist. Exzessmarkierung und Konfliktlinien im Prooimion

Bereits das zu Beginn des Prooimions17 erklingende Titelwort ›Zorn‹ und die Zuordnung dieses Affektes an den solcherart als Titelhelden prädizierten ›Peleussohn Achilleus‹ markiert die Agonalität und Selbstbezogenheit dieses Aktanten als exzessiv:

15 Reinhardts Ansatz zu einer Typologie des Helden in der antiken Literatur erweist sich mithin als entschieden avancierter und gründlicher reflektiert als das auf Idealisierungen beharrende literarisch-kultursoziologische Persönlichkeitsbild von Achill, das Joachim Latacz Jahrzehnte später in einer Gesamtdeutung zeichnet ; vgl. Joachim Latacz: Achilleus. Wandlungen eines europäischen Heldenbildes, Stuttgart u. Leipzig 1995, S. 65: »Damit ist er [sc. Achill] in der Tat das Ideal des Adelsstandes Griechenlands im 8. vorchristlichen Jahrhundert. Freilich – in dieser Leuchtkraft, die als Appell gemeint ist, blitzte das Ideal damals zum letzten Male auf«. Deutungs- und rezeptionsgeschichtliche Facetten der iliadischen Achill-Figur erschließt Marta González González: Achilles, London u. New York 2018. 16 Karen Piepenbrink: Konflikt und Konsens in der politischen Kommunikation der attischen Demokratie des 4. Jh. v. Chr., in: Gymnasium 127 (2020), S. 1–19, entwickelt und erprobt diese Parameter bei ihren auf die Polis Athen des 4. Jh. v. Chr. fokussierten Analysen. 17 Motivanalytisch und sprachgeschichtlich orientierter Kommentar zum Text: Homers Ilias. Gesamtkommentar, Band 1: Erster Gesang (A), Faszikel 2: Kommentar, v. Joachim Latacz u. a., 3., durchgesehene Auflage, Berlin u. New York 2009, S. 12–24. 

Markus Janka

Μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληϊάδεω Ἀχιλῆος οὐλομένην, ἣ μυρί’ Ἀχαιοῖς ἄλγε’ ἔθηκε, πολλὰς δ’ ἰφθίμους ψυχὰς Ἄϊδι προΐαψεν ἡρώων, αὐτοὺς δὲ ἑλώρια τεῦχε κύνεσσιν οἰωνοῖσί τε πᾶσι, Διὸς δ’ ἐτελείετο βουλή, ἐξ οὗ δὴ τὰ πρῶτα διαστήτην ἐρίσαντε Ἀτρεΐδης τε ἄναξ ἀνδρῶν καὶ δῖος Ἀχιλλεύς. Τίς τάρ σφωε θεῶν ἔριδι ξυνέηκε μάχεσθαι; Λητοῦς καὶ Διὸς υἱός· ὃ γὰρ βασιλῆϊ χολωθεὶς (Ilias 1,1–9) Zorn besinge, du Göttin, des Peleussohnes Achilleus, / unheilvollen, der tausende Griechen mit Schmerz überhäufte, / viele Seelen von wackeren Kämpfern zum Hades hinabwarf, / Heldenseelen, sie selbst zum Fressen machte für Hunde / und für die Raubvögel alle, vollendet wurde Zeus’ Ratschluss ; / ab dem Zeitpunkt, an dem sich erstmals entzweiten und zankten / Atreus’ Sohn, Kommandant der Männer, und Halbgott Achilleus. / Wer von den Göttern hat sie zum Zank gehetzt und zum Kämpfen? / Letos und Zeus’ Sohn. Der war auf den König sehr wütend.18 Die thymotischen Energien19 wirken mithin nicht nur als Initialzündung von actio und narratio. Die mit drastischen Bildern als Schauderszenarien ausgemalten Vielzahlbetonungen koordinieren textsemantisch Heroismus, Leid, Zersetzung und Tod. Die Dehumanisierung der Heroen20 von ›wackeren Kämpfern‹ zu Tiernahrung erweist sich als Wirkungsexzess eines in seiner Gemeinwohlvergessenheit verheerenden Konflikts in der Füh18 Der griechische Text nach Homeri Ilias, recensuit Martin L. West, Bd. 1 (Gesang 1–12), Stuttgart u. Leipzig 1998; Bd. 2 (Gesang 13–24), München u. Leipzig 2000. Zu meinem Übersetzungskonzept im Traditionskontext der Homerverdeutschungen vgl. Markus Janka: Neue Rhapsoden braucht das Land. Christoph Martin und Raoul Schrott auf der Suche nach einem deutschen Homer der Postmoderne, in: Text+Kritik-Sonderband »Homer und die deutsche Literatur«, hg. v. Hermann Korte, München 2010, S. 242–261. 19 Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt / M. 2006. Zur Applikation des Konzepts auf das Zorn-Motiv im antiken Epos vgl. Markus Janka: Zorn und Zeit: Die Metamorphosen von Homers Ilias in Ovids Verwandlungsepos, in: Themen und Texte. Anregungen für den Lateinunterricht, hg. v. Rolf Kussl, Speyer 2010, S. 79–128. 20 Vgl. Latacz u. a. (Anm. 17), S. 18: »Heroen evoziert so beim Publikum zugleich historische und soziale Vorstellungen von einem Menschentypus längstvergangener singulärer Qualität (urspr. viell. Herr, Meister […])«. Die Reichweite von Begriff und Konzept des Heros in der Ilias untersucht umfassend Fabian Horn: Held und Heldentum bei Homer. Das homerische Heldenkonzept und seine poetische Verwendung, Tübingen 2014. 

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rungselite. Die koordinierte Hierarchisierung auf göttlicher und menschlicher Ebene betreibt eine Parallelisierung der Wirkursachen, die strukturell prominent in 1,5 bei ›Zeus’ Willen‹ als einer Art Letztverantwortlichkeit gipfelt. Der Angriffspunkt der Narration beim Uranfang des Elitenkonfliktes (1,6) befördert diesen Rangstreit der ›Besten‹ ἄριστοι in ein Brennglas. Die Dualität der göttlichen und menschlichen Wirkungssphäre findet in der Doppelung des Zornmotives bei Achill (im Prooimion primär 1,1) und Apoll (sekundär 1,9) ihren Niederschlag. Das horizontale Elitenzerwürfnis ist mithin untrennbar mit einem vertikalen Zerwürfnis der ungleichen Sphären Götter und Menschen verwoben. Diese Zusammenhänge im Zeichen einer unheilvollen Massenvernichtung sind zu Beginn der Partikularerzählung unserer Ilias derart übermächtig, dass die Einbettung in den epischen Kyklos ganz außer Betracht und Troia sowie der seit neun Jahren um diese Stadt tobende archaische Weltkrieg unerwähnt bleiben. Ganz ohne diese kyklische Kulisse gewinnt Apolls Zorn auf den Oberkommandierenden Agamemnon (1,9, aktualisiert in 1,44, 46, 64, 75)21 gerade als Auslöser der Kausalkette, die zum werkdominierenden Zorn Achills führen wird, eine bezeichnende Eigendynamik.

Krisenhafte Interaktion der Besten im Modus unversöhnlicher Elitenkonkurrenz

Agamemnons ehrverletzende und frevelhafte Bedrohung und Abweisung (1,11, bestätigt 1,94–96) des Apollonpriesters Chryses geschieht aus einem verderblichen Eigensinn heraus, mit dem sich die Führungsfigur gegen ›alle anderen Achaier‹ (also eben auch Achill) stellt (1,22–25): ›Auszutilgen des Priamos Stadt und gut nach Hause zu kommen‹ (1,19) ist zu Beginn der Ilias eben nicht das erklärte Interesse der griechischen Militärs, sondern wird als anfänglicher Segenswunsch von dem um Freilassung seiner Tochter bittenden Chryses erstmals im Epos22 verbalisiert. In Anbetracht der von Apoll als Vergeltung verhängten Seuche, die zum unheldischen Massensterben unter den Achaiern führt (1,52), ist es Achill, der aus ›Für21 In 1,75 äußert sich durch die Wiederholung des Themenwortes an wiederum erster Stelle im Vers die Parallelität zwischen »μῆνιν Ἀπόλλωνος« und »μῆνιν […] Πηληϊάδεω Ἀχιλῆος« (1,1) auch in der elementaren sprachlichen Form. 22 Latacz u. a. (Anm. 17), S. 33: »Erste Erwähnung des Handlungsorts, aus dem Mund einer Figur […]: Vorausgesetzt wird, daß die Identifizierung des Handlungsorts durch das Publikum bereits erfolgt ist […] und daß die Identität von ›Priams Stadt‹ mit Ilios / Troia bekannt ist«. 

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sorge um die Danaer‹ (1,56) eine symbouleutische Versammlung des Kriegsvolkes einberuft (1,54) und als Erster das Wort nimmt: Mit der Konsultation des Sehers Kalchas aktiviert der Heros zunächst die Vertikalbeziehung zur göttlichen Sphäre, um sich einen gemeinwohlorientierten Ausweg aus der existentiell bedrohlichen Krise weisen zu lassen. Vor seinen Eröffnungen sichert sich der Seher erfolgreich den Schutz Achills gegen den richtig erahnten und treffend prognostizierten Zorn des allermächtigsten ›Besten‹ »ἄριστος« Agamemnon (1,74–91).23 Dessen vom Erzähler als somatisch wie psychisch grenzüberschreitend markierter Ausbruch gegen den Seher (1,101–115) mildert sich zunächst in der Ankündigung, um des Gemeinwohls willen die innig geliebte Chryseis freizulassen (1,116 f.).24 Doch mit seinem Junktim einer statusbezogenen Gegenforderung aus dem Beutegut der Gemeinschaft, die er damit rangbewusst als Gruppe von Untergebenen definiert (1,118–120), provoziert er umgehend den Einwand Achills, der ihn auf die Zeit nach der Plünderung Troias vertröstet (1,121–129). Schon hiermit ist im Zeichen der Singularinteressen der Führungselite der gemeinschaftliche Sieg über Troia als Mittel zur Befriedigung der Beutegier der Kommandierenden offengelegt. Der Elitenzank eskaliert, als Agamemnon Achills Einwand mit dem völlig einsamen und offenbar impulsiven Entschluss eigenmächtiger Ersatzbefriedigung aus dem Beutegut der bewährten Kämpfer Aias, Odysseus oder auch Achill selbst kontert ‒ ungeachtet der zu erwartenden thymotischen Wirkungen (1,130–139, bes. 139 mit ausdrücklicher Geringschätzung des antizipierten Zorns [χόλος] eines Betroffenen): Achill, sogleich bei seiner Heldenehre (τιμή) gepackt, holt zu einer Grundsatzabrechnung aus und beschimpft Agamemnon als schamlosen und unverhältnismäßig raffgierigen Nutznießer verbündeter Kampfkraft (1,148–171). In letzter Konsequenz verkündet er, ohne irgendwelche Einwände anderer abzuwarten, den ebenfalls völlig einsamen und impulsiven Entschluss, sich ins heimatliche Thessalien zurückzuziehen. Als Agamemnon darauf mit einer ähnlich grundsätzlichen Erklärung seines persönlichen Widerwillens gegen Achills aufbrausend streitlustigen Charakter reagiert (1,172–178, bes. 177), die Gleichgültigkeit gegenüber dessen Zorn expliziert, ihn definitiv nach Hause schickt und dieses Zerreißen der Verbindung mit der Drohung krönt, zur Demonstration seiner Überlegenheit auf Achills Beute (γέρας) zuzugreifen, rastet Achill beinahe aus: Als er bereits das Schwert zückt, um damit den Oberkommandieren23 Die Andeutungen des Kalchas in 1,78 f. über den Zorn eines in der Gruppe Übermächtigen weisen auf 1,6 f. zurück. 24 Die Fürsorgeproklamation des Redners in 1,117 konvergiert mit dem Erzählerkommentar zu Achills Motivation in 1,56. 

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den abzustechen und die Kameraden aufzuschrecken, kann ihn allein das göttliche Eingreifen der epiphanen Athene von diesem äußersten Exzess der Unbotmäßigkeit abbringen (1,188–218). Achill belässt es bei ehrverletzenden Beschimpfungen seines Befehlshabers als beuteversessenen Feiglings und verkündet öffentlich unter Eid, auch in der allerschlimmsten Bedrängnis den eigenen Leuten wegen der jetzigen ›Entehrung als Bester‹ (1,244) niemals wieder durch Kampfkraft beizustehen. An diesem Punkt der heftigsten Pflichtvergessenheit der ἄριστοι, an dem für Achill die eigenen Kriegstoten nur mehr Mittel zum Zweck der imaginierten Ehrpflege oder Prestigesteigerung sind (1,240–244), ergreift eine mäßigende Stimme das Wort: In die verderbliche, weil prospektiv tödliche Zerrissenheit der Ersten hinein, die sich nach Achills emblematischem Hinwerfen des Szepters in stummes Brüten vergraben (1,245–247a), ertönt die Stimme Nestors, den der Erzähler als idealen vermittelnden Redner charakterisiert.25 Der Wohllaut seiner angenehm dahinfließenden und dabei sanft tönenden Worte sichert ihm Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit (1,248 f.). Nestors unvergleichlich hohes Alter und seine Führungskompetenz bewirken ein außergewöhnlich gravitätisches Ethos der Rednerpersönlichkeit (1,250–252). Zudem ist er integer, da er, auf Ausgleich bedacht, keine Singular- oder Partikularinteressen verfolgt, sondern den Streithähnen ebenso wohlgesonnen ist wie der Gemeinschaft (1,253). Mit seiner Rede, ihrer rhetorischen Ausgestaltung wegen hier ganz zitiert, geht Nestor medias in res: ›ὦ πόποι ἦ μέγα πένθος Ἀχαιΐδα γαῖαν ἱκάνει· ἦ κεν γηθήσαι Πρίαμος Πριάμοιό τε παῖδες ἄλλοι τε Τρῶες μέγα κεν κεχαροίατο θυμῷ εἰ σφῶϊν τάδε πάντα πυθοίατο μαρναμένοιιν, οἳ περὶ μὲν βουλὴν Δαναῶν, περὶ δ᾽ ἐστὲ μάχεσθαι. ἀλλὰ πίθεσθ᾽· ἄμφω δὲ νεωτέρω ἐστὸν ἐμεῖο· ἤδη γάρ ποτ᾽ ἐγὼ καὶ ἀρείοσιν ἠέ περ ὑμῖν ἀνδράσιν ὡμίλησα, καὶ οὔ ποτέ μ᾽ οἵ γ᾽ ἀθέριζον. οὐ γάρ πω τοίους ἴδον ἀνέρας οὐδὲ ἴδωμαι, οἷον Πειρίθοόν τε Δρύαντά τε ποιμένα λαῶν 25 Zu Nestors Ausgleichsversuch vgl. den Kommentar von Latacz u. a. (Anm. 17), S. 103–116; zur rhetorischen Ausgereiftheit seiner Rede Ernst Heitsch: Verständigung im Gespräch, in: ders.: Wege zu Platon, Göttingen 1992, S. 102–116: »Auf der Basis von Lebenserfahrung und psychologischer Einsicht hat die praktische Beredsamkeit tatsächlich schon hier, in der frühesten griechischen Literatur, einen Stand erreicht, für den die rhetorische Theorie erst Jahrhunderte später geliefert werden sollte« (S. 107). 

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Καινέα τ᾽ Ἐξάδιόν τε καὶ ἀντίθεον Πολύφημον Θησέα τ᾽ Αἰγεΐδην, ἐπιείκελον ἀθανάτοισιν· κάρτιστοι δὴ κεῖνοι ἐπιχθονίων τράφεν ἀνδρῶν· κάρτιστοι μὲν ἔσαν καὶ καρτίστοις ἐμάχοντο φηρσὶν ὀρεσκῴοισι καὶ ἐκπάγλως ἀπόλεσσαν. καὶ μὲν τοῖσιν ἐγὼ μεθομίλεον ἐκ Πύλου ἐλθὼν τηλόθεν ἐξ ἀπίης γαίης· καλέσαντο γὰρ αὐτοί· καὶ μαχόμην κατ᾽ ἔμ᾽ αὐτὸν ἐγώ· κείνοισι δ᾽ ἂν οὔ τις τῶν οἳ νῦν βροτοί εἰσιν ἐπιχθόνιοι μαχέοιτο. καὶ μέν μευ βουλέων ξύνιεν πείθοντό τε μύθῳ. ἀλλὰ πίθεσθε καὶ ὔμμες, ἐπεὶ πείθεσθαι ἄμεινον· μήτε σὺ τόνδ᾽ ἀγαθός περ ἐὼν ἀποαίρεο κούρην, ἀλλ᾽ ἔα ὥς οἱ πρῶτα δόσαν γέρας υἷες Ἀχαιῶν· μήτε σὺ Πηλείδη ἔθελ᾽ ἐριζέμεναι βασιλῆϊ ἀντιβίην, ἐπεὶ οὔ ποθ᾽ ὁμοίης ἔμμορε τιμῆς σκηπτοῦχος βασιλεύς, ᾧ τε Ζεὺς κῦδος ἔδωκεν. εἰ δὲ σὺ καρτερός ἐσσι θεὰ δέ σε γείνατο μήτηρ, ἀλλ᾽ ὅ γε φέρτερός ἐστιν ἐπεὶ πλεόνεσσιν ἀνάσσει. Ἀτρεΐδη σὺ δὲ παῦε τεὸν μένος· αὐτὰρ ἔγωγε λίσσομ᾽ Ἀχιλλῆϊ μεθέμεν χόλον, ὃς μέγα πᾶσιν ἕρκος Ἀχαιοῖσιν πέλεται πολέμοιο κακοῖο.‹ (1,254–284) ›Weh und ach! Gewaltiges Leid hat Achaia befallen! / Jubeln können da Priamos und Priamos’ Söhne, / auch den anderen Troern wärmt Schadenfreude die Herzen, / wenn sie das alles erfahren, wie ihr euch beide bekämpft hier, / ihr seid die Helden im Rat der Danaer, Helden des Kampfes. / Lasst euch doch überzeugen ; ihr beide seid jünger als ich bin. / Schon vor Zeiten war ich mit größeren Helden als ihr seid, / mit echten Männern zusammen, und niemals nahm man mich nicht ernst. / Denn nie zuvor sah ich solche Männer und sehe sie jetzt nicht / wie Peirithoos und Dryas mit seiner Herde von Kriegsvolk, / Kaineus und Exadios und – ein Mannsbild wie Gott – Polyphemos, / Theseus auch, Aigeus’ Sohn, ein Abbild unsterblicher Wesen: / Kraftpakete erzogen die Erdbewohner mit ihnen. / Kraftpakete wie sie hatten Kraftpakete zu Gegnern, / Monster, in Bergen zuhause, zum Fürchten war das Gemetzel. / Und unter denen war ich, aus Pylos war ich gekommen, / aus der Ferne, entlegenem Land ; sie beriefen mich selber. / Und im Kampf stand ich da meinen Mann. Mit solchen kann keiner / von den heutigen menschlichen Erdbewohnern noch kämpfen. / Meine Ratschläge zählten, sie ließen sich überzeugen. / Lasst euch auch ihr überzeugen, denn Überzeugung ist besser. / Weder nimm du diesem hier, so groß du auch 

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bist, seine Frau weg, / sondern lass ihm das Geschenk, das ihm gaben die Söhne Achaias. / Noch sei du, Peleus’ Sohn, erpicht auf Streit mit dem König, / in gewaltsamem Trotz, da niemals Gleichrang besteht beim / szeptertragenden König, dem Zeus den Adel geschenkt hat. / Wenn du auch kräftig bist und göttlich ist deine Mutter, / hat er doch größere Macht und über mehr Leute Herrschaft. / Atreussohn, du setz’ deiner Wut ein Ende. Doch ich hier / bitte persönlich Achill, den Zorn zu lassen, da er groß / wirkt als Schutzwall Achaias im Krieg mit all seinen Übeln.‹ Nestor bringt schon einleitend seine Kernaussage auf den Punkt (1,254– 259): Das interne Zerwürfnis der Eigensinnigen schafft als krasse Pflichtvergessenheit gewaltiges Leid für die eigene Seite und Freude beim Kriegsgegner. Sogleich diagnostiziert er, dass diese Schieflage in dem paradoxen Umlenken des Kampfauftrags der höchstrangigen Heroen vom Krieg gegen den äußeren Feind in eine Zersetzung der inneren Ordnung begründet liegt. Die Verwendung des Verbums μάρνασθαι ›Kampfhandlungen ausführen‹ (1,257) für den inneren Führungsstreit unterstreicht die Dringlichkeit dieser Ermahnung. Seinen Appell zur Vernunft kleidet er programmatisch und metarhetorisch in die Aufforderung, sich durch seine Rede ›überzeugen zu lassen‹ (1,259, ringkompositorisch aufgegriffen in 1,275).26 Als Begründung stützt sich Nestor auf eine eindringlich ausgearbeitete Beweisführung vom Größeren zum Kleineren (argumentum e maioribus ad minores) aus seiner eigenen heroischen Biographie, e vita et memoria sua (1,260–274). Auch hier sagt er das Wesentliche bereits einleitend: Die ›Männer‹ (ἄνδρες), und das heißt hier im vollen Sinn: Heroen, der früheren Generationen, die den jetzigen Heroen weit überlegen waren (1,260–262), begegneten dem Hinterwäldler Nestor mit Hochachtung und folgten seinen vernünftig begründeten und mit gewinnender Rhetorik vorgetragenen Ratschlägen. Ganz im Sinn des innerheroischen Deszendenzgedankens relativiert Nestor hiermit jegliche Inkommensurabilität des archaischen Heroismus der Ilias. Zudem entwickelt er sein Vergangenheitsgemälde eines Ausgleichs von unbändiger heroischer Kampfkraft und der Geltung vernunftgeleiteter Rhetorik bei Beratungen (bes. 1,274) als glanzvolle Kontrastfolie für das Bild des Niedergangs, das die Elite in der hausgemachten Krise vor Troia abgibt. Nestor verkörpert als Inbegriff des kulturellen Gedächtnisses der archaischen Heroenwelt eine Rhetorik des gemeinwohlorientierten Kompromisses, den er in getrennten Vorschlägen an die beiden Kontrahenten gewissermaßen unterschrifts26 Zur Persuasion als Kernfunktion antiker Rhetorik vgl. etwa Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik, Zürich 41995, S. 12 f. 

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reif ausformuliert (1,275–284). Sein Redefinale bildet der persönliche Appell an Achill, dessen Sonderstellung als Vorkämpfer und ›Schutzwall für alle Achaier‹ »πᾶσιν ἕρκος Ἀχαιοῖσιν« dessen Selbstbild deutlich entgegenkommt. Obgleich Agamemnon anschließend Nestors Kompromissvorschlag ›vollständig‹ zustimmt (1,286), vermag er ihn jedoch keineswegs zu beherzigen. Denn sogleich greift er erneut Achills Überlegenheitsgebaren an, dem er qua Amt entgegentreten müsse (1,287–291, vgl. 1,176–178). Darauf antwortet Achill vorhersehbar mit neuen Drohungen (1,292– 303). Der Kampf der Worte endet unversöhnlich und die Versammlung löst sich auf (1,304 f.). In der Exposition gegenstrebiger ethischer Exzeptionalität unterliegen also Seniorität, Erfahrung, Autorität und Gemeinwohlorientierung (Nestor) der alles rechte Maß überschreitenden und sich allen Vernunftgründen verschließenden Selbstherrlichkeit der kriegerischen (Achill) oder institutionellen (Agamemnon) Rangexzellenz. Der Grundkonflikt der Ilias beruht mithin ausdrücklich auf dem Scheitern einer als traditionell unter Heroen wirkungsvoll gekennzeichneten Oratorik von Konsens und Kompromiss im symbouleutischen Steuerungszentrum militärischer Aktion. Angelpunkte individualheroischer Letztkonsequenz

Die Handlung der Ilias hat ihren Zorn-Aktanten Achill so konturiert, dass dieser in seiner für die Kameraden vernichtenden Vereinzelung und Kampfverweigerung gegen alle gemeinwohlorientierten Widerstände und Kompromissvorschläge (wie besonders die von Nestor angeregte Bittgesandtschaft im neunten Gesang) unerbittlich bleibt, wie er es in 1,240–245 mit prophetischer Gewalt beschworen hatte. Die schädliche Wirkung seines Rückzugs verstärkt er sogar durch die Einschaltung seiner göttlichen Mutter Thetis als Werkzeug zur Durchsetzung seiner Heldenehre (τιμή),27 die durch Intervention bei Zeus die Kampferfolge der troischen Gegenseite vorantreibt (1,348–430a u. 488–530) und damit die von Nestor in 1,255–258 angeprangerte Paradoxie verschlimmert. Zur Peripetie kann es erst kommen, als ein Ereignis eintritt, das in Achills Augen nicht so sehr die ›Gesamtheit der Achaier‹ betrifft, als vielmehr sein heroisches Selbstkonzept bis ins Mark erschüttert: Sein engster Vertrauter Patroklos, der ›beste der Myrmidonen‹ (18,10), liegt auf dem Schlachtfeld, tot und von Hektor der Rüstung, die Achill ihm im 16. Gesang überließ, entkleidet. 27 Vgl. Latacz u. a. (Anm. 17), S. 128. 

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Als Antilochos, der Sohn des kompromissfreudigen Nestor, dem das Unheil bereits ahnenden Achill diese Nachricht überbringt, bricht dessen thymotische Energie mit aller Gewalt heftigster, ja maßloser Trauer hervor:28 ὣς φάτο, τὸν δ᾽ ἄχεος νεφέλη ἐκάλυψε μέλαινα· ἀμφοτέρῃσι δὲ χερσὶν ἑλὼν κόνιν αἰθαλόεσσαν χεύατο κὰκ κεφαλῆς, χαρίεν δ᾽ ᾔσχυνε πρόσωπον· νεκταρέῳ δὲ χιτῶνι μέλαιν᾽ ἀμφίζανε τέφρη. αὐτὸς δ᾽ ἐν κονίῃσι μέγας μεγαλωστὶ τανυσθεὶς κεῖτο, φίλῃσι δὲ χερσὶ κόμην ᾔσχυνε δαΐζων. δμῳαὶ δ᾽ ἃς Ἀχιλεὺς ληΐσσατο Πάτροκλός τε θυμὸν ἀκηχέμεναι μεγάλ᾽ ἴαχον, ἐκ δὲ θύραζε ἔδραμον ἀμφ᾽ Ἀχιλῆα δαΐφρονα, χερσὶ δὲ πᾶσαι στήθεα πεπλήγοντο, λύθεν δ᾽ ὑπὸ γυῖα ἑκάστης. Ἀντίλοχος δ᾽ ἑτέρωθεν ὀδύρετο δάκρυα λείβων χεῖρας ἔχων Ἀχιλῆος: ὃ δ᾽ ἔστενε κυδάλιμον κῆρ· δείδιε γὰρ μὴ λαιμὸν ἀπαμήσειε σιδήρῳ. σμερδαλέον δ᾽ ᾤμωξεν (18,22–35a) So sprach er, ihn hat die Kummerwolke gehüllt in die Schwärze ; / mit seinen beiden Händen ergriff er den Staub, der wie Ruß war, / streute ihn auf sein Haupt, den Reiz entstellt er im Antlitz ; / an seine Götterkleidung legte sich schwärzlich die Asche. / Selber hat er auf Staub seine Riesengröße gebreitet, / lag da, mit eigenen Händen sein Haar entstellend durch Reißen. / Mägde, die Achilleus erbeutete mit Patroklos, / haben aus herzlicher Trauer laut gebrüllt und nach draußen / rannten sie zu Achill, dem Klugen, mit Händen gemeinsam / auf ihrem Brustkorb trommelnd, und nieder sank eine jede. / Antilochos gegenüber wehklagte mit Tränenströmen, / hielt an den Händen Achill. Der stöhnte aus tiefstem Herzen. / Er hatte nämlich Angst, dass den Hals aufschlitze sein Messer. / Der hat zum Schaudern geheult. Die Szene ist als Gegenstück zu den handlungsauslösenden Momenten im ersten Gesang komponiert. Hatte Achilleus damals die Massen eigener Seuchentoter außer Betracht gelassen und das Massensterben eigener Verbündeter sogar als feste Größe in seinen Racheplan einkalkuliert (1,240– 244), so wirft ihn die Nachricht von Patroklos’ Tod im Zweikampf mit 28 Zu Achills Klage um Patroklos vgl. Homers Ilias. Gesamtkommentar, Bd. 11: Achtzehnter Gesang (Σ), Faszikel 2: Kommentar, v. Marina Coray u. a., Berlin u. Boston 2016, S. 13–69. 61

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Hektor buchstäblich selbst zu Boden. Mit der Selbstentstellung, Selbstbeschmutzung und Erniedrigung im Staub imitiert er den Zustand des toten Freundes und ruft die dehumanisierten Opfer ins Gedächtnis, deren das Prooimion gedenkt (1,4 f.). Der von den Mägden orchestrierte und auch vom Boten Antilochos unter Tränenströmen geteilte pathetische Trauergestus konfrontiert das Heroische in körperlicher Totalität mit der Sphäre von Vergehen und Vernichtung. Wie Athene im ersten Gesang Achill von der Tötung Agamemnons abhält (1,188–218), so hält ihn Antilochos nunmehr durch Arretierung der Hände von einer Selbsttötung im Affekt ab (18,32–34).29 Und wie Achill im ersten Gesang nach dem Verlust der Briseis durch bittere Klage am Strand seine wohlwollende und hilfsbereite Mutter herbeizitiert (1,345–363), so hört Thetis das Wehgeschrei ihres Sohnes sogar in den Meerestiefen (18,35–48). Wiederum erscheint die Meeresgöttin an einer Schlüsselstelle der Handlung im persönlichen Gespräch mit dem auch im Leiden an einem höchstpersönlichen Verlust exzessiven Heros (18,70–126). Zu Beginn ihrer Wiederbegegnung30 stimmt Thetis exzessiv und sympathetisch in die Trauergebärden ihres Sohnes ein (18,70–72). Doch unmittelbar darauf gewinnt sie ihre göttliche Souveränität wieder und beginnt ihre Rede ausdrücklich mit einem Rückgriff auf die von ihnen beiden im ersten Gesang getroffenen und für die bisherige Handlung des Epos bestimmenden Absprachen.31 Mit ihrer Vollzugsmeldung bietet sie eine Kurzzusammenfassung des bisherigen Geschehens aus Achills und ihrer Perspektive (18,76 f. reformulieren dabei 1,240–245): ›τὰ μὲν δή τοι τετέλεσται ἐκ Διός, ὡς ἄρα δὴ πρίν γ᾽ εὔχεο χεῖρας ἀνασχὼν πάντας ἐπὶ πρύμνῃσιν ἀλήμεναι υἷας Ἀχαιῶν σεῦ ἐπιδευομένους, παθέειν τ᾽ ἀεκήλια ἔργα.‹ (18,74b–77) ›Denn das ist ja für dich verwirklicht / seitens des Zeus, wie zuvor du erbatest, die Hände erhebend, / dass allesamt zu den Schiffen verdrängt sind die Söhne Achaias / und, deiner schmerzlich bedürftig, erleiden abscheuliche Dinge.‹ 29 Dazu Coray u. a. (Anm. 28), S. 29 f., mit dem Hinweis auf die engste Parallele in »Menelaos’ Todessehnsucht auf die Nachricht von Agamemnons Tod«, Odysseia 4,539 f. 30 Zur mikrostrukturellen Ponderierung des Gesprächsaustauschs zwischen Mutter und Sohn mit der göttlichen Prophezeiung vom baldigen Tod des Heros im Zentrum vgl. Coray u. a. (Anm. 28), S. 46. 31 Coray u. a. (ebd., S. 44) verweisen zutreffend auf signifikante Anklänge an den ThetisAuftritt im ersten Gesang. 

Ilias

In seiner Entgegnung bestätigt Achill den Vollzug (18,79 bekräftigt 18,74). Doch unverblümt und eiskalt erklärt der Trauernde, dass er über das schmähliche Leid der Kameraden keine ›Freude‹ »ἧδος« mehr empfinden könne (18,80), da er durch den Verlust seines alter ego (18,81 f.) nun auch persönlich auf das Schändlichste getroffen sei. Bei der sich im Lauf dieser Rede eines Heros am Boden vollziehenden Wende von Achills Ehrzorn (auf Agamemnon und alle von ihm befehligten Achaier) zum Rachezorn (gegen Hektor und alle seine Mitbürger) spielt die dem Patroklos geraubte Rüstung des Achill, durch die der Getötete in der Tat eine imago seines Freundes verkörperte, eine Rolle als Schicksalssymbol: Als eines Göttergeschenks für seinen Menschenvater Peleus am Tag von dessen Vermählung mit Thetis, deren Unwillen über diese Mésalliance er klar zum Ausdruck bringt (18,85), berechtigt dessen Entwendung durch Hektor (18,82bf.) den legitimen Besitzer Achill zu jedweder Racheaktion. Zugleich löst die Erinnerung an die ungleiche Verbindung seiner Eltern beim Halbgott Achill den irrealen, tragisch grundierten32 Wunsch nach Nichtexistenz aus, den er in den Wunsch kleidet, seine Eltern hätten jeweils gleichrangige Partner geehelicht (18,86 f.). Daran fügt er folgerichtig den Gedanken an die eigene Vergänglichkeit an, die der göttlichen Mutter unermessliches, götteruntypisches Leid verursachen werde: ›νῦν δ᾽ ἵνα καὶ σοὶ πένθος ἐνὶ φρεσὶ μυρίον εἴη παιδὸς ἀποφθιμένοιο, τὸν οὐχ ὑποδέξεαι αὖτις οἴκαδε νοστήσαντ᾽, ἐπεὶ οὐδ᾽ ἐμὲ θυμὸς ἄνωγεν ζώειν οὐδ᾽ ἄνδρεσσι μετέμμεναι, αἴ κε μὴ Ἕκτωρ πρῶτος ἐμῷ ὑπὸ δουρὶ τυπεὶς ἀπὸ θυμὸν ὀλέσσῃ, Πατρόκλοιο δ᾽ ἕλωρα Μενοιτιάδεω ἀποτίσῃ.‹ (18,88–93) ›Jetzt ist es so, dass auch du tausendfach Kummer erleidest / um deines Sohnes Vernichtung, den du nicht mehr in den Arm nimmst / nach seiner Heimkehr, da mir mein Heldenmut den Befehl gibt, / weder zu leben noch unter Männern zu sein, wenn nicht Hektor / als der Erste von meinem Speer geschlagen verendet / und für Patroklos’ Erlegung, Menoitios’ Sohnes, den Preis zahlt.‹ Diese Prophezeiung konkretisiert Achill, indem er seine unverbrüchliche, weil auf Geheiß des ›Heldengemütes‹ »θυμός«, verfestigte Entschlossenheit verkündet, dass der persönliche Vollzug der Tötung Hektors als Rache für die Erlegung des Patroklos für ihn einen höheren Rang habe 32 Locus classicus ist eine Chorpassage in Sophokles’ Oidipus auf Kolonos, V. 1224 f. 

Markus Janka

als das eigene Weiterleben. Damit modifiziert Achill seine Prophezeiung aus dem ersten Gesang, in der er die Rache für seine Entehrung durch Agamemnon über das Weiterleben zahlreicher Kameraden gestellt hatte (1,240–244). Der Primat der auf das eigene Selbst (und das alter ego) fixierten Elitenkonzeption und die absolute Nachrangigkeit der Handlungsfolgen für das Umfeld der weiteren Gemeinschaft bleiben dabei eine Konstante. Thetis’ unter Tränen vorgebrachter Verweis auf die schicksalhafte Verflechtung von Hektors Tod mit dem in engster zeitlicher Nähe erfolgenden Tod Achills verleiht dem heroischen Selbstkonzept Achills eine proto-tragische Dimension: Selbsterhaltung als Halbgott und Sohn wäre nur unter Selbstaufgabe als bester Kämpfer möglich: ›ὠκύμορος δή μοι τέκος ἔσσεαι, οἷ᾽ ἀγορεύεις· αὐτίκα γάρ τοι ἔπειτα μεθ᾽ Ἕκτορα πότμος ἑτοῖμος.‹ (18,95 f.) ›Todgeweiht wirst du demnach, Kind, sein, so wie du hier redest. / Gleich nämlich ist für dich dann nach Hektor dein Ende beschieden.‹ Doch Achill erstickt eine solche tragische Konfliktentfaltung bei aller Affinität zu einem heroic temper33 bereits im Ansatz. Denn er zeigt sich umstandslos todesbereit und begründet diese Haltung nach einem Anflug von Selbstbesinnung mit seiner persönlichen Verantwortung für die katastrophale Lage (18,97–110). Erst im Moment heftigster Trauer und tiefster Erniedrigung gelangt der Heros zu der ‒ typischerweise zu spät aufscheinenden ‒ Erkenntnis, dass Nestor am Ende seiner Rede im ersten Gesang eine schlichte, aber tiefe Wahrheit ausgesprochen hat: Es wäre durchgehend seine Pflicht gewesen, sich als ›Schutzwall Achaias im Krieg mit all seinen Übeln‹ (1,284) in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Doch Hilfe, Schutz und Rettung seinerseits blieben aus, nicht einmal einen Hoffnungsschimmer (»φάος«, 18,102) wollte er Patroklos und den von Hektor abgeschlachteten Kameraden gönnen. Mit dem Selbstbild der nutzlosen ›Last‹, also des Mülls auf dem Erdboden, radikalisiert er sogar die im ersten Gesang dem Agamemnon vorgehaltene raffgierige Hasenherzigkeit vor dem Feind. Seine (planvolle, ja diabolische) Tatenlosigkeit rückt er nunmehr ‒ intersubjektiv durchaus nachvollziehbar (vgl. etwa Nestor 1,283 f.) ‒ in schreienden Gegensatz zu seiner exzeptionellen Kampfkraft (18,104–106). Wenn er in einer polaren Ausdrucksweise anderen höhere Kompetenzen in der Beratung zuspricht (18,106), so ist dies auch als 33 Dazu grundlegend Bernard Knox: The Heroic Temper. Studies in Sophoclean Tragedy, Berkeley 1964. 

Ilias

(freilich zaghaftes) Eingeständnis seiner fatalen Rolle in der Beratung des ersten Gesanges sowie als implizite Anerkennung für Nestors Rhetorik des Kompromisses zu lesen. Seine Verwünschung von Streit (unter Göttern und Menschen) und Zorn (18,107–110) passt schließlich so wenig zu seinem als Selbst- und Fremdbild34 im Epos entfalteten Charakter, dass diesem Aktanten kein wirklicher Lernprozess zu attestieren ist. Dazu fügt sich gut, dass er seinen handlungsprägenden Zorn auf Agamemnon nun ganz rasch, aber nur notgedrungen und gegen ein inneres Aufbäumen auf sich beruhen lassen möchte (18,111–113). Die Motive sind selbstbezogen, denn es treibt ihn zu neuer Rachetat, bei der er sich in seiner destruktiven Vereinzelung treu bleibt, auch wenn er nun zur tödlichen Handlung gegen Hektor (und andere Troer) schreiten muss. Als sterblicher Halbgott beruft er sich auf das exemplum maius des Herakles für seine Todesverachtung: ›οὐδὲ γὰρ οὐδὲ βίη Ἡρακλῆος φύγε κῆρα, ὅς περ φίλτατος ἔσκε Διὶ Κρονίωνι ἄνακτι· ἀλλά ἑ μοῖρα δάμασσε καὶ ἀργαλέος χόλος Ἥρης. ὣς καὶ ἐγών, εἰ δή μοι ὁμοίη μοῖρα τέτυκται, κείσομ᾽ ἐπεί κε θάνω· νῦν δὲ κλέος ἐσθλὸν ἀροίμην‹ (18,117–121). ›Denn nicht einmal die Kraft des Herakles kam vor dem Tod aus, / der doch ein Liebling war von Zeus, Kronos’ Sohn, dem Gebieter, / sondern erlag dem Schicksal und heftigem Grollen der Hera. / So werde auch ich selbst, wenn mir gleiches Schicksal bestimmt ist, / daliegen nach meinem Tod. Jetzt will ich Rühmliches leisten‹. Gegen die eigene Todesverfallenheit setzt er die Selbstermächtigung als in langer Pause regenerierte Kampfmaschine, die sich ›Ruhm des Ehrbaren‹ »κλέος ἐσθλόν« gerade dadurch erringen möchte, dass sie bei den künftigen troischen Kriegerwitwen eben das Leid und die Tränen hervorruft, die ihn eben erst selbst so maßlos gebeutelt haben. Wieder siegt also über emotionale Intelligenz, zu der Achill im 24. Gesang durchaus fähig werden wird, der einsame thymotische Entschluss des überaus ambivalenten Besten, der sich nicht einmal von der fürsorglichen göttlichen Mutter vom Weg des raschen Todes abberufen lässt (18,126).

34 Vgl. dazu die freilich parteiische und ihrerseits thymotisch motivierte Charakterisierung Agamemnons in 1,172–178. 

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Fatalität und Racheexzess: Vorletzte Worte im paradigmatischen Endkampf

Die prototragische Verstrickung von heroischer Grenzüberschreitung und Heroenvernichtung ist für die Konzeption der Ilias offensichtlich ‒ trotz oder gerade wegen Achills untragischer Haltung ‒ so grundlegend, dass das von Thetis formulierte Schicksalsgesetz auch den letzten verbalen Schlagabtausch zwischen Achill und dem von ihm besiegten Hektor prägt.35 Sobald der als kriegerischer Höhepunkt inszenierte Zweikampf der für ihre Kriegspartei jeweils emblematischen Heldenfiguren seinem Ende entgegengeht, da Hektor seine Gottverlassenheit und Todesverfallenheit erkennt, wird der Todesstoß durch zwei Szenen gerahmt, die vom factum brutum des gegenseitigen Abschlachtens in der Kampfzone in eine Sphäre höherer Zivilisiertheit verweisen: Als Hektor sich dem Endkampf stellt, sucht er mit seinem Todfeind in einen zunächst symmetrischen Aushandlungsprozess einzutreten, um eine vor den Göttern zu beschwörende vertragliche Einigung zur Einhegung von Kriegsgräueln zu erreichen und unabhängig vom Ausgang die Herausgabe des Getöteten an seine Gruppe festzuschreiben (22,248–259). Achill weist dieses Ansinnen scharf zurück und will ausschließlich die rohe Gewalt zwischen ihnen beiden herrschen lassen (22,260–272). Nachdem Achill den Todesstoß durch Hektors Hals in der Nähe des Schlüsselbeins vollführt hat, ohne die Luftröhre zu durchschneiden (22,324–329), unternimmt der sterbende Hektor einen zweiten Anlauf. Er verlegt sich nunmehr auf das Bittflehen einer rituellen Hikesie,36 um Achill zur Zusicherung der Auslösung seines Leichnams zu bewegen (22,337–343). Dies führt zu folgender Reaktion: ›μή με κύον γούνων γουνάζεο μὴ δὲ τοκήων· αἲ γάρ πως αὐτόν με μένος καὶ θυμὸς ἀνήη ὤμ᾽ ἀποταμνόμενον κρέα ἔδμεναι, οἷα ἔοργας, ὡς οὐκ ἔσθ᾽ ὃς σῆς γε κύνας κεφαλῆς ἀπαλάλκοι, οὐδ᾽ εἴ κεν δεκάκις τε καὶ εἰκοσινήριτ᾽ ἄποινα στήσωσ᾽ ἐνθάδ᾽ ἄγοντες, ὑπόσχωνται δὲ καὶ ἄλλα, οὐδ᾽ εἴ κέν σ᾽ αὐτὸν χρυσῷ ἐρύσασθαι ἀνώγοι Δαρδανίδης Πρίαμος· οὐδ᾽ ὧς σέ γε πότνια μήτηρ ἐνθεμένη λεχέεσσι γοήσεται ὃν τέκεν αὐτή, ἀλλὰ κύνες τε καὶ οἰωνοὶ κατὰ πάντα δάσονται.‹ (22,345–354) 35 Zu dieser Szene vgl. Janka (Anm. 18), S. 249–254. 36 Zur literarischen Bedeutung dieses Motivs vgl. Rüdiger Bernek: Dramaturgie und Ideologie. Der politische Mythos in den Hikesiedramen des Aischylos, Sophokles und Euripides, München u. Leipzig 2004. 66

Ilias

›Nein, du Hund, weg von den Knien, beknie mich nicht bei den Eltern! / Könnte ich freien Lauf meinem wütenden Zorn jetzt lassen, / roh würde ich dein Fleisch abschneiden und essen zur Strafe ! / Niemanden gibt es, der dir die Hunde vom Kopf davonjagt, / auch nicht, wenn zehn- und zwanzigfach Lösegeld sie für dich zahlen / und hierherschaffen und versprechen, viel mehr noch zu leisten, / auch nicht, wenn deinen Leib mit Gold aufzuwiegen befähle / Dardanos’ Spross Priamos ; nicht wird dich deine Frau Mutter / aufgebahrt und gebettet beklagen, den sie gebar selber, / sondern Hunde und Vögel zerreißen dich völlig in Stücke.‹ Achill treibt die Dehumanisierung seines bereits erlegten Gegners im Angesicht von dessen Tod auf die Spitze: Hatte er es in der vorigen Zurückweisung noch dabei belassen, dass einer der beiden in seinen Augen wie Tier und Mensch kategorial Verschiedenen ›mit Blut satt macht Ares, den großschildtragenden Krieger‹ (22,267), so ergeht er sich jetzt in kannibalischen Phantasien und dehumanisiert sich somit selbst. Die aus der Sicht des Erzählers schauerliche Vision im Zentrum des Prooimions (1,4 f.) bekräftigt Achill im Moment seines Sieges genüsslich, wenn er Hektors physische Zersetzung zur Beute von wilden Tieren seiner teuer bezahlten Auslösung und Bestattung im Kreis der trauernden Familie als Schlusspunkt entgegensetzt. Diese grenzenlose und zutiefst inhumane Hartherzigkeit seines Gegners veranlasst den sterbenden Hektor nun zu seinen ultima verba, die sich als Konkretisierung der Thetis-Prophetie (18,95 f.) erweisen: Mit der Benennung der menschlichen und göttlichen Wirkkräfte und des Ortes am Stadttor von Troia malt er dem jetzigen Sieger nicht nur dessen Todesverfallenheit durch ein nahe bevorstehendes physisches Ende im Kampf aus. Er erinnert den im Heroenzorn Verrannten an die Übermacht des göttlichen Zornes und damit an seine unentrinnbare Eingebundenheit in die auch unter Kriegsfeinden Symmetrie gebietende gemeinsame Kategorie des Menschlichen: ›φράζεο νῦν, μή τοί τι θεῶν μήνιμα γένωμαι ἤματι τῷ ὅτε κέν σε Πάρις καὶ Φοῖβος Ἀπόλλων ἐσθλὸν ἐόντ᾽ ὀλέσωσιν ἐνὶ Σκαιῇσι πύλῃσιν.‹ (22,358–360) ›Pass’ jetzt bloß auf, dass ich dir nicht göttlichen Zorn noch erregen / könnte an jenem Tag, wenn dich Paris und Phoibos Apollon, / bist du auch noch so edel, vernichten am Skaiischen Tore.‹ Dass Achill hier ‒ anders als nach den göttlichen Interventionen im Schlussgesang ‒ nicht die geringste Lernfähigkeit besitzt, unterstreicht die Figur 

Markus Janka

durch die formelhafte Wiederholung der Worte, mit der er bereits Thetis’ Prophezeiung beiseite geschoben hatte (vgl. 18,115 f.): ›τέθναθι . κῆρα δ᾽ ἐγὼ τότε δέξομαι ὁππότε κεν δὴ Ζεὺς ἐθέλῃ τελέσαι ἠδ᾽ ἀθάνατοι θεοὶ ἄλλοι.‹ (22,365 f.) ›Stirb du! Mein Todeslos werde ich dann ziehen, sobald nun / Zeus will, dass es geschieht, und die anderen ewigen Götter.‹ Wenn Hektor zu der Einsicht gelangt, dass dieser Heros durch kein Argument überzeugt werden kann (22,356 f.), dann schließt sich der Kreis zu Nestors wohlmeinenden Überzeugungsversuchen im ersten Gesang, die an den Singularinteressen der Führungselite scheiterten. Die interne Eskalation und Zerrissenheit erfährt im Verhalten gegenüber dem äußeren Feind eine so nachdrückliche Verschärfung, dass sie bei Achill eine Ventilfunktion erfüllt. Die hemmungslose Rachelust gegen Agamemnon, die nur Athene bändigen konnte, lebt er nun gegen dessen troisches Pendant Hektor aus.

Ambivalenz epischer Exorbitanz zwischen heroischem κλέος und politischer Krise

Setzen wir nun resümierend die an aussagekräftigen Beispielen aus der Ilias erhobenen Befunde über die Dysfunktionalität der heroischen Selbstüberhebung mit den einleitend erwähnten modernen Interpretamenten des Heroischen in Beziehung, so ergeben sich aufschlussreiche Treffer: Ransmayrs Denunziation des Heroischen als verderblicher Selbstbezogenheit und Agonalität ist im Handeln der Ilias-Aktanten Agamemnon und Achilleus vorgeprägt. Die heroische Exorbitanz von Sees ist bereits in der Ilias stetig in die Gegenstrebigkeit von Heroisierung und Deheroisierung (Bröckling) eingespannt: Thymotische Energien entfalten ihre Sprengkraft als Motoren und Multiplikatoren von internem wie externem Konflikt und Destruktion. Dabei äußert sich die Agonalität im symbouleutischen Raum als Projektion und Reflexion der militärischen Kampfzone. Im Schonraum der kriegsparteiinternen Oratorik kommt die Überzeugungskraft gemeinwohlorientierter Kompromissvorschläge umso eindrucksvoller zur Geltung, als sie an der Unzugänglichkeit heroischer Singularitäten abprallen muss. Dieser Prozess findet dialektisch eine radikalisierte Entsprechung in der militärischen Endkampfzone, deren Einhegung durch 

Ilias

symmetrisches Aushandeln der Heros noch achtloser verwirft als den Appell des weisen Ratgebers. In der Gestalt des Achill werden individualheroische Letztkonsequenz, Fatalität und dehumanisierender Racheexzess als werkreferentielle Züge einer prototragischen Konzeption des ZornEpos der Ilias lesbar. Die von Karl Reinhardt erkannte Ambivalenz heroischer Transgressionen impliziert in diesem wohl wirkmächtigsten Fall, dass die selbstherrliche Fixierung der Figur auf Ruhm, Rühmung und Nachleben (κλέος) ihr den Weg zur delphischen Selbsterkenntnis versperrt. Gerade aber diese Unzulänglichkeiten des Hauptaktanten verlegen die »rühmende[]« und vermeintlich »selbsterkennende[]« Heldenfeier (Reinhardt) der Ilias in ein postheroisch anmutendes Laboratorium zur eindringlichen Offenlegung der akutesten Krisensymptome. Dabei arbeiten das Festkrallen am heroischen Rang und die Gier nach dem Glanz von Singular-memoria als Beschleuniger des Zerfalls von Ordnungssystemen, die schiere Heldenmacht durch vernünftigen Rat und besonnenes Wort in Schach halten könnten.



Berkan Sariaydin

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Das Heldentum in der Aeneis zu beschreiben ist paradoxerweise nur e negativo möglich, denn der Protagonist des Textes ist nicht mehr der, der er früher war: Aineias, heroischer Kämpfer vor Troia, in der Ilias zweitstärkster Troer nach Hektor und hervorragender Repräsentant des exorbitanten Heldentyps. Diese Rolle hat er bei Vergil abgelegt, um zu dem zu werden, der die Herrschaft Roms vorbereiten wird, der sich nicht blindlings in eine Gefahr stürzt und in seiner Exorbitanz brilliert, sondern überlegt handelt, auf die Götter und seinen Vater hört,1 so dass er schließlich seine Individualität so weit aufgibt, dass er manchem gar als Marionette erscheinen mag.2 Dass die Konzepte des Heroismus bei Vergil nur e negativo erfasst werden können, ist aber deswegen paradox, weil man gleichwohl kaum umhinkommt, die Aeneis als Heldenepos und seinen Protagonisten als Helden zu bezeichnen.3 Das Heldentum in der Aeneis 1 Zutreffend daher Klaus von See: Held und Kollektiv, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 1–35, hier 29: Aeneas ist in der Aeneis »kein griechischer Heldenjüngling, sondern ein verantwortungsbewußt handelnder, reifer Mann, pius Aeneas, pater Aeneas«. 2 Vgl. etwa Otto Seeck: Kaiser Augustus, Bielefeld u. Leipzig 1902, S. 129: »Nichts, was im ganzen Epos geschieht, ist freie menschliche That, sondern gleich der Hauptperson werden auch alle Nebenfiguren wie an Drähten hin- und hergeschoben, die Iupiter, Iuno oder Venus in den Fingern halten«; kritisch zu dergleichen Antonie Wlosok: Der Held als Ärgernis: Vergils Aeneas, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 8 (1982), S. 9–21, hier 17. Mir scheint die Frage, wie viel individuelle Freiheit Vergil seinem Helden zugestehe, prinzipiell falsch gestellt zu sein: Der transformative Nachvollzug der homerischen Szenenkomplexe ist konstitutives Merkmal der hypertextuellen Poetik der Aeneis, deren Held sich nur an den Fäden der heroischen Literatur, von der er sich nie freimachen darf, bewegen kann. Vgl. grundsätzlich Reinhart Herzog: Aeneas’ episches Vergessen. Zur Poetik der memoria, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, hg. v. Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann, München 1993, S. 81–116, hier 85; auch David Quint: Epic and Empire. Politics and Generic Form from Virgil to Milton, Princeton / NJ 1993, S. 83 f. 3 Vergil selbst scheint sich dem übergewaltigen Druck der epischen Gattungsgesetze auch nicht vollständig entzogen zu haben, denn Aeneas wird mehrmals »heros« genannt (zuerst 4,447, zuletzt 12,502). 

Berkan Sariaydin

produziert also Widersprüche, allen voran zwischen der generischen Form Heldenepos und dem an das Personal gebundenen Inhalt: Ist ein Heldenepos ohne Helden überhaupt möglich, oder führt die Wahl der Gattung unweigerlich zu einer heroischen, exorbitanten Stilisierung ihrer Akteure? Noch wichtiger für die vergilische Poetik ist aber die Diskrepanz zwischen dem homerischen, in jedem einzelnen Vers verwendeten Prätext und dem neuen Helden, den die Aeneis entwirft. Sind diese Unterschiede aber als poetische Auseinandersetzung mit der Ilias und der Odyssee oder nur als paraliptische Verlängerung und zugleich epigonale Kopie der homerischen Epen zu verstehen, wobei Aeneas dann notgedrungen einen »schlecht konstruierten Helden«4 abgibt? Die sich widersprechenden Horizonte, vor denen sich Aeneas als Held (und damit auch Vergils Erzählung von ihm) bewegt, bringt prägnant eine der Lieblingsanekdoten von William Yeats zum Ausdruck, die Ezra Pound in seinem ABC of Reading wiedergibt: A plain sailor man took a notion to study Latin, and his teacher tried him with Virgil; after many lessons he asked him something about the hero. Said the sailor: ›What hero?‹ Said the teacher: ›What hero, why, Aeneas, the hero.‹ Said the sailor: ›Ach, a hero, him a hero? Bigob, I t’ought he waz a priest.‹5 Aufgrund dieses Paradoxons, in dem Aeneas zwischen den Lektüren des Lehrers und des Matrosen gefangen ist, sperrt sich das Thema von vornherein gegen eine Untersuchung. So fehlt bisher eine umfassende Arbeit, die sich dem gesamten »riesengroßen Fragenkomple[x]«6 von Aeneas’ Heldentum widmet, und ich werde im Folgenden weder Kompromisse oder gar Lösungen zu dem Paradoxon vorschlagen noch eine Ehrenrettung des Helden Aeneas versuchen. Vielmehr geht es mir darum, die Widersprüche, über die meist allzu schnell hinweggesehen wird, in aller Deutlichkeit sichtbar zu machen und dadurch einerseits eine genaue Verortung des Heroischen in der Aeneasfigur zu ermöglichen und andererseits die Frage nach der Definition der Begriffe Held oder Heldentum von einem Text aus zu überdenken, der nur teilweise in diese Konzepte zu passen scheint und gerade deshalb deren Offenheit unterstreicht. Die Frage, was ein 4 Herzog (Anm. 2), S. 88. Herzogs Rekonstruktion der vergilischen Poetik der memoria ist bahnbrechend auch für eine Analyse des Heroischen in der Aeneis. 5 Ezra Pound: ABC of Reading [1934], London u. Boston 1951, S. 44. 6 Ulrich Knoche: Heldengestalten der Aeneis, in: Gedenkschrift für Georg Rohde, hg. v. Gerhard Radke, Tübingen 1961, S. 115–132, hier 115. 

Aeneis

vergilischer Held ist, führt daher auf die allgemeinere zurück, was ein Held überhaupt sein kann. Das Heldentum der Aeneis konstituiert sich, so meine These, vor zwei entgegengesetzten, aber miteinander konsequent enggeführten Sinnräumen: dem Mythos der heroischen Zeit, aus der heraus Aeneas auftritt, und der Geschichte der historischen Zeit, vor der seine Handlungen mit Blick auf die Zukunft staatspolitische Bedeutung bekommen. Die Aeneis überformt homerische Kontingenz, so dass heroische Exorbitanz und der Ruhm des Einzelnen aufgehoben werden im Ruhm der von Aeneas ausgehenden Abstammungsgemeinschaft, der fama der aeneadischen gens.

Heroische Exorbitanz und die Geschichtlichkeit der epischen Welt

Wenn in der Vergilforschung allerdings über das Heldentum des Aeneas diskutiert wird, geht es meistens nicht darum, ob Aeneas ein Held ist (was auch immer einen solchen ausmachen soll) oder was für ein Held Aeneas ist (nach welcher Typologie des Heroischen auch immer), sondern man erklärt die a priori gesetzte soziale Exemplarität des Helden (die – wenn überhaupt – nur ein Charakteristikum des Heldischen unter anderen sein kann) zum konstitutiven Merkmal und verlagert dadurch das Problem auf eine andere Ebene.7 Es geht dann nicht mehr darum, das Heldische des Helden Vergils zu charakterisieren, sondern darum, intuitiv postulierte Heldenbilder – namentlich das obsolete homerische und das römische – gegeneinander abzustecken und dadurch insbesondere das Problem des Endes der Aeneis zu klären: Die Untersuchungen beschränken sich auf die Frage, ob Aeneas und inwiefern er trotz der Tötung des Turnus entgegen der im Herrschaftsauftrag seines Vaters Anchises erfolgten Weisung, einen um Gnade bittenden Gegner zu verschonen (6,851–853), ein Held sein kann. Daher verwundert es auch nicht, dass das Problem

7 G. Karl Galinsky: Vergil’s Romanitas and his Adaptation of Greek Heroes, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 31,2 (1981), S. 985–1010, etwa spricht vom »social heroism of the Vergilian hero«, das im Einstehen für ein Kollektiv und nicht im Streben nach individuellem κλέος zum Ausdruck komme (S. 1001), HansPeter Stahl: Aeneas – an Unheroic Hero?, in: Arethusa 14 (1981), S. 157–177, vom »patriotic heroism« des Aeneas (S. 171), Quint (Anm. 2) differenzierter zum Zusammenhang zwischen Individuum und Kollektiv: »The model of Roman heroism described by the Aeneid is the general, in both senses of the word: leader and collectivity« (S. 91). 

Berkan Sariaydin

mit Blick auf das Gesamtverständnis des Textes heftig umstritten ist und »mitunter zu Glaubensbekenntnissen«8 Anlass gibt. Mir scheint hingegen eine Verengung auf das Ende der Aeneis nicht zielführend und das Merkmal der sozialen Exemplarität nicht ausreichend für die Beantwortung der Frage nach Aeneas’ Heldentum zu sein. Anstatt ein intuitives Heldenbild anzuwenden, muss man sich vielmehr grundsätzlich über den Begriff Held in seiner literarhistorischen Dimension und über den Helden Aeneas, sofern es ihn gibt, Rechenschaft ablegen. Vor dem Hintergrund der europäischen Tradition der Heldenepik etwa falsifiziert der Nordist Klaus von See die heroischen Ansprüche Vergils und schmettert die Frage, ob Aeneas nun ein Held sei oder nicht,9 ausgehend von seiner Exorbitanztheorie konsequent geradewegs ab: »Die Aeneis ist […] weniger Heldenepik als vielmehr symbolische Deutung der römischen Geschichte mit den Mitteln der Heldenepik.«10 Eine solche Lektüre, die die Aeneis als Pseudo-Heldenepos abtut, kann indes, so richtig sie vor dem Hintergrund der von See’schen Exorbitanztheorie auch erscheinen mag, dem Epos Vergils nicht gerecht werden. Denn eine derartige Konzentration auf die in der Aeneis zu Tage tretende Geschichtshermeneutik tilgt 8 Gerhard Binder: P. Vergilius Maro, Aeneis. Ein Kommentar, 3 Bde., Trier 2019, Bd. 1, S. 276. 9 Ich vereinfache damit radikal – tertium non datur – die verunklärenden Differenzierungsformeln zu Aeneas’ Heldentum in der Forschung, etwa Christian E. Kopff: Virgil and the Cyclic Epics, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 31,2 (1981), S. 919–947 (»a new type of epic hero at war«, S. 919), J. Kevin Newman: Augustus and the New Poetry, Brüssel 1967 (»antihero«, S. 233), Wlosok (Anm. 2) (wahlweise »menschliche[r]« oder »heldische[r]« Held, S. 15 u. 21), Stahl (Anm. 7) (»textbook hero«, S. 172), Therese Fuhrer: Aeneas. A Study in Character Development, in: Greece & Rome 36 (1989), S. 63–72 (»true heroism«, S. 69 ohne Erläuterung des Komplementärbegriffs eines falschen Heroismus). 10 Klaus von See: Was ist Heldendichtung?, in: Europäische Heldendichtung, hg. v. dems., Darmstadt 1978, S. 1–38, hier 36. Zu weit geht er indes in Bezug auf die Konzeption des Ruhms in Rom: »Homerisches Heldentum ist der römischen Mentalität ohnehin fremd, kriegerische Tätigkeit nichts anderes als durus labor. Selbst gefährliche Schlachtsituationen werden mit beherrschter Sachlichkeit erfaßt: res ad triarios venit. Daher kennen die Römer den Begriff des Helden nicht – heros ist ein Lehnwort aus dem Griechischen –, und auch eine eigentliche Heldensage haben sie nicht hervorgebracht« (ebd.). Der Vergleich krankt an einem Anachronismus, da der archaische Heldenbegriff homerischer Prägung nicht erst in Rom zu existieren aufhört ; ähnlich Knoche (Anm. 6), S. 118 f. Der individuelle Ruhm ist den Römern keineswegs unbekannt, aber sie ist in die fama der gens eingebunden. Die Konzentration auf das Staatskollektiv ist dementsprechend auch in ihrer epischen Tradition grundlegend ; vgl. Ernst August Schmidt: Vergils Aeneis als augusteische Dichtung, in: Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, hg. v. Jörg Rüpke Stuttgart 2001, S. 65–92, hier 76. 

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den hypertextuellen Horizont des Textes restlos und marginalisiert damit just den wichtigsten Zug der vergilischen Poetik oder – mit C. S. Lewis – der sekundären Epik.11 Der Frage nach der Exorbitanz der vergilischen Helden ist nämlich anders als bei anderen Heldenepen isoliert nicht beizukommen. Als ein Epos, das sich so stark an den homerischen Epen abarbeitet, diese nicht einfach reproduziert, sondern auf vielfältige Weise umgestaltet, erneuert, neu deutet,12 ist die Aeneis ein Text, der den Geist der Erinnerung atmet,13 Erinnerung an die Vergangenheit Homers, an seine Helden und seine Mythen, denen der Held, den die Aeneis besingt, gerade entkommen ist.14 Das sorgt für eine vollständige Transformation der Figuren, die durch wiederholenden Nachvollzug homerischer Handlungen doppelbödig werden. Damit verändert sich aber auch die Rolle des Erzählers: Er teilt seinen Helden nicht mehr unsterblichen Ruhm zu, indem er von ihren Taten berichtet, sondern übernimmt die Rolle der kollektiven Memorialinstanz. Die Aeneaden und ihre Sendung werden zum Gegenstand eines römischen Erinnerungskultes, so dass die Aeneis 11 Vgl. Clive Staples Lewis: A Preface to Paradise Lost, London u. a. 1942, S. 39: »His [Virgil’s] poem is great in a sense in which no poem of the same type as the Iliad can ever be great. The real question is whether any epic development beyond Virgil is possible. But one thing is certain. If we are to have another epic it must go on from Virgil. Any return to the merely heroic, any lay, however good, that tells merely of brave men fighting to save their lives or to get home or to avenge their kinsmen, will now be an anachronism. You cannot be young twice. The explicitly religious subject for any future epic has been dictated by Virgil; it is the only further development left.« 12 Dieses Prinzip der vergilischen Poetik ist wohl schon in dem berühmten, in der Sueton-Donat-Vita kolportierten Wort gemeint, dass es ›leichter sei, Hercules die Keule zu stehlen als Homer einen Vers‹ »facilius esse Herculi clavam quam Homero versum subripere« (Vitae Vergilianae antiquae, hg. v. Colin Hardie, Oxford 21966). Vgl. Schmidt (Anm. 10), S. 65: »Vergil ist kein Homeride: er imitiert Homer nicht, sondern er eignet sich ihn an, um ihn sich anzuverwandeln und ihn in seinem Gedicht aufzuheben. […] Der Leser soll nicht die vollkommene Homerizität erkennen, sondern die absolute Vergilizität.« Das wurde zum Nachteil Vergils, der manch einem als rechter »römischer Affe« (Seeck [Anm. 2], S. 129) erschien, meist übersehen. 13 Vgl. Rudolf Borchardt: Vergil, in: Die Antike 7 (1931), S. 106–119: Die Poesie der Aeneis »lebt nicht mehr, es lebt nichts mehr in ihr. Sie gedenkt, sie beweint, sie grüßt rückwärts, sie sammelt die süß gelebten Stunden, sie ist des Kommenden getrost, sie schaut. Sie mahnt und tröstet die sie Umstehenden, sie stillt die Tränen, die um sie fließen, sie erhebt sich zur Majestät letzter eherner und goldener Worte, sterbend geprägter Gesetze, ihr bricht die gewaltige Menschenstimme, und sie scheidet« (S. 112). 14 Die Troianer sind in dieser Hinsicht von Anfang an mythischer (und poetischer) Überrest der Troia-Überlieferung: »reliquias Danaum« ›von den Danaern Übriggelassene‹ (1,30; 1,598; 3,87; vgl. auch 4,343; 5,787). Auf die Bedeutung der Formel für die Aeneis verweisen schon Lewis (Anm. 11), S. 34–36 und bes. Herzog (Anm. 2), S. 87 f. 

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in Hinblick auf die gesamte römische Geschichte gewährleistet, was aus dem Mund ihres Helden die Losung der vergilischen Teleologie darstellt: »forsan et haec olim meminisse iuuabit« ›vielleicht wird es einmal Freude bereiten, sich auch an dies zu erinnern‹ (1,203).15 Nicht nur in ihrer körperlichen Größe manifestiert sich so die Exorbitanz der Helden der Aeneis, sondern zugleich im Verhältnis des auf das römische Kollektiv bezogenen Heldentums zur homerischen Exorbitanz.16 So wird denn auch die hypertextuelle Arbeit an der poetischen Vergangenheit, namentlich der homerischen Epen, zugleich zur Verhandlung der heroischen Vergangenheit der Figuren. Aeneas wird seine eigene Geschichtlichkeit sogar erlebbar, als er in Karthago einen Tempel sieht, an dem Bilder des troianischen Krieges angebracht sind: uidet Iliacas ex ordine pugnas bellaque iam fama totum uulgata per orbem, […] se quoque principibus permixtum agnouit Achiuis. (1,456 f. u. 489) Er sieht Iliums Schlachten, der Reihe nach, und die Kriege, zur Kunde gelangt schon über den ganzen Erdkreis. […] Auch sich selbst erkannte er im Gemenge mit den Helden der Achiver. Er erfährt damit gleich zu Beginn dieses Textes eine Identitätsspaltung, die dem Helden eine gegenüber der Ilias neue Form der Vergangenheitsbegegnung (und damit auch der potentiellen Vergangenheitsbewältigung) eröffnet. Indem sich der Held selbst erkennt, das heißt die heroische Phase seiner Existenz als geschichtlich erlebt, kann er sie abschließen und von seiner Gegenwart distanzieren.17 Erst diese Distanzierung ermöglicht ihm im zweiten und dritten Buch einen endgültigen Abschluss dieser Vergangenheit, indem er am Hof der Königin Dido von Karthago die Geschichte von der Zerstörung Troias und seinen Irrfahrten erzählt. Das zweite Buch ist in dieser Hinsicht die letzte Aktualisierung des heroischen Aineias, die allerdings von Anfang an das Ende des troianischen 15 Kein anderer Vers der Aeneis drückt ihr memoratives Programm besser aus ; er ist als Ausdruck der reproduktiven Homertransformation, wie schon Lewis (Anm. 11), S. 37 feststellt, durch und durch unhomerisch. – Publius Vergilius Maro: Aeneis, hg. v. Gian Biagio Conte, Berlin u. Boston 22019. Alle Übersetzungen stammen von mir. 16 Vgl. Markus Janka: Vergils Aeneis. Dichter, Werk und Wirkung, München 2021, S. 11, der eine »gemeinwohlorientierte Uminterpretation des archaischen, für das Gemeinwohl unempfänglichen Heldengrolls des Achill« am Werk sieht. 17 Herzog (Anm. 2), S. 96: »[W]as der Held gewesen ist, kann am Fries ihres [Junos] Tempels einen Platz finden.« 

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Krieges und damit des homerischen Heroismus markiert. So erzählt Aeneas, wie die Griechen in heuchlerischer Absicht die Küste Troias verlassen und wie die Troianer, als sie die Abwesenheit ihrer Belagerer bemerken, gemeinsam vor die Tore ziehen und die Lager ihrer Feinde bestaunen: ergo omnis longo soluit se Teucria luctu. panduntur portae, iuuat ire et Dorica castra desertosque uidere locos litusque relictum: hic Dolopum manus, hic saeuus tendebat Achilles, classibus hic locus, hic acie certare solebant. (2,26–30) Also legt ganz Troia die lange Trauer ab. Geöffnet werden die Tore, voll Freude geht man, das dorische Lager, die verödeten Plätze und die verlassene Küste zu sehen: Hier schlug immer der Doloper Schar ihre Zelte auf, hier der schreckliche Achilles, für die Flotte war dies der Platz, hier kämpften sie immer in der Schlachtreihe. Von Beginn an erweckt die Erzählung des Aeneas von dem Krieg, der immerhin zehn Jahre währte und gerade erst vergangen zu sein scheint, den Eindruck einer seltsam abgeschlossenen Vergangenheit, die in dem Moment beendet ist (»longo soluit se Teucria luctu«), als die Tore geöffnet und die Lager der Feinde sichtbar werden. Die Troianer und mit ihnen Aeneas freuen sich nicht nur darüber, die wieder entmilitarisierten Strände zu sehen, sondern sie füllen dieses Vakuum unverzüglich durch ihre Erinnerung auf, die den gesamten Strand als deiktisch indifferenten Erinnerungsraum markiert (man beachte das viermalige hic, das hier nur vorgeblich als genaue Ortsangabe fungiert). Angetrieben werden sie dabei durch ein geradezu touristisches Interesse, das insbesondere auf Achilles und damit just den Helden zentriert ist, der die Troianer auf eben jenen paradoxen Überrest reduzierte, dessen Handlung das Epos verfolgt. Dass sie es waren, gegen die die Griechen nicht nur lange, sondern vor allem auch bis gerade eben noch gekämpft hatten, scheint hingegen vergessen. Indem die Troianer und allen voran der Erzähler Aeneas diesen Erinnerungsraum kultivieren, schreiben sie den Krieg ihrer Vergangenheit ein und können sich aufgrund ihrer derartigen memorativen Distanzierung an dem abgeschlossenen Leid tatsächlich erfreuen. Nach dem (vermeintlichen) Ende der Helden leben diese an der Küste Troias als memoria fort und bevölkern als solche den Handlungsraum des sekundären Epos aufs Neue. Diese Wiederkehr des Heroischen führt auch zu einer gegenüber der Ilias gesteigerten Komplexität der Zeitstruktur. Nach Chadwick lebt der Held des (primären) Epos in einer Zeit, die sich in Relation zur Er https://doi.org/10.5771/9783835349452

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zählung durch ihre Zeitlosigkeit auszeichnet. Er erscheint den Zuhörern als Unzeitgemäßer, als aus der Zeit der Handlung und noch viel mehr der der Rezeption und ihrem System Gefallener und solchermaßen als Fremder. Um die Distanz zwischen dem Einst des heroic age18 und dem Heute der Rezipienten als unüberbrückbar zu markieren, wird in der Ilias eine Degenerationstheorie entworfen, die impliziert, dass die Männer, von denen das Epos spricht, viel kräftiger waren, als es die der heutigen Zeit sind. Der homerische Aineias etwa schleudert einen Stein auf den heranstürmenden Achilleus, der so groß ist, dass nicht zwei Männer der Gegenwart ihn heben, geschweige denn werfen könnten: ὃ δὲ χερμάδιον λάβε χειρί Αἰνείας, μέγα ἔργον, ὃ οὐ δύο γ’ ἄνδρε φέροιεν, οἷοι νῦν βροτοί εἰσ’· ὃ δέ μιν ῥέα πάλλε καὶ οἶος (20,285–287). Er aber nahm einen Feldstein mit der Hand, Aineias, ein großes Werk, den nicht einmal zwei Männer tragen können, so wie jetzt die Sterblichen sind. Er aber warf ihn mühelos auch allein.19 Eine über die Denkfigur der Antithese hinausgehende Verbindung der Gegenwart der Handlung und der der Erzählung, etwa durch die Genealogie, fehlt. Dagegen kann die Zeit der Geschichte mit verschiedenen anderen noch älteren Geschichten in der Ilias sehr wohl verknüpft werden und das heroic age zumindest eine relationale Skalierung zur Vorvergangenheit erfahren.20 In der Ilias etwa nimmt Nestor, der älteste Grieche vor Troia, die Rolle desjenigen ein, der schon bei allen großen voriliadischen Feldzügen dabei war, die Vätergeneration der Troiahelden kennt, ihre Geschichten in seiner Person verbindet und die Erinnerung 18 Der Begriff wurde von Hector Munro Chadwick: The Heroic Age, Cambridge 1912 geprägt, um eine anthropologische Gemeinsamkeit der Entstehungsgeschichte von Heldenepen zu benennen: »The conclusion to which I have been brought is that the resemblances in the poems are due primarily to resemblances in the ages to which they relate and to which they ultimately owe their origin. The comparative study of heroic poetry therefore involves the comparative study of Heroic Ages« (S. VIII). Vgl. auch Jonas Grethlein: Homer – die epische Erinnerung an unvergänglichen Ruhm, in: Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, hg. v. Elke Stein-Hölkeskamp u. Karl-Joachim Hölkeskamp, München 2010, S. 386–399, hier 391: Die homerischen Epen »finden in einer Zeit sui generis statt, die nicht mit der Gegenwart verbunden ist«. 19 Ein Leitmotiv, vgl. Ilias 12,445–449, dazu 5,304; 12,383. – Homeri Ilias, hg. v. Martin Litchfield West, 2 Bde., München u. Leipzig, 1998 u. 2000. 20 Grethlein (Anm. 18) bezeichnet diese Zeitstufe der Vorgängergenerationen als »heroische[s] Plusquamperfekt« (S. 387). 

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an sie immer wieder reaktiviert.21 Die Verkettung des heroic age mit der Gegenwart und die der verschiedenen Geschichten vergangener Epochen untereinander sind mit Hans Blumenberg als Formen einer Arbeit am Mythos zu begreifen. Sie besteht darin, dass der Text die Namen der Helden nennt, von denen ausgehend sich ihre Geschichten erzählen lassen, so dass ihre Mythen in ein immer dichteres »Netz von Bestimmtheit«22 eingebettet werden und dadurch die Orientierungsleistung des Mythos gegen den Absolutismus der Wirklichkeit aufrecht erhalten. Ein anderes Modell bietet Hesiod in seinem Lehrgedicht Werke und Tage, mit dem die gesamte Zeit seit dem Ursprung der Welt in sich ablösenden Weltaltern systematisch geordnet wird, um die Anfänge des Menschen und die Zeit der Helden beherrschbar zu machen, indem sie relational fixiert werden (V. 106–200). Der Lehrdichter liefert damit den Gegenentwurf zur epischen Arbeit am Mythos: Er weiß genau – d. h. im Mythos: gibt vor zu wissen –, dass die Zeit der Sterblichen der heroischen Zeit und der Gegenwart durch eine bestimmte Anzahl an Generationen getrennt sind, und hebt dadurch die von Homer aufgerufene temporale Antinomie zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch eine geregelte Abfolge von Geschlechtern auf, in die die Zeit der Helden einsortiert und ihre Exorbitanz dadurch eingefriedet werden kann. Dem Heldenepos hingegen ist ganz im Gegenteil nicht daran gelegen, den Zusammenhang zu markieren: Die Zeit der Helden ist unwiderruflich vorbei und dadurch von der Zeit der Menschen, die ›heute‹ leben, kategorisch distanziert. In der Aeneis ist nun aber gerade eine der homerischen Zeiteinteilung entgegengesetzte Strategie am Werk, in der die Distanz zwischen Aeneas und dem Leser Vergils ständig und von Anfang an durch Namen und Geschichten überbrückt wird. Darin gleichen sich das vergilische Epos und die Weltaltertheorie Hesiods, die als sekundäre Arbeiten am Mythos die isolierten Heldenerzählungen Homers mit der Welt verbinden und die Exorbitanz der Vergangenheit damit beherrschbar zu machen suchen. In diesem konstruierten Kollektiv der römischen Geschichte ist der Held Aeneas nur ein Mosaikstein und wird vom ersten Vers an als solcher behandelt: Arma uirumque cano, Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus Lauinaque uenit 21 Im ersten Gesang der Ilias wird über Nestor gesagt, er habe schon zwei Generationen überdauert (1,250–252), ehe er selbst auf die Helden der Vorzeit, mit denen er gemeinsam gekämpft habe, zu sprechen kommt (1,260–272). Vgl. auch 7,124–156; 11,670–762; 23,629–642. 22 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt / M. 1979, S. 46. 

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litora – multum ille et terris iactatus et alto ui superum, saeuae memorem Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus, dum conderet urbem inferretque deos Latio ; genus unde Latinum Albanique patres atque altae moenia Romae. (1,1–7) Die Waffen und den Mann besinge ich, der als erster von Troias Küsten schicksalsgesandt nach Italien und an Laviniums Gestade kam – viel wurde er über Länder und die hohe See herumgeworfen von der Gewalt der Götter, wegen des unversöhnlichen Grolls der schrecklichen Iuno, viel auch litt er im Krieg, bis er die Stadt gründen und die Götter nach Latium bringen konnte; daher kommt das Geschlecht der Latiner, die Väter von Alba und die Mauern des hehren Rom. Von Anfang an also wird in der Aeneis im Gegensatz zu den im heroic age verbleibenden und damit von der Gegenwart isolierten Helden Homers das diegetische Universum in den mythischen ebenso wie den historischen Geschehensraum (sofern man diese für die Aeneis überhaupt trennen kann) eingeordnet. Der Mann, um den es hier gehen soll, ist gleichzeitig Hauptfigur der Erzählung und Nebendarsteller des Geschehens ; seine Geschichte zu erzählen, bedeutet nicht mehr (aber auch nicht weniger), als eine gewissermaßen aitiologische Perspektive auf die Genese des römischen Staates einzunehmen, in der Aeneas nur einen Vorläufer – wenngleich den größten – der damals noch nicht geborenen Romidee darstellt.23 Das heroic age des epischen Kyklos, aus dem Aeneas heraus in die Aeneis eintritt, wird durch die Verwendung von historischen Ortsnamen, Anachronismen, Allusionen und Verweisen, ja ganzen Erzählungen, in denen der Autor mit dem Leser kommuniziert, mit der Gegenwart des Erzählens verbunden, so dass die Gegenwart der Handlung unablässig historisiert wird.24 Dadurch erst kann in einem zweiten Schritt die Geschichte hermeneutisch erschlossen werden, um beherrschbar und funk23 Die Zukunft ist also die nicht greifbare, aber immer einzig zentrale Zeitstufe für Aeneas, gewissermaßen die Zeit, »von der her er lebt« (Schmidt [Anm. 10], S. 69). 24 Hubert Cancik: Myth-Historie. Zur Literarisierung historischer Vorgänge und Personen im antiken Epos, in: Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, hg. v. Barbara Aland u. a., Tübingen 2003, S. 1–18 nennt die Aeneis daher treffend ein myth-historisches Epos, um beide Verfahren zu erfassen, mit denen die zwei Zeithorizonte aufeinander bezogen werden: die Historisierung des Mythos und die Mythisierung der Historie. Vgl. auch Knoche (Anm. 6), S. 121 f. und Herzog (Anm. 2). Dabei verfährt der Text, wie Schmidt (Anm. 10), S. 78 f. zeigt, ganz nach den Regeln der oral poetry: Ein relevantes Sinnpotential enthalten in der Aeneis nur die älteste Stufe der Geschichte sowie die eigene 

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tionalisierbar zu werden, indem sie der eigenen kulturellen Vergangenheit eingespeist wird. Aus dem heroic age wird in der Folge ein historic age. Eine Distanzierung in Form von Antithesen findet im sekundären Epos daher vor allem auch nicht mehr zwischen der Zeit der Geschichte und der Zeit der Erzählung statt wie in der Ilias, sondern zwischen der Zeit der Handlung und der Vergangenheit des troianischen Krieges. Daher wird auch eine Transformation der homerischen Formel ›so wie jetzt die Sterblichen sind‹ (»οἷοι νῦν βροτοί εἰσ’«, s. o.) notwendig, so dass nicht mehr die Stärke der Helden mit den Menschen der Gegenwart, sondern der Krieger vor Troia mit der der Aeneaden verglichen wird. So etwa im fünften Buch, als Aeneas für den Zweitplatzierten im Wettlauf eine vor Troia von einem sonst unbekannten Griechen namens Demoleos erbeutete Rüstung verspricht, die sodann von zwei Dienern herbeigeschafft wird: at qui deinde locum tenuit uirtute secundum, leuibus huic hamis consertam auroque trilicem loricam, quam Demoleo detraxerat ipse uictor apud rapidum Simoenta sub Ilio alto, donat habere, uiro decus et tutamen in armis. uix illam famuli Phegeus Sagarisque ferebant multiplicem conixi umeris ; indutus at olim Demoleos cursu palantis Troas agebat. (5,258–265) Doch wer den zweiten Platz durch seine Leistung erringt, dem schenkt er einen dreidrähtigen, mit polierten Metallringen und Gold gefügten Panzer, den er selbst Demoleos abgezogen hatte, nach seinem Sieg beim reißenden Simois am Fuß des hehren Ilium ; für den Mann eine Zierde und Schutzwehr bei Kriegstaten. Kaum konnten diesen vielfach gefügten Panzer die Diener Phegeus und Sagaris tragen, obwohl sie ihn mit aller Kraft mit den Schultern stemmten ; doch diesen angelegt jagte einst Demoleos im Lauf die zerstreuten Troer. Die graue Vorzeit (»olim«), das heroic age, von dem die Aeneis spricht, ist also nicht mehr die Zeit der Handlung, sondern die vorgelagerte Zeit der Vorvergangenheit, von der die Aeneis ihre Erzählung als Erinnerungsraum absetzt.25 Der gegenüber Homer neue Handlungsraum Vergils entwart, während die Zeit dazwischen vage bleibt, ohne dass der Eindruck eines Kontinuums getrübt würde. 25 Eine Ausnahme bildet der Steinwurf des Turnus im Schlusskampf gegen Aeneas (12,896–918). Doch hier wird die Distanz zur Gegenwart der Rezipienten nicht nur 

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spricht selbst insofern dem der Rezeption, als beide auf dieselben heroic ages blicken. Nicht die Rezipienten der Zeit des Erzählers können die Gegenstände nicht mehr heben, die die Helden noch mühelos tragen konnten, sondern schon die handelnden Figuren der Aeneis, die, selbst noch Zeitgenossen der Helden vor Troia, nach dem Krieg auf Normalmaß geschrumpft zu sein scheinen. Dass Demoleos ein völlig unbedeutender Krieger ist,26 stützt die These zusätzlich: Selbst der kleinste Grieche vor Troia kann riesenhafte Ausmaße annehmen, allein deswegen, weil er vor Troia war.27 Alles, was die Aeneis erzählt, ist daher postheroisch in dem Sinn, dass es nach dem, d. h. jenseits des homerischen Heldentums angesiedelt ist.28

»Non defensoribus istis tempus eget«. Priamus’ Tod und das Ende der homerischen Helden

Diese Wiederkehr der mythischen wie poetischen Vergangenheit zieht sich als Thema leitmotivisch durch die ganze Aeneis. So wird der troianische Krieg nicht nur zum einmal überwundenen Ausgangspunkt der Irrfahrten, sondern innerhalb des Epos selbst immer wieder reproduziert: zuerst auf dem Iunotempel, danach ausführlich in Aeneas’ Erzählung, um zuletzt noch einmal, unter veränderten Vorzeichen, im Krieg um Latium wiederholt zu werden. Was vom heroic age im historic age wieder auftaucht, ist, wie bei der Besichtigung des verlassenen Griechenlagers, die memoria, die den Raum paradoxerweise mit ihrer Leere ausfüllt. Die Darstellungen des troianischen Krieges in Karthago sind »pictura […] inani[s]« (1,464), also genauso inhaltsleer wie Hectors Kenotaph in Buthrotum (3,304),29

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deutlich gesteigert (zweimal sechs Männer statt nur zwei: Ilias 12,899), sondern der heroische Wurf im Stile des Diomedes scheitert, so dass auch die Distanzierung des heroic age genauso wie Turnus als homerischer Held ins Wanken gerät. Vgl. zu der Szene Quint (Anm. 2), S. 68–72. In der Ilias taucht er als Name eines von Achilleus getöteten Troianers auf (20,395). Auch die Troianer sind für die Latiner »ingentis […] / uiros« ›gewaltige Männer‹ (7,167 f.): Je nach Perspektive kann die Größe der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichen. Christoph Petersen: Postheroische Perspektiven oder Die Signifikanz des Verkennens im Hildebrandslied, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 94 (2020), S. 417–443 schränkt den Begriff postheroisch ein auf die nachweltliche Perspektive, die auf erzählte Heroik gerichtet und bereits der Heldenepik selbst eingeschrieben ist (S. 440–443). In der Aeneis ist diese Perspektive konstitutiv für die ganze Erzählung. Ähnlich Page DuBois: History, Rhetorical Description and the Epic. From Homer to Spenser, Cambridge 1982, S. 33.

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jene Stadt, die nur von Untoten bewohnt wird, die eine sterile Simulation des (heroischen) Troia aufrechterhalten.30 Folgerichtig kehren auch die verstorbenen Helden nur als Revenants wieder. Hector erscheint dem Aeneas im Traum nach dem Festgelage, allerdings nicht so, wie er oder der Leser ihn als Figur der Ilias in Erinnerung hatte, nämlich als stattlicher Anführer der troianischen Truppen, sondern wortwörtlich als Schatten seiner vergangenen Existenz, an dem die Spuren der Misshandlung durch Achilles zu sehen sind: »ei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo / Hectore qui redit exuuias indutus Achilli« ›Weh mir, wie sah er aus, wie sehr war er verwandelt im Vergleich zu jenem Hector, der mit den Waffen des Achilles zurückkehrte‹ (2,274 f.). Gerade Hector, der beste Held der Troer, ist damit zur abgestorbenen Kopie seines homerischen Pendants geworden, die als nicht tot zu kriegender Geist Aeneas anfällt.31 Hectors Leichnam, der in der Ilias von Apollon geschützt wird und gerade nicht verstümmelt ist (24,11–24), wird dergestalt zu einem Dingsymbol für eine dysfunktionale Vorstellung des Heroischen, in der das göttliche Eingreifen restlos ausgeblendet wird. Aus dem Mund dieses postheroischen Doppelgängers eines Heros erhält Aeneas passenderweise auch die unheroische Aufforderung, nicht ins Kampfgeschehen einzugreifen und aus der Stadt zu fliehen (2,289– 295): Die Zeit der heroischen Kämpfe ist mit dem Tod des troischen Musterhelden vorbei, denn auch dieser kann hier nichts mehr ausrichten (2,292). Vom Protagonisten des vergangenen heroischen Epos erhält der Akteur dieser neuen Zeitrechnung einen anderen Auftrag: die Gründung einer neuen Stadt und die genealogische Fortführung der troianischen Linie. Ungeachtet dieser Aufforderung schlägt Aeneas aber Hectors Worte in den Wind und stürzt in den Kampf (2,313–317). In Aeneas scheint der Kriegslärm (»clamorque uirum clangorque tubarum« ›Geschrei von Männern und Gedröhn von Trompeten‹, 2,313) automatisch eine heroische Reaktion für seine Heimat auszulösen,32 die jetzt aber als sinnlos, weil affekt30 Vgl. Quint (Anm. 2), S. 57–61. 31 Vgl. N. C. Webb: Direct Contact between the Hero and the Supernatural in the Aeneid, in: Proceedings of the Virgil Society 17 (1978–1980), S. 39–49, hier 43. 32 Insofern unterscheidet sich Aeneas von dem Achilleus der Ilias, der »keine Rücksichten gegenüber der Heeresgemeinschaft und erst recht keine vaterländischen Pflichten« (von See, Heldendichtung [Anm. 10], S. 184) kennt – was in der Ilias aber kritisiert wird, nach dem Tod des Patroklos sogar von Achilleus selbst (18,98– 107). Dagegen Katherine Callen King: Foil and Fusion. Homer’s Achilles in Vergil’s Aeneid, in: Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici 9 (1982), S. 31–57, hier 32. Zur Aeneis-Stelle Bernard Fenik: Parallelism of Theme and Imagery in Aeneid II and IV, in: American Journal of Philology 80 (1959), S. 1–24, hier 5–8. 

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bestimmt beschrieben wird (»amens« ›wahnsinnig‹, 2,314; »nec sat rationis« ›kein Vernunftgebrauch‹, 2,315; »furor iraque mentem / praecipitat« ›Raserei und Zorn eilen dem Verstand voraus‹, 2,316). Statt sich auf die »fatorum comites« ›die Gefährten seiner Schicksalsmission‹ (2,294) zu stützen, begibt sich Aeneas in Vergessenheit der fata lieber ins blinde Kollektiv der Kämpfer um Troia (»cum sociis« ›mit Gefährten‹, 2,316).33 Dieselbe Reaktion, herausgestellt durch das Signalwort »arma« am Versanfang, wird in Aeneas ausgelöst, als Anchises seine Rettung ausschlägt und mit Troia sterben will: ›arma, uiri, ferte arma ; uocat lux ultima uictos. reddite me Danais , sinite instaurata reuisam proelia: numquam omnes hodie moriemur inulti.‹ (2,668–670) ›Waffen, Männer, bringt die Waffen ! Es ruft das letzte Licht die Besiegten. Gebt mich den Danaern zurück, lasst mich die begonnenen Kämpfe wieder sehen. Niemals werden wir heute alle ungerächt sterben.‹ Aeneas’ Kampf ist Heldentum für das Kollektiv, das sich – im Rückblick der eigenen Erinnerung – seiner Nutzlosigkeit voll bewusst ist (»moriemur«) und trotzdem seine destruktive Potenz entfalten und in Verkehrung der logischen Kohärenz den eigenen Tod vorab rächen will.34 Als Egoismus wird dies Aeneas auch von Creusa vorgeworfen und durch das Götterprodigium am Haar von Aeneas’ Sohn Iulus bestätigt (2,679–704). Aeneas muss einsehen, dass seine Linie nicht dem Untergang geweiht ist, weil er im Gegensatz zu Hector nicht für Troia, sondern für die patria nova und damit für die in den fata enthaltene Romidee einsteht.35 Die 33 Ähnlich King (Anm. 32), S. 32: »Aeneas’ futile attempt to be a martial hero during Troy’s last hours [...] shows that it was only with the greatest reluctance that he abandoned his Iliadic existence.« 34 Bezeichnenderweise kehrt der Gedanke der Rache im Tod in Didos letzten Worten wieder, als letzter Seufzer der resignierenden Heroine: »moriemur inultae, / sed moriamur« ›wir werden ungerächt sterben, aber wir wollen sterben‹ (4,659 f.). Didos »omina mortis« ›Todesverheißungen‹ (4,662), welche die davonsegelnden Troianer mit sich führen, werden sich in einer geschichtlichen Tiefenstaffelung erfüllen, in Turnus wie in Hannibal: In der Aeneis kämpfen letztlich keine individuellen Heroen gegeneinander, sondern Generationen eines postheroischen Geschichtslaufes. 35 King (Anm. 32), S. 33: »[I]n the ideology of the Aeneid personal success is relatively unimportant. […] Aeneas’ supreme talent, pietas, is to be used to destroy his individual identity.« 

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Antiklimax am Ende von Creusas Vorwurf hebt die Bedeutung des Erben Iulus für den Fortbestand der troianischen Linie hervor: »›cui paruus Iulus, / cui pater et coniunx quondam tua dicta relinquor?‹« ›Wem wird der kleine Iulus, wem dein Vater und ich, die Frau, die du einmal die deine nanntest, zurückgelassen?‹ (2,677 f.). Hingegen ist Troias Hauptlinie nicht mehr vor dem Untergang zu bewahren. Auf ihn läuft daher Aeneas’ Erzählung seiner Kämpfe zu. Die Griechen sind bis zum Königspalast vorgedrungen, allen voran Neoptolemus, der Sohn des Achilleus, der ›mit der Kraft seines Vaters‹ »ui patria« (2,491) in blinder Raserei im Inneren des Palastes mordet: ›uidi ipse furentem caede Neoptolemum geminosque in limine Atridas, uidi Hecubam centumque nurus Priamumque per aras sanguine foedantem quos ipse sacrauerat ignis. quinquaginta illi thalami, spes tanta nepotum, barbarico postes auro spoliisque superbi procubuere‹ (2,499–505). Ich [Aeneas] sah mit meinen Augen den im Blutrausch rasenden Neoptolemus und die beiden Atriden auf der Schwelle, ich sah Hecuba, hundert Schwiegertöchter und Priamus, wie er am Altar mit Blut die Opferfeuer besudelte, die er selbst geweiht hatte. Seine fünfzig Brautgemächer, die so große Hoffnung auf Enkel, und die Türpfosten, prangend mit fremdländischem Gold und erbeuteten Rüstungen, sanken in sich zusammen. Dass der heroische Zweikampf einer vergangenen Zeit, einer anderen epischen Tradition, angehört, wird hier besonders evident: Nicht nur Hector ist tot, sondern auch Achilleus. Sein Sohn Neoptolemus hat zwar die exorbitante Kraft und Brutalität seines Vaters geerbt, nicht aber die Feindseligkeit gegenüber Agamemnon, mit dem zusammen er im Palast des Priamus wütet. Der postheroische Doppelgänger des Achilleus ist eine grausame Kampfmaschine, die das Haus des Priamus seiner Erben entledigt. Was Achilleus mit dem Mord an Hektor im heroischen Einzelkampf gelang, steigert das postheroische Kollektiv der griechischen Streitkräfte, angeführt durch den Sohn des Vertreters der alten Ordnung, ins Endgültige: Sie töten die Zukunft Troias und verbannen die Stadt des Feindes in die Sphäre der memoria. Als Reaktion auf den widernatürlichen Tod seiner eigenen Erben legt nun der greise König seine Waffen an, um in den Kampf zu ziehen 

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(2,509–511). Doch seinem »heroic impulse«,36 dem Kampf und Heldentod Bestimmung genug sind (»moriturus« ›um zu sterben‹, 2,511),37 steht in Aeneas’ rückblickender Bewertung eine rationalistische Abwägung gegenüber, nach der dieses Opfer sinnlos ist (»nequiquam« ›umsonst‹, »inutile« ›nutzlos‹, 2,510) ist. Seine sinnlosen Kämpfe sind dem Sinn eines übergeordneten Schicksals gegenübergestellt. Und in Hecubas Schimpfrede an ihren Mann wird der kämpfende Priamus in eine frühere, definitiv vergangene Zeit verbannt:38 ipsum autem sumptis Priamum iuuenalibus armis ut uidit, ›quae mens tam dira, miserrime coniunx, impulit his cingi telis? aut quo ruis?‹ inquit ; ›non tali auxilio nec defensoribus istis tempus eget ; non, si ipse meus nunc adforet Hector. huc tamen concede ; haec ara tuebitur omnis , aut moriere simul.‹ sic ore effata recepit ad sese et sacra longaeuum in sede locauit. (2,518–525) Als sie Priamus selbst aber mit den jugendlichen Waffen, die er sich angelegt, sah, sprach sie: ›Welch grauser Wahnsinn, erbärmlicher Gatte, trieb dich dazu, diese Waffen anzulegen? Oder wohin stürzt du? Nicht so eine Hilfe, nicht solche Verteidiger verlangt diese Zeit ; nicht, wenn mein Hektor selbst jetzt da wäre. Begib dich hierher ; dieser Altar wird alle schützen , oder du wirst mit uns sterben.‹ So sprach sie, zog ihn zurück zu sich und ließ den Greis an der heiligen Stelle Platz nehmen. Hecuba versucht, die Ordnung des Epos im Wissen um die Sinnlosigkeit eines Opfers wiederherzustellen. Ihre Fragen tun das erwachte Heroentum ihres Mannes als Wahnsinn ab und die Gnome »nec defensoribus istis / tempus eget« als unzeitgemäß. Zugleich birgt diese aber eine metaliterarische Implikation, die die Verkehrung der epischen Ordnung anzeigt, denn auch für Hector hätte sie gegolten. Nicht nur Priamus ist zum Ata36 Überschrift des ersten Kapitels von Kenneth Quinn: Virgil’s Aeneid. A Critical Description, Ann Arbor 1968, S. 1–22. 37 Dazu 2,407 f. (»Coroebus / […] sese medium iniecit periturus in agmen« ›Coroebus stürzt sich, um zu sterben, in die Rotte‹) und 2,675 (»si periturus abis, et nos rape in omnia tecum« ›Wenn du weggehst, um zu sterben, dann reiß uns auch zu allem mit dir‹). 38 Vgl. Andreola Rossi: Contexts of War. Manipulation of Genre in Virgilian Battle Narrative, Ann Arbor 2004, S. 46–48. 

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vismus geworden, sondern Heroen und ihre Kämpfe an sich.39 Auf die Mahnung Hecubas, sich nicht in den sicheren Tod zu stürzen, sondern mit ihr im Schutz des Altars auszuharren, fügt sich der König ebenso schnell, wie er sich zum Kampf gerüstet hatte. Als aber der schwerverletzte Polites sich mit letzter Kraft vor seine Eltern schleppt und tot zusammenbricht, zieht Priamus tatsächlich in den Zweikampf, den einzigen des gesamten zweiten Buches. Doch zuvor diskreditiert er seinen Gegner in alter epischer Manier: ›at tibi pro scelere‹ exclamat, ›pro talibus ausis di, si qua est caelo pietas quae talia curet, persoluant grates dignas et praemia reddant debita, qui nati coram me cernere letum fecisti et patrios foedasti funere uultus. at non ille, satum quo te mentiris, Achilles talis in hoste fuit Priamo ; sed iura fidemque supplicis erubuit corpusque exsangue sepulcro reddidit Hectoreum meque in mea regna remisit.‹ (2,535–543) ›Aber dir sollen für dein Verbrechen‹, schreit er, ›für solchen Frevel, die Götter, wenn es im Himmel irgend Anstand gibt, der sich um solches kümmert, den gebührenden Dank abstatten und dir deinen Lohn bezahlen, den man dir schuldig ist, der du mich mit eigenen Augen den Tod meines Sohnes sehen ließest und das Gesicht des Vaters mit dem Mord besudelt hast. Doch nicht so war der, dessen Sohn du zu sein heuchelst, Achilles, gegenüber dem Feind Priamus ; sondern vor dem Recht und der Redlichkeit des Bittflehenden errötete er, gab den blutleeren Leichnam Hectors dem Grab zurück und schickte mich zurück in mein Reich.‹ Priamus wirft Neoptolemus vor, sich von einem Heldenideal entfernt zu haben, auf das er sich noch durch Augenzeugenschaft berufen kann und das ausgerechnet durch seinen Vater in höchster Form vertreten wurde.40 Und folgerichtig entfaltet sich in der chiastisch pervertierten Wiederho39 So schon Quinn (Anm. 36), S. 7 f.; allgemein Kopff (Anm. 9), S. 929: »Virgil’s narrative is premised on demonstrating the vanity of Troy’s heroism against human and divine action.« 40 Neoptolemus ist also nur die Wiedergeburt der kaltblütigen Gewalttätigkeit seines Vaters ; vgl. Bernard M. W. Knox: The Serpent and the Flame. The Imagery of the Second Book of the Aeneid, in: American Journal of Philology 71 (1950), S. 379– 400, hier 395: »Only the worst of the father is reborn in the son.« 

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lung jenes früheren Zweikampfes zwischen Achilleus’ Sohn und Hektors Vater statt eines heroischen Kampfes ein unhomerisches Gemetzel, in dem niemand unsterblichen Ruhm gewinnen kann: cui Pyrrhus: ›referes ergo haec et nuntius ibis Pelidae genitori ; illi mea tristia facta degeneremque Neoptolemum narrare memento: nunc morere.‹ hoc dicens altaria ad ipsa trementem traxit et in multo lapsantem sanguine nati, implicuitque comam laeua dextraque coruscum extulit ac lateri capulo tenus abdidit ensem. haec finis Priami fatorum […]. iacet ingens litore truncus auulsumque umeris caput et sine nomine corpus. (2,547–558) Darauf Pyrrhus: ›Du wirst nun als Bote gehen zum Peliden, meinem Vater, und ihm das berichten ; denk daran, ihm von meinen unseligen Taten zu erzählen und, wie sehr Neoptolemus aus der Art geschlagen: Jetzt stirb!‹ Während er das sagte, zerrte er ihn zum Altar, der zitterte und glitt im vielen Blut seines Sohnes aus ; er packte sein Haar mit der Linken und mit der Rechten zog er die glänzende Klinge heraus und in die Seite, bis zum Schwertgriff, stieß er sie hinein. Das war das Ende von Priamus’ Schicksal. […] Es liegen am Strand der gewaltige Rumpf, das von den Schultern geschlagene Haupt und ein Leichnam ohne Namen. Da liegt also am Ende des abgelösten heroic age ein gewaltiger Heldenleichnam, dessen Unzeitgemäßheit durch seine Körpergröße indiziert wird – ein Fossil einer vergangenen Zeit. Dagegen legt Neoptolemus nicht nur ein beredtes Zeugnis für das homerische Wort ab, nach dem ›nur wenige Söhne dem Vater ähnlich, die meisten schlechter und nur wenige besser als der Vater sind‹ (»παῦροι γάρ τοι παῖδες ὁμοῖοι πατρὶ πέλονται. / οἱ πλέονες κακίους, παῦροι δέ τε πατρὸς ἀρείους«, Odyssee 2,276 f.)41, sondern brüstet sich auch mit seiner eigenen Verkommenheit: Er ist degener und lenkt damit die Aufmerksamkeit erneut darauf, dass hier die alte epische Ordnung aus den Fugen geraten ist. In Neoptolemus als degeneriertem Achilleus reduziert sich heroische Exorbitanz auf kalte Brutalität ; er ist daher im wahrsten Sinne kleiner – im Vergleich zu seinem Vater wie auch zu seinem kolossalen Opfer Priamus. Das verleiht auch Didos Frage nach 41 Homerus: Odyssea, hg. v. Martin Litchfield West, Berlin u. Boston 2017. 

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der Größe des Achilles, »quantus Achilles« (1,752), eine weitere Perspektive und einen tieferen Sinn. So lebt der kleine Neoptolemus weiter, während der riesenhafte Priamus als atavistisches Relikt einer vergangenen Zeit namenlos am Strand liegen bleibt.42 Das homerische Heldentum kommt hiermit zu seinem physischen Ende, und das letzte Monument, das daran gemahnt, ist nicht zufällig an genau jenem Ort angekommen, an dem die Troianer die Absenz der homerischen Helden bestaunt hatten: am »litus relictum« (2,27), am von den Helden verlassenen Strand, dem Liminalraum, den sie nun als Erinnerung bevölkern. Zugleich ist der übergroße Körper, der metonymisch für ein obsolet gewordenes Heldentum steht, die Erscheinungsform einer memoria, die aufgrund der Namenlosigkeit des Leichnams nicht mehr fortwirkt. Der heroische Körper gehört nicht in die postheroische Welt und wird geradezu programmatisch von dem historic age, das die Aeneis konstruiert, abgesetzt. Im Gegensatz zu den Küstenstreifen der Aeneis, die ihre Namen von toten Figuren ableiten – Misenus, Palinurus, Caieta – greift hier auch keine Aitiologie. Die homerische Küste Troias versinkt mit dem exorbitanten Heldentum in der Namenlosigkeit.43 Aeneas’ verspätetes Ende und der Beginn der kollektiven Erinnerung

Vergils Epos macht heroische Exorbitanz zum Atavismus, macht die exorbitanten Helden der Ilias zu Überresten einer früheren, homerischen Zeit und Epenform, die im raumzeitlichen Universum der Aeneis wiederkehren können oder an das Frühere gemahnen. In seiner Namenlosigkeit schließt der tote Körper des letzten Königs von Troia das heroic age gleichsam ab, damit es in Form von Doppelgängern wie Hector oder von Gegenständen wie dem Panzer des Demoleos wieder in Erscheinung treten kann. Gerade diese Wiederkehr des Heroischen legt in der Aeneis ein Verfahren offen, das man in Anlehnung an Blumenberg Arbeit an der Exorbitanz nennen kann. Für sie eröffnet die Prophetie der Sibylle, die die Kämpfe der Aeneaden um Latium zu einem neuen troianischen Krieg 42 Der Körper des Königs Priamus wird meist als Bild für seine gefallene Stadt gedeutet (etwa Rossi [Anm. 38], S. 31). Die Deutung des Leichnams als Indiz atavistischer Exorbitanz stützt die These: Mit dem Heros Priamus stirbt die mit den mythischen Heroen verbundene Stadt, mit seinem Tod geht das heroic age zu Ende, bricht das postheroische Zeitalter an. 43 Rossi (Anm. 38), S. 37 f. sieht einen Zusammenhang zwischen der Namenlosigkeit von Priamus’ Leichnam und den Namen, mit denen die Nachkommen des Aeneas nach Auskunft des Anchises das Land in Latium benennen werden (6,773–776). 

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stilisiert (6,86–94), eine neue und in die Geschichtlichkeit der erzählten Welt mündende Perspektive: Der Untergang Troias wird bewältigt durch die Flucht der Aeneaden aus der brennenden Stadt und kompensiert durch ihren Sieg in dem neuerlichen Krieg ; beides ermöglicht die Fortführung der troianischen Linie und diese dann in der geschichtlichen Verlängerung auch den verspäteten Sieg über die Griechen. Sieg durch die Legionen der Nachkommen: das ist die im Heldenepos grundgelegte und mit ihm geschichtlich gewendete Perspektive des römischen Heldentums. Zunächst beruht diese Pespektive aber auf dem noch einmal homerischen Sieg des Proto-Römers Aeneas über den ›zweiten‹ »alius« Achilles (6,89): Turnus vertritt nämlich wie Neoptolemus einen allein auf martialische Stärke zielenden Heldenschlag und damit auch wieder nur eine Facette des exorbitanten Achilles.44 Die strukturale Position des iliadischen Achilleus übernimmt aber Aeneas, der allerdings keineswegs in seiner Exorbitanz aufgeht, wie im Gespräch mit Ascanius vor dem Zweikampf gegen Turnus deutlich wird: ›disce, puer, uirtutem ex me uerumque laborem, fortunam ex aliis. nunc te mea dextera bello defensum dabit et magna inter praemia ducet. tu facito, mox cum matura adoleuerit aetas, sis memor et te animo repetentem exempla tuorum et pater Aeneas et auunculus excitet Hector.‹ (12,435–440) ›Lerne, mein Sohn, Manneskraft und echte Drangsal von mir, Glück von anderen. Jetzt wird dir meine Rechte im Krieg Schutz spenden und zu großer Entlohnung führen. Du aber, wenn dir bald heranreift das mannbare Alter, erinnere dich fest, und dich sollen, wenn du im Herzen die Beispiele deiner Vorfahren wiederholst, sowohl dein Vater Aeneas als auch dein Oheim Hector anspornen.‹ Bevor es also zu dem Kampf kommt, mit dem die Aeneis enden wird, liefert ihr Held eine Reformulierung des homerischen unsterblichen Ruhms: Ascanius wird dazu aufgefordert, sich an die Helden Troias zu erinnern, an Aeneas neben Hector. Damit schreibt sich Aeneas am Ende des Textes einer Zeitstufe zu, der er schon auf den Tempelbildern in Karthago angehörte: dem heroic age, das Hector wie kein zweiter Troianer

44 Ähnlich Galinsky (Anm. 7), S. 1000 f. 

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repräsentiert.45 So fällt er im Kampf gegen Turnus nicht einfach in das Muster heroischer Exorbitanz zurück, sondern hebt diese zugleich memorativ auf, löscht sie und damit sich selbst restlos,46 indem er sich selbst historisiert und dadurch paradoxerweise in den Horizont des von der Zeitlichkeit separierten, weil abgeschlossenen und nur durch die Erinnerung wiederkehrenden Mythos einschreibt. Das wird vor allem darin deutlich, dass er hier die leicht veränderten Worte der Andromache wiederholt, die in Buthrotum nach Ascanius gefragt hatte: »ecquid in antiquam uirtutem animosque uirilis / et pater Aeneas et auunculus excitat Hector?« ›Spornen ihn denn zu alter Tugend und mannhaftem Mut sein Vater Aeneas und sein Oheim Hector an?‹ (3,342 f.) Während Andromache voll und ganz auf das heroic age der Vergangenheit und auf die antiqua uirtus heroisch-kontingenter Exorbitanz beschränkt bleibt,47 sind die Vorbilder in der Abschiedsrede des Aeneas exempla maiorum, so dass das heldenepische Gedenken auf der Schwelle in die Historiographie hinüberkippt. Die Helden der Ilias existieren in ihrer Individualität, unabhängig von Zeit und Raum der Rezeption,48 Aeneas am Ende der Aeneis hingegen nur noch in der Erinnerung eines Kollektivs, das er begründet, so dass der Akt des Erinnerns temporal und lokal gebunden ist ; und diese Erinnerung macht homerisches, exorbitantes Heldentum grundsätzlich obsolet. Den vergilischen Helden zeichnet die Entsagung aus, die Bereitschaft, die eigene Exorbitanz aufzugeben, um zum pater, Vater eines Kollektivs werden und dadurch wiederum neue Helden möglich machen zu können. Mit dieser Distanzierung durch memoria hebt sich der Protagonist auf, um sich einer vorhistorischen Existenz einzuschreiben. Als Stammvater seiner Nachfahren befindet er sich genau auf der Grenze zwischen heroic und historic age:49 der letzte Unzeitgemäße, der dem ver-

45 Andromache schreibt beide diesem heroic age zu, weil für sie nur dieses existiert und Aeneas als Geist aus demselben heraufgekommen ist; vgl. Herzog (Anm. 2), S. 102. 46 Vgl. Herzog (Anm. 2), S. 114: »Aeneas hat sich als lebende Person (außerhalb der Schlacht) vollständig getilgt.« Vor dem Hintergrund der memorialen Selbstaufhebung lässt sich auch der »Rückfall in archaische Exorbitanz« (Janka [Anm. 16], S. 11) in der Schlussszene der Aeneis verstehen ; sie liefert erst die Grundlage dafür, dass Aeneas innerhalb der Aeneis selbst wieder unzeitgemäß werden kann. 47 Diese Ahnentugenden werden maßgeblich durch Hector repräsentiert, der als Bruder von Ascanius’ Mutter Creusa das Zentrum ihres Daseins einnimmt. 48 Das liegt nicht zuletzt daran, dass das heroic age, dem sie alle per definitionem entstammen, selbst ein zeitloser, ja überzeitlicher Handlungsraum ist. 49 Vgl. Knoche (Anm. 6), S. 121: »Als Gestalt bewegt sich demnach Aeneas durchaus in der mythologisch-heldischen Welt der Homerischen Dichtungen ; aber er wirkt hinein in eine andere Welt, in die geschichtliche, hinein nach Italien«. 

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gangenen Heldentum angehört, und zugleich der erste Vorläufer, mit dem die geschichtliche Zeit beginnt.50 Aus dieser Perspektive erklärt sich auch die Tötung des Turnus, die als Verdrängung der Maßgabe seines Vaters (6,851–853) die »kraß unwahrscheinliche Kette des im Wortsinne epischen Vergessens des Aeneas«51 um ein weiteres Glied verlängert. So fällt Aeneas am Ende in ein eigentlich überwundenes Muster zurück und damit auch aus dem Text heraus, indem er einen Gegner tötet, der die Rolle des unterlegenen Aineias in der Ilias einnimmt.52 Dass dieses letzte Vergessen, das das Epos in der für Vergil typischen schweigsamen Tiefe beschließen wird, durch die Erinnerung an Pallas ausgelöst wird (12,940–947), zeigt programmatisch den Zusammenhang zwischen Erinnern und Vergessen in der Aeneis an. Aeneas, das letzte Relikt des troianischen Krieges, der Held, der aus dem Kunstwerk in Karthago herausgetreten war und seither eine Doppelexistenz führte – als homerischer Heros und vergilischer Vater –, erzählt sich am Ende des Textes somit wieder in jenes Kunstwerk hinein: Er fordert seine Nachkommen zur Erinnerung an seine Person auf, wobei er diese als exemplum in jene Tradition zurückstellt, die ihm selbst vor Augen gestellt wurde – als troianischer Held neben Hector. Damit wird er wieder zu dem, der er einmal war, um als memoria – für Andromache war er schon in Buthrotum nichts anderes – weiterzuleben.53 Damit ist zugleich der sekundäre Charakter des Epos vollendet: Aeneas, der erste Held Roms, geht wieder in das Bild am Iunotempel ein und damit auch in die Zeit der Erzählung – ohne allerdings ganz auf seine individuelle Exorbitanz reduziert zu werden. Denn mit dem Ende der Aeneis beginnt die römische Geschichte, die Aeneas beginnen lässt, indem er sich als entsagender Held zum ersten der vielen exempla maiorum stilisiert, welche die römische Historiographie füllen. In dieser Hinsicht ist die Erinnerung an heroische Exorbitanz in der Aeneis Bedingung für den Beginn einer Erinnerungskultur, die sich nicht auf ein Individuum konzentriert, sondern auf ein gemeinsam auf die Romidee hinarbeitendes Kollektiv. 50 Vgl. Galinsky (Anm. 7), S. 1009, für den Aeneas »on the mythological level, a wanderer between two worlds« darstellt ; ähnlich Brian Morris: Virgil and the Heroic Ideal, in: Proceedings of the Virgil Society 9 (1969 /1970), S. 20–33, hier 30. 51 Herzog (Anm. 2), S. 90. 52 Vgl. Quint (Anm. 2), S. 80: »Aeneas thus kills his own double.« 53 Vgl. Lewis (Anm. 11), S. 37: »In a sense he is a ghost of Troy until he becomes the father of Rome.« Ähnlich William S. Anderson: Vergil’s Second Iliad, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 88 (1957), S. 17– 30, hier 30: »Vergil depicts Aeneas as the hero who, having subjected himself and having atoned, in the course of this second Iliad, for the guilt of the Trojans in Homer’s poem, effaces the only reminder left of the ruinous career of Troy.« 

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Matthias Teichert

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»Der Norden hat mehr Heldenfabeln bewahrt als hervorgebracht.«1 Mit dieser Feststellung bringt Hermann Schneider die Tatsache auf den Punkt, dass die altnordische Überlieferung einen außerordentlich hohen Anteil der Gesamtüberlieferung zur germanischen Heldensage ausmacht. Daran sind alle drei literarischen Hauptgattungen (Sagaliteratur, Eddische Dichtung und Skaldik) beteiligt, außerdem eine erhebliche Menge an ikonographischer Überlieferung (u. a. Brakteaten, Bildsteine)2 – zu großen Teilen älter als die Schriftdenkmäler – sowie Runeninschriften.3 Außer in Literarisierungen der klassischen germanischen Heldensage – d. h. des Corpus an Erzählstoffen, das etwa in Schneiders wie auch in Heiko Ueckers Gesamtdarstellung4 als solche definiert und einigermaßen klar gegenüber anderen mittelalterlichen Erzähltraditionen wie dem Antikenroman oder der Artusepik abgegrenzt wird – erscheint Heldentum in unterschiedlicher Nuancierung auch in anderen Gattungen der altnordischen, speziell altisländischen Erzählliteratur, so vor allem in den berühmten Isländersagas (Íslendingasǫgur), Texten über teils historische, teils fiktional(isiert)e Ereignisse und Personen der Besiedlungszeit und frühen Geschichte Islands (ca. 870–1030). Die vorliegenden Ausführungen konzentrieren sich vorrangig auf die altnordische Nibelungenüberlieferung und hier speziell auf die Heldenlieder der Edda, die Vǫlsunga saga sowie auf Isländersagas, in denen einzelne Protagonisten im Mittelpunkt stehen, deren Figurenzeichnung eine 1 Hermann Schneider: Germanische Heldensage. Zweites Buch: Nordgermanische Heldensage, Berlin u. Leipzig 1933, S. 1. 2 Hierzu ausführlich Wilhelm Heizmann u. Sigmund Oehrl: Bilddenkmäler zur germanischen Götter- und Heldensage, Berlin u. Boston 2015. 3 Hermann Reichert: Runeninschriften als Quelle der Heldensagenforschung, in: Runeninschriften als Quelle interdisziplinärer Forschung, hg. v. Klaus Düwel, Berlin u. New York 1998, S. 66–102. 4 Heiko Uecker: Germanische Heldensage, Stuttgart 1972. 

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gewisse Nähe zur klassischen Heldensage aufweist. Die Textauswahl reicht aus, um die wesentlichen Schattierungen von Heldentum in der altnordischen Epik in groben Linien nachzuzeichnen. Es soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie das abstrakte Konzept Held in der literarischen Konkretisierung bei wechselnden Akzentuierungen mit Zügen von insgesamt drei weiteren Figurentypen aufgefüllt und ausbuchstabiert wird. Diese drei Typen, mit denen sich das Bild des Helden in seiner narrativen Realisierung variabel verbindet, werden hier etwas vereinfacht mit den im Titel genannten Begriffen Berserker, Wikinger und Ritter bezeichnet.

Begriffsklärungen

In der germanistischen und altnordistischen Heldensagenforschung ist das Wesen eines Helden unterschiedlich umrissen worden. Im Wesentlichen steht die Vorstellung vom Helden als positiver, vorbildhafter Figur, wie sie Uecker skizziert,5 dem Konzept vom exorbitanten, häufig problematischen und antisozial handelnden Helden gegenüber, das insbesondere Klaus von See in mehreren Veröffentlichungen vertreten hat.6 In der altnordischen Literatur lassen sich zwar beide Heldentypen nachweisen, die zentralen Heldengestalten der nordischen Heldendichtung stehen jedoch insgesamt dem zweitgenannten Typus näher ; nicht selten tragen die altnordischen Helden Züge des Monströsen.7 Vorherrschend ist das Bild vom Helden als einem Menschen, »der das normale Maß hinter sich lässt und der dann auch maßlos in einem nicht mehr beispielhaft-vorbildlichen Sinne sein kann«.8 Die Helden der nordischen Heldensage sind sogar als »Menschen ohne Moral«9 bezeichnet worden. 5 Vgl. ebd., S. 3. 6 Vgl. Klaus von See: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt / M. 1971; ders.: Was ist Heldendichtung?, in: Europäische Heldendichtung, hg. v. dems., Darmstadt 1978, S. 1–38; ders.: Held und Kollektiv, in: ders.: Europa und der Norden im Mittelalter, Heidelberg 1999, S. 145–181. Vgl. auch in der Einführung zu diesem Buch S. 12 f. 7 Hierzu Matthias Teichert: Der monströse Heros oder: Wenn der ungeheure Held zum Ungeheuer wird. Zur Rezeptionsgeschichte des Figuren-Typus Drachenkämpfer in der altnordischen und altenglischen Literatur, in: Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period, ed. by Victor Millet & Heike Sahm, Berlin u. Boston 2014, S. 143–173. 8 Werner Hoffmann: Das Nibelungenlied. Epos oder Roman? Positionen und Perspektiven der Forschung, in: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung, hg. v. Fritz Peter Knapp, Heidelberg 1987, S. 124–151, hier 131. 9 Florian Deichl: Die Welt der Völsungen. Figuren- und Weltentwurf der altnordischen Nibelungendichtung, Berlin u. Boston 2019, S. 28. 

Altnordische Helden

Der Berserker zählt zu den populärsten Vorstellungen, die gemeinhin mit dem Alten Norden verbunden werden. Konstitutiv für ihn sind enorme physische Größe und Stärke bis zur Unverwundbarkeit sowie eine markante Verbindung zum Tiermenschentum. Gemäß neuerer Forschung umfasst das semantische Spektrum des Substantivs berserkr (< anord. *ber ›Bär‹ u. serkr ›Hemd‹) zunächst die »generelle Bedeutung von Tierkrieger […], ohne eine bestimmte Art von Ausrüstung oder Fell zu bezeichnen«.10 Die in literarischen Texten des 13. und 14. Jahrhunderts beschriebenen MenschTier-Transformationen als eigentlicher Kern der ursprünglichen Berserkervorstellung bezeichnen eine »Verwandlung nicht als eine vollzogene Metamorphose des ganzen Körpers […], sondern als ein im wesentlichen psychologisches Phänomen«.11 Diese psychische Metamorphose, die sich in literarischen Schilderungen mit körperlichen Tierverwandlungen vermischt, wird auch als berserksgangr bezeichnet und hat eine starke rauschartige ekstatische Komponente. Im Rahmen der vorliegenden Betrachtungen bezeichnet Berserkertum eine Art von Heroik, die sich durch exorbitante physische Stärke, rauschartige, bedenkenlose Kampfeslust und eine Nähe zu Tiersymbolik auszeichnet. Der Begriff Wikinger hat im Altnordischen ursprünglich die Bedeutung ›Seekrieger fern der Heimat‹ (víkingr) und ist etymologisch wahrscheinlich mit dem Substantiv vík (›Bucht‹, vgl. Ortsnamen wie Reykjavík) zu verbinden. Die historische Wikingerzeit umfasst den Zeitraum von 793–1066. Bereits in der isländischen Sagaliteratur des 13./14. Jahrhunderts setzt eine Stilisierung und Fiktionalisierung des Wikingertums ein, in der auch der im 19. Jahrhundert geprägte moderne Wikingermythos seine Wurzeln hat: Beutezüge zur See, Raub-, Reise- und Entdeckerlust, eine geographische Flexibilität (durchaus im Gegensatz zur Erdverwachsenheit und Heimatverbundenheit im modernen Germanenmythos) besonders im maritimen Element. Die höfische Kultur und die für sie zentrale Figur des Ritters, die seit dem späten 12. Jahrhundert weite Teile der altfranzösischen und mittelhochdeutschen Literatur prägen, wird seit Mitte der 1220er Jahre unter der Herrschaft Hákons IV. zunächst in die altnorwegische Dichtung importiert: Es entstehen frei übersetzende Prosabearbeitungen des Tristan von Thomas d’Angleterre und der Artusromane Chrestiens de Troyes. Diese sog. übersetzten Rittersagas (riddarasǫgur) gelangen später nach Island und werden zu einer wesentlichen Quelle einer weiteren, wiederum spezifisch 10 Vincent Samson: Die Berserker. Die Tierkrieger des Nordens von der Vendel- bis zur Wikingerzeit, Berlin u. Boston 2020, S. 307. 11 Ebd., S. 308. 

Matthias Teichert

isländischen Gattung, der originalen riddarasǫgur, auch – und inhaltlich treffender – als Märchensagas bezeichnet. Für beide Typen von Rittersagas gilt indes, dass wegen des weitgehenden Fehlens einer realweltlichen höfischen Kultur im Norden das komplexe höfisch-ritterliche Zeichensystem nur sehr oberflächlich, vor allem auf Äußerlichkeiten heruntergebrochen, rezipiert wird. Es dominieren zerrbildartige Schilderungen von höfischer Pracht und Luxus, von schönen Prinzessinnen und wagemutigen Haudegen ; erkennbar ist ein starkes Interesse an ritterlichen Künsten und Statussymbolen wie Jagd, Falknerei und Schachspiel.

Grenzverhandlung zwischen Held und Tier: Sigurd in der Lieder-Edda

Die Heldenlieder der sog. Lieder-Edda, entstanden wohl zwischen dem 10. und frühen 13. Jahrhundert und im etwa 1270 verfassten Codex Regius versammelt, erzählen zum größten Teil eine fortlaufende epische Handlung, die eine nordgermanische Fassung der Völsungen- und Nibelungensage bietet. Stofflich geht sie aber über das mittelhochdeutsche Nibelungenlied hinaus, speziell was die dort nur schemenhaft angedeutete Vorgeschichte Sigurds12 und seiner Vorfahren betrifft. Ich beschränke mich hier auf die drei inhaltlich eng zusammenhängenden sog. JungSigurd-Lieder Reginsmál (Das Reginnlied), Fáfnismál (Das Fafnirlied) und Sigrdrífumál (Das Sigrdrifa-Lied). Die Reginsmál berichten vom Aufwachsen Sigurds beim dänischen König Hjálprekr, zu dem sich seine Mutter Hjǫrdís nach dem gewaltsamen Tod ihres Gemahls Sigmund begeben hat. Sigurd lebt also als Exilant am Hof eines fremden Königs, sein sozialer Status wird nicht ganz klar: Einerseits ist von sorgfältiger Erziehung die Rede, wie sie seiner königlichen Herkunft entsprechen würde, andererseits ist seine zentrale männliche Bezugsperson ein zwergengestaltiger Schmied namens Reginn. Deut12 Der nordische Sigurd ist sagengeschichtlich mit dem Siegfried des Nibelungenliedes identisch. – Im Folgenden werden die zentralen altnordischen Figurennamen mit ihren etablierten deutschen Namensformen bezeichnet: Sigurd (anord. Sigurðr), Sigmund (Sigmundr) und Sinfjötli (Sinfjǫtli); damit wird angezeigt, dass die literarischen Figuren auch textübergreifende Sagenfiguren sind (vgl. Matthias Teichert: Von der Heldensage zum Heroenmythos. Vergleichende Studien zur Mythisierung der nordischen Nibelungensage im 13. und 19./20. Jahrhundert, Heidelberg 2008, S. 15). Die isländischen Heldenfiguren außerhalb der klassischen Heldensage werden mit dem Nominativ ihrer altisländischen Namensform bezeichnet, an die ggf. eine deutsche Flexionsendung angehängt wird, auch wenn dadurch sprachlich falsche Namensformen entstehen (Egills statt Egils, Fáfnirs statt Fáfnis). 

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lich sind hier Elemente zweier ursprünglich verschiedener Versionen von Sigurds frühen Jahren erkennbar: einerseits die aristokratische Jugend als Königssohn, die auch das Nibelungenlied schildert, andererseits die Vorstellung von Sigurds Jugend als Schmiedelehrling in einer Wildnis, wie sie im Lied vom Hürnen Seyfried vorzufinden ist. Reginn erzählt Sigurd die mythische Vorgeschichte des Nibelungenhortes und stachelt ihn dazu auf, den Drachen Fáfnir (Reginns Bruder, der sich nach Vatermord und Hortraub in ein Riesenreptil verwandelt hat) zu erschlagen. Um Sigurd entsprechend auszurüsten, schmiedet Reginn aus den Bruchstücken von Sigmunds Schwert eine neue Waffe, die Sigurd zweier ultimativer Proben unterzieht: Er zerschlägt den Amboss in Reginns Schmiede und zerschneidet eine im Fluss treibende Wollflocke, damit erst die Stärke, dann die Schärfe der Klinge testend. Zudem erwählt sich Sigurd aus dem Gestüt Hjálprekrs den Hengst Grani. So ausgerüstet, wendet er sich seiner ersten heroischen Großtat zu, der Vaterrache. Auf dem Seeweg begibt er sich zu seinen Feinden, den Hundingssöhnen, die für den Tod seines Vaters verantwortlich sind ; das Schiff, das ihm Hjálprekr zur Verfügung gestellt hat, gerät in ein schweres Unwetter, das sich erst auf Geheiß eines geheimnisvollen Greises – Odins – legt ; dieser schärft Sigurd zugleich wichtiges Wissen ein, darunter die Kenntnis der keilförmigen Anordnung des Heeres in der Schlacht. Die Episode zeigt Sigurd als Seefahrer, die Beschreibung des Schiffes scheint, soweit die vagen Informationen diesen Schluss zulassen, einem wikingerzeitlichen Schifftypus zu entsprechen ; Sigurd erscheint hier also temporär in der Rolle eines wikingischen Seekriegers. Am Zielort angelangt, besiegt er das feindliche Heer in der Schlacht und tötet die Mörder seines Vaters mit dem sehr grausamen Hinrichtungsritual des ›Blutaar‹;13 hier zeigt sich deutlich die »Grausamkeit der Heldensage« (Walter Haug), und der übermenschliche Held nimmt Züge eines Unmenschen an. Die Reginsmál schildern in geraffter Form mehrere Stationen der frühen Sigurdbiographie, die zugleich Voraussetzungen seiner späteren Großtaten sind: eine ungewöhnliche Kindheit (Waise, Exilant), eine teils mythische Ausbildung (Zwerg), der Erwerb eines exorbitanten Schwertes und Reittiers, eine Kraftprobe, eine Wikingfahrt samt weiterer Wissensvermittlung durch eine mythische Figur, schließlich die Vaterrache als erste Heldentat, mit der zugleich die Ehre des Geschlechts wiederhergestellt ist. Die unmittelbar anschließenden Fáfnismál konzentrieren sich auf die Drachentötung und die unmittelbaren Folgen, die Sigurds Heldenbio13 Vgl. Alfred Ebenbauer: [Art.] Blutaar, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 3 (1978), S. 80 f. 

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graphie schließlich in die entscheidenden Bahnen lenken. Die Drachentötung – wohlgemerkt Drachentötung, nicht -kampf, denn Sigurd führt den tödlichen Schwertstich aus einer Grube heraus unsichtbar für den Drachen in dessen Unterseite aus – wird dabei recht schmucklos in der Einleitungsprosa des Liedes berichtet ; auch die weiteren handlungstreibenden Kernereignisse dieses Liedes werden in Prosaeinschüben geschildert, während die Versstrophen eher dialogischen, teilweise retardierenden Charakter haben. So wird ein Gespräch zwischen dem sterbenden Fáfnir und Sigurd wiedergegeben, in dem Fáfnir seinem Töter mythologisches Wissen und Lebensratschläge vermittelt, einschließlich einer Warnung vor den destruktiven Kräften des Nibelungenhortes, was Sigurd allerdings in den Wind schlägt. Interessant und in der Forschung vieldiskutiert ist vor allem die Replik Sigurds auf Fáfnirs Frage nach seiner Herkunft: ›Gǫfugt dýr ek heiti en ek gengit hefk inn móðurlausi mǫgr ; fǫður ek ákka em fira sýnir [æ] gegn ek ein saman.‹ ›Edles Tier heiße ich, aber ich bin herumgezogen als der mutterlose Sohn ; einen Vater habe ich nicht wie die Söhne der Lebenden [immer] gehe ich allein.‹14 Sigurd betont also seine Stellung als Außenseiter und isolierter Einzelkämpfer ohne familiäres oder soziales Netzwerk ; die Exorbitanz des Helden besteht nicht selten unter anderem in seiner Isoliert- und Fremdheit. Dass Sigurd, ähnlich wie der mit theriophorem Namen ausgestattete Beowulf (›Bienenwolf‹ = Bär),15 nicht nur aufgrund seines sozialen Status, sondern sehr grundsätzlich als Held unter normalen Menschen fremd ist, scheint auch die intensiv diskutierte Selbstbeschreibung »Gǫfugt dýr heiti ec« anzudeuten. Das Neutrum dýr bezeichnet im Altnordischen nicht das ›Tier‹ an sich, sondern vierbeinige Tiere sowie insbesondere den Hirschen und anderes Rotwild. Der Begriff dýr in Verbindung mit dem seltenen Adjektiv gǫfuct ›edel‹ hat Teile der Forschung annehmen lassen, 14 Zitat und Übersetzung hier und im Folgenden nach: Klaus von See u. a.: Kommentar zu den Liedern der Edda, Band 5: Frá dauða Sinfjǫtla, Gríspisspá, Reginsmál, Fáfnismál, Sigrdrífumál, Heidelberg 2006, S. 401. 15 Vgl. dazu in diesem Buch Bauer, S. 122. 

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dass hier auf eine mit der Sigurd-Figur verbundene Hirsch-(oder Eber-) Symbolik Bezug genommen werde,16 so dass die Stelle die für (germanische) Helden typische Motivik des Tiermenschentums belegen würde. Fáfnir bemerkt an seinem Gegner auch ein mit der dýr-Bezeichnung korrespondierendes Merkmal: Er bezeichnet ihn als »›[i]nn fráneygi sveinn‹« ›Bursche mit blitzenden Augen‹,17 die ihn als tierhaften, gewaltigen Helden ausweisen (s. u.). Nach dem Dialog zwischen Sigurd und Fáfnir und dem Tod des Lindwurms überschlagen sich die Ereignisse, die wieder vor allem durch Prosaeinschübe mitgeteilt werden: Reginn, der sich bei der Konfrontation Sigurds mit dem Ungeheuer ängstlich zurückgezogen hatte, tritt an seinen Mentee heran, beglückwünscht ihn zu seiner Tat und weist ihn an, das Herz Fáfnirs zu braten, damit er, Reginn, es verspeisen kann. Bei der Zubereitung gerät Fáfnirs Blut an Sigurds Lippen, was ihn die Vogelsprache verstehen lässt – eine weitere Realisierung der Tiermenschen-Thematik. So hört Sigurd, wie ein paar Meisen ihm empfehlen, Reginn zu töten, da dieser ihn umbringen wolle, um in den alleinigen Besitz des Hortes zu gelangen. Sigurd schlägt Reginn unverzüglich den Kopf ab, worin sich wiederum die Brutalität der Heldensage zeigt, denn der physisch überlegene Sigurd hätte seinen Ziehvater mit durchaus milderen Mitteln in die Schranken weisen können. Dann verspeist Sigurd das Drachenherz und trinkt sowohl Fáfnirs als auch Reginns Blut. Schließlich begibt er sich in Fáfnirs Höhle und nimmt den Hort sowie den Schreckenshelm in Besitz, der alle Personen in der Umgebung des Trägers in Schrecken versetzt.18 Durch das Verspeisen von Drachenblut und -herz und die Aneignung von Hort und Schreckenshelm hat Sigurd selbst Teile der Identität des bezwungenen Ungeheuers angenommen.19 Im handlungsarmen Lied Sigrdrífumál erhält Sigurd von der von Odin in einen Zauberschlaf versetzten und von ihm aufgeweckten Walküre Sigrdrífa Unterweisungen in der Runenkunde und Verhaltenslehre und erreicht damit zwei Positionen in seiner Heldenbiographie: Erstens und vorrangig erwirbt er sich eine Braut, und zwar in typischer Weise im direkten Anschluss an und als Belohnung für die Ungeheuertötung ; zweitens wird Sigurd bereits zum dritten Mal von einer mythischen Gestalt 16 Vgl. ebd., S. 402 und die dort aufgeführte Literatur. 17 Ebd., S. 407. 18 Zum Schreckenshelm vgl. ebd., S. 442–444 sowie Matthias Teichert: Schreckenshelm, in: Germanische Altertumskunde Online. Kulturgeschichte bis ins Frühmittelalter ‒ Archäologie, Geschichte, Philologie, 2010 (https://www.degruyter.com/ database / GAO/entry / GAO_20/html). 19 Hierzu ausführlicher Teichert (Anm. 7). 

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mit wichtigem Wissen ausgestattet, so dass sein Heldentum neben übermenschlichen Kraftproben auch übermenschliche Weisheit einschließt. Die Unterweisungen durch Sigrdrífa bilden den »Abschluß und Höhepunkt der Erziehung Sigurds zu einem Helden, der sich durch fortitudo und sapientia auszeichnet«.20 Mitten in diesen Lehren bricht das Lied wegen eines insgesamt 16-seitigen Blattverlusts des Codex Regius ab ; mit den Beratungen zwischen Gunnarr und Hǫgni (Gunther und Hagen des Nibelungenliedes) über Sigurds Ermordung (Brot auf Sigurðarkviðo, Fragment eines Sigurdliedes) setzt die Überlieferung wieder ein.

Genealogie der Gewalt: Die Helden der šŞĮžƣĻď±Ɛž±ď±

Die um 1260 im Umkreis des norwegischen Königshofes zu Bergen entstandene, vermutlich von einem literarisch gebildeten Isländer verfasste Vǫlsunga saga gehört zu den sog. Vorzeitsagas (fornaldarsǫgur). Der Terminus Vorzeit bezieht sich dabei auf die Epoche vor der Landnahme Islands, die von der altisländischen Historiographie auf das Jahr 874 datiert wird. Innerhalb des Corpus der Vorzeitsagas wiederum rechnet die Vǫlsunga saga zu einer kleinen Gruppe von kaum mehr als einem halben Dutzend Texten, die in der Forschung meist als Heldensagas zusammengefasst werden, da sie ihre Stoffe und Figuren aus dem Arsenal der germanischen Heldensage und Heldendichtung beziehen. Die Völsungen (anord. Nom. Pl. Vǫlsungar, Gen. Pl. Vǫlsunga, daher Vǫlsunga saga, Saga von den Völsungar/Völsungen) sind der Sippenverbund, in deren Zentrum die Helden Sigurd, Sigmund und Sinfjötli stehen.21 Die Vǫlsunga saga erzählt etwa ab Kap. 9 den gleichen Handlungsrahmen, der auch den eddischen Heldenliedern zugrunde liegt, teilweise in wörtlicher Übereinstimmung oder starker Ähnlichkeit mit den Liedern, aus denen zahlreiche Strophen auch direkt zitiert werden. Die Saga ist also in weiten Teilen eine novelization des mit dem Sigurd- und Nibelungenstoff befassten eddischen Heldenliederzyklus. Sie bietet zudem die stofflich umfassendste literarische Fassung der Nibelungensage überhaupt. Dies gilt insbesondere für die ersten acht Kapitel der Saga, die, auch wenn mit teilweise wohl alter Stoffsubstanz, weder in den eddischen Liedern noch in der mittelhochdeutschen 20 Edgar Haimerl: Verständnisperspektiven der eddischen Heldenlieder im 13. Jahrhundert, Göppingen 1992, S. 124. 21 Vgl. zum Überblick Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin u. New York 2008. Aus der Forschungsliteratur sei Deichl (Anm. 9) hervorgehoben, der für die Vǫlsunga saga in den nächsten Jahrzehnten maßgeblich bleiben dürfte. 

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Tradition ein unmittelbares Gegenstück haben. Ihr Inhalt, der für die Nibelungen-Rezeption des 19. Jahrhunderts eminent wichtig war, sei deswegen hier zusammengefasst. Sigi, von dem es heißt, er sei ein Sohn Odins gewesen, begeht während einer Jagdpartie einen Mord, muss daher sein Stammland verlassen und wird schließlich von seinen Verwandten verraten und getötet. Sigis Nachfahren werden herausragende Krieger und Helden: sein Sohn Rerir, dann dessen Sohn Vǫlsungr – der heros epoymos des Geschlechts – und dessen Sohn Sigmund. Dessen Zwillingsschwester Signý wird gegen ihren Willen mit dem finsteren König Siggeirr von Gautland vermählt. Auf der Hochzeitsfeier erscheint ein geheimnisvoller Mann ‒ Odin ‒, rammt ein Schwert in einen Baum und verkündet dem, der es herauszuziehen vermag, große Macht und Reichtümer (Excalibur-Motiv). Sigmund, der die Aufgabe bewältigt, weigert sich, das Schwert seinem Schwager zu überlassen, so dass dieser auf Rache sinnt. Siggeirr lädt die Völsungen zu sich ein und lockt sie in einen Hinterhalt. Vǫlsungr wird getötet, seine zehn Söhne werden gefangengenommen: Siggeirr lässt sie im Wald an einen Baum binden, und eine Werwölfin verschlingt Sigmunds neun Brüder. Dieser kann aber mit Unterstützung seiner Schwester die Bestie töten und sich befreien. Seitdem in der Wildnis verborgen lebend, zeugt Sigmund mit Signý Sinfjötli, der Jahre später mit seinem Vater die Ermordung Vǫlsungs und der neun Onkel an Siggeirr rächt. Später wird Sinfjötli von Sigmunds Ehefrau Borghildr vergiftet, deren Verwandte er erschlagen hatte. Sigmund verstößt Borghildr und heiratet Hjǫrdís, die von ihm Sigurd empfängt. Noch bevor dieser geboren wird, fällt Sigmund in der Schlacht gegen die Söhne des Hundingr ; Hjǫrdís zieht an den Hof des Dänenkönigs Hjálprekr, wo Sigurd geboren wird. Die Haupthelden entstammen also aus einer genealogischen Linie, in der sich eine charakteristische Art von Heldentum fortpflanzt: Zentrale Themen sind eine verhängnisvolle Hybris der Helden, verbunden mit Gewaltausbrüchen und anti- oder asozialen Verhaltensmustern ; die Exorbitanz der Helden äußert sich nicht nur in überragender Kampfleistung, sondern auch in einer immer wieder mörderischen Soziopathie. Am Anfang steht Sigis Ächtung und Flucht. Er ist zutiefst in seiner Ehre verletzt, als während einer harmlosen Jagdpartie ein Knecht eine größere Beute macht als er selbst ; unfähig, seinen Zorn zu bändigen, tötet er den Knecht und versucht, den Leichnam unter einer Schneewehe zu verbergen. Seine unüberlegte, wie im berserkerhaften Rausch begangene Bluttat wird jedoch bekannt, und Sigi wird aus seinem Sozialverband ausgestoßen. Doch Odin verschafft ihm ein Schiff, und Sigi, der Vorzeitheld, reüssiert in anachronistscher Manier als Wikinger. 

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Die zentralen Figuren des nächsten Teils der Saga sind Sigmund und sein mit seiner Zwillingsschwester Signý inzestuös gezeugter Sohn Sinfjötli. Während Sigmund neben seinem späteren Sohn Sigurd derjenige Held mit der elaboriertesten Biographie in der Saga ist und die ganze Bandbreite eines typischen vorzeitlichen Heldentums wie auch die speziell völsungischen (auto-)destruktiven Eigenschaften repräsentiert, gerät Sinfjötli in der Saga zu einer bis ins Groteske überzeichneten Gestalt, deren monströses Heldentum wie keine zweite Figur der germanischen Heldensagenüberlieferung die Fragen nach dem Nexus von Exorbitanz, Soziopathie und Amoralität aufwirft. Sigmund ist der älteste Sohn des Königs Vǫlsungr; von seinen zehn Geschwistern wird lediglich seine Zwillingschwester individuell vorgestellt: Þau áttu tíu sonu ok eina dóttur. Inn elzti sonr þeira hét Sigmundr, en Signý dóttir. Þau váru tvíburar. Ok váru þau fremst ok vænst um alla hluti barna Vǫlsungs konungs. Ok váru þó allir miklir fyrir sér, sem lengi hefir uppi verit haft ok at ágætum gert verit, hversu Vǫlsungar hafa verit ofrkappsmenn miklir ok hafa verit fyrir flestum mǫnnum, sem getit er í fornsðgum, bæði um fróðleik ok íþróttir ok allsháttar kappgirni.22 Sie zeugten der Söhne zehn und eine Tochter, Sigmund hieß ihr ältester Sohn, Signy hieß die Tochter ; sie waren Zwillinge und waren in allen Dingen die vortrefflichsten und schönsten von den Kindern König Völsungs, und doch waren alle gewaltige Helden, wie es lange im Gedächtnis festgehalten und laut gepriesen wird, welch’ überaus kampflustige Männer die Völsunge gewesen sind, und wie sie die meisten Männer übertroffen haben, deren gedacht wird in alten Geschichten, sowohl an Weisheit als an Fertigkeiten an eifrigem Streben aller Art.23 Die Schilderung der Vortrefflichkeit der Völsungen sowie Sigmunds und Signýs im Speziellen geht über das Standardprogramm der Vorzeitsagas insofern voraus, als neben physischen Eigenschaften auch Weisheit (sapientia, anord. fróðleikr) erwähnt wird, die bereits in der Sigurdbiographie der eddischen Lieder akzentuiert wurde. Auffällig für die sonst eher grobschlächtig gezeichneten Helden der Vorzeit ist die äußerliche Schönheit, die zwar für Signý als weibliche Figur und Königstochter erwartbar ist, hier jedoch auf ihren Zwillingsbruder ausgedehnt wird. Äußere Wohlgestalt 22 Hier und im Folgenden zitiert nach: Vǫlsunga saga. Ragnars saga loðbrókar. I. Vǫlsunga saga, mit einem Nachwort hg. v. Uwe Ebel, Metelen / Steinfurt 1997, S. 12. 23 Übersetzung hier und im Folgenden nach: Die Geschichte von den Völsungen, in: Isländische Heldenromane, übertragen v. Paul Herrmann, Jena 1923, S. 42. 

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bis zur explizit so bezeichneten Schönheit von Männern ist für das Ritterideal der höfischen Dichtung kennzeichnend, von deren Seite hier ein Einfluss vorliegen mag. Den Nachweis seines außerordentlichen Heldentums tritt Sigmund in der Excalibur-Episode an, in der er als Einziger das Schwert aus dem Baumstamm zu ziehen vermag. Nach dem Tod seines Vaters und der Gefangennahme Sigmunds und seiner neun Brüder folgt die nächste Etappe in seiner Heldenvita. Die zehn Männer werden im Wald angebunden, neun Nächte lang erscheint gegen Mitternacht eine Wölfin und tötet jede Nacht einen von ihnen. Nun erst greift Signý ein und unterstützt ihren Bruder heimlich so weit, dass er in der zehnten Nacht das Ungeheuer töten und die Fesselung durchbrechen kann. Sigmund besteht hier einen für Helden typischen Ungeheuerkampf.24 Um anschließend die Rache an Siggeirr für die Tötung Vǫlsungrs und der Brüder voranzutreiben, schickt Signý ihre beiden Söhne, die sie von Siggeirr hat, zu Sigmund, der sie aber für zu schwächlich hält und auf den Rat seiner Schwester kurzerhand tötet. Als ultima ratio zeugt Signý in Gestalt einer Zauberin mit ihrem Zwillingsbruder den Sohn Sinfjötli, der – sowohl von väterlicher als auch von mütterlicher Seite ein reiner Völsung – zusammen mit seinem Vater Agens der Rache werden soll. Denkwürdig ist die Tapferkeitsprobe, der Signý ihren Inzestsohn im Alter von zehn Jahren aussetzt, nachdem ihre älteren Söhne daran gescheitert waren: Hon hafði þá raun gert við ina fyrri sonu sína, […] at hon saumaði at hǫndum þeim með holdi ok skinni. Þeir þolðu illa ok kriktu um. Ok svá gerði hon Sinfjǫtla. Hann brásk ekki við. Hon fló hann þá af kyrtlinum, svá at skinnit fylgði ermunum. Hon kvað honum mundu sárt við vera. Hann segir: ›Lítit mundi slíkt sárt þykkja Vǫlsungi.‹ (Vǫlsunga saga, S. 20 f.) Sie hatte mit ihren früheren Söhnen, ehe sie die zu Sigmund schickte, die Probe gemacht, daß sie ihnen den Rock an die Arme zugleich mit Haut und Fleisch nähte – sie konnten das nicht aushalten und schrien darüber. Ebenso verfuhr sie mit Sinfjötli, er sträubte sich nicht dagegen. Sie zog ihm den Wams aus, so daß die Haut mit den Ärmeln 24 Im altenglischen Beowulf wird von Sigmund als Drachenkämpfer erzählt (s. in diesem Buch Bauer, S. 124, Anm. 35); möglicherweise ist dies die ältere Sagenversion, und die Drachentötung wurde später auf seinen Sohn Sigurd übertragen. Auffallend in der Fassung der Vǫlsunga saga ist jedoch, dass Sigmund hier erst eine Werwölfin besiegt, um sich später selbst in einen Werwolf zu verwandeln ; vgl. Teichert (Anm. 7). 

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mitgerissen wurde, und meinte, er empfände wohl Schmerz dabei. Er aber entgegnete: ›Solches erscheint einem Völsung wenig schmerzlich.‹ (Geschichte von den Völsungen, S. 50) Die Unempfindlichkeit gegenüber physischen Schmerzen rückt den Knaben Sinfjötli in die Nähe des Berserker-Typus. Doch seine Robustheit geht noch über die der Berserker hinaus, denn während diese schmerzunempfindlich sind, liegt nach Florian Deichls einleuchtender Lesart in der Sinfjötli-Episode der Akzent gerade darauf, dass Sinfjötli zwar Schmerz empfindet, sich aber nichts aus ihm macht.25 Dies scheint tatsächlich der Sinn seiner lakonischen Replik zu sein, die noch aus einem anderen Grund auffällig ist: »Sinfjötli ist sich ohne vorherige Klärung seiner Identität durch die Mutter seiner eigenen Völsungennatur bewusst.«26 Signý schickt Sinfjötli zu Sigmund in den Wald, wo der Junge alsbald einen zweiten Helden-Test besteht, der sich weniger auf physische Härte als auf Furchtlosigkeit und Entschlusskraft bezieht: Bei der Aufgabe, Brot zu backen, findet Sinfjötli im Teig eine Giftschlange vor, die er kurzerhand in den Brotlaib hineinknetet. Diese Episode ist eine ins Bizarre gewendete, kindgemäße Form des Ungeheuerkampfes (vgl. Herakles in der Wiege und die Schlangen der Hera). Aufschlussreich ist die vom Erzähler nachgelieferte Erklärung für Sigmunds Aussage, Sinfjötli solle nicht von dem Brot essen: Sigmundr var svá mikill fyrir sér, at hann mátti eta eitr, svá at hann skaðaði ekki. En Sinfjǫtla hlýddi þat, at eitr kœmi útan á hann, en eigi hlýddi honum at eta þat né drekka. (Vǫlsunga saga, S. 21) Sigmund war so stark, daß er Gift essen konnte, ohne daß es ihm im geringsten schadete ; Sinfjötli aber vermochte es nur, daß das Gift ihm von außen kam, doch nicht vermochte er es zu essen oder zu trinken. (Geschichte von den Völsungen, S. 51) Die berserkerartige Unverletzlichkeit durch Waffen oder Gift ist für Sigmund voll realisiert, für Sinfjötli aber nur partiell. 25 Vgl. Deichl (Anm. 9), S. 206: »Wahrscheinlicher ist, dass an dieser Stelle ein Heldenideal elaboriert werden soll, als dass eine Berserkereigenschaft verarbeitet wurde.« Zudem verweist er darauf, dass Sigurd später sich am kochenden Drachenblut verletzt und sich zur Linderung oder Kühlung den verbrannten Finger in den Mund steckt: »Sigurd reagiert also im Gegensatz zu seinem Halbbruder sehr wohl auf Schmerz« (ebd.). 26 Ebd., S. 25. 

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Zu den schillerndsten Passagen der Vǫlsunga saga zählt die Erzählung von der Werwolfexistenz Sigmunds und Sinfjölis, eine der »dunkelsten und enigmatischsten«27 der Saga insgesamt.28 Für die Exorbitanz der beiden Helden relevant sind vor allem die temporäre Tiergestalt, die das Register des Berserkertums aufrufen, der geschilderte regelrechte Blut- und Mordrausch sowie die typisch völsungische Neigung zu eruptiven Gewalttaten, für die sich sowohl Sinfjötli als auch Sigmund als anfällig erweisen. Die Werwolfexistenz übersetzt dabei ihre wölfische Gesinnung in äußere Gestalt.29 Dies gilt zunächst für Sinfjötli, der die Wolfsymbolik bereits in seinem sprechenden Namen trägt.30 Sinfjötli ist es schließlich, der die Rache an Siggeirr hauptsächlich ausführt. Die Exorbitanz der Figur zeigt sich hier in ihrem »Killerinstinkt«, sie ist »für eine Welt ohne Rache nicht gemacht«. Folgerichtig scheidet Sinfjötli bereits kurz nach der erfolgreichen Rachetat aus der Saga aus, sein nur auf Töten und Rächen ausgerichteter »Existenzzweck« ist hinfällig geworden: »Es wird in ihm das Bild eines heroisch determinierten Maschinenmenschen gezeichnet.«31 In der Vǫlsunga saga werden aber auch einzelne schon aus den EddaLiedern bekannte Heldenfiguren neu akzentuiert. Das gilt vor allem für die Sigurd-Figur. Anders als in der Edda, wo er erst als Jüngling auftritt, wird in der Saga von der Geburt Sigurds berichtet: Þat er nú sagt, at Hjǫrdís fœðir sveinbarn. Ok er sveinninn fœrðr Hjálpreki konungi. Konungrinn varð glaðr við, er hann sá þau in hvðssu augu, er hann bar í hǫfði. Ok sagði hann engum mundu líkan verða eða samjafnan. Ok var hann vatni ausinn með Sigurðar nafni. (Vǫlsunga saga, S. 36) Es wird weiter erzählt, daß Hjördis einen Knaben gebar, und der Knabe ward dem König Hjalprek gebracht. Der König freute sich, als er die scharfen Augen sah, die er im Kopfe hatte, und sagte, keinem 27 Ebd., S. 196. 28 Vgl. hierzu ausführlich: Matthias Teichert: »Þeir Sigmundr fóru í hamina«. Die Werwolferzählung im 8. Kapitel der Völsunga saga, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 138 (2009), S. 281–295. 29 Vgl. Teichert (Anm. 7), S. 155, u. Deichl (Anm. 9), S. 206. 30 »Sinfjötli, althochdeutsch Sintarfizzilo, bedeutet nichts anderes als Wolf.« Der Name meint ›der Sinterfüßige, der mit sinterfarbigen, d. h. gelblichen, Läufen / Fesseln‹, »was in Form eines Tarnnamens den Wolf umschreibt« (ebd., S. 203). 31 Alle Zitate: ebd., S. 196. 

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würde er ähnlich oder gleich werden. Er ward mit dem Namen Sigurd mit Wasser begossen. (Geschichte von den Völsungen, S. 66 f.) Augenfällig ist die Erwähnung der scharf blickenden Augen, die Sigurd von seiner Geburt an als Helden markieren.32 Das Motiv scheint den Verfasser der Vǫlsunga saga fasziniert zu haben, denn er überträgt es am Ende auch auf Sigurds Tochter Svanhild. Die scharfen Augen werden zu einem generationenübergreifenden Merkmal der Völsungen als Ausweis ihrer heroischen Exorbitanz erhoben und unterstreichen somit die Vorstellung, dass exzeptionelles Heldentum physisch nicht nur in reiner Körperkraft Ausdruck findet. In eine andere Richtung verweist die Vorstellung des Erziehungsprogramms, das Sigurd unter Anleitung Reginns zu durchlaufen hat: Reginn hét fóstri Sigurðar ok var Hreiðmars sonr. Hann kenndi honum íþróttir, tafl ok rúnar ok tungur margar at mæla, sem þá var títt konungasonum, ok marga hluti aðra. (Vǫlsunga saga, S. 36 f.) Regin hieß Sigurds Pflegevater, er war Hreidmars Sohn ; er lehrte ihn Fertigkeiten, Brettspiel und Runen und in mancherlei Sprache zu reden, wie es damals geziemend war für Königssöhne, und mancherlei andere Dinge. (Geschichte von den Völsungen, S. 67) Wie ein junger Adliger im höfischen Roman wird Sigurd in den ritterlichen Künsten unterwiesen ; am auffälligsten sind dabei sicherlich die Erwähnungen von Brettspiel und Fremdsprachen.33 Bei ersterem dürfte es sich hier um das Schachspiel handeln, dass in seiner höfisiert-europäischen Form für das westliche Skandinavien des 13. Jahrhundert durch die (wahrscheinlich in Trondheim gefertigten) Schachfiguren von Lewis belegt ist.34 Die explizite Erwähnung von ritterlichen Künsten wie Schachspiel und Fremdsprachen ist eine Neuerung der Vǫlsunga saga; in der einleitenden Prosa zu den Reginsmál heißt es lediglich: »Reginn veitti Sigurði fóstri ok kenzlo ok elskaði hann miǫk« ›Reginn übernahm Sigurds Erziehung und Unterweisung und liebte ihn sehr‹.35 32 Vgl. dazu von See u. a. (Anm. 14), S. 408–410. 33 Zu den höfischen Inhalten von Sigurds Erziehung vgl. auch Deichl (Anm. 9), S. 210–213. 34 Vgl. Matthias Teichert: Game Boards and Gaming Pieces in Old Norse-Icelandic Fiction, in: The Lewis Chessmen. New Perspectives, ed. by Mark A. Hall & David H. Caldwell, Edinburgh 2014, S. 307–320. 35 Von See u. a. (Anm. 14), S. 275. 

Altnordische Helden

Ganz im Zeichen einer Verritterung der Sigurd-Figur steht Kap. 25 der Saga, das Sigurds zweite Begegnung mit Brynhildr schildert. Nachdem er sie im Anschluss an seinen Drachenkampf als Walküre bereits in einem mythisch-heroischen Ambiente getroffen und sich mit ihr (vor-)verlobt hat, begegnet er ihr nunmehr ein zweites Mal in ihrem höfisch kodierten Zweitwohnsitz bei ihrem Ziehvater Heimir. Diese handlungslogisch nicht völlig überzeugende Aufspaltung der Brynhildr-Figur ist die Folge ihrer Gleichsetzung mit der Walküre Sigrdrífa, die wiederum inhaltlich erforderlich ist, denn »[n]ur so wird aus einer Nebenepisode ein wichtiger Teil von Sigurds Lebensweg«.36 Þá var heim komin til Heimis Brynhildr, fóstra hans. Hon sat í einni skemmu við meyjar sínar. Hon kunni meira hagleik en aðrar konur. Hon lagði sinn borða með gulli ok saumaði á þau stórmerki, er Sigurðr hafði gert: dráp ormsins ok upptðku fjársins ok dauða Regins. Ok einn dag er frá því sagt, at Sigurðr reið á skóg við hundum sínum ok haukum ok miklu fjǫlmenni. Ok er hann kom heim, fló hans haukr á hávan turn ok settisk við einn glugg. Sigurðr fór eptir haukinum. Þá sér hann eina fagra konu ok kennir, at þar Brynhildr. Honum þykkir um vert allt saman fegrð hennar ok þat, er hon gerir. (Vǫlsunga saga, S. 59) Da war auch heimgekommen zu Heimir Brynhild, seine Pflegetochter: Sie saß im Frauengemach mit ihren Mägden, sie hatte mehr Geschicklichkeit als andre Frauen. Sie überspann ihre Gewebe mit Gold und stickte darauf die Heldentaten, die Sigurd verrichtet hatte: den Tod des Wurmes, die Erwerbung des Hortes und den Tod Regins. Und eines Tages, so wird erzählt, ritt Sigurd in dem Wald mit seinen Hunden und Habichten (Falken) und vielem Gefolge, und als er heimkam, flog ein Habicht auf einen hohen Turm und setzte sich an ein Fenster. Sigurd stieg dem Habicht nach ; da sah er ein schönes Weib und erkannte, daß es Brynhild war, und ihn dünkte beides gleich wertvoll, ihre Schönheit und die Arbeit, an der sie stickte. (Geschichte von den Völsungen, S. 91) Am bemerkenswertesten ist vielleicht die Erwähnung der Falknerei, die spätestens mit dem berühmten Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. als höfischer Sport und Statussymbol adliger Lebensweise par excellence etabliert war. Das Setting mit der Kemenate im Turm, die Erwähnung von Kammerjungfern sowie der Goldstickerei als stereotype Beschäftigung 36 Die Heldenlieder der Älteren Edda, übersetzt, kommentiert u. hg. v. Arnulf Krause, Stuttgart 2001, S. 117. 

Matthias Teichert

adliger Mädchen und junger Frauen tragen neben der Rollenzuschreibung Sigurd als Falkner dazu bei, um die Szene mit einer stark (pseudo-) höfischen Atmosphäre zu unterlegen, so wie die gesamte zweite Hälfte der Saga ein höfisch ritterliches Gepräge aufweist. Die Vǫlsunga saga weist »två tydligt avgränsade delar – en mytologisk del och en hövisk del«,37 ›zwei deutlich abgegrenzte Teile – einen mythologischen Teil und einen höfischen Teil‹ auf.

Von der Heldensage zur Isländersaga

Neben dem soziopathischen, entgrenzt gewalttätigen und ethisch fragwürdig handelnden dunklen Helden des Völsungengeschlechts findet sich in den altnordischen Heldensagas jedoch auch ein hellerer Heldentypus, der maßvolles Handeln mit sittlicher Verantwortung und Vorbildhaftigkeit verbindet. Das eindrücklichste Beispiel dieses Heldenparadigmas ist Bǫðvarr Bjarki aus der Hrólfs saga kraka, die stoffgeschichtlich zum germanischen Sagenkreis gehört und Parallelen zum altenglischen Beowulf aufweist: Bǫðvarr Bjarki ist ein nordisches Pendant zu Beowulf, mit dem er sich auch die Bärensymbolik seines (Bei-)Namens teilt ‒ bjarki ist Diminutiv zu bjǫrn ›Bär‹, also ›Bärchen‹. Nach einem einleitenden Teil,38 der seine Herkunft und den tiermenschlichen Aspekt beleuchtet, kommt Bǫðvarr an den Hof Hrólfrs (wie Beowulf nach Heorot), wo er rasch höchstes Ansehen erlangt. Er lernt den ängstlichen Schwächling Hǫttr kennen, der von den übrigen Recken permanent gedemütigt wird, indem sie ihn mit abgenagten Knochen bewerfen. Wie im Beowulf wird die Königshalle in regelmäßiger Abfolge von einem riesigen Untier heimgesucht, hier von einem Flugdrachen. Bǫðvarr Bjarki erklärt sich zum Kampf mit dem Ungeheuer bereit, nimmt den furchtsamen Hǫttr kurzerhand mit und tötet das Monster. Hǫttr und sein Gefolge täuschen jedoch vor, Hǫttr sei der Bezwinger des Unholdes, indem sie den bereits toten Drachen wiederaufrichten und es am nächsten Morgen vor Zeugen so aussehen lassen, als bezwinge er das Wesen. Ob37 Agneta Ney: Genus och ideologi i Völsunga saga, in: Fornaldarsagornas struktur och ideologi. Handlingar från ett symposium i Uppsala 31.8.-2. 9. 2002, hg. v. Ármann Jakobsson u. a., Uppsala 2003, S. 113–122, hier 117 (Hervorhebungen im Original). 38 Die Geschichte von Hrolf Kraki, in: Isländische Heldenromane (Anm. 23). ‒ Zur Saga insgesamt sowie zur Figur des Bǫðvarr Bjarki vgl. Matthias Teichert: Die Metamorphosen des roten Goldes. Narratologie, Semantik und Semiotik von Gold (und Silber) in der Hrólfs saga kraka und anderen Texten der altwestnordischen Heldenepik, in: Gold in der europäischen Heldensage, hg. v. Heike Sahm u. a., Berlin u.Boston 2019, S. 275–299. 

Altnordische Helden

gleich König Hrólfr die Inszenierung durchschaut, bekommt der NeuHeld die gewünschte Anerkennung, erhält als Zeichen seines Heroentums das Schwert Gullinhjalti und wird nach dem Schwertnamen von Hǫttr in Hjalti umbenannt. In dieser Geschichte profiliert sich Bǫðvarr Bjarki als vorbildhafter Held, der neben Kraft und Intelligenz auch über Großmut verfügt und in die Rolle eines Mentors geschoben wird: Hrólfr lobt als Bǫðvarr Bjarkis größte Tat ausdrücklich, dass es ihm gelungen sei, aus dem Feigling Hǫttr einen Helden zu machen. Von der germanischen Heldensage mit stoffgeschichtlichen Wurzeln in der Völkerwanderungszeit und den sie literarisierenden Vorzeitsagas klar abgrenzbar und sich mit ihr doch berührend ist das literarische Genre der Isländersagas. Ähnlichkeiten und Bezüge der Isländersagas zur germanischen Heldensage sind bekannt.39 Ihre bestimmenden Themen sind Auswanderungen vornehmlich von Norwegen nach Island, die Landnahme und -verteilung auf Island, Familien- und Verwandtenkonflikte, Ächtungen und Thingszenen. Das soziale Milieu ist primär das des isländischen Freibauerntums ; es kommen aber auch Fahrten von Isländern an den norwegischen Königshof oder Besuche norwegischer Kaufleute vor. Auch die Unterschicht in Gestalt von Knechten und Mägden wird, wenngleich in stark stereotypisierter Zeichnung, gelegentlich einbezogen. Die größte Nähe zur klassischen Heldensage weist unzweifelhaft die Gísla saga Súrssonar auf.40 In ihr begegnet gleich zu Beginn das markante Motiv des exorbitanten Schwertes. Der Norweger Gísli, ein Verwandter und Namensvetter des späteren isländischen Titelhelden Gísli Súrsson, leiht sich von einem Knecht das Wunderschwert Grásiða, das seinem Träger in jedem Kampf den Sieg garantiert. Er benutzt es, um einen Zweikampf zu bestehen, will es dann aber entgegen der Verabredung nicht seinem eigentlichen Besitzer zurückgeben, worauf es zu einem Kampf kommt, in dessen Verlauf sich Gísli und der Knecht gegenseitig töten und das Schwert zerbricht. Später in der Handlung werden die Bruchstücke des Schwertes Grásiða zu einem Speer umgeschmiedet, was ein Analogon zur Neuschmiedung von Gramr für Sigurd in der Vǫlsunga saga darstellt. Die Egils saga Skallagrímssonar verdankt ihre Wirkung auch noch auf den heutigen Leser insbesondere der schillernden Gestaltung ihrer Titelfigur Egill Skallagrímsson, die zwar erst nach einem knappen Drittel der Saga auftritt, dann aber einen umso nachhaltigeren Eindruck hinterlässt. Egill ist kein Held im Sinn der klassischen Heldensage ; doch der Begriff 39 Vgl. Günter Zimmermann: Isländersaga und Heldensage. Untersuchungen zur Struktur der Gísla saga und Laxdœla saga, Wien 1982. 40 Die Saga von Gisli Sursson, aus dem Altisländischen übertragen u. erläutert v. Franz B. Seewald, Stuttgart 1976. 111

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der Exorbitanz passt zur Beschreibung von Egills Äußerem und seinem Psychogramm noch besser als zu den meisten anderen heroischen Figuren der altnordischen Überlieferung. Bereits Egills Großvater wird als Werwolf eingeführt; von ihm erbt Egill zwar nicht die Fähigkeit zur physischen Theriomorphose, wohl aber die berserkerhaft rauschartigen Gewaltausbrüche , und die Unzugänglichkeit, die sich bei Egill zu aggressiver Soziopathie steigern wird, ist ebenfalls bei seinem Großvater bereits vorhanden. Auch die Bärensymbolik ist Teil seiner Genealogie, denn seine Mutter trägt den sprechenden Namen Bera. Über Egills Jugend heißt es: En er hann óx upp, þá mátti brátt sjá á honum, at hann myndi verða mjǫk ljótr ok líkr feðr sínum, svartr á hár. En þá er hann var þrévetr, þá var hann mikill ok sterkr svá sem þeir sveinar aðrir, er váru sex vetra eða sjau. Hann var brátt málugr ok orðvíss. Heldr var hann illr viðreignar, er hann var í leikum með ǫðrum ungmennum. […] Bera kvað Egill vera víkingsefni ok kvað þat mundu fyrir liggja, þegar hann hefði aldr til, at honum væri fengin herskip. […] Þá er Egill var tólf vetra gamall, var hann svá mikill vexti, at fáir váru menn svá stórir ok at afli búnir, at Egill ynni þá eigi flesta menn í leikum.41 Als er heranwuchs, konnte man leicht beobachten, daß er sehr häßlich und gleich seinem Vater schwarzhaarig werden würde. Als er aber drei Jahre alt war, war er so groß und stark wie die anderen Knaben, die sechs oder sieben Jahre alt waren. Bald war er sehr redetüchtig und wortkundig. Auch war er sehr schwer zu behandeln, wenn er mit andern Knaben zusammen spielte. […] Bera sagte, Egil würde einmal ein Wiking werden, und meinte, wenn er in das Alter käme, werde man ihm ein Schiff zur Herfahrt geben müssen. […] Als Egil zwölf Jahre alt war, war er mächtig an Wuchs, daß nur wenige Männer so groß und von solcher Stärke waren, daß Egil nicht die meisten im Spiel überwinden konnte.42 Noch stärker als bei seinem Großvater und Vater sind bei Egill schon in seiner Kindheit ausgeprägte berserkerhafte (enorme Körperkraft, ein vom gängigen Schönheitsideal abweichendes Aussehen und ein zu Aggressionen neigendes Sozialverhalten) und wikingerartige (Entdecker-, Abenteuer-, Raublust) Motive versammelt. Hinzu kommt als eine Art Alleinstel41 Egils saga Skalla-Grímssonar, hg. v. Sigurður Nordal, Reykjavík 1933, S. 80 u. 100 f. 42 Egils Saga. Die Saga von Egil Skalla-Grimsson, hg. u. aus dem Altisländischen übersetzt v. Kurt Schier, Darmstadt 1996, S. 77 u. 92. 

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lungsmerkmal seine Beredsamkeit und Wortgewandtheit, die ihn zu einem hervorragenden Skalden werden lassen. Sowohl für sein dichterisches Genie als auch für seine Soziopathie gibt Egill sehr früh erste Beweise: Als er drei Jahre alt ist, will sein Vater ihn mit Verweis auf sein schwieriges Wesen nicht zu einem Verwandtenbesuch mitnehmen, worauf der Junge allein hinterherreitet und, bei den Verwandten angelangt, eine formvollendete Skaldenstrophe aufsagt, der er am nächsten Tag eine weitere folgen lässt ; als Sechsjähriger tötet er dann beim Ballspiel einen fünf Jahre älteren Jungen, der ihn provoziert hatte. Egills ganze Biographie ist geprägt von weiteren, oft tödlichen Gewaltausbrüchen, von seiner glänzenden Dichtkunst, die er jedoch häufig für Schmähverse einsetzt – was wiederum zu Kämpfen mit den Verspotteten führt – und von seiner außerordentlichen Trinkfestigkeit, die der Figur auch Züge des Burlesken verleihen. Wie für die Sigurd-Figur der Lieder-Edda ist auch für Egills Heldentum seine Meisterschaft in der Runenkunde und Runenmagie wichtig. Schon früh vermag er Unheil von sich abzuwenden, weil er erkennt, dass ein Trank, der ihm gereicht wird, vergiftet ist. Eine solche Situation hatte in der Vǫlsunga saga auch Sinfjötli zu bestehen: Auf Zureden seines berauschten Vaters trinkt Sinfjötli aus selbstzerstörerischem Heldenmut den Gifttrank und stirbt. Anders als der maßlose Vorzeitheld Sinfjötli entkommt Egill der Vergiftung, indem er mit seinem Messer Runen in das Trinkhorn ritzt und sein eigenes Blut darauf reibt, wodurch die toxische Wirkung neutralisiert ist. Später betätigt sich Egill als eine Mischung aus Runenmagier und Arzt, indem er ein erkranktes Mädchen dadurch heilt, dass er einen über sie verhängten, fehlerhaften Runenzauber durch eigene Runen aufhebt. Der exzentrische Soziopath Egill wechselt hier in die Rolle eines Heilers. Anders als Sigurd, der Runenweisheit und andere Lehren zwar empfängt, aber zu keinem Zeitpunkt einzusetzen vermag, wendet Egill seine sapientia zum Wohl eines anderen Menschen an. Egill ist auf der einen Seite und primär ein problematischer, anti-sozialer Held, der Grimmigkeit, Hässlichkeit und ein hitziges, gewalttätiges Temperament mit dichterischer Genialität und Eloquenz verbindet, auf der anderen Seite aber auch ein mitfühlender Helfer und Heiler und, beim Tod seines Sohnes, ein mit emotionaler Tiefe Trauernder. Insofern ist Egill unter allen altnordischen Helden der vielleicht radikalste Gegenentwurf zur eindimensionalen Killermaschine Sinfjölti ; das gegensätzliche Verhalten der beiden Figuren in der Gift-im-Trank-Szene ist symptomatisch. Noch stärker als in der Egils saga, in der die skaldische Dichtkunst nur ein, wenngleich sehr wichtiges, Thema unter anderen ist, stehen die Skaldik sowie vor allem die Persönlichkeit des Skalden im Mittelpunkt einer kleinen Untergruppe von Isländersagas, die in der Forschung üblicher https://doi.org/10.5771/9783835349452

Matthias Teichert

weise unter dem losen Gattungsbegriff Skaldensagas zusammengefasst werden. In ihnen geht es weniger um die zuverlässige Darstellung individueller Dichterviten als darum, ein klar umrissenes und stereotypes Bild des Heldentypus Skalde festzuschreiben. Dementsprechend ähneln sich nicht nur die Beschreibungen von Aussehen und Verhalten der Skalden bis zur Austauschbarkeit, auch die Handlungen der einzelnen Skaldensagas scheinen einem schablonenhaften Kompositionsmuster zu folgen: Vereinfacht gesagt, steht im Mittelpunkt aller Skaldensagas ein Dreiecksverhältnis zwischen einem brillanten, aber als Person schwierigen und exzentrischen Skalden, einem von ihm leidenschaftlich geliebten Mädchen und einem geistlosen, philisterhaften Rivalen. Der Skalde gewinnt zunächst die Zuneigung des Mädchens, verliert sie aber durch das Nichteinhalten einer bestimmten Frist, worauf das Mädchen den Gegner des Skalden heiratet. Von da an ranken sich die Sagas um die Verzweiflung und Eifersucht des Skalden, seine Versuche, die Geliebte zurückzugewinnen, und seine Angriffe mittels Schmähdichtungen auf den Kontrahenten. Diese Grundkonstellation erinnert vage an den Tristanstoff und das dortige Figurendreieck Tristan – Isolde – Marke. Deshalb sind Einflüsse der höfischen Epik und ein höfisch-ritterlicher Anstrich der Skaldenhelden möglich. Für die Kormáks saga, die hier stellvertretend für das Genre besprochen werden soll, ist bei Kormákrs Liebe zu Steingerðr zudem auf Anklänge des Konzepts der hohen Minne hingewiesen worden.43 Was den Titelhelden Kormákr, Sohn eines Wikingers, mit den anderen Skaldengestalten des Genres, aber bis zu einem gewissen Grad auch mit Egill Skallagrímsson verbindet, ist sein exotisches und nicht unbedingt vorteilhaftes Äußeres: Hann var svartr á hár og sveipr í hárinu, hǫrundljós ok nokkut líkr móður sinni, mikill ok sterkr, áhlaupamaðr í skapi.44 Er war dunkelhaarig, mit einer krausen Locke auf der Stirn, von lichter Hautfarbe und etwas seiner Mutter ähnlich, groß und stark, eine heißspornige Natur.45 Letzteres stellt er ebenso wie sein dichterisches Talent zur Schau, indem er bei einem Besuch auf dem Hof des Vaters von Steingerðr, in die sich 43 So in der Einleitung zu: Kormak der Liebesdichter, in: Vier Skaldengeschichten, übertragen v. Felix Niedner, Jena 1914. 44 Kormáks saga, in: Vatnsdœla saga, hg. v. Einar Ólafur Sveionson, Reykjavík 1939, S. 206. 45 Kormak (Anm. 43), S. 147. 

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kurz zuvor verliebt hat, den großspurigen Knecht Narfi körperlich züchtigt und ihn mit der Spottstrophe verhöhnt. Sein ungestümes Temperament ist auch der Grund, weshalb der weise Häuptling Skeggi Kormákr die Bitte abschlägt, ihm sein Schwert Skǫfnung auszuleihen, um damit im Kampf gegen seinen Rivalen Bersi und dessen Schwert Hvíting zu bestehen. Ein sehr ähnliches Bild des Skalden als Heldenfigur zeichnet die Gunnlaugs saga ormstunga, aus der hier lediglich die Beschreibung des dichtenden Titelhelden Gunlaugr wiedergeben sei: Svá er sagt frá Gunnlaugi, at hann var snemmendis bráðgerr, mikill ok sterkr, ljósjarpr á hár, ok fór allvel, svarteygr ok nǫkkut nefljótr ok skapfelligr í andliti, miðmjór ok herðimikill, kominn á sik manna bezt, hávaðamaðr mikill í ǫllu skaplyndi ok framgjarn snemmendis ok við allt óvæginn ok harðr ok skáld mikit ok heldr níðskár ok kallaðr Gunnlaugr ormstunga.46 Gunnlaug war, wie es heißt, früh entwickelt, groß und kräftig. Er hatte lichtbraunes Haar, und es wuchs stark. Er war schwarzäugig und hatte trotz seiner häßlichen Nase einnehmende Gesichtszüge. Schlank und doch breitschultrig war er, von trefflichstem Aussehen. Sein ganzes Wesen aber war hochfahrend, frühzeitig zeigte er Ehrgeiz und stets unbeugsame Sinnesart. Überdies war er ein großer Dichter, machte gern Spottweisen und ward daher Ormstunga, d. h. Schlangenzunge genannt.47 Insgesamt erscheint der Heldentyp Skalde als exorbitant in seinem ungewöhnlichen, oft explizit hässlichen Äußeren, seinem reizbaren, zu Gewalttaten auch bei geringem Anlass tendierenden Wesen und einer auffallenden Körpergröße und Kraft. Deutlich ist auch die Markierung des Skalden als soziopathischer Außenseiterfigur mit einer ausgeprägten Inselbegabung, die in seinem dichterischen Genius besteht. So sind die eigentlichen Heldentaten des literarischen Skalden nicht Ungeheuerkämpfe und sonstige physische Kraftproben oder Rachetaten, sondern das soft skill der Dichtkunst, die er wahlweise zum Fürstenpreis, zur Schmähung männlicher Rivalen oder zur Liebeswerbung (sog. mansǫngr) einsetzt.

46 Gunnlaugs saga ormstungu, in: Borgfirðinga sǫgur, hg. v. Sigurður Nordal & Guðni Jónsson, Reykjavík 1938, S. 59. 47 Die Geschichte von Gunnlaug Schlangenzunge, in: Vier Skaldengeschichten (Anm. 43), S. 31. 

Renate Bauer

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Der Beowulf 1 ist wohl der bekannteste altenglische Text und hat in Romanen, Jugendbüchern, Graphic Novels, Videospielen und Filmen v. a. im englischsprachigen Raum längst eine neue Identität angenommen. Dabei ist die Handlung in Skandinavien angesiedelt: Dort wird die Halle des dänischen Königs Hrothgar seit zwölf Jahren von der monsterähnlichen Gestalt Grendel heimgesucht, bevor der junge Krieger Beowulf aus dem südschwedischen Gautenland den Gräueltaten ein Ende setzt, indem er nicht nur Grendel, sondern auch dessen Mutter tötet. Heimgekehrt erstattet Beowulf seinem König Hygelac Bericht über die Geschehnisse in Dänemark. 50 Jahre später ist Beowulf schon seit langem König der Gauten, als das Land von einem feuerspeienden Drachen bedroht wird, weil ihm ein Kelch aus seinem Schatz gestohlen wurde, den er 300 Jahre lang friedlich bewacht hat. Beowulf kann den Drachen zusammen mit seinem Gefolgsmann Wiglaf besiegen und in der Folge den Schatz bergen lassen ; er verliert in diesem Kampf aber sein Leben. So kann die Handlung unter Auslassung der zahlreichen digressions zusammengefasst werden. Der Text repräsentiert nicht den reinsten Typus germanischer Heldenepik. Tolkien legte eine Nähe zur elegischen Dichtung nahe.2 Dennoch wird das Epos zumeist der secular heroic poetry zugeordnet, für die eine enge, aber hier passende Definition der Gattung lautet: »that which tells

1 Zitiert nach: The Beowulf Manuscript. Complete Texts and The Fight at Finnsburg, ed. & transl. by R. D. Fulk, Cambridge / MA 2010. Im Kontext dieses Aufsatzes ist es nicht wesentlich, wann der Beowulf zunächst mündlich konzipiert wurde. Das Beowulf-Manuskript, der Nowell Codex der British Library, einziger Textzeuge für den Beowulf, entstand im späten 10. oder frühen 11. Jahrhundert ; vgl. Andy Orchard: A Critical Companion to Beowulf, Woodbridge 2003, Kap. 2. – Für die kritische Durchsicht des Aufsatzes danke ich Susanne Handl, Ulrike Krischke und nicht zuletzt Ursula Lenker. 2 J. R. R. Tolkien: Beowulf. The Monsters and the Critics [1936], in: The Monsters and the Critics and Other Essays, ed. by Christopher Tolkien, London 1983, S. 5–48, hier 31. 

Renate Bauer

of the (mostly violent) deeds performed by warriors and heroes«.3 Dementsprechend erkennt Neville in grausamer Gewalttätigkeit das vorherrschende Thema im Beowulf: Violence creates and maintains kingdoms for Scyld Scefing, Hrothgar, and Beowulf, among others. Violence allows heroes – not only Beowulf but also Sigmund, Hrothgar, and Hygelac – to achieve glory and fame. Violence deters violence: Scyld Scefing’s, Hrothgar’s, and Beowulf’s warlike reputations defend their people from attacks of neighbouring people. Violence stops violence when Beowulf kills Grendel’s mother. Violence begets violence, as the convoluted path of the Swedish wars at the end of the poem attests.4 Doch der Beowulf ist kein eindimensionaler Text ; so wird nicht nur die ruhmreiche Seite von heroischer Gewalt dargestellt, sondern auch die verstörende. Hildeburh, von deren Schicksal in einer digression erzählt wird und die Ehemann, Bruder und Sohn im Krieg verliert, ist hierfür nur ein Beispiel (V. 1071–1158), ein anderes ist die klagende Gautin an Beowulfs Grab (s. S. 137). Wie Hildeburh ist sie eine geomuru ides ›kummervolle Frau‹ und steht als solche metonymisch für die Opfer der destruktiven Kräfte, die in einer heroischen Gesellschaft wirken.5 Owen-Crocker geht davon aus, dass die sehr explizite Darstellung von Gewalt im Beowulf – lebendige wie tote Gegner werden geköpft, Arme werden ausgerissen, Menschen bei lebendigem Leibe aufgefressen – auf das angelsächsische Publikum eine schockierende Wirkung hatte.6 Beowulf ist nicht nur verantwortlich für manche dieser Blutbäder. Auch begegnet er den daraus resultierenden Toten mit völligem Gleichmut,7 sobald sein Kampfeszorn abgeebbt ist. In seinen Kämpfen gegen Grendel und Grendels Mutter wird keine Kritik an seiner Grausamkeit formuliert. Der Erzähler unterstützt 3 Peter S. Baker: Honour, Exchange and Violence in Beowulf, Cambridge 2013, S. 31. 4 Jennifer Neville: Redeeming Beowulf. The Heroic Idiom as Marker of Quality in Old English Poetry, in: Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period, ed. by Victor Millet & Heike Sahm, Berlin u. Boston 2014, S. 45–69, hier 63 f. 5 Joyce Hill: »Þæt wæs geomuru ides!« A Female Stereotype Examined, in: New Readings on Women in Old English Literature, ed. by Helen Damico & Alexandra Hennessey Olsen, Bloomington / IN 1990, S. 235–247, hier 241. 6 Gale Owen-Crocker: Horror in Beowulf: Mutilation, Decapitation, and Unburied Death, in: Early Medieval Texts and Interpretations. Studies Presented to Donald G. Scragg, ed. by Elaine Treharne & Susan Rosser, Tempe / AZ 2002, S. 81–100, hier 99. 7 Ebd., S. 100. 

Beowulf

hier Beowulf oder zieht sich schweigend aus der Affäre. »The narrator’s authenticating voice […] falls short of final authority and should not be thought to foreclose alternative interpretive possibilities.«8 Es darf also die Frage nach Beowulfs moralischer Integrität gestellt werden, an der sich seit Jahrzehnten die Geister scheiden.9 Beowulf hätte durchaus die Gelegenheit gehabt, nicht nach Dänemark zu fahren, denn Hygelac bat ihn inständig, es nicht zu tun (V. 1992b–1998). Aber einmal dort angelangt, entkommt er dem Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt nicht, will man nicht anachronistische Erwartungen an ihn stellen: Er kann Grendel nicht fliehen lassen, nur weil er bemerkt, dass dieser ihm hoffnungslos unterlegen ist. Damit würde er sein öffentlich abgelegtes Versprechen brechen, Grendel zu besiegen, und in der Folge sein Gesicht verlieren. Hrothgar hätte Grendels Mutter für den getöteten Sohn Wergeld bezahlen können, so wie er Wergeld für Beowulfs Gefolgsmann Hondscio bezahlt (V. 1053b–1055a). Es ist aber fraglich, ob sich die dänischen Gesetze auf Grendel als Außenseiter der Gesellschaft überhaupt anwenden lassen. Beowulfs Gewaltakte sind im Kontext der heroischen Gesellschaft vollkommen legitim. Doch auch wenn sich der Erzähler mit Beowulf assoziiert, zeigt er auf, dass dem Gauten Grenzen gesetzt sind. Ein Kriegerleben – Beowulfs, aber auch das seiner Gegner – unterliegt den Gesetzen von wyrd. Wyrd ist Teil einer nicht-christlichen Weltsicht, die davon ausgeht, dass jedem ein bestimmtes Maß an Lebenszeit zugeteilt wird.10 Beowulf sagt selbst, dass wyrd über Sieg oder Niederlage entscheidet: »Gæð a wyrd swa hio scel« ›Das Schicksal geht immer, wie es gehen muss‹ (V. 455b). Diese fatalistische Weltsicht begrenzt ihn. Etwas tautologisch, aber ähnlich äußert er sich bei seiner Ankunft in Dänemark: Wyrd verschont oft denjenigen Mann, der nicht dem Untergang geweiht ist, wenn sein Mut andauert (V. 572b f.). 8 Klaeber’s Beowulf, ed. by R. D. Fulk u. a., Toronto 42008, S. xcix. 9 Vgl. Scott Gwara: Heroic Identity in the World of Beowulf, Leiden 2008, S. 8–12. 10 Mary C. Wilson Tietjen: God, Fate and the Hero of Beowulf, in: The Journal of English and Germanic Philology 74 (1975), S. 159–171, hier 162. Das Wort ist mit werden verwandt und bezeichnet das, ›was (sein) wird‹ (The Oxford English Dictionary, 3rd ed., ed. by John A. Simpson, Oxford 2000 ff. (http://www.oed.com), s. v. »weird«, n.). Das Konzept steht nicht repräsentativ für eine konkrete heidnische Glaubensform, sondern symbolisch für einen fossilierten Paganismus (Edward B. Irving Jr., Christian and Pagan Elements, in: A Beowulf Handbook, ed. by Robert E. Bjork & John D. Niles, Lincoln / NE 1997, S. 175–192, hier 178 f.), wie wir ihn auch in Beowulfs Gottesbegriff finden. So gibt Beowulf in V. 685b–687 an, dass Gott für Sieg und Niederlage zuständig ist. Das muss dem nicht-christlichen Konzept von wyrd nicht unbedingt widersprechen. Beowulf bezieht sich anders als der Erzähler wohl eher auf einen Gott im allgemeinen Sinne als auf einen spezifisch christlichen (Gwara [Anm. 9], S. 6). 

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Tatsächlich hat Beowulf den Mut im Kampf immer an seiner Seite. Aber das reicht eben nicht. Auch in seinen letzten Kampf geht er voll des Mutes – und stirbt. Der Grund liegt in wyrd, der zufolge Lebenszeit unwiderruflich abläuft, was Beowulf im Kampf mit wyrm, dem Drachen, schmerzlich bewusst wird (V. 2570b–2575a).11 Die Nähe zwischen wyrd und wyrm ist nicht unbedingt nur phonemischer Natur. Schon lange wird die These vorgebracht, dass der Drachenschatz mit einem Fluch behaftet war und dass Beowulf mit seiner Hebung ein Tabu bricht, das mit dem Tode bezahlt werden muss (vgl. V. 3051–3057, 3066–3075).12 Damit sind die Grenzen von Beowulfs Einfluss klar abgesteckt ; sein Ende war schon vor dem Kampf besiegelt, denn wyrd gæ ð a swa hio scel. Beowulf selbst ist notorisch schwer greifbar. Wir sehen ihn kämpfen und vor anderen Monologe halten, »addressed to no-one in particular«,13 aber nur selten können wir seine Gedanken und seinen Charakter erkennen. Jede seiner Taten und jedes seiner Worte ist in der Forschung bereits vielfach analysiert worden: unter historischen oder religiösen Aspekten, mit Freud’scher Analyse oder mit Blick auf angelsächsisches Rechtsvokabular, um nur einige Arten zu nennen.14 So ist Beowulf wahrlich zum Helden in tausend Gestalten geworden. Dieser Beitrag nähert sich seiner Charakterisierung im Sinne der Literary Linguistics, steht also an der Schnittstelle zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft.15 So soll zunächst die Semantik derjenigen Lexeme analysiert werden, die Beowulf (und seine Gegner) benennen, um greifbar zu machen, was diesen Helden kennzeichnet und inwiefern er sich von seinen Antagonisten abgrenzen lässt. Zweitens werden einige Reden Beowulfs mit Hilfe von Theorien der linguistischen Pragma11 Beowulf. A New Verse Translation. Bilingual edition, ed. & transl. by Seamus Heaney, New York 2000, S. xix. 12 Für Tabubruch und Fluch plädieren z. B. Heike Sahm: Unversöhnte Motivierungen. Der Schatz als Hindernis kohärenten Erzählens im Beowulf, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 131 (2009), S. 442–460, hier 449–451 u. Orchard (Anm. 1), S. 153–155, die sich auf entsprechende Erzählerhinweise stützen; entschieden dagegen spricht William Cooke: Who Cursed Whom, and When? The Cursing of the Hoard and Beowulf’s Fate, in: Medium Aevum 76 (2007), S. 207– 224 (mit übersichtlicher Zusammenfassung der Debatte). 13 Tom Shippey: Principles of Conversation in Beowulfian Speech, in: Techniques of Description: Spoken and Written Discourse. A Festschrift for Malcolm Coulthard, ed. by John McHardy Sinclair u. a., London 1993, S. 109–126, hier 109. 14 Vgl. z. B. Bjork / Niles (Anm. 10) oder John M. Hill: The Cultural World of Beowulf, Toronto 1995. 15 Zum Begriff vgl. Monika Fludernik: Closing Statement: Revisiting Jakobson. Linguistics and Literary Studies / Linguistik und Literaturwissenschaft. Interfaces, Encounters, Transfers / Begegnungen, Interferenzen, Kooperationen, ed. by Monika Fludernik & Daniel Jacob, Berlin u. Boston 2014, S. 425–444, hier 428. 

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tik mit dem Ziel durchleuchtet, seine Verhaltensweisen und Beweggründe im Rahmen einer heroischen Gesellschaft verständlich zu machen. Um die Charakterisierung des Helden abzurunden, werden zuletzt die drei im Epos dargestellten Kämpfe unter narratologischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Benennung des Helden

Das Wort Held ist mit ae. hæ leþ verwandt,16 das im Altenglischen nahezu ausschließlich in der Dichtung vorkommt und erst in me. Zeit vom lat. Lehnwort hero verdrängt wurde. Kommt das heldenhafte Element des Nomens hero von innen, etwa als Eigenschaft (wie Stärke oder Mut) oder durch vollbrachte Taten, so braucht der altenglische Held auch die Anerkennung von außen. Wenn sich hæ leþ auf Krieger bezieht, so ist solche Anerkennung weltlicher Natur. Im Beowulf äußert sie sich nicht nur durch Worte, sondern insbesondere durch wertvolle Geschenke an den siegreichen Kämpfer.17 Diese stehen nicht für sich selbst, sondern für den Ruhm und die Ehre, die sie dem Beschenkten für seine heroischen Taten verleihen, aber auch für die Verpflichtung zum Kampf, die sich aus dem Geschenk gegenüber dem Schenkenden ergibt. Diese Reziprozität wird als economy of honour bezeichnet.18 So ruft das Konzept von hæ leþ nicht die neuzeitlichen Vorstellungen von einem selbstlosen Helden ab, der eine damsel in distress rettet – eine Assoziation, die sich zumeist auf Artusritter bezieht. Hæ leþ bezeichnet einen Krieger, der im Kampf vorrangig Ruhm und Ehre erlangen will.19 Für den Begriff Krieger bietet das Altenglische eine Fülle an Wörtern. Der Thesaurus of Old English listet zehn davon unter dem Stichwort »A man, warrior« und 64 unter der Unterkategorie »A warrior, fighter« auf.20 Brady analysiert 101 Nominalkomposita und Genitivkonstruktionen, mit 16 Zum Folgenden vgl. Dictionary of Old English, ed. by Angus Cameron u. a., Toronto 2018 (https://www.doe.utoronto.ca), s. v. »hæle, hæleþ« und Oxford English Dictionary (Anm. 10), s. v. »hero«, n. 17 Vgl. z. B. V. 1020–1029 u. 1035–1049 (Hrothgar an Beowulf ); 1192–1200a (Wealhtheow an Beowulf ); 2190–2196a (Hygelac an Beowulf ). 18 Hill (Anm. 14), Kap. 4. 19 Hæ leþ wird außer für Beowulf auch für Grendel verwendet (V. 2072a) sowie für Hrothgar, Wulfgar, Hnæf und für Krieger im Allgemeinen. Nachdem Beowulf seine Heldentaten vollbracht hat, wird das Lexem zweimal für ihn verwendet, eingebettet in die Formel »com […] hæle hilde-deor / Hroðgar greta n/ grette« ›ein kampfestapferer Held kam, um Hrothgar anzusprechen/sprach Hrothgar an‹ (V. 1646, 1816; vgl. Orchard [Anm. 1], S. 306). 20 A Thesaurus of Old English, ed. by Jane Roberts & Christian Kay, Glasgow 2017 (http://oldenglishthesaurus.arts.gla.ac.uk), s. v. »Peace and War«. 

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denen die Krieger im Beowulf bezeichnet werden, lässt aber die Frage offen, ob sie Beowulf ein Alleinstellungsmerkmal zuweisen.21 Als solches kann der Name Beowulf bewertet werden, der in V. 343b eingeführt wird.22 Seine beiden Bestandteile beo ›Biene‹ und wulf ›Wolf‹ werden seit langem als Kenning mit der Bedeutung ›Bär‹ interpretiert. Allerdings ist fraglich, ob solche dithematischen Namen wirklich eine Bedeutung haben, die sich aus den beiden Bestandteilen ergibt, und inwieweit die Namen der Charaktere überhaupt hermeneutischen Aufschluss geben können.23 Einen eindeutigen Referenten haben Patronymika wie »bearn Ecgþeowes« ›Nachkomme des Ecgtheow‹ (V. 529b u. ö.) und »mæg Higelaces« ›Verwandter des Hygelac‹ (V. 737a u. ö.); sie stellen Beowulf in die Tradition ruhmreicher Krieger. Von den etwa 120 Nomina und Nominalphrasen, die Whallon analysiert, werden etwa zwei Drittel ausschließlich für Beowulf verwendet.24 Darunter sind Phrasen, die seine kriegerische Disposition hervorheben, wie »mære cempa« ›ruhmreicher Kämpfer‹ (V. 1761a) oder »secg betesta« ›bester Mann /Krieger‹ (V. 947a, 1759a), oder solche, die ihn als Anführer eines Trupps oder eines ganzen Volks erhöhen, wie »frea-drihtnes« (Gen.) ›Herr und Anführer‹ (V. 796a) oder »gold-wine Geata« ›Gold-Freund der Gauten‹ (V. 2419a). Als König wird Beowulf mit denselben Wendungen beschrieben wie zuvor die Könige Hrothgar und Hygelac ; als Krieger wird er terminologisch mit seinem Waffenbruder Wiglaf gleichgesetzt: Beide werden »feþe-cempa« ›Fußsoldat‹ (V. 1544a, 2853a), »hæle hildedeor« ›kampfestapferer Held‹ (V. 1646a, 1816a, 3111a) und »secg on searwum« ›Krieger in Waffen‹ (V. 249a, 2700a) genannt.25 21 Caroline Brady: ›Warriors‹ in Beowulf. An Analysis of the Nominal Compounds and an Evaluation of the Poet’s Use of Them, in: Anglo-Saxon England 11 (1982), S. 199–246, hier 240. 22 U. a. Fulk (Anm. 1), S. 352 verdeutlicht, dass der Name von Hrothgars Großvater im Manuskript nur versehentlich als Beowulf geschrieben wurde und eigentlich Beow oder Beaw heißen sollte (vgl. V. 17). Demnach trägt nur der Titelheld den Namen Beowulf. 23 Christopher Abram: Bee-Wulf and the Hand of Victory. Identifying the Heroes of Beowulf and Vǫlsunga saga, in: Journal of English and Germanic Philology 116 (2017), S. 387–414, hier 387–391; R. D. Fulk: The Etymology and Significance of Beowulf’s Name, in: Anglo-Saxon 1 (2007), S. 109–136, hier 115–117 u. 135 f. 24 William Whallon: The Diction of Beowulf, in: Publications of the Modern Language Association 76 (1961), S. 309–319, hier 316 f.; ders.: Formulas for Heroes in the Iliad and in Beowulf, in: Modern Philology 63 (1965), S. 95–104, hier 97 f.; ders.: Formula, Character, and Context. Studies in Homeric, Old English, and Old Testament Poetry, Cambridge / MA 1969, S. 92–94. 25 Pierre E. Monnin: Namings for the Hero and the Structure of Beowulf, in: Swiss Papers in English Language and Literature 3 (1987), S. 111–121, hier 113–119. 

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Aber der Held wird sprachlich auch mit denjenigen gleichgestellt, die er bekämpft. »Freca« ›Krieger‹ bezeichnet Beowulf (V. 1563b) ebenso wie »sweord-frecan« (Dat.) ›Schwert-Krieger‹ (V. 1468a). Das Determinatum hat aber offenbar nicht zwingend einen menschlichen Referenten: Der Drache ist »guð-freca« ›Schlacht-Krieger‹ (V. 2414a). Drache und Beowulf sind »stearc-heort« ›unerschrocken‹ (V. 2288b, 2552a) und »frod« ›alt, weise‹ (z. B. V. 2209b, 2277a).26 Beowulf und Grendel sind im Kampf zusammen »heaþo-deorum« (Dat.) ›in der Schlacht Mutige‹ (V. 772a) und »reþe renweardas« ›grausame Hallen-Wärter‹ (V. 770a),27 beide sind »hilde-rince(s)« ›Krieger‹ (V. 986b, 1495a, 1576a). Clark ordnet einigen dieser Beispiele »an ironic tension between the meaning of the term and at least one of the characters to whom it is attributed« zu, weil Grendel Kains Sippe (V. 107a) angehöre, somit außerhalb der Gesellschaft stehe und nicht ohne Ironie mit anthropomorphen Beinamen benannt werden könne.28 Dann müsste Clark aber auch den Wörtern »wer« ›Mann‹, »rinc« ›Kämpfer‹, »guma« ›Mann‹ und »maga« ›Verwandter‹, wann immer sie sich auf Grendel beziehen, konsequent eine ironische Bedeutung zuordnen (V. 105a, 720b, 973a, 2006b). Ironische Distanzierung kann also nicht die einzige Erklärung für die Charakterisierung Grendels sein. Seine Beschreibung ist ambivalent: Er trägt menschliche Züge und die eines Un-Menschen ; immer aber zollt der Text dem Krieger Grendel Respekt. Grendel, seine Mutter und der Drache werden außerhalb der dänischen bzw. gautischen Gesellschaft verortet, im Bereich des Abnormen. Allerdings überschreitet auch Beowulf die Grenze zum Abnormen. Grendel ist abnorm groß, denn es braucht vier Mann, um seinen abgeschlagenen Schädel zu tragen (V. 1637b–1639). Beowulf scheint aber kaum kleiner zu sein: Er führt ein von Riesen gefertigtes Schwert (V. 1557–1562) und ragt mit seiner Größe einzigartig unter anderen heraus (V. 247b–251a, ähnlich Grendel V. 1353). Es ist auch abnorm, dass Grendel dreißig Mann auf einen Streich mit bloßer Hand töten kann (V. 122b–123a). Doch später tötet auch Beowulf dreißig Friesen in einem Kampf (V. 2361 f.), und Hrothgar weiß zu berichten, dass in Beowulfs Handgriff die Stärke von dreißig Männern liegt (V. 379b–381a). Die Grenzlinie zwischen Kampfeskraft und Monstrosität ist schmal. Der Körper von Grendel wird am klarsten mit den Attributen eines Monsters beschrieben: Er hat unheimlich leuchtende Augen (V. 726b f.), 26 Vgl. Brady (Anm. 21), S. 231; Andy Orchard: Pride and Prodigies. Studies in the Monsters of the Beowulf-Manuscript, Toronto 1995, S. 30; Fulk u. a. (Anm. 8), S. cvi f. 27 Brady (Anm. 21), S. 236. 28 Tom Clark: A Case for Irony in Beowulf, with particular reference to epithets, Bern u. a. 2003, S. 168, 175, 235. 

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Klauen mit stahlharten Nägeln und eine lederne Haut (V. 984b–990). Außerdem trägt er eine Tasche aus Drachenhaut (V. 2085b–2088), in die er seine Beute stecken kann. Er kann nicht sprechen, nur herzzerreißend heulen. Der vaterlose Grendel (V. 1355b) karikiert die menschliche Ordnung, indem er immer ohne Waffen kämpft (s. S. 132) und kein Wergeld bezahlt. Doch es ist sein Kannibalismus, der ihn am deutlichsten zum Monster macht.29 Cardew interpretiert ihn als einen aus Sumpfland stammenden Oikotyp, als Exemplar der »hostile human-like creatures who live in fresh water, in rivers or fens. They come out to attack particular places […] and they are cannibalistic«.30 Das Altenglische kannte das Wort monster nicht ; man hatte aber offenbar ein Konzept dafür. Wie die meisten anderen Charaktere wird Grendels Mutter in ihrer Erscheinung und ihrer Wesenhaftigkeit nie stringent beschrieben.31 Zwar ist sie »brim-wylf« ›Seewölfin‹ (V. 1506a, 1599a), die in einer Unterwasserhöhle lebt und bittere Kämpfe führt,32 und man hat sie als todbringende Walküre gedeutet.33 Aber als »modor« ›Mutter‹ (z. B. V. 1258b, 1276b, 1282a), »ides« ›Frau‹ (V. 1259a) und »wif« ›Frau‹ (V. 2120b) trägt sie auch menschliche Züge. Es wird indes bemerkt, dass man ihr Geschlecht nicht eindeutig bestimmen kann, wenn man sie sieht (V. 1349b–1351a), und drei Mal wird sie mit maskulinem Pronomen bezeichnet (V. 1260a, 1392b, 1394b).34 Hrothgar nennt sie »sinnigne secg« ›sündiger Mann / Krieger‹ (V. 1379a), womit sie derselben Kategorie zugeordnet wird wie der »secg betesta« und »secg on searwum« Beowulf (s. o.). Zwar ist Beowulf keiner der »feorh-geniðlan« ›Leben(s)feinde‹ wie Grendel, dessen Mutter und der Schwedenkönig Ongentheow (V. 969a, 1540a, 2933b), aber wie alle monströsen Kämpfer ist er ein aglæca.35 Das Nomen kommt im altenglischen Textkorpus ca. 35 Mal vor, davon 21 Mal im Beowulf. Es wird mit »awesome opponent, ferocious fighter ; terrible 29 Fulk u. a. (Anm. 8), S. cv f.; Owen-Crocker (Anm. 6), S. 87. 30 Philip Cardew: Grendel: Bordering the Human, in: The Shadow-Walkers. Jacob Grimm’s Mythology of the Monstrous, ed. by Tom Shippey, Tempe / AZ 2005, S. 189–205, hier 205. 31 Fulk u. a. (Anm. 8), S. cvi. 32 Zum Dis legomenon brim-wylf vgl. Dictionary of Old English (Anm. 16), s. v. 33 Helen Damico: The Valkyrie Reflex in Old English Literature, in: Damico / Olsen (Anm. 5), S. 176–190, hier 178. 34 Dazu Jane Chance: The Structural Unity of Beowulf. The Problem of Grendel’s Mother, in: Damico / Olsen (Anm. 5), S. 248–261, hier 249 u. 259, Anm. 13. 35 Beowulf: V. 1512a, 2592a ; Grendel: V. 159a, 425a, 433b, 592a, 646b, 732a, 739a, 816a, 989b, 1000b, 1269a ; Drache: V. 2520a, 2534a, 2557a, 2592a, 2905a ; ein Seemonster: V. 556a ; Sigmund, der Drachentöter: V. 893a. Grendels Mutter ist »aglæc-wif« (V. 1259a). Zur umstrittenen Etymologie des Nomens vgl. Orchard (Anm. 26), S. 33. 

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opponent« glossiert, aber auch mit »wretch, monster, demon, fierce enemy«.36 Alle aglæcan haben etwas Übermenschliches an sich. Drache, Grendel und seine Mutter unterscheidet von Beowulf, dass sie Außenseiter sind, die an nicht-zivilisierten Orten leben (V. 103–105, 1357–1376a, 2241b–2243) und nicht der normal-menschlichen Gesellschaft angehören bzw. sie bekämpfen. Allen aglæ cum gemein ist wiederum, dass sie herausragende Kämpfer sind, die mit einer außerordentlichen Gewaltbereitschaft ausgestattet sind ; somit sind alle gemeinsam ›fürchterliche Gegner im Kampf‹. Mit diesem Nomen stellt der Erzähler also eine semantische Verbindung zwischen Beowulf und den sogenannten Monstern her – jedoch nicht zu Beowulfs Vorteil: Beowulf […] begins very much as a member of the courtly world of men, but as the moral imperative diminishes in his three chief battles with monsters, with a corresponding increase in the amount of weaponry he brings to bear, he gradually becomes identified with the figures he fights […] and ends up buried with the cursed treasure of a dragon in a barrow by the sea.37 Inwiefern dieser düstere Blick auf Beowulfs Ende gerechtfertigt ist, wird unten noch zu betrachten sein. Sicher ist Beowulf eine ambivalente Figur: Er ist nicht nur ein herausragender, wenn nicht gar der beste Krieger sowie ein großzügiger Gefolgsherr, sondern auch ein fürchterlicher Gegner, der seinen Antagonisten ähnlich ist. Der exorbitante Held trägt monströse Züge. Dies ergab sich bisher aus den Bezeichnungen für Beowulf. Inwieweit sich das auch im narrativen Kontext bestätigt, wird nun zu verfolgen sein.

36 Ersteres: Dictionary of Old English (Anm. 16), s. v. »āg-læca«; letzteres: John R. Clark Hall: A Concise Anglo-Saxon Dictionary, with a supplement by Herbert D. Meritt, Toronto 42000, s. v. »āglæca«. 37 Orchard (Anm. 26), S. 168. Der Vergleich von Mensch und Monster zieht sich laut Orchard (S. 33) durch das gesamte Beowulf-Manuskript. Kenneth Sisam: The Compilation of the Beowulf Manuscript, in: Studies in the History of Old English Literature, Oxford 1953, S. 65–96 meint, dass eine zeitgenössische Beschreibung der Handschrift wohl gelautet hätte: »Liber de diversis monstris, anglice« ›Buch über verschiedene Monster in Englisch‹ (S. 96). 

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›Da sprach Beowulf, Ecgtheows Sohn‹

In einem wesentlichen Punkt unterscheidet Beowulf sich von seinen Antagonisten: Er kann sprechen – »Beowulf maþelode, / bearn Ecgþeowes« ist eine Versformel im Text (z. B. V. 529, 631, 1473). Seine humanoiden Gegner und der Drache zeigen diese Fähigkeit nicht. Beowulf hingegen ist eloquent und dadurch fähig zu gesellschaftlicher Integration, die keineswegs selbstverständlich ist. Das zeigt sich zuerst, als er nach der Ankunft am dänischen Strand vom Küstenwächter gefragt wird, was er und seine Männer hier zu suchen haben. Auffallend ist, dass der Wachmann beim Anblick der Truppe sofort erkennt, wen er anzusprechen hat: ›Næfre ic maran geseah eorla ofer eorþan ðonne is eower sum, secg on searwum ; nis þæt seld-guma, wæpnum geweorðad, næfne him his wlite leoge, ænlic ansyn.‹ (V. 247b–251a) ›Ich sah nie einen Größeren unter den Männern auf Erden als einer von Euch es ist, ein Krieger in Waffen ; das ist kein bloßer Hallen-Gefolgsmann, durch Waffen gewürdigt, wenn sein Aussehen nicht trügt, seine einmalige Erscheinung.‹ Obwohl seine Singularität mit diesen Worten anerkannt wird, stellt sich Beowulf nicht namentlich vor. Er identifiziert sich vielmehr als Teil der Truppe und antwortet im Plural (V. 260a), assoziiert sich und seine Männer mit ihrem Gefolgsherrn Hygelac (V. 261) und verweist auf seinen Vater Ecgtheow (V. 262 f.). Damit gibt er seinen Status in der Gesellschaft preis. Respektvoll nennt er Hrothgar Beschützer des Volkes (V. 269a) und wohlbekannten Herrscher der Dänen (V. 270 f.). Grendels Gräueltaten versucht er zunächst nur anzudeuten als ›etwas, das nicht geheim bleiben soll‹ (V. 271b–272a), geht dann aber doch zu klaren Worten über: Die Gauten hätten von einem geheimnisvollen und heimtückischen Übeltäter gehört, der Erniedrigung und Gemetzel bringe (V. 274–277a). Der Däne kann aber auch hier sein Gesicht wahren, denn Beowulf überlässt es ihm, zu urteilen, ob es wahr ist, was den Gauten zu Ohren kam (V. 272b f.). In V. 277b geht Beowulf zum Ich über und erklärt, dass er dem weisen und guten Hrothgar Rat anzubieten habe, der zur Lösung all seiner Probleme führen werde. Zuletzt lobt er die Halle Heorot (V. 278b–285). Entgegen der jüngst aufgestellten These, dass in der altenglischen Gesellschaft Discernment-Höflichkeit vorgeherrscht habe, dass sich also 

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liche Höflichkeit vorrangig in der Wahl angemessener Anrede- und Begrüßungsformen manifestiere, um die Rollen von Sprecher und Hörer in der Gesellschaft anzuerkennen,38 sind Respektsbekundungen wie die Honorifika, die Beowulf für Hrothgar verwendet, durchaus strategisch eingesetzte Höflichkeitsformen.39 Sogenannte positive Höflichkeitsstrategien ermöglichen es den Angesprochenen, ihr Selbstbild zu wahren, indem etwa ihre Halle oder ihr König gelobt wird ; negative Höflichkeitsstrategien versuchen, die Adressaten möglichst wenig in ihrer Handlungsfreiheit einzuschränken.40 Indem Beowulf im Verlauf des Textes Hrothgar selbst mit respektvollen Honorifika anspricht, erkennt er die Macht des Dänenkönigs an. Beowulf verdeutlicht damit, dass Hrothgar in der gesellschaftlichen Hierarchie über ihm steht, und legt somit auch nahe, dass der König vor Ansprüchen, die Beowulf an ihn stellt, zu einem gewissen Maße geschützt ist. Somit stellt die Verwendung von Honorifika eine Strategie der negativen Höflichkeit dar, denn sie schränkt die Möglichkeiten der Fremdbestimmung ein.41 Die formelhaften Elemente der Anrede sind also durchaus Beispiele für den strategischen Einsatz sprachlicher Mittel. Ziel der Strategie ist es, das Gesicht des Angesprochenen zu wahren, das öffentliche Selbstbild, das jedes Mitglied einer Gemeinschaft für sich beansprucht, das Recht auf Selbstbestimmung eingeschlossen.42 Sprechakte, die das Selbstbild und Selbstbestimmungsrecht bedrohen (z. B. Bitten, Befehle, Beleidigungen), können so formuliert sein, dass das Gesicht des Angesprochenen nicht geschützt wird, oder so vage gehalten sein, dass es dem Angesprochenen überlassen bleibt, den gesichtsbedrohenden Akt als solchen zu verstehen. Wollen Sprecher den gesichtsbedrohenden Sprechakt indes abschwächen, können sie die genannten positiven oder negativen Höflichkeitsstrategien anwenden. In den oben zitierten Versen wird die Tatsache, dass bewaffnete Krieger ungebeten in ein fremdes Land kommen, als eine Mission mit dem Zweck verkauft, einen Rat zu erteilen. Das ist eine indirekte und somit höfliche Art zu sagen ›Wir sind gekommen um Euer Monster zu töten, obwohl das eigentlich Eure Aufgabe wäre‹.43 Das Selbstbild des Küstenwächters bleibt intakt durch die Indirektheit, aber auch durch die positive Höflichkeitsstrategie, dass Beo38 Andreas Jucker: Politeness in the History of English. From the Middle Ages to the Present Day, Cambridge 2020, S. 38. 39 Vgl. Penelope Brown & Stephen C. Levinson: Politeness: Some Universals in Language Usage, Cambridge 1987, S. 129 u. 178–187. 40 Ebd., Kap. 5.3 u. 5.4. 41 Ebd., S. 178. 42 Ebd., S. 61 f.; Wolfram Bublitz: Englische Pragmatik. Eine Einführung, Berlin 2001, S. 223. 43 Shippey (Anm. 13), S. 121. 

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wulf seinen Standpunkt mit dem des Angesprochenen zu vereinen sucht (vgl. V. 272b f.).44 Gegenüber Wulfgar, der Wache vor Hrothgars Halle, drückt sich Beowulf direkter aus als gegenüber dem Küstenwächter. Als er sich knapp vorgestellt hat (V. 342b f.), macht er deutlich, alles Weitere mit dem Dänenkönig besprechen zu wollen. »Wille ic asecgan / sunu Healfdenes // […] min ærende« (V. 344 f.: ›Ich wünsche meine Angelegenheit mit dem Sohn Healfdenes zu besprechen‹). Das ist ein indirekter Direktiv, der um einiges höflicher ist als ›Bring mich sofort zu Deinem König, denn mit Dir spreche ich nicht‹.45 Außerdem fügt Beowulf an, dass es Hrothgar überlassen bleibe, ob er die Gauten überhaupt empfangen wolle (V. 346b f.), eine weitere Strategie der negativen Höflichkeit.46 Wulfgar fühlt sich durch Beowulfs knappe Worte sicher nicht vor den Kopf gestoßen ; allenfalls spiegelt der Sprechakt eine Entschlossenheit wider, wie man sie von einem Krieger erwarten darf, will er sein Gesicht wahren. Shippey formuliert ein conflictive principle, das er in den Reden heroischer Dichtung am Werk sieht: »In all verbal exchanges, ensure that one’s own worth is stated and acknowledged. If it is acknowledged by hearer, be prepared to acknowledge hearer’s worth. If not, respond with an appropriate degree of reciprocal non-acknowledgement.«47 Entschlossenes, sogar herrisches Auftreten fällt demnach nicht unangenehm auf – im Gegenteil. Ebenso wenig sind Prahlerei und Eigenlob, die noch zu betrachten sein werden, mit heutigen Maßstäben zu werten. Im Kontext heroischer Dichtung sind sie nicht per se unangenehm oder peinlich.48 44 Vgl. Brown / Levinson (Anm. 39), S. 119. 45 Thomas Kohnen: Understanding Anglo-Saxon Politeness. Directive Constructions with ic wille/ic wolde, in: Journal of Historical Pragmatics 12 (2011), S. 230–254, hier 250 f.; Shippey (Anm. 13), S. 122. 46 Das Gespräch mit Wulfgar wie das vorangegangene mit dem Küstenwächter bestätigen also Thomas Kohnens Auffassung nicht, dass die angelsächsische Welt jenseits der sprachlichen Höflichkeit zu situieren sei oder zumindest nur positive Höflichkeitsstrategien anwende (Directives in Old English: Beyond Politeness?, in: Speech Acts in the History of English, ed. by Andreas Jucker & Irma Taavitsainen, Amsterdam 2008, 27–44, hier 41; sowie [Anm. 45], S. 251). 47 Shippey (Anm. 13), S. 121. 48 Thomas Kohnen: Linguistic Politeness in Anglo-Saxon England? A Study of Old English Address Terms, in: Journal of Historical Pragmatics 9 (2008), S. 140–158, hier 155. Ursula Lenker: Pragmatics and Discourse, in: The History of English: Old English, ed. by Laurel J. Brinton & Alexander Bergs, Berlin 2017, S. 140–159, hier 155 wertet dies als Alterität der ags. Kultur und hält es für ratsam, pragmatische Analysen des Altenglischen als transkulturell zu erachten und das Altenglische in dieser Hinsicht nicht als Vorstufe für das Neuenglische zu begreifen. Dennoch zeigt sich, dass die Politeness Theory mit ihrem Anspruch auf sprachliche Universalität, so umstritten dieser auch sein mag, auf das Altenglische angewandt werden kann. 

Beowulf

Als Beowulf zuletzt Hrothgar gegenübersteht, nennt er sein Verhältnis zu Hygelac (V. 407b–408a) – diesmal nur seines und nicht das seiner Männer – und geht sofort dazu über, die heldenhaften Taten seiner Jugend herauszustellen (V. 408b–409a): den Sieg über eine Riesensippe und den Kampf gegen Seemonster (V. 421 f.). In den 49 Versen seiner Rede (V. 407–455) finden sich 28 Referenzen auf die erste Person ic.49 In V. 425 sagt Beowulf explizit, dass er alleine gegen Grendel antreten will. Dass seine Männer im wahrsten Sinne des Wortes hinter ihm stehen, scheint er fast vergessen zu haben, als er seine Bitte an Hrothgar wie folgt formuliert: ›Ic þe nuða, brego Beorht-Dena, biddan wille, eodor Scyldinga, anre bene, þæt ðu me ne forwyrne, wigendra hleo, freo-wine folca, nu ic þus feorran com, þæt ic mote ana, minra eorla gedryht, ond þes hearda heap Heorot fælsian.‹ (V. 426b–432) ›Nun will ich Dich, Herr der Dänen, Beschützer der Scyldinge, um einen Gefallen bitten: dass Du mir nicht verweigern mögest, Beschützer der Krieger, edler Freund der Völker – da ich von so weit her gekommen bin –, dass ich alleine, oh Truppe meiner Männer und dieser Trupp Unerschrockener, Heorot befreien darf.‹50 Beowulf ist auch hier von ausgesuchter Höflichkeit, indem er Hrothgar auf vier unterschiedliche Weisen als König der Dänen anspricht. Diese Respektsbekundungen können, wie oben dargelegt, als positive wie auch als negative Höflichkeitsstrategie bewertet werden. Beowulf wendet weitere negative Höflichkeitsstrategien an, indem er seinen Wunsch wieder zum indirekten Direktiv abschwächt und deutlich macht, dass die Entscheidung, die Bitte zu gewähren, alleine bei Hrothgar liegt.51 Auch Grendels Untaten deutet Beowulf, wenigstens zu Beginn seiner Rede, nur 49 Orchard (Anm. 1), S. 213. 50 Übersetzung von V. 431b–432a mit Vokativ nach Gwara (Anm. 9), S. 82. Thomas J. Jambeck: The Syntax of Petition in Beowulf and Sir Gawain and the Green Knight, in: Style 7 (1973), S. 21–29, hier 26 zeigt, dass Beowulfs komplexe Syntax die Direktheit der Bitte abschwächen soll. Es handelt sich also um eine sprachliche Strategie, die Hrothgars Gesicht schützen soll. Sogar Kohnen (Anm. 45), S. 243 räumt hier eine negative Höflichkeitsstrategie ein. 51 Michael R. Kightley: Reinterpreting Threats to Face. The Use of Politeness in Beowulf, ll. 407–472, in: Neophilologus 93 (2009), S. 511–520, hier 514. 

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sehr zurückhaltend an als »Grendles þing« ›die Angelegenheit Grendels‹ (V. 409b). Das ist eine positive Höflichkeitsstrategie, die sicherstellt, dass Hrothgars Selbstbild als Entscheidungsträger und Beschützer seines Volkes gewahrt bleibt.52 Trotzdem ist Hrothgar durch Beowulfs Worte in die Defensive gedrängt: Allein, dass es sich bis ins Gautenland herumgesprochen hat, dass seine Halle leersteht (V. 411–414), weil niemand sie verteidigen kann, ist eine Schande. Der König hält dem entgegen, dass ihm Beowulfs Vater Eide geschworen (V. 472b) und dass er an dessen Stelle einmal Wergeld gezahlt habe (V. 470–472a), um einen Krieg zu verhindern. Damit legt er nahe, dass Beowulf als Sohn Ecgtheows in seiner Schuld stehe und aus Ehrgründen verpflichtet sei, für die Dänen zu kämpfen. So kann Hrothgar sein Gesicht als Beschützer seines Volkes wahren und Beowulfs Einmischung in dänische Angelegenheiten legitimieren.53 Als die Gauten endlich auf den Metbänken sitzen, meldet sich der Däne Unferth zu Wort. Er ist verärgert über Beowulfs Ankunft, weil er nicht will, dass ein anderer Krieger mehr auf Ruhm bedacht ist als er selbst (V. 501b–505). So zeigt er auf, dass Hrothgars Gefolgsleute Beowulf nicht vorrangig als Retter in der Not wahrnehmen, sondern als einen jungen Konkurrenten, der sich erst noch profilieren muss.54 Unferth ergreift die Gelegenheit für ein flyting55 und fragt den Gauten, ob er jener Beowulf sei, der aus Stolz und Angeberei (V. 506–510a) in seiner Jugend einen sieben Nächte währenden Schwimmwettbewerb mit seinem Freund Breca angefangen, aber dann verloren habe ; dann erwarte er im Kampf gegen Grendel einen noch schlechteren Ausgang für Beowulf (V. 525). Damit zwingt Unferth Beowulf in einen kommissiven Sprechakt, nämlich in das öffentliche Versprechen, dass er Grendel am nächsten Tag besiegt haben werde (V. 601b–606), fordert ihn zunächst aber auch zu einer Gegenrede heraus. 52 Vgl. Brown / Levinson (Anm. 39), S. 129. 53 Kightley (Anm. 51), S. 518. 54 Baker (Anm. 3), S. 79. Später wird einmal erwähnt, dass Beowulfs kriegerische Fähigkeiten als junger Mann von den Gauten nicht hoch eingeschätzt worden waren (V. 2183b–2188a). Er musste sich also auch die Anerkennung in der Heimat erst erkämpfen. 55 Das flyting ist ein konventionalisierter verbaler Schlagabtausch, der nicht zu ernsthaften Animositäten führt. Es stellt den Helden auf die Probe und die Bedeutsamkeit des bevorstehenden Kampfes heraus. Entschieden wird der Ausgang des flyting erst im echten Kampf, hier gegen Grendel (Ward Parks: The Flyting Speech in Traditional Heroic Narrative, in: Neophilologus 71 [1987], S. 285–295, hier 285 f.). Zum flyting zwischen Beowulf und Unferth vgl. Carol Clover: The Germanic Context of the Unferþ Episode, in: Speculum 55 (1980), S. 444–468. 

Beowulf

Beowulf steigt sarkastisch ein, indem er den Dänen mit »wine min Unferð« ›mein Freund Unferth‹ anspricht (V. 530b). Daraufhin beleidigt er ihn als betrunken (V. 531a), als Brudermörder (V. 587) und als schwachen Krieger, was er dann auf seinen eigenen Freund Breca ausweitet (V. 581b– 586a) und zuletzt voll beißender Ironie auch auf die Dänen, diese siegreichen Scyldinge mit ihrer schrecklichen Kampfesstärke, deren Rache Grendel nicht fürchten müsse (V. 595–597).56 Bleibt die unverblümte Kritik an Unferth im Rahmen des flyting noch im Bereich der Norm,57 ist der verbale Rundumschlag, der sich daran anschließt, für die Dänen gesichtsbedrohend, auch wenn er durch Ironie zweideutig bleibt.58 Hrothgar ist jedenfalls zufrieden (V. 607–610). Er hat den richtigen Mann gefunden: verbal bis unter die Zähne bewaffnet und offenbar mutig. Dass die Welt des Beowulf, auch wenn sie von einer christlichen Erzählerstimme präsentiert wird, von vorchristlich-heroischen Werten und einer shame culture geprägt ist, in der der Krieger versucht, Ehre und Ruhm zu erlangen und Schande um jeden Preis zu vermeiden,59 wird auch in der folgenden, an seine Männer gerichteten Prahlrede Beowulfs deutlich (V. 677–687): Er sei sich sicher, Grendel in Kampfeskunst in nichts nachzustehen, und könne ihn mit einem Schwert ohne Probleme erledigen ; aber er werde das nicht tun, weil er Grendel nicht übervorteilen wolle. Doch Grendel kann, wie der Erzähler später anmerkt, gar nicht durch Eisen verletzt werden und belegt die Schwertklingen seiner Gegner mit einem Zauber (V. 801b–805a).60 Es ist nicht das einzige Mal, dass Beowulfs Prahlereien vor einem Kampf anschließend korrigiert werden müssen: Vor dem Kampf mit Grendels Mutter verkündet er, dass er durch das Schwert Hrunting zum Sieg kommen oder sterben werde (V. 1490b f.), doch dann siegt er, als Hrunting ihn im Stich lässt, mit dem Schwert, das er während des Kampfes in der Höhle findet ; und vor dem Kampf gegen den Drachen schwört er, dass er dessen Schatz erringen oder sterben werde (V. 2535b–37), doch hier wird beides der Fall sein.61 Jede von Beowulfs Prahlereien stellt einen kommissiven Sprechakt dar: Der Sprecher verpflichtet sich damit zum Sieg, denn sollte er verlieren, käme er aus 56 Vgl. Clark (Anm. 28), S. 158 f. 57 Brudermord ist eine stereotype Beschuldigung in einem flyting (Clover [Anm. 55], S. 453). 58 Vgl. Brown / Levinson (Anm. 39), S. 212. 59 Vgl. George Clark: The Hero and the Theme, in: Bjork/Niles (Anm. 10), S. 271–290, hier 285. 60 Die Übersetzung von forsworen hæfde mit ›verhext hat‹ (V. 804b) ist umstritten (vgl. Dictionary of Old English [Anm. 16], s. v. »for-swerian«, 2.). 61 Orchard (Anm. 1), S. 215. 

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dem Kampf nicht ohne Gesichtsverlust heraus.62 Der Tod ist besser als Schande (V. 2890b f.). Deshalb kann Beowulf auch die Gewissheit, dass Grendel seine blutgetränkte Leiche auffressen würde, mit Humor nehmen: Hrothgar sei dann auch von der Last befreit, ihn mit Essen zu versorgen (V. 446b–451). Beowulfs Reden charakterisieren ihn als eloquent und dadurch integrationsfähig: Er übernimmt in aller Öffentlichkeit Verantwortung für sein Handeln und verpflichtet sich zum Sieg, auch wenn ihn das sein Leben kosten kann. Seine Worte offenbaren aber auch, dass er sich durchweg als Einzelkrieger wahrnimmt, der vorrangig auf Ruhm und Ehre bedacht ist, wie sich auch im Folgenden zeigen wird. Ein außerordentlicher Krieger

Beowulfs Kämpfe führen seine Eigenschaften als Krieger vor, gewähren uns aber auch Einblicke in das Innenleben der Kämpfer. Wie eingangs erwähnt, verrät das Epos nur wenig über Beowulfs Perspektive. Doch in den Kämpfen mit Grendel und Grendels Mutter gestattet uns der Erzähler Einblicke. So beobachtet Beowulf, wie Grendel sich Hondscio schnappt, ihn aufschlitzt, in seinen Körper beißt, sein Blut trinkt (V. 740–743a), um ihn dann »fet on folma« ›von Fuß bis Hand‹ (V. 745a) aufzufressen. Beowulf scheint überrumpelt zu sein von diesem Vorgang, so dass er nicht angreift, sondern angegriffen wird: Grendels Hand ist auf ihm, bevor er reagieren kann (V. 745b–749). Beowulf braucht eine Weile, bis er sich an seine Prahlrede erinnert (V. 758–759a). Erst dann gewinnt der Kampf an Geschwindigkeit: Die Metbänke fliegen und bersten, die Mauern wackeln (V. 770b–782a). Wir folgen hier dem Blick des Erzählers, bis wir wieder in Beowulfs Gedanken schauen dürfen: Er will Grendel auf keinen Fall entkommen lassen und hält dessen Leben für wertlos (V. 791–794a). Beowulf geht »bolgen-mod« ›aufgebracht‹ in den Kampf (V. 709a). Das scheint die Emotion zu sein, die man für einen Zweikampf auf Leben und Tod braucht, denn Grendel fühlt sich ähnlich: »gebolgen« (V. 723) und »yrre-mod« ›erzürnt‹ (V. 726). Später wird Beowulf gegen Grendels Mutter erst etwas ausrichten können, als er von genau diesem Zorn durchdrungen ist (V. 1532a). Während des Kampfes zaudert Beowulf nicht, Angst hat er in keinem Moment. 62 Nach dem Kampf mit Grendel bemerkt der Erzähler, dass Beowulf seinen boast erfüllt hat (V. 828b f.); dass er sein Versprechen gehalten hat, wird auch innerhalb der Diegese öffentlich gemacht, indem Beowulf Grendels Arm in Heorot anbringt (V. 833b–836). 

Beowulf

In und vor dem ersten Kampf (V. 688–836) nimmt der Erzähler auch Grendels Perspektive ein. Drei Passagen, in denen der Unhold das deiktische Zentrum ist, werden mit dem Verb myntan ›vorhaben, gedenken‹ eingeführt. Sie spiegeln den emotionalen Prozess wider, den er bis zum Ende des Kampfes durchläuft. Auf dem Weg nach Heorot ist es Grendels optimistische Intention, sich einen Menschen zu holen (V. 712a); in der Halle angekommen, lacht sein Herz (V. 730b), und er möchte jeden der schlafenden Männer fressen (V. 731a); im Kampf mit Beowulf ist es sein panischer Wille, Beowulfs Klammergriff zu entkommen (V. 762a). Der Erzähler deutet bereits in V. 718 f. an, dass Grendel in Beowulf seine Nemesis finden wird ; Grendel selbst braucht für diese Erkenntnis länger.63 In seiner Agonie verliert er sich in solchen Schmerzensschreien, dass die Dänen, die den Lärm von weit hören können, vor Angst erschauern (V. 782b–788a). Zuletzt fühlt er Schmerz, denn eine Wunde klafft in seiner Schulter ; die Sehnen reißen, die Gelenke knacken (V. 815b–818a). Er kommt nur frei, indem er zu Tode verwundet seinen Arm zurücklässt, wohl wissend, dass er sterben muss: »wiste þe geornor // þæt his aldres wæs / ende gegongen, // dogera dæg-rim« ›da wusste er noch sicherer, dass er sein Lebensende erreicht hatte, die volle Zahl seiner Tage‹ (V. 821b–823a). Er flieht in den Sumpf, um an einem freudlosen Ort zu sterben, wie wiederum der Erzähler weiß (V. 819b-821a). Das Mitleid mit Grendel überlässt er aber den Rezipienten: »Beowulfe wearð // guð-hreð gyfeþe« (V. 818b–819a) ist sein Kommentar zu Grendels Tod: ›Beowulf wurde Ruhm im Kampf gewährt‹. Und er ›empfand Freude‹ über sein ›Nachtwerk‹ »Niht-weorce gefeh« (V. 827b). Der Kampf gegen Grendel wird äußerst dynamisch erzählt und hat nahezu filmische Qualität: Wir sehen Türen bersten und Möbel durch die Halle fliegen, zoomen aus dem Blickwinkel des Erzählers heraus und abwechselnd hinein in Beowulfs und Grendels Point-of-View. Anders ist das im Kampf gegen Grendels Mutter (V. 1492–1569). Der Fokalisator ist hier überwiegend der Erzähler. Der Blickwinkel der Wasserfrau wird nur mit einem Verb der Wahrnehmung eingeleitet (»beheold«, V. 1498a), als sie Beowulf in ihrem See bemerkt. Später wird noch ihr Wunsch genannt, den Tod ihres Sohnes zu rächen (V. 1546b).64 Mehr erfahren wir aus ihrer Perspektive nicht. Als Gegnerin ist sie Beowulf zunächst überlegen. Sie kann zwar nicht mit ihren Klauen durch sein Kettenhemd drin63 Auch das eint Beowulf und Grendel: Der Erzähler verrät bereits in V. 2341b–2344, dass Beowulf sterben wird ; dieser weiß es sicher erst in V. 2725b f. 64 Schon vorher bei ihrer Einführung war gesagt worden, dass sie sich an ihre »yrmþ«, ihr ›Elend‹ erinnert (V. 1259b), dass sie »gifre ond galg-mod« ›gierig und in Galgenlaune‹ ist (V. 1277a) und ihren Sohn rächen möchte (V. 1278b). 

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gen (V. 1503b–1505), schleppt ihn aber in ihre Höhle (V. 1506 f.). Der Erzähler macht keinen Hehl daraus, dass Beowulf ihr trotz seines Mutes völlig ausgeliefert ist (V. 1508–1509a). In der Höhle nehmen wir dreimal Beowulfs Blickwinkel ein und sehen die Umgebung wie er nur schemenhaft: Er nimmt wahr (»ongeat«, V. 1512b), dass er in irgendeiner feindseligen Halle ist, in der das Wasser ihn nicht erreichen kann ; er sieht (»geseah«, V. 1516b) Feuerschein und gleißendes Licht ; und er erfasst (»ongeat«, V. 1518a), wie gewaltig die Bewohnerin der Höhle ist. All das wirkt so unpräzise, als ob er nicht bei vollem Bewusstsein wäre. Doch schon im nächsten Halbvers wird erzählt, dass Beowulf zusticht ; vier Verse später erkennt er aber, dass das Schwert Hrunting nutzlos ist (V. 1522b f.). Damit ist er am Tiefpunkt dieses Kampfes angelangt. Aber ein Blick in seine Gedanken zeigt: Beowulf denkt erneut an Ruhm (V. 1530a). Das bringt die angemessene Kampfeshaltung zurück: Er wird wieder zum wütenden Krieger (V. 1532a), und sein Selbstvertrauen kommt zurück (V. 1533b). Was folgt, ist ein Ringkampf zwischen dem erneut wutentbrannten Recken (V. 1539b) und der Seewölfin. Beowulf zieht sie an den Haaren65 und schlägt sie nieder. Sie bringt ihn daraufhin zum Stolpern und drückt ihn nieder. Das gibt ihr Gelegenheit, ihr »seax« ›Kurzschwert‹ (V. 1545b) zu ziehen,66 doch Beowulfs »breost-net« ›Kettenhemd‹ hält stand (V. 1548a). Denn dieses schmiedete kein Geringerer als Wieland selbst (V. 453–455a); es wird vom Erzähler in zwei Nominalphrasen gerühmt (1552–1553a). Gott selbst wird jedoch für den folgenden Sieg verantwortlich gemacht (V. 1553b–1555a), weil er Beowulfs Blick auf das rettende Schwert unter den Waffen in der Unterwasserhöhle lenkt (V. 1557). Was danach genau passiert, erfahren wir nicht: Gerade noch lag Beowulf auf dem Rücken, nun hält er das von Riesen gefertigte Schwert in der Hand.67 Damit schlägt er Grendels Mutter den Kopf ab. Wie schon bei Grendel ›freute 65 Im Manuskript steht »eaxle« ›Schulter‹. Fulk (Anm. 1) wie viele andere auch emendiert aber zu »feaxe« ›Haare‹ (V. 1537a). Jemanden an den Haaren zu ziehen, war ein Rechtsakt der Besitzergreifung und Erniedrigung; vgl. Eric G. Stanley: Did Beowulf Commit Feaxfeng Against Grendel’s Mother?, in: Notes & Queries 23 (1976), S. 339 f. 66 Beowulf zieht später im Kampf mit dem Drachen ein wæ ll-seax (V. 2703b). Nach Orchard (Anm. 26), S. 150 wird diese Waffe eher mit Monstern als mit Menschen assoziiert. Stephen Pollington: The English Warrior from Earliest Times till 1066, expanded & updated ed., Firthgarth 2001 fügt an: »[T]he short, heavy backed seax is a weapon for stabbing, for dealing deep-thrust wounds to the abdomen and vital organs. It is also a hidden, personal weapon (rather than a public, family one) and its use requires carefully calculated strokes ; it is the weapon of a man who fights for his own account, his own fame and profit ; and who fights to win« (S. 126). 67 Vgl. Orchard (Anm. 1), S. 197 f. 

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der Krieger sich über sein Werk‹: »secg weorce gefeh« (V. 1569b). Dass der Ausgang dieses Kampfes knapp war, weiß Beowulf genau (vgl. V. 1655– 1666a). Auch der letzte Kampf (V. 2538–2711) wird anders erzählt als derjenige gegen Grendel. Zum einen wird er durch zwei Reden von Wiglaf unterbrochen (V. 2633–2660, 2663–2668), zum anderen nehmen wir erneut überwiegend die Perspektive des Erzählers ein und nur selten die der Kämpfenden.68 Über Beowulfs Verfasstheit erfahren wir, dass er, obwohl ihn vor dem Kampf böse Vorahnungen plagten (V. 2426–2489), auch jetzt wieder zur angemessenen mentalen Haltung findet: Er ist so »gebolgen«, dass er laut schimpfend in den Kampf zieht (V. 2551–2553), was wiederum die Aggression des Drachen entfacht. Auch gealtert vertraut Beowulf auf sich (V. 2540b f.), und zwar nur auf sich. Das ist dieses Mal aber ein fataler Fehler, denn er kann den Drachen nur mit Wiglafs Hilfe besiegen. Wieder zerbricht ihm ein Schwert, dieses Mal Nægling (V. 2680b). Der Erzähler erklärt: Him þæt gifeðe ne wæs þæt him irenna ecge mihton helpan æt hilde ; wæs sio hond to strong, se ðe meca gehwane mine gefræge swenge ofersohte þonne he to sæcce bær wæpen wundum heard ; næs him wihte ðe sel. (V. 2682b–2687) Es war ihm nicht gegeben, dass ihm eiserne Klingen im Kampf zu helfen vermochten ; zu stark war die Hand, die jedes Schwert, so habe ich gehört, mit jedem Schlag überforderte, wenn sie eine von Wunden gehärtete Waffe in den Kampf trug ; das war in keiner Weise zu seinem Besseren. Dass Nægling bricht, erklärt somit auch, warum Beowulf gegen Grendel ohne Waffe kämpfen musste: Nicht nur Grendel kann nicht mit Eisen kämpfen – Beowulf kann es auch nicht. Warum Beowulf mit einer für ihn untauglichen Waffe in den Kampf zieht, erklärt Gwara mit Opferbereitschaft oder Leichtsinn ; letzterer geht mit oferhygd ›Stolz, Überheblichkeit‹ einher, die Gwara durchweg als Motor für Beowulfs Handeln ansetzt.69 Bemerkenswert ist, dass das einzige Schwert, das Beowulfs Kraft 68 Beowulf: V. 2540b f., 2542–2546a, 2550b, 2678a ; Drache: V. 2554b f., 2561 f., 2580b f.; Wiglaf: V. 2599b f., 2604b f., 2697a. 69 Gwara (Anm. 9), S. 302 f. 

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je standhält, dasjenige in der Höhle von Grendels Mutter ist, das von Riesen gefertigt wurde (V. 1562b). Demnach ist unser Held nicht nur überragend groß (s. o. S. 123), sondern auch übermenschlich stark. Er gehört wie sein Widersacher zu den oben besprochenen fürchterlichen Gegnern im Kampf: Jeder der beiden, Mensch wie Drache, ist des anderen aglæ ca (V. 2592a ; s. o. S. 124 f.);70 beide erschauern vor der Gewaltbereitschaft ihres Gegenübers (V. 2564b f.). Beowulf ist zwar entsetzt über die Kraft des Drachen, und der Erzähler weiß, dass er gerne länger gelebt hätte (V. 2570b–2575a, 2589–2591a). Trotzdem wird der sterbende Held in seinen letzten Worten als ein König vorgeführt, der vorbildlich die Kontrolle über sein Sterben bewahrt: Beowulf vermacht Wiglaf all seine Besitztümer und ernennt ihn zu seinem Nachfolger ; er dankt Gott für den Schatz und lässt ihn vor sich auftürmen, um leichter sterben zu können (V. 2743b–2751, 2794–2801, 2809–2816); für sein Volk solle der Schatz sein (V. 2797b); und er erklärt, wie er bestattet werden möchte (V. 2802–2808). Als exorbitanter Held jedoch hinterlässt er einen Schaden für seine Königsherrschaft. Sprachrohr des Textes dafür ist Wiglaf. Nach dem Tod Beowulfs legt er den anderen Gefolgsmännern dar, dass oft viele Männer leiden müssten wegen des Willens eines einzigen. So sei es ihm und den anderen auch ergangen (V. 3077 f.). Damit impliziert er, dass Beowulf zum einen Trauer über seine Männer brachte, zum anderen antizipiert er damit die politische Krise, die das Volk der Gauten vermutlich ereilen wird.71 Er betont, dass er und die anderen Krieger ihrem Gefolgsherrn abgeraten hätten, gegen den Drachen zu kämpfen (V. 3079–3084a). Beowulf hätte also auch auf diesen Kampf verzichten können. Noch zu Beowulfs Lebzeiten erklärt Wiglaf den anderen Männern, dass Beowulf von vornherein alleine kämpfen wollte – wie immer, fügt er an, denn er sei ja bekannt dafür, einer zu sein, der die Gefahr suche (V. 2642b–2646a).72 So offenbaren sich an Beowulfs Entschlossenheit zum Einzelkampf, die sich über alle seine Kämpfe erstreckt, ein Stolz und eine Überheblichkeit – die typische Haltung eines exorbitanten Helden –, die vom Ende des Epos her negativ bewertet werden. Beowulf

70 Orchard (Anm. 1), S. 233–237. 71 Gwara (Anm. 9), S. 243 f. 72 Die hier artikulierte Ambivalenz von Beowulfs Heldentum wird im Übersetzungsproblem von »dæda dollicra« (V. 2646a) pointiert sichtbar: Sind es positiv ›mutige Taten‹, die Beowulf vollbringt, oder negativ ›vermessene‹, gar ›törichte Taten‹? Vgl. Gwara (Anm. 9), S. 245 f.; Orchard (Anm. 1), S. 262. 

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riskiert und verliert zuletzt sein Leben und bringt so Trauer und womöglich Krieg über sein Volk.73 Das Ende des Beowulf beschreibt zum einen die Feuerbestattung des Helden (V. 3137–3155), zum anderen die Einweihung seines Kenotaphs (V. 3156–3182). Wir wissen schon, dass Beowulfs Tod nichts Gutes für die Gauten bedeutet, denn die Schweden werden das Land aller Voraussicht nach angreifen (vgl. V. 2922–2927). Das Leid einer kriegerischen Gesellschaft offenbart sich im schwarzen Rauch von Beowulfs Feuerbestattung, der den Himmel verdunkelt (V. 3155b), und im Trauergesang der Gautin, die sich vor Invasion fürchtet, vor Erniedrigung und Gefangenschaft (V. 3150b–3155a). Das Kenotaph wird mit dem Schatz des Drachen ausgestattet, der laut Erzähler so unnütz für die Menschen ist wie zuvor (V. 3166–3168).74 Es ist bittere Ironie, dass Beowulf in dem Glauben stirbt, der Schatz käme seinem Volk zugute, das in keiner Weise von ihm profitieren wird.75 Der Erzähler berichtet aber auch, dass Beowulfs Grabmal weithin sichtbar ist und so den Seeleuten Orientierung gibt (V. 3157b f.). Zwölf Männer reiten um das Monument herum, loben Beowulfs edle Männlichkeit und seine heroischen Taten (V. 3173–3174a). Das Volk sagt, dass er der beste und gütigste aller weltlichen Könige gewesen sei, der großzügigste und ehrenhafteste (V. 3178b–3182). Und der Erzähler kommentiert, es sei angemessen, dass man seinen Freund und Herren mit Worten preise und im Herzen liebe, wenn dieser sterbe (V. 3174b– 3177). In dem Kontrast dieses Lobpreises zur Trauer und Furcht der Gauten wird am Ende des Epos noch einmal die Ambivalenz eines Helden illustriert, der zwischen Verantwortung und Leichtsinn, Heldenmut und Hybris, Klarsicht und Verblendung changiert, den seine kriegerische Monstrosität mit seinen monströsen Kampfgegnern vereint.

73 Vgl. Baker (Anm. 3), S. 232–239. Im Rückblick erhält dadurch auch Hrothgars Rede nach dem Kampf mit Grendels Mutter Sinn, in der er Beowulf unter anderem vor übergroßem Stolz warnt (V. 1709b–1768). 74 Vgl. Owen-Crocker (Anm. 6), S. 83. 75 Fulk u. a. (Anm. 8), S. cxiv. 

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*\SVFMXERXI-IPHIRMQNibelungenlied1

In der schriftlichen Großepik um 1200 nimmt das Nibelungenlied eine Sonderstellung ein. Das betrifft vor allem die Einschätzung von Gewalt. Anders als in den höfischen Romanen, besonders denen um König Artus, die darauf zielen, einen harmonischen Zustand zwischen Einzelnem und Gesellschaft herzustellen und das Handeln des ritterlichen Helden an höhere Ziele zu binden, geht es in der mittelalterlichen Heldenepik darum, die überlegene Gewalt der Protagonisten zu feiern und in blutigen Kämpfen auszustellen. Auch das Nibelungenlied tut das, weicht aber zugleich davon ab, indem es die Gewalt in den Untergang einer ganzen Welt münden lässt.2 Das Epos speist sich aus einer lange mündlich überlieferten heldenepischen Tradition wie auch die später verschriftlichten Epen um Dietrich von Bern. Es entwirft deshalb ein Heldenbild, das im Vergleich mit den Protagonisten des höfischen Romans archaisch wirkt, lässt aber auch ein Unbehagen daran erkennen. Ein zweites Moment kommt hinzu. Der Held des höfischen Romans ist auf eine Gemeinschaft bezogen – z. B. die Tafelrunde um König Artus, in jedem Fall aber auf eine Hofgesellschaft. Das Verhältnis zu ihr gerät auf die eine oder andere Weise in die Krise und muss durch Anstrengung des Helden wiederhergestellt werden – sei es, wie in den ArtusRomanen von Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue, im Durchlaufen des Doppelwegs, sei es, wie in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, durch zeitweise Selbstauslöschung ; es kann aber auch – wie im ProsaLancelot – zum Untergang von Held und Gemeinschaft führen oder – wie in den Tristanromanen – in radikale Entfremdung münden ; immer aber wird die Spannung zwischen beiden Polen in einem langen und windungsreichen Prozess ausgetragen. Dabei können gerade die Eigenschaften und 1 Der Beitrag sucht auf eine bisher nur schwach beleuchtete Seite Siegfrieds im Nibelungenlied aufmerksam zu machen und den Wandel des Heldenbildes in der mittelalterlichen Epik um 1200 zu erörtern. Auf umfangreiche Literaturangaben zum Nibelungenlied habe ich verzichtet und verweise für sie auf meine Bücher: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998; Das Nibelungenlied, 4., neu bearbeitete u. erweiterte Ausgabe, Berlin 2015. – Einige der hier vorgestellten Thesen wiederhole ich in einem von Andrea Sieber herausgegebenen Tagungsband. 2 Zu den dabei beobachtbaren Erzählstrategien vgl. bes. Müller: Spielregeln (Anm. 1). 

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Wertorientierungen, denen der Held zunächst die Anerkennung der Gesellschaft verdankt, die Krise verursachen. Der Held erlebt die Krise daher nicht als äußeren Angriff auf seine Person, sondern als Selbstentfremdung.3 Eine solche Konstellation sucht man in der Heldenepik vergeblich. Der Held steht zunächst einmal für sich selbst. Er verkörpert zwar in der Gesellschaft die am höchsten angesehenen Eigenschaften und Fähigkeiten des Einzelmenschen in hervorragender Weise und stellt sie durch sein Handeln unter Beweis. Er kann mit anderen in Konflikte geraten und an diesen Konflikten zerbrechen, aber nie wird dabei das, was ihn vor anderen auszeichnet, in Frage gestellt. Anders als der höfische Held hat er keine Anfechtungen. Handlungsauslösend ist deshalb häufig der Verrat. Der Verrat bedroht den Helden von außen, stellt sein Heldentum nicht infrage. Siegfried wird durch den Verrat Hagens als Held nicht beschädigt, ebenso wenig wie Hagen durch den Verrat Kriemhilds.4 Aus dieser hier vereinfachend wiedergegebenen Konstellation resultiert die Ansicht, dass der Held, der die auf den Einzelmenschen bezogenen Höchstwerte der Gemeinschaft repräsentiert, sich auch zugunsten der Gemeinschaft für sie einzusetzen hat. Das ist eine Ansicht, die bis in die jüngste Zeit die Auffassung vom Helden prägt. An all die modernen Helden, die Folgen von Katastrophen bekämpfen – ob von Nine eleven, der Pandemie oder der Flut im Ahrtal –, an all die Helden der Arbeit oder des Friedens heftet sich die Erwartung, dass sie tun, was im Interesse aller getan werden muss, dass sie es nur besser und aufopferungsvoller tun als der Rest der Menschheit. Darin wirkt die heute gängige Vorstellung, dass der Held Außerordentliches unter Opfer des eigenen Lebens für die Gemeinschaft leistet. Sie prägt auch unser Bild von jenen alten Heroen der europäischen Heldenepik. Dieser Ansicht hat der Nordist Klaus von See in einer Reihe von Aufsätzen widersprochen, in denen er fragte, ob das wirklich für die berühmtesten Helden der europäischen Literatur zutreffe. Bei Achilles, Gun3 Die Sachverhalte habe ich vereinfacht, um die Gegensätze herauszustellen ; vgl. die zahlreichen Aufsätze von Walter Haug zum Gegenstand, gesammelt in: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989; Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995; Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003. 4 Der in der Forschung gelegentlich postulierte angebliche Bruch zwischen erstem und zweitem Teil des Nibelungenliedes ist keiner, denn die Konstellation des Helden, der sich gegen Verrat zu behaupten hat, ist beide Male dieselbe: Siegfried wird beseitigt wie Hagen, ohne dass der mindeste Zweifel daran aufkommt, dass sie die besten Helden sind. 

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nar, Roland oder Siegfried fällt es nämlich bei näherem Zusehen schwer, die Leistung für die Gemeinschaft zu erkennen. Riskiert Achilles in der Ilias nicht um der eigenen Ehre willen eine Niederlage der Griechen vor Troja und den Sieg der Trojaner? Was bringt im Atlilied Gunnars Harfenspiel in der Schlangengrube, außer ihm selber den Ruhm trotziger Selbstbehauptung? Verweigert Roland in der Chanson de Roland nicht das Blasen des Horns, das Hilfe gegen die Heiden herbeirufen würde, damit er seine proesce ›Kampftüchtigkeit‹ unter Beweis stellen kann, und opfert er dafür nicht die Nachhut des kaiserlichen Heers? Und was tut schon Siegfried für die Gemeinschaft, außer dass er dem König durch Betrug eine Frau verschafft und sich bei dieser Gelegenheit als der Beste von allen erweist? Sind nicht die Folgen für die Gemeinschaft, in deren Interesse der Held angeblich handelt, in jedem Fall desaströs? Die These Klaus von Sees ist deshalb: Jene Urbilder des Heroischen sind selbstbezogen und scheren sich nicht groß um die anderen. Er hat die Frage zugespitzt und für die ältere Heroik entschieden in Abrede gestellt, dass der Held stellvertretend für die Gemeinschaft eine positive Tat vollbringe: Ist der Held […] durchweg ein positiver Held, ein Vorbild an Verantwortungsbewußtsein, der selbst noch in einer exzessiven Tat die Ehre seiner Gefolgschaft, seines Stammes, seines Vaterlandes wahrt und rettet? Oder gewinnt er seine Faszination gerade dadurch, daß er seinen Selbstbehauptungswillen bedenkenlos auslebt, also nicht nach den Regeln einer Gemeinschaftsethik handelt, sondern so, wie es sich der gemeine Mann nicht erlauben darf ?5 In Auseinandersetzung mit Gerd Wolfgang Weber, der Heroen als Protagonisten der Gemeinschaft sieht, für die sie sich opfern, arbeitet er heraus: Kern des Heroischen sei das »Exorbitant-Faszinierende«, die »Exorbitanz, Maßlosigkeit und Unbesonnenheit manchen heldischen Verhaltens«,6 die übermäßige, unbändige Kraft, die alle Normen sprengt, nicht aber die Instrumentalisierung dieser Kraft für die soziale Ordnung. Vor allem der homerische Achill, der selbstbezogen und rücksichtslos handelt, ist von 5 Klaus von See: Held und Kollektiv, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 122 (1993). S. 1–35, hier 2; vgl. weiteres in der Einführung zu diesem Buch, S. 12–14. 6 Ebd., S. 6 u. 22; Gerd Wolfgang Weber: »Sem konungr skyldi«. Heldendichtung und Semiotik. Griechische und germanische heroische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur, in: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag, hg. v. Hermann Reichert u. Günter Zimmermann, Wien 1990, S. 447–481. 

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See zufolge ein Beispiel für die destruktive Seite des Heros. Er verkörpert nicht nur exorbitante Kräfte, sondern setzt diese auch auf Kosten der Gemeinschaft ein, folgt allein dem Maßstab seiner eigenen Ehre, schert sich nicht um das Ganze und setzt sich über alle Versuche friedlicher Schlichtung hinweg. Von See ist damit auf Widerstand gestoßen, denn die heutige Vorstellung vom Heros ist eine ganz andere: Nicht nur in Webers eigenwilligen Interpretationen von Heldenepik hält sich, ausgehend vom Idealbild des altruistischen Helden, die Vorstellung, dass der Held für die Gemeinschaft vollbringt, was diese ohne ihn nicht könnte, ob nun im Krieg, in der Katastrophenhilfe oder in Werken der Barmherzigkeit. Und so ein Held scheint auch Siegfried zu sein, wenn er König Gunther den anfangs ziemlich aussichtslosen Krieg gegen die Dänen und Sachsen abnimmt, ihm bei anderen Gelegenheiten hilft und wenn seine Hilfsbereitschaft mittels des Fakes eines neuen Krieges gegen die Dänen und Sachsen sogar noch für seine Ermordung instrumentalisiert werden kann. Die Sympathielenkung des Epos gehört dieser Lichtgestalt, die durch die Undankbarkeit Gunthers und den Verrat Hagens zur Strecke gebracht wird. Siegfrieds letzter Auftritt, sein Sieg im Wettlauf zur Waldquelle, ist ein Triumph eines überlegenen Rittertums, ein Triumph auch höfischer Prachtentfaltung und höfischer zuht (Str. 972–979).7 Aber trifft das die Gestalt Siegfrieds wirklich vollständig? Ich glaube, dass dieses Bild einseitig ist, dass das Nibelungenlied auch noch ein ganz anderes Bild Siegfrieds entwirft und an seinem Beispiel die Auseinandersetzung des christlichen und höfischen Mittelalters mit dem alten Heroismus verhandelt. Dieses Problem stand bisher nicht im Fokus der Forschung, sondern eher die höfischen Komponenten des Nibelungenliedes, in der Forschung lange meist als Schneiderstrophen, als jüngere Übermalungen des epischen Urgesteins diskreditiert,8 erst in letzter Zeit als konstitutive Elemente der Sagendeutung erkannt. Man hat zwar die höfische Domestizierung Siegfrieds beobachtet, nicht aber den Heros, der erst domestiziert werden muss. Gewiss, Siegfried ist ein hervorragend am Hof erzogener Ritter und im höfischen Dienst um seine Minnedame Kriem7 Ich zitiere nach: Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar, hg. v. Joachim Heinzle, Berlin 2013. Heinzle behält die Strophenzählung der sog. ›kritischen‹ Ausgaben von Bartsch/de Boor / Wisniewski bei, der ich auch folge, obwohl sie nicht mit der edierten Handschrift B übereinstimmt. Der Grund ist, dass auf ihr die allermeisten Interpretationen des Nibelungenliedes fußen. 8 Vgl. die älteren Urteile bei Jan-Dirk Müller: Sîvrit: »künec« – »man« – »eigenholt«. Zur sozialen Problematik des Nibelungenliedes, in: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 7 (1974), S. 85–124, hier 85 f. 

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hild ein Muster an Geduld, Entsagung und Zartgefühl.9 Umso mehr hat sich die Forschung darüber entrüstet, dass er sich bei seinem ersten Auftreten in Worms so sehr daneben benimmt und aus heiterem Himmel fordert, im Zweikampf mit Gunther gewaltsam dessen Herrschaft zu erkämpfen (Str. 107–110).10 Dabei entspricht dieser Auftritt dem, was der Heros Siegfried bis zu diesem Punkt ist. Nach der Vorgeschichte, die Hagen erzählt, ist sein Auftritt in Worms alles andere als überraschend. Hagen erzählt, wie »der helt aleine ân alle helfe reit« ›allein ohne alle Hilfe ritt‹ (Str. 88,1) und in der Wildnis, einer Anderwelt – es gibt dort Riesen, Zwerge und Drachen – auf die Nibelungen stößt. Man ist geneigt, diese Bemerkung über seine Vereinzelung zu überlesen, aber die Einführung dieser Szene qualifiziert Siegfried bereits als Heros. Bei der höfischen Erziehung des jungen Königssohns war das Gegenteil erzählt worden: »Vil selten âne huote man rîten lie daz kint« ›Nie ließ man den jungen Mann ohne Schutz11 reiten‹ (Str. 25,1). Dagegen ist Siegfried beim Kampf im Nibelungenland auf sich allein gestellt, wie das Helden zu sein pflegen. Siegfried wird als absolut isoliert von jedem Sozialverband eingeführt. Helfe (und rât) ist das, was man im mittelalterlichen Feudalverband von den anderen zu erwarten hat, der Herr von seinen Vasallen, diese von ihrem Herrn ; hierbei spielen auch Verantwortungsbewusstsein und Opferbereitschaft eine Rolle. Für Siegfried aber gibt es in dieser Episode all das nicht. Siegfrieds erste Heldentat findet außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung statt, und das bedeutet zugleich: außerhalb von Raum und Zeit. Man hat seit langem beobachtet, dass im exakten Zeitgerüst des Epos zwischen Aufbruch vom elterlichen Hof in Xanten und Ankunft in Worms bei der kurzen Reise eigentlich kein Platz für Horterwerb und Drachenkampf ist (was die Bearbeitung *C durch einige unklare Angaben zu korrigieren versucht und spätere Fassungen der Sage verschleiern, indem sie das Abenteuer an den Drachenfels bei Königswinter am Rhein verlegen). Die Lücke im Zeitgerüst zeigt an, dass Siegfrieds erste Taten in einer anderen Zeit stattfinden. Ähnliches gilt vom Raum. Er liegt in einem Nirgendwo. Später erfährt man, dass das Nibelungenland jenseits von Isenstein liegt, am Rand der bewohnten Welt, und dass nur Siegfried es erreichen kann. Das ändert sich: Wenn Gunther nach Kriemhild und Siegfried sendet, um sie zum verhängnisvollen Fest einzuladen, finden seine Boten die beiden »ze Nibelunges bürge […] ze Norwaege in der marke« 9 Heinz Achauer: Minne im Nibelungenlied, München 1967. 10 Zitate der Forschung über sein ungebührliches Verhalten bei Müller (Anm. 8), S. 89. 11 »Ohne Aufsicht«, wie Heinzle übersetzt, ist kaum gemeint, vielmehr ›ohne Bedeckung, ohne Schutz‹; der Terminus nimmt das ân alle helfe in Str. 88,1 vorweg. 

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›in der Burg Nibelungs, in der Mark Norwegen‹ (Str. 739,2 f.), weit weg also, aber auf gewöhnlichem Weg erreichbar. Noch später ist das Nibelungenland Gernot und Giselher, wenn sie den Schatz holen, problemlos zugänglich. Daran zeigt sich das Bemühen des Nibelungenliedes, das Heroische allmählich in die höfische Welt einzugemeinden. Hier aber, in Hagens Bericht, liegt das Land Schilbuncs und Nibeluncs in nebelhafter Ferne. Wenige diffuse Raumangaben genügen: »vor eime berge« (Str. 88,2) trifft Siegfried auf die Nibelungen, »ûz eime holem berge« ›aus einer Berghöhle‹ (Str. 89,2) holt man den Schatz ; Siegfried kommt »sô nâhen« (Str. 90,1), dass man ihn sieht ; beim erbitterten Zweikampf mit Alberich laufen die Kämpfer »an den berc« (Str. 97,2). Das ist alles an räumlicher Konkretisation. Obwohl Siegfried fremd ist, weiß man sofort, wer er ist: »hie kumt der starke Sîvrit, der helt von Niderlant« ›hier kommt der starke Siegfried, der Held aus Niderlant‹ (Str. 90,3), sagt einer der Leute der Nibelungenkönige – so wie auch Hagen Siegfried erkennt, obwohl er ihn noch nie gesehen hat (Str. 86,2). Bekannt ist man normalerweise den Menschen in dem Sozialverband, dem man angehört ; in der Heroenwelt gelten andere Regeln. Das Nibelungenlied erzählt mehrfach, wie dem ersten Anschein nach Fremde erkannt werden: bei Rüdiger, bei Wärbel und Swemmel. Stets ist es auch hier Hagen, der Vielerfahrene, der sie identifiziert, weil er sie schon einmal gesehen hat oder Zeichen ihrer Identität kennt. Bei Siegfried ist es anders: Ihn kennt man, obwohl es kein empirisches Zeichen dafür gibt, dass er der »starke Sîvrit« ist.12 Der Held ist nicht abhängig von einem Sozialverband. Seine übermäßige Stärke ist voraussetzungslos da und insofern bekannt. Der Held bewegt sich außerhalb der gewöhnlichen Ordnungen, in der Fremde, aber als Helden erkennt man ihn trotzdem,13 so wie auch er auf alles, was er sieht und hört, gleich als Held reagiert. Dies soll offenbar der tautologisch klingende Vers über die Krieger Schilbuncs und Nibeluncs aussagen: »die wâren im ê vremde, unz er ir künde dâ gewan« ›die kannte er nicht, bis er sie dort kennenlernte‹ (Str. 88,4), und zwar indem er sie tot schlägt. Hatte die zweite Âventiure den jungen Siegfried in vielfacher Hinsicht als Glied der Feudalordnung gezeigt – genealogisch und dynastisch als Sohn der Könige von Niderlant, sozial als höfischen Ritter, der mit Altersge12 Zum Erkennen im Nibelungenlied vgl. Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008, S. 63–70. 13 Dazu allgemein Jan-Dirk Müller: Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs Willehalm, dem Nibelungenlied, dem Wormser Rosengarten A und dem Eckenlied, in: Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Fs. f. Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, hg. v. Gertrud Blaschitz u. a., Graz 1992, S. 87–111. 

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nossen die Schwertleite empfängt, und als Minneritter, der das Objekt des Begehrens der Damenwelt ist –, schneidet Hagens Bericht all diese Beziehungen ab. Siegfried ist nur noch Held. Deshalb gibt es für ihn auch keine Regeln, etwa höfischen Verhaltens, sondern nur den Kampf. Die anschließenden Geschehnisse sind dunkel, die näheren Umstände unklar: Siegfried findet »vor eime berge […] bî Nibelunges horde vil manegen küenen man« ›vor einem Berg beim Nibelungenschatz viele kühne Männer‹ (Str. 88,2 f.), d. h. einen offenbar bekannten, mythischen Schatz sowie Krieger, vielleicht zu dessen Verteidigung. Auch die Nibelungen und ihr Hort werden als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt. Man wird sagen: Das sagenkundige Publikum hatte schon einmal mindestens dunkel davon reden gehört und verband damit eine vage Vorstellung. Trotzdem ist auffällig, dass jeder erklärende Zusammenhang hier und im Folgenden verweigert wird. Der Hort gehört einfach zu der Welt, in der Siegfried sich jetzt bewegt. Was nun geschieht, erscheint als ›eine seltsame Geschichte‹ »seltsaeniu maere« (Str. 90,4), Anlass, sich zu »wunderen« (Str. 89,4). Der Hort wird aus dem Berg getragen: »Nû hoeret wunder sagen, / wie in wolden teilen der Nibelunge man« ›jetzt hört Erstaunliches: wie ihn die Männer der Nibelungen aufteilen wollten‹ (Str. 89,2 f.). Warum man den Hort teilen will, wird nicht gesagt ; es geschieht offensichtlich im Interesse der Fürsten Schilbunc und Nibelunc. Diese bitten Siegfried »mit gemeinem râte« und »mit vlîze« (›einvernehmlich‹ und ›nachdrücklich‹, Str. 91,2 u. 4), die Teilung vorzunehmen, offenbar in ihrem Interesse. Sie vertrauen dem Fremden an, was den Betroffenen (ihren Leuten?) möglicherweise Schwierigkeiten machen würde. Siegfried soll für seinen Dienst »ze miete daz Nibelunges swert« ›zum Lohn Nibelungs Schwert‹ (Str. 93,1) erhalten – wieder ein mythischer Gegenstand, den man offensichtlich zu kennen hat. Vorstellbar ist, dass es sich um eine Erbteilung handelt, die für die Beteiligten in irgendeiner Weise problematisch ist. Deshalb soll sie von einem Mediator durchgeführt werden, auf den sich die Kontrahenten einigen (»mit gemeinem râte«) und der für seine Mühwaltung (»dienste«, Str. 93,2) eine Entschädigung erhalten soll, ein Schwert, das offenbar aus dem Fundus des Hortes stammt (»Nibelunges swert«). Das wäre ein rechtsförmiges Verfahren, das in einem zwar mythischen, aber differenzierten Sozialgebilde wie ein gewöhnlicher Rechtsakt vorgenommen werden soll. Dann aber kippt das Geschehen: »ern kund ez niht verenden. si wâren zornec gemuot« ›er konnte es nicht zu Ende bringen. Sie waren zornig‹ (Str. 93,4). Die Gründe, aus denen die Teilung misslingt und Streit ausbricht, bleiben im Dunkeln: Die gerechte Teilung scheint eine unlösbare 

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Aufgabe zu sein.14 Sind die Vertragsparteien mit dem Vorschlag der Teilung Siegfrieds unzufrieden? Jedenfalls geraten sie in zorn. Die Könige, eben noch einigungsbereit, werden zu Gegnern. Das ist Anlass für sie, ihre Leute gegen den Helden zu schicken: »Si hêten dâ ir vriunde zwelf küene man, / daz starke risen wâren« ›Sie hatten da zwölf kühne Männer unter ihren Freunden ; die waren starke Riesen‹ (Str. 94,1 f.). Dem gewaltbereiten zorn der Könige antwortet der habituelle Kampfzorn des Heros: »die sluoc sît mit zorne diu Sîvrides hant« ›die erschlug danach Siegfried im Zorn‹ (Str. 94,3). Die Weise, wie der Konflikt eskaliert, schiebt alle Rücksichten des vereinbarten Schlichtungsvertrages und der Rolle des unparteiischen Mediators beiseite. Die Mediation wird nicht etwa, weil offenkundig vergeblich, einfach beendet, sondern führt zum offenen Konflikt ; die Auseinandersetzung zwischen den Teilungsparteien geht in den Konflikt mit dem Mediator über. Was »miete« für die Mediation sein sollte, wird zur Waffe, mit der der Mediator die streitenden Parteien liquidiert. Man ist mitten in einer heroischen Welt, in der rechtliche Regeln nicht greifen. Siegfried schlägt die zwölf Riesen der Könige tot, bezwingt 700 ihrer »recken« (Str. 94), unterwirft sich »daz lant zuo den bürgen« ›das Land mitsamt den Burgen‹ (Str. 95,4). »Dar zuo die rîchen künege die sluoc er bêde tôt« ›Die mächtigen Könige, die schlug er außerdem beide tot‹ (Str. 96,1). Fazit: »Die dâ torsten vehten, die lâgen alle erslagen« ›Die zu kämpfen gewagt hatten, die lagen alle erschlagen‹ (Str. 98,1). Auch den Zwerg Alberich besiegt er, der seine Herren rächen will, dann aber Siegfried einen Eid leisten und als Knecht dienen muss (Str. 99). Allein und mit übermenschlicher Kampfkraft hat der Held die Übermacht von Riesen, Zwergen, einem Reckenheer bezwungen und sich ein fremdes Land angeeignet. Siegfrieds »grôze[r] sterke« (Str. 96,4) kann niemand widerstehen ; er ist der »vreislîche« ›schreckenerregende‹ Mann (Str. 97,4). Der höfische Liebling der Damen, der Siegfried in Xanten war (Str. 26,4), scheint von einer anderen Welt zu sein. »[A]lsô grôzer krefte nie mêr recke gewan« ›noch nie hat ein Held über solche Kraft verfügt‹ (Str. 99,4). Seine Taten sind die eines Heros. Beim geringsten Widerstand schlägt Siegfried zu. Er handelt rücksichtslos, allein für sich selbst. Was den Königen gehörte und er gerecht verteilen 14 Hängt das vielleicht mit der Unerschöpflichkeit des mythischen Schatzes zusammen, der rationale Prozeduren wie eine Teilung nicht zulässt? Später, im Fortgang des Nibelungenliedes, wird seine mythische Größe auf Normalmaß gestutzt: Der Hort ist zwar sehr groß, und man braucht für seinen Abtransport viele Wagen, aber es gelingt doch, ihn nach Worms zu bringen (Str. 1116–25). Dieser Umgang mit mythischen Verhältnissen ist insgesamt für das Nibelungenlied typisch. 

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sollte, eignet er sich selbst an. Aus der Mediation wird Usurpation. Kein Wort über das Ziel des Kampfes, kein Wort über seine Legitimität. Aus dem Rechtsakt einer Besitz-, vielleicht Erbteilung entspringt vernichtende Gewalt, die auch den größten Gegenkräften überlegen ist. Fragen des Rechts und der Moral spielen hier keine Rolle. Welches Recht hat Siegfried denn, sich den Schatz anzueignen und dazu gleich noch die Herrschaft über das Nibelungenland? Im Kontrast dazu erfolgt, wenn nach seinem Tod Gernot und Giselher den Schatz für Kriemhild nach Worms holen, die Übergabe in rechtlichen Bahnen: Alberich hat keinen Grund, den Königen den Hort zu verweigern, denn er ist Kriemhilds Morgengabe (Str. 1118–1120); und dass, wie Bearbeitung *C und einige Mischhandschriften vervollständigen, die Könige bei dieser Gelegenheit gleich auch noch das Nibelungenland unterwerfen, ist Teil von Kriemhilds Rechtsanspruch.15 Dagegen ist zuvor Siegfrieds Recht allein das des Stärkeren, des überlegenen Heros. Die Vorgänge werden erzählt, als hingen sie logisch zusammen ; und es ließe sich ein komplexer Motivationszusammenhang denken, der all diese Aktionen und Gegenaktionen schlüssig erklärte. Nichts davon im Text. Siegfried handelt einfach so, wie ein Held handelt: Er kämpft. Die Erzählung folgt allein einer heroischen Logik. Man muss sich einmal klarmachen, welche Fragen Hagens Bericht nicht stellt und welche Motivationen er nicht liefert. Sie wären auch bei einem Helden unangemessen. Der Held ist nicht nach moralischen Kategorien zu beurteilen, und er handelt im rechtsfreien Raum. Es bleibt das brutum factum. Klar ist nur, dass der Dienst des Helden scheitert und der allein auf sich gestellte Held kommentarlos die Könige und ihre Herrschaft beseitigt. Der Kampf beweist die Exorbitanz von Siegfrieds Körperkräften, die sich nicht in Dienst nehmen lassen, die keine Rücksicht nehmen auf die »miete«, die er erhalten hat, und die sich durchsetzen, ohne dass man nach Recht und Unrecht fragt. Deshalb scheinen Siegfrieds Taten bloß groß und bewundernswert. 15 Siegfrieds Eroberungen – Schatz, Tarnmantel, Land – gehören zusammen. C 1138 macht nur explizit, dass Gernot und Giselher auch das Land unterwerfen ; und wenn in Jdh 1122A diese Strophe übernommen ist, dann nicht um Gernot und Giselher eines Unrechts zu beschuldigen, sondern weil das in der Aneignung des Hortes impliziert ist. Joachim Heinzle sieht darin eine schuldhafte Usurpation Gernots und Giselhers: Mißerfolg oder Vulgata? Zur Bedeutung der *C-Version in der Überlieferung des Nibelungenliedes, in: Blütezeit. Fs. f. L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, hg. v. Mark Chinca u. a., Tübingen 2000, S. 207–220, hier 212; Die Handschriften des Nibelungenliedes und die Entwicklung des Textes, in: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. v. Joachim Heinzle u. a., Wiesbaden 2003, S. 191–212, hier 201. 

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Lakonisch fügt Hagen noch an, dass er außerdem einen »lintrachen«, einen Drachen, erschlug (Str. 100). Wieder interessieren die näheren Umstände, wo, wann und weshalb, nicht. Siegfrieds Taten sind kontextlos, bedürfen nicht legitimierender Anlässe. Gewiss, Drachen sind dazu da, um von Helden erschlagen zu werden. Dabei zu rettende Jungfrauen oder sonstige Anlässe – der Held als nützlicher Vorkämpfer gegen Chaoskräfte, Feinde des Glaubens oder der Gesellschaft – sind nachträgliche Rationalisierungen. Im Hürnen Seifried des 15. Jahrhunderts wird dergleichen nachgeliefert. Im Nibelungenlied aber sind der Drache und die (fast vollkommene) Unverwundbarkeit nur eine weitere Abbreviatur von Siegfrieds heroischer Stärke, die keinen Anlass braucht, um sich zu erweisen. Siegfrieds heroische Asozialität in der Episode ist umso auffälliger, als die Einbettung Siegfrieds in die (höfische) Gesellschaft ausführlich in der voraufgehenden Âventiure dargestellt wurde: beste Erziehung, Bewunderung der Damenwelt, Schwertleite, Fest. Meine mehrfach vorgetragenen Überlegungen zu Siegfrieds doppelter Jugendgeschichte16 sind also um die These zu ergänzen, dass hier zwei unterschiedliche Konzepte von Held konfrontiert werden: der exorbitant-asoziale einerseits und der sozialisierte und noch weiter sozialisierbare andererseits. Und im Folgenden wird das eine in das andere überführt: Der heldenepische Held aus Hagens Erzählung wird in Worms sozialisiert. Als er in Worms erscheint, ist Siegfried noch der exorbitante Heros, der alles beseitigt, was sich ihm entgegenstellt. Seinem Anspruch auf Herrschaft aufgrund überlegener Stärke (Str. 108–110) setzt Gunther die traditionale Ordnung, die auf Erbe und Recht beruht (Str. 112, 115), entgegen. Das macht auf den Helden keinerlei Eindruck. Er beharrt auf seinem Vorhaben, für das es Schranken des Rechts und einer traditionalen Ordnung, die auf Erbe beruht, nicht gibt. Man hat Siegfrieds Verhalten mit seinem jugendlichen Ungestüm erklärt.17 In Wirklichkeit handelt er wie bisher, wie der Heros, dem niemand widersteht. Auch die Herrschaftsordnung gründet er auf das Recht des Stärkeren: Ortwin kann kein ebenbürtiger Gegner sein, denn er ist nur Vasall des Königs, »küneges man« (Str. 118,3), und nur ein König kommt für den Heros als Gegner in Frage. Eine solche Auffassung muss einem Publikum um 1200 schon seltsam geklungen haben. Siegfried wird sie rasch aufgeben. Er lässt sich von seinem Vorhaben abbringen durch den Gedanken an die minne und durch Gunthers freundlichen Empfang, seine höfisch-höflichen Worte, die soziale Interaktion als wechselseitigen Dienst (Str. 126,3) 16 Müller: Spielregeln (Anm. 1), S. 125–130. 17 Zum Ablauf der Auseinandersetzung vgl. Müller (Anm. 8). 

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auffassen und Siegfried, dem Gast, »allez, daz wir hân« ›alles, was wir besitzen‹ (Str. 127,1) zur freien Verfügung zu stellen vorgibt, allerdings unter der Bedingung: »geruochet ir’s nâch êren« ›wenn ihr darüber verfügt, wie es die Ehre verlangt‹ (Str. 127,2). Geradezu exemplarisch nennt der Text die Verhaltensmuster, die um 1200 ein neues Kriegerideal, das des höfischen Ritters, ausmachen: Frauendienst und Verzicht auf Gewalt, Reziprozität und wechselseitige Empathie. Ein ganzes Jahr wird der Held anschließend durch unerfüllte minne ruhiggestellt. Die Sozialisierung setzt sich im Krieg gegen die Dänen und Sachsen fort, in dem wieder seine Qualitäten als Kämpfer gefragt sind, die aber jetzt der Gemeinschaft zugutekommen. Der verhöflichte Siegfried scheint einen neuen Typus von Held zu vertreten, der von See zufolge bereits eine Abkehr vom Kern des Heroischen, der a-moralischen, weil allein selbstbezogenen Exorbitanz darstellt und der sich dem Gegentypus annähert, dem Helden, der sich für das Ganze verantwortlich fühlt und seine Kräfte zum Wohl der Gemeinschaft einsetzt. In der Tat könnte seine Bereitschaft, für Gunther die Dänen und Sachsen zu bekämpfen und dazu später, vor seiner Ermordung, ein zweites Mal bereit zu sein, für dieses Bild von Held sprechen. Doch diese Instrumentalisierung des Heros gerät ins Zwielicht, wenn es darum geht, dem König eine Frau und später im Bett Erfolg zu verschaffen. Der durch höfische minne sozialisierte Siegfried beteiligt sich der minne zuliebe am zweifachen Betrugsmanöver gegen Brünhild, in den Wettkämpfen auf Isenstein und im Schlafzimmer Gunthers. Beide Male beruht Siegfrieds Hilfe nur z. T. auf seinen heroischen Kräften. Daran, dass er sich beide Male der Tarnkappe bedienen muss, um unsichtbar zu sein, zeigt sich, dass er zwar weiterhin über die Mittel einer heroischen Welt verfügt, dass er aber andererseits als Held sich selbst am Hof auslöschen muss, um erfolgreich zu handeln. Wenn er Brünhild mit seiner heroischen Kraft besiegt, darf er nicht als er selbst auftreten. Und ironischerweise kann er beseitigt werden, als man zum Schein seine Kraft noch einmal instrumentalisieren, nämlich im Krieg, wieder gegen Sachsen und Dänen, einsetzen will. Doch ist dieses Hilfsangebot schon Teil der Mordintrige: Die Kriegserklärung von Sachsen und Dänen existiert gar nicht. Sie ist Vorwand, dass Hagen seine Verwundbarkeit auskundschaften kann. Mit bitterer Ironie erleichtert höfische zuht – der höfische Siegfried lässt dem König Gunther den Vortritt, wenn er aus der Quelle trinken will (Str. 978) – noch Hagen, ihn zu ermorden: »Dô engalt er sîner zühte« ›Da bezahlte er für sein höfisches Verhalten‹ (Str. 980,1). Die erste Hälfte des Nibelungenliedes erzählt die Geschichte der Zähmung des Heros, die aber in letzter Konsequenz auf seine Liquidierung 

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hinausläuft. Siegfrieds rücksichtsloser Heroismus wird durch Einfügen in die höfische Ordnung nutzbar gemacht. Dass es genau um diesen Heroismus geht, um Siegfrieds Exorbitanz, macht das Lied deutlich, indem es die Exorbitanz immer wieder aufruft: in den Gegenständen, die mit Siegfried aus dem Nibelungenland nach Worms kommen, die hier widerständig bleiben und in die Unheilsgeschichte eingebunden werden (Schatz, Schwert); in seiner unverwundbaren Drachenhaut, die zum Anlass eines eigenen Betrugs Hagens an Kriemhild wird ; in Siegfrieds Überkraft, mit der er noch kurz vor seinem Tod einen ganzen Wald leer zu jagen vermag (Str. 940) und dann die Freude des Jagdlagers stört (Str. 958–962).18 Die Zähmung des Heros hat aber ambivalente Implikationen. Die höfische Ordnung gerät ins Zwielicht. Die Geschichte vom Burgundenuntergang lässt sich auch als Parodie des Höfischen lesen. Die einzelnen Stationen des Endkampfs am Etzelhof werden als Zerrbild höfischer Ordnung erzählt: des höfischen Buhurts, des höfischen Mahls, gemeinsamen Trinkens.19 In Siegfrieds Gegenspieler Hagen wird der umgekehrte Prozess, die Freisetzung des Heros von allen sozialen Rücksichten, erzählt. Hagen ist der treue Vasall, der ergeben seinen Königen und ihrer Herrschaft dient. Jedes Problem, das der König allein nicht meistert, kann er lösen. Er weiß alles und ist – nach Siegfried – die stärkste und zuverlässigste Stütze von Gunthers Macht. Er macht die Sache der königlichen Ehre, die Gunther schlecht verteidigt, zu seiner eigenen, indem er die Beleidigung der Königin durch Kriemhild (und dadurch Siegfried) im berühmten Königinnenstreit rächt. Er schützt den Herrschaftsverband vor der immensen Macht des Hortes und warnt vor der Verbindung Kriemhilds mit Etzel, erst recht dann vor dessen Einladung. Als seine Warnung nichts hilft, riskiert er das Selbstopfer und will trotz persönlicher Gefahr niemand anderem den Schutz seiner Herren auf der gefährlichen Reise anvertrauen. Er sorgt für ihre Wehrhaftigkeit. Er heißt »trôst« der Nibelungen (Str. 1526,2; 1726,4). Doch wenn er sich durch die Wasserfrauen über den schlimmen Ausgang der Reise im Klaren ist, beginnt sich sein Verhalten zu ändern. Er zerschlägt das Schiff, mit dem die Burgonden auf dem Rückweg über die Donau setzen könnten. Bei Etzel angekommen, übernimmt er zwar noch den Schutz der Burgonden vor einem nächtlichen Überfall und sorgt dafür, dass sie selbst beim Kirchgang bewaffnet sind. Doch angefangen von seiner aggressiven Begrüßung Kriemhilds und seinem Schuldgeständnis 18 Zur Motivkette vgl. auch Walter Haug: Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung, in: Studien zum Altgermanischen. Fs. f. Heinrich Beck, hg. v. Heiko Uecker, Berlin u. New York 1994, S. 303–326, hier 315 f. 19 Müller: Spielregeln (Anm. 1), S. 389–434. 

Nibelungenlied

ihr gegenüber, gibt er zu verstehen, dass sein Handeln nicht mehr ans Recht gebunden ist ; er weist Kriemhilds Anspruch auf ihren Besitz wie die Frage nach dem Tod Siegfrieds zurück. Er verweigert Kriemhild die Ehrerbietung, die ihr gebührt (Str. 1780–82), und legt es auf Konfrontation an: Ja, es sei Unrecht geschehen, aber »nû rech ez, swer der welle« ›jetzt soll das rächen, wer will‹ (Str. 1791,3). Das ist die trotzige Rede eines Heros, der nicht nach der Legitimität einer Handlung fragt, sondern nur auf sich und seine Stärke vertraut und deshalb mit jedem Racheversuch fertig werden wird. Das setzt sich in den folgenden Provokationen fort: beim schwerbewaffneten Kirchgang, beim Umschlagen des Kampfspiels in blutigen Ernst, in den taktlosen Worten über die Zukunft des Hunnenprinzen (Str. 1918). Indem er diesen beim Festmahl niedermetzelt (Str. 1961), verbaut er jede Aussicht auf eine friedliche Lösung. Dadurch reißt er nicht nur seine Feinde, sondern auch die ihm anvertrauten Burgonden, seine Herren und seinen Freund Volker, auch erfolglose Vermittler oder unfreiwillige Gegner wie Rüdiger oder die Amelungen um Dietrich von Bern, Unschuldige und Schuldige in den Tod. Seine Weigerung, den Ort preiszugeben, an dem der Hort verborgen liegt, solange einer seiner Herren lebt, liefert den König der Hinrichtung aus und lässt ihn, wie den Gunnar des Atliliedes, um den Preis der Selbstvernichtung über seine Feindin triumphieren (Str. 2367–71). Indem er alle opfert und auch sich selbst nicht schont, zerstört er die soziale Ordnung, deren ergebenster Vertreter er gewesen war. Seine fürchterliche Größe in den letzten Strophen des Nibelungenliedes erreicht er, indem er als Heros auf niemanden Rücksicht nimmt. In einer zeitgenössischen Bearbeitung des Nibelungenliedes, der *C-Redaktion, wird diese Rücksichtslosigkeit noch deutlicher als in der *AB-Fassung als egoistisch und rein selbstbezogen gebrandmarkt. Hagens Handeln sei radikaler Bruch der triuwe, des Inbegriffs aller sozialen Bindungen: »wie möhte ein untriuwe immer sterker wesen?« ›wie könnte ein triuweBruch jemals größer sein?‹ (Str. 2428,2).20 Hier ist er eindeutig moralisch diskreditiert. Der Hagen der *C-Bearbeitung unterliegt der moralischen Beurteilung, die die *AB-Fassung in der Schwebe lässt.21 Hagen handelt aber jetzt nicht mehr mit der Unbekümmertheit des Heros, sondern als hinterhältiger Intrigant. Diese moralische Diskreditierung ist von langer Hand vorbereitet, und die Nibelungenklage hat diese Interpretation noch 20 Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, hg. v. Ursula Hennig, Tübingen 1977. 21 Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin u. New York 1996, S. 532 u. ö.; Elisabeth Lienert: Perspektiven der Deutung des Nibelungenliedes, in: Die Nibelungen (Anm. 15), S. 91–113, hier 108. 

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verstärkt: Hagen ist der Schurke, dem die Katastrophe zu verdanken ist. Hagens moralische Abwertung ist ein Zeichen dafür, dass das allein selbstbezogene, exorbitante Handeln des Helden nicht mehr akzeptiert wird. In der *AB-Fassung des Nibelungenliedes ist er kaum weniger brutal und legt gleichfalls alles darauf an, die finale Katastrophe herbeizuführen. Dort aber überwiegt bei aller Kritik noch die Bewunderung für den kompromisslosen Heros: Hagen ist »der aller beste degen« (Str. 2374,2), wie selbst sein Todfeind Etzel anerkennt und Hildebrand bestätigt, »swie er mich selbe braehte in angestlîche nôt« ›auch wenn er mich in fürchterliche Bedrängnis brachte‹ (Str. 2375,3). Was ist ein Heros? Mir scheint, dass der Hagen der Untergangsfabel trotz dem *C-Bearbeiter und trotz der Empörung über Hagen in der Nibelungenklage Züge des Heroischen trägt, die allerdings dem christlichen Hochmittelalter schon fremd, ja unerträglich sind, aber im Nibelungenlied noch einmal bewundernd erinnert werden. Solch Heroismus scheint auch den Helden Siegfried zu charakterisieren, wenn er die Taten vollbringt, denen er seinen Ruhm verdankt, die sich aber über die anderen und ihr Recht brutal hinwegsetzen. In die Welt der gewöhnlichen Menschen – an den Hof – verpflanzt, muss dieser Heroismus Anmaßung sein, dem man Recht und Tradition entgegensetzt und der gezähmt werden muss, zuerst durch die minne, dann indem man solche Kraft im Handeln für die Gemeinschaft kanalisiert, im Kampf gegen die Sachsen und Dänen, schließlich in einer Reihe von Taten zugunsten des Königs. Zuletzt scheitert die Instrumentalisierung, wenn sich der Held ein weiteres Mal nützlich machen will. Das kann man als ironischen Kommentar zur Zähmung heroischer Exorbitanz22 lesen, einer Zähmung, die auf Lüge beruht und rücksichtslos die Ehre der anderen manipuliert. Spuren eines archaisch Heroischen finden sich immer wieder in mittelhochdeutscher Heldenepik. Es sind unauffällige Details, die das Übermaß des Heroischen anzeigen. Die Breite von Siegfrieds Speereisen beträgt etwa 40 cm (Str. 73,3), die Spitzen seiner Pfeile sind eine Hand breit (Str. 956,3). Er hat immer noch – wie in der nordischen Überlieferung – riesenhafte Größe. Der Sage nach ist er in einem Riesengrab beerdigt. Das sind Reste eines Heldenbildes, das im Nibelungenlied schon keinen Platz mehr hat. Bei der Bestattung der Toten in der Nibelungenklage ist die Tür zu eng, um die Toten herauszutragen (Klage, Str. B 1928–1931; C 2026–2029).23 22 Udo Friedrich: Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und Gewaltregulierung im 12. Jahrhundert, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel, Stuttgart u. Leipzig 1999, S. 149–179. 23 Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hg. v. Joachim Bumke, Berlin u. New York 1999. 

Nibelungenlied

In der verschriftlichten deutschen Heldenepik kann heroische Exorbitanz unheimlich und verhängnisvoll sein, in Hagen ist sie verbrecherisch, in späteren Texten kann sie komisch werden. Oder sie wird auf Randfiguren abgedrängt: Im König Rother sind es die Riesen, die beim Festmahl des byzantinischen Kaisers herumwüten. In der Kudrun wird heroische Exorbitanz in Wate problematisiert, dessen Blutgier auch vor Kindern in der Wiege nicht Halt macht, da sie, herangewachsen, gefährliche Gegner sein könnten, Wate, der nur mit Mühe beim Metzeln von Frauen zurückgehalten werden kann und im Furor des Kampfes zu brummen beginnt wie ein Tier. Oder aber das Heldenbild wird erklärt, wie bei König Hagen in der Kudrun, der sich in der Wildnis gegen übermächtige Tiere durchsetzen muss und nach seiner Rückkehr in die zivilisierte Welt als wilder Hagen seine heroische Exorbitanz nicht nur als Kämpfer, sondern auch durch strenge Gerichtsbarkeit beweist, indem er viele Todesurteile verhängt. Dietrich von Bern, eigentlich der mittelhochdeutsche Held par excellence, darf nicht mehr uneingeschränkt Held sein; er ist in der âventiurehaften Dietrichepik Held wider Willen, der manchmal zum Kampf erst getragen werden muss (Wunderer, Virginal). In der historischen Dietrichepik (Rabenschlacht, Buch von Bern) ist der arme Dietrich ein Held, den die Umstände dazu zwingen, immer wieder zu kämpfen, obwohl er schon alles entschieden glaubte. Das alles zeigt, dass in der spätmittelalterlichen Heldenepik ein älteres Heldenbild allmählich verabschiedet wird, auch wenn es sich in ihren Blutorgien noch voll auslebt. Das Publikum scheint an den uferlosen Schlachtbeschreibungen der Rabenschlacht und des Buchs von Bern weiter Gefallen gefunden zu haben, ebenso wie am Hinschlachten von Monstern, Riesen und Zwergen. Siegfried ist ein Held des Übergangs. Nur im Anfang ist er uneingeschränkt jener exorbitante Heros, der alles, was sich ihm in den Weg stellt, niederzwingt. Sein Handeln ist a-moralisch, d. h. von moralischen Kategorien nicht zu erfassen, und er bewegt sich im rechtsfreien Raum. Das zeigt sich gerade daran, dass zunächst scheinbar ein rechtsförmiges Verfahren vereinbart wird, das ohne Angabe von Gründen nicht greift und deshalb eine ›heroische‹ Lösung nahelegt. Es ist der Siegfried vor Einsetzen der Handlung. Allerdings erzählt das Nibelungenlied auch von den Kosten, die die Sozialisierung des Helden fordert. In der mittelhochdeutschen Literatur setzt sich deshalb der andere, neue Heldentyp durch, der von vornherein gemeinschaftsbezogene Ritter des von der klerikalen Schriftkultur bestimmten höfischen Romans.24

24 Vgl. dazu in diesem Buch Herberichs und Petersen: Eigenwert. 

Bernhard Teuber

Heroes in the Making )IVEPXJVER^ÁWMWGLI7SPERHYRHHIVEPXWTERMWGLI(MH MQ:IVKPIMGL

In seiner Studie zum Glanz des Helden in der französischen Literatur reserviert Andreas Gelz dem 17. Jahrhundert ein eigenes Kapitel,1 und dort wiederum wird auf die mehrfache Verwendung des Terminus éclat ›Glanz‹ in Corneilles Drama Le Cid (1635) hingewiesen. Der ›Glanz‹ ist verstanden als ein Attribut heroischer Ausnahmewesen, das ihren Charakter und ihre Taten auszeichnet und ihnen gloire ›Ruhm‹ verschafft. Für die Literatur der französischen Klassik wird dieser Heroismus paradigmatisch repräsentiert durch die Figur des heldenhaften Don Rodrigue, besser bekannt noch unter dem Beinamen Cid. Blickt man vom Frankreich der Klassik zurück auf das Italien der Renaissance, dann stößt man auf einen weiteren literarisch höchst populären Ausnahmehelden, den Kreuzritter Roland, der von Matteo Boiardo im Orlando innamorato (1483/95) und von dessen Nachfolger Ludovico Ariosto im berühmten Orlando furioso (1516/32) gefeiert wird. Sowohl Corneille als auch Boiardo und Ariost schreiben in ihrer Zeit Werke fort, deren Vorbilder in der volkssprachlichen Epik des romanischen Mittelalters liegen und in deren Mittelpunkt außergewöhnliche Heldengestalten stehen. Es liegt auf der Hand, dass die heroischen Figuren, ihre Handlungen und ihre Charaktere in diesen Bearbeitungen ganz erhebliche Veränderungen erfahren. Der Cid, der im altspanischen Heldenlied als ein Kriegsherr erscheint, der für die kastilische Krone neue Gebiete erobert, wird in späteren Chroniken und Theaterstücken als liebender Bräutigam gezeichnet, der seine Verlobte Doña Ximena gewinnen und überzeugen muss, obwohl er deren Vater in einem Ehrenduell getötet hat. Der kühne Krieger Roland ist im altfranzösischen Heldenlied Vasall und Neffe Karls des Großen und mit der Schwester seines Freundes Olivier verlobt. Die italienischen Reprisen dieser Thematik fokussieren indessen Orlandos vergebliche Liebe zur schönen Prinzessin Angelica und dessen Raserei, als 1 Andreas Gelz: Der Glanz des Helden. Über das Heroische in der französischen Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts, Göttingen 2016, S. 12–24. 

Bernhard Teuber

er schließlich erkennen muss, dass sie ihn abgewiesen und sich stattdessen dem muslimischen Soldaten Medoro hingegeben hat.2 In diesem Aufsatz soll jedoch nicht die Rezeptions- und Transformationsgeschichte der beiden herausragenden Heldenfiguren des romanischen Mittelalters – und weit darüber hinaus – nacherzählt oder neu gedeutet werden. Stattdessen sollen die zwei uns überlieferten Gründungserzählungen in den Blick genommen werden, aus denen die vielen Über- und Umschreibungen erwachsen sind, nicht nur im Medium der Erzählliteratur und des Dramas, sondern auch der Oper und des Kinofilms.3 Es geht uns darum, wie Helden in den herausragenden Textzeugnissen des 12. und 13. Jahrhunderts literarisch gemacht worden sind, nach welchen Verfahren sie hergestellt wurden,4 darum auch der Titel dieses Beitrags: Heroes in the making. Genauer soll uns beschäftigen, wie diese Figuren in die historische und literarische Konstellation ihrer Epoche eingeschrieben sind und welche Art von Exorbitanz beziehungsweise Überschwänglichkeit ihnen zugeschrieben wird. Vorausgesetzt sei dabei die Auffassung, dass die romanische, insbesondere die französische Heldenepik in ihrer zunächst rein mündlichen Form sich der Anverwandlung germanischer Heldenlieder verdankte:5 Im Aufeinandertreffen mit germanischsprachiger Kultur in der Völkerwanderungszeit und im Frankenreich entstand bei den romanischsprachigen Bevölkerungen das Bedürfnis, Verserzählungen nach Art der germanischen Heldenlieder auch im frühen romanischen Idiom nachzubilden. Die daraus hervorgegangenen Langgedichte stilisieren sich weiterhin als in einer Aufführungssituation vor Publikum vorgetragen und besitzen einige Mündlichkeits-Marker wie die leicht variierenden epischen Wiederholungen ganzer Strophen im Rolandslied oder die wiederkehrenden Epitheta ornantia wie »a la barbe fleurie« ›mit schlohweißem Bart‹ für Karl den Großen oder »el que en bon ora nascó« ›der zu günstiger Stunde 2 Zur Beziehung des Rolandslieds zur Ritterepik der italienischen Renaissance vgl. Judith Frömmer: Italien im Heiligen Land. Typologien frühneuzeitlicher Gründungsnarrative, Konstanz 2018, bes. S. 287–332. 3 Genannt seien hier exemplarisch Vivaldis zwei Fassungen eines Orlando furioso (1714 und 1727), Händels Orlando (Uraufführung 1733 in London), jeweils in Anlehnung an Ariost, der Hollywood-Klassiker El Cid (1961) von Anthony Mann mit Charlton Heston und Sophia Loren in den Hauptrollen sowie die cineastisch anspruchsvolle Chanson de Roland (1978) von Frank Cassenti mit Klaus Kinski. 4 Das Gemachtsein, die Faktur eines literarischen Textes zu beschreiben, war bekanntlich schon das Anliegen der russischen Formalisten, vgl. etwa Boris M. Ėjchenbaums »Wie Gogols Mantel gemacht ist« (1918) oder Viktor Šklovskijs »Wie Don Quijote gemacht ist« (1925). 5 Vgl. schon Pio Rajna: Le origini dell’epopea francese, Firenze 1884 (Nachdr. 1945). 

Roland und Cid

geboren ward‹ für den Cid. Doch sie weisen gegenüber der germanischen Stabreimform neuartige Vers-Schemata auf: insbesondere ‒ in Frankreich ‒ den Zehnsilber mit Assonanz und ‒ dann in Kastilien ‒ den ebenfalls assonierenden, in der Silbenzahl aber freien verso épico juglaresco (›Spielleute-Vers‹). Deshalb sollte die Machart der Heldenfiguren dieser Epen nicht als Fortführung der Muster germanischer Heldenlieder, sondern als Neustilisierung unter veränderten historischen und kulturellen Bedingungen begriffen werden.

La Chanson de Roland: Historische Daten und literarische Überschreibungen

Wie auch immer man sich in der Kontroverse zwischen Traditionalisten, Individualisten und Neotraditionalisten über die Entstehung des erhaltenen Textes aus einer vorgängigen mündlichen Tradition positionieren will6 – festzustellen bleibt, dass die früheste Verschriftlichung der Chanson de Roland in der Oxforder Handschrift eine Gesamtkomposition darstellt, die nichtsdestoweniger auf der Basis mündlicher Einzelerzählungen entstanden und zu einer einheitlichen Langerzählung zusammengefügt worden sein mag. Wie die germanischen Heldenlieder behandelt auch das frz. Rolandslied 7 Vorgänge der Zeitgeschichte, die aber im Laufe der Erzähltradition zunehmend von den historischen Gegebenheiten losgelöst und durch zusätzliche Elemente angereichert worden sind. Die Chanson de Roland nach Ausweis des Oxforder Manuskripts spätestens in den Jahren nach 1100 verschriftlicht, bezieht sich im Kern auf die historisch verbürgte Spanien-Expedition Karls des Großen im Jahr 778. Auf einen Hilferuf 6 Vgl. Gaston Paris: Der Ursprung des französischen Heldenepos [frz. 1865], in: Altfranzösische Epik, hg. v. Henning Krauß, Darmstadt 1978, S. 13–31; Joseph Bédier: Über die Entstehung der chansons de geste [frz. 1912], in: ebd., S. 32–63; Ramón Menéndez Pidal: La Chanson de Roland y el neotradicionalismo. Orígenes de la épica románica, Madrid 1959. 7 Fundierte Darstellungen zur Chanson de Roland: Erich Köhler: ›Conseil des barons‹ und ›jugement des barons‹. Epische Fatalität und Feudalrecht im altfranzösischen Rolandslied, Heidelberg 1968 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-histor. Kl., Jg. 1968, 4. Abh.); Dorothea Kullmann: Das Rolandslied (ca. 1095), in: Mittelalter, hg. v. Ulrich Mölk, Tübingen 2008 (Stauffenburg Interpretation, Französische Literatur), S. 45–72; Friedrich Wolfzettel: Ein Streiter für Karl den Großen. Das Rolandslied, in: Höhepunkte des mittelalterlichen Erzählens. Heldenlieder, Romane und Novellen in ihrem kulturellen Kontext, hg. v. Hans Sauer u. a., Heidelberg 2016, S. 121–137; weiterhin hilfreich auch Krauß (Anm. 6). 

Bernhard Teuber

des Statthalters von Barcelona, der um Unterstützung im Kampf gegen den Emir von Cordoba bittet und Karl für seine Hilfe die Hoheit über Saragossa verspricht, überquert Karl im Frühjahr die Pyrenäen, erobert Pamplona und zieht bis Saragossa, das sich ihm aber doch nicht unterwerfen will. Nach vergeblicher Belagerung beschließt er wegen eines Sachsenaufstandes, Spanien eilends zu verlassen. Der Statthalter von Barcelona wird wegen Treuebruchs als Geisel mitgenommen ; auf dem Rückweg wird Karls Heer von Einheimischen angegriffen, und zur Strafe wird die von Christen bewohnte Stadt Pamplona zerstört. Das fränkische Heer zieht wie auf dem Hinweg über die Pyrenäen zurück. Aber am 15. August wird die Nachhut des Heeres am Pass von Roncevaux in der Schlucht von Luzaide (span. Valcarlos) von baskischen Kämpfern überfallen und weithin niedergemacht (angeblich bis auf den letzten Mann); der als Geisel mitgeführte maurische Statthalter Suleiman al-Arabī wird hingegen befreit. Unter den fränkischen Notabeln, die bei dieser Schlacht umkommen, befindet sich, wie der Geschichtsschreiber Einhard in seiner Vita Karoli Magni imperatoris berichtet, ein gewisser »Hruotlandus Britannici limitis praefectus« ›Roland der Befehlshaber über die bretonische Grenzmark‹.8 Deutlich zeigt sich, dass Karls Kampagne kein Religionskrieg war. Einerseits beabsichtigte er, mit seiner Unterstützung der rebellierenden Statthalter in Aragonien und Katalonien in einen innermaurischen Konflikt einzugreifen, so dass ein Bündnis von Mauren und Christen gegen den mächtigen Emir von Cordoba gestanden wäre. Andererseits scheute Karl nicht davor zurück, ein Massaker unter den maurisch regierten Christen von Pamplona zu verüben, um auf diese Weise die sarazenische Seite zu strafen. Das ursprüngliche Ziel eines Sieges über den Emir geriet hierbei völlig aus dem Blickfeld. Die Erzähltraditionen haben diese Geschehnisse nachhaltig umgearbeitet, und zwar, soweit sich dies beurteilen lässt, geraume Zeit vor der Fixierung der Chanson de Roland in der heute überlieferten Form. Insgesamt werden die Konflikte und Akteure an die Kreuzzugs-Ideologie angepasst, die sich in Spanien angesichts des Erstarkens der christlichen Königreiche und der Fortschritte der Reconquista bereits vor dem Kreuzzugs-Aufruf Urbans II. 1095 in Clermont herauskristallisierte, etwa 1064 bei der Eroberung von Barbasto durch eine Koalition aus verschiedenen christlichen Ländern Westeuropas.9 8 Einhard: Vita Karoli Magni, hg. u. übersetzt v. Evelyn Scherabon Firchow, Stuttgart 1986, Kap. 9. 9 Vgl. Nikolaus Jaspert: Reconquista, München 2019, S. 33–35. 

Roland und Cid

Im Rolandslied wird Folgendes erzählt. Karl hat ganz Spanien erobert, außer Saragossa, wo der Sarazenenfürst Marsilius herrscht. Dort beschließt man, Karl eine Falle zu stellen, und schickt Blancandrin als Gesandten zu ihm. Blancandrin fordert Karl zum Rückzug auf und verspricht, Marsilius werde ihm reiche Geschenke machen, nach Aachen folgen und dort die Taufe empfangen. Karls Kronrat beschließt seinerseits, zu weiteren Verhandlungen einen Gesandten zu Marsilius zu schicken. Roland schlägt vor, Ganelon mit der Delegation zu betrauen, was dieser als hinterhältigen Angriff ansieht, weil die Aufgabe als hochgefährlich gilt. Karl befiehlt ihm dennoch, die Gesandtschaft zu übernehmen, und Ganelon muss sich fügen, sinnt aber auf Rache an Roland. In Saragossa planen dann er und sein sarazenischer Verhandlungspartner Blancandrin den Angriff auf die Nachhut von Karls Heer bei Roncevaux. Dabei soll Roland, der die Nachhut anführt, getötet werden. Alles kommt, wie von den Verrätern beabsichtigt: Karls Heer zieht über die Pyrenäen zurück, die Sarazenen greifen die Nachhut an, die hoffnungslos unterlegen ist ; alle werden getötet, auch der begleitende Feldbischof Turpin, Rolands Freund Olivier und zuletzt Roland selbst. Kurz vor seinem Tod bläst Roland sein Horn namens Olifant ›Elefant‹. Karl versteht das Signal, kehrt mit dem Heer zurück, beginnt den Kampf gegen die Sarazenen und besiegt diese, nicht zuletzt weil Gott auf Karls Gebet hin den Tag verlängert hat – wie im biblischen Buch Josua, wo bei der Schlacht gegen die Amoriter die Sonne ebenfalls stillsteht (Jos 10,12–14). Marsilius wird verwundet und verliert eine Hand. Karl kehrt sodann nach Roncevaux zurück und hält die Totenklage um Roland. Doch Baligant, der König von Babylon und Verbündete des Marsilius, rückt mit seinem Heer heran, um Karl zu besiegen. Im Zweikampf tötet Karl Baligant, kehrt nach Saragossa zurück, nimmt die Stadt ein und tötet alle, die sich nicht taufen lassen. Marsilius stirbt, seine Gattin Bramimunde wird gefangen genommen. Karl tritt den Rückweg nach Aachen an, und Rolands Leichnam wird mitgeführt. Sein Horn Olifant wird in Bordeaux niedergelegt, die Bestattung des Leichnams erfolgt in Blaye an der Gironde. Nach der Ankunft in Aachen erfährt Rolands Braut Aude (Alda), die Schwester seines Freundes Olivier, vom Tod ihres Verlobten und stürzt aus Kummer tot zu Boden.10 Es wird Gericht über den Verräter Ganelon gehalten und das Urteil mittels eines Zweikampfes gefällt, der zugleich als Gottesgericht fungiert: Thierry d’Anjou tritt als Kämpe für Karl auf und bezwingt den Pinabel, der für Ganelon streitet. Somit ist Ganelon schuldig, wird zum Tode ver10 Vgl. Leo Jordan: Roland und Olivier, in: Romanische Forschungen 16 (1904), S. 637–640. 

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urteilt und gevierteilt. Die Witwe des Marsilius aber empfängt in Aachen die Taufe. Die Zusammenfassung zeigt, dass das Epos einerseits als eine Geschichte von Karls Spanienfeldzug ab dem Rückzug aus Saragossa aufgefasst werden kann, in der Roland und die Niederlage von Roncevaux nur etwa sechs Zehntel (177 von 291 Laissen, 2416 von 4002 Versen) ausmachen. Andererseits wird die heroische Figur des Roland aber so stark fokussiert, dass man ebenso gut sagen kann, dass der zweite Teil von der Totenklage um Roland bis zur Bestrafung des Schuldigen eine Erzählung darüber ist, wie der Verrat am Helden bestraft und Satisfaktion geleistet wird: vom König von Babylon, vom Sarazenenfürsten Marsilius, zuletzt vom Verräter Ganelon. In Anlehnung an die Text-Theorie von Jurij M. Lotman lässt sich die Erzählung als ein großes Restitutionssujet betrachten.11 Der Versuch des Helden Roland, in den Raum der Heiden einzudringen und dort die christliche Herrschaft zu erlangen, scheitert ; doch dank Karls nachträglichem Eingreifen und Sieg über Baligant sowie Marsilius wird die stillschweigend vorausgesetzte Überlegenheit der christlichen Seite am Ende des Epos bestätigt. Freilich umfasst diese Lesart keineswegs alle Facetten des Textes, und möglicherweise auch nicht sein wichtigstes Merkmal, nämlich dass Roland darin als Faszinationsfigur gezeichnet ist und das affektive Interesse des Publikums auf sich zieht ‒ nicht trotz seines Scheiterns, sondern in seinem Scheitern. Hierzu gilt es, die Figurenkonstellation der wichtigsten Akteure zu beleuchten. Rolands Abstammung und Funktion werden im Text als bekannt vorausgesetzt und als prekär gezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um historisch verbürgte, sondern um im Laufe der Erzähltradition konstruierte Attributionen. Roland wird als Karls Neffe und auch Ziehsohn angesehen ; als Mutter wird eine Schwester Karls mit Namen Berte genannt, die historisch jedoch nicht bezeugt ist. Noch problematischer ist die Identität von Rolands leiblichem Vater: Genannt wird ein Feldmarschall Milon, der mit Berte eine illegitime Liebesbeziehung unterhalten habe oder aber mit ihr verheiratet gewesen sei ; eine andere Tradition vermutet hingegen, dass Karl mit seiner Schwester Berte Roland gezeugt habe. In späterer Ehe ist Berte dann mit Ganelon vermählt, der somit zu Roland im Verhältnis eines Stiefvaters steht. 11 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München 1972 [russ. 1970], S. 329–340; Restitutionssujet nach Andreas Mahler: Welt Modell Theater. Sujetbildung und Sujetwandel im englischen Drama der frühen Neuzeit, in: Poetica 30 (1998), S. 1–45, bes. 28; vgl. dazu Susanne Dürr: Die Öffnung der Welt. Sujetbildung und Sujetbefragung in Cervantes’ Novelas ejemplares, Wiesbaden 2010, S. 9–36. 

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Zwei Triangulationen sind daraus ableitbar. Gemäß einer psychoanalytischen Deutung liegt innerfamiliär ein ödipales Dreieck vor, in dem Roland mit dem Stiefvater Ganelon um die Liebe seiner Mutter Berte rivalisiert. Auf der Ebene des Königshofes und des Kronrats, der über den Gesandten nach Saragossa entscheiden muss, verschiebt sich dann die Konstellation: Ganelon und Roland sind Karls Vasallen und Paladine (Pairs de France) – Stiefsohn und Stiefvater wetteifern also nicht mehr nur um die Gunst Bertes, sondern auch um die des Königs, der zugleich ihr Lehnsherr und Bruder der begehrten Frau ist. Dazu kommt, dass Karl sowohl der Oheim Rolands als auch der Schwager Ganelons ist. Dass Ganelon sofort so zornig wird über Rolands Vorschlag, man möge ihn nach Saragossa entsenden, zeigt, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen den beiden von Anfang an ist. Ganelon unterstellt Roland, dass er insgeheim seinen Tod wünsche ; und als Roland seinen Vorschlag zurücknimmt, weil das Unterfangen zu gefährlich sei, demütigt er damit Ganelon, den er für nicht hinreichend kampferprobt hält. Somit erzählt das Rolandslied nicht nur von einer Art Religionskrieg zwischen christlichen Franken und muslimischen Sarazenen, sondern der Fokus wird darüber hinaus auf einen innerfamiliären Konflikt zwischen der Sohnesgeneration (Roland) und der Vätergeneration (Karl und Ganelon) gerichtet. So verbinden sich geradezu idealtypisch ‒ wie häufig in der Heldenepik ‒ Fragen des kollektiven Geschicks sowie der politischen und territorialen Herrschaft mit familiären und individuellen Aspekten ; die Reichsgeschichte wird überformt von einer Familiengeschichte, besser: sie wird umgeformt zum Familienroman im Sinne Sigmund Freuds.12 Karl, dem, wie erwähnt, in einem Strang der Überlieferung ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester und eine illegitime Vaterschaft zugeschrieben wird, rückt in Rolands Imagination auf die Position eines zumindest geistigen Nährvaters, wenn Roland sich in seiner Todesstunde an seine Heimat und Abkunft vom König erinnert: »De dulce France, des humes de sun lign, / De Carlemagne, sun seignor, kil nurrit« ›an das liebliche Frankenreich, an seine Sippe, / an Karl den Großen, seinen Lehnsherrn, der ihn aufgezogen hat‹ (Laisse 176, V. 2379 f.).13 Gerade die Distanz zwischen den realhistorischen Gegebenheiten und der Darstellung dieses Geschehens im Heldenlied legt es darum nahe, 12 Vgl. Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker [1909], in: ders.: Studienausgabe, Band 4, 2., korrigerte Aufl., Frankfurt/M. 1970, S. 221–226. 13 Hier und im Folgenden zitiert nach: Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig, übersetzt u. kommentiert v. Wolf Steinsieck, Nachwort v. Egbert Kaiser, Stuttgart 1999; vgl. außerdem: La Chanson de Roland, übersetzt v. Hans Wilhelm Klein, München 1963 (Nachdr. 1983). 161

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eine psychoanalytisch auslegbare Dynamik am Werk zu sehen, wie dies Ilse Nolting-Hauff in einer wichtigen Studie ausgeführt hat.14 Eine Handlungskette wird gewissermaßen den Verfahren der Traumarbeit unterworfen und entstellt, allerdings nicht etwa um der Zensur des Bewusstseins zu entgehen, sondern um ein traumatisches Erlebnis in sein gratifizierendes Gegenteil zu verwandeln. Dabei können Identitäten von Figuren modifiziert oder miteinander verschmolzen werden, und es kann insgesamt der Inhalt mit dem Ziel einer Wunscherfüllung bearbeitet, d. h. umgearbeitet werden. Das historisch beurkundete Trauma der Vernichtung von Karls Nachhut bei Roncevaux, welches schon Einhards Vita herunterzuspielen sucht, wird zwar beibehalten, aber um eine frei erfundene kolossale Strafaktion ergänzt, in der Karl zunächst Marsilius und dann auch noch Baligant und deren Heere besiegt, Saragossa erobert und Marsilius’ Gemahlin Bramimunde nach Aachen heimführt. Wenn folglich nach der Auffassung der Psychoanalyse Träume (zumindest häufig) Wunscherfüllungen beinhalten, dann kann die Transformation des Tatsachenberichts über eine verheerende Niederlage zu einer grandiosen Siegeserzählung als Resultat von Entstellung und Darstellung durchs Gegenteil gedeutet werden.15 Rolands exorbitante Tapferkeit und ihr Preis

Welche Rolle spielt hierbei Roland genau? Von Anfang an steht fest, dass ihm im Kreis um den König aufgrund seiner Tapferkeit eine besondere Rolle zukommt, und da er ‒ wie sich später herausstellt ‒ mit der Schwester Aude seines Freundes Olivier verlobt, nicht aber schon verheiratet ist, muss er wie Olivier zur Generation der Jüngeren gehören: Es geht also um einen jugendlichen Helden. Im Schlachtgeschehen offenbart sich alsdann der charakterliche Unterschied der beiden Kämpen, wenn der epische Erzähler konstatiert: »Rollant est proz e Oliver est sage ; / Ambedui unt me[r]veillus vasselage« ›Roland ist wagemutig und Olivier ist vernünftig, / beide besitzen in vorzüglicher Weise die Tugend eines Kriegers, der für seinen Herrn kämpft‹ (L. 87, V. 1093 f.). Man kann nun sagen, dass ein Vasall sowohl ›wagemutig‹ als auch ›vernünftig‹ sein sollte. Ausdrücklich vermerkt der Erzähler, dass der Erzbischof 14 Ilse Nolting-Hauff: Zur Psychoanalyse der Heldendichtung. Das Rolandslied und die einfache Form Sage, in: Poetica 10 (1973), S. 429–468. 15 Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1900], Studienausgabe, Bd. 2, 3., korrigierte Aufl., Frankfurt/M. 1972, S. 141–150 (»Wunscherfüllung«) u. 151–176 (»Traumentstellung«). 

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Turpin, der das Heer auf dem Feldzug begleitet und ebenfalls umkommt, ›vernünftig‹ und ›wagemutig‹ in einer Person war: »l’arcevesque ki fut sages e proz« (L. 267, V. 3691). Auch Olivier erhält an anderer Stelle das Prädikat des ›Wagemuts‹ (proece): »Olivers, li proz e li gentilz« ›Olivier, der Wagemutige und Edle‹ (L. 12, V. 176). Bei Roland wird hingegen ausschließlich auf seine proece hingewiesen. So kündigt etwa der Sarazenen-Krieger Chernuble an: »Se trois Rollant li proz en mi ma veie, / Se ne l’asaill, dunc ne faz jo que creire« ›Wenn ich Roland, den Wagemutigen, auf meinem Weg finde / und wenn ich ihn nicht angreife, dann handle ich nicht so, dass man dies [von mir] glauben würde‹ (L. 78, V. 986 f.). Vielmehr paart sich Rolands proece mit einem ungestümen, auf brausenden Charakter. Wenn er sich als Gesandter nach Saragossa anbietet, lehnt Olivier dies ab: »Vostre curages est mult pesmes e fiers: / Jo me crendreie que vos vos meslisez« ›Eure Wesensart ist ganz schlimm und ungestüm. / Ich würde mich fürchten, dass Ihr darüber in Streit geratet‹ (L. 18, V. 256 f.). Dennoch zeichnet Rolands ›Wagemut‹ ihn vor allen anderen aus. In seiner Totenklage für den gefallenen Neffen ruft Karl aus: »Ami Rollant, Deus metet t’anme en flors. / […] / Se jo ai parenz, n’en i ad nul si proz« ›Freund Roland, Gott möge deine Seele auf Blumen betten. / […] / Wenn ich auch Verwandte habe, dann gibt es unter ihnen dennoch keinen einzigen so wagemutigen‹ (L. 207, V. 2898 u. 2905). Bei Roland ist ›Wagemut‹ die alles andere übertreffende Eigenschaft. Das altfranzösische Adjektiv pro/preu/prode (neufrz. preux) wird auf das lateinische Verb prodesse ›nützen‹ zurückgeführt, aus dem sich das spätlateinische Substantiv *prode ›Nutzen‹, das Adjektiv prodis ›nützlich, bewährt‹ und weiter das Substantiv *proditia ›Nützlichkeit‹ entwickelten ; das Altfranzösische Wörterbuch gibt als deutsche Entsprechungen in Bezug auf Personen ›trefflich, wacker, hervorragend, klug, tapfer‹ an.16 Am häufigsten wird das Wort im Kontext der Feudalgesellschaft und dort im Hinblick auf waffenfähige, kampferfahrene und kampf bereite Krieger gebraucht. So meint es nicht nur die virtuelle Fähigkeit zum Kampf, sondern auch deren Aktualisierung in Form kriegerischer Taten, so dass es am besten wohl mit ›wagemutig‹ wiederzugeben ist. Bei Roland ist dieser ›Wagemut‹ im Vergleich zur aristotelischen Tugend der ›Tapferkeit‹ (ἀνδρεία, lat. fortitudo), die an das rechte Maß zwischen einem Zuwenig (Feigheit) und einem Zuviel (Verwegenheit) gebunden ist, durch einen Überschuss gekennzeichnet, der Roland auch pesmes ›schlimm, übel, boshaft‹ und fier ›wild‹ sein lässt. Rolands proece überschreitet die 16 Adolf Tobler u. Erhard Lommatzsch: Altfranzösisches Wörterbuch, hg. v. Peter Blumenthal u. Achim Stein, Stuttgart 1969, s. v. »pro/preu/prode«. 

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Sphäre des ›Vernünftigen‹ (sagesse). In diesem Sinne ist seine Haltung und sind seine Handlungen transgressiv und exorbitant: ›wagemutig‹ im Übermaß. In zwei Etappen des Handlungsverlaufs stellt die Chanson de Roland diese Exorbitanz ihres Helden und deren zerstörerischen Preis ganz besonders heraus. Als zunächst die von Roland geleitete Nachhut in den sarazenischen Hinterhalt gerät und zu unterliegen droht, ist Karl mit seinem Heer bereits vorausgezogen, könnte aber zurückkehren und das Blatt zugunsten der fränkischen Seite wenden. Doch er müsste herbeigerufen werden ‒ durch das Signal des Olifant, Rolands elfenbeinernen Horns. Dazu fordert Olivier seinen Freund auf, doch Roland weigert sich, weil er meint, aus eigener Kraft die Feinde besiegen zu können: ›Cumpainz Rollant, sunez vostre olifan, Si l’orrat Carles, ki est as porz passant. Je vos plevis, ja returnerunt Franc.‹ ›Ne placet Deu,‹ ço li respunt Rollant, ›Que ço seit dit de nul hume vivant, Ne pur paien, que ja seie cornant ! Ja n’en avrunt reproece mi parent ! Quant jo serai en la bataille grant E jo ferrai e mil colps e .VII. cenz, De Durendal verrez l’acer sanglent. Franceis sunt bon, si ferrunt vassalment ; Ja cil d’Espaigne n’avrunt de mort guarant.‹ (L. 85, V. 1070–81) ›Roland, mein Gefährte, blast Euren Olifant. Karl, der jetzt über die Pässe zieht, wird es hören. Ich schwöre Euch, die Franken werden sofort umkehren.‹ ›Möge Gott verhüten‹, so antwortet Roland, ›dass von irgend jemandem auf der Welt gesagt wird, ich hätte wegen eines Heiden ins Horn geblasen. Nie soll meiner Familie ein solcher Vorwurf gemacht werden. Wenn ich in der großen Schlacht sein werde und tausende von Schlägen austeile, dann werdet Ihr Durendals Stahl voller Blut sehen. Die Franken sind tapfer und sie werden ritterlich dreinschlagen. Die aus Spanien werden dem Tode nicht entkommen.‹ (Übers. Steinsieck) Roland ist sich nicht nur seines Sieges gewiss, sondern er hält es auch für ehrenrührig ‒ für sich und für seine ganze Sippe ‒, wenn er die Heiden nicht aus eigener Kraft besiegen könnte. Im Sinne der aristotelischen Poetik wäre diese Fehleinschätzung Rolands ἁμαρτία, sein tragischer 

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Fehler,17 der umso schwerer wiegt, als er nicht nur ihn und seine Gefährten, sondern auch zwanzigtausend weitere Franken das Leben kosten wird. Roland kämpft wie ein wildes Tier: »Quant Rollant veit que la bataille serat, / Plus se fait fiers que leon ne leupart« ›Als Roland sieht, dass die Schlacht stattfinden wird, / gebärdet er sich wilder als ein Löwe oder Leopard‹ (L. 88, V. 1110 f.). Und während Olivier ein vernünftiges Kalkül anstellt und erkennt, dass die eigenen Mittel für einen Sieg nicht ausreichen werden, trägt Roland den Kampf um des Kampfes willen aus und verliert dabei das Kampfziel aus den Augen: Nicht mehr auf einen realistischen Sieg, sondern auf die kriegerische Performanz als solche und auf die heroische Verausgabung in der Schlacht kommt es ihm an. Später dann vollzieht Roland, bereits zu Tode verwundet, einen weiteren Akt der nutzlosen Verausgabung: Gegen die Empfehlung seines Freundes Olivier bläst er nun doch ins Horn. Olivier kann dies nicht nachvollziehen, denn jetzt, wo Niederlage und Tod allen vor Augen stehen, braucht Karl nicht mehr gerufen zu werden, kann er nichts mehr bewirken. Es kommt über den Sinn oder Unsinn des Hornsignals zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden Freunden, das auch nicht mehr geheilt wird: Beide sterben miteinander unversöhnt. Olivier, der Vormund seiner Schwester Aude ist, löst sogar angesichts seines nahen Todes deren Verlobung mit Roland wieder auf, obwohl sie das Männerbündnis zwischen den beiden Kriegern eigentlich hätte festigen sollen. Die Freundschaft des anfangs ganz komplementären Paares zerbricht im Tal von Roncevaux an Rolands Exorbitanz. Roland, der am Ende einsam ins Horn bläst, erscheint als umso singulärer und heldenhafter. Gemäß dem Verfahren der epischen Wiederholung wird die Szene in gleich mehreren Variationen beschrieben – hier die Laissen 133 und 134: Rollant ad mis l’olifan a sa buche, Empeint le ben, par grant vertut le sunet. Halt sunt li pui e la voiz est mult lunge, Granz .XXX. liwes l’oïrent il respundre. Karles l’oït e ses cumpaignes tutes. Ço dit li reis: ›Bataille funt nostre hume!‹ E Guenelun li respundit encuntre: ›S’altre le desist, ja semblast gran mençunge!‹ (L. 133, V. 1753–60)

17 Vgl. Aristoteles: Poetik, griech./dt., hg. u. übersetzt v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, Kap. 13, 1453a. 

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Roland hat den Olifant an den Mund gesetzt, er setzt ihn richtig an und bläst ihn mit voller Kraft. Hoch sind die Berge und der Schall wird sehr weit getragen. Gute dreißig Meilen entfernt hörte man ihn widerhallen. Karl und alle seine Truppen hörten ihn. Da sagte der König: ›Unsere Männer schlagen eine Schlacht.‹ Und Ganelon entgegnete ihm: ›Wenn ein anderer es gesagt hätte, hätte es nach einer großen Lüge geklungen.‹ (Übers. Steinsieck) Li quens Rollant, par peine e par ahans, Par grant dulor sunet sun olifan. Par mi la buche en salt fors li cler sancs. De sun cervel le temple en est rumpant. Del corn qu’il tient l’oïe en est mult grant: Karles l’entent, ki est as porz passant. Naimes li duc l’oïd, si l’escultent li Franc. Ce dist li reis: ›Jo oi le corn Rollant! Unc nel sunast se ne fust cumbatant.‹ Guenes respunt: ›De bataille est (il) nient ! Ja estes veilz e fluriz e blancs ; Par tels paroles vus resemblez enfant.‹ (L. 134, V. 1761–72) Mit Mühe und Qual, unter großem Schmerz, bläst Graf Roland seinen Olifant. Aus dem Mund schießt ihm das helle Blut, die Schläfe an seinem Schädel zerspringt dabei. Der Schall des Horns, das er hält, trägt sehr weit: Karl, der über die Pässe zieht, hört ihn. Herzog Naimes hört ihn auch, und die Franken vernehmen es. Da sagte der Könige: ›Ich höre Rolands Horn. Er würde es nicht blasen, wenn er sich nicht im Kampfe befände.‹ Ganelon antwortete: ›Es gibt keine Schlacht. Ihr seid alt, und schneeweiß ist Euer Haupt, durch solche Reden gleicht Ihr einem Kind.‹ (Übers. Steinsieck) Die Exorbitanz des Helden ist am Ende selbstzerstörerisch. Der tödlich verletzte Krieger, der sich in den folgenden Strophen auf den Tod vorbereiten und Gott um Vergebung seiner Sünden bitten wird, ruft mit dem weithin hörbaren Klang des Hornes nicht Hilfe herbei, sondern es lässt der Olifant gewissermaßen die Begleitmusik zu jenem Heldentod ertönen, den der Vasall Roland im Dienste seines Lehnsherrn stirbt. Die Zeichenfunktion des Horntons ist emotiv, reiner Ausdruck. Rolands Verausgabung im Tod erhält die Züge einer handlungsstrategisch sinnlosen, aber bewundernswerten Selbstaufopferung, die dem transgressiven Charakter seiner proece entspringt. Das Übermaß, welches Rolands 166

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proece zu Wildheit und Ungestüm steigert, soll vom Publikum nicht als tragische Hamartia, sondern als ein bewundernswertes Faszinosum nachempfunden werden. Die christliche Apotheose in Rolands Sterbeszene enthebt die Hörerschaft aller Zweifel daran, wie sinnvoll der Tod des Helden überhaupt ist: Li quens Rollant se jut desuz un pin ; Envers Espaigne en ad turnet sun vis. De plusurs choses a remembrer li prist: De tantes teres cum li bers cunquist, De dulce France, des humes de sun lign, De Carlemagne, sun seignor, kil nurrit. Ne poet muer n’en plurt e ne suspirt. Mais lui meïsme ne volt mettre en ubli, Cleimet sa culpe, si priet Deu mercit: ›Veire Pate[r]ne, ki unkes ne mentis, Seint Lazaron de mort resurrexis, E Daniel des leons guaresis, Guaris de mei l’anme de tuz perilz Pur les pecchez que en ma vie fis!‹ Sun destre guant a Deu en puroffrit ; Seint Gabriel de sa main l’ad pris. Desur sun braz teneit le chef enclin ; Juntes ses mains est alet a sa fin. Deus tramist sun angle Cherubin, E seint Michel del Peril ; Ensembl’od els sent Gabriel i vint. L’anme del cunte portent en pareïs. (L. 176, V. 2375–96) Graf Roland lag unter einer Fichte. Nach Spanien hin hat er sein Gesicht gewandt. Die Erinnerung an mancherlei Dinge kam in ihm auf: an so viele Länder, die der edle Krieger erobert hat, an das liebliche Frankreich, an die Männer seiner Familie, an Karl den Großen, seinen Herren, der ihn aufzog. Er kann sich der Tränen und der Seufzer nicht erwehren. Aber sich selbst will er nicht vergessen: Er bekennt seine Sünden und bittet Gott um Vergebung: ›Wahrhaftiger Vater, der du niemals die Unwahrheit sagtest, der du den heiligen Lazarus vom Tode auferwecktest und Daniel vor den Löwen bewahrtest, bewahre meine Seele vor allen Gefahren, in die sie geraten kann wegen der Sünden, die ich in meinem Leben begangen habe.‹ Seinen rechten Handschuh bot er Gott dar ; der heilige Gabriel hat ihn aus seiner Hand entgegen https://doi.org/10.5771/9783835349452

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genommen. Er hielt den Kopf auf seinen Arm geneigt, und mit gefalteten Händen ging er seinem Ende entgegen. Gott schickte seinen Engel Cherubin und den heiligen Michael von der Gefahr, und mit ihnen kam der heilige Gabriel. Sie tragen die Seele des Grafen ins Paradies. (Übers. Steinsieck) Der Tod Rolands wird verklärt, und die ausführliche Beschreibung im Text, die sich mit mehrfachen Wiederholungen über viele Strophen hinzieht, stilisiert den Krieger zu einem Märtyrer für den christlichen Glauben, dessen Selbstopfer – gemäß der gängigen Kreuzzugstheologie – ihm die unmittelbare Aufnahme ins Paradies beschert. Sein Sterbegebet enthält mit den Anspielungen auf Lazarus und Daniel gebräuchliche Topoi,18 und die traditionelle Begräbnis-Antiphon In Paradisum te deducant angeli wird konkret ins Bild gesetzt. Der Heros unterscheidet sich nicht mehr von einem Heiligen. Und in der Tat wird Rolands Leichnam später zusammen mit den sterblichen Überresten von Olivier und Turpin nach Blaye an der Gironde geführt und in der Basilika Saint-Romain beigesetzt, einem historisch zuverlässig belegten Pilgerziel auf dem Jakobsweg und Stätte eines einschlägigen Reliquienkultes.

El Cantar de Mio Cid: Historische Daten und literarische Überschreibungen

Der zweite berühmte Heldengesang des romanischen Mittelalters ist das Lied vom Cid, El Cantar de Mio Cid, auch El Poema de Mio Cid.19 Es handelt sich dabei um das einzige vollständig erhaltene Exemplar dieser Gattung in altspanischer Sprache und im charakteristischen verso épico juglaresco (s. o.). Offenkundig steht es in der Tradition der altfranzösischen Karls-Epik, wiewohl es diese in entscheidenden Punkten modifiziert. Sowohl das Rolandslied als auch das Lied vom Cid fanden ein Publikum auf dem Jakobsweg, auf dessen Etappen die anfangs wohl schriftunkundigen Spielleute (frz. jongleurs, span. juglares) ihre Zuhörer unterhielten und von Begebenheiten erzählten, die sich früher auf dieser Route ereignet 18 Vgl. die altkirchlichen Sterbegebete in: Te Deum laudamus. Große Gebete der Kirche, lat./dt., hg. u. übersetzt v. Adolf Adam, Freiburg/Br. 1987. 19 Einschlägige Studien: Ramón Menéndez Pidal: Das Spanien des Cid, München 1962 [span. 1929]; Leo Spitzer: Sobre el carácter histórico del Cantar de Mío Cid, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 2 (1948), S. 105–117; Alan Deyermond: Mio Cid Studies, London 1977; Hans-Jörg Neuschäfer: Klassische Texte der spanischen Literatur. 25 Einführungen vom Cid bis Corazón tan blanco, Stuttgart 2011, S. 1–9. 

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hätten. Während sich dies beim Rolandslied schon daraus ergab, dass ein wichtiger Weg über Roncevaux führte, spielten auf der Iberischen Halbinsel die am Weg liegenden Klöster, etwa San Millán de la Cogolla in der Rioja und Santo Domingo de Silos in der Provinz Burgos, für die Verbreitung der Texte eine bedeutsame Rolle. Im Vergleich zum Rolandslied, dessen historisches Substrat in mehreren Jahrhunderten der mündlichen Erzähltradition stark verändert, angereichert und fiktionalisiert wurde, sind die Personen und wichtige Phasen der Handlung des Cid historisch zuverlässig dokumentiert und im Epos, das in der überlieferten Form wohl ein gutes Jahrhundert nach dem Tod des Protagonisten gedichtet worden ist, recht genau wiederzufinden ; dies gilt insbesondere für die Topographie, in der sich der Kriegs- und Eroberungszug des Cid entfaltet. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Rodrigo (auch Ruy) Díaz de Vivar, der 1043 geboren wird und dem niederen Landadel angehört, dem aber der Aufstieg zum caballero ›Kämpfer zu Pferde‹ gelingt. Aufgezogen wird er zusammen mit dem Infanten von Kastilien, dem späteren König Sancho II., in dessen Dienst er dann steht: Er wird dessen Fahnenträger und Heerführer und erhält den arabisch-spanischen Beinamen El Cid Campeador ›der Herr (und) Vorkämpfer‹. Nach der Ermordung Sanchos tritt Rodrigo in den Dienst von dessen jüngerem Bruder Alfons VI., dem König von Leon, der nun die Herrschaft auch über Kastilien und bald über Galicien übernimmt. Dank der Vermittlung durch Alfons erhält Rodrigo die Hand von dessen Verwandter Doña Jimena und heiratet in den Hochadel ein. Rodrigo wird mit der Einziehung von Tributen in Sevilla betraut, aber 1081 zum ersten Mal aus Kastilien verbannt, nachdem er bei einer Kampagne in eine Gemarkung im Bereich des noch maurischen Toledo eingefallen ist und diese geplündert hat, obwohl Alfons deren Schutzherr war. Offenbar handelte Rodrigo oft in eigener Regie als Kriegsherr, der über eine schlagkräftige Truppe verfügte, welcher sowohl Christen als auch Mauren angehörten. So stellt er sich für eine Weile in den Dienst des Emirs von Saragossa. Als Alfons 1086 Toledo erobert und das kastilische Territorium erweitert, wird Rodrigo rehabilitiert und erneut vom König als Vasall angenommen. Doch schon 1088 kommt es zum neuen Konflikt: Angesichts von Rodrigos militärischen Erfolgen und den neuen Vasallen, die sich unter Rodrigos Schutz stellen, fürchtet Alfons, von diesem Kriegsherrn übertrumpft zu werden. Ein zweites Mal im Exil beginnt Rodrigo einen eigenen Kriegszug, erobert zahlreiche maurisch beherrschte Orte außerhalb des kastilischen Territoriums und macht dort reiche Beute. Sein Weg, die sogenannte 

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ruta del Cid, wie sie von der Forschung rekonstruiert wurde,20 führt aus der altkastilischen Hauptstadt Burgos bis ins maurische Valencia, das er einnimmt und das ihm der König in Anerkennung seiner Leistung schließlich als Erblande verleiht. Nach dieser Rehabilitierung kann der Cid seine Töchter mit den Infanten von Navarra und Aragonien verheiraten. Rodrigo stirbt 1099, und seiner Witwe Jimena gelingt es nicht, Valencia gegen einen neuerlichen Angriff der Mauren zu verteidigen, welche die Stadt 1102 zurückerobern. Erst 1238 wird das Königreich Valencia von König Jakob I. erneut für die Christen zurückgewonnen und dem aragonesischen Herrschaftsverbund einverleibt. Im Cantar de Mio Cid, der wohl im frühen 13. Jahrhundert gedichtet, aber erst in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts überliefert ist,21 werden viele historische Tatbestände neu arrangiert und mit weiteren Informationen angereichert. Die Anfangsverse des ersten Gesangs (Tiraden 1–63) sind nicht erhalten, doch die Eröffnungsszenen zeigen den Cid, wie er seinen Heimatort Vivar mit seiner Heerschar verlässt und in Burgos einzieht, wo sein Schicksal von der Bevölkerung beweint wird. Er erfährt, dass er vom König verbannt ist und Kastilien verlassen muss ; der Text betrachtet diese Entscheidung des Königs gegen seinen tapferen und mutigen Feldherrn als ungerecht: »¡Dios, qué buen vassallo, / si oviesse buen señor!« ›Gott, welch guter Vasall, wenn er einen guten Lehnsherrn hätte!‹ (Tir. 3, V. 20) Noch vor dem Auf bruch gelingt es dem Cid mit Hilfe einer arglistigen Täuschung, sich beim jüdischen Geldverleiher-Ehepaar Rachel und Vidas einen ungedeckten Kredit zu erschleichen, um seinen Leuten Sold zahlen zu können. Sodann bricht er mit seiner Begleitung in die Verbannung auf. Seine Frau Jimena und seine Töchter Elvira und Sol (historisch Maria und Christina) bringt er im Kloster San Pedro de Cardeña unter. Der Erzengel Gabriel erscheint dem Cid im Traum, tröstet ihn und prophezeit ihm viele Erfolge in seinem künftigen Leben. Es folgt eine Reihe von Eroberungen maurischer Siedlungen, in denen der Cid reiche Beute macht, die er an seine Kämpfer verteilt. Im zweiten Gesang (Tir. 64–111) erobert der Cid Valencia und wird dessen Befehlshaber. Aufgrund seiner vielen militärischen Erfolge verbessert sich nach und nach sein Verhältnis zum König, und in Anerkennung der Verdienste seines Vasallen vermit20 Vgl. Guillermo García Pérez: Las rutas del Cid, Madrid 2000. 21 Im Folgenden zitiert nach der heute maßgeblichen Ausgabe: Poema de Mio Cid, hg. v. Ian Michael, 5. Aufl., Madrid 1984; Übersetzungen in der Regel aus: El Cantar de Mio Cid, übersetzt u. eingeleitet v. Hans-Jörg Neuschäfer, München 1964, mit informativer Einleitung S. 7–22. Vgl. auch Cantar de Mio Cid. Altspan./dt., übersetzt u. hg. v. Victor Millet u. Alberto Montaner, Stuttgart 2013. 

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telt Alfons den beiden Töchtern des Cid die Heirat mit einem hochadeligen Brüderpaar, den Infanten von Carrión. Im dritten Gesang (Tir. 112–152) überwerfen sich die Schwiegersöhne mit dem Cid, sinnen auf Rache an ihm und schänden dessen Töchter, ihre Ehefrauen, im Wald von Corpes, wo die Frauen nur knapp dem Tod entrinnen. Der schwer gekränkte Vater aber übt nicht selber Rache, sondern verweist den Fall an die Justiz des Königs. Auf einem Hoftag (Cortes) in Toledo wird – wie am Ende der Chanson de Roland – ein Gottesgericht anberaumt: Die Brüder müssen gegen zwei Vertrauensmänner des Cid kämpfen, unterliegen ihnen und ziehen schmählich in ihre Heimat zurück. Die Ehe der Töchter gilt damit als aufgelöst, und König Alfons verheiratet Doña Elvira und Doña Sol – wie in der historischen Realität – mit den Infanten von Navarra und Aragonien. Der Cid und seine Familie haben Satisfaktion erhalten, und die Töchter erlangen den Rang von Königinnen. Die historische Figur des Kriegsherrn Rodrigo Díaz wechselte mehrfach die Fronten und kämpfte mal für christliche, mal für maurische Herrscher. Seiner Truppe gehörten sowohl christliche als auch muslimische Verbände an. Auch als Vasall König Alfonsos führte er Kampagnen, die ihn in Konflikt mit seinem Lehnsherrn brachten, dessen Autorität wie auch Souveränität missachteten und ihm die zweimalige Verbannung einbrachten. Im Cantar werden diese problematischen Aspekte geschönt und verkehrt. Der Zug des Cid nach Valencia wird zum Kreuzzug gegen die Mauren im Dienste Kastiliens und im Sinne der Reconquista stilisiert. Trotz des Zerwürfnisses mit Alfons scheint der Cid stets im Namen und im Interesse des Königs zu handeln. Seine Verbannung aus Kastilien wird in der Erzähltradition auf eine ungerechtfertigte Verleumdung bei Hofe zurückgeführt, nicht auf offenkundige Loyalitätsverletzungen des Cid. So wertet das Epos die historischen Konstellationen um: Während der Cid als ein bis zur Selbstverleugnung zuverlässiger Vasall und als frommer Verteidiger der christlichen Sache gezeichnet ist, dessen Tapferkeit durch die Traumerscheinung des Erzengels autorisiert und auratisiert wird, erscheint Alfons als ein schlechter König und schlechter Lehnsherr, der die Verdienste seines glänzenden Vasallen lange Zeit verkennt und missachtet. In der Chanson de Roland ist dies völlig anders. Auch ist es vor dem Hintergrund des jugendlichen Roland und der homosozialen Ausrichtung der Heldenepik überhaupt22 bemerkenswert, dass der Cid nicht nur im Kriegerverband seiner männlichen Kampfgefährten anerkannt ist, sondern auch als treuer Ehemann und fürsorglicher Vater 22 Vgl. Simon Gaunt: Gender and Genre in Medieval French Literature, Cambridge 1995. 

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seiner Töchter gezeichnet wird, die er am Ende ehrenhaft verheiratet. Im Konflikt mit den Schwiegersöhnen werden die Familienhandlung und die politische Handlung zusammengeführt. Der Cid beschützt Ehre, Leben und Wohlergehen seiner Familie, aber er tut dies nicht entgegen der königlichen Amtsgewalt, sondern zusammen mit ihr, insofern er das Urteil von Alfons anruft und damit die juristische Zuständigkeit des Königs anerkennt. Während im Rolandslied der Vasall wegen seiner Kriegerehre den militärischen Erfolg seines Lehnsherrn gefährdet, löst der Cantar de Mio Cid den mittelalterlichen Dauerkonflikt zwischen der königlichen Gewalt und den Rechten der Vasallen im Sinne einer Befriedung der Ansprüche beider Seiten: Trotz der Verfehlungen seines Lehnsherrn ist der Vasall bereit, sich der königlichen Autorität zu unterwerfen, und verzichtet aus freien Stücken auf die Ausübung einer persönlichen Rache. Das gemachte Bild des Helden beruht im Cantar auf einer kontrafaktischen Idealisierung.

Die exorbitante Geschenk-Ökonomie des Cid und ihr Erfolg

Allerdings ist das epische Profil des Cid nicht nur durch Verantwortung für die Familie und durch Anerkenntnis der königlichen Gewalt, sondern auch durch heroische Außergewöhnlichkeit und Exorbitanz geprägt. Zum einen wohnt dem Cid – über seine militärischen Fähigkeiten hinaus – eine gleichsam naturgegebene Autorität inne. Diese zeigt sich zunächst darin, dass viele Anhänger mit ihm in die Verbannung und in einen ungewissen Eroberungsfeldzug auf brechen. Sie wird aber auch ins Heroisch-Übermenschliche gesteigert. In einer der bekanntesten Episoden, am Anfang des dritten Gesangs, tritt der Cid als ein Herr der Tiere in Erscheinung. Im Alcázar von Valencia bricht während der Siesta ein Löwe aus seinem Käfig aus und versetzt die gesamte Umgebung in Angst und Schrecken. Die Schwiegersöhne des Cid fliehen auf besonders unrühmliche Weise in ein Versteck. Der Cid selbst aber erhebt sich von seiner Liege und führt den Löwen in seinen Käfig zurück: En esto despertó el que en buen ora naçió, vio çercado el escaño de sus buenos varones: ›¿Qué ’s esto, mesnadas, o qué queredes vós?‹ ›Ya señor ondrado, rrebata nos dio el león.‹ Mio Çid fincó el cobdo, en pie se levantó, el manto trae al cuello e adeliñó pora [’l] león. El león, quando lo vio, assí envergonçó, 

Roland und Cid

ante Mio Çid la cabeça premió e el rrostro fincó. Mio Çid don Rodrigo al cuello lo tomó e liévalo adestrando, en la rred le metió. A maravilla lo han quantos que í son e tornáronse al palaçio pora la cort. (Tir. 112, V. 2292–2303) Unterdessen erwachte derjenige, der zu guter Stunde geboren wurde. Er sah das Ruhebett von seinen tapferen Männern umstellt: ›Was hat das zu bedeuten, Leute, und was wollt Ihr?‹ ›Ehrenwerter Herr, der Löwe jagte uns einen Schrecken ein.‹ Mein Cid stützte sich auf den Ellbogen und stand auf ; den Mantel hat er um die Schultern, und er ging auf den Löwen zu. Als der Löwe ihn sah, wurde er so verwirrt, dass er vor meinem Cid den Kopf senkte und das Antlitz niederbeugte. Mein Cid Don Rodrigo fasste ihn am Hals und führt ihn mit der Hand, er bringt ihn wieder in den Käfig. Das betrachten alle als ein Wunder, soviele ihrer dort sind, und sie kehrten zu dem Gemach zurück, das am Hof [für das Gefolge des Campeador eingerichtet war.] (Übers. Neuschäfer) Offenkundig verfügt der Cid über eine natürliche Autorität, der sich auch ein wildes Raubtier nicht entziehen kann. Ihre Demonstration erweist sich aber als ambivalent. Seine Gefolgsleute bewundern den Cid wegen seines heroischen Mutes und sparen nicht mit Häme gegen die Schwiegersöhne wegen ihrer feigen und unrühmlichen Flucht vor dem Löwen. Obwohl der Cid selbst den Spöttern Einhalt gebietet, weckt die Erniedrigung bei den Infanten von Carrión wütende Rachegelüste gegen ihren Schwiegervater, die sie nicht an ihm selbst, sondern an seinen Töchtern auslassen werden. Die heroische Überlegenheit des Cid wirkt sich zerstörerisch auf seine Familie aus und wird danach wieder gebändigt. Denn die Bestrafung der Schwiegersöhne ist keine heroische Tat, sondern ein legalistischer Akt: Der Cid hält sein Rachebegehren in Zaum und überlässt dem König das Urteil ; auch tritt er nicht selbst zum Ordal an, sondern akzeptiert, dass an seiner Stelle zwei seiner Krieger gegen die Infanten kämpfen. Die in der Löwen-Szene vorgeführte Exorbitanz des Helden wird durch die politische Hierarchie und das juristische Verfahren eingehegt. Neben seiner außergewöhnlichen kriegerischen Potenz, die im Sinne der Reconquista-Ideologie gegen die Mauren gerichtet ist (vgl. z. B. Tir. 118, V. 2408–28), besitzt der Cid eine weitere Eigenschaft, die erzählerisch besonders hervorgehoben ist: Großzügigkeit im Schenken. Auch diese lässt sich als Kodierung seiner Exorbitanz verstehen, in der die Exorbi https://doi.org/10.5771/9783835349452

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tanz ethisch und politisch eingehegt werden kann. Denn im aristotelischen Tugendkatalog ist Großzügigkeit (griech. ἐλευθεριότης, lat. largitas) Ausdruck von ›Hochherzigkeit‹ (μεγαλοψυχία, magnanimitas). Man muss hierzu bedenken, dass die Feldzüge, die der Cid als Kriegsherr im Gebiet der maurischen Territorien führt, Beutezüge sind. In der Reconquista-Ideologie haben die Ungläubigen kein Recht darauf, ihre Gebiete dauerhaft zu beherrschen. Insofern werden diese Zonen als eine Art Niemandsland betrachtet, als frontera ›Grenzlande‹: Die frontera gehört noch nicht als sanktionierter Besitz zu einem christlichen Königreich, sie wird aber auch nicht mehr als fester Bestandteil eines maurischen Herrschaftsgebildes betrachtet. Auf seinem Feldzug außerhalb Kastiliens eignet sich der Cid diese Gebiete durch seine Eroberungen an, und deren juristischer Status ist prekär, denn als Verbannter ist er überhaupt nicht befugt, für seinen König neues Land zu erobern. Die reiche Beute, die gemacht wird und die erst einmal dem Heerführer gehört, wird unter seinen Leuten gerecht verteilt. Dabei werden nicht nur die christlichen, sondern eben auch die muslimischen Verbände berücksichtigt. Sie alle sind in gewisser Weise die Vasallen des Cid, der am Anfang des Zuges ein Lehnsherr ohne Lehen ist. Denn die Kämpfer haben über ihren Sold hinaus keinen Anspruch auf zusätzliche Gratifikationen. Dass sie überhaupt bedacht werden, verdanken sie allein der Großzügigkeit des Anführers, der die errungenen Besitztümer auch allein für sich hätte behalten dürfen oder an nur wenige enge Vertraute hätte verschenken können. So zeigt sich in der reichen Verteilung von Gaben unter seine Leute eine positive Seite der Persönlichkeit des Campeador. Sie wird aber noch übertroffen und übersteigert durch eine weit ungewöhnlichere Großzügigkeits-Politik, die man als extravagant oder eben exorbitant bezeichnen darf. Der Cid beschenkt nicht nur Untergebene, die ihn als ihren Gefolgsherrn betrachten, sondern er beschenkt auch König Alfons, der inzwischen zu seinem Gegner geworden ist, den er aber weiterhin als seinen señor natural anerkennt, seinen ›natürlichen Feudalherren‹, dem er den Treueid geleistet hat und dessen Gunst er den Fortbestand seiner Besitzungen in Kastilien verdankt. Diese Geschenke sind aber nicht unproblematisch. Der Cantar de Mio Cid berichtet im Verlauf des Eroberungszuges von einem Dreischritt freiwilliger Gaben, die der Cid dem König übersendet. Es handelt sich hierbei nicht um Tribute, denn für die neugewonnenen Territorien ist der Cid dem König gegenüber gerade nicht tributpflichtig. Vielmehr geht es um eine Geste der Ehrerbietung und zugleich um ein Self-fashioning des Kriegsherren, der sich damit in eine Position begibt, 

Roland und Cid

in welcher er seinem Herrn auf Augenhöhe begegnet. Die erste Schenkung soll Alvar Fáñez Minaya, der Vertraute des Cid, zur Residenz des Königs bringen, nachdem die Stadt Alcocer eingenommen und die Beute an die Seinen verteilt ist. Es sind zwanzig gesattelte, gezäumte und beidseitig mit Schwertern bestückte Pferde: ›¡Oíd, Minaya, sodes mio diestro braço ! D’aquesta rriqueza que el Criador nos á dado a vuestra guisa prended con vuestra mano. Enbiarvos quiero a Castiella con mandado d’esta batalla que avemos arrancada, al rrey Alfonso que me á airado quiérol’ e[n]biar en don treinta cavallos, todos con siellas e muy bien enfrenados, señas espadas de los arzones colgadas.‹ Dixo Minaya Álbar Fáñez: ›Esto faré yo de grado.‹ (Tir. 40, V. 810–819) ›Hört, Minaya, Ihr seid mein rechter Arm! Von dem Reichtum, den der Schöpfer uns geschenkt hat, nehmt mit eigener Hand, soviel Ihr Lust habt. Ich will Euch nach Kastilien senden mit der Nachricht von dieser Schlacht, die wir gewonnen haben. König Alfons, der mich verbannt hat, will ich dreißig Pferde als Geschenk schicken, alle mit Sätteln und mit gutem Zaumzeug versehen, dazu jeweils ein Schwert, das vom Sattelbogen herabhängt.‹ Da sagte Minaya Albar Fáñez: ›Das werde ich mit Freuden tun.‹ (Übers. Neuschäfer) Eine zweite sehr viel üppigere Gabe sendet der Cid nach der Eroberung von Valencia an seinen König. Diesmal sind es bereits hundert Pferde, in deren Zahl sich der zunehmende Erfolg des Kriegsherrn und die Wichtigkeit der eingenommenen Hafenstadt zeigt, die zuvor Residenz eines Emirs war: ›Si a vós ploguiere, Minaya, e non vos caya en pesar, enbiarvos quiero a Castiella, dó avemos heredades, al rrey Alfonso mio señor natural ; d’estas mis ganançias que avemos fechas acá darle quiero çiento cavallos e vós ídgelos levar. Desí por mí besalde la mano e firme ge lo rrogad por mi mugier e mis fijas, si fuere su merçed, quen’ las dexe sacar.‹ (Tir. 77, V. 1270–77) 

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›Wenn es Euch gefällt, Minaya, und wenn es Euch nicht unrecht ist, so will ich Euch nach Kastilien schicken, wo wir unsere Güter haben, zu König Alfons, meinem rechtmäßigen Herrn. Von der Beute, die wir hier gemacht haben, will ich ihm hundert Pferde schenken, und Ihr sollt sie ihm bringen. Dann küsst ihm an meiner Statt die Hand und bittet ihn inständig für meine Gemahlin Doña Jimena und meine rechtmäßigen Töchter, dass er die Gnade habe, sie [aus Kastilien] herauszulassen.‹ (Übers. Neuschäfer) Zugleich verbindet der Bote die Überbringung des Geschenks mit der Bitte, der Gattin und den Töchtern des Cid die Ausreise aus Kastilien nach Valencia zu gestatten, wo der Campeador inzwischen residiert. Der König gewährt die Bitte. Die dritte Gabe übertrifft noch einmal die vorherige. Dazu gehört zunächst das Prachtzelt des marokkanischen Königs, den der Cid zwischenzeitlich besiegt hat: ›Tal tienda commo ésta, que de Marruecos es passada, enbiarla quiero a Alfonso el castellano,‹ que croviesse sos nuevas de Mio Çid que avié algo. Con aquestas rriquezas tantas a Valençia son entrados. (Tir. 95, V. 1789–92) ›Ein solches Zelt wie dieses, das aus Marokko gekommen ist, will ich Alfons dem Kastilier schicken.‹ So sollte er die Nachrichten über ihn glauben, nämlich dass er zu einigem Besitz gekommen sei. Mit diesem so prächtigen und reichen Beutestück sind sie in Valencia eingezogen. Zusätzlich zum Zelt übermittelt Minaya auch diesmal eine Huldigung seines Herrn an den König sowie weitere Pferde – jetzt zweihundert an der Zahl: ›Las ganançias que fizo mucho son sobeianas, rricos son venidos todos los sos vassallos e embíavos dozientos cavallos e bésavos las manos.‹ Dixo el rrey don Alfonso: ›Reçíbolos de grado ; gradéscolo a Mio Çid que tal don me ha enbiado, aún vea [el] ora que de mí sea pagado.‹ (Tir. 99, V. 1852–57) ›Die Beute, die er machte, ist äußerst umfangreich. Reich sind alle seine Vasallen heimgekehrt, und er schickt Euch zweihundert Pferde, und er küsst Euch die Hände.‹ Da sprach der König Don Alfonso: ›Ich 

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me sie gerne an. Ich danke meinem Cid, dass er mir ein solches Geschenk geschickt hat ; möge ich die Stunde noch erleben, wo er von mir belohnt wird.‹ (Übers. Neuschäfer) Der König nimmt die Gabe hocherfreut an und erklärt, er hoffe, sie in günstiger Stunde angemessen erwidern zu können. Er lässt damit auch nicht allzu lange auf sich warten und arrangiert als Zeichen seiner Gunst und der endgültigen Rehabilitation seines Vasallen die Heirat von dessen Töchtern mit den Infanten von Carrión. Und auch nach deren späterer Verurteilung nimmt der König seine Verantwortung für seinen Lehnsmann wahr und wählt mit den Thronerben von Navarra und Aragón noch höherrangige Bräutigame aus – eine juristische restitutio in melius ›Wiedergutmachung zum (noch) Besseren‹. Wie aber ist die Trias großzügiger Gaben zu bewerten, die der Cid an König Alfons schickt? Der Cid benennt die Gaben als don ›Geschenk‹. Geschenke im Sinne von Gunsterweisen sind jedoch in erster Linie das Vorrecht der Höhergestellten. Der Rechtshistoriker Bartolomé Clavero hat nachgezeichnet, dass in der spanischen Welt der Frühen Neuzeit eine Ökonomie königlicher ›Hulderweise‹ (mercedes) wirksam ist, die ihre Wurzeln im mittelalterlichen Feudalsystem hat und in welcher der Lehnsherr seinen Untertanen in Anerkennung erbrachter Dienste Gegengaben leistet, die auch als ›Wohltaten‹ (lat. beneficia, span. beneficios) bezeichnet werden.23 Diese Gegengaben können vom prospektiven Empfänger niemals eingefordert werden, sondern beruhen – wie schon Marcel Mauss erkannt hat – auf der grundsätzlich vorausgesetzten Freiwilligkeit des Gebens ; gleichwohl wird innerhalb eines Systems des generalisierten Gabentausches eine Erwiderung paradoxerweise als obligatorisch betrachtet.24 Somit impliziert und instauriert eine Schenkung ein hierarchisches Verhältnis: Der zuerst Schenkende ist frei in seiner Wohltat, der Beschenkte hingegen ist nur mehr frei in der Wahl von Art und Zeitpunkt seiner Erwiderung. Damit zeigt sich, dass die Entscheidung des Cid, seinem Lehnsherrn Alfons Geschenke zu offerieren, die nicht innerhalb des Lehens, sondern außerhalb, im Bereich der frontera, erworben wurden, keine Geste der Demut und Unterwürfigkeit, sondern eine Geste der Selbstbestätigung und Selbstermächtigung ist. Als Schenkender, der sich im Raum eines Draußen befindet, handelt der Cid autonom und setzt den Mechanismus des Gabentausches von sich aus in Bewegung. 23 Bartolomé Clavero: Antidora. Antropología católica de la economía moderna, Milano 1991. 24 Marcel Mauss: Die Gabe, übersetzt v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 1984 [frz. 1923/24]. 

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Es ist nun an König Alfons, angemessen zu reagieren. Die zunehmend exorbitanten Geschenke des Cid sind nicht als vorweggenommene Tribute eines künftigen Vasallen zu deuten, sondern als Gaben, wie sie ein Souverän dem anderen entbietet. Und die Gaben-Politik des Cid verfehlt ihre beabsichtigte Wirkung nicht: Er stimmt den König milde und bringt ihn schließlich dazu, sich mit dem Verbannten auszusöhnen, ihm seine königliche Gunst zu gewähren und ihn als de facto gleichrangig anzuerkennen. Bezeichnenderweise geschieht dies im Kontext des Familiären durch das Mittel einer Heiratspolitik, die zwischen der kastilischen Krone und dem Kriegsherrn eine Allianz stiften soll, da die Heirat unter dem Patronat des Königs erfolgt. Die exorbitante Großzügigkeit des Cid fügt sich ein in ein politisches Spiel des Macht- und Einflussgewinns, das mit den Vorgaben des Feudalismus, der monarchischen Amtsgewalt und auch des frühbürgerlichen Merkantilismus virtuos zu hantieren versteht.25 Solch taktisches Geschick, das der kastilische Cid immer wieder an den Tag legt, fehlt der heldischen Unbedingtheit nicht nur seines altfränkischen Vorgängers Roland, sondern dem Heldentypus der Heldenepik generell. Möglicherweise heißt dies auch, dass im Cantar de Mio Cid die Tradition der mittelalterlichen Kriegerhelden an ein Ende kommt.

Roland und Cid als alternative Helden-Typen

Roland ist der Vasall des stark mythisierten Charlemagne und auch selbst historisch kaum mehr zu greifen, während der Cid und sein König sich klar auf ihre historisch gut dokumentierten Vorbilder rückbeziehen lassen. Roland erscheint als jugendlicher Krieger, wohingegen der Cid Ehemann und Familienvater ist ; dementsprechend bewegt sich Roland im homosozialen Kontext eines Heldenverbands, der Cid jedoch hat immer auch Anteil an einer heterosozialen Welt. Im Rahmen der für das hohe und späte Mittelalter kapitalen Tugendlehre des Aristoteles ist Roland geprägt von Tapferkeit (proece), die freilich überschießt und in selbstzerstörerische Tollkühnheit umschlägt. Erst dieses Übermaß jedoch macht Roland zur heroischen Faszinationsfigur, die bereit ist, für die eigene Kriegerehre Verlust, Niederlage und Tod in Kauf zu nehmen. Mit Georges Bataille kann man diese verausgabende Triebdynamik eine économie générale oder 25 Dass sich die Beute- und Geschenkökonomie im Cantar zugleich auf frühbürgerliche merkantile Strukturen des Wirtschaftens einlassen muss, belegt die im ersten Gesang breit erzählte Episode vom Betrug am jüdischen Geldverleiher-Ehepaar Rachel und Vidas: Von ihnen erschleicht der Cid einen ungedeckten Kredit, um das ins Exil aufbrechende Söldnerheer zu finanzieren. 

Roland und Cid

mit Jacques Derrida eine anéconomie nennen.26 Am Ende wird die heroische Faszinationsfigur in die religiöse des Märtyrers umkodiert. Beim Cid scheinen mehr oder weniger deutlich alle Kardinaltugenden gegeben zu sein: Tapferkeit gegen den Feind, Gerechtigkeit gegenüber den Untergebenen, insbesondere Verteilungsgerechtigkeit bei der Beute, Fähigkeit und Bereitschaft, das rechte Maß einzuhalten und sich selbst zu beschränken, sowie Klugheit, die sich auch als List artikulieren kann. Exorbitantes Übermaß, das ihn ebenso kennzeichnet, wird dadurch eingehegt, in seinem destruktiven Potential konterkariert. Seine exorbitante Großzügigkeit wird eingebunden in die économie restreinte (Bataille) einer ziel- und gewinnorientierten Gaben-Politik, in welcher der Held auch erfolgreich ist. In der Gestalt des Cid prägt sich somit keineswegs eine Variante oder ein Wiedergänger Rolands aus, sondern ein klar unterschiedener Typus von Held, der als Alternative zu seinem literaturgeschichtlichen Vorläufer zu verstehen ist. So zeigen sich uns – gleich am Anfang der romanischen Literatur – zwei distinkte Arten vom Glanz des Helden.

26 Zum Gegensatzpaar von économie restreinte und économie génerale s. Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung, in: ders.: Die Aufhebung der Ökonomie, übersetzt v. Traugott König u. Heinz Abosch, München 1975 [frz. 1933]. Den Terminus der anéconomie mit vergleichbarer Bedeutung gebraucht Derrida kursorisch an verschiedenen Stellen, vgl. etwa Jacques Derrida: Donner la mort, Paris 1999, S. 131. 

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Tötende Frauen finden in der mittelalterlichen Literatur meist keine Gnade. Weil sie zum Schwert gegriffen habe, sei es nur richtig, dass sie auf den Mann getroffen sei, der ihr mit seinem Schwert den Kopf abschlug, urteilt der Erzähler über den Tod der Amazone Penthesileia in Herborts von Fritzlar Trojalied.1 Als Kriemhild es im Nibelungenlied wagt, Hagen zu enthaupten, ruft dies Entsetzen selbst bei dessen Feinden hervor. In einem Akt männlicher Solidarität sanktionieren sie die Untat umgehend: Kriemhild wird von einem der Ihren, ohne Einspruch ihres Ehemannes, zur Strafe »ze stücken […] gehouwen«.2 Frau darf also nicht töten, und vor allem darf Frau nicht Mann töten. Zum Zusammenhang von Geschlecht und Gewalt in der mittelalterlichen Literatur hat Elisabeth Lienert wichtige Aspekte herausgearbeitet. Der Frau komme im Kontext von Machtausübung zumeist eine passive, marginalisierte Rolle zu, denn Herrschaft (mhd. gewalt im Sinne von lat. potestas) muss notfalls mit dem Schwert, mittels gewalt (im Sinne von violentia) durchgesetzt werden, die Frau aber besitzt kein Schwertrecht ; das schwache Geschlecht begegnet daher eher als Opfer männlicher Gewalt, übt diese selbst aber allenfalls mittelbar aus ; wenn Frauen direkt Gewalt anwenden, ist dies eine Ausnahme und wird stets negativ bewertet (siehe Kriemhild).3 Während Kampf und Krieg Männersache ist, bleibt den Frauen oft nur, die gefallenen Krieger zu beklagen.4 1 Herbort’s von Fritslâr liet von Troye, hg. v. Karl Frommann, Quedlinburg u. Leipzig 1837, V. 14899–904. 2 Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe v. Karl Bartsch hg. v. Helmut de Boor, 22 revidierte u. v. Roswitha Wisniewski ergänzte Aufl., Mannheim 1988, Str. 2373– 2377, Zitat 2377. 3 Elisabeth Lienert: Geschlecht und Gewalt im Nibelungenlied, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 132 (2003), S. 3–23; dies.: Gender, Gewalt und mittelalterliche Literatur. Eine Projektskizze, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 15 (2005), S. 49–61. 4 Elisabeth Lienert: »daz beweinten sît diu wîp«. Der Krieg und die Frauen in mittelhochdeutscher Literatur, in: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Fs. f. Horst Brunner, hg. v. Dorothea Klein u. a., Wiesbaden 2000, S. 129–146. 

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&FFƲSpeculum humanae salvationis (14. Jh.): Maria besiegt den Teufel, Judith enthauptet Holofernes

Die alttestamentliche Judith wäre aus dieser Perspektive eine exzeptionelle Figur,5 und zwar in doppelter Hinsicht: Denn nicht nur greift sie wie Penthesileia und Kriemhild zum Schwert und enthauptet den Feldherrn Holofernes, sondern sie wird darin sogar positiv bewertet. Schließlich handelt sie im Namen Gottes, gehört sie zu jenen alttestamentlichen Exempelfiguren, derer sich Jahwe gerade wegen ihrer kriegerischen Unzulänglichkeit gerne zum Erweis seiner Allmacht bedient. Das prominenteste Beispiel ist der junge David, der den riesenhaften Krieger Goliath tötet. In ihrer Schwäche als Frau aber überbietet Judith David, wodurch Gott als eigentliches Subjekt der Handlung größere Evidenz gewinnt. Da die Tötung durch Frauenhand für den Betroffenen ganz und gar schändlich ist (vgl. Ri 9,54), wird Holofernes zudem eine schlimmere Demütigung zugefügt als Goliath. Judith scheint als Werkzeug Gottes an sich schon legitimiert, ihre Exzeptionalität in Exemplarizität aufgehoben. Dies gilt umso mehr, als sie im Mittelalter eine Präfiguration Marias war (Abb. 1) und ihre Brisanz als tötende Frau mittels zahlreicher Allegorisierungen abgemildert wurde: Judith besiegt als Figuration der Keuschheit bzw. Tugend in Holofernes die Lust bzw. das Laster (Hieronymus, Prudentius), als Ecclesia den Antichristen (Hrabanus Maurus), als Exempel für

5 Lienert (Anm. 4), S. 139; Lienert: Gender (Anm. 3), S. 56. 

Judith

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Glaubensmut und Frömmigkeit die Heiden (Ælfric).6 Ihre Ambivalenz, so liest man häufig, schlage erst ab der Frühen Neuzeit voll durch, wo sich Judith vom Exempel göttlicher Allmacht wandle zum Exempel hinterhältiger Weiberlist, die schon viele berühmte Männer zu Fall gebracht hat. Diese Rezeptionsweise hat Daniela Hammer-Tugendhat für die Kunstgeschichte überzeugend illustriert, etwa an zwei Bildern von Lucas Cranach, die zeigen, wie die gottesfürchtige Kämpferin ins Zwielicht gerät durch Analogisierung mit fragwürdigen Frauen wie beispielsweise Salome. Täter- und Opferrolle geraten so ins Wanken (Abb. 2 u. 3).7 In diesem Beitrag hingegen soll die mittelalterliche Judith im Zentrum stehen. An drei verschiedenen Textbeispielen werde ich beleuchten, dass die mittelalterliche Rezeption sich keineswegs mit einer nur religiösen 6 Vgl. Henrike Lähnemann: Hystoria Judith. Deutsche Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Berlin u. New York 2006, S. 25–32, 62–64, 419–424; TraceyAnne Cooper: Judith in Late Anglo-Saxon England, in: The Sword of Judith. Judith Studies Across the Disciplines, ed. by Kevin R. Brine u. a., Cambridge 2010, S. 169–196. 7 Daniela Hammer-Tugendhat: Judith und ihre Schwestern. Konstanz und Veränderung von Weiblichkeitsbildern, in: Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Annette Kuhn u. a., Dortmund 1997, S. 343–385, zu Judith und Salome 355–357. Zur grundsätzlichen Ambivalenz Judiths vgl. zudem Margarita Stocker: Judith. Sexual Warrior. Women and Power in Western Culture, New Haven u. London 1998. 

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Legitimierung der Figur begnügt, sondern auch ihre grundsätzliche Ambivalenz zur Darstellung bringt. Denn die tötende Frau stellt in den meisten Kulturen zwar ein Skandalon, in ihrer Transgression der Geschlechterrolle aber zugleich ein Faszinosum dar. Der Fokus wird hier auf dem gerade in ihrer Normwidrigkeit begründeten Reiz der Heldin, auf ihrer Exorbitanz liegen. Unter Rekurs auf Klaus von See formuliere ich zunächst eine heroische Kernfabel, ein spezifisches Narrativ weiblicher Exorbitanz, das ich an verschiedenen Zeugnissen illustriere. Wie mittelalterliche Judith-Texte, konkret die altenglische Judith sowie die frühmittelhochdeutschen Texte der Älteren und der Jüngeren Judith das Exorbitanzpotential der biblischen Heroine verhandeln, ist Gegenstand der anschließenden Abschnitte. Ziel ist, statt einer einsinnigen Deutung variierende Akzentuierungen der Protagonistin sowie ein Spektrum von Strategien aufzuzeigen, mit denen die Texte sich an ihrer Ambivalenz abarbeiten und ihre Exorbitanz ganz unterschiedlich auszutarieren versuchen. Vorab rekapituliere ich den Inhalt des biblischen Judith-Buches.

Die biblische Heldin

Das Buch Judith gehört als romanhafte, fiktionale Erzählung zum katholischen, nicht aber zum hebräischen und protestantischen Kanon biblischer Bücher, es wurde von Luther den Apokryphen zugeordnet. Der wohl im 2. Jahrhundert v. Chr. entstandene Text ist in mehreren im Detail variierenden, im Handlungsablauf aber übereinstimmenden Fassungen überliefert.8 Judith selbst tritt sehr spät, nämlich erst im achten der insgesamt 16 Kapitel auf. Zuvor erzählt der Text ausführlich von männlicher Machtkonkurrenz und den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Nebukadnezar, dem König der Assyrer, und Arphaxad, dem König der Meder. Der siegreiche Nebukadnezar beauftragt seinen Feldherrn Holofernes schließlich, die ganze Welt zu erobern. Der unterwirft tatsächlich unaufhaltsam alle Länder, bis die Israeliten Widerstand leisten, da sie im Fall einer Niederlage Nebukadnezar als Gott anbeten sollen. Der Ammoniter Achior klärt den Feldherrn über das widerspenstige Volk und sein besonderes Gottesverhältnis auf: Solange es mit Gott in Einklang lebe, sei Israel unbesiegbar, schütze Gott es selbst. Damit zeichnet sich eine Machtprobe zwischen dem An8 Aus der umfangreichen theologischen Literatur sei hier nur einführend verwiesen auf Erich Zenger: Judith / Judithbuch, in: Theologische Realenzyklopädie 17 (1988), S. 404–408; zur Textgeschichte des Buches mit besonderer Berücksichtigung des Mittelalters vgl. Lähnemann (Anm. 6), S. 16–85. 

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spruch Nebukadnezars auf der einen und Jahwe als wahrem Gott auf der anderen Seite ab. Allerdings fehlt Nebukadnezars Stellvertreter Holofernes auf israelitischer Seite noch ein Gegenspieler. Als der Heerführer die Bergfestung Betulia belagert und ihr die Wasserzufuhr abschneidet, will sich die Stadt bald ergeben ; ihr Vorsteher Usija schlägt den entkräfteten Einwohnern aber vor, noch fünf letzte Tage auf Gottes Hilfe zu warten. An diesem Punkt der Handlung kommt endlich die fromme Witwe Judith ins Spiel. Sie rügt das Ultimatum in einer theologisch versierten Rede als Kleinglauben und wendet sich in einem langen Gebet an Gott. Gesalbt und geschmückt begibt sie sich darauf mit ihrer Magd zum Feldlager der Assyrer, verschafft sich durch eine List Zutritt und besticht Holofernes durch ihre Schönheit und Klugheit. Am vierten Tag ihres Aufenthaltes feiert dieser ein Festmahl und befiehlt, die schöne Hebräerin zu ihm zu bringen, denn es sei eine Schande, wenn eine solche Frau ihm unberührt entgehen und einen Mann zum Narren gehalten haben sollte. Sie täuscht Einverständnis vor, er trinkt in freudiger Erwartung so viel wie noch nie in seinem Leben. Im Gemach schläft Holofernes auf seinem Bett volltrunken ein. Seine Tötung wird durch zwei Handlungsdoppelungen besonders hervorgehoben: Judith betet, greift zum Schwert des Hauptmanns und seinem Haarschopf ; darauf betet sie erneut und führt zwei Schwertschläge zum Hals ; zuletzt schneidet sie ihm den Kopf ab. Es ist genau der Moment zwischen den beiden Schlägen, den Donatello in seiner berühmten Bronzeskulptur Judith und Holofernes darstellt: Mit der linken Hand hält Judith den muskulösen, aber erschlafften Körper des Holofernes am Abb. 4 Haarschopf und zwischen ihre Beine Donatello, geklemmt fest, während die rechte Judith und Holofernes

GE Hand hocherhoben mit dem Schwert 

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&FFƲ Donatello, Judith und Holofernes (Detail: Kopf des Holofernes)

zum zweiten Schlag ausholt (Abb. 4). Der Hals des Holofernes weist, wie die Detailansicht erkennen lässt, bereits eine offene Wunde am Hals auf (Abb. 5).9 Mit dem Haupt des Holofernes kehrt Judith nach Betulia zurück (Abb. 6), wo sie es öffentlich präsentiert: Gott, der Herr, habe den Feind durch Frauenhand umgebracht. Die siegreiche Heldin bestimmt auch das weitere Vorgehen: Man solle einen Ausfall vortäuschen, damit die Assyrer den kopflosen Leichnam entdeckten und die Flucht ergriffen ; die Fliehenden solle man alle totschlagen. So geschieht es. Am Ende singt Judith dem Herrn ein Danklied, das ihren Sieg triumphierend zur Geltung bringt, ihre Weiblichkeit und Schönheit ebenso wie das Entsetzen über ihre wagemutige Tat betont.

9 Vgl. die detaillierte, Ambivalenzen herausarbeitende Analyse bei Horst Bredekamp: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem, München 1995, S. 14–29. Es scheint in der Forschung nicht selbstverständlich, dass der Moment zwischen zwei Schlägen exakt dem Geschehen der biblischen Vorlage entspricht (ebd., S. 19). 

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Ein Narrativ weiblicher Exorbitanz: Frau tötet Mann im Bett

In ihren Kernelementen lässt sich diese Geschichte neben eine Reihe anderer Geschichten stellen, aus deren Vergleich man ein Narrativ weiblicher Exorbitanz extrapolieren kann. Vier Komponenten sind für das Narrativ wesentlich: 1. Frau tötet Mann, 2. im Bett / als er schläft / nach einem Gelage, 3. eigenhändig / mit Hilfe anderer, 4. aus Rache / zur Strafe. Die Komponente 1 Frau tötet Mann beinhaltet den Handlungskern, den ich als exorbitant im Sinne Klaus von Sees bestimme: Exorbitant sind in Heldensagen überlieferte Handlungen, »ungewöhnliche, dubiose, schreckerregende Ereignisse, – Ereignisse, die Fragen herausforderten, die (simpel formuliert) Gerüchte provozierten«,10 meist transgressive Taten von großer Gewalt, die außergewöhnlich und keinesfalls zur Nachahmung bestimmt sind.11 Nicht nur von daher lässt sich die Kategorie der Exorbitanz genderübergreifend anwenden. Von See hat Exorbitanz zwar oft an männlichen Helden, einem Typus selbstmächtig und rücksichtslos handelnder Krieger expliziert, hat dabei aber Frauen keineswegs ausgeschlossen.12 Als exorbitant kann demnach allgemein »eine Figur [gelten], deren Faszination gerade darin liegt, daß sie das Exorbitante, das Regelwidrige tut«,13 also auch die tötende Frau, deren Grenzüberschreitung, wie eingangs gezeigt, als monströs und schreckenerregend wahrgenommen wird. Die Komponente 2 im Bett / als er schläft / nach einem Gelage ergänzt den Handlungskern um Ort und Zeit. Ihre Funktion und die ihrer aufgerufenen Konnotate (der wehrlose/müde/ trunkene Mann) bestehen zum einen in Plausibilisierung, erklären diese Umstände doch, wie es einer Frau überhaupt möglich sein kann, den an und für sich stärkeren Mann zu bezwingen. Eine weitere Funktion stellt die Depotenzierung sowie Entehrung des Mannes dar: Dass der Krieger 10 Klaus von See: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, 2., unveränderte Aufl., Wiesbaden 1981, S. 94, vgl. auch 77. 11 Den Handlungsaspekt von Exorbitanz betont auch Elisabeth Lienert: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos, in: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 38–63. 12 So fragt von See beispielsweise: »Wer ist der Held im alten Atlilied, – Gunnar, Högni, Atli, Gudrun?« (Anm. 10, S. 77). Oder er verweist auf Kriemhilds exorbitante Rache ; vgl. ders.: Die Exorbitanz des Helden – die Texte und die Theorien, in: ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, mit einem Vorwort v. Julia Zernack, Heidelberg 2003, S. 153–164, hier 156 f. 13 Klaus von See: Was ist Heldendichtung?, in: ders.: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 1981, S. 154–193, Zitat 184. 

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ausgerechnet im Bett stirbt, unterstreicht die Verkehrung der Ordnung, mithin die Exorbitanz des Geschehens, da das Bett normalerweise Herrschaftsraum des Mannes über die Frau ist, ein Krieger überdies auf dem Schlachtfeld sterben sollte. Komponente 3 eigenhändig / mit Hilfe anderer spezifiziert die Modalität der Kernhandlung, wobei das Attribut eigenhändig den Aspekt von Exorbitanz nochmals potenziert. Zum Wie gehören außerdem Details wie die Tatwaffe, die vom Schwert über ein Messer bis zur Haarnadel reichen kann. Die Komponente 4 aus Rache / zur Strafe bietet abschließend die Motivierung der gesamten Handlung, die eine Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten des Getöteten ist.14 Als eines der prominentesten Beispiele für dieses Narrativ kann die Sagentradition um den Hunnenkönig Attila gelten. Laut Marcellinus Comes († nach 534) starb Attila, der Schrecken Europas und wie Holofernes herausragender Feldherr, im Jahre 454 eines Nachts entweder durch die Hand einer Frau mit dem Messer durchbohrt oder an einem Blutsturz.15 Jordanes († nach 552) kennt nur die Blutsturzvariante, fügt aber hinzu, dass dies in der Hochzeitsnacht mit einem Germanenmädchen namens Ildico geschah, Attila von Wein und Schlaf beschwert am Blut erstickte.16 So oder so: Vorgänge jedenfalls, die im Sinne von Sees in der Lage waren, Gerüchte zu produzieren. Poeta Saxo berichtet knapp 350 Jahre später dann die vollständige Kernfabel weiblicher Exorbitanz: Attila sei durch die Hand einer Frau gestorben, die ihn, den von Wein und Schlaf träge Gewordenen, in grausamem Vorsatz und aufgestachelt von Hass in schrecklichem Wagemut getötet habe ; sie habe mit diesem Verbrechen den Tod des eigenen Vaters gerächt, eine Motivation, die später die Quedlinburger Annalen bestätigen und um einen Brautraub noch ergänzen.17 Die Geschichte des in der Lieder-Edda überlieferten Atliliedes unterscheidet sich 14 Eine Variante des Narrativs ist die Ermordung des Mannes im Bad, z. B. Agamemnons durch Klytaimestra bei Aischylos. Vgl. außerdem den Tod Jean Paul Marats und seine literarhistorische Resonanz, etwa in dem anonymen Drama Charlotte Corday, ou la Judith moderne. In Gottfrieds von Straßburg Tristan will Isolde den badenden Tristan mit dem Schwert töten als Rache für ihren Onkel Morolt. Die Grenzüberschreitung wird diskursiviert, indem in Isolde »zorn« (›Racheverlangen‹) und »süeze wîpheit« (die ›sanfte Natur der Frau‹) gegeneinander kämpfen und letztere siegt: Isolde wirft das Schwert weg und Tristan bleibt am Leben (Gottfried von Straßburg: Tristan, hg. v. Karl Marold, Berlin u. New York 1977, V. 10200–10287). 15 Marcellinus Comes: Chronicon VII, 1 (z. J. 454), in: Chronica Minora, hg. v. Theodor Mommsen, Bd. 2, Berlin 1894, S. 86. 16 Jordanes: De origine actibusque Getarum XLIX, 254, in: Iordanis Romana et Getica, hg. v. Theodor Mommsen, Berlin 1882, S. 123 f. 17 Poeta Saxo: Annalium de gestis Caroli Magni imperatoris III, 26–34, in: Poetae Latini aevi Carolini, hg. v. Paul Winterfeld, Bd. 4, Berlin 1899, S. 31; Annales Quedlinburgenses, hg. v. Martina Giese, Hannover 2004, S. 415, Z. 1–3. 

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davon zwar deutlich, enthält jedoch das Narrativ weiblicher Exorbitanz ebenfalls: Gudrun setzt ihrem Gatten Atli bei einem Gelage die Herzen der gemeinsamen Söhne als Speise vor und tötet den betrunkenen und waffenlosen Atli anschließend im Bett: »Sie gab dem Bett mit dem Schwert Blut zu trinken«.18 Mit den monströsen Taten rächt sie sich an Atli für die Ermordung ihrer Brüder Högni und Gunnar, eine Version, die auch in anderen Liedern der Lieder-Edda angedeutet und in der Vǫlsunga saga ausführlich erzählt wird.19 Auch die Geschichte von Sigurds Tod in Lieder-Edda und Vǫlsunga saga enthält – anders als der Tod Siegfrieds im Nibelungenlied – das beschriebene Narrativ: Sigurd wird schlafend im Bett von Gotthorm erschlagen, und zwar auf Veranlassung der in ihrem Ehrgefühl gekränkten Brynhild, aus Rache für Sigurds Bruch seines Liebesschwurs.20 Außerdem begegnet das Narrativ in der Sage von Alboin und Rosamunde, vor allem in der bei Paulus Diaconus überlieferten Version: Rosamunde rächt sich für die Ermordung ihres Vaters am Langobardenkönig Alboin, indem sie während seines Mittagsschlafes einem gedungenen Mörder, einem engen Vertrauten Alboins, Zugang zum königlichen Gemach verschafft, nachdem sie zuvor die Waffen entfernt und sein Schwert am Bett festgebunden hatte. Explizit bewertet der Chronist es als entsetzliche Schandtat, dass der größte Krieger durch den Rat einer schwachen Frau vernichtet worden sei.21 Weitere Beispiele aus der Weltliteratur ergänzen das Bild. Im Alten Testament begegnet auch Jaël, die den feindlichen kanaanitischen Feldherrn Sisera, nachdem sie ihm einen Trank gereicht hat, ermattet in tiefem Schlaf im Zelt tötet (Ri 4 f.): Sie jagt ihm mit einem Hammer einen Zeltpflock durch die Schläfe (Abb. 7). In der antiken Mythologie trifft man auf die Danaiden, die Töchter des Danaos, die (mit Ausnahme von 18 Das Atlilied, in: Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda, übersetzt, kommentiert u. hg. v. Arnulf Krause, Stuttgart 2004, S. 416–427, Zitat 426, Str. 41. 19 Vgl. das Kurze Sigurdlied (Götter- und Heldenlieder [Anm. 18], S. 379, Str. 60), das Zweite Gudrunlied (ebd., S. 399, Str. 38) und das Grönländische Atlilied (ebd., S. 429– 451), das die Geschichte in epischer Breite auserzählt und um grausame Details erweitert ; Die Saga von den Völsungen, in: Isländische Vorzeitsagas, Bd. 1, hg. u. aus dem Altisländischen übers. v. Ulrike Strerath-Bolz, München 1997, S. 37–114, hier 105–111. Im Grönländischen Atlilied und in der Vǫlsunga saga tötet Gudrun Atli mit Unterstützung von Högnis Sohn Niflung. 20 Vgl. das Kurze Sigurdlied (Götter- und Heldenlieder [Anm. 18], S. 366–375, Str. 1–41), den Prosanachtrag zum Fragment eines Sigurdliedes (ebd., S. 357), Gudruns Aufreizung (ebd., S. 453 f., Str. 4), das Alte Hamdirlied (ebd., S. 461, Str. 6 f.) und die Vǫlsunga saga (Anm. 19), S. 76–96. 21 Paulus Diaconus: Historia Langobardorum II, 28, hg. v. Ludwig Bethmann u. Georg Waitz, Berlin 1878, S. 87–89. 

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Hypermestra) auf Anweisung ihres Vaters hin in ihrer Hochzeitsnacht die Söhne des Aigyptos, schwer von Essen und Wein, mit dem Schwert töten, um sich für die Intrigen des Aigyptos zu rächen (Abb. 8).22 Aus der mittelalterlichen Literatur sei noch auf die Unschuldige Mörderin von Heinrich Kaufringer verwiesen, die den Mann, der ihr durch eine List ihre Unschuld geraubt hat, im Schlaf tötet und ihm mit einem Messer den Kopf abschneidet.23 Die biblische Judith-Geschichte zeigt in den vier Komponenten des Narrativs im Laufe ihrer breiten Rezeptionsgeschichte diverse Variationen, die sowohl in der medialen Vermittlung als auch im jeweiligen kulturellen Kontext, nicht zuletzt aber in der Ambivalenz der Fabel selbst gründen. Während Judith-Darstellungen der Malerei und bildenden Kunst die exorbitante Kernhandlung an sich (Abb. 1, 4, 5, 10, 11) oder ihr unmittelbares Ergebnis: Judith mit Holofernes’ Kopf als Trophäe fokussieren (Abb. 2, 6, 9), also die handelnde Protagonistin in aller Eindeutigkeit visualisieren, tritt das sujet in der Narration von Texten weniger 22 Vgl. z. B. Ovid: Heroides. Briefe der Heroinen, lat./dt., übersetzt u. hg. v. Detlev Hoffmann u. a., Stuttgart 2000, S. 149–157. 23 Heinrich Kaufringer: Die unschuldige Mörderin, in: Novellistik des Mittelalters, hg., übersetzt u. kommentiert v. Klaus Grubmüller, Berlin 22014, S. 798–839, hier V. 269–280. 

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Abb. 8Ǖ Ovid, -IVSMHIW JV^ Die Danaiden töten ihre Ehemänner

eindeutig in Erscheinung. Es changieren Gott und Judith als Urheber der Tat, die Akzente können hier sehr unterschiedlich gesetzt werden. Während im biblischen Text und seinen mittelalterlichen Adaptationen Holofernes besonders gedemütigt wird, weil er mit der Frau, die ihn tötet, zuvor nicht einmal schlafen konnte, korrigieren diesen doppelten Triumph manche Versionen in der Neuzeit. In Hebbels Judith etwa durchschaut Holofernes Judiths Plan und kann sie – ungeschützt von einer transzendenten Macht nur mehr auf sich gestellt – vergewaltigen, was sich auf die Motivierung der Mordtat auswirkt: Sie ist persönliche Rache für die Entjungferung, nicht politische oder religiöse Tat. Im biblischen Text ist die Motivierung von Judiths Tat hingegen sehr grundsätzlich ambivalent: Einerseits dient sie der Rettung Israels, besitzt also eine Gemeinschaftsbezogenheit, die laut von See gerade nicht zur exorbitanten Tat gehört, sekundär allerdings für ihre Legitimierung in Dienst genommen werden kann ;24 andererseits ist die Tat die Bestrafung menschlicher 24 Von See (Anm. 13), S. 192 f. 

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&FFƲ Conrat Meit, Judith mit dem Haupt des Holofernes

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Hybris durch den alttestamentlichen, Rache zugeneigten Gott, der sich gerade des Exorbitanten zum Erweis seiner Allmacht bedient. Auf solcherlei Ambivalenzen gilt es nachfolgend in den mittelalterlichen JudithTexten besonderes Augenmerk zu legen.

Bloody Judith: Exorbitanz und Rache in der altenglischen Judith

Die altenglische Judith, entstanden um 1000, ist ein Fragment von ca. 350 Versen. Im Nowell Codex unikal überliefert, befindet sie sich direkt hinter dem Beowulf in prominenter, sozusagen heroischer Gesellschaft. Der Text, dessen Anfang wohl fehlt, beginnt mitten im Festmahl, das zum germanischen Gelage stilisiert ist. In seinem Mittelpunkt steht ein maßloser Holofernes, der seine Männer grölend zum exzessiven Trinken nötigt.25 25 Zitiert nach: Judith, in: The Longman Anthology of Old English, Old Icelandic and Anglo-Norman Literatures, ed. by Richard North u. a., Harlow u. a. 2011, S. 401–419. 

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Judith ist dabei nicht anwesend. Die Figurencharakterisierung des Textes weist eine deutliche Schwarz-Weiß-Zeichnung auf: Während Holofernes durchgängig als Inbegriff des abgrundtief Bösen, als teuflischer Widersacher erscheint, ist Judith heilige, reine Magd und weise Dienerin Gottes, steht, wie schon die ersten Verse verdeutlichen (V. 1–5), unter dessen Schutz und erfährt durchweg dessen Beistand.26 Auf diesem selbstver26 Vgl. zur kontrastiven Gestaltung von Judith und Holofernes: Peter J. Lucas: Judith and the Woman Hero, in: Yearbook of English Studies 22 (1992), S. 17–27, hier 22–24. 

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ständlichen religiösen Fundament akzentuiert die altenglische Judith jedoch umso deutlicher – so meine These – die Exorbitanz der Frau und gibt ihren Handlungen eine entsprechende Ausrichtung.27 Greifbar wird dies erstens in dem sich wechselseitig ergänzenden Verfahren des Textes, einerseits die Gewalttat selbst mit blutigen Details auszuschmücken und andererseits zugleich die Weiblichkeit der Täterin zu betonen. Judith ist eine Frau von elfenhaft verzaubernder Schönheit (»ides ælfscinu«, V. 14). Zweimal werden ihre unverhüllten Haare als »wundenlocc« bezeichnet (V. 77, 103),28 immer unmittelbar im Zusammenhang mit der exorbitanten Tat: Mit ›lockig geflochtenem Haar‹ zieht sie das scharfe Schwert aus der Scheide (V. 77–80) und nach einem Gebet Holofernes an seinem Haar so gekonnt an sich heran, dass sie ihn gut im Griff hat (V. 98–103); dann führt sie mit ›lockig geflochtenem Haar‹ 27 Anders ebd., S. 21 f. u. 25, Cooper (Anm. 6), S. 170, 178–180, 183, sowie Jackson J. Campbell: Schematic Technique in Judith, in: English Literary History 38 (1971), S. 155–172. 28 wundenlocc auch in V. 325; vgl. Michael Swanton: Die altenglische Judith: Weiblicher Held oder frauliche Heldin, in: Heldensage und Heldendichtung im Germanischen, hg. v. Heinrich Beck, Berlin u. New York 1988, S. 289–304, hier 301, und Lucas (Anm. 26), S. 19 f. 

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und ›blutigem Schwert‹ den ersten Schlag aus (V. 103 f.). Aber, so expliziert der Text detailliert, da der Hals erst halb durchtrennt wurde, ist Holofernes zwar tödlich verletzt und ohne Bewusstsein, aber eben noch nicht ganz tot (V. 105–108). Durch einen zweiten Schlag, darin dem biblischen Prätext entsprechend, enthauptet sie Holofernes schließlich kühn (V. 108 f.), so dass der Kopf – dies freilich entbehrt der Vorlage – wegspringt und auf dem Boden davonrollt (»þæ t him þæt heafod wand / forð on ða flore«, V. 110 f.). Die Tat wird neben solch markanten Details mit reichlich Blut versehen: Judith schwingt schon vor dem ersten Schlag ein ›blutiges Schwert‹ (V. 104), sie nimmt, während Holofernes’ Seele schon zur Hölle fährt, sein ›blutiges‹ (V. 126) Haupt in ihren Proviantbeutel, der nun ebenfalls ›blutig‹ (V. 130) wird, schwingt schließlich das ›blutige Ding‹, also den Kopf, sichtbar vor den Bürgern in Betulia (V. 174). In der Ausführlichkeit der Beschreibung, in den blutgetränkten Einzelheiten bis hin zum rollenden Kopf manifestiert sich ein erzählerischer Überschuss, der das Interesse an der kaltblütigen Tat, an der Grenzüberschreitung, mithin an ihrer Exorbitanz deutlich zum Ausdruck bringt. Im Fokus steht jedenfalls nicht die Überforderung einer im Kampf unerprobten Frau bei einer für sie ungewohnten Tätigkeit.29 Die Exorbitanz tritt zweitens in einer durchgängigen heroischen Attribuierung hervor. Judith wird mehrfach als ›kühn‹ bezeichnet (»ellenrof«, V. 109; »mid elne«, V. 95; »ellenþriste«, V. 133), die exorbitante Tat selbst wiederholt als ›Kampf in der Schlacht‹ (V. 122 f. u. 175.), der ihr nicht nur Lohn im Himmel, sondern wie einem Krieger auf Erden Ruhm und Ehre einbringt (V. 342–345). Das Haupt des Holofernes fungiert als sichtbares Zeichen ihres Sieges (V. 174 f.). Heroisiert wirkt auch Judiths Aufruf zum Kampf an die Hebräer, plötzlich ebenfalls ›Helden‹ (»hæleð« V. 177), sowie die folgende Schlacht. Aus einem nur vorgetäuschten Angriff in der Bibel wird ein echter, aus der eher unheroischen Tötung Fliehender dort wird hier eine veritable Schlacht, die, atmosphärisch auserzählt, sehr großen Raum im Text einnimmt (V. 199–241, 261–265, 289–334): Kriegsmutige Helden marschieren unter Helmen und Bannern in die Schlacht. Hungrige Wölfe und Krähen freuen sich auf das Festmahl, das ihnen bereitet wird. Ein Adler, begierig nach Aas, singt ein Schlachtlied. Krieger rücken mit Schilden vor, Pfeile fliegen durch die Luft, Speere werden 29 So Cooper (Anm. 6), S. 180. Sexuelle Implikationen des Tötungsaktes als Angriff auch auf Holofernes’ männliche Rolle betont dagegen Karma Lochrie: Gender, Sexual Violence, and the Politics of War in the Old English Judith, in: Class and Gender in Early English Literature. Intersections, ed. by Britton J. Harwood & Gillian R. Overing, Bloomington / IN u. a. 1994, S. 1–20, bes. 10–13. 

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geschleudert, Langschwerter gezogen, niemand wird geschont im heroischen Rasen der Helden (»Hæleð wæron yrre«, V. 225). Die Akzentuierung des Narrativs weiblicher Exorbitanz lässt sich noch in einer dritten Hinsicht feststellen: Ein gemeinschaftsbezogenes Motiv von der Rettung des hebräischen Volkes bietet die altenglische Judith nicht. Sie forciert stattdessen die oben skizzierte Komponente 4, indem sie das Geschehen durchgehend als Vergeltung darstellt; das ganze Geschehen atmet den Geist exorbitanter Rache. Schon im Gebet vor der Ermordung des Holofernes zeigt sich diese Motivierung: Judith bittet Gott ausdrücklich um ›Rache‹, nennt großen ›Zorn‹ und ›Hass‹ als Motive ihres Handelns (»Gewrec nu, mihtig Dryhten, / […] þæt me ys þus torne on mode, / hate on hreðre minum«, V. 92–94). Analog ist die folgende Schlacht gegen die Assyrer seitens der Hebräer motiviert als Bestrafung, als Abrechnung für frühere Kämpfe und erlittenes Leid (V. 180–183, 216–220, 261–265 u. a.), bezahlt wird erneut mit blutiger Klinge (V. 194 f., 264). In der parallelen Anordnung der Handlungen: zunächst der Rache der Frau an Holofernes, dann der Rache des einen Heeres an dem anderen in Form einer Heimsuchung, kommt Judith eine exponierte Stellung als einer weiblichen Vorkämpferin zu, deren Mordtat den anschließenden Kampf nicht nur allererst ermöglicht, sondern in seinem Ausgang bereits antizipiert.

;IMR;IMFYRHcƳMRPIX^XIV2MRYXIIMR*RKIP Exorbitanz in der Älteren Judith

Die frühmhd. Ältere Judith, auch Judithlied genannt, entstanden Anfang des 12. Jahrhunderts, ist in der Vorauer Handschrift Teil eines größeren Textes.30 Das Lied präsentiert die eigenwilligste Bearbeitung der JudithGeschichte im deutschen Mittelalter und lässt – so meine These – ein signifikantes Interesse an ihrer Exorbitanz erkennen. Die Erzählung stellt sich deshalb erstens schon formal und stilistisch in die Tradition von Heldenliedern. Die Handlung ist in nur 136 Kurz30 Der zweigeteilte Text beginnt mit der Geschichte der Jünglinge im Feuerofen, doch schon zu Beginn weist eine Marginalie auf die Judith-Geschichte hin: »hystoria Judith«. Der Text wird zitiert nach: Das Vorauer Judithlied. Ältere Judith, in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, hg. v. Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt / M. 1991, S. 718–727; Wortlaut der Handschrift Vorau, Stiftsbibliothek, Ms. 276 nach: https://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/stav_ms276 /0207. Grundlegend zu allen mhd. Judithdichtungen Lähnemann (Anm. 6). 

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versen (12 bzw. 13 Strophen) auf das Wesentlichste gedrängt und wird, wie bei liedhaftem Erzählen häufig, weder räumlich noch zeitlich kohärent entwickelt. Das szenische Erzählen verfährt voraussetzungslos (Einsatz mit Holofernes’ Bosheit Str. 1) und sprunghaft (plötzlicher Befehl der Belagerung Str. 2). Formeln dominieren den Text, die die Opposition der auf wenige Handlungsrollen reduzierten Protagonisten fokussieren: »Ein herzogi hiz Holoferni, / der streit widir goti gerni« ›Ein Herzog hieß Holofernes, der kämpfte freudig gegen Gott‹ (V. 1 f.). Formelhaft heißt es von ihm: »di burc habit er gerni« ›die Stadt wollte er gerne haben‹ (V. 34, 70, 104), während die Formel »du zi goti wol digiti« ›die zu Gott inständig betete‹ (V. 60, 84, 98, 120) als Epitheton ornans Judiths Nähe zu Gott anzeigt. Mit dem Anknüpfen an Form und Stil der Heldenlieder eröffnet sich auch ein Referenzraum auf deren exorbitante Erzählgegenstände.31 Noch bevor die Heldin selbst auftritt, erscheint in den Schlussversen der ersten Strophen zweimal die Vorausdeutung auf ihre Mordtat: »sit slug in Judith ein wib« (V. 16) und »da slug in du schoni Juditha« (V. 24). Die refrainartige Wiederholung memoriert so von Anfang an die monströse Tat der Frau und bringt sie durchaus triumphierend zur Geltung. Der Text zeigt zweitens signifikante Veränderungen gegenüber der biblischen Vorlage in der Modellierung einer äußerst aktiven, eigenständigen Frauenfigur: In Str. 8 tritt sie erstmals auf, in Str. 9 sieht Holofernes sie und formuliert sein Begehren in erkennbarer Adaptation volkssprachlich-literarischer Formeln: »mir niwerdi daz schoni wib / ich virlusi den lib« ›Ich sterbe, wenn ich die schöne Frau nicht bekomme‹ (V. 75 f.). In Str. 10 trägt man diese schon in sein Zelt. Darauf folgen markante Umgestaltungen: Während in der Bibel Holofernes das Gelage abhält, erscheint im Judithlied als Initiatorin des Festes die Frau. Sie deklariert dieses außerdem zum »brutlouft«, zum Vermählungsfest: do sprah du guti Judith, du zi goti woli digiti: ›nu daz also wesin sol, daz du, kuninc, mich zi wibi nemin solt, wirt du brutlouft gitan, iz vreiskin wib undi man. 31 Lähnemann (Anm. 6) bestreitet den Bezug zu einer volkssprachigen Liedtradition zugunsten der Wissensvermittlung der klerikalen Schriftkultur (S. 93–130). Müller zeigt dagegen, wie die Ältere Judith volkssprachliches Erzählen aufgreift, die Tradition aber an entscheidenden Stellen umbesetzt und insofern ein »hybrides Gebilde« ist (Jan-Dirk Müller: Episches Erzählen. Erzählformen früher volkssprachlicher Schriftlichkeit, Berlin 2017, S. 83–87, Zitat 86). 

Judith

nu heiz dragin zisamini di spisi also manigi!‹ do sprach Oloferni: ›vrouwi, daz dun ich gerni.‹ (V. 83–92) Da sprach die vortreffliche Judith, die zu Gott inständig betete: ›Da es nun so sein soll, König, dass du mich zur Frau nehmen wirst, feiern wir ein Hochzeitsfest, so erfahren es alle. Nun lass vielerlei Speisen zusammentragen!‹ Da sprach Holofernes: ›Herrin, das tue ich mit Freuden.‹ In einem zweiten Schritt schenken Judith und ihre Magd den Männern beim Fest derart ein, bis nur mehr jeder Zehnte auf der Bank sitzt (V. 97– 102). Den Frauen kommt bei der Bewirtung also eine aktive Rolle zu, die wir aus der Bibel (wie auch der altengl. Judith) nicht kennen: Dort betrinkt Holofernes sich, hier füllen die Frauen ihn und seine Männer offenbar vorsätzlich ab. Holofernes trinkt ›wegen der Frau‹ »durch des wibis« (V. 105). Beide Änderungen betonen das Listhandeln, geben in Anlehnung an entsprechende Texte dem Narrativ weiblicher Exorbitanz stärkeres Profil und machen sich auch die aktive rituelle Rolle zunutze, die germanischen Hausfrauen bei Festgelagen zukommt. So füllen etwa Königin Hygd oder Hrothgars Tochter im Beowulf den Kriegern zur Ehrerbietung die Kelche (V. 1980–83, 2020 f.), ebenso reicht die Rächerin Gudrun im Atlilied als Pokalträgerin Atli und seinen Fürsten den Kelch (Str. 33–35), bevor sie sie dann tötet.32 Und dadurch, dass im Rahmen ihrer List das Fest von Judith allererst als Hochzeitsfest initiiert wird, stirbt Holofernes wie der Attila der Historiographie in seiner Hochzeitsnacht. Wie aber wird drittens die Tat selbst erzählt? Erneut präsentiert das Judithlied eine in der Tradition einzigartige Lösung: Gott erbarmt sich und sendet »ein eingil voni himili« (V. 117), der die Tat explizit befiehlt: ›nu stant uf, du guoti Judith, du zi goti woli digiti, unde geinc dir zi demo gizelti, da daz swert si giborgin. du heiz din wib Avin vur daz betti gahin, 32 Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg, mit Text u. Übersetzung, Einleitung u. Kommentar sowie einem Konkordanz-Glossar in drei Teilen hg. v. Gerhard Nickel, Heidelberg 1976, Tl. 1, S. 1–199; Atlilied (Anm. 18). 

Corinna Dörrich

ob er uf welli, daz su in eddewaz dwelli. du zuh iz wiglichi undi sla vravillichi, du sla Holoferni daz houbit von dem buchi. du la ligin den satin buch, daz houbit stoz in ginin stuchin undi genc widir in ‹zi› der burgi. dir gibutit got voni himili, daz du irlosis di israhelischin menigi.‹ (V. 119–136) ›Nun steh auf, du vortreffliche Judith, die zu Gott inständig betete, und geh zu dem Zelt, wo sich das Schwert befindet. Befiehl deiner Magd Ava, zum Bett zu gehen, damit, falls er aufstehen will, sie ihn irgendwie zurückhalte. Du aber zücke es kriegerisch und schlag vermessen zu, schlag Holofernes den Kopf vom Rumpf. Lass den satten Leib liegen, den Kopf packe in deine weiten Ärmel und geh zurück zur Stadt. Gott im Himmel befiehlt dir, das israelische Volk zu erlösen.‹ Damit endet das Judithlied. Weil die Ausführung der Tat fehlt, hat man von einem verlorenen Schluss und einer ihn ersetzenden, schwachen Redaktorstrophe gesprochen.33 Nicht zu Unrecht hat man betont, dass die Tat im letzten Vers explizit als Erlösungstat, als Handeln im Dienst der Gemeinschaft autorisiert wird. Diese Version ende nicht im Gemetzel, sondern in der »Reinheit der göttlichen Legitimation«, und vom »Monströsen, dass eine Frau dem Helden den Kopf abschlägt«, bleibe »nur der göttliche Auftrag«.34 Demgegenüber sehe ich die Akzente anders gesetzt. Der Auftragsmord bedeutet nämlich nicht per se eine Entproblematisierung weiblicher Exorbitanz. Die Brisanz einer Killerin im Namen Gottes zeigt sich nicht zuletzt darin, dass nur das Judithlied die Engelszene bietet, während dergleichen sonst nirgends zu finden, sogar tunlichst vermieden wird, wie der nächste Text exemplarisch zeigen kann. In der Suspendierung der Handlung und der Erzählerstimme zugunsten der Verkündigung und der Engelsstimme, also in der Veränderung des Sprechmodus sehe ich einen äußerst geschickten Schachzug, gibt der Engel doch bis ins Detail die Anweisung zur blutigen Tat: ›Drückt ihn nieder ! 33 Haug / Vollmann (Anm. 30), Kommentar, S. 1491, 1493 u. 1494 f. 34 Ersteres Lähnemann (Anm. 6), S. 124, letzteres Müller (Anm. 31), S. 85. 

Judith

Zieh das Schwert! Schlag zu ! Haue den Kopf ab ! Stecke ihn ein, bringe ihn zur Stadt!‹ Für die Legitimierung der Tat hätte sicher ein schlichtes Tu es, in Gottes Namen! genügt. Die eigentliche Pointe ist also, dass das Gemetzel in die Engelsbotschaft verlegt wird, so dass das Monströse nicht beiseite gewischt, sondern im Schutzraum der Engelsbotschaft erst recht sprachlich voll zur Geltung gebracht werden kann. Die Ausführung der Tat muss dann nicht mehr erzählt werden, weil sie zum einen bereits zweimal im Refrain als vollbracht besungen wurde (V. 16 u. 24) und zum anderen einer Engelsbotschaft eine eigene Faktizität zugestanden werden darf. Gegen die Annahme einer schwachen Redaktorstrophe kann man also eine durchaus raffinierte Komposition in Anschlag bringen, die weibliche Exorbitanz nicht beiseiteschiebt, sondern ebenso hervorhebt wie legitimiert. Der Schreiber der Handschrift jedenfalls schien damit seine Schwierigkeiten gehabt zu haben. Zwar hat der Text an mehreren Stellen Lücken, an denen offensichtlich noch nachgearbeitet werden sollte, doch gerade an den neuralgischen Stellen der Str. 13, an denen der Engel die Grenzüberschreitung anordnet, häufen sich verderbte Stellen. So soll Judith das Schwert laut Vorauer Handschrift nämlich nicht »wiglichi« (V. 127), also ›kriegerisch‹ ziehen, wie Haug / Vollmann in der Ausgabe verbessern, sondern »wiblichi«, also ›weiblich‹. Die (leider nicht gekennzeichnete) Konjektur bietet mit »wiglichi« wohl die richtige Lesart, nicht nur, weil sie das biblische »viriliter« (Jdt 15,11) aufnimmt, sondern auch, weil ein ›weibliches‹ Schwertziehen weder eine Blaupause hätte noch sinnvoll und zielführend vom Engel angeordnet werden könnte. Zwei weitere Stellen der Str. 13, die die Gewalt der Frau gegen den Mann thematisieren, dürfen ebenfalls als verderbt gelten.35 Sie zeigen aber weniger klar als die Alternative »wiclichi/wiplichi«, dass die handschriftliche Fehlleistung auf eine Irritation angesichts des Geschlechts des handelnden Subjekts zurückzuführen ist, obwohl oder gerade weil die monströse Tat von ganz oben angeordnet wurde.

35 Laut Handschrift soll Judith mit dem Schwert nicht »vravillichi« (›kühn, tapfer‹, V. 128) zuschlagen, wie Haug / Vollmann erneut ohne Kennzeichnung konjizieren, sondern »branihichi«, ein unbekanntes und unverständliches Wort. Auch die Handlungsanweisung an die Magd Avin, die am Bett des Holofernes stehen solle für den Fall, dass er aufstehen wolle, bleibt dunkel: Während Haug / Vollman »dwelli« (›niederdrücke‹, V. 126) vorschlagen (Anm. 30, S. 1495), steht in der Handschrift ein wieder unverständliches »auelli«. 

Corinna Dörrich

Die Heilige und der Held: Exorbitanz in der IƨĻďåŹåĻƐIƣÚЃĚ

Die Jüngere Judith steht in der Vorauer Handschrift unmittelbar hinter dem Judithlied und ist ca. 20–30 Jahre jünger als jenes. Sie erzählt ausführlich in ca. 1800 Reimpaarversen eng an der biblischen Vorlage, der Vulgata, entlang.36 Dass zwei Judith-Texte, noch dazu sehr unterschiedlicher Art, in einer Handschrift überliefert sind, ist außergewöhnlich und mag einem entsprechenden Interesse an der außergewöhnlichen Heldin geschuldet sein. Die beiden Versionen der biblischen Geschichte unterscheiden sich nicht nur formal und stilistisch, sondern auch in ihrem Umgang mit weiblicher Exorbitanz voneinander. Anders als die bisher behandelten Werke lässt die Jüngere Judith einen deutlichen Vorbehalt gegenüber der tötenden Frau erkennen, der Text zeigt diverse Strategien, um das Skandalon der Grenzüberschreitung abzumildern und weibliche Exorbitanz entsprechend umzubesetzen. Wegen der grundsätzlichen Nähe zur Vulgata sind gerade die einzelnen Veränderungen ihr gegenüber besonders aufschlussreich. Wie in der biblischen Vorlage erscheint als Subjekt der Handlung häufig Gott, Judith ist nur sein Werkzeug, durch das er spricht und handelt (z. B. V. 1090–1115, vgl. bereits den Prolog V. 28). Besonders die Figurenrede postuliert Judiths Objektcharakter schon grammatisch in einer Reihe von Formulierung des Inhalts: Gott hat durch meine/deine Hand den Holofernes getötet (V. 1503–12, 1521 f., 1542–46 u. ö.; vgl. Jdt 13,17 f. u. 27). Einer zusätzlichen Autorisierung der Figur dient weiter die Betonung ihres Status als »heiligez wîb« (V. 1087).37 Heiligkeit indiziert ihre Keuschheit. Die Vorstellung von Judiths Sieg als Lohn für ihre Keuschheit findet sich bereits in der Vulgata (Jdt 15,11; 16,26), zumal Hieronymus Judith schon in seiner Vorrede als »castitatis exemplum« bezeichnet (Prologus Iudith 9). Sie knüpft aber auch umstandslos an ein Frömmigkeitsideal des Heiligenkultes und der auf blühenden Marienverehrung im 12. Jahrhundert an. So formuliert die »phafheit« ›Geistlichkeit‹ (V. 1729) im mhd. Text nicht nur, dass ›Gottes Kraft‹ ihr die ›innere Stärke‹ (»gemûte«) zu der ›mannhaften‹ Tat wegen ihrer ›Keuschheit‹ gegeben habe, sondern überbietend auch, dass deshalb ›kein Mann jemals‹ (»nîmêr dechein man«) diese Tat ›hätte vollbringen können‹: 36 Lähnemann (Anm. 6), S. 131. Zitiert wird der Text nach: Die jüngere Judith aus der Vorauer Handschrift, kritisch hg. v. Hiltgunt Monecke, Tübingen 1964, überprüft an der Vorauer Handschrift (Anm. 30). 37 In der Vulgata nur Jdt 8,29; heilig meint im Alten Testament etwas anderes als später im christlichen Heiligenkult, nämlich im weiteren Sinne alles, was mit Gott zu tun hat. 

Judith

wande dû hâst sô chnehtlîchen getân, daz nemohte nîmêr vur brâht hân dechein man, wande dû dî chûscheit an dir hete, dar umbe hete dir dû gotes chraft gesterchet dîn gemûte (V. 1743–46) Heroische, männliche Stärke wird ersetzt durch die Kraft verleihende Keuschheit der heiligen Frau. Bezeichnungen wie ›Gottes Magd‹ (V. 1085) und der mehrfach Judith zugeschriebene Lobpreis »gesegenet sîs dû uber allû wîp, / sêlich sî der dîn lîp!« (V. 1525 f., vgl. 1565, 1736 f.) verweisen auf Judith als Präfiguration Marias. Und nicht zuletzt wird schließlich – anders als in der Vulgata – die Tat explizit als »wunder« bezeichnet, das im Text permanent besprochen wird: dû Âchior daz houbet gesach, michels wu nders er dû jach, […] wande in des michel wun de r nam, daz got mit einem wîbe hete so getân wun de r begân, daz si einen sô chreftigen man mit sînem eigenem swerte getorste erslahen. (V. 1553–60; Hervorh. C. D.) Als Achior den Kopf sah, pries er es da als ein großes Wunder, […] da es ihn in große Verwunderung versetzte, dass Gott durch eine Frau ein solches Wunder vollbracht hatte, dass sie einen so starken Mann mit seinem eigenen Schwert zu erschlagen wagte. Achior bekehrt sich aufgrund des »gotes wunder« (V. 1597) zum Glauben, die Jerusalemer Geistlichkeit reist »durch daz wunder« (V. 1730) an. Stets meint »wunder« nicht mehr die monströse, exorbitante Tat, wie sie etwa in der berühmten Prologstrophe des Nibelungenlieds besungen wird (»Uns ist in alten mæren wunders vil geseit«, C 1,1), sondern, wie es Achior sagt, Gottes Wunder, das er mittels seiner Heiligen wirkt. Die Jüngere Judith begegnet dem Problem weiblicher Exorbitanz also mit im Mittelalter gängigen theologischen Denkmustern und Verfahren klerikaler Schriftkultur, was ihr auf den ersten Blick einen eher traditionellen, vielleicht sogar unauffälligen Anstrich verleiht. Was jedoch den Reiz des Textes ausmacht, ist der Umstand, dass es trotz dieser Legitimierung ein spürbares Unbehagen an der Grenzüberschreitung Judiths gibt und daran, dass sie ausgerechnet im Namen Gottes erfolgen soll: ein deutliches Missfallen, dass Gott als Komplize einer tötenden Frau agiert. Die Jüngere Judith lässt ein klares Bewusstsein für die Ambivalenz erken https://doi.org/10.5771/9783835349452

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nen, dass Judith als Heilige zwar einerseits mit Gott handelt, aber als Frau zugleich gegen die von Gott gesetzte Herrschaftsordnung verstößt, nach der die Frau dem Mann in Folge des Sündenfalls unterstellt ist (Gen 3,16) und ihn schon gar nicht töten sollte. Alles, was auf eine unmittelbare göttliche Beteiligung am weiblichen Handeln schließen lassen könnte, wird im Text deshalb konsequent vermieden. Darin sehe ich eine zweite Textstrategie, die der Autorisierungsstrategie partiell entgegensteht und letztlich in Aporien führt. Wenn in der Vulgata Ozias beispielsweise sagt, dass Gott Judith bei der Enthauptung gelenkt habe (»direxit«, Jdt 13,24), übernimmt dies der mhd. Text nicht und bietet stattdessen eine unspezifische Formulierung, die letztlich doch lieber die Frau zum Subjekt des Handelns macht: ›gesegenet sî got der gûte der daz dîn gemûte an unsern vîant gerihtet hât, daz dû uns dî râche hâst brâht‹ (V. 1527–30) ›Gesegnet sei der gnädige Gott, der dein Streben auf unseren Feind gerichtet hat, so dass du uns die Rache gebracht hast.‹ Dass Gott der meuchelnden Frau, sei es auch einer Heiligen, die Hand führt, geht dem mittelalterlichen Text offenbar zu weit. Ein anderes Beispiel: In der Vulgata schmückt sich Judith, Gott aber verleiht ihr zusätzlich verführerischen Glanz und vergrößert ihre Schönheit, auf dass sie allen sehr schön erscheine (»appareret«, Jdt 10,4). Das fehlt im mhd. Text, der stattdessen im Rahmen einer Höfisierung umso ausführlicher Judiths weibliche Toilette schildert (V. 1129–56). Judith ist schön, weil sie sich eigenhändig schön macht (V. 1144, 1167 f., 1212 f. u. ö.). Gottes Werk wird da herausgehalten, vielmehr lassen die Macht der Minne und die Schönheit der Frau das Herz des Holofernes ›brennen‹ (V. 1227 f., 1417– 20). Beide Textstrategien – die der Autorisierung durch Gott wie der Vermeidung von Gottes Beteiligung – unterlaufen einander, da das Umgehen einer direkten göttlichen Beteiligung den Objektcharakter Judiths als Instrument Gottes partiell unterminiert und ihr wieder größere Autonomie im Handeln zuspricht, als es die Legitimierung der exorbitanten Tat als Gottes Werk eigentlich erlaubt. Zum Sieg verhilft den Israeliten schließlich doch ›eine Frau‹: »des siges half in ein wîp !« (V. 1696, vgl. 1655–58) Im Zeichen der Vermeidung steht wohl zudem die massive abbrevatio (Kürzung) des gesamten neunten Kapitels der Vulgata (Jdt 9,2–19). Es 

Judith

beinhaltet das Gebet Judiths, das am Anfang ihres Eingreifens steht: 17 lange Bibelverse werden im mhd. Text, der sich dem biblischen ansonsten überaus genau verpflichtet sieht, auf vier kurze Reimpaarverse gekürzt. Der Inhalt des Gebetes in der Vulgata ist nämlich von Brisanz, bittet Judith Gott doch, er solle Holofernes bei ihrem Anblick durch seine Augen gefangen nehmen, ihn durch die Zärtlichkeiten ihrer Lippen täuschen und ihn durch sein eigenes Schwert bestrafen. Die Fürbitten kulminieren in der Aussage, es werde Gottes Namen Ehre bringen, dass ihn eine Frau getötet habe (Jdt 9,15). Diese Formulierungen sind in der Jüngeren Judith gänzlich getilgt, das Gebet mit seinen radikalen Implikationen reduziert auf eine harmlose Bitte um Gottes Schutz:38 mit grôzen rûwen bette dû vrouwe, daz er durch sîne gûte sî gerûhte ze behûten, ›wande dehein got ist âne dich, hêrre got, nû erhôre mich !‹ (V. 1122–26) Inbrünstig betete da die Dame, dass er in seiner Güte sie beschützen möge. ›Denn außer Dir ist kein Gott, Herr, nun erhöre mich !‹ In diese Tendenz lässt sich letztlich auch die Darstellung der Tat selbst einordnen. Die binär, in zwei Gebeten, zwei Schlägen etc. strukturierte Tat, wird im mhd. Text gekürzt: Judith betet um Gottes Beistand (V. 1451–56), packt Holofernes’ Haarschopf und schlägt ihm den Kopf vom Rumpf: »si vî in bî dem hâre / unde slûch im alsô […] / daz houbet von dem bûche« (V. 1464–66) – man möchte fast sagen: kurz und schmerzlos. Bei der anstößigen Tat, dem exorbitanten Handlungskern, will dieser Text sich offensichtlich nicht länger als nötig aufhalten. Die mit jedem Teilschritt der monströsen Tat verbundenen Gebete zu Gott werden zu einem einzigen Gebet im Vorfeld der Tat, wodurch die Suggestion einer permanenten, direkten Beteiligung Gottes an der der Gender-Ordnung zuwiderlaufenden Tat, mithin der Eindruck von Teamwork im Detail zurückgedrängt ist. Die Jüngere Judith zeigt, dass der Versuch, der Ambivalenz der Figur zu entgehen, eine neue Ambivalenz, ein zweischneidiges Resultat produziert: einerseits eine bis auf wenige Verse verdrängte exorbitante Tat, andererseits das in aller Munde viel gepriesene wunder Gottes ; einerseits 38 Alle hier angeführten Kürzungen, auch die des Liedes Jdt 16, erklärt Lähnemann (Anm. 6, S. 148 u. 160) mit dem Bemühen des Dichters, Dubletten zu vermeiden. 

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eine keusche Heilige als Werkzeug Gottes, andererseits die selbständig agierende, höfische Schönheit. Eindeutig aber will der Text die GenderOrdnung restituieren. Während Holofernes in der Bibel als Figur nicht eigens vorgestellt wird (Jdt 2,4), widmet ihm der mittelalterliche Erzähler in einer klassischen dilatatio materiae (Erweiterung des Stoffes) mehrere Verse, in denen er nicht nur als der ›liebste Vasall des Königs‹ eingeführt wird, sondern als ›tapferer‹, ›angesehener‹ und ›vornehmer‹ Mann, dem alle »meisterschefte« zugestehen (V. 220–235), kurz ein veritabler »helt« (V. 229, 233, 418 u. ö.). Die Beziehung zwischen Nebukadnezar und Holofernes wird nach dem aus der mittelalterlichen Heldenepik bekannten Erzählmodell vom König und seinem heroischen Vasallen ausgestaltet. Mag Holofernes in der Bibel also der Typus des »macht- und kriegsbesessenen Feldherren«39 sein, aus der Perspektive des Feudaladels stellt er in seiner Unbesiegbarkeit (V. 326–367) ein durchaus positives Bild von Männlichkeit dar. Exorbitant ist damit eher der Furcht und Schrecken verbreitende Feldherr (»vreissam«, »vorhten«, »vreiste«, z. B. V. 248, 356, 362). Judith dagegen ist nur eine ›schwache Frau‹ (V. 28, 1534), ihre gefährlichste Waffe ihre ›Demut‹, die in Überblendung von Gender- und theologischem Diskurs dem männlichen, heidnischen ›Hochmut‹ des Starken entgegengesetzt wird (V. 730 f., 1017–34, 1549). In der Vulgata darf Judith am Ende ein Danklied singen, das ihren Triumph und ihre schreckenerregende Exorbitanz auf ganzer Linie zur Geltung bringt: ›Der Herr, der allmächtige Gott, aber hat ihn bestraft, ihn in die Hand einer Frau gegeben und ihn zuschanden gemacht. Denn kein Vorkämpfer unter den jungen Männern hat ihn gefällt, keine Titanensöhne haben ihn umgebracht, und auch nicht die großen Riesen haben sich auf ihn gestürzt, sondern Judith, die Tochter Meraris, hat ihn mit all der Schönheit ihres Antlitzes getötet. Denn sie legte ihre Witwenkleider ab und zog ihre Feierkleider an zur Freude der Söhne Israels. Sie salbte sich ihr Angesicht und umflocht ihr lockiges Haar mit einem Haarband, um ihn zu täuschen. Ihre zierlichen Schuhe blendeten ihn, und ihre Schönheit schlug sein Herz in Bann, aber sie schlug ihm den Kopf ab mit seinem Schwert, so dass sich die Perser und Meder entsetzten vor ihrer Standhaftigkeit und ihrem Wagemut.‹ (Jdt 16,7–12) Der mittelalterlichen Judith bleibt diese Genugtuung verwehrt: Das Entsetzen, das Furchterregende, ihre Exorbitanz wird im mhd. Text auf die 39 Zenger (Anm. 8), S. 405. 

Judith

unspezifische Bemerkung von ganzen drei Versen reduziert, Judith habe ihrem Herrn Lob gesungen dafür, dass er sich herabgelassen habe, seine Magd so sehr zu ehren (V. 1774–1776). Die Demütigung eines Mannes durch eine das Schwert führende und darüber noch lautstark jubilierende Frau, die noch Hebbel als »gemein«40 empfunden hat, wird getilgt – an die Stelle des Triumphes und der Exorbitanz der Heldin treten die Demut und Passivität der Heiligen. Drei mittelalterliche Texte, drei verschiedene Judith-Figuren: Immer mit Gott auf ihrer Seite ist sie einmal blutige Rächerin, ein anderes Mal listige, germanische Braut, dann keusche, demütige Heilige und höfische Schöne zugleich. Am Narrativ weiblicher Exorbitanz wird gearbeitet, einerseits unter Rückgriff auf heldenepische Erzählweisen und Sagentraditionen, andererseits durch gängige Sinnstiftungsverfahren klerikaler Schriftkultur. Exorbitanz kann einmal zurückgedrängt, ein anderes Mal hervorgehoben werden, einmal in enger Bindung an den biblischen Prätext, ein anderes Mal in freier Adaptation ; nie aber scheinen die Texte der Exorbitanz zu entkommen. Judith bleibt dem Mittelalter widerständig. In den verschiedenen Versuchen, sich die biblische Figur anzueignen, spiegelt sich die beständige Wiederkehr von Schrecken und Faszination einer zum Schwert greifenden, den Mann mordenden und dafür gepriesenen Frau.

'MPHREGL[IMW

Abb. 1 gemeinfrei, Quelle: The Morgen Library & Museum (http://ica.themorgan.org/manuscript/page/59/77070, letzter Zugriff: März 2022). Abb. 2, 3, 6–11 gemeinfrei, Quelle: Wikimedia Commons, letzter Zugriff: März 2022. Abb. 4, 5 Quelle: Horst Bredekamp: Repräsentation und Bildmagie der Renaissance als Formproblem, München 1995, S. 25 u. 18.

40 Friedrich Hebbel: Gedichte und Tagebücher. Jubiläumsausgabe, hg. v. Heinz Stolte, Hamburg 1983, S. 418. 

Cornelia Herberichs

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Im Rahmen der aktuellen, auch in der Einleitung dieses Sammelbandes geführten Diskussion um den Begriff des Postheroischen geht Christoph Petersen von zwei grundsätzlich verschiedenen Heldenkonzepten aus. In dem einen, das vor allem dem aktuellen soziologischen Diskurs zugrunde liegt, werde Heldentum »auf ein soziales Gut und einen sozialen Nutzen verpflichtet«.1 Helden sind in dieser »modernen«2 Perspektive Träger einer normativen, gesellschaftlichen und ethischen Verantwortung, sie zeichnen sich aus durch »Opferbereitschaft«3 und Vorbildlichkeit.4 Diesem Konzept aber stehe das von Klaus von See herausgearbeitete Konzept des exorbitanten Helden gegenüber, dessen Ursprung in der vormodernen Heldenepik liege und das in den Debatten um das Postheroische unbeachtet bleibe. Für heldenepische Heroen sei gerade ihre »Exorbitanz«, also »die Widersetzlichkeit heroischen Handelns und Seins gegenüber den Normen menschlicher Sozialität« charakteristisch.5 Solche exorbitanten Heroen, die sich nicht durch ihre Integration in einen gesellschaftlichen Verband auszeichnen, sondern im Gegenteil eine gesellschaftliche Außenseiterposition innehaben, würden in der Heldendichtung nach Petersen in einer 1 Christoph Petersen: Postheroische Perspektiven oder Die Signifikanz des Verkennens im Hildebrandslied, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 94 (2020), S. 417–443, hier 419. 2 Ebd. 3 Dieses Heldenkonzept rückt Herfried Münkler ins Zentrum, der die interdisziplinäre Diskussion über den Begriff postheroisch maßgeblich angestoßen hat; Herfried Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: ders.: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 169–186; zuerst: ders.: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur 61 (2007), S. 742– 752, hier 742. Auch die Heldendefinition von Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus, Berlin 2019, S. 27– 31, und stellenweise die Überlegungen von Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, bes. S. 43–49, knüpfen an diese Tradition an. 4 Vgl. auch die Überlegungen zum Wandel des Heldenbegriffes von Ute Frevert: Vom heroischen Menschen zum Helden des Alltags, in: Merkur 63 (2009), S. 803–812. 5 Petersen (Anm. 1), S. 436. 

Cornelia Herberichs

erzählerischen Vorzeit,6 nach von See in einem historischen heroic age angesiedelt. Das so verstandene Heroische sei mithin als eine Kategorie der Vergangenheit zeitlich entkoppelt vom zeitgenössisch Normativen: Die Helden von früher faszinieren gerade deshalb, weil sie für den Lieddichter und sein Publikum nicht mehr zeitgemäß sind, weil sie an die Normen einer kollektiven Moral nicht gebunden zu sein scheinen, weil es ihnen noch erlaubt war, ihre Emotionen bedenkenlos auszuleben.7 Petersens wichtiges Plädoyer, die beiden genannten Heldenkonzepte, das normative und das exorbitante, explizit zu unterscheiden, gilt es zu berücksichtigen, um in literaturwissenschaftlicher Perspektive möglichst präzise die Logiken und Funktionen heroischer Erzählungen und Figuren herauszuarbeiten. In gattungstypologischer Hinsicht hat bereits Udo Friedrich vorgeschlagen, diesen zwei Heldenkonzepten mit den Begriffen Held und Ritter Rechnung zu tragen, insofern für die beiden Figurentypen unterschiedliche Erzähltraditionen auszumachen seien:8 für die mittelalterliche Literatur trägt die Unterscheidung in Heldenepik und Höfischen Roman dem Umstand Rechnung, dass Heros und Ritter verschiedenen Welten angehören: Gilgamesch, Achill, Eneas,

6 Ebd., S. 440 f. 7 Klaus von See: Die Exorbitanz des Helden – die Texte und die Theorien, in: ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, mit einem Vorwort v. Julia Zernack, Heidelberg 2003, S. 153–164, hier 158. Vgl. auch die Definition in ders.: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt / M. 1971, S. 69: »der Mensch, der bedenkenlos, ungehemmt seinen Impulsen folgt, der ohne Rücksicht auf sich und andere handelt, der das Außergewöhnliche, das Exorbitante tut, nicht unbedingt das Notwendige, das Pflichtgemäße, das ethisch Vorbildliche«. In gattungsgeschichtlicher Perspektive macht das Konzept Elisabeth Lienert fruchtbar: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos, in: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 38–63. 8 Der Begriff Held adressiert im Sprachgebrauch der Literaturwissenschaft noch weitere, sehr unterschiedliche Kategorien, z. B. als Synonym zu Protagonist, vgl. Elke Platz-Waury: [Art.] Figurenkonstellation, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 591–593, hier 592; Franziska Küenzlen u. a.: Themenorientierte Literaturdidaktik: Helden im Mittelalter, Stuttgart 2014, S. 15–27, bes. 18; vgl. auch Katalin Horn: [Art.] Held, Heldin, in: Enzyklopädie des Märchens 6 (1990), Sp. 721–745. 

Hercules und Eneas

Beowulf, Sîvrit, Dietrich und Roland unterscheiden sich signifikant vom Ideal des höfischen Ritters.9 Diese Kategorisierung blendet freilich nicht aus, dass in den literarischen Texten des Mittelalters mit einem großen Spektrum von Mischtypen zu rechnen ist, die beide Heldenrollen miteinander kombinieren, wofür Stephan Fuchs den Begriff des »hybriden Helden« geprägt hat.10 Wichtig ist die heuristische Differenzierung der Heldenkonzepte aber gleichwohl, denn sie erlaubt es, gattungs- und kulturgeschichtlich differente Funktionen von Helden allererst zu unterscheiden, womit sie die Voraussetzung dafür bildet, Mischverhältnisse tatsächlich als solche zu beschreiben. Während die synchrone Perspektive in der Literatur des Mittelalters das Nebeneinander von Helden und Rittern in den Blick nimmt, ermöglicht ein diachroner Blick auf die Wiedererzählungen mittelalterlicher volkssprachiger Literatur,11 Transformationen von Heldenkonzepten zu beobachten – Transformationen, die so als Verschiebungen auf jener Skala wahrnehmbar werden, die sich zwischen dem exorbitanten und dem normativen Heldenkonzept aufspannt. Insbesondere die mittelalterlichen Antikenromane bieten sich für eine solche Perspektive an. Denn mit der Mediävalisierung der antiken Handlungswelt, den Beschreibungen feudaler Rituale, Repräsentationspraktiken und ritterlicher Kampftechni9 Udo Friedrich: Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur, in: Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art, hg. v. Heike Sahm u. Victor Millet, Berlin u. Boston 2014, S. 175–194, hier 175. »Heros und Ritter kennzeichnet auf unterschiedliche Art eine Spannung zum Kollektiv: inkommensurable Exorbitanz dort und überlegene moralische Identität hier« (S. 176, anknüpfend an Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen Mittelalter, Heidelberg 1997). Die kategoriale Gattungsunterscheidung stellt für Friedrich zwar eine heuristische, narratologische Operation dar, die jeweiligen Funktionen der unterschiedlichen Heldentypen aber gelte es außerdem kulturtheoretisch zu befragen (S. 178 u. ö.). 10 Dazu grundlegend Fuchs (Anm. 9). Die Ambivalenz insbesondere spätmittelalterlicher Heldenkonzepte beschreibt auch Birgit Studt: Die Ambiguität des Helden im adligen Tugend- und Wertediskurs, in: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption, hg. v. Oliver Auge u. Christiane Witthöft, Berlin u. Boston 2016, S. 305–316: Ritterliche Helden werden in Quellen des späten Mittelalters »nicht einfach als ideale Ritter gezeichnet, sondern ihre Lebensbeschreibungen zeigen oftmals Übersteigerungen, Wendungen und Brüche, die einer ritterlich-adligen Identität, wie man sie aus den höfischen Romanen des Hochmittelalters kennt, durchaus widersprechen« (S. 308). 11 Der Begriff wurde geprägt von Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug, Tübingen 1999, S. 128–142. 

Cornelia Herberichs

ken sowie der Reduktion des Götterarsenals12 gehen auch weitreichende Transformationen der Heldenkonzepte und Heroenfiguren der Antike einher. An der Figur des Hercules, dessen Name epochenübergreifend geradezu als Sigle des Heroischen schlechthin gelten kann, sind bereits in Vergils Aeneis aufschlussreiche Transformationen des Heroischen feststellbar. An den mittelalterlichen Veränderungen der Konzeptionierung dieser Figur sowie der strukturellen Funktion des Ausnahmehelden für eine Deutung der Eneas-Figur soll im Folgenden ein historischer Rezeptionsprozess herausgearbeitet werden, der eine ebenso kalkulierte wie konsequente Weiterarbeit an den beiden Konzepten des Heroischen offenbart. Die Transformationen des Heroischen wiederum sind funktional zu deuten in Hinblick auf Strategien, mit denen in diesen Texten Herrscherideale entworfen und legitimiert werden. Abschließend komme ich auf den Begriff des Postheroischen zurück, den Petersen spezifisch literaturwissenschaftlich perspektiviert, indem er ihn nur zur Kennzeichnung solcher Texte zu verwenden vorschlägt, denen »ein reflektierendes Distanzverhältnis zu ihren erzählten Gegenständen eingeschrieben ist«.13

Hercules als Heros der Vorzeit

Hercules ist in den Eneas- und Trojaromanen ein Heros der Vorzeit.14 Schon in der Ilias gehört Herakles einer vorgängigen Heroengeneration an und ist die sagenumwobene ›herakleische Kraft‹ »βίη Ἡρακλείη« (2,658 12 Zur Mediävalisierung in volkssprachigen Antikenromanen: Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001, S. 13–17; Annette GerokReiter: Variationen zwischen Herrscherkritik und -idealisierung in Veldekes Eneasroman, in: Criticising the Ruler in Pre-Modern Societies – Possibilities, Chances, and Methods / Kritik am Herrscher in vormodernen Gesellschaften – Möglichkeiten, Chancen, Methoden, hg. v. Karina Kellermann u. a., Bonn 2019, S. 119–141, hier 127; Nikolaus Henkel: Vergils Aeneis und die mittelalterlichen Eneas-Romane, in: The Classical Tradition in the Middle Ages and the Renaissance. Proceedings of the First European Science Foundation Workshop on The Reception of Classical Texts (Florence, 26–27 June 1992), hg. v. Claudio Leonardi u. Birger Munk Olsen, Spoleto 1995, S. 123–141; Joachim Hamm: Integration, Adaptation, Innovation. Zur Gegenwart des Altertums in Heinrichs von Veldeke Eneasroman, in: Die Gegenwart des Altertums. Formen und Funktionen des Altertumsbezugs in den Hochkulturen der Alten Welt, hg. v. Dieter Kuhn u. Helga Stahl, Heidelberg 2001, S. 237–254, hier 246 f. 13 Petersen (Anm. 1), S. 419. 14 Grundlegendes zur Figur in der Antike bei G. Karl Galinsky: The Herakles Theme. The Adaptations of the Hero in Literature from Homer to the Twentieth Century, Oxford 1972, zur lateinischen Rezeption S. 126–152; vgl. auch Frank Bezner: Herakles, in: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst 

Hercules und Eneas

u. ö.) nur mehr in Erinnerungen lebendig ; der aktuelle Trojanische Krieg aber findet ohne ihn statt. In den mittelalterlichen Trojaromanen in der Folge des Roman de Troie des Benoît de Sainte-Maure, der eine Kompilation der vermeintlichen Kriegstagebücher von Dares und Dictys darstellt, spielt Herakles / Hercules hingegen in der Vorgeschichte des Krieges eine zentrale Rolle: Als maßgeblicher Kriegstreiber hat er die erste Zerstörung Trojas zu verantworten. Durch eine Verkettung von Rache und Gegenrache schließlich resultiert aus diesem ersten der zweite, fatale zehnjährige Trojanische Krieg. An dem epochalen militärischen Unternehmen aber nimmt Hercules selbst nicht mehr teil. Während der Schlachten und Schlachtpausen des langen Krieges bleibt die Erinnerung an ihn lebendig, präfiguriert doch nicht nur bei Dares, sondern auch in den mittelalterlichen Trojaromanen der Name Hercules die zukünftige, rücksichtslose und endgültige Zerstörung der Stadt. Auch die beiden ersten deutschsprachigen Trojaromane, Herborts von Fritzlar Liet von Troye und Konrads von Würzburg Trojanerkrieg aus dem 13. Jahrhundert, beschwören die destruktive Kraft des Helden als vorbildlich für die kriegsteilnehmenden Griechen: »Er tut als ercules tete / Der her reit mit gewalt« ›er wird handeln, wie Hercules gehandelt hat, / der mit Gewalt hierher geritten ist‹ (Liet von Troye, V. 3774 f.).15 An entscheidenden Stellen der Handlung wird so an Hercules erinnert und damit eine spezifische, nämlich normative Funktion des Gedächtnisses an den Heros der Vorzeit inszeniert im Dienste einer gewalttätigen und gnadenlosen Kriegsdynamik.16 von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Maria Moog-Grünewald, Stuttgart u. Weimar 2008, S. 326–343, zur mittelalterlichen Rezeption 333–335. 15 Herbort’s von Fritslâr liet von Troye, hg. v. Karl Frommann, Quedlinburg u. Leipzig 1837 (Nachdr. Amsterdam 1966). In der Handlungswelt des Liet von Troye ist Hercules bereits Teil einer kollektiven Sagenerinnerung: »Ir hat vil wol gehoret / Wie troyge wart zu storet / Do sie ercules wilent brach« ›Ihr habt sehr genau gehört, wie Troja zerstört wurde, als Hercules sie damals eroberte‹ (V. 5919–21); vgl. Cornelia Herberichs: Poetik und Geschichte. Das Liet von Troye Herborts von Fritzlar, Würzburg 2010. Auch in den Schlachten von Konrads Trojanerkrieg dient der Name als Chiffre vergangener Zerstörung: »Hercules brach in den tagen / Troie, diu hiez Ilius« ›Hercules zerstörte in jener Zeit die Stadt Troja, die auch Ilius genannt wurde‹ (Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg und die anonym überlieferte Fortsetzung, hg. v. Heinz Thoelen u. Bianca Häberlein, Wiesbaden 2015, V. 45962 f.); vgl. Elisabeth Lienert: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, Wiesbaden 1996. 16 Die zentrale Rolle der Hercules-Figur für eine Gesamtinterpretation von Konrads Trojanerkrieg ist herausgearbeitet worden von Franz Josef Worstbrock: Der Tod des Hercules. Eine Problemskizze zur Poetik des Zerfalls in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in 

Cornelia Herberichs

In der Aeneis ebenso wie in den auf Vergils Epos direkt oder indirekt basierenden mittelalterlichen Eneasromanen des 12. Jahrhunderts17 ist Hercules bereits lang verstorben, als die Handlung mit Aeneas’ Flucht aus dem brennenden Troja einsetzt. In den Romanen über den Ahnherrn Roms ist Hercules nur mehr ausschließlich Objekt einer kollektiven, generationenübergreifenden Erinnerung.18 Gerade aufgrund seiner Absenz auf der Handlungsebene aber, als Figur der Erinnerung, ist Hercules für die Frage nach den Formen und Funktionen heroischen Gedenkens von zentraler Bedeutung. Im Folgenden zeichne ich die Präsenz und Funktion des Gedenkens an Hercules als Heros in den Aeneas-Erzählungen nach. Hat der hierfür relevanteste Abschnitt der Aeneis, die Cacus-Episode, in der Vergil-Forschung sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so ist die mediävistische Beschäftigung mit ihrer Bedeutung innerhalb der mittelalterlichen Eneasromane erst noch zu leisten.

Exorbitanz und Präfiguration: Hercules im epischen Gedächtnis der Aeneis

Hercules findet in Vergils Aeneis mehrmals Erwähnung, zumeist allerdings in Form relativ marginaler Referenzen: Die Gründung der »Herculesstadt« Tarentum wird, einem seltenen Mythos zufolge, mit ihm in Verbindung gebracht (3,551 f.); anlässlich der Totenspiele auf Sizilien ruft der alte Entellus dessen Sieg über Eryx ins Gedächtnis (5,409–416); in der Heldenschau in der Unterwelt wird Augustus mit Hercules verglichen (6,801–803). An einer Textstelle nur, als sich Pallas vor dem Entscheidungskampf gegen Turnus in einem Gebet an Hercules wendet, tritt dieser selbst in Erscheinung: im Götterhimmel weinend, als er machtlos den Tod des jungen Pallas mitansehen muss (10,464 f.).19 telalter und Früher Neuzeit, hg. v. Harald Haferland u. Michael Mecklenburg, München 1996, S. 275–284. 17 Zu den Vorlagen des Roman d’Eneas und des Eneasromans s. Lienert (Anm. 12), S. 78, sowie Joachim Hamm u. Marie-Sophie Masse: Aeneasromane, in: Historische und religiöse Erzählungen, hg. v. Geert H. M. Claassens u. a., Berlin u. Boston 2014, S. 79–116, hier 79 f. 18 Im mittelalterlichen Alexanderroman kommt sein Name überhaupt nur als Stern am Firmament vor: »der heizet stellâ Erculis« (Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, hg. v. Victor Junk, 2 Bde., Leipzig 1928/29 [Nachdr. Darmstadt 1970], V. 1975). 19 Vgl. zu diesen Stellen den Kommentar von Gerhard Binder: P. Vergilius Maro, Aeneis. Ein Kommentar, 3 Bde., Trier 2019. Weitere Evokationen des Hercules finden sich im 6., 7. und 10. Buch. 

Hercules und Eneas

Die einzige ausführliche Schilderung einer Heldentat des Hercules findet sich während des Aufenthaltes des Aeneas in Pallanteum (8,90– 591): Um militärische Unterstützung herbeizuholen, macht sich Aeneas von der belagerten Burg in Latium auf ins Herrschaftsgebiet des Euander. Dort angekommen, stört der Trojaner ein Fest, mit welchem einer Heldentat des Hercules gedacht wird. Der Arkaderkönig unterbricht daraufhin die Feierlichkeiten. Weil er sich dem Sohn des Anchises aufgrund alter Bündnisse verpflichtet fühlt, sichert er ihm Unterstützung im Kampf gegen den gemeinsamen Feind Turnus zu. Anstelle des alten Euander bricht schon am nächsten Tag dessen Sohn Pallas mit Aeneas zu den Kämpfen nach Latium auf. Dieser Aufenthalt des Aeneas in Pallanteum ist in mehrfacher Hinsicht für die Handlung des gesamten Epos bedeutsam: Aeneas betritt hier erstmals jenen Boden, auf dem einmal Rom erbaut werden wird, und außerdem erhöht das Bündnis mit den ansässigen Arkadern die Legitimität des Trojaners im Kampf gegen Turnus.20 König Euander selbst berichtet in der Aeneis in 90 hexametrischen Versen (8,185–275) – und somit in einer der längsten Figurenreden des Epos – seinem Gast vom Anlass des Festes.21 Dieses sei nicht etwa »eitle[m] Aberglaube[n]« »vana superstitio«, sondern der Rettung aus einer tatsächlichen »grässliche[n] Gefahr« »saevis […] periclis« (V. 187 f.) durch den Heros gewidmet. Euander weist dabei Aeneas auf die noch immer sichtbaren Spuren der gewaltigen Tat des Hercules hin, zeugen doch versprengte Gesteinsmassen von der unvorstellbaren körperlichen Zerstörungskraft des Helden.22 Dessen Gegenspieler, ein »semihom[o]« (V. 194), halb Tier, halb Mensch, lebte an einem höllen-ähnlichen Ort und sorgte mit kaum zu überbietenden Grausamkeiten für Angst und Schrecken in der Bevölkerung: hic spelunca fuit vasto summota recessu, semihominis Caci facies quam dira tenebat solis inaccessam radiis ; semperque recenti 20 Vgl. Gerhard Binder: Aeneas und Augustus. Interpretationen zum 8. Buch der Aeneis, Meisenheim am Glan 1971, Kap. II–IV. 21 Zitiert mit Übersetzung nach P. Vergilius Maro: Aeneis. Lat./dt., hg. u. übersetzt v. Edith u. Gerhard Binder, Stuttgart 2008. Zu Euander als Erzähler s. Davide Antonio Secci: Hercules, Cacus, and Evander’s Myth-Making in Aeneid 8, in: Harvard Studies in Classical Philology 107 (2013), S. 195–227, hier 196–199. 22 »[I]am primum saxis suspensam hanc aspice rupem, / disiectae procul ut moles desertaque montis / stat domus et scopuli ingentem traxere ruinam« »Nun, sieh zunächst diesen überhängenden Felsblock an, wie weit versprengt die Gesteinsmassen sind und wie verlassen die Behausung im Berg daliegt, welch gewaltige Spur der Verwüstung die Felsbrocken zogen« (V. 190–192). 

Cornelia Herberichs

caede tepebat humus, foribusque adfixa superbis ora virum tristi pendebant pallida tabo. (8,193–197) Hier befand sich eine Höhle, unermesslich in die Tiefe des Felsens reichend, zu der ihr Bewohner, die grausige Gestalt des Halbmenschen Cacus, den Strahlen der Sonne den Zugang verwehrte ; ständig war von frischem Mordblut warm der Boden, und an die protzigen Türpfosten genagelt hingen bleich die Schädel der Toten in grauenvoller Verwesung. Dass Hercules sich auf den Kampf überhaupt eingelassen hat, so kann man die nachfolgenden Worte Euanders verstehen, ist den Gebeten der Italer geschuldet (»attulit et nobis aliquando optantibus aetas / auxilium adventumque dei« »Auch uns brachte eines Tages auf unser Bitten hin die Zeit Hilfe durch die Ankunft eines Gottes«, V. 200 f.). Mit dieser Formulierung schließt sich Euander selbst in den Kreis der Zeitgenossen der heroischen Tat mit ein, was auch heißt, in den Kreis derjenigen, die seinerzeit auf Erlösung harrten.23 Unverbunden damit wird ein weiterer Grund für den Aufenthalt des Hercules in der Tibersiedlung angeführt: dass er nämlich im Begriff war, die zehnte seiner Aufgaben zu erfüllen und die Rinder des Riesen Geryones zu Eurystheus zu treiben. Cacus raubte dem folglich nur zufällig vorbeiziehenden Hercules vier Stiere und vier junge Färsen und schleppte diese in seine Höhle. Durch das Gebrüll einer Färse zum Versteck gelockt, geriet Hercules in maßlosen Zorn: »Hic vero Alcidae furiis exarserat atro / felle dolor« »Da aber geriet dem Alciden in finsterem Zorn der Schmerz zur Raserei« (V. 219 f.). Mit den für diesen Heros topischen Attributen wird er von Euander narrativ vergegenwärtigt: »furens animis […] dentibus infrendens […] fervidus ira« »rasend vor Wut«, »zähneknirschend« und »kochend vor Zorn« (V. 228–30) verausgabte sich Hercules bis zum Äußersten,24 so dass er sich 23 Zum ambivalenten Status des Euander, der sowohl die Rolle des »eye-witness« als auch, gegen Ende seiner Erzählung, eines »repository of an ancient tradition« einnimmt, s. Secci (Anm. 21), S. 199; zur Verwischung der »line between past and present« in Euanders Bericht G. Karl Galinsky: The Hercules-Cacus Episode in Aeneid VIII, in: The American Journal of Philology 87 (1966), S. 18–51, hier 22 f. Die widersprüchlichen Zeitangaben erzeugen, so Heinz Bellen, einen politischen Gegenwartsbezug der Cacus-Episode; Heinz Bellen: Adventus Dei. Der Gegenwartsbezug in Vergils Darstellung der Geschichte von Cacus und Hercules (Aen. VIII 184–275), in: Rheinisches Museum für Philologie N. F. 106 (1963), S. 23–30. 24 Zur Inszenierung und ethischen Perspektivierung von Hercules’ Zorn in Vergils Cacus-Episode im Unterschied zu den griechischen Vorlagen s. Bernd Effe: Hercules fervidus ira. Ein Motiv der Aeneis und seine Rezeption bei Properz und Ovid, in: Hermes 130 (2002), S. 164–175, hier 168–170: »Zorn und Kampfeswut [fungieren] 

Hercules und Eneas

drei Mal erschöpft niedersetzen musste, bevor er das gut verschlossene Versteck schließlich aufbrach. Er riss einen riesigen Granitfelsen aus der Bergspitze (daher die noch immer sichtbar herumliegenden Gesteinsbrocken) und torpedierte den Halbmenschen in seiner dunklen Höhle mit Steinen und Ästen (V. 249 f.). Dann sprang Hercules in die Tiefe der Höhle und tötete das feuerspeiende Monster mit bloßer Hand. Das Epos spart nicht mit grausamen Details: Hercules »angit inhaerens / elisos oculos et siccum sanguine guttur« »hängt sich an ihn und drosselt ihn, bis die Augen hervortreten und die Kehle blutleer ist« (V. 260 f.). Die Italer strömten anschließend herbei und freuten sich über den Anblick des toten Halbtieres (»semiferi«, V. 267). Schien Euander zu Beginn seines Berichts noch zu den Zeitgenossen der erinnerungswürdigen Heldentat gehört zu haben, so rückt er – dazu in einem Widerspruch stehend – in seinen abschließenden Worten das Erzählte in historische Ferne: »Ex illo celebratus honos laetique minores / servavere diem« »Seit damals wurde ein Fest gefeiert, und voll Freude hielt die Nachwelt diesen Tag in Ehren« (V. 268 f.). Die Ruhmestaten des Hercules, sein Sieg über Cacus ebenso wie auch weitere Aufgaben des Helden, werden fortan anlässlich des Jahrestages in Liedern besungen: »carmine laudes / Herculeas et facta ferunt« (V. 287 f.). Als eine zentrale Funktion der Episode in Pallanteum ist die Legitimation des Aeneas als zukünftiger Herrscher und Ahnherr Roms erkannt worden, die hier motivisch und symbolisch antizipiert wird.25 Die Charakterisierung der Hercules-Figur besitzt in dieser Perspektive eine präfigurative Funktion in Bezug auf die verheißene Zukunft des Trojaners: Während Aeneas der Geschichte des Cacus-Kampfes zuhört, nimmt er nicht zufällig Platz auf einem Löwenfell, einem Attribut des Hercules (V. 177 f.). Nach seiner Schilderung fordert Euander Aeneas explizit auf, sich Hercules würdig zu erweisen (»te quoque dignum / finge deo«) und die Einladung in das Haus des Arkaderkönigs anzunehmen (V. 362–365). Auf diese Weise nimmt Aeneas in Pallanteum mehrmals die Rolle eines zweiten Hercules an.26 hier als Wesensmerkmal einer heldischen Größe […], die sich nicht zuletzt dank dieser Affektivität im Kampf gegen das Böse bewährt« (S. 169). 25 Siehe grundsätzlich zur präfigurativen Bedeutung dieser Episode Galinsky (Anm. 23); Binder (Anm. 20), S. 141–149. 26 Ebd., S. 141–145, hier 145: »Aeneas ist mit Hercules durch das Symbol des Löwenfelles verbunden ; er ist wie Hercules ein Nachkomme Iupiters. Aeneas tritt wie Hercules als Rächer auf; er gleicht Hercules im Erdulden des labor.« Die Parallelisierung beider Helden wird auch an anderen Stellen der Aeneis angedeutet, so werden für beide mitunter dieselben Attribute (wie etwa die Bezeichnung »invictus«, ebd.) verwendet. 

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Das präfigurative Verhältnis der beiden Figuren wird durch zusätzliche paradigmatische Bezüge zwischen dieser und anderen Episoden weiter entfaltet. So finden sich wörtliche Anklänge an Hercules’ Cacus-Kampf insbesondere in der entscheidenden Schlüsselszene des Epos wieder, dem finalen Kampf des Aeneas, in welchem er Turnus tötet: An seinen »bitteren Schmerz erinnert[]« (»saevi monimenta doloris«, 12,945, vgl. 8,219 f.), »von Furien entflammt und schrecklich in seinem Zorn« »furiis accensus et ira / terribilis« (12,946 f., vgl. 8,228), tötet der Trojaner seinen Gegner »wütend« »fervidus« (12,951, vgl. 8,230).27 Aeneas stellt freilich nicht den einzigen Fluchtpunkt präfigurativer Strukturen vergilschen Erzählens dar. Auch gezielte Parallelisierungen zwischen Hercules und Augustus sind für die politische Herrschersemantik der Aeneis von zentraler Bedeutung.28 In der berühmten Schildbeschreibung am Ende des 8. Buches erscheint Aeneas selbst als Typus des Augustus, so dass Hercules ebenso wie Aeneas wiederum als »Prototyp[en]« des zukünftigen Kaisers gedeutet werden können.29 Auch dieser auf den römischen Kaiser bezogene und zu Lebzeiten Vergils aktuelle politische Deutungshorizont der beiden Helden macht die CacusEpisode so bedeutsam. Erklärungsbedürftig erscheinen vor diesem Hintergrund aber die zahlreichen Ambivalenzen des exorbitanten Heros. Denn Hercules ist durchaus nicht in der Absicht angekommen, »auxilium« (V. 201, s. o.) und Erlöser der Arkader zu sein. Er tötet Cacus aus Rache für den Raub seiner Rinder ; die Befreiung der Bewohner Italiens ist nicht mehr als ein unbeabsichtigter Kollateraleffekt.30 Die selbstbezogene und eigennützige Int e n t i on des Heros und das gemeinnützige, den Italern Frieden und Sicherheit stiftende Re sult a t der heroischen Handlung stehen unvermittelt nebeneinander. Der Kampf besitzt zwar auf einer metaphorischen Ebene unverkennbar die ethische Dimension einer Heilstat, die sogar universelle Züge besitzt, insofern Motive wie die unermessliche Tiefe und Dunkelheit der Höhle die Wohnstatt des Cacus als »Abbild des Totenreiches«31 erscheinen lassen. Mit seinem Sieg über 27 Parallelisierungen zwischen Cacus und Turnus arbeitet Galinsky (Anm. 23) heraus, bes. S. 35–42; Binder (Anm. 20), S. 143: »Durch seinen Sieg über Turnus, der wie Cacus eine unterweltliche und romfeindliche Gestalt ist, wiederholt Aeneas den mythischen Kampf des Hercules.« 28 Galinsky (Anm. 23), S. 25; Binder (Anm. 20), S. 147–149. 29 Gerok-Reiter (Anm. 12), S. 125; vgl. Binder (Anm. 20), S. 273. 30 Einen impliziten Widerspruch erkennt Secci (Anm. 21), S. 200, in der Kombination unterschiedlicher Rollen, die Hercules hier einnimmt, insofern er einerseits als Helfer (»auxilium«, V. 201) wahrgenommen wird, andererseits aber aus purer »selfishness« die Befreiung seiner Färse beabsichtigt. 31 Binder (Anm. 19), Bd. 3, S. 141. 

Hercules und Eneas

das Ungeheuer in der Höhle erfüllt Hercules dennoch ausschließlich sein selbstbezogenes Rachebedürfnis und ist ein Heilsbringer wider Absicht. Bemerkenswert ist die Ambiguisierung der Heldentat des Hercules aufgrund der strukturellen und präfigurativen Funktion der Episode. Analogien, die zwischen Hercules, Aeneas und Augustus im Lauf des Epos immer wieder aufscheinen, machen den exorbitanten Racheakt des Heros nicht zuletzt für den zeitgenössischen Herrschaftsdiskurs von Vergils Lesern historisch bedeutsam. In ihrer präfigurativen Struktur konkretisieren die drei Helden jeweils unterschiedliche Aspekte des Heroischen. Die Cacus-Episode ist überdies noch in einer weiteren Hinsicht von Bedeutung: Im Syntagma des Berichts führt Euanders Erzählung nämlich auch eine Aitiologie von Dichtung vor, denn die Salier singen von nun an Lieder über die Taten des Hercules (8,287 f.). Auf diese Weise erzählt die Aeneis von der Transposition einer exorbitanten Heldentat in eine Erzählung und von der Funktion heroischen Gedenkens für eine providentiell sich erfüllende Heils- und Herrschaftsgeschichte. Vergils Cacus-Episode führt eine Dissoziation von exorbitantem Heros und politischer He r r sc h a f t vor Augen, die zu einer präfigurativen Funktion der Hercules-Figur im Widerspruch steht: Der Retter und Erlöser ist gerade nicht der neue Herrscher, sondern er zieht weiter. Der Herrscher der Arkader hingegen, König Euander, hält nur mehr die Erinnerung an den Heros der Vergangenheit lebendig, der selbst längst abwesend ist. Als Herrscher repräsentiert Euander folglich nicht einen Helden, sondern das heroische Gedächtnis ; und diese Symbiose wird dadurch angezeigt, dass Euander es ist, dem Vergil die Cacus-Episode als ausführlichen epischen Bericht in den Mund legt. Euander konnte weder als Held gegen Cacus antreten, dessen Zeitgenosse er gewesen sein könnte, noch kann er sein eigenes Land von Turnus befreien. Deshalb wird Aeneas auch nicht von Euander begleitet, der sich nicht nur aufgrund seines Alters eines Kampfes gegen Turnus enthalten muss, sondern seinem Feind auch schon vor der Ankunft des Aeneas nicht entgegengetrat.

Transformationen des Heros in den mittelalterlichen Eneasromanen

Auf der antiken Vorlage Vergils beruhend gestaltet der Roman d’Eneas die Cacus-Episode in Umfang und narrativer Präsentation weitreichend um. Im französischen Roman berichtet die auktoriale Erzählinstanz noch vor der Ankunft des Eneas über den Anlass des Hercules-Festes. Allerdings umfasst der Erzählerbericht über die »merveillose venjance« »wunder https://doi.org/10.5771/9783835349452

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bare[] Rache« (V. 4630)32 des Hercules hier nur mehr lakonische 19 Verse. Trotz zahlreicher Auslassungen enthält er jedoch auch Zusätze gegenüber der vergilschen Version: Cacus tritt als Menschenvernichter auf, was detailreich ausgemalt wird. Das Monster, so betont der Erzähler, verschlingt sogar nichts anderes als Menschen: quant il aveit un home pris, il l’acorot, son sanc beveit, la char manjot, les os roeit ; il ne manjot se homes non (V. 4634–37). Wenn es einen Menschen gefaßt hatte, riß es ihm die Eingeweide heraus, trank sein Blut, fraß das Fleisch, zernagte die Knochen ; es fraß ausschließlich Menschen. Dieser Mordlust entspricht, dass Cacus hier nicht als Viehräuber auftritt ; sein Diebstahl der geryonischen Rinder wird wortlos übergangen. Damit bleibt im Dunkeln, welchen »forfait« (»Übeltat«, V. 4641) letzterer überhaupt Cacus vergolten hat ; auffälligerweise wird auf die konkrete Motivierung der »wunderbaren Rache« verzichtet.33 Die Grausamkeit, mit welcher Hercules seinen Gegner schließlich tötet, wird in einem einzigen Vers zusammengefasst, der in größtmöglicher sprachlicher Verdichtung Hercules zu einem idealen Kämpfer stilisiert: »par grant vertu iluec l’ocist« »er tötete es dort mit großer Tapferkeit« (V. 4642). Einer Trophäe gleich hängt er den Kopf des Monsters an einen Baum (V. 4643). 32 Zitiert mit Übersetzungen nach Le Roman d’Eneas, übersetzt u. eingeleitet v. Monica Schöler-Beinhauer, München 1972. Der Vorlagenvergleich muss eine gewisse Unschärfe in Kauf nehmen, da die französische Vorlage Veldekes nicht erhalten ist (siehe zur Forschungsdiskussion über die Handschriftenfamilien des Roman d’Eneas Hamm/Masse [Anm. 17], S. 82 f., Verwandtschaftsverhältnisse mit möglichen Vorlagen kommen für die Hs. A, D und G in Betracht) ; die im Folgenden zitierten Textstellen weisen keine signifikanten Abweichungen gegenüber der Ausgabe Schöler-Beinhauers auf, die auf der zweiten Auflage von de Graves Edition der Hs. A beruht. Zur handschriftlichen Varianz vgl. den Apparat in Eneas, texte critique publ. par Jacques Salverda de Grave, Halle / S. 1891. – Zu weiteren mittelalterlichen Rezeptionen der Hercules-Figur s. Manfred Kern: [Art.] Hercules, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin u. New York 2003, S. 294–298. 33 Der Erzähler fasst nur summarisch zusammen: »Quant Herculés vint en la terre, / a sa fosse l’ala requerre, / por un forfait que il li fist« »Als Herkules in das Land kam, suchte er es wegen einer Übeltat, die es an ihm beging, in seiner Höhle auf« (V. 4639–41). – Die Handschrift G des Roman d’Eneas enthält »gloriose« statt »merveillose venjance« (V. 4630), s. zur Stelle den Apparat von de Grave (Anm. 32), S. 170. 

Hercules und Eneas

Zusätzlich zur auktorialen Erzählinstanz informiert auch der Euander des französischen Romans bei der Ankunft des Eneas über den Anlass des Festes, so dass es zu einer zweimaligen Erzählung der Heldentat kommt. Auf Figurenebene werden sowohl der Anlass als auch die Grausamkeit des Kampfes übergangen. Hercules ist damit zu einem Helden geworden, der ein für die Einwohner existenzbedrohendes Monster angemessen bestraft: ›nos celebron hui une feste com Herculés trencha la teste a un mostre ki ci esteit, ki toz noz homes ocieit.‹ (V. 4767–70) ›Wir feiern heute ein Fest, wie Herkules einem Ungeheuer, das hier hauste und alle unsere Männer tötete, den Kopf abschlug.‹ In Heinrichs von Veldeke deutschsprachigem Eneasroman geht die Cacus-Episode weitgehend auf den Roman d’Eneas zurück, weist jedoch auch neue Veränderungen auf.34 Der Bericht des auktorialen Erzählers nimmt hier fast ebenso wenig Raum ein wie in der französischen Vorlage, nämlich ganze 21 Verse (V. 6044–65).35 Der rituelle Jahrestag ist dem Gedenken an den Erlöser der Italer gewidmet: ez was antach36 daz Hercules ein wunderlîch tier dâ erslûch, daz in leides tete genûch: der lûte ez vile erbeiz (V. 6044–47)

34 Trotz der weitreichenden Kürzung der Pallanteum-Episode nimmt sie proportional noch immer viel Raum ein ; vgl. dazu Christoph Schanze: Kampfzorn, Gewalteskalationen und Gemeinschaftshandeln im Eneas Heinrichs von Veldeke, in: Gewaltgenuss, Zorn und Gelächter. Die emotionale Seite der Gewalt in Literatur und Historiographie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Claudia Ansorge u. a., Göttingen 2015, S. 45–88, hier 67. 35 Zitiert mit Übersetzungen nach Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mhd. / nhd., nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Nhd. übersetzt, mit einem Stellenkommentar u. einem Nachwort v. Dieter Kartschoke, Stuttgart 1997. Vgl. den Kommentar in Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift, mit Übersetzung u. Kommentar hg. v. Hans Fromm, mit den Mini-a turen der Handschrift u. einem Aufsatz v. Dorothea u. Peter Diemer, Frankfurt / M. 1992. 36 Zu dieser Konjektur s. den Kommentar von Kartschoke (Anm. 35), S. 794. 

Cornelia Herberichs

Es war der Jahrestag, an dem Hercules dort ein fürchterliches Tier erschlagen hatte, das ihnen großen Schaden zugefügt hatte ; es hatte viele Menschen getötet. Hercules ist, so legt es diese Version nahe, als Retter eigens aus der Fremde angereist, um die Italer von einem menschenfressenden, grausamen »monstrum« (V. 6052) zu befreien: »dô daz Hercules bevant / und daz wunder dâ vernam, / von sîme lande er dare quam« »Als Hercules davon erfahren und von den Schrecken gehört hatte, war er aus seiner Heimat hergekommen« (V. 6054–56). Nur bei Veldeke bewaffnet sich Hercules gleich einem mittelalterlichen Ritter – eine Investitur, die sich vor aller Augen abspielt, wie der Erzähler hervorhebt (»dô wâfende sich der helt gût, / daz ez manich man ane sach«, V. 6058 f.) –, während der vergilsche Heros das Untier mit bloßen Händen erdrosselt. Die Gewalttat des Helden trägt ihm Ruhm ein ; und dieser bleibt nicht lokal begrenzt, denn man »lobete […] in wît« »verehrte […] ihn weithin« (V. 6065). Ganz offensichtlich merzt Veldeke das Exorbitante des Helden sowie die Maßlosigkeiten des heroischen Aktes konsequent aus. Auch die Untaten des Hybridwesens Cacus sind geradezu auf ein Normalmaß gestutzt: Das wunderliche Untier frisst zwar Menschen und verwüstet das Land (V. 6053), die Details der Grausamkeit werden aber nicht narrativ vergegenwärtigt ; sie sind, so der Erzähler, bereits allseits bekannt: »alse man noch wole weiz« »wovon man noch heute weiß« (V. 6048). Ebenso wenig ausgemalt werden die Grausamkeiten des siegreichen Hercules. Mit der Verbrennung des toten »kunder[s]« »Ungeheuer[s]« (V. 6064) bleibt von Cacus im deutschen Roman auch nichts mehr übrig, während bei Vergil sich die Siedler schaulustig um das tote Monster scharen und herumliegende Gesteinsbrocken von der Kraft des Heros zeugen. Hängt der Hercules aus Veldekes französischer Vorlage Cacus’ Kopf noch mit archaischem Pathos ostentativ an einen Baum, erzählt der deutsche Eneasroman von einer konsequenten Auslöschung des Monsters, seiner spurlosen Vernichtung. In beiden mittelalterlichen Romanen sind die laudativen Gesänge getilgt, die Hercules’ Heldentaten preisen und die gemäß der vergilschen Version neben weiteren Aufgaben des Hercules auch seinen Kampf gegen Cacus einschließen. Bei Veldeke aber findet sich eine bedeutsame Hinzufügung: Nach dem gemeinsamen Festmahl mit Evander lässt Eneas Spielleute auftreten, die »trôische spil« vortragen (V. 6217). Damit wird womöglich das Motiv der Trojanischen Spiele aus dem 5. Buch der Aeneis im mittelalterlichen Roman an den Abschluss der Cacus-Episode, der 

Hercules und Eneas

Schlüsselszene heroischen Gedenkens, verschoben.37 Aufgeführt am Hof des Evander bilden die Trojanischen Spiele ein kalkuliertes Gegengewicht zum Erinnerungskult um Hercules, und – so möchte ich als Erklärung für die Einfügung dieser Szene vorschlagen – sie relativieren auf der Handlungsebene die zentrale Rolle des Hercules-Kults auf dem Boden des zukünftigen Rom: dô sande Ênêas nâch sînem spileman. einer frouden her began, des her was berâten. her gebôt daz si tâten ir trôische spil seltsâne unde vil, des man dâ niht enphlach. daz hôrde gerne und gesach der kunich Êvander und manich man ander. (V. 6212–22) Da schickte Eneas nach seinem Spielmann. Er gab eine Vorstellung ; das wollte er so. Er befahl, daß sie ihre zahlreichen und fremdartigen troischen Kunststücke vorführten, die man dort nicht kannte. Die hörten und sahen König Euander und viele andere Männer gerne. Veldeke ersetzt mit den trojanischen Spielleuten den traditionellen Hercules-Kult durch die Vergegenwärtigung der Vergangenheit und Traditionen Trojas (»trôische spil«). Die Festöffentlichkeit bedankt sich bei den Göttern für die unerhörten, neuen Geschichten: »daz si zir wunnen / sô seltsâner spile / vernomen heten alsô vile« »daß sie zu ihrem […] Vergnügen so viele merkwürdige Dinge gehört hatten« (V. 6228–30). Auch der Eneasroman Veldekes verdoppelt den Bericht über Cacus, indem er auf Erzähler- wie auf Figurenebene vorgetragen wird, allerdings mit einer sehr auffälligen Abweichung. Anstatt die Ereignisse in direkter 37 Ob hier allerdings wörtlich eine Verschiebung vorliegt, ist durchaus fraglich, denn die »trôische spil« des Eneasromans haben mit den Wettkämpfen in der Aeneis (5,545– 603) wenig gemein: Vergil führt die Bezeichnung auf den Reiteraufzug der trojanischen Jugend zurück (»Troiaque nunc pueri, Troianum dicitur agmen«, V. 602). Dennoch mag im Eneasroman eine intertextuelle Referenz vorliegen, die nicht nur die Neukonzeption der Trojanischen Spiele als Dichtervortrag durch einen »spileman«, sondern auch die zeitliche Verschiebung auf die Zeit nach dem HerculesFest bedeutsam macht: Die »Spiele« zur Erinnerung an Troja ersetzen im mittelalterlichen Roman zeitlich und strukturell die Lobgesänge auf Hercules in der Aeneis. 

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Rede zu wiederholen, verweist Veldekes Evander seinen Gast an entsprechender Stelle nur auf ein vermeintlich allgemein bekanntes Sagenwissen: »als ir wol moget hân vernomen« »wie Ihr sicher schon gehört habt« (V. 6199). Eine Erklärung, weshalb er und seine Landsleute diesen »hêre tach« »hohe[n] Feiertag« (V. 6196) begehen, erfolgt nicht. Suggestiv wird von Evander eine Omnipräsenz des Wissens über Hercules’ heroische Tat evoziert, statt sie narrativ zu vergegenwärtigen. Gerade indem er behauptet, die Geschichte kenne bereits ein jeder, verbannt Evander sie aus der Erzählung. Anders als zu Beginn des Romans, dessen erster Vers nahezu identisch ist mit der Bemerkung Evanders über die Taten des Hercules, leitet die heldenepische Formel am Romananfang einen Bericht über den Untergang Trojas ein: »Ir habet wol vernomen daz, / wi der kunich Menelaus besaz / Troien die rîchen«, »Ihr habt sicher schon davon gehört, wie König Menelaus das mächtige Troja […] belagerte« (V. 1–3). Am Hof Evanders leitet die formelhafte Erinnerung an kollektives Wissen hingegen keine Nacherzählung der Ereignisse ein ; in der Rede des Evander fällt nicht einmal der Name des Hercules. Mit der Anspielung auf ein vermeintlich kollektives Heroenwissen geht in Pallanteum paradoxerweise die Verbannung des Heros aus dem literarischen Diskurs einher.38 In Evanders Erzählung wird Hercules in der Vorzeit verortet ; eine Anspielung, wonach der König selbst dessen Zeitgenosse gewesen sei, findet sich in beiden mittelalterlichen Eneasromanen nicht. Die Dissoziation von Heldentum und Herrschaft ist in ihnen also höchstens andeutungsweise greifbar, wenn Evander auf eine Feindschaft gegenüber Turnus anspielt (V. 5850–57), gegen den er sich aber offensichtlich nicht selbst zur Wehr zu setzen vermag.39 Der Eneasroman, so konnte hier gezeigt werden, betreibt mit Kalkül und Konsequenz das Verblassen des heroischen Gedächtnisses an Hercules in der erzählten Welt. Obgleich Veldeke am Erzählkern, an der materia der Szene und ihrer handlungslogischen Funktion wenig verändert, veranschaulichen das Verbrennen des Cacus und der inhaltsleere Hinweis Evanders, die Geschichte kenne ja bereits ein jeder, exemplarisch, 38 Ähnlich der Verweis angesichts Cacus’ Grausamkeiten: »der lûte ez vile erbeiz, / alse man noch wole weiz« ›es fraß viele Menschen, wie man immer noch genau weiß‹ (V. 6047 f.): Statt die Gräuel erzählerisch zu entfalten, beruft sich der Erzähler auf vermeintlich allgemein bekanntes Wissen. 39 Der Grund der Feindschaft wird nur summarisch genannt: »der was Turnô vil gevê, / wander tete im vile zoren« ›der war Turnus sehr feindlich gesonnen, denn er hatte ihm großen Anlass zu Rache gegeben‹ (V. 5854 f.). Der Roman d’Eneas berichtet konkreter von zahlreichen Angriffen des Turnus auf Pallanteum (V. 4729–32), so dass Eneas den Krieg gegen Turnus als ein gemeinsames Anliegen bezeichnen kann: »ge vengerai et tei et nos« »ich werde dich und uns rächen« (V. 4737). 

Hercules und Eneas

dass ein größtmögliches Maß an Spurlosigkeit der heroischen Tat im literarischen Diskurs hergestellt werden sollte. Der stark geschrumpfte Umfang der Cacus-Episode und die Idealisierung des vorzeitlichen Heros als altruistischen Retters in ritterlicher Manier, von dessen Zorn nichts mehr übriggeblieben ist, bewirken aber auch, dass diese Episode von weit geringerer Einprägsamkeit ist im Gedächtnis der Rezipienten: Die Hercules-Tat und damit die mögliche paradigmatische Funktion des HerculesFestes für die Deutung der Eneas-Figur geraten beim Hören und Lesen des Eneasromans – anders als bei der Aeneis – geradezu in Vergessenheit.

Hercules und Eneas in Veldekes Eneasroman: Dis- und Reambiguisierung des Heroischen

Die motivischen und strukturellen Veränderungen der Cacus-Episode sind nun mit Bezug auf die Tektonik des antiken Epos zu bedenken, in welchem Hercules und Aeneas präfigurativ korreliert und komplementär aufeinander bezogen sind. Die Frage, die sich für die mittelalterlichen Romane stellt, lautet demnach, welche Auswirkungen das veränderte Heldenkonzept der Hercules-Figur auf einer paradigmatischen Ebene für den Diskurs des Heroischen im Eneasroman insgesamt besitzt. Die inhaltlichen Reduktionen der Episode und die Neuakzentuierungen der Hercules-Figur führen, so macht der Vergleich deutlich, zu einer sukzessiven Disambiguierung des vorzeitlichen Heros. Zu dieser Bearbeitung des Konzepts seines Heldentums passt, was in der germanistischen Forschung ebenfalls in Bezug auf die tendenzielle Entheroisierung des Protagonisten Eneas festgestellt wurde:40 Im Zuge der Mediävalisierung lege der »Protagonist […], ein in feudalrechtlicher Hinsicht ideale[s] Herrscherverhalten« an den Tag.41 Dem Trojaner Eneas wird in der Forschung zumeist gerade sein Mangel an heroischen Eigenschaften attestiert, der sich am Romananfang programmatisch in seinem »[u]nheroischen Überlebenswillen« bei der Flucht aus dem brennenden Troja zeige.42 Zu Recht hat man betont, dass für Eneas trotz seiner herausragenden Leistungen 40 Zur Aeneas-Figur in der Aeneis vgl. Sariaydin in diesem Buch. – Das Heldenkonzept der Eneas-Figur im Eneasroman ist gut untersucht, vgl. mit Hinweisen auf weitere Forschung Schanze (Anm. 34); Jonathan Seelye Martin: Monopolozing Violence. Gewalt, Self-Control, and the Law in Heinrich von Veldeke’s Eneasroman, in: The German Quarterly 91 (2018), S. 18–33. 41 Gerok-Reiter (Anm. 12), S. 128. 42 Ebd., S. 129; im Roman kommt es »immer wieder zu direkten oder indirekten Rekurrenzen auf den zwiespältigen Anfang« (S. 131). 

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auf dem Schlachtfeld das heroische Attribut des Zornes kaum je Verwendung findet, während dieses typisch ist für seinen Antagonisten Turnus.43 Dennoch haften auch Veldekes Eneas Ambiguitäten des Heroischen an: Sein Wüten auf dem Schlachtfeld nach Pallas’ Tod hat Veldeke sogar – in Abweichung von der französischen Vorlage – als Überhandnehmen seiner Emotionen, seines »zorne[s]« (V. 7758) beschrieben.44 Die »Raserei und Exorbitanz des Tötens« als Reaktion auf Pallas’ Tod45 tragen mindestens zeitweise in diese Figur eine heroische Ambivalenz hinein. Im Syntagma der Erzählung bilden diese Züge ein Gegengewicht zum »[u]nheroischen Überlebenswillen«, den Eneas zu Beginn des Romans bei der Flucht aus dem brennenden Troja an den Tag legt.46 Die exorbitanten Eigenschaften des Protagonisten werden freilich im weiteren Verlauf der Erzählung schließlich wieder getilgt. Im finalen Zweikampf mit Turnus am Ende des Romans, der, wie oben dargelegt, in Vergils Epos eine teilweise spiegelbildliche Anlage zur Cacus-Episode aufweist, will Eneas seinen Gegner aus Erbarmen zunächst begnadigen und ihn sogar zu einem Vasallen machen. Mustergültig stellt er mit diesem Vorsatz Qualitäten eines Friedensherrschers unter Beweis.47 Doch als ihm Turnus die Hand reicht und Eneas’ Auge auf den Ring fällt, den 43 Vgl. Schanze (Anm. 34), S. 63 f. 44 Hierzu ausführlich ebd., S. 69–75: Eneas »wird von Trauer, Schmerz sowie zorniger Wut völlig überwältigt – die explizite Nennung von zorn hat keine Entsprechung im Roman d’Eneas, wohl aber bei Vergil« (S. 70); außerdem Martin (Anm. 40), S. 27 f. Zur Semantik von mhd. zorn s. bes. Klaus Grubmüller: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, hg. v. C. Stephen Jaeger u. Ingrid Kasten, Berlin u. New York 2003, S. 47–69; zur Überlagerung einer juristischen und einer affektiven Bedeutungsdimension von zorn in der Heldenepik s. Victor Millet: Zornige Helden?, in: Mittelalterliche Heldenepik – Literatur der Leidenschaften. 11. Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. v. Johannes Keller, Wien 2012, S. 137–148. 45 Beatrice Michaelis: (Dis-)Artikulationen von Begehren. Schweigeeffekte in wissenschaftlichen und literarischen Texten, Berlin u. New York 2011, S. 187, zit. nach Schanze (Anm. 34), S. 72. 46 Gerok-Reiter (Anm. 12), S. 129. 47 Vgl. Schanze (Anm. 34), S. 79: »Eneas zeigt Milde und agiert damit bereits in der Rolle des künftigen Herrschers, die er im selben Moment durch den Sieg über Turnus einnimmt.« – Zur Bedeutung mythischer Waffen im finalen Zweikampf zwischen Turnus und Eneas vgl. ders.: Der göttliche Harnisch und sein Gehalt. Zur Ausrüstung des Eneas und ihrer heroischen Agency im Roman d’Eneas und bei Heinrich von Veldeke, in: helden.heroes.heros 4 (2016), Sonderheft: Heroes and Things. Heroisches Handeln und Dinglichkeit, hg. v. Ulrich Bröckling u. a., S. 53– 63. 

Hercules und Eneas

dieser Pallas geraubt hat, entscheidet er sich kurzerhand, seinem Gegner den Kopf abzuschlagen: ›des ne was dir nehein nôt, daz dû sîn vingerlîn trûge, den dû in mîner helfe slûge: ez was ein bôsiu girheit. des sage ich dir die wârheit, nû mûstû sîn engelden. ichn wil dich niht schelden noch niht mêr zû sprechen: Pallas sal ich rechen, der reiner tugende hete genûch‹. daz houbet her im abe slûch. (V. 12596–606) ›Du hattest es nicht nötig, den Ring dessen zu tragen, den du aus meinen Hilfstruppen heraus erschlagen hast. Es war niedrige Beutegier. Ich versichere dir, dafür mußt du nun büßen. Ich will dich weder beschimpfen noch mehr dazu sagen. Ich werde Pallas rächen, der vorbildlich und ohne jeden Makel war.‹ Er schlug ihm den Kopf ab. Im Eneasroman ist die Tötung des Gegners durchaus nicht das Werk eines wütenden Heros, sondern gleicht einer verdienten Bestrafung.48 Sowohl seine Fähigkeit zum Mitleid als auch sein Verständnis von Strafe sowie sein Verzicht auf Reizreden (V. 12602 f.) charakterisieren den Trojaner als besonnenen und insofern exemplarischen Träger von Herrschertugenden. Indem der Erzähler rückblickend behauptet, Eneas hätte von Turnus erschlagen werden können (V. 12634), rechtfertigt er die Tat des Trojaners darüber hinaus als eine Form von Notwehr. Die germanistische Forschung erkennt im Nebeneinander unterschiedlicher Heldenrollen des Eneas üblicherweise die syntagmatische Struktur einer Bewährung:49 Wird Eneas zu Beginn des Romans als defizienter 48 Vgl. Klaus Ridder u. Diana Lemke: Die Irrationalität der Habgier im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, in: Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, hg. v. Gisela Vollmann-Profe u. a., Tübingen 2007, S. 101–114, hier 110; Claudia Lauer: Die Kunst der Intrige. Studien zur höfischen Epik des 12. Jahrhunderts, Heidelberg 2020, S. 92. 49 Martin (Anm. 40); Schanze (Anm. 34); gattungstheoretische Implikationen in textsyntagmatischer Perspektive diskutiert Gerok-Reiter (Anm. 12): »Narrationslogisch hat dies zur Folge, dass sich die Demonstrationsstruktur heroischer Brillanz auf die Bewährungsstruktur höfischer Kompetenz hin öffnet. Gattungslogisch bedeutet dies die Überblendung von epischen und romanhaften Ordnungen des Er https://doi.org/10.5771/9783835349452

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Held eingeführt und erscheint er im Lauf der Handlung streckenweise als ein maßloser Kämpfer, »the Eneasroman as a whole shows a move from uncontrolled violence, at its beginning, to monopolized violence, at its end«.50 Die von Veldeke gegenüber seiner Vorlage eigens hinzugefügte Totenklage auf Turnus führt aber vor, dass die Gleichzeitigkeit widersprüchlich erscheinender Charakteristika eines Helden keinen Gegensatz bilden muss, sondern dass diese sogar komplementär zusammenwirken können: her was des lîbes ein degen, kûne unde mahtich, wîse unde bedahtich, getrouwe unde wârhaft, milde unde êrhaft, ein adelar sînes gûtes, ein lewe sînes mûtes (V. 12614–620)51 Er war ein Held an Körperkräften gewesen, kühn, kräftig, klug, besonnen, treu, aufrichtig, freigebig und ehrenhaft, ein Adler im Umgang mit seinem Besitz, ein Löwe in seiner Gesinnung. Aus diesem Grund kann das Nebeneinander der beiden Heldenkonzepte, die im Prozess der Erzählung konkretisiert werden, nicht nur im Sinne einer Bewährung, sondern auch im Sinne einer komplementären Potentialität gedeutet werden. Exorbitantes Heldentum erscheint damit als ein notwendiges, wenn auch nur temporäres Element einer idealen Herrscherpersönlichkeit. Intertextuell gelesen, gelangt man so allerdings zu einem überraschenden Resultat: Eneas ist im deutschsprachigen Roman immerhin zeitweise heroischer, maßloser, exorbitanter als der Vorzeitheld Hercules, dessen exorbitante Züge konsequent getilgt sind – und der vom Leser leicht vergessen werden kann. Lieder werden bei Veldeke nicht auf Hercules, sondern nur auf Eneas gesungen und halten sein zählens« (S. 135 f., vgl. S. 130). Zur Bedeutung der Minneepisoden für Eneas’ »Weg der Bewährung« als Herrscher s. Ingrid Kasten: Herrschaft und Liebe. Zur Rolle und Darstellung des Helden im Roman d’Eneas und in Veldekes Eneasroman, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 227–245, hier 244; Henkel (Anm. 12) erläutert die »gegenüber Vergil neue […] Themenkoppelung von Liebe und Erwerb der Landesherrschaft« (S. 136) bei Veldeke in struktureller und motivischer Hinsicht. 50 Martin (Anm. 40), S. 31. 51 Fromm (Anm. 35), S. 895 f., macht auf Veldekes Verwendung »biblische[r] Bilder« für Turnus aufmerksam. 

Hercules und Eneas

Andenken präsent: Die »spilmannen […] lob dem kunege sungen / ieslîch nâch sîner zungen« »Spielleute sangen Preislieder auf den König, ein jeder in seiner Sprache« (V. 13196–200). Die Gesänge am Romanende adressieren den »kuneg[]«, nicht aber den Heros Eneas. Das eingangs dieses Beitrags beschriebene normative Heldenmodell hat das exorbitante integriert. In der zyklischen Struktur, die das Heldentum des Protagonisten im Lauf der Romanhandlung gewissermaßen durchläuft, wird aber deutlich, dass dies lediglich einer temporären und potentiell reversiblen Hierarchisierung beider Heldenkonzepte entspricht. Die volkssprachigen Adaptationen derselben Stofftradition, so konnte hier gezeigt werden, belegen ein eindrückliches, differenziertes zeitgenössisches Reflexionsniveau in Bezug auf Konzepte des Heroischen im 12. Jahrhundert und ihre Relation zu zeitgenössischen Herrschaftsidealen. Für die Beschäftigung mit mittelalterlichen Antikenromanen ist es daher lohnend, Kategorien zu entwickeln, mit denen sich die Verschiebungen und Veränderungen des Heroischen auf der Handlungsebene beschreiben sowie seine spezifischen narrativen und kulturellen Funktionen analysieren lassen. Der Begriff des Postheroischen, wie Petersen ihn in den literaturwissenschaftlichen Diskurs eingeführt hat, regt hierbei dazu an, implizite Reflexionen auf das Konzept des exorbitanten Heros in mittelalterlichen Wiedererzählungen zu untersuchen.52 Die begriffliche Auffächerung, die sich aus diesem Ansatz ergibt, insofern explizit zwischen dem Attribut postheroisch für Gesellschaften zum einen, für historische und literarische Heldenkonzepte zum zweiten und für textuelle Strategien der Reflexion auf das Heroische zum dritten zu unterscheiden ist, weist den mediävistischen Literaturwissenschaften die wichtige Aufgabe zu, nicht nur geschichtliche, sondern auch systematische Differenzierungen zum aktuellen Diskurs über das Heroische und dessen Relation zu Herrschaftsdiskursen beizutragen.

52 Das Postheroische manifestiert sich gemäß Petersen in der Literatur des Mittelalters dort, wo »sie heroische Exorbitanz der Reflexion unterwirft« und selbst einen Blick »von außen« auf das Heroskonzept der Heldenepik richtet; Petersen (Anm. 1), S. 440; vgl. auch in der Einführung zu diesem Buch S. 16. In einem demgegenüber etwas engeren Verständnis des Begriffs bezeichnet Lienert (Anm. 7), S. 56 f., literarische Texte als »postheroisch«, die ein exorbitantes Heldenkonzept dekonstruieren und, beispielsweise durch Komisierung, kritisch reflektieren. 

Christoph Petersen

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Richtet man die Frage nach dem Fortwirken, den Reflexen oder Analogien der antiken und mittelalterlichen Heldenepik in der Kultur der Moderne und Gegenwart gemäß dem Anliegen dieses Buches auf das Konzept dessen, was ein Held sei, dann setzt die Beantwortung der Frage nach solchem Fortwirken die einer anderen Frage voraus, der Frage nämlich nach der Spezifik des heldenepischen Konzepts von Held: Was wäre das spezifisch Heldenepische an einem Helden, das in der Kultur der Neuzeit und Gegenwart seine Reflexe oder Analogien haben könnte? Die Frage nach dem Fortwirken des heldenepischen Helden findet eine Antwort über die Beschreibung dessen, was man in konzeptioneller Hinsicht die Kernvorstellung der europäischen Heldenepik nennen kann. Für diese Beschreibung greife ich das Phänomen der heroischen Exorbitanz auf: die das menschlich Gewöhnliche und Normative überschreitende oder verletzende und gerade deshalb erinnerungswürdige Gewalttat, die Klaus von See, wie in der Einleitung des Buches skizziert, als Wesenskern der europäischen Heldensagen identifiziert hat. Allerdings fehlt dem Exorbitanz-Phänomen bislang eine plausible historische Begründung. Den Einwand, dass die Überlieferung von etwas Nicht- oder gar AntiNormativem in vormodernen Gesellschaften unwahrscheinlich ist,1 hatte von See damit zu entkräften versucht, dass er heroische Exorbitanz in einem völkerwanderungszeitlichen heroic age verankerte, in dem der Mensch sich erstmals »als ein in der Geschichte handelndes, seiner selbst mächtiges Wesen« erfahren habe, und dass der Held der Heldensage »die exorbitante Demonstration eben dieser Selbstmächtigkeit«, also Ausdruck eines geschichtlichen Normenumbruchs sei.2 Doch ein möglicher Ursprung in 1 Joachim Heinzle: Zur Funktionsanalyse heroischer Überlieferung: das Beispiel der Nibelungensage, in: New Methods in the Research of Epic / Neue Methoden der Epenforschung, hg. v. Hildegard L. C. Tristram, Tübingen 1998, S. 201–229, hier 209. 2 Klaus von See: Was ist Heldendichtung?, in: ders.: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 1981, S. 154– 193, hier 192; ähnlich Walter Haug: Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung, in: Studien zum Altgermanischen. Fs. f. Heinrich Beck, hg. v. Heiko Uecker, Berlin u. New York 1994, S. 303–326. – Hintergrund: H. Munro Chadwick: The Heroic Age, Cambridge 1912. 

Christoph Petersen

einem heroic age vermag nicht zu erklären, dass die Stoffe der Heldensagen jahrhundertelang weitertradiert, Jahrhunderte später in die Schrift sowie in neue poetische Formen und diskursive Rahmungen überführt und so weitere Jahrhunderte hindurch rezipiert worden sind. »Das Exorbitante« hat offenbar »die Eigenschaft, seine Entstehungsbedingungen überschreiten zu können und seine Faszination auch später noch auszuüben«.3 Dies ist aber nicht durch Verweis auf den mnemotechnischen »Zusammenhang von Schrecken und Erinnerung«4 zu erklären ; denn schrecklich sind Mord und Krieg auch in der Heldenepik immer schon eo ipso, so dass Exorbitanz als mnemotechnische, schreckenerregende Markierung des Erinnernswerten tautologisch wäre. Demgegenüber werde ich heroische Exorbitanz zurückführen auf einen von allen geschichtlichen Ursprungshypothesen unabhängigen Eigenwert erzählter Gewalt, den ich als spezifische und konstante Kernvorstellung der europäischen Heldenepik durch die Jahrhunderte ihrer nachweislichen wie vermuteten Rezeption plausibel machen werde. Exorbitanz ist historisch darin begründbar, dass sie logisch und poetisch sekundär ist: Folgephänomen des Eigenwertes heroischer Gewalt. Dieser erweist sich damit aber nicht nur als Kern-, sondern auch als Ursprungsvorstellung der poetischen Genese von Heldenepik. Die These meines Beitrags ist, dass das Spezifikum des heldenepischen Helden in einem von allen Anlässen und Umständen unabhängigen Eigenwert der erzählten Gewalt besteht und dass dieser zum einen der Ursprung heldenepischen Erzählens ist und zum anderen in Erzählungen von kriegerischer Gewalt bis in unsere Gegenwart fortlebt. Das Fortwirken des heldenepischen Heldenkonzepts liegt in einem ästhetischen Wirkungspotential begründet, welches das Erzählen vom Eigenwert der Gewalt in der Heldenepik besaß und, vielleicht verändert, bis heute besitzt. Das methodische Problem, wie dieser Eigenwert erzählter Gewalt als ein heldenepisches Spezifikum zu ermitteln wäre, werde ich dabei zu lösen versuchen, indem ich es aus Reflexionen auf das Heroische in literarhistorisch benachbarten Erzählformen ableiten werde. Das spezifisch Heldenepische wird dort greif bar, wo es nicht als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern in irgendeiner Weise markiert ist: in Beziehung gesetzt zu Alternativen und an ihnen reflektiert, zur Disposition gestellt oder der Verabschiedung zugeführt. Und weil im Mittelalter solche Markierungen des Heroischen nächstliegend in dem Genre zu erwarten sind, das wir den höfischen Roman nennen, setze ich an ihm an. 3 Jan-Dirk Müller: Nibelungenlied und kulturelles Gedächtnis, in: Arbeiten zur Skandinavistik. 14. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik, 1.–5. 9. 1999 in München, hg. v. Annegret Heitmann, Frankfurt / M. u. a. 2001, S. 29–43, hier 41. 4 Ebd. 

Heroische Gewalt

Vom Eigenwert der Gewalt zur sozialen Wertschöpfung

Im Mittelpunkt der Anfangssequenz des Iwein, des zweiten Artusromans Hartmanns von Aue vom Anfang des 13. Jahrhunderts,5 steht eine Erzählung des Artus-Ritters Kalogrenant, in der er auf einem Ausritt inmitten eines Waldes auf einen Mann trifft – ein unzivilisiertes Exemplar von Mensch, kaum unterschieden von der ihn umgebenden Wildnis –, dessen Frage, was er denn im Wald suche, Kalogrenant mit dem Wort »âventiure« beantwortet (V. 525). Und des Waldmenschen Nachfrage, was das denn sei: »âventiure« (V. 527), gibt Kalogrenant und Hartmann Gelegenheit zur Erklärung: ›Nû sich wie ich gewâfent bin. ich heizze ein rîter und hân den sin, daz ich suochende rîte einen man, der mit mir strîte und der gewâfent sî als ich. daz prîset in und sleht er mich. gesige aber ich im an, sô hât man mich fur einen man und wirde werder danne ich sî.‹ (V. 529–537) ›Nun sieh, wie ich gerüstet bin. Ich werde Ritter genannt und habe die ständige Absicht, auszureiten auf der Suche nach einem Mann, der mit mir kämpft und so gerüstet ist wie ich. Wenn er mich erschlägt, gibt ihm das einen Wert. Wenn hingegen ich ihn besiege, schreibt man mir Mannhaftigkeit zu und steigere ich meinen Wert im Vergleich zu jetzt.‹ In dieser vielbesprochenen sog. Âventiure-Definition hat der Kampf keinen anderen Anlass als sich selbst, er ergibt sich nicht aus irgendwelchen Umständen, sondern aus dem Aufeinandertreffen zweier gleich bewaffneter, also kategorisch gleicher Krieger, die wegen dieser Gleichheit den Kampf gegeneinander suchen. Dementsprechend dient dieser Kampf auch keinem anderen Zweck als der Überwindung des Gegners, 5 Hartmann von Aue: Iwein. Mhd./nhd., hg. u. übersetzt v. Rüdiger Krohn, kommentiert v. Mireille Schnyder, Stuttgart 2012. – Forschungsstand zum Folgenden: Mireille Schnyder: Âventiure. Auf dem Weg zur Literatur, in: Abenteuer. Erzählmuster, Formprinzip, Genre, hg. v. Martin von Koppenfels u. Manuel Mühlbacher, Leiden u. a. 2019, S. 61–78; Carolin Struwe-Rohr: Âventiure und Kontingenz. Erzählen als Wagnis im Iwein Hartmanns von Aue, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 148 (2019), S. 9–27. 

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die dem Sieger »prîs« und »wert« beschert, eine Steigerung seines sozialen Wertes, seines Prestiges. Und weil dieser soziale Wert nicht von irgendwelchen Anlässen und Umständen des Kampfes abhängt, liegt er im Kampf selbst begründet: Der Kampf besitzt einen Eigenwert, der durch einen Sieg in soziales Prestige umgemünzt wird ; dieses Prestige ist damit allein an den Eigenwert des Kampfes gebunden. Das in Hartmanns Âventiure-Definition formulierte Kriegerethos besteht in nichts anderem als dem Bemühen, den Eigenwert des Kampfes sich anzueignen. Irreführend wäre es daher, die so beschriebene kriegerische Gewalt als autotelische Gewalt zu bezeichnen.6 In der Âventiure-Definition hat die Gewalt nicht sich selbst zum Ziel und Zweck, sondern einen Wert, welcher der Gewalt eigen ist und den der Krieger in soziales Prestige ummünzen kann. Worin der Wert des Kampfes besteht, wird später noch zu klären sein. Entscheidend ist vorerst, dass er nicht in irgendwelchen Anlässen und Umständen begründet liegt, sondern im Kampf an sich. Dem Kampf ist ein Wert dadurch eigen, dass er, wie Kalogrenants anschließender Gegner Ascalun sagt, »âne schulde« geführt wird, ›ohne zwingenden Grund‹ (V. 728). Zur Sprache gebracht wird dies von Hartmann, weil es im Iwein den Ausgangspunkt einer erzählerischen Reflexion auf den Wert des ritterlichen Kampfes bildet. Der Zweikampf, zu dem Kalogrenant vom Waldmenschen gewiesen wird, endet für den Artus-Ritter kläglich, und auch wenn der Titelheld Iwein den gleichen Zweikampf später gewinnt, wird im Fortgang des Romans das Kriegerethos aus der anfänglichen Âventiure-Definition einer Korrektur unterzogen. Iwein wird dadurch, dass er auf endloser Turnierfahrt über dem beständigen Kämpfen für nichts als »prîs« und »wert« seine Pflichten als Ehemann und Landesherr versäumt, erst in einen Selbstverlust geführt und bestreitet danach seine Kämpfe ausschließlich und betontermaßen als Hilfeleistung für andere. Die Korrektur des Kriegerethos in Iweins Geschichte erfolgt dadurch, dass die Motivation für das Kämpfen verschoben wird vom Eigenwert des Kampfes auf dessen Gründe. Damit wird auch der vom Kämpfer anzueignende Wert gegenüber der Âventiure-Definition neu begründet: Der Wert liegt nicht mehr allein im Kampf selbst, sondern auch und primär in dessen Anlässen und Umständen. Mit seinen Hilfskämpfen stellt Iwein seine kriegerische Mannhaftigkeit in den Dienst für andere ; »manheit« und »helfe« sind die Leitwörter in jeder der auf den Selbstverlust folgenden Episoden (V. 3414–18 u. ö.). So wird die Zweikampf-Logik aus der Âventiure-Definition neu besetzt: 6 Begriff: Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, durchgesehene Neuausgabe, Hamburg 2013, S. 116–124. 

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Das Töten oder Getötetwerden besitzt seinen Grund nun in einem Dritten, für den man tötet oder getötet wird. Dementsprechend besteht der Lohn des Kampfes nicht mehr nur im »prîs« (V. 3751, 6052, 6618), sondern mehr noch im Dank anderer (V. 3797–99, 3869–82, 5083, 5441, 6859–66), gipfelnd in dem Dank, den Iwein am Ende von Gawein erhält, der ritterlichen Idealfigur schlechthin (V. 7747). Solcher Dank wiederum ist das Gegenstück zu den Motiven, die Iwein zu seinen Hilfskämpfen bewegen: Einsatz für Adel (V. 3849) und Recht (V. 4247, 7625) bzw. »erbarmen« (V. 4740, 6407). Iweins Hilfskämpfe dienen einer sozialen Wertschöpfung, in deren Rahmen das Kämpfen zu einer Form der Hilfeleistung neben anderen wird: Als Gegenleistung für die Hilfe, die er von verschiedenen Damen erfährt, hilft der Ritter diesen durch Kampf. Die soziale Wertschöpfung durch Kampf wird im Handlungsverlauf auch wiederholt an den Krieger herangetragen. Denn »suochende rîten«, wie in der Âventiure-Definition, tun jetzt nicht mehr die Krieger selbst, sondern diejenigen, die deren Hilfe brauchen (V. 5775, vgl. 4163, 4511). Die Bewegung, die den Krieger auf der Suche nach »prîs« und »wert« zentrifugal vom Hof in die Wildnis oder von der Landesverteidigung auf ritterliche Tournee geführt hat, wird ersetzt durch eine Bewegung, die ihn als Gegenstand von Suche und Hilfsbegehren zum Zentrum der sozialen Wertschöpfung macht, zum Garanten von Gesellschaftlichkeit. Auf diese Weise wird das Kriegerethos aus Kalogrenants Âventiure-Definition verabschiedet und durch ein sozial orientiertes Ethos ersetzt.7 Der Löwe, der mit Iwein während dessen Hilfskämpfen eine Gemeinschaft gegenseitiger Hilfeleistung bildet und zu Iweins Identitätsmerkmal avanciert, ist eine symbolische Chiffre genau dieser Ersetzung.8 Der Eigenwert des Kampfes wird damit allerdings keineswegs annulliert, im Gegenteil. In Iweins letztem Kampf am Ende der Hilfskampfreihe, im Gerichtskampf mit Gawein, wird die soziale Wertschöpfung des Kampfes wiederum partiell suspendiert, indem der Gerichtskampf in Abwesenheit des Löwen unentschieden bleibt und das Urteil dann von König Artus mit salomonischer List gefällt wird. Gleichwohl wird aber die Schilderung des Zweikampfes selbst erzählerisch geradezu zelebriert. Die »manheit«, welche die Zweikämpfer in dem ausführlich geschilderten Kampf an den Tag gelegt hätten, sei so groß gewesen, »daz diu werlt nie 7 Die Ersetzung wird im Rahmen von Iweins Hilfskampfreihe eigens hervorgehoben: In der Episode der Burg zum schlimmen Abenteuer korrigiert Iwein, indem er die adeligen Damen aus einem Arbeitshaus befreit, die gesellschaftsschädlichen Konsequenzen aus der Âventiure-Suche ihres Herrn (V. 6320–85 u. 6835–65). 8 Andere Deutungen des Löwen: Gertrud Jaron Lewis: Das Tier und seine dichterische Funktion in Erec, Iwein, Parzival und Tristan, Bern u. a. 1974, S. 55–85. 

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gewan / zwêne strîtiger man / nâch werltlîchem lône«, ›dass die Welt nie zwei Männer gekannt hat, die besser um weltlichen Lohn gekämpft hätten‹ (V. 6944–51); »die krône rîterlîcher êren«, die beide Kämpfer sich schon vorher erworben hätten, hätten sie jetzt sogar noch zu »mêren« gewusst (V. 6952–54); und solch ein Kampf sei nicht nur gottgefällig (V. 7171 f.), sondern habe auch ein »erbarmen« für die Kämpfer bei denen hervorgerufen, für deren Rechtsordnung sie kämpften (V. 7273–7334) – eine Rückkoppelung zu Iweins »erbarmen« (s. o.), welche die Bindung des Kampfwertes an ein gesellschaftliches Bonum unterstreicht. Unter der Voraussetzung seiner sozialen Indienstnahme erfährt auch der Eigenwert des Kampfes eine superlativische Steigerung. Im Iwein wird dieser Eigenwert also nicht aufgegeben. Während Hartmann das in der Âventiure-Definition explizierte Kriegerethos – den Kampf allein für »prîs« und »wert« – verabschiedet, verschafft er dem Eigenwert des Kampfes unter neuer Bedingung ein Fortleben. Und dies ist durchaus programmatisch gemeint. Denn bei der Âventiure-Definition geht es nicht, wie man bisher immer gemeint hat, um eine (defiziente) Begriffsbestimmung von âventiure, sondern um eine kulturgeschichtliche Rahmung der an dieser Stelle mit dem Begriff bezeichneten Praxis. Der vorzivilisatorische Waldmensch, dem Kalogrenant âventiure erklärt, versteht, obgleich er das Wort nicht kennt, genau, was Kalogrenant damit meint, und kann deshalb den Ritter zur nächsten Gelegenheit für âventiure weiterweisen (V. 547–559). So wird das Wort âventiure neu auf eine Praxis angewandt, die an sich vertraut ist, auch einem Hinterwäldler. Und einem Hinterwäldler, so muss man sagen, erst recht. Denn umgekehrt kennt der exquisit kultivierte Burgherr, der Kalogrenant am vorigen Abend beherbergt hatte, zwar das Wort, ohne aber je der Praxis begegnet zu sein (V. 373–380). In Kalogrenants Gesprächen mit dem Burgherrn und mit dem Waldmenschen wird anhand des Wortes âventiure eine zivilisatorische Avantgarde abgehoben von einer Praxis, die dem zivilisatorisch Rückständigen vertraut ist. Die Praxis ihrerseits, der Kampf also für nichts als »prîs« und »wert«, wird dadurch an dem Wort zivilisatorisch distanziert, archaisiert.9 Damit ist angezeigt, dass die spätere Verabschiedung des von Kalogrenant beschriebenen Kriegerethos weniger auf die beteiligten Figuren und ihre individuelle Kurzsichtigkeit oder Schuld gemünzt ist (im Sinne von Selbsterkenntnis o. ä.) als vielmehr auf das Kriegerethos an sich als einen 9 Darin erhält die Archaik des Waldmenschen (Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009, S. 358–374) seine unmittelbare und m. E. eigentliche kultursemiotische Funktion im Text. 

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Gegenstand kulturgeschichtlicher Verhandlung.10 In Hartmanns Iwein wird ein Kämpfen um nichts als den Eigenwert des Kampfes kulturgesch i chtlich verabschiedet und wird dem Eigenwert durch seine soziale Indienstnahme ein li t e r a r h i st or i sc h e s Fortleben verschafft.11 Dass jenes Kriegerethos in heldenepischer Überlieferung beheimatet war, dass es mithin ein spezifisch heldenepisches Kriegerethos war, welches Hartmann verabschiedet hat, wird im Iwein nicht ausdrücklich gesagt. Wie Hartmann auch sonst die Bezugsgrößen seiner Texte (Quellen usw.) im Ungefähren belässt und verschleiert, so wird auch in Kalogrenants Âventiure-Definition der heldenepische Hintergrund, der in Hartmanns Vorlage, Chrétiens de Troyes Yvain, noch zitiert ist,12 nicht namhaft gemacht. Und Hartmanns Publikum brauchte es wohl auch nicht mit dem Zaunpfahl gewunken zu werden. Für uns heutige Interpreten aber wird die heldenepische Heimat des verabschiedeten Kriegerethos im Blick auf andere Texte klar.

10 Udo Friedrich: Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und Gewaltregulierung im 12. Jahrhundert, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel, Stuttgart u. Leipzig 1999, S. 149– 179. – Die Dialektik von Archaisierung der Praxis durch Modernisierung ihrer Bezeichnung ist auch im Nebeneinander der Wörter »prîs« und »wert« impliziert, von denen ersteres das aus dem Frz. entlehnte, im höfischen Sprachgebrauch moderne Äquivalent zu letzterem ist, das aus germanisch-deutscher Tradition stammt (vgl. S. 248): Der im Kampf anzueignende Wert wird aus alter Tradition (»wert«) von einer kulturellen Avantgarde adaptiert (»prîs«). 11 Am Iwein wird besonders deutlich, dass die Neubestimmung des Kriegerethos im höfischen Roman – wie mittelbar auch immer – beeinflusst ist von der im 12. Jahrhundert auflebenden Diskussion um Augustins Begriff des gerechten Krieges, in dessen Zentrum die iusta causa, der ›gerechte Grund‹ steht, die Wiederherstellung einer gottgewollten Ordnung (vgl. bes. Aurelius Augustinus: Contra Faustum Manichaeum XXII,74 f., in: Patrologia Latina 42, Sp. 447 f.). Im höfischen Roman wird das heldenepische Kriegerethos mittels einer höfisch-adeligen iusta causa für das Kämpfen überführt in ein ritterliches Ethos. 12 Bei Chrétien lautet Calogrenanz’ Antwort auf die Frage des Waldmenschen, aus der Hartmann die Âventiure-Definition gedrechselt hat, knapp: »Avantures por esprover / Ma proesce et mon hardement« ›Gelegenheiten, um meine Kampftüchtigkeit und meinen Wagemut unter Beweis zu stellen‹ (Chrestien de Troyes: Yvain, übersetzt u. eingeleitet v. Ilse Nolting-Hauff, München 1962, V. 362 f.). Mit »proesce« und »hardement« sind die beiden Leitwörter für den Heldentypus der frz. Heldenepik zitiert. – Vgl. Bernhard Teuber: Yvain, der Löwenritter. Die Geburt des Abenteuers in der mittelalterlichen Erzählliteratur, in: Glücksritter. Risiko und Erzählstruktur, hg. v. dems. u. Wolfram Ette, Paderborn 2021, S. 1–26, bes. 6–9. 

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Die Autonomie heroischer Gewalt

Der Kampf für nichts als »prîs« und »wert« wird nicht nur im Iwein als ein Kampf »âne schulde« bezeichnet, sondern ebenso im Prolog des Goldemar, eines Textes der vom höfischen Roman beeinflussten, sog. âventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts.13 Im Goldemar-Prolog wird der Eigenwert des Kampfes zur Signatur einer ganzen Epoche erklärt, zum Charakteristikum der Helden zu Zeiten Dietrichs von Bern: ir hand von helden vil vernomen, die ze grossen striten sint bekomen bi her Diethriches ziten. Sú begiengent tegenhet gen˚ug do einer ie den andern sluog. […] e das beste, Man sprach, er tat e ane schuld ersl˚ug. der mangen Da von ir lob gepriset ward, so man die toten von im tr˚ug. (Str. 1,1–5 u. 10–13) Wir haben von vielen Helden gehört, die sich in großen Kämpfen begegneten zu Zeiten des Herren Dietrich. Sie vollbrachten viele kriegerische Taten, indem immer einer den anderen erschlug. […] Man sagte, dass einer das Beste leistete, wenn er viele ohne zwingenden Grund erschlug. Dadurch wurde ihr Ruhm im Wert gesteigert, wenn man die Toten von ihm forttrug. Das kriegerische Wesen der Helden jener Zeit habe sich in ständigem Erschlagen – gegenseitigem Erschlagen ! – gezeigt, ihr »bestes« in der Vielzahl der Erschlagenen ; der soziale Wert ihres Ruhmes sei gesteigert worden durch die Toten, nicht durch irgendwelche Umstände des Tötens ; denn erschlagen hätten die Helden sich »ane schuld«. Ob vom Iwein beeinflusst oder nicht, beschreibt der Goldemar-Prolog dasselbe Kriegerethos wie Kalogrenants Âventiure-Definition: das gegenseitige Erschlagen für nichts als »lob« und »pris«. Anders als bei Hartmann wird 13 Virginal. Goldemar, hg. v. Elisabeth Lienert u. a., Berlin u. Boston 2017, S. 821– 829. – Gattungsüberblick: Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin u. New York 1999; Forschungsstand: Florian Kragl: Heldenzeit. Interpretationen zur Dietrichepik des 13. bis 16. Jahrhunderts, Heidelberg 2013; Einfluss des höfischen Romans: Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung, Wiesbaden 2008. 

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dieses Ethos hier nun ausdrücklich der heldenepischen Überlieferung zugewiesen, nicht nur über den Index Dietrich von Bern, sondern auch durch die Art des Erzähleinsatzes, in dem – analog etwa zur berühmten Prologstrophe des Nibelungenliedes – das Erzählen von »helden« und ihren »striten« an ein kollektives »Wir« im anonymen Traditionsfluss mündlichen Wiedererzählens gebunden ist. Der Goldemar-Prolog identifiziert das beschriebene Kriegerethos als ein heldenepisches. Und wie im Iwein wird dieses Ethos auch hier anschließend verabschiedet. Die zweite Prologstrophe kündigt an, dass jener Index des heroischen Zeitalters Dietrich von Bern seinen Sinn nur auf Kampf und nie auf adelige Damen gerichtet habe, jedoch nur so lange, bis er dann doch einmal eine schöne Dame getroffen habe, die ihn in Liebe bezwang: u merkent, ir herren, daz ist reht: Von Kemmenaten Albreht, e der titet dúse mare, e wie das der Bernar vil g˚ut v nie gewan gen frowen hohen m˚ut. e Wan seitt uns, das er ware gen frowen nit ein hofelicher man (sin m˚ut st˚unt im ze strite), unz er ein frowen wol ge gesach bi einen ziten. v Die ein ho gelopte mait, die den Berner da betwang, als úns die aufetúre sait. (Str. 2) Seid nun aufmerksam, ihr Herren, das gehört sich so: Albrecht von Kemenaten dichtete diese Erzählung davon, wie der überaus vortreffliche Berner adeligen Damen gegenüber niemals höfische Gesinnung zeigte. Man erzählt uns, dass er Damen gegenüber kein höfischer Mann gewesen sei (sein Sinn stand ihm auf Kampf ), bis er bei einer Gelegenheit auf eine schöne Dame traf. Die war ein hochgepriesenes Mädchen und bezwang den Berner auf der Stelle, wie uns die Âventiure berichtet. Das heldenepische Kriegerethos wird höfischem Frauendienst und höfischer Liebe gegenübergestellt und von ihnen abgelöst: Dietrich wird vom Subjekt kriegerischen Bezwingens zum Objekt erotischen Bezwingens. Dies spielt sich so dann auch in der folgenden Erzählung ab, in der Dietrich auf einem gewöhnlichen Ausritt nach heroischer Bewährung zufällig auf ein adeliges Mädchen trifft, das, vom Zwergenkönig Goldemar gefan https://doi.org/10.5771/9783835349452

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gen gehalten, von Dietrich befreit und geheiratet wird.14 So erzählt der Goldemar davon, wie das an Dietrich festgemachte heroische Kriegerethos ersetzt wird durch ein Ethos, in dem das Kämpfen erneut einer sozialen Wertschöpfung dient, hier: adeliger Sozialisation durch höfischen Frauendienst. Im Prolog wird diese Ersetzung aber erneut – und wiederum ausdrücklicher als im Iwein – zum poetologischen Programm erhoben. Wie in der ersten Strophe das heroische Kriegerethos in einem heldenepischen Erzählgestus erinnert wird, so wird in der zweiten Strophe Dietrichs Konversion zu Frauendienst und Liebe im Erzählgestus des höfischen Romans angekündigt: mit Selbstnennung des Autors und dem aus Hartmanns Prologen vertrauten schriftliterarischen »tihten« sowie mit der Signaturformel des Artusromans »als úns die aufetúre sait«. Das als heldenepisch markierte Kriegerethos wird ersetzt durch das Ritterethos ausdrücklich des höfischen Romans. Der Eigenwert kriegerischer Gewalt erhält im Goldemar nicht nur ein Fortleben in der sozialen Orientierung, sondern wird auch, indem er ausdrücklich auf die heldenepische Überlieferung zurückgeführt wird, als Eigenwert spezifisch heldenepischer Gewalt identifiziert.15 Am Goldemar kann dieses Spezifikum auch noch etwas genauer beschrieben werden. Die Handlung setzt nach den beiden Prologstrophen ein mit einem gewohnheitsmäßigen Ausritt Dietrichs in »walde« und »gebirge« (Str. 3,3; 4,5 u. ö.). In der Wildnis habe Dietrich nämlich, wie kommentiert wird, die »wunder« vollbracht, die »wir« von ihm kennen (Str. 3,7), »wunder«, die ganz im Sinne der ersten Prologstrophe in der e derer bestehen, die von ihm »erslagn« wurden (Str. Vielzahl (»manig«) 3,9). Wie bei Kalogrenant dient der Ausritt auch bei Dietrich der Suche (Str. 4,4) nach einer weiteren Gelegenheit zu solchen »wunder«-Taten. Aktuell ist ihm die geboten durch irgendwelche Riesen in der Wildnis, so e »grosse« und »ungef uge« Riesen (Str. 4,2 u. 4,8) mit ihrer topischen »stangge«, so »gros« und »lang«, dass man ihnen gleichfalls attestieren kann, ein »wnder« zu sein (Str. 4,11 f.). Dietrichs Kampftaten sind also »wunder«, weil seine Gegner »wunder« sind ; der Wert des heroischen Kampfes entspricht der Kampfkraft der Gegner. Und der Zweck des Kampfes besteht in nichts als der Aneignung dieses Wertes: Dietrichs 14 So der rekonstruierte Handlungsgang des Goldemar-Fragments nach dem Zeugnis anderer Texte ; vgl. Heinzle (Anm. 13), S. 104–107. 15 Das Bemühen, dem Eigenwert heroischer Gewalt ein Fortleben zu verschaffen, ist in der âventiurehaften Dietrichepik bisweilen mit dem Motiv von Dietrichs zageheit ›Zögerlichkeit‹ angesichts einer Kampfmöglichkeit verknüpft: Die zageheit erlaubt es, Gründe erzählerisch zu entwickeln, deretwegen Dietrich einen Kampf aufnimmt, Gründe jenseits des Kampfes selbst. Zum Motiv: Jens Haustein: Die zagheit Dietrichs von Bern, in: Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur, hg. v. Gerhard R. Kaiser, Heidelberg 1998, S. 47–62. 

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»manhait« ist es, die ihn zum Ausritt in die Wildnis »betwang« (Str. 4,13), auf dass sie sich im Kampf wieder beweise.16 Der heroische Kampf basiert auf der Zirkularität von Zuschreibung und Aneignung des im Kampf realisierten Wertes, des »wunders«, weshalb die Aneignung auch keines äußeren Anlasses bedarf und endlos wiederholbar ist. In diesem Sinne ist der im Kampf realisierte und anzueignende Wert autonom: sich selbst generierend und erfüllend, unabhängig von Anlässen und Umständen des Kämpfens. Im Goldemar deutlicher als im Iwein erscheint diese Autonomie des Kampfwertes als Spezifikum eines Kampfes in heldenepischer Tradition, als Spezifikum der heroischen Gewalt.

Heldenlegitimität versus Heldenepik

Die Historisierung, die der Eigenwert der heroischen Gewalt im Goldemar erfährt, indem er »her Dietriches ziten« zugeschlagen wird, findet sich zu einer geschichtlichen Epoche ausgearbeitet in der spätmittelalterlichen Heldenbuchprosa, einem historiographischen Begleittext des seit 1479 gedruckten Heldenbuchs, in dem eine Reihe mittelhochdeutscher Heldenepen versammelt ist. Die Heldenbuchprosa17 vereinigt die heldenepischen Stoffe des deutschen Mittelalters in historiographischer Manier, nämlich, wie die Textüberschrift informiert, in einem Zeitalter mit Anfang und Ende, sortiert nach Namen, Räumen und Herkünften der Helden: wie die helden des ersten auff seind kummen / auch wie sie wider ab seind gangen / vnd ein end genumen habent  Wie sie genant . wa sie sich gehalten  vnd wannen sie geborn seind  (Bl. 1ra) Und wie im Goldemar-Prolog ist das hervorstechende Merkmal dieses Heldenzeitalters auch hier der Helden gegenseitiges Erschlagen. 16 Das Ausfahrtmotiv, wie man die Typik dieses Handlungseinsatzes genannt hat (Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, Zürich 1978, S. 162–167), ist die motivische Verfestigung der narrativen Umsetzung dieser Logik. 17 Heldenbuch, nach dem ältesten Druck in Abbildung hg. v. Joachim Heinzle, 2 Bde., Göppingen 1981 /87, Bd. 1, Bl. 1ra–6rb. – Grundlage der Deutung bis heute: Kurt Ruh: Verständnisperspektiven von Heldendichtung im Spätmittelalter und heute, in: Deutsche Heldenepik in Tirol. Beiträge der Neustifter Tagung 1977, hg. v. Egon Kühebacher, Bozen 1979, S. 15–31; außerdem: Florian Kragl: Die Geschichtlichkeit der Heldendichtung, Wien 2010, S. 77–116; Sarah Leuzinger: Heroische Anfänge. Narrative Anfangskonstruktionen in Dietrichs Flucht und der Heldenbuchprosa, Würzburg 2015, S. 151–207. 

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Berichtenswert aus der heldenepischen Überlieferung ist stets das exorbitante Ereignis, das sukzessive auf die Kämpfe beschränkt wird, welche die Helden anfangs gelegentlich auch gegen Drachen, dann nur noch gegeneinander führen. Und konsequenterweise findet das Zeitalter der Helden sein Ende in ihrer Selbstvernichtung – einmal: »Da lieffen die held alle z˚u samen vnd schl˚ug ye einer den andern z˚u tode« (Bl. 5vb, Nibelungen-Stoff ), nochmal: »da kam ye einer an den andern biß das sie all erschlagen wurden« (Bl. 6ra, Dietrich-Stoff ), nun endgültig: »Alle die helden die in aller welt waren wurdent daz˚umal abgethan« (Bl. 6rb). Die Helden zeigen ihr »aller bestes« in nichts anderem als dem Kampf (Bl. 5vb), so dass dieser folgerichtig zu ihrer Selbstvernichtung führt. Dabei werden die Umstände des Kämpfens nicht so genau genommen, so dass etwa Hildebrand zweimal erschlagen werden kann, einmal von Gunthers Sohn, einmal von Gunther selbst (Bl. 2ra u. 6ra). Ganz ausgelassen sind solche Umstände des Kämpfens in den katalogartigen Listen von Heldennamen: Dass jemand erschlagen wurde, wird öfters vermerkt – warum, nie ; wie eine Archivnotiz heroischen Ruhmes kann die Auskunft »von dem berner erschlagen« einem Namen angeheftet sein, ohne dass Anlass oder Umstände dieses Erschlagens angedeutet würden (Bl. 2rb). Auch der Anlass der letzten Schlacht, in der die Helden sich endgültig vernichten, bleibt ungenannt: Schlicht »aber ein streit« ›wieder ein Kampf‹ (B. 6rb) führt zum Ende des Heldenzeitalters. Das »aller beste« der Helden, das zu ihrer Selbstvernichtung führt, ist unabhängig von diesem oder jenem Grund für das Kämpfen. Die Heldenbuchprosa destilliert aus der vorgefundenen heldenepischen Überlieferung eine Geschichtsepoche für eben jenes heroische Kriegerethos, das in Iwein und Goldemar verabschiedet worden ist. Doch auch die Prosa spiegelt ein Unbehagen an diesem Ethos, ein Bedürfnis, dem Kämpfen für nichts als den Eigenwert des Kampfes einen zusätzlichen Sinn und dem Erzählen von ihm eine neue Legitimität zu verschaffen. Ausdruck dieses Bedürfnisses ist ein in den Text eingeschobener Passus, der von einer göttlichen Schöpfung der Helden berichtet und deshalb von der Forschung Herogonie getauft wurde. In diesem Passus wird auf das Heldenzeitalter ein völlig anderer Blick geworfen als im Rest des Textes. Während es ansonsten um eine historiographische Bestandsaufnahme des Überlieferten geht, um das »wie, wa, wannen« der Helden (s. o.), geht es hier um deren Existenzgrund, ihr Warum: »[E]s ist auch cz˚u wissen warvmb got die cleinen zwerg vnd die grossen rysen / vnd darnach die held ließ werden« (Bl. 1rb). Begründungen und Zweckbestimmungen – »vmb des willen, darumb, da von« – durchziehen dann auch den ganzen Passus. 

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Erzählt wird, wie Gott erst die Zwerge geschaffen habe und dann die Riesen, welche die Zwerge gegen Tiere schützen sollten ; als aber die Riesen die Zwerge unterdrückten, habe Gott schließlich die Helden geschaffen, die den Zwergen erneut »z˚u hilff« kommen sollten, jetzt gegen Getier und Riesen. Die heroische Disposition dieses Heldenvolks – ihr auf »auff streit vnd krieg« gerichteter »m˚ut und sinn« – ist somit a priori zur Hilfeleistung bestimmt und dadurch legitimiert. Und außerdem, so wird hinterhergeschoben, hätten die Helden auch das ritterliche Ethos des höfischen Romans erfüllt: »frawen zucht vnd ere« ›Anstand und Ansehen adeliger Damen‹ zu bewahren, »witwen vnd weysen« zu beschützen, und noch einmal: den »frawen« stets »cz˚u hilf« zu kommen (Bl. 1rb–1vb). Die Herogonie legitimiert die heroische Disposition zu »streit vnd krieg« durch eine göttliche Weltordnung, in deren Rahmen ihr eine soziale Wertschöpfung zugeschrieben wird: Schutz der Schutzlosen, Frauendienst. Allerdings hat das mit dem, was die Prosa sonst über die Helden der Überlieferung berichtet, nicht das Geringste zu tun. Kein einziger Aspekt der in der Herogonie genannten sozialen Wertschöpfung findet sich in den historiographischen Resümees der Überlieferung wieder – oftmals vielmehr das gerade Gegenteil: »die cleinen zwerg« sind nicht schützenswert, sondern Frauenschänder (Alberich, Goldemar), und »die grossen rysen« nicht den Helden gegenübergestellt, sondern neben sie gereiht (Asprian, Schrutan, Ecke-Sippe); »frawen zucht vnd ere« kümmern die Helden überhaupt nicht und werden allenfalls dann thematisch, wenn zwielichtig oder zuschanden (Ortnits und Dietrichs Mütter, Sibiches Frau, Kriemhild); »witwen vnd weysen« werden von den Helden nicht geschützt, sondern erst gemacht und dann gehenkt (die Harlungen) oder zerhauen (Kriemhild). So tritt im Versuch der Heldenbuchprosa, dem heroischen Kriegerethos im Herogonie-Passus einen sozialen Wert zuzuschreiben und damit dem Eigenwert des Kampfes ein Fortleben zu schaffen, die Tatsache zutage, dass dieser Versuch in der heldenepischen Überlieferung selbst keinen Rückhalt findet. Dazu passt, dass die schöpfungsmythische Einkleidung dieser sozialen Wertzuschreibung nicht, wie man immer gemeint hat, der Situierung der Helden in einem historischen Anfang dient, sondern der Gewinnung und Explikation einer begrifflichen Kategorie, der die historiographisch überblickten Helden der Überlieferung zugeordnet werden können. Die Schöpfung von Zwergen, Riesen, Helden im Herogonie-Passus ist weder mit der biblischen Schöpfungsgeschichte18 noch mit der Heldenhistorie 18 Das lässt sich gerade an den Zitaten dieser Geschichte in dem Passus festmachen: Zwar sei bei der Zwergen-Schöpfung, entsprechend der Genesis, »das lant vnd ge https://doi.org/10.5771/9783835349452

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der Prosa selbst kompatibel. Diese beginnt vielmehr mit einem eigenen, aus der Überlieferung abgeleiteten Anfang: mit Orendel (»ernthelle«), welcher »der aller erste held« gewesen sei, nicht göttlich geschaffen, sondern menschlich »geboren« zu einer Zeit, als man schon von Trier aus »z˚um heiligen grabe« pilgern konnte (Bl. 1ra). Während der Text also einen einzelnen Archegeten des Heldenzeitalters an die Spitze der vielen aus der Überlieferung namentlich benannten Helden stellt, spricht der Herogonie-Passus weder einen ersten noch sonst einen individuell benennbaren Helden an, sondern »die held« als ein Kollektiv, dem »der aller erste« und alle folgenden Helden der Überlieferung sich subsumieren lassen – nicht sachlich (s. o.), doch begrifflich. Die schöpfungsmythische Formulierung der Herogonie dient dazu, »die held« als einen von aller historischen Kontingenz und individuellen Überlieferung abstrahierten Begriff zu objektivieren.19 Die soziale Wertzuschreibung an »die held« im Herogonie-Passus ist somit auf eine begriffliche Abstraktion bezogen, die nicht der heldenepischen Überlieferung abgewonnen ist, sondern an diese herangetragen wird.20 So wird im Versuch der Heldenbuchprosa, dem Eigenwert der heroischen Gewalt durch soziale Wertzuschreibung ein Fortleben zu schaffen, deutlich, dass diese Zuschreibung nicht nur der heldenepischen Überlieferung sachfremd ist, sondern sie auch obsolet werden lässt. Ein kulturgeschichtliches Fortleben kann Helbürge gar wiest vnd vngebawen« gewesen (Bl. 1rb; Gen 1,2 u. 2,5), doch die Fähigkeit, »úbel vnd g˚ut gar wol« zu erkennen (ebd.), eine »scientia boni et mali« also (Gen 2,17), wird, entgegen der Genesis, von Gott nicht dem Menschen verboten, sondern den Zwergen verliehen. Die Herogonie benutzt Vorstellungen der biblischen Schöpfungsgeschichte, will mit dieser aber nicht kompatibel sein. 19 Der mhd./frühnhd. Wortschatz hat kein Lexem für eine Begriffskategorie Held. Das Wort helt hat mit der Bedeutung ›bewaffneter Mann‹ nie die Spezifik des heutigen Held erlangt (Deutsches Wörterbuch 4,2 [1877], Sp. 930–934). Auch das Wort recke, das im Nibelungenlied wohl einen besonderen Krieger bezeichnet, steht dort wie sonst neben den Wörtern helt, degen, wîgant, sogar ritter (Dagmar Gottschall: Recke. Zur althochdeutschen Vorgeschichte eines Schlüsselwortes der mittelhochdeutschen Heldenepik, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 128 [1999], S. 251–281). Im Spätmittelalter verliert sich auch die Bezeichnungsdifferenz dieser Wörter zum Wort rise (Hans Fromm: Riesen und Recken, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60 [1986], S. 42–59). Aus solcher Vielfalt musste eine Begriffskategorie Held erst gewonnen werden durch gedankliche Abstraktion, die nächstliegend in einer schöpfungsmythischen Gottunmittelbarkeit Ausdruck finden konnte. 20 Dieses Herantragen lässt sich auch der Textfaktur ablesen. Der Herogonie-Passus ist nach der Nennung von Kriemhilds Rosengarten und vor der Heldenliste aus dem Rosengarten-Epos zusammenhanglos in den Text eingeschoben. Im Gegensatz zu allen anderen Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Diskurs- und Darstellungsformen in der Prosa ist die Zusammenhanglosigkeit der Herogonie unüberbrückbar. 

Heroische Gewalt

denepik nur mehr haben, wenn man die Tatsache, dass in ihr eine soziale Orientierung der kriegerischen Gewalt irrelevant ist, ignoriert oder unterschlägt. Darin deutet sich in der Heldenbuchprosa bereits die Rezeptionsweise an, die der Heldenepik in der Neuzeit dann tatsächlich widerfahren sollte. Ich ziehe ein Zwischenfazit mit grundsätzlichen Schlussfolgerungen für die Phänomenologie heroischer Exorbitanz und für die poetologische Genese heldenepischen Erzählens.

Ursprung der Heldenepik

Die unter dem Einfluss eines christlich-höfischen Ritterethos stehenden Versuche in Iwein, Goldemar und Heldenbuchprosa, dem Eigenwert kriegerischer Gewalt ein Fortleben dadurch zu schaffen, dass der Gewalt auch eine soziale Wertschöpfung zugeschrieben wird, verleihen derjenigen Gewalt, der solche Wertschöpfung fehlt, eine Spezifik, die als heldenepische Spezifik identifizierbar ist. Im Lichte dieser Versuche erscheinen somit auch in der Heldenepik selbst die ubiquitären Reflexe des Eigenwertes kriegerischer Gewalt nicht als beiläufige Akzidentien einer literarischen Kampfdarstellung, sondern als Erscheinungsformen des heldenepischen Spezifikums, mithin der Kernvorstellung des heldenepischen Diskurses. Das »aller beste«, das Hagen in der Heldenbuchprosa im Kampf an den Tag legt, entspricht dem im Kampf realisierten Wert, der auch im Nibelungenlied Hagen zum »aller besten degen« macht, der »ie kom ze sturme« und »ie schilt getruoc«, der ›jemals einen Kampf bestritt, jemals einen Schild führte‹ (Str. B 2371,2 f.).21 Dass dieser Lobpreis Hagens Feind Etzel in den Mund gelegt ist, dem der »aller beste degen« den Erbsohn ermordet hatte, bestätigt die Isolierbarkeit des Eigenwertes heroischer Gewalt von allen sozialen Normen und Werten, wie sie in den oben besprochenen Textstellen zum Ausdruck gebracht ist. Deshalb heißt das Morden in Etzels Halle »guot tuon« (B 2132,1) und will Hagen auch gegen den allerletzten Gegner noch ausfechten, »wem man des besten müge jehen« ›das Beste zuschreiben könne‹ (B 2323,4). »Guot tuon« und »der beste« sein entspricht dem berühmten »αἰὲν ἀριστεύειν« ›immer der Beste sein‹ in der Ilias (11,787).22 Es ist ein auch dort auf den Kampf bezogener und von allen sozialen Normen und Werten isolierter Impe21 Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, mhd. Text, Übersetzung u. Kommentar v. Joachim Heinzle, Berlin 2013. 22 Homer: Ilias, mit Urtext, Anhang u. Registern, übertragen v. Hans Rupé, München u. Zürich 91989. 

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rativ an Achilleus, der in der Textwelt der europäischen Heldenepik ebenso generalisierbar ist wie der Imperativ, den Hildegund im ags. Waldere an Walther richtet: »weorða ðe selfne godum dædum« ›schaffe dir selbst Wert durch vortreffliche (Kampf-)Taten‹ (I, V. 22 f.).23 Deshalb ist heroischer Ruhm »wiges weorðmynd« ›Kampfwert-Gedenken‹ (Beowulf, V. 65),24 Erinnerung des vom Helden angeeigneten Eigenwertes kriegerischer Gewalt. Das Phänomen heroischer Exorbitanz lässt sich als logische Konsequenz aus diesem Eigenwert begreifen. Wenn Gewaltausübung per se, unabhängig von Anlässen und Umständen, einen Wert besitzt und per se demjenigen, der sie ausübt (auch: aushält), einen Wert, ein soziales Prestige verleiht, dann wird solcher Wert ebenso in guten wie in bösen Taten realisiert, ebenso in gesellschaftsstabilisierender wie -destruierender Gewalt, in solcher, die sozialen Normen entspricht oder entgegensteht. Und es ist gleichgültig, ob und in welchen Graden ein Held seine Gewalt in die eine oder die andere Richtung ausübt ; eine Kasuistik darüber verfehlt heroische Exorbitanz.25 Die fundamentale Ambivalenz der Helden der europäischen Heldensagen resultiert aus der politischen, soziologischen und sozialethischen Indifferenz des Eigenwertes heroischer Gewalt. Und ebenso die exorbitanten Erscheinungsformen der Helden und ihrer Taten. Denn relevant für den Eigenwert ist allein das Ausmaß der Gewalt: das Gewohnheitswidrige ihrer Ausübung, die Dimension der Körper, Kräfte, Waffen und Gegner, die quantitative Größe der Gewaltausübung, das μέγα ἔργον ›große Werk‹ und wunder der kriegerischen Tat. Heroische Exorbitanz ist nichts anderes als die Umsetzung des Eigenwertes heldenepischer Gewalt in narrative Anschaulichkeit. Eine andere Konsequenz aus dem Eigenwert heroischer Gewalt betrifft dessen poetologischen Stellenwert. Indem Texte wie Iwein, Goldemar und Heldenbuchprosa den Eigenwert als ein Spezifikum des heldenepischen Diskurses durchsichtig machen, zeigen sie, dass er für die Zeitgenossen innerhalb dieses Diskurses analytisch isolierbar geblieben ist, isolierbar insbesondere von den narrativen Plots, in die Gewalt in der 23 Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg, mit Text u. Übersetzung, Einleitung u. Kommentar sowie einem Konkordanz-Glossar in drei Teilen hg. v. Gerhard Nickel, Heidelberg 1976, Tl. 1, S. 206–210. 24 Ebd., S. 1–199. 25 Hartmut Bleumer: Der Tod des Heros, die Geburt des Helden – und die Grenzen der Narratologie, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. v. Udo Friedrich u. a., Berlin 2014, S. 119–141; Elisabeth Lienert: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos, in: Beiträge zur mittelalterlichen Erzählforschung 1 (2018), S. 38–63. 

Heroische Gewalt

Heldenepik ja immer eingebettet ist: Rache-, Kriegs-, Eroberungsgeschichten, göttliche oder geschichtliche Missionen, Religionskonflikte und Begründungen einer Familien-, Stammes- oder Ortsgeschichte – Krieg um Troja, Untergang der Burgunden, Schlacht von Roncevaux, Walthers oder Hildebrands Heimkehr usw. Durch solche Plots wird die heroische Gewalt situativ und pragmatisch differenziert, wird sie hergeleitet und begründet, legitimiert oder delegitimiert, wird ihrer virtuellen Unendlichkeit nicht nur Anfang und Ende gesetzt, sondern auch ein möglicher historischer Halt gegeben und mit ihm eine Anbindbarkeit an die Wirklichkeit der Sänger und ihres Publikums. Indem die heldenepischen Plots die je wechselnden Umstände heroischer Gewalt explizieren, sind sie dieser, poetologisch gesehen, zu- und untergeordnet. Deshalb können diese Umstände in der Überlieferung auch fakultativ werden und dem Vergessen anheimfallen. In der Heldenbuchprosa hängt die Frage, ob Siegfried von Dietrich von Bern oder Kriemhilds Brüdern erschlagen wurde, von dieser oder jener Überlieferung ab (Bl. 4ra Rosengarten, implizit 6ra Nibelungenlied); warum Witege die Etzelsöhne vor Ravenna erschlug, ist der Rede nicht wert (Bl. 2rb); und wer der von Dietrich irgendwann, -wo, -wie erschlagene Liudegast war (Bl. 2rb), weiß kein Mensch. Solches Marginalisieren und Vergessen der Umstände heroischer Gewalt ergibt sich aber bereits aus der Logik heldenepischen Erinnerns selbst. Schon die Redaktoren des Eckenliedes, aus dem die Prosa den Namen Liudegast hat, wussten mit ihm nichts Rechtes anzufangen.26 Und ob ein Hörer des Nibelungenliedes über den einstigen Totschlag Nuodungs durch Witege (B 1696,3 f.) näheres wusste, ist uns unbekannt. Ebenso sind in der Ilias die vielen Erinnerungen an frühere Helden meist auf ihren Kampftod verkürzt, unter mehr oder weniger großer Vernachlässigung der Umstände dieser Tode. So wissen wir heute auch nicht mehr, was es z. B. mit Ereuthalion auf sich hatte, weil es schon in Nestors Erinnerung an ihn vage verblasst und irrelevant geworden ist, unter welchen Umständen er ihn einst im Kampf erschlagen hatte (Ilias 4,319 u. 7,136–156). Auch in der Heldenepik selbst erscheint der Eigenwert heroischer Gewalt von seinen narrativen Einbettungen isolierbar als eigener Gegenstand des Erinnerns. Dass neben ihm die Umstände der Gewalt in der Erinnerung zweitrangig werden können, zeigt, dass sie konzeptionell zweitrangig sind. Poetologisch gesehen ist Heldenepik nicht von ihren Plots her konzipiert, sondern vom Eigenwert der erzählten Gewalt, dem die Plots funktional zugeordnet sind. Auf dieser Hier26 Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen, hg. v. Francis Brévart, 3 Tle., Tübingen 1999: E2 Str. 59,9 »Ludgast« (ebenso e1 59,8), E3 13,8 »Ludung«, E7 55,8 namenlos. 

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archie beruht die poetologische Genese jener Art geschichtlichen Erinnerns, die wir heldenepisch nennen. Das heißt nicht, dass die Plots der Heldenepik nebensächlich, gar unwichtig wären. Die großen Epen des europäischen Kulturkreises sind auch Erinnerung an geschichtliche Ereignisse. Nebensächlich ist aber die Frage, wie sich ein Epos zur möglichen Historizität seines Gegenstandes verhält. Das historische Erinnern in einem Heldenepos ist von der Darstellung des Eigenwertes kriegerischer Gewalt her konzipiert und hat sich dabei unterschiedlicher Emplotments und symbolischer Ordnungen bedient.27 Damit verlieren die alten Fragen der Epenforschung nach den Transformationswegen einer ursprünglichen geschichtlichen Wirklichkeit in die Fiktionen der überlieferten Texte, nach einem gattungstheoretischen Verhältnis zwischen Heldenepos und historischem Preislied, nach dem Vorrang eines vorzeitlichen oder eines geschichtlichen Heldentyps oder nach der identitätsstiftenden Verbindlichkeit der Heldenepik (adelige Hausüberlieferung o. ä.) an Relevanz.28 Ein Heldenepos mochte ursprünglich die geschichtliche Identität einer sozialen Gruppe artikuliert haben, konnte diese Funktion aber im Laufe der Überlieferung auch verlieren. Dem Wunsche Sigurds in der Thidrekssaga, zum Nachtisch einen Kampf zu kämpfen – irgendeinen, nur um sich zu »erproben« –, wäre ein möglichst starker »Mann« genauso recht gekommen wie dann der Drache.29 Und der Plot des Hildebrandsliedes beantwortet die Frage, wie es zum Kampf Hildebrands gegen seinen Sohn gekommen ist, ganz unabhängig davon, ob dies eine historische oder identitätsstiftende Relevanz für sein Publikum haben könnte.30 So erklären sich auch die europäischen Wanderungen der heldenepischen Stoffe als Folge der Tatsache, dass das Emplotment des Eigenwertes heroischer Gewalt auch unabhängig von möglichen geschichtlichen Ursprüngen und identitätsstiftenden Valenzen der Plots Relevanz hatte. Welche Funktion auch immer der 27 Udo Friedrich: Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur, in: Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period, ed. by Victor Millet & Heike Sahm, Berlin u. Boston 2014, S. 175–194; ders.: Die symbolische Ordnung des Zweikampfs im Mittelalter, in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, hg. v. Manuel Braun u. Cornelia Herberichs, München 2005, S. 123–158. 28 Kritische Revision dieser Fragen: Shami Ghosh: On the Origins of Germanic Heroic Poetry. A Case Study in the Legend of the Burgundians, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 129 (2007), S. 220–252. 29 Die Geschichte Thidreks von Bern, übertragen v. Fine Erichsen, Jena 1924, S. 220. 30 Christoph Petersen: Postheroische Perspektiven oder Die Signifikanz des Verkennens im Hildebrandslied, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 94 (2020), S. 417–443. 

Heroische Gewalt

Stoff des Hildebrandsliedes für ein ursprüngliches, mutmaßlich langobardisches Publikum besessen haben mochte – für das ostfränkische Publikum des erhaltenen Liedes bestand diese Funktion sicher nicht in der Erinnerung an die eigene geschichtliche Vergangenheit. Und die Schlacht am Hof von König Etzel / Atli konnte ebenso in Ofen (Nibelungenlied) wie in Soest (Thidrekssaga) stattgefunden haben. Umso dringlicher wird damit aber die Frage nach der Funktion des heldenepischen Erzählens vom Eigenwert kriegerischer Gewalt: Aufgrund welcher narrativer oder kommunikativer Funktion war die erzählte Gewalt mit Wert besetzt und deshalb poetologischer Ursprung heldenepischen Erinnerns? Dieser letzte Punkt meiner Überlegungen wird schließlich auch zu einer Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach einem Fortwirken des heldenepischen Heldenkonzepts bis heute führen.

Gemeinschaftsstiftung durch Ehrfurcht-Erfahrung

Im Bemühen von Iwein, Goldemar und Heldenbuchprosa, dem Eigenwert kriegerischer Gewalt ein Fortleben zu schaffen, scheint an der Funktion, die das Erzählen von dieser Gewalt besessen hat, festgehalten worden zu sein, nun unter der neuen Bedingung ihrer sozialen Orientierung, in neuen literarischen Genres und Medien, vielleicht auch für ein verändertes Publikum. Die Transferbemühungen setzen voraus, dass die Funktion des Erzählens vom Eigenwert der Gewalt unabhängig von den Diegesen und Plots, in welche die Gewalt eingebettet ist, und deshalb in einem Heldenepos ebenso wie in einem Artus- oder Dietrichroman oder sonst einer Erzählung erfüllt werden konnte. Um diesen Gedanken weiter zu verfolgen, greife ich noch einmal eine Markierung des Heroischen im höfischen Roman auf, und zwar im Parzival Wolframs von Eschenbach aus dem ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts.31 Zu Beginn der zweiten Gawein-Partie des Parzival kommentiert Wolfram den Zweikampf zwischen Gawein und Lischoys Gwelljus mit demselben Vokabular, das auch in Iwein und Goldemar auf das Kämpfen für nichts als den Eigenwert kriegerischer Gewalt angewandt wird: Gawein und Lischoys setzten ihr Leben »âne nôt« aufs Spiel, weil sie keine Sache 31 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe, mhd. Text nach der sechsten Ausgabe v. Karl Lachmann, Einführung zum Text v. Bernd Schirok, Berlin u. New York 1999. Forschungsposition zum Folgenden: Wolfram wende sich gegen den anlasslosen ritterlichen Kampf (z. B. Dennis H. Green: Homicide and Parzival, in: ders. u. L. Peter Johnson, Approaches to Wolfram von Eschenbach. Five Essays, Bern u. a. 1978, S. 11–82, hier 62 f.). 

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hätten, für die sie kämpften ; denn ein Kampf »niwan durch prîses hulde« ›nur um den Lohn gesteigerten Wertes‹ sei ein Kampf »âne schulde« ›ohne zwingenden Grund‹. Und Wolfram fügt hinzu, dass die Motivationslogik dieses Kämpfens sich selbst konterkarieren könnte, denn wer würde Gawein und Lischoys wegen eines solchen Kampfes einen Wert zusprechen: »Wer solte se drumbe prîsen?« (538,1–8) Im Unterschied zu Hartmann, der eine ähnliche Frage innerhalb der erzählten Welt aufwirft (Iwein, V. 1062–71) und mit der sozialen Orientierung von Iweins Hilfskämpfen auch innerhalb der erzählten Welt beantwortet, adressiert Wolfram seine Frage an sein Publikum: Wäre dieses bereit, dem Kampf zwischen Gawein und Lischoys einen »prîs« zuzusprechen? Der Eigenwert erzählter Gewalt erscheint als eine kommunikative Verhandlungssache zwischen Erzählung und Rezipienten ; er realisiert sich in einer Zuschreibung durch das Publikum. Und indem Wolfram später aufdeckt, dass der Kampf zwischen Gawein und Lischoys nur scheinbar »âne schulde« geführt worden ist,32 demonstriert er einerseits, wie der Eigenwert kriegerischer Gewalt in Frauendienst, Liebe, Rechtsherstellung, Gattentreue sozial eingebunden werden kann, und reflektiert damit andererseits, dass die Wertzuschreibung an die Gewalt durch das Publikum auch unabhängig von solcher sozialen Einbindung möglich ist. Wenn aber ein Publikum der erzählten Gewalt an sich einen Wert zuschreiben kann, dann ist dies nur als Reaktion auf eine Leistung denkbar, die umgekehrt das Erzählen von Gewalt per se für das Publikum erbringt. Welches wäre aber diese Leistung? Als ›Kampfwert-Gedenken‹, »wiges weorðmynd« in einer kollektiv getragenen Erzähltradition ist Heldenepik eine (vielleicht die urtümlichste) Erscheinungsform der Memoria-Kultur vormoderner Gesellschaften, die nicht nur gemeinschaftlich vollzogen wurde, sondern auch gemeinschaftsstiftend wirken wollte.33 Von daher lässt sich die Leistung, die das 32 Wie man später erfährt, kämpft nicht nur Gawein, sondern auch sein Herausforderer Lischoys, um sich vor Orgeluse auszuzeichnen. Diese wiederum stellt, wie man noch später erfährt, alle besten Ritter gegenseitig auf die Probe, um den geeignetsten Herausforderer des allerbesten Ritters Gramoflanz zu ermitteln, an dem sie die Ermordung ihres Ehemannes Cidegast gerächt sehen will. So taucht im letzten Hintergrund des Kampfes zwischen Gawein und Lischoys als dessen Beweggrund der höchste soziale Wert des Parzival auf: triuwe, gesellschaftsbildende ›Verpflichtungstreue‹. 33 Otto Gerhard Oexle: Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt / M. u. Leipzig 1994, S. 297–323; Friedrich Ohly: Bemerkungen eines Philologen zur Memoria, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. v. Karl Schmid u. Joachim Wollasch, 

Heroische Gewalt

Erzählen von Gewalt für ein vormodernes Publikum erbracht haben mag und die sich in dessen Wertzuschreibung an die erzählte Gewalt spiegelt, nächstliegend als erinnernde Gemeinschaftsstiftung begreifen. Wie aber konnte das erinnernde Erzählen von Gewalt unabhängig von deren Anlässen und Umständen, Diegese- und Ploteinbettungen auf ein Publikum gemeinschaftsstiftend wirken? Meine Antwort ist: durch die emotionale Stimulation einer Soziabilisierungsbereitschaft, eines Gemeinschaftssinnes. Jüngsten sozialpsychologischen Studien zufolge stimuliert das Gefühl von Ehrfurcht (engl. awe) vor etwas kategorisch Größerem als dem eigenen Selbst, das die gewohnten Bezugsrahmen der menschlichen Erfahrung überschreitet, eine emotional gesteigerte Bereitschaft und Neigung des Menschen zu sozialer Integration. Weil »awe« einerseits einen »diminished sense of self« und andererseits »the need for accommodation« erzeugt, in deren Verlauf »existing mental schemata are revised to make sense of the awe-inspiring stimulus«, befördert sie Einstellungen und Verhaltensweisen, die auf die Herstellung einer »social harmony« gerichtet sind.34 Die Neigung zu solch sozialer Harmoniebildung kann, je nach Art des ehrfurchtgebietenden Reizes, unterschiedliche, auch divergente Formen annehmen – etwa die Bereitschaft zur Akzeptanz und Überwindung von Meinungsverschiedenheiten oder die Stärkung von Gruppenidentität35 –, doch scheint sie jenseits dieser Unterschiede eine konstante menschliche Reaktion zu sein. Als Stimulantien einer solchen Ehrfurcht lassen sich auch die zwei wesentlichen Aspekte heroischer Exorbitanz, die aus dem Eigenwert der heroischen Gewalt folgen, funktional erklären: die Übersteigerung kriegerischer Gewalt über das Menschenmaß hinaus sowie ihre soziale Indifferenz. Das Erzählen von kategorisch größerer und asozialer Gewalt erzeugt in den Rezipienten eine Irritation, deren mögliche Facetten – von z. B. Bewunderung und Ergriffensein bis Schauder und Schrecken – in einem Gefühl von Ehrfurcht konvergieren.36 In der Heldenepik konnte München 1984, S. 9–78. – Grundlegend: Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, mit einem Geleitwort zur dt. Ausgabe v. Heinz Maus, aus dem Frz. v. Holde Lhoest-Offermann, Frankfurt / M. 1985 [frz. 1950]. 34 Daniel M. Stancato & Dacher Keltner: Awe, Ideological Conviction, and Perceptions of Ideological Opponents, in: Emotion 21 (2021), S. 61–72 (mit der vorgängigen Forschung), zit. 62 f. 35 Ebd., S. 68. 36 Bei allen methodischen Vorbehalten gegen die Vergleichbarkeit ethnographisch bezeugter Phänomene in archaischen Kulturen der Gegenwart stützt die Affektgeladenheit der Vortragssituation von Heldenliedern in diesen Kulturen (Arthur Thomas Hatto: Eine allgemeine Theorie der Heldenepik, Opladen 1991, S. 9 f. u. 19) die Plausibilität einer emotionalen Affizierung auch eines früheren Heldenepik-Publikums. 

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eine solche Ehrfurcht stimuliert werden, weil im Erzählen von heroischer Gewalt eine in der Wirklichkeit erfahrbare Gewalt nicht nur sprachlich und poetisch distanziert, sondern auch gemeinschaftlich-kommunikativ bewältigt ist. Damit prägt die ästhetische Bewältigung der Gewalt im Erzählen einen Effekt vor, den die Erfahrung von Ehrfurcht ebenfalls zeitigt. Mit der produktionsästhetischen Bewältigung der Gewalt im Erzählen korreliert die rezeptionsästhetische Stimulation von Gemeinschaftlichkeit durch Ehrfurcht-Erfahrung.37 Wolframs Publikum konnte den Kämpfern Gawein und Lischoys ein soziales Prestige, »prîs«, deshalb zuerkennen oder verweigern, weil es im Erzählen von kriegerischer Gewalt eine gemeinschaftsstiftende Wirkung erfahren konnte oder nicht. Was Wolfram auf diese Weise zur Disposition stellt, liefert uns eine Erklärung für den Ursprung heldenepischen Erzählens: In Heldenepik ist der Modus des Erinnerns deswegen an das Erzählen vom Eigenwert der Gewalt gebunden, weil dieses Erzählen das Erinnern auflädt mit der Erfahrung eigener und fremder Soziabilität.38

Exorbitanz heute

Das wirft ein Licht auch auf das Erzählen von Gewalt in Moderne und Gegenwart. Das Bemühen von Iwein, Goldemar und Heldenbuchprosa, dem Eigenwert erzählter Gewalt ein Fortleben zu verschaffen und damit seine Funktion unter neuer Bedingung in andere Genres, Medien und soziale Kontexte zu transferieren, lässt sich als Beispiel nehmen für das mögliche Fortwirken der Kernvorstellung heldenepischen Erzählens auch weit über die Vormoderne hinaus. Die Erzählungen unserer Gegenwartskultur von kriegerischer Gewalt – nicht nur, aber mit besonderer Konjunktur und Intensität im Medium des Films – können als Erschei37 Zur gemeinschaftsstiftenden Funktion der realen Kriegspraxis in archaischen Gesellschaften vgl. Walter Burkert: Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin u. a. 1972, S. 58–60. Die Stimulation von gemeinschaftsstiftender Emotion durch heldenepisches Erzählen kann man als funktionsäquivalent zu den Ritualen und Sprachgebärden im Umfeld jener Kriegspraxis ansehen. 38 Zur Vermeidung von Missverständnissen sei festgehalten, dass die hier in Rede stehende Ehrfurcht nicht mit Verehrung zu verwechseln ist, dass ich mithin die alte These Otto Höflers nicht wiederbeleben will (z. B. Deutsche Heldensage, in: Zur germanisch-deutschen Heldensage. Sechzehn Aufsätze zum neuen Forschungsstand, hg. v. Karl Hauck, Darmstadt 1961, S. 52–81, hier 62): »Heldensage ist« mitnichten »Heldenverehrung«. Allerdings mag die von heldenepischer Gewalt stimulierte Ehrfurcht-Erfahrung kompatibel gewesen sein mit kultischer Heroenverehrung in der Realität, etwa im antik-griechischen Kulturraum. 

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nungsformen eines Transfers oder einer Transformation des heldenepischen Erzählens vom Eigenwert heroischer Gewalt betrachtet werden: in krachenden Schläger- und Schießereien, in der umweltzerstörenden Akrobatik eines Degen- oder Laserschwert-Kampfes, in den Lärm- und Lichtgewittern einer Reiter- oder Weltraumschlacht, im städtezertrümmernden Rendezvous von Superhelden oder Supermonstern usw. Die Figuren, die in solchen Gewaltinszenierungen agieren, bezeugen das Fortwirken des heldenepischen Heldenkonzepts insofern, als auch sie Agenten des Eigenwertes der erzählten Gewalt sind, der unabhängig von irgendeinem Gut-Böse-Konflikt (der in den Inszenierungen natürlich auch ausgespielt werden kann) Ausdruck findet in der Spannungsladung, den Dynamiken und den kalkulierten Effekten der Gewaltinszenierungen. Als Erben des heldenepischen Heldenkonzepts handeln die Figuren dieser Inszenierungen – gleichviel, ob gut oder böse, ob auf dieser oder jener Seite kämpfend: Harmonica, Darth Vader, The Deadly Viper Assassination Squad usw. – insofern als Helden, als sie damit befasst sind, den Eigenwert kriegerischer Gewalt – symbolisch: Drogon, den Drachen – sich anzueignen und in ein soziales Prestige beim Publikum umzumünzen. So lehrt uns die Heldenepik, begrifflich zu differenzieren: Sozial gut ist und auf der richtigen Seite steht man als Leit- oder Vorbild, als Exempel, Orientierungsgröße, Idol usw.; doch insofern, als man kämpft, weil der Kampf an sich, unabhängig von seinen Anlässen und Umständen, einen Wert besitzt, ist man Held. (Mag dabei auch das, was der Kampf des Helden im Einzelfall ist, heutzutage auch vielfältig metaphorisiert und diffundiert worden sein.) Die Wertbesetzung der erzählten Gewalt lässt sich in Moderne und Gegenwart freilich nicht mehr einsinnig auf eine Ehrfurcht-Erfahrung der Rezipienten zurückführen. Die Multiplikation von Erzählgenres und -medien, das künstlerische Innovations- oder Distinktionspostulat, die Individualisierung von Rezeptionsformen und -situationen usw. stehen im Gegensatz zu den produktions- und rezeptionsästhetischen Gegebenheiten, die wir für die Heldenepik annehmen, so dass es unsinnig wäre, den Soziabilisierungseffekt von heldenepischer Ehrfurcht-Erfahrung umstandslos auf die heutige Zeit zu übertragen. Die Rezeption von erzählter Gewalt mag gelegentlich vielleicht immer noch einen Gemeinschaftssinn erzeugen. Generell aber erhält die erzählte Gewalt in Moderne und Gegenwart einen Wert dadurch, dass in den Gesellschaften, die seit der Aufklärung die kriegerische Gewalt aus ihrer Wirklichkeit zu verdrängen suchen,39 das Erzählen von ihr eine Kompensationsleistung erbringt: Es 39 Reemtsma (Anm. 6). 

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bewahrt der aus der Wirklichkeit verdrängten Gewalt in ästhetisch bewältigter Form eine Präsenz im Imaginationshaushalt der Gesellschaft und stellt so ihren Lesern, Hörern, Betrachtern einen Modus der Erfahrung, auch Selbsterfahrung in Anbetracht einer existentiellen Gegebenheit des menschlichen Lebens bereit. Wie die Ästhetik des bedrohlich und gewalttätig Phantastischen einen Gegendiskurs zur aufgeklärten Rationalität der Moderne transportiert und der von dieser Rationalität verdrängten Körperlichkeit und Affektivität des Menschen ein »Fortleben kulturgeschichtlicher Traditionen« sichert,40 so bewahrt das Erzählen vom Eigenwert der Gewalt einen Erfahrungsmodus, der eine jenseits der Wirklichkeitserfahrung von Schädigen und Geschädigtwerden angesiedelte Affektproduktion angesichts der Gewalt möglich macht.41 Der von mir für das Publikum von Heldenepik veranschlagte Soziabilisierungseffekt durch Ehrfurcht-Erfahrung ist Beispiel dafür, dass solche Affekte nicht nur in den Alternativen von Befremden oder Identifikation, von Abwehr oder Narzissmusbefriedigung42 liegen, sondern weit differenziertere Arten menschlicher Gewaltbegegnung sind. Heldenepik heute43 bietet uns einen Anhaltspunkt zur Reflexion und Relativierung von in Moderne und Gegenwart etablierten Selbstverständlichkeiten unseres Heldenbegriffs. Helden als positive Leit- und Vorbilder sind eine historisch spezifische, erst seit der abendländischen Moderne typische Vorstellung (s. meinen »Versuch« in diesem Buch). Neben dieser Typik ist aber die Imagination von Heldentum, ist die Figur des Helden immer noch, wie in der Heldenepik, eine Lizenzform dafür, dass wir uns vom Eigenwert kriegerischer Gewalt erzählen, uns von ihm wie auch immer affizieren lassen und nicht zuletzt dabei einüben, uns vor dem Helden stets auch zu hüten.

40 Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt / M. 1994, S. 183. 41 Vgl. Hans-Georg Soeffner: Gewalt als Faszinosum, in: Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, hg. v. Wilhelm Heitmeyer u. dems., Frankfurt / M. 2004, S. 62–85. 42 Jan Philipp Reemtsma: Der Held, das Ich und das Wir, in: Mittelweg 36 4 (2009), S. 41–64. 43 Elisabeth Lienert: Heldenepik heute, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 153 (2001), S. 241–259. 

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Markus May

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Who’s this man who fell out of the sky? What’s he done and where’s he live? How can a man who’s a criminal be a hero to the kids? The old couple swears that the Ripper’s back, They say it’s him all right. The young girl says it’s Jesus and he won’t be back Tonight. I wonder who’s right? You better watch out, there’s a stranger in town. Toto: Stranger in Town

Devianz als Signatur des Heroischen

The first warp-spasm seized Cúchulainn, and made him into a monstrous thing, hideous and shapeless, unheard of. His shanks and his joints, every knuckle and angle and organ from head to foot, shook like a tree in the flood or a reed in the stream. His body made a furious twist inside his skin, so that his feet and shins switched to the rear and his heels and calves switched to the front. On his head the temple-sinews stretched to the nape of his neck, each mighty, immense, measureless knob as big as the head of a month-old child. His face and features became a red bowl: he sucked one eye so deep into his head that a wild crane couldn’t probe it onto his cheek out of the depths of his skull ; the other eye fell out along his cheek. His mouth weirdly distorted: his cheek peeled back from his jaws until the gullet appeared, his lungs and liver flapped in his mouth and throat, his lower jaw struck the upper a lion-killing blow, and fiery flakes large as a ram’s fleece reached his mouth from his throat. […] The hair of his head twisted like the tangle of a red thornbush stuck in a gap ; if a royal apple tree with all its kingly fruit were shaken above him, scarce an apple would reach the ground but each would be spiked on a bristle of his hair as it 

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stood up on his scalp with rage. The hero-halo rose out of his brow, long and broad as a warrior’s whetstone, long as a snout […].1 So lautet in der Übertragung Thomas Kinsellas die Beschreibung des »ríastrad«, jener durch Kampfeszorn ausgelösten Kontorsionen, die Cúchulainn, den größten Helden des altirischen Ulster-Zyklus, heimsuchen. Die Passage stammt aus dem Táin bó Cualigne, dem Rinderraub von Cooley, dem zentralen Prosaepos der alt- und mittelirischen Literatur, das in unterschiedlichen, teils unvollständigen Fassungen im Lebor na hUidre (Buch der dunkelfarbigen Kuh, etwa um 1100 im Kloster Clonmacnoise kompiliert), Leabhar Buidhe Lecain (Gelbes Buch von Lecan, 14. Jahrhundert), Lebor Laignech (Buch von Leinster, 12. Jahrhundert) sowie in weiteren Fragmenten (z. B. der sogenannten Stowe-Fassung) überliefert ist. Dem Textausschnitt voraus geht eine Passage, bei der Cúchulainn die Leichen der Knaben Ulsters entdeckt, die sich dem Heer Medbhs, der Königin von Connacht, entgegengestellt haben, da Ulsters Krieger aufgrund eines »geas« (was man mit ›Fluch‹, ›Gebot‹ oder ›Tabu‹ nur sehr unvollständig wiedergeben kann) sich in wehenartigen Krämpfen befinden und daher nicht die räuberischen Eindringlinge bekämpfen können. Bereits der Umstand, dass Cúchulainn von diesem »geas« ausgenommen ist, stellt ein Zeichen seiner jedes normale menschliche Maß übersteigenden Natur dar – verwundet auf dem Schlachtfeld liegend, wird dem Helden der Gott Lug erscheinen und ihm offenbaren, dass er dessen Vater ist. Auch bei Cúchulainn greift das seit der Antike sattsam bekannte Paradigma vom Mythos der Heldengeburt,2 das seine göttliche Herkunft beglaubigen soll. Seine Mutter Deichtire, die Schwester Cochobhar Mac Nessas, des Königs von Ulster, soll, ohne dass ein Mann beteiligt gewesen sei, nur dadurch, dass sie ein Insekt verschluckte, schwanger geworden sein, wie in manchen Fassungen der Geschichte berichtet wird – eine alternative Version der unbefleckten Empfängnis, wie sie die christliche Überlieferung kennt. Bemerkenswert daran ist der animalische Anteil an der Biogenese des Helden, denn theriomorphe Eigenschaften, also die Verknüpfung von tierischen und menschlichen Elementen, spielen nicht nur in Götterkulten eine wesentliche Rolle, sondern daran anknüpfend auch hinsichtlich der Konzeption der Alterität von Heldengestalten. Besonders signifikant erscheint diese Form der Alterisierungsstrategie bei der Figur des Drachentöters, der selbst Eigenschaf1 The Tain, translated by Thomas Kinsella from the Irish epic Táin Bó Cuailnge, Oxford 1990, S. 151 u. 153. 2 Vgl. Otto Rank: Der Mythos von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung, Leipzig u. Wien 1909. 

Der monströse Held

ten des überwundenen Ungeheuers annimmt ; symptomatisch hierfür ist natürlich Siegfrieds Bad im Drachenblut, bei dem die nahezu undurchdringliche Unverwundbarkeit des hornigen Drachenpanzers auf ihn übergeht – unter Ausschluss der Stelle, auf die das Lindenblatt fällt.3 Die Zuschreibung animalischer Qualitäten ist allerdings auch ein Charakteristikum im spätantiken und mittelalterlichen Diskurs über Monster, wofür symptomatisch die Beschreibungen des elften Buchs der Enzyklopädie des Isidor von Sevilla angeführt werden können, das entsprechend der Taxonomie und Gesamtanlage dieses für das ganze Mittelalter maßgeblichen Wissenskompendiums »De homine et portentis« überschrieben ist.4 Die Monster, »monstra«, werden hier als menschliche Missgeburten gedeutet, die als Vorzeichen auf bestimmte Ereignisse (lat. »portentum«) verweisen und die z. T. mit Körperteilen von Tieren ausgestattet sind (z. B. die »Cynocephali«, die ›Hundsköpfigen‹),5 was auf ihren liminalen Status hinweist.6 Die Drastik7 in der Darstellung von Cúchulainns »ríastrad«, exemplifiziert durch die ins Groteske verzerrten körperlichen Kontorsionen, führt ins Zentrum der Fragestellung dieses Aufsatzes, nämlich zum Zusammenhang von heroischer Exorbitanz und monströser Devianz. Zwar soll keineswegs behauptet werden, dass jeglicher Heldentypus monströse Züge aufweist – gilt dies doch nicht oder nur in ganz seltenen Fällen für diejenigen Figuren, die sich als Repräsentanten einer römisch-republikanischen und in der Folge christlich geprägten Tradition erweisen, bei dem das Selbstopfer für die Gemeinschaft die Grundlage der Zuschreibung des Heldenstatus bildet. Dieser Typus des Märtyrerhelden ist denn auch häufig gemeint, wenn die Rede von der »postheroische[n] Gesellschaft« als Kulturbefund der Gegenwart laut wird.8 Doch da für den Gegenstand dieses Buches der Fokus auf den Fortschreibungen der heldenepischen Linie mit ihrer Fokussierung auf das Paradigma des Exorbitanten gelegt wird, tritt die Frage nach den spezifischen Vorstellungen, in 3 Zur Heldenkonzeption des Nibelungenliedes siehe Müller in diesem Buch. 4 Vgl. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, übersetzt u. mit Anmerkungen versehen v. Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, S. 415–446. 5 Ebd., S. 443. 6 Zur »Grenzüberschreitung: Mensch / Tier« bei der Konstruktion des Monsters siehe Annina Klappert: Monster machen, in: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, hg. v. Achim Geisenhanslüke u. Georg Mein, Bielefeld 2009, S. 125–164, hier 140 f. 7 Zur Kategorie der Drastik siehe Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt / M. 2005. 8 Herfried Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur 61 (2007), S. 742–752; vgl. dazu in der Einführung zu diesem Buch, S. 10 f. 

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denen sich diese Exorbitanz äußert, in den Vordergrund. Exorbitanz erscheint hier nicht zuletzt als ein auf Formen der Alterität gegründeter Normbruch, ein jenseits der Sozialität situiertes Anderes, das der Held repräsentiert. Jan Philipp Reemtsma hat in seinem Buch Helden und andere Probleme, das vor allem um die Zusammenhänge von Heroismus und dem Kult (oder Problem) der Gewalt in Geschichte und Gegenwart kreist, konstatiert, »daß die Repräsentanz des universellen Humanum keine Eigenschaft des Helden ist«,9 und dort, wo Helden »menschliche Potentiale« repräsentieren, es vor allem um außergewöhnliche »Steigerungen solcher Potentiale« geht.10 Diese »Steigerungen« können letztlich zu Entgrenzungen führen, die seitens der Gesellschaft als bedrohlich empfunden werden, insbesondere dort, wo dies mit einer solipsistischen Form von »sekundäre[m] Narzißmus« einhergeht,11 wie dies bei zahlreichen modernen Heroinnen und Heroen der Fall ist. Aber bereits der Homer’sche Achill, dessen Zorn die Muse der Ilias besingt, ist ein in diesem Sinne nicht nur für seine Feinde gefährlicher Charakter, da er seine Handlungen nicht dem Gemeinwohl oder der gemeinsamen Sache unterordnet. Die destruktiven Potenziale und die alle sozialen Einhegungen sprengenden Entgrenzungen sind integrale Aspekte eines solchen Heldentums, da sie die Exorbitanz dieser Art heroischer Existenz mitbegründen. Solche Helden generieren nicht nur Bewunderung, sondern eben auch Furcht, und diese ambivalenten Dispositionen sind elementarer Bestandteil des Diskurses vom Heroischen. Ist diese ins Monströse hinübergleitende Erscheinungsform des Devianten bei antiken oder mittelalterlichen Heldinnen und Helden Teil ihrer nicht hinterfragbaren und auch psychologisch nicht ausdeutbaren Essenz, die, mit Hegel gesprochen, einen elementaren Bestandteil der »objektiven Totalität« der epischen Welt, ihrer ontologischen wie metaphysischen Organisationsstruktur, bildet, so modifiziert sich dieses Dispositiv im Verlauf der Literatur der Neuzeit und gerät zum Problem einer sich selbst fragwürdig werdenden Konzeption des Subjekts, wie die leitende These dieses Textes lautet. Dieser Problematisierung des Monströsen am Heroischen korrespondiert allerdings die reziproke Bewegung, nämlich dass im Verlauf des Projekts der Moderne auch Versuche unternommen werden, das Monströse selbst zu heroisieren. Dies lässt nicht zuletzt darauf schließen, dass sich gewissermaßen auf der dem Licht der Aufklärung abgewandten 9 Jan Philipp Reemtsma: »Mother don’t go!« Der Held, das Ich und das Wir, in: ders.: Helden und andere Probleme. Essays, Göttingen 2020, S. 7–33, hier 10. 10 Ebd. (Hervorhebung im Original). 11 Ebd., S. 20. Vgl. dazu Sigmund Freud: Zur Einführung in den Narzißmus, in: ders.: Gesammelte Schriften VI, Leipzig u. a. 1925, S. 153–187, hier 173. 

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Seite der Moderne (etwa in der phantastischen Literatur) jene Problematik des Verhältnisses von Exorbitanz und Devianz als eine immanente, universale und damit unentrinnbare Konstellation der Kultur selbst bewusst wird und mithin zum Ausdruck des »Unbehagens in der Kultur«, des fremden »Heimlich-Unheimlichen« gerät, um in Freud’schen Termini zu sprechen.12 In diesem Sinne hat Hans Richard Brittnacher in seiner Ästhetik des Horrors auf die »beängstigende Affinität des Monstrums zum Selbst« verwiesen.13 Daraus erfolgt der beunruhigende Befund, dass die Zurichtungen der Gewalt, zu deren Eindämmungen, ja Aufhebung der Zivilisationsprozess zumindest seit Humanismus und Aufklärung angetreten ist, im Zentrum der Kultur selbst liegen und somit nicht zu beseitigen sind.14 Dem korrespondieren in augenscheinlicher Weise die Erkenntnisse der diskursanalytischen und diskurskritischen Untersuchungen Michel Foucaults, der der Beschreibung der Eskamotierung, Disziplinierung und Auslöschung des Devianten in den neuzeitlichen Macht- und Wissensordnungen einen Großteil – oder zumindest die ersten zwei Drittel – seiner Forschertätigkeit gewidmet hat.15 Monströse Superhelden

Unter solchen Vorzeichen ist es nur konsequent, dass gerade neuere Darstellungen von Heldinnen und Helden auch in den populären Medien wie Film, Serie, Comic etc. dieser Exorbitanz eine psychopathologische Genese als Erklärung unterlegen und somit den Heroismus als Resultat von traumatischen Erfahrungen der eigenen Alterität begründen und im fiktionsimmanenten Wertesystem legitimieren. Das zeigt sich nicht zuletzt am Genre der Superhelden-Narrative, die kulturgeschichtlich sich in besonderer Weise auf Paradigmen des Exorbitanten heldenepischer Traditionen berufen, bzw. diese Traditionen ausbeuten, kapitalisieren und kannibalisieren. Die Handlungsmodelle der X-Men-Filmreihe wie auch der ihr zugrunde liegenden Marvel-Comics beispielsweise beruhen 12 Vgl. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, hg. v. Lothar Bayer u. Kerstin Krone-Bayer, Stuttgart 2016. 13 Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt / M. 1994, S. 193. 14 Zu diesem Befund vgl. Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt / M. 2005. 15 Michel Foucault: Warum ich Macht untersuche. Die Frage des Subjekts, in: ders.: Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, hg. v. Jan Engelmann, Stuttgart 1999, S. 161–171. 

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auf der schlichten expositorischen Grundannahme, dass menschliche Mutanten mit besonderen Fähigkeiten seitens der Gesellschaft gefürchtet und ausgegrenzt werden. Der Konflikt mit der Gesellschaft aufgrund ihrer Alterität, die aber ebenso Ausdruck ihrer Exorbitanz ist, konstituiert das Grundmotiv der Filmreihe, wobei allerdings die Figuren die zentrale ethische Entscheidung treffen, ob sie trotz ihrer negativen Erfahrungen ihre außerordentlichen Fähigkeiten zum Wohle der Menschheit einsetzen oder diese ihnen zu weiten Teilen skeptisch bis feindselig gegenüberstehende Welt der Durchschnittsexistenzen mittels ihrer überlegenen Kräfte dominieren wollen. Dies erinnert nicht von ungefähr an manichäische Mythen.16 Besonders beim sich über mehrere Filme erstreckenden Handlungsbogen der Figur des Logan, dessen adamantenes Skelett, das ihn zum Superhelden Wolverine macht, ein Resultat von geheimen wissenschaftlichen Experimenten ist, wird die traumatische Erfahrung bis in die Details von dessen fiktionaler Biographie ausbuchstabiert: von den ungeheuren Schmerzen, die mit dem Umbau seiner Physiologie verbunden sind, bis zum nagenden Leiden an seiner Andersartigkeit, die ihn zum die Zivilisation meidenden einsamen Raubtier macht (»Wolverine«, dt. ›Bärenmarder‹, ein scheues, aber ausdauerndes und zähes Tier); zumal er auch noch die von ihm geliebten Frauen Jean Grey und Mariko Yashida auf tragische Weise und mit eigenem Zutun verliert. Anders als die antiken und mittelalterlichen Heroen fürchtet Wolverine zudem, durch unkontrolliertes Durchbrechen seiner Kräfte, etwa dem Ausfahren der in seinen Händen implementierten Klingen, seine Nächsten zu verletzen (so durchlebt er wiederholt den Albtraum, in dem er seine Geliebte durch diesen Mechanismus unbeabsichtigt tötet).17 In Hinsicht auf die psychologischen Ambiguitäten einer Pathographie des Heroischen vergleichbar ist Christopher Nolans Dark Knight-Trilogie, die sich einer bereits länger ikonisch kanonisierten Figur der Popkultur widmet, nämlich Bruce Wayne alias Batman. Hier führt, wie auch im Falle von Clark Kent a. k. a. Superman oder Peter Parker, wie Spiderman mit richtigem Namen heißt, die Figur ein Doppelleben zwischen bürgerlicher Existenz und Superheldendasein. Diese Spaltung bringt den Umstand auf den Punkt, dass der Held – wie wir schon bei den X-Men gesehen haben – in einer demokratisch verfassten, hochdifferenzierten und funktional ausspezifizierten spätmodernen Gesellschaft eigentlich keinen Platz mehr hat – im Grunde stört er die Ordnung mit ihren technokratisch präskribierten Abläufen, die selbstverständlich anfällig für Kor16 Vgl. Geo Widengren: Mani und der Manichäismus, Stuttgart 1961. 17 Gavin Hood: X-Men Origins: Wolverine, Twentieth Century Fox u. a., USA 2009. 

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ruption und somit für die Unterminierung durch das Verbrechen sind. Dieses Argument ist natürlich zentral für die These vom postheroischen Zeitalter. Anders als im Falle der X-Men-Mutanten wird die Devianz bei Batman allerdings nicht durch irgendwelche Formen von innaten oder angezüchteten Superkräften motiviert, sondern vielmehr gänzlich durch einen psychologischen Prozess ausgelöst: Die traumatische Erfahrung ist es allein, die die Grundlage seiner Entwicklung zum Helden darstellt. In Batman Begins, dem 2005 veröffentlichten ersten Teil der Kino-Saga, stürzt Bruce Wayne, Sohn des Arztes, Milliardärs und Philanthropen Dr. Thomas Wayne und seiner Frau Martha, als Kind beim Spielen auf dem weitläufigen Familienanwesen in einen alten Brunnenschacht. Als er sich am Boden liegend von seiner ersten Benommenheit erholt, blickt er in eine pechschwarze Öffnung in der Wand, aus der merkwürdige Geräusche dringen, bis schließlich ein riesiger Schwarm Fledermäuse hervorbricht und ihn umdrängt.18 Es ist dieser chiroptophobische Schock, der die weitere Handlungsverkettung in Gang setzt, denn als Bruce wenig später mit seinen Eltern die Oper von Gotham City besucht, überfällt den Jungen während der zweiten Szene des zweiten Akts von Arrigo Boitos Mephistofele, als Zauberer und Hexen in Begleitung von fledermausartigen Geschöpfen die Bühne stürmen, die Deckerinnerung an seine traumatische Erfahrung, die das Bühnengeschehen überlagert, was filmisch durch eine Folge schneller Gegenschnitte eindringlich umgesetzt wird. (In Parenthese sei angemerkt, dass Drehbauchautor und Regisseur sich wahrscheinlich nicht nur wegen der Gelegenheit des Einsatzes von Fledermäusen für eben diese Oper entschieden haben ; die Faust-Thematik mit ihrer Versuchung des Protagonisten durch das personifizierte Böse wiederholt sich in der Anlage der Geschichte Bruce Waynes, der von dem Anführer der Gemeinschaft der Schatten auf ähnliche Weise in Versuchung geführt wird.) Bruce bittet seinen Vater, die Vorstellung zu verlassen ; die Familie begibt sich durch einen Ausgang auf eine finstere und schmutzige Seitengasse, wo ein abgerissener Straßenräuber die durch ostentative Eleganz auffällige Gruppe überfällt, wobei der ritterlich wie deseskalierend agierende Dr. Wayne ebenso erschossen wird wie seine Frau – nur der kleine Bruce überlebt, allerdings nun doppelt traumatisiert und durch sein Verhalten, das zu den tragischen Umständen der Auslöschung seiner Familie geführt hat, mit tiefen Schuldgefühlen beladen, die er durch sein Rachebedürfnis zu kompensieren versucht. Es ist dies die an antike Auffassungen der Tragödie und ihrer Protagonisten 18 Christopher Nolan: Batman Begins, Warner Bros. & Legendary Pictures, USA u. Großbritannien 2005. 

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gemahnende Hamartia des Helden, die als eine treibende Kraft der weiteren Handlungsentwicklung angesehen werden muss, die allerdings tiefgreifende Fragen nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Gesellschaft und den Mitteln, diese Gerechtigkeit herzustellen, aufwirft. Als Bruce, nunmehr ein junger Erwachsener, nach dem Freispruch des nach Jahren gefassten Mörders seiner Eltern diesen im Gerichtsgebäude erschießen will, kommt ihm eine Killerin des Mafia-Bosses Falcone zuvor und vereitelt die geplante Selbstjustiz des von der Tat wie von seinen eigenen Intentionen gleichermaßen schockierten Bruce Wayne. Daraufhin verwirft der reiche Erbe seinen bisherigen mondänen Lebensstil und verschwindet in der Anonymität der unteren Schichten, um das Verbrechen aus erster Hand zu studieren und sich in einer Art Nietzsche’scher Selbstübersteigung an Geist und Körper zu stählen. Im Verlauf seiner Queste, die ihn in den fernen Osten und in die Niederungen der Welt des internationalen Verbrechens führt, gelangt er schließlich zu einem Kloster im Himalaya und zu der ominösen Gesellschaft der Schatten, einer radikalen Organisation zur Bekämpfung des Verbrechens, und ihres charismatischen Führers Ra’s al Ghul (ein sprechender Name, bedeutet er doch im Arabischen ›Haupt des Dämons‹). Der junge Amerikaner wird in dieser in Codex wie Habit an Assassinen erinnernden Gemeinschaft zum Elitekämpfer ausgebildet, kann aber deren extremistische und radikale Haltung nicht teilen – so plant dieser sich moralisch superior wähnende Geheimbund die völlige Auslöschung von Bruces Heimatstadt Gotham City, was an das biblische Strafgericht über Sodom und Gomorrha gemahnt. So kommt es schließlich zum Bruch. Die wichtigste Lektion allerdings, die Bruce dort lernt, ist nicht nur, sich seiner Angst zu stellen, sondern selbst ein Teil dessen zu werden, was er fürchtet, um so die am eigenen Leib erfahrene Macht der Angst gegen andere zu nutzen. Die Maxime lautet: Werde zu dem, was du am meisten fürchtest – eine Art martialischer Weiterentwicklung sowie Internalisierung der klassischen Konfrontationstherapie und zugleich die Applikation einer vermeintlich fernöstlichen Weisheitslehre, die fälschlicherweise Sunzi, dem Autor des über 2000 Jahre alten Klassikers Die Kunst des Krieges, zugeschrieben wird: »Furcht ist der Gegner, der einzige Gegner.«19 So wird nach der erfolgten Rückkehr aus Bruce Wayne Batman, aus dem Milliardär, der tagsüber seinen Geschäften und Vergnügungen nachgeht (allerdings nur um den Schein zu wahren), der nächtliche Rächer in kugel19 Dieses Zitat findet sich entgegen landläufiger Annahmen nicht in Sunzi: Die Kunst des Krieges, aus dem Chinesischen übertragen u. mit einem Nachwort v. Volker Klöpsch, Berlin 2020. 

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sicherem Fledermauskostüm nebst den dazugehörigen emblemverzierten und mattschwarz gehaltenen Accessoires – eine in Tages- und NachtExistenz aufgespaltene Figur, was an anthropologische Konzepte der Romantik und ihre Protagonisten erinnert, insonderheit an die von ihrer »Duplicität« gezeichneten Gestalten im Werk E. T. A. Hoffmanns (etwa Medardus aus Die Elixiere des Teufels oder Cardillac aus Das Fräulein von Scuderi, um nur diese zwei zu nennen).20 Batmans Erscheinungsweise selbst belebt auf technisch-synthetische Weise die theriomorphen Aspekte der antiken und mittelalterlichen Heroenfiguren, nun aber psychologisch und nicht mehr ontologisch motiviert. Bruce Wayne durchläuft gewissermaßen den Zyklus der mythischen Heldenreise, wie sie Joseph Campbell konstruiert hat,21 aber »sub specie temporis nostri«, wie James Joyce einmal über die Alltagsodyssee seines Helden Leopold Bloom in Ulysses gesagt hat.22 Der Pathogenese des modernen Subjekts entspricht in stringenter Weise die Genese des modernen Helden aus seinen pathologischen Strukturen, die Devianz wird zum Ausgangspunkt des Exorbitanten. Das ist durchaus eine Feststellung von großer Sprengkraft, da sich hieraus für den Helden nahezu zwangsläufig Konflikte mit den Ordnungsstrukturen der Gesellschaft ergeben müssen. Bei Campbell lautet der Befund zum Thema »Der Heros heute«, wie das Schlusskapitel seiner berühmten Studie überschrieben ist: Deshalb aber ist das Problem, das sich der Menschheit heute stellt, genau entgegengesetzt dem der Menschen, die in den vergleichsweise stabilen Perioden der jetzt entlarvten mythischen Integration lebten. Lag bei ihnen aller Sinn im Kollektiv, in den großen anonymen Formen und nicht im mündigen Individuum, so ist heute das Kollektiv wie die Welt überhaupt jeden Sinnes bar, und alles ist im Individuum. Dort aber ist er ganz unbewußt: es weiß nicht, wohin es geht, es weiß nicht, wodurch es getrieben wird. Alle Verbindungen zwischen den bewußten und den unbewußten Bereichen der Menschenseele sind durchschnitten: wir sind in zwei Hälften zersprungen.23 20 Vgl. E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus, eines Kapuziners, hg. v. Wolfgang Nehring, Stuttgart 1985, sowie ders.: Das Fräulein von Scuderi. Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten, Text und Kommentar v. Barbara von Korff-Schmising, Frankfurt / M. 2001. 21 Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, aus dem Amerikanischen v. Karl Koehne, Frankfurt / M. u. Leipzig 1999 (engl. New York 1949). 22 Zit. nach Johanna Sprondel: Textus – Contextus – Circumtextus. Mythos im Ausgang von Joyce, Aristoteles und Ricœur, Berlin u. Boston 2013, S. 23. 23 Campbell (Anm. 21), S. 371. 

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Die Aussagen Campbells sind ganz durchdrungen vom universalistischen Pathos der frühen Psychoanalyse, übersehen jedoch, dass sich auch Heldennarrative bilden können, in denen das Verhältnis von Kollektiv und Individuum gerade aufgrund der Beschädigungen des Subjekts durch die gesellschaftlichen Kräfte und der fehlenden transzendenten Wertordnung wieder neu verhandelt wird, wie das bei Christopher Nolans Batman-Saga der Fall ist. Es fehlt allerdings die Verbindlichkeit, mit der der Mythos die heroischen Qualitäten und Werte noch ausstatten konnte. Und dies zeigt sich nicht nur an der Spaltung des Helden in Tages- und Nacht-Existenz, die seine Identität verschleiert (von allen antiken Helden ist es nur der listenreiche Odysseus, der gelegentlich zum Mittel der Identitätsverschleierung greift), um so nicht in die Systemzwänge zu geraten. Mithin ist er aufgrund ähnlicher struktureller Zwänge zum Agieren in Anonymität und Identitätslosigkeit genötigt – genau wie die Verbrecher, die er bekämpft. Das ist ein entscheidender Faktor für die Ambiguisierung der Positionen, die die Gesellschaft den Antagonisten zuschreibt. Heldentum existiert ja letztlich nur aufgrund der gesellschaftlichen Zuschreibungen, von denen es abhängig ist ; als ein Narrativ bedarf es stets eines kulturellen Referenzsystems, das die definitorischen Parameter liefert. Dies gilt insbesondere für die von Relativismus und Legitimationszwang geprägten modernen Gesellschaften mit ihrem ideologisch und nicht mehr mythologisch oder theologisch fundierten Wertesystemen. Die Prädikation Schurke oder Held, Monster oder Heros hängt in hohem Maße vom Standpunkt ab, ist also auf Faktoren zurückzuführen, die jenseits einer objektiven Bestimmung des Exorbitanten, wie sie in Antike und Mittelalter noch eher zu konstatieren war, liegen. Und diese Zuschreibungen oszillieren mit Blick auf die Figur Batmans in Nolans Dark Knight-Trilogie, gerade auch in Hinblick auf die jeweiligen Hauptantagonisten Ra’s al Ghul in Batman Begins, dem Joker in The Dark Knight (2008)24 und Bane in The Dark Knight Rises (2012),25 die auf drei unterschiedliche Weisen und getrieben von je anderen Motivationen an der Vernichtung Gotham Citys und seiner Gesellschaft arbeiten: moralische Hybris im Fall Ra’s al Ghuls, Lust an Anarchie, Chaos und Zerstörung beim Joker sowie faschistoide Totalitarismusfantasien als Antrieb Banes. In einem Interview mit dem Film Comment Magazine hat der Regisseur Nolan die Möglichkeit einer derartigen Interpretation bekräftigt: »If you look at the three of [the serie’s villains], Ra’s Al Ghul is 24 Christopher Nolan: The Dark Knight, Warner Bros. & Legendary Pictures, USA u. Großbritannien 2008. 25 Christopher Nolan: The Dark Knight Rises, Warner Bros. & Legendary Pictures, USA u. Großbritannien 2012. 

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almost a religious figure, The Joker is the anti-religious figure, the antistructure anarchist. And then Bane comes in as a military dictator.«26 Rasmus Overthun unterscheidet in seiner Typologie monströser Gestalten drei Grundfiguren ; und obgleich manche Aspekte sich überschneiden, könnte man den sich moralisch superior wähnenden Ra’s al Ghul als »Subjektmonster (Das andere Ich)«,27 den physisch entstellten Joker als »Körpermonster (Der fremde Körper)«28 und den selbstermächtigt agierenden Bane als »Sittenmonster (Der große Gesetzlose)«29 gemäß Overthuns an Foucaults Konzept des »Anormalen«30 orientierter Taxonomie des Monströsen bezeichnen. Doch zugleich treffen solch transgressive Aspekte der Alterität, der fremden Körperlichkeit sowie auch der Überschreitung sozialer wie humaner Normen in Teilen ebenso für die Phänomenologie des Helden zu, dessen deviante Exorbitanz ihm ebenfalls monströse Züge in den Augen der Gesellschaft, die er eigentlich schützen will, verleiht. Mehrfach wird Batman daher in der Trilogie als »Monster« o. ä. apostrophiert, denn Christopher Nolan betont stärker als in früheren Bearbeitungen des Stoffs die Distanz seines problematischen Helden zur Gesellschaft, bzw. die Probleme, die die Gesellschaft mit solchen nicht sozialisierbaren bzw. in die gemeinschaftliche Ordnung integrierbaren Heldenfiguren hat. Diese veritable Entfremdung zwischen Held und Gesellschaft findet man in früheren mythischen Helden-Narrativen mit ihren einheitlichen Wertesphären eher selten (obwohl die Separierung zwischen normalen und exorbitanten Charakteren auch z. B. bei Odysseus oder Siegfried durchaus spürbar ist, sie gehört zur Aura des Außergewöhnlichen des Heros). Das wissen nicht zuletzt auch die Schurkenfiguren zu nutzen, um die Gesellschaft gegen diejenigen aufzubringen, die mittels ihres einsam-distanzierten Vigilanzverhaltens die Menschen und ihre Lebenswelt vor Schaden bewahren wollen, wovon besonders der mittlere Teil von Nolans Trilogie erzählt. Diese Interferenzen sind Teil der Problematisierung des Heroischen, die gewissermaßen die skeptische postheroische Perspektive ins Zentrum des Helden-Narra26 Russ Burlingame: The Dark Knight Rises. Christopher Nolan Explains the Politics, online: https://comicbook.com/movies/news/the-dark-knight-rises-christophernolan-explains-the-politics/. 27 Rasmus Overthun: Das Monströse und das Normale. Konstellationen einer Ästhetik des Monströsen, in: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, hg. v. Achim Geisenhanslüke u. Georg Mein, Bielefeld 2009, S. 43– 79, hier 63. 28 Ebd., S. 53. 29 Ebd., S. 58. 30 Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974– 1975), Frankfurt / M. 42016. 

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tivs und gegen es selbst in Stellung bringt. Die Fragwürdigkeit solcher von Deformation und Devianz gezeichneten Superheldenfiguren – neben Nolans Batman wären vor allem die Charaktere aus The Watchmen, Suicide Squad und die an postmoderner Ironie und absurder Diversität kaum zu überbietenden Guardians of the Galaxy zu nennen – ist Teil einer bewussten Reflexion und Dekonstruktion des Diskurses vom Heroischen, welche die Konventionen und Traditionen des Genres mitdenkt und sie – zumindest in den anspruchsvolleren Produkten – auch in Beziehung setzt zu zeitgenössischen gesellschaftlichen Tendenzen wie Chauvinismus, Narzissmus, Selbstoptimierung, Fanatismus etc. Was auf den ersten Blick wie eine Affirmation kulturkonservativer Positionen erscheint, erweist sich bei genauerer Analyse als ein komplexe Fragen verhandelndes Medium der Gegenwartskritik und Metareflexion – allerdings nicht in jedem der Werke. So kommt der Kultursoziologe Ulrich Bröckling hinsichtlich des Genres der Superhelden-Filme, -Comics und -Serien zu dem Schluss: Die Erzählkonventionen haben sich gelockert, »klare Grenzen zwischen Weitermachen, Umbauen oder Abschaffen« existieren nicht länger, ironische Ambiguität ist an der Tagesordnung. Im Medium der Superheldengeschichten lässt sich sowohl ideologische Aufrüstung als auch Gegenwartskritik betreiben, lassen sich Figuren mit komplexem Innenleben ebenso zeichnen wie dumpfe Haudraufs, und über all dies lässt sich obendrein metaheroisch nachdenken. Ausgerechnet das Genre, das die plumpesten Heldenklischees bereithält, erweist sich, bisweilen jedenfalls, zugleich als Schauplatz avancierter Reflexionen über den Platz des Heroischen in der Gegenwartskultur.31 Es bleibt festzuhalten: Zum ›metaheroischen Nachdenken‹ gehört in jedem Fall das Junktim des Monströsen mit dem Heroischen.

Heroisch-monströse double-binds: Monströse Neuzeit

Ich möchte nun einen Schritt zurück in die Geschichte gehen und eine spezifische Konstellation des Monströs-Heroischen verfolgen, die ihren Ausgangspunkt in der Frühen Neuzeit nimmt. Sie führt zurück auf die bereits angesprochene Verknüpfung der Entwicklung des neuzeitlichen Subjekts sowohl mit dem Monströsen als auch mit dem Heroischen. Mit 31 Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, S. 215. 

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dem sich zwischen etwa 1500 und 1800 ausdifferenzierenden und radikalisierenden Gedanken der Autonomie des Subjekts und dem Aufstieg der neuen Wissenschaften entsteht ein innovativer Typus des Heroischen, der zwei wesentliche Aspekte miteinander vereint: den sich selbst und seine Umwelt entwerfenden und (um-)gestaltenden Menschen sowie die mit diesen Ansprüchen verknüpfte Revolte gegen jegliche Art überkommener Ordnung. Wesentliche Repräsentanten dieses neuen HeldenTypus sind der Wissenschaftler und der Künstler, letzterer in den Poetiken der Zeit, etwa bei Julius Caesar Scaliger, Philip Sidney oder später bei Shaftesbury, als alter deus oder second maker gefeiert.32 Doch von Anfang an erscheinen diese Figuren der Kulturheroen als ambivalente Gestalten wie ihr mythischer Ahnherr, Prometheus, da ihre Exorbitanz, die sich in ihren außergewöhnlichen Leistungen manifestiert, immer mit der Überschreitung von Diskursordnungen theologischer, philosophischer oder anderweitig kodifizierter Art verbunden ist. Es ist daher nur folgerichtig, dass eine Figur wie der im Volksbuch von 1587 beschriebene Doktor Faustus zeitnah die Bühne betritt und damit eine über vierhundertjährige Karriere als Katalysator der historisch sich in varianten Konstellationen präsentierenden Problemlagen des Modernisierungsprozesses beginnt. Der Teufelspakt hypostasiert die Angst des aus den Normen heraustretenden Subjekts vor den Konsequenzen seines Begehrens und Handelns, zugleich misst er auch die Strecke zwischen Normalität und Exorbitanz aus, die der Geistesheros in seinem Verhalten zurücklegt. Das aggravierende »Schuldbewußtsein«,33 das Freud als Symptom des fortschreitenden Zivilisationsprozesses diagnostizierte, findet darin seine äußerst produktive und anschlussfähige literarische Symbolisation, das damit einhergehende »Strafbedürfnis«34 wird im Text ausagiert und durch das grauenvolle Schicksal des Protagonisten befriedigt. Zwar ist das Volksbuch noch als eine exemplarische Warnung vor solchen Übertretungen angelegt, jedoch kann es eine gewisse Faszination bezüglich seines Protagonisten nicht ganz verhehlen. Die nur wenige Jahre nach dem Volksbuch entstandene erste Dramatisierung The Tragical History of Dr Faustus35 von Shakespeares 1593 bei einer Messerstecherei ums Leben gekommenem Zeitgenossen Christopher Marlowe geht hinsichtlich der Sympathiebezeugun32 Siehe dazu Eugène Napoléon Tigerstedt: The Poet as Creator. Origins of a Metaphor, in: Comparative Literature Studies 5 (1968), S. 455–488, sowie Werner Jung: Kleine Geschichte der Poetik, Hamburg 1997, S. 49. 33 Freud (Anm. 12), S. 76. 34 Ebd., S. 80. 35 Christopher Marlowe: The Tragical History of Dr Faustus, in: ders.: The Complete Plays, ed. by J. B. Steane, Harmondsworth 1986, S. 259–339. 

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gen für den Titelhelden noch weit über die Quelle hinaus. Der für die kulturhistorische Signifikanz des Faust-Stoffs entscheidende Konnex zwischen unbegrenztem Wissensdrang und dem dafür zu entrichtenden Preis wird in der Sterbeszene Fausts (Akt V, 2. Szene) besonders akzentuiert ; so lauten die letzten Worte des Doctor Faustus bei Marlowe: »I’ll burn my books. Ah, Mephostophilis !« (S. 338) Das vergebliche Kompensationsgebot des Bücherverbrennens ist ein klarer Verweis auf den damaligen Umgang mit häretischem Schrifttum seitens der Kirche, im Motivzusammenhang des Stücks aber ein metonymisches Symbol für den Wissensverzicht im Moment der Verzweiflung, der Konfrontation mit der eigenen Verdammnis. Das Buch als Quelle des Wissens ist, wie Michel Foucault anhand von Flauberts Tentation de Saint Antoine demonstriert hat, auch immer schon die Quelle der Versuchung.36 Marlowes Stück endet damit jedoch nicht ; es folgt noch eine Szene, in der Scholaren das Schicksal Fausts diskutieren, sowie ein vom »Chorus« gesprochener Epilog, ein deutlicher Verweis auf die Tradition der antiken Tragödie, die immer wieder in dem Drama anklingt, um so die Kontinuität dieses neuen tragischen Helden mit den ehrwürdigen Vorbildern der Antike hervorzuheben. Obwohl die Scholaren das schreckliche Ende Fausts, der von Teufeln zerrissen wurde, zumindest in akustischer Zeugenschaft miterlebt haben, wird ihm doch ein Begräbnis [!] in akademischen Ehren zuteil ‒ der Second Scholar: Well, gentlemen, though Faustus’ end be such As every Christian heart laments to think on, Yet, for he was a scholar once admired For wondrous knowledge in our German schools, We’ll give his mangled limbs due burial, And all the students clothed in mourning black Shall wait upon his heavy funeral. (V.3, S. 338) Und selbst der Chorus enthält trotz der obligaten moralischen Warnung vor dem Exempel in einer antikisierenden Formel ebenfalls den lobenden Verweis auf Faustus’ Gelehrsamkeit und dessen intellektuelle Brillanz in imposanten, makellosen Blankversen mit einem abschließenden gereimten heroic couplet:

36 Vgl. Michel Foucault: Un fantastique de bibliothèque, in: ders.: Schriften zur Literatur, aus dem Französischen v. Karin von Hofer u. Anneliese Botond, Frankfurt / M. 1993, S. 157–177. 

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Cut is the branch that might have grown full straight, And burned is Apollo’s laurel bough, That sometime grew within this learned man. Faustus is gone. Regard his hellish fall, Whose fiendful fortune may exhort the wise Only to wonder at unlawful things, Whose deepness doth entice such forward wits, To practice more than heavenly power permits. (V.3, S. 339) Die Ambivalenz dieser Schlusspassage ist bemerkenswert, erstreckt sie sich doch nicht allein auf die Bewertung der Figur, sondern bezieht sich auch auf die Verfahrensordnung hinsichtlich des Umgangs mit – in diesem Fall arkanem – Wissen: Nicht sich mit diesen »unlawful things« theoretisch auseinanderzusetzen wird dem ›Weisen‹ verboten, sondern nur deren Überführung in die Praxis. Jenes Theorie-Praxis-Problem, das die Wissenschaft und die Literatur im Gefolge des Zweiten Weltkriegs aufgrund der Verstrickungen der Wissenschaftler in die verübten Gräuel wieder zentral beschäftigte, wovon Dramen wie Brechts Das Leben des Galilei, Dürrenmatts Die Physiker und Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer zeugen, ist bei Marlowe bereits als eine bestimmende Konstellation neuzeitlicher Wissenskultur vorgeprägt. Die Gefahr des moralisch Monströsen ist bereits in dieser Konstellation bei Marlowe verankert ; Faustus ist ein »Overreacher«,37 wie Harry Levin seine berühmte Studie zu diesem Autor und den Hauptfiguren von dessen Dramen überschrieben hat ; mit exzeptionellen Talenten ausgestattet, maßlos in seinem Begehren und skrupellos in den Mitteln der Verwirklichung seiner Ziele (darin ähnelt er Tamerlane, Barabas oder Mortimer, den anderen Overreachern in Marlowes Dramen). Ist im Fall von Marlowes Stück evident, dass die Titelfigur auch als uneingeschränkte Hauptfigur des Dramas gelten kann, so ist die Zuordnung zwischen main character und sidekick in Goethes erstem Teil der Faust-Tragödie schon nicht mehr so eindeutig – zu viel Faszinationspotential geht vom »Geist, der stets verneint« aus, dem man deutlich anmerkt, dass sein Autor Zeit seines Lebens dem Dämonischen als Teil des individuum ineffabile est in unzähligen Variationen nachspürte.38 Dass dem Teufel als literarischer Figur überhaupt eine solche Aufwertung zuteilwerden konnte, dass er also selbst Züge des Heroischen annehmen 37 Vgl. Harry Levin: Christopher Marlowe. The Overreacher, London 1965. 38 Zu Goethes Verständnis des Dämonischen und der weiteren Wirkung dieser Kategorie in der deutschen Literatur siehe Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg. v. Lars Friedrich u. a., Paderborn 2014. 

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konnte, ist das Resultat eines komplexen Umwertungsprozesses, dessen früher Kulminationspunkt sicherlich in Miltons biblischem Epos Paradise Lost und dessen Rezeption zu suchen ist. Denn Ausgangspunkt des monumentalen Werks ist nicht die Genesis, sondern der Sturz Luzifers und seiner Mitverschworenen nach ihrer gescheiterten Revolte gegen Gott und die Transformation des ehemaligen Erzengels zu Satan, dem Fürsten der Hölle, deren Schilderung die ersten beiden Bücher einnehmen.39 Gerade die in der Figur Lucifer s/ Satans gebündelten Aporien, sein dualer Status als vormaliger Erzengel, der seine Revolte gegen Gott in vollem Bewusstsein nicht allein der Allmächtigkeit seines Gegners, sondern auch im Wissen der jeglichen anderen Ausgang a priori vereitelnden, gänzlich puritanisch-calvinistisch gefärbten Prädestinationslehre durchführt, haben zur enormen Aufwertung und Re-Imagination der Gestalt beigetragen, die mit den mittelalterlichen und anderen früheren grotesk-abstoßenden Teufels-Darstellungen nichts mehr gemein hat. Dazu trägt nicht zuletzt auch seine rhetorische Brillanz bei, die jene Dualität von trotziger Selbstbehauptung und Wissen um das eigene Scheitern in eindrucksvollen Monologen entfaltet. So spricht er nach dem Sturz vom Himmel in die Hölle seinen Komplizen Mut an diesem unwirtlichen Ort zu: ›Is this the region, this the soil, the clime,‹ Said then the lost Archangel, ›this the seat That we must change for heav’n, this mournful gloom For that celestial light? be it so, since he Who now is sovran can dispose and bid What shall be right: farthest from him is best Whom reason hath equaled, force hath made supreme Above his equals. Farewell happy fields Where joy for ever dwells: hail horrors, hail Infernal world, and thou profoundest hell Receive thy new possessor: one who brings A mind not to be changed by place or time. The mind is its own place, and in itself Can make a heav’n of hell, a hell of heav’n. What matter where, if I be still the same, And what I should be, all but less than he Whom thunder hath made greater? Here at least 39 John Milton: Paradise Lost. An Authoritative Text, Backgrounds and Sources, Criticism, ed. by Scott Elledge, New York u. London 1975, S. 5–55. 

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We shall be free ; th’ Almighty hath not built Here for his envy, will not drive us hence: Here we may reign secure, and in my choice To reign is worth ambition though in hell: Better to reign in hell, than serve in heav’n‹ (1,242–263). Die Luzifer seitens orthodox-religiösem Verständnis traditionell attestierten Todsünden Hybris (»Pride«) und Neid (»Envy«) erscheinen hier in dieser Selbstcharakterisierung in eine heroische Haltung umgebogen, der Neid, »envy«, wird in einer rhetorischen Volte gar dem Allmächtigen unterstellt, zugleich wird der Wunsch nach Freiheit von der Herrschaft Gottes als Triebfeder des Aufstands benannt: »Better to reign in hell, than serve in heav’n.« Die Dichotomie von Himmel und Hölle wird zudem an die Kraft des Geistes rückgebunden: »The mind is its own place, and in itself / Can make a heav’n of hell, a hell of heav’n.« Luzifers Monolog ist nichts weniger als die Unabhängigkeitserklärung des neuzeitlichen Menschen, der sich auf sein Recht auf Freiheit, Autonomie und die allverwandelnde Macht seines Intellekts beruft – der Anfang einer Entwicklung, die am Ende im Anthropozän münden wird, in dem die Frage nach der Verwandlung von Himmel und Hölle zur Schicksalsfrage der Zukunft unseres Planeten geworden ist. Für unsere Fragestellung jedoch ist vielmehr von Belang, dass im Falle des Milton’schen Satans ein Prozess eingeleitet wird, der, wie schon erwähnt, das ursprünglich Monströse (in diesem Fall das theologisch Monströse) nun aufgrund der Exorbitanz, aber vor allem auch wegen der in ihr gestalteten Subjektproblematik mit ihren intrinsischen Ambivalenzen nun einer Heroisierung unterzieht. Dies haben nicht nur William Blake und Lord Byron, zwei der großen Bewunderer und Apologeten von Miltons Satan, verstanden und in ihren gigantomanischen, dunkel-visionären literarischen und im Fall Blakes auch bildkünstlerischen Gestalten aufgenommen. Für Blakes eigenen mythopoetischen und transmedial ausgeformten Kosmos ist die Glorifizierung des Milton’schen Satans von eminenter Bedeutung, da sich hierin Aspekte einer visionären Mystik mit solchen der vehementen Zeitkritik verbinden lassen – schon Miltons Heroisierung des Erzrevolutionärs, der sich gegen die göttliche Ordnung auflehnt, wäre ohne die historische Erfahrung der puritanischen Revolution von 1648, an deren Ende König Charles I. aufs Schafott geschickt wurde, wohl kaum denkbar gewesen. Natürlich ist Mary Shelleys 1818 erschienener Roman Frankenstein or the Modern Prometheus der locus classicus der Verklammerung des Heroischen mit dem Monströsen. In einer beispiellosen Verdichtung und philosophischen Vertiefung laufen hier die diversen Linien der Proble https://doi.org/10.5771/9783835349452

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matik zusammen. Alles bisher Gesagte könnte auch zur Illustration dieses Romans dienen, der die Hegel’sche Diaklektik von Herrschaft und Knechtschaft in ihrer Unauflöslichkeit im tragischen Konflikt zwischen Schöpfer und Geschöpf ausagiert und die zentrale Frage nach dem, was einen Menschen zum Menschen macht, auf bislang unerhörte und bis in die Gegenwart nachhallende Weise stellt. In der Doppelung der Charaktere von Frankenstein und seinem namenlos bleibenden Geschöpf fallen die Pole des Monströsen und des Heroischen unauflöslich ineinander und diffundieren in einem existenziellen Abgrund. Da schon so vieles über diesen Roman geschrieben wurde, soll hier nur noch einmal daran erinnert werden, dass unter den Büchern, die das Geschöpf in seinem Selbstbildungsprozess liest, sich an prominenter Stelle Paradise Lost findet. Und auch das auf dem Titel befindliche Motto stammt aus Miltons Epos: »Did I request thee, Maker, from my clay / To mould me man, did I solicit thee / From darkness to promote me?« (10,743–745) Diese transtextuellen Verweise liefern auch eine (ich betone: eine) der möglichen Interpretationsfolien für die Geschichte. LeviathancƳ)IVQSHIVRIXEEX^[MWGLIR-IVSWYRH2SRWXIV

Zum Schluss dieses höchst selektiven kleinen literaturgeschichtlichen Rundgangs zum Verhältnis des Heroischen und des Monströsen soll noch eine Ausprägung dieser Konstellation angesprochen werden, die selten in den Blick gerät. Dies liegt daran, dass es sich hier nicht um eine figurale Zuweisung des Heroischen handelt, sondern um eine institutionelle. 1651, mitten in der Herrschaft von Cromwells Commonwealth-Regime, erscheint eine der folgenreichsten staatstheoretischen Abhandlungen der Neuzeit ; gemeint ist natürlich Thomas Hobbes’ Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Common Wealth Ecclesiasticall and Civil.40 Wie Miltons Paradise Lost verarbeitet dieses Werk die Erfahrungen des englischen Bürgerkriegs und der Revolution. Der durch den Gesellschaftsvertrag seiner Bürger gegründete Staat besitzt die Souveränität vor allem durch die Ausübung seines Gewaltmonopols, das den Naturzustand des Kampfes jeder gegen jeden beendet. Die Rechtssicherheit wird gerade durch den Verzicht der eigenen Durchsetzung der Ansprüche des Einzelnen erreicht, Gewalt wird institutionalisiert. Das Titelkupfer mit seiner riesenhaften Repräsentation des »Body Politic«, der die einzelnen Men40 Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. u. eingeleitet v. Iring Fetscher, übersetzt v. Walter Euchner, Frankfurt / M. 1984. 

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schen in sich aufnimmt und mit geschwungenem Schwert und Zepter über dem Land droht, zeugt – wenn man die Allegorie symbolisch zu verstehen bereit ist – von der Macht wie von der Monstrosität dieser Macht gleichermaßen. Der titelgebende Vergleich des sich in seiner souveränen Machtfülle gerierenden Staats mit dem sagenhaften biblischen Meerungeheuer Leviathan lässt ein Bewusstsein seitens des Autors für die Ambivalenz eines solchen Gebildes aufscheinen – und zugleich wird Hobbes in seiner Abhandlung nicht müde zu betonen, für wie notwendig er diesen souveränen Staat zur Aufrechterhaltung der Ordnung hält, die die Rechte der Untertanen schützt und durch Gesetzgebung garantiert – dem Staatstheoretiker zufolge die vornehmste und dringlichste Pflicht des Souveräns. Setzte der antike oder mittelalterliche Heros seine exorbitanten Fähigkeiten im Kampf im besten Fall zur Verteidigung seiner zugehörigen Gemeinschaft ein – so wie Cúchulainn in Abwehr des Ulster bedrohenden Invasionsheers der Königin Medbh –, so wird die Übertragung der Souveränität und das damit einhergehende staatliche Gewaltmonopol zum Schutz von Leben und Besitz der Bürger nun als ein in der Tat exorbitantes Mittel moderner Herrschaft gesehen. Man könnte daher in Zusammenhang mit Hobbes’ politischer Theorie von einer Heroisierung des Staats sprechen, eine Heroisierung freilich, die ihren Preis nicht verschweigt und die damit verbundenen monströsen Seiten ebenfalls nicht unterschlägt, wie Titel und Frontispitz des Leviathan überdeutlich suggerieren. Wie monströs diese Seiten der Souveränität werden konnten, wenn die von Hobbes geforderten wechselseitigen Verpflichtungen durch den Souverän nachträglich einseitig festgelegt und in ein absolutes Ungleichgewicht gebracht wurden, davon künden die totalitären Systeme des 20. und 21. Jahrhunderts. Ihre Opfer allerdings können dies nicht mehr bezeugen.



Hans Richard Brittnacher

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Mit gelegentlich extemporierten theologischen Wortmeldungen bringt der amtierende Papst Franziskus seine Kurienkardinäle gern in Verlegenheit, etwa mit seinem Vorschlag, die vorletzte Zeile des Vaterunser zu korrigieren: Statt des »und führe uns nicht in Versuchung« sollte dort besser »und lasse mich nicht in Versuchung geraten« stehen, um dem Verdacht, Gott selbst sei es, der dem gläubigen Christen eine Falle stelle, entgegenzutreten. Zu den Merkwürdigkeiten des Christentums gehört, dass es sich auf einen Mann bezieht, der eine andere Sprache gebrauchte als die Texte, die von ihm Zeugnis ablegen.1 Das Vaterunser dürfte Jesus von Nazareth auf Aramäisch gesprochen haben ; wir kennen nur seine Übersetzung ins Griechische. Der Kerntext des Neuen Testaments besteht aus den drei synoptischen Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas, dann dem Evangelium des Johannes und schließlich den Apostel-Briefen, Texten, die erst mehrere Jahrzehnte nach dem Wirken Jesu entstanden. Eine vom moralischen Optimismus des Christentums überzeugte Theologie hat für die vier Lebensberichte Jesu den Begriff der ›Frohbotschaft‹ euangelion vorschlagen und durchsetzen können. In diesem Sinne will auch die Einlassung des Papstes Franziskus eine intrikate Dimension des Religiösen, sein tremendum, verblassen lassen. Bei der Bibel hat man es mit einem sperrigen Text zu tun, den ein interkonfessioneller Präsentismus, also die gefällige Anpassung an die Wertvorstellungen der Gegenwart, um seine dunklen Anteile bringt. Auch wenn sich das Neue Testament mit seiner Vorstellung eines liebenden und gütigen Gottessohns deutlich vom Alten Testament mit seiner gelegentlich rachsüchtigen und jähzornigen Vatergottheit unterscheidet, finden sich auch hier immer noch skandalöse Bestände einer grausamen, am Glück des Menschen dezidiert nicht interessierten Religiosität.2 1 Hartmut Leppin: Alte Texte tun nicht, was wir wollen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 12. 2017, S. 13. 2 In diesem Sinne hat Wolfgang von Einsiedel die Gestalt des Teufels im Neuen Testament aus der Suspension der dunklen Anteile Jehovas im Alten Testament gedeutet: Der Böse und das Böse. Zur Morphologie des Teufels, in: Merkur 5 (1951), S. 428–444. 

Hans Richard Brittnacher

Deutlicher als an jeder anderen Figur des Neuen Testaments wird der finstere Bodensatz der Religion an Judas, dem Verräter. Dem jüngeren Cäsar und späteren Augustus, einem in der Kunst des Verrats bewanderten Staatsmann, wird die Aussage zugeschrieben: Wohl liebe er den Verrat, doch den Verräter hasse er.3 Die Notwendigkeit des Verrats erkennt der gerissene Stratege an, aber er weiß auch um den unvermeidlich üblen Ruf des Verräters. Denn unter allen Untaten gilt Verrat als die tückischste, unter allen Übeltätern der Verräter als der Verwerflichste. Er hat seine berühmten mythischen und literarischen Repräsentanten: In der Liebe ist es Don Juan, in der Politik sind es Kollaborateure wie Vidkun Quisling oder Renegaten wie Leo Trotzki oder Attentäter wie Claus von Stauffenberg – das Urteil über den Verrat sprechen zuerst die Verlassenen, die Hintergangenen und Verratenen.4 In der Religion schließlich ist Judas der exemplarische Verräter, der »Inbegriff des Bösen, personifizierte Niedertracht«.5 So übel ist sein Ruf, dass sein Name zur Antonomasie des Verrats wurde: Wer Judas genannt wird, den duldet man ungern in der Nähe. Ihm, genauer seinen widersprüchlichen Darstellungen in den Grundlagentexten des Christentums, gilt der erste Teil meiner Ausführungen, der zweite der traurigen Erfolgsgeschichte dieser Figur. Der dritte beschreibt dann einige literarische Versuche der Umkodierung des Judas, und im vierten Teil komme ich schließlich zur Frage, ob dieser Judas, in Anbetracht seines Beitrags zu einer erfolgreichen Passion Christi, als Held bezeichnet werden kann oder sogar sollte.

3 Plutarch: Romulus 17,3, in: ders.: Große Griechen und Römer, übersetzt u. mit Anmerkungen versehen v. Konrat Ziegler u. Walter Wuhrmann, Mannheim 1954, S. 97. Der von Plutarch mehrfach überlieferte Ausspruch ist am bekanntesten in der lat. Übersetzung einer etwas anderen Version: »Proditionem amo, sed proditores non laudo.« 4 Grundsätzlich zum Verrat und den Verrätern vgl. Gert Mattenklott: Über Verrat, in: ders.: Ästhetische Opposition. Essays zu Literatur, Kunst und Kultur, hg. v. Dirck Linck, Hamburg 2010, S. 401–432; Verrat. Geschichte – Medizin – Philosophie – Kunst – Literatur, hg. v. Dietrich von Engelhardt, Heidelberg 2012; Verräter, hg. v. Hans Richard Brittnacher, München 2015. 5 Herfried Münkler: Judas Ischarioth, in: ders.: Odysseus und Kassandra. Politik im Mythos, Frankfurt / M. 2009, S. 63–77. 

Judas Iskarioth

Judas in den Gründungstexten

Die Gleichsetzung des Namens Judas mit Verrat ist insofern bemerkenswert, als die vier Evangelien und die Briefe des Paulus,6 also die Gründungstexte des Christentums, entweder gar nicht von Judas sprechen oder seine Handlungen eher gleichmütig, geradezu lakonisch wiedergeben, was schon Karl Barth irritiert hat,7 und sich sogar an entscheidenden Stellen widersprechen. Nicht nur ist Judas Iskarioth, d. h. der Mann aus Kerioth,8 als Jesu Jünger der einzige Judäer unter lauter Galiläern, ein Intellektueller unter Fischern und Bauern, auch als der letzte der erwählten und namentlich aufgelisteten Jünger hat er eine Außenseiterposition. Während die Namen der anderen Jünger ohne weiteren Kommentar aufgezählt werden, folgt auf die Erwähnung des letzten, des Judas, obstinat der Hinweis: »der ihn verriet« (Mt 10,1–4; Mk 3,13–19). Oft sind die Jünger über das Verhalten ihres Herrn ratlos, in einem Fall murren sie sogar auf, nämlich als eine Frau in Bethanien Jesu Füße mit kostbarem Nardenöl salbt.9 Den Gegenwert der teuren Essenz, so die übereinstimmende Meinung von Jesu Gefolgschaft bei Markus, Matthäus und Lukas, hätte man besser im Interesse der Armen verwendet. Bei Johannes hingegen trägt Judas allein die Verantwortung für das Aufbegehren ; und während der Protest bei den drei Synoptikern mit den gut gemeinten karitativen Absichten der Jünger begründet wird, muss bei Johannes der schäbige Charakter des Judas als Begründung herhalten: 6 Im Folgenden zitiert nach: Die Bibel oder Die ganze heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, überarbeitet im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1978. ‒ Paulus hat lange vor den Synoptikern seine Briefe geschrieben, »die weder etwas von einem Verräter wissen noch Judas auch nur dem Namen nach kennen« (Hermann Levin Goldschmidt: Das Judasbild im Neuen Testament aus jüdischer Sicht, in: Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testament, hg v. dems. u. Meinrad Limbeck, Stuttgart 1976, S. 9–36, hier 20). 7 »Man muß wohl vor allem die merkwürdige Ruhe beachten, in der das Neue Testament von Judas Ischarioth berichtet. […] Genau genommen wird kein einziger Stein auf Judas geworfen« (Karl Barth: Kirchliche Dogmatik II,2, Zürich 1942, S. 509–511). 8 Dies ist freilich nur eine der vielen Deutungen des Namens ; nicht minder wahrscheinlich ist der Hinweis auf die im Beinamen anklingende Sekte der Sikarier, die einen bewaffneten Aufstand gegen die Römer befürworteten. Vgl. zu den unterschiedlichen Auslegungen des Namens Joachim Gnilka: Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament: Das Evangelium nach Markus, 1. Teilbd., Zürich u. Düsseldorf 1998, S. 141. 9 Ikonographisch hat sich das Bild der Maria Magdalena als Fußwäscherin nach Johannes 12,3 durchgesetzt, bei Markus (14,3) und Matthäus (26,7) salbt eine namenlose Frau Jesu Haupt. 

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»Aber er sagte das nicht, weil er sich um die Armen sorgte, sondern weil er ein Dieb war und die Einkünfte aus der Kasse, die er verwaltete, zu entwenden pflegte« (Joh 12,6). Die hier dem Judas unterstellte Habgier spielt dann auch eine herausragende Rolle bei dem Verrat, der freilich in den vielen Unstimmigkeiten der Berichte zu einem Mysterium eigener Art wird. Denn explizite Motive für den Verrat des Judas werden von den Evangelien nicht gegeben – wenn man denn nicht, wie Lukas und Johannes, eine satanische Beeinflussung annehmen will,10 was aber die Schuld des Judas, der unter dem Einfluss des Bösen nicht länger als selbstverantwortlicher Täter erscheint, mindern würde. Da gleich im Anschluss an die Salbungsepisode Judas zu den Hohepriestern geht, um Jesus zu verraten, liegt vielmehr eine politische Deutung des Vorgangs nahe: Jesu Zustimmung zur Verschwendung scheint einen rebellisch gesinnten Judas an das Gebaren eines eitlen Sektenführers zu erinnern, nicht an die erwartete Großmut des Messias. Wenn aber Judas’ Interesse politisch motiviert ist, wird sein Wunsch nach einer finanziellen Belohnung, von der Matthäus (26,15) spricht, unverständlich. Jedoch: nur Matthäus erzählt von den 30 Silberlingen, bei den anderen Evangelisten bleibt die Summe unbestimmt, bzw. wird ein Honorar für den Verrat gar nicht erwähnt. Zudem ist der von Matthäus genannte Betrag der 30 Silberlinge so gering, dass die These vom käuflichen Verräter mehr Fragen aufwirft als beantwortet.11 Dreißig Silberlinge entsprechen etwa 10  jener 300 Denare, die nach Auskunft von Markus und Johannes das Öl wert war, das bei der Salbung Jesu in Bethanien verwendet wurde. 30 Silberlinge waren auch, das haben die Recherchen von Amos Oz erbracht, dem wir einen der interessantesten Judas-Romane der letzten Jahre verdanken, »der Preis für einen durchschnittlichen Sklaven«.12 Warum es überhaupt nötig gewesen sein soll, der Scharwache, die zur Verhaftung ausrückte, Jesus als die gesuchte Person zu bezeichnen, bleibt gleichfalls fraglich. Schließlich war Jesus in diesen Tagen wohl eine der bekanntesten Figuren in Jerusalem, der sich keinesfalls versteckt hielt: Ihm eilte der Ruf eines Heilers voraus, der sogar Tote erwecken könne ; auf einem weißen Esel war er in die Stadt eingezogen, hatte die Händler und Wechsler vor dem Tempel mit Gewalt vertrieben und dort aufsehen10 »Es fuhr aber der Satan in Judas« (Lk 22,3), und: »Sobald der den Bissen nahm, fuhr der Satan in ihn« (Joh 13,27). 11 Nur Mt 26,14–16 beziffert die Summe genau ; bei Mk 14,10 f. und Lk, 22,3–6 bleibt sie unbestimmt. Zur Einschätzung des Werts vgl. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, Zürich 2002, S. 54 f. 12 Amos Oz: Judas, übersetzt v. Mirjam Pressler, Frankfurt / M. 2015, S. 169. 

Judas Iskarioth

erregende Reden gehalten. Auch die Auslieferung Jesu mit einem Kuss versteht sich nicht von selbst, handelt es sich doch um eine zärtliche Geste (auf deren Außergewöhnlichkeit auch die Evangelisten expressis verbis anspielen: Mk 14,45; Mt 26,48; Lk 22,48). Das hier verwendete Verb bedeutet eigentlich ›abküssen; zärtlich, heftig küssen‹.13 Dieses Zeichen freundschaftlicher Intimität für den Verrat zu missbrauchen ist einerseits an Infamie – seitens Judas’ oder der Evangelisten – schwerlich zu überbieten, kann andererseits aber auch – das legen theologische Expertisen der letzten Jahre nach dem Fund des sog. Judasevangeliums nahe – auf eine auch in dieser extremen Situation besondere Nähe von Jesus und Judas verweisen. Noch rätselhafter sind die Berichte der Evangelisten über das Abendmahl. Während Jesus bei Markus nur allgemein einen seiner zwölf Tischgenossen als seinen Verräter bezeichnet (Mk 14,18), charakterisiert er ihn bei Matthäus (26,23) und Lukas (22,21) näher als denjenigen unter den Zwölfen, der gleichzeitig mit ihm die Hand in die Schüssel taucht. Bei Johannes folgen unmittelbar auf die explizite Designation zum Verräter die sonderbaren und vieldeutigen Worte Jesu: »Was du tun musst, das tu bald!« (13,27) Das größte Geheimnis der Judas-Figur, ein im Grunde unauflösbarer Widerspruch, liegt im Gegensatz von Prädestination und Verwerfung. In allen Evangelien wird im Zusammenhang mit dem unus vestrum auch auf den schon in den Psalmen geweissagten Opfertod verwiesen, zugleich aber der Weheruf über den ausgesprochen, der bei diesem doch offenbar unvermeidlichen Vorgang die Rolle des Denunzianten zu spielen hat. Bei Markus heißt es: Da wurden sie traurig und einer nach dem anderen fragte ihn: Doch nicht etwa ich? Er sagte zu ihnen: Einer von euch zwölf, der mit mir aus derselben Schüssel isst. Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre. (Mk 14,19–21) Ähnlich sagt auch Lukas, der Verräter sitze mit am Tisch, und auch hier fällt über ihn der Fluch des Weherufs: Denn der Sohn des Menschen geht dahin, wie es bestimmt ist: doch wehe dem Menschen durch den er verraten wird. (LK 22,22) 13 Meinrad Limbeck: Das Judasbild im Neuen Testament aus christlicher Sicht, in: Goldschmidt / Limbeck (Anm. 6), S. 37–101, hier 97. 

Hans Richard Brittnacher

Beide Stellen sind deutungsbedürftig, weil hier die theologische Diskrepanz von Determinismus und persönlicher Schuld aufbricht. Gerade für das Urchristentum war es wichtig, den Tod Jesu als ein von den Schriften des Alten Testaments vielfach vorausgesagtes Heilsgeschehen bezeugt zu sehen.14 Wenn die Schrift aber fordert, dass der Menschensohn, um das Erlösungswerk zu vollenden, sterben muss, welche Schuld trifft den Verräter, der doch nur tut, was getan werden muss? Noch rätselhafter wird die Passionsgeschichte, betrachtet man die beiden Versionen von Judas’ Ende. Matthäus berichtet von der Reue des Judas, seinem Versuch, das Geld zurückzugeben, und von seinem Selbstmord aus Verzweiflung. Nach Auskunft der von Lukas verfassten Apostelgeschichte hingegen kaufte Judas vom Verräterlohn einen Acker vor den Toren Jerusalems, auf dem er zu Tode stürzte: [S]ein Leib barst auseinander, und alle Eingeweide fielen heraus. Das wurde allen Einwohnern von Jerusalem bekannt ; deshalb nannten sie jenes Grundstück in ihrer Sprache Hakeldamach, das heißt Blutacker. Denn es heißt im Buch der Psalmen: Sein Gehöft soll veröden, niemand soll darin wohnen! (Apg 1,18–20) Der Satan, so die übliche Lesart dieses drastischen Todes, musste aus dem Leib entweichen, da Judas’ Lippen durch den Kuss auf Christi Wange versiegelt waren. Die Apostelgeschichte fabuliert den Tod des Judas als grässliches Strafgericht, das den Verräter des Lohnes seiner Taten nicht froh werden lässt, aber erinnert mit der ausdrücklichen Berufung auf die Weissagung der Psalmen ein weiteres Mal an die Aporie von Prädestination und Schuld.15 Beide Geschichten rücken in der Plastizität ihrer Konstruktion das Schicksal des Erlösers und seines Verräters dicht aneinander. Die beiden Akteure, Täter und Opfer, sind große Einsame, die ein ähnliches Geschick teilen: Sie sind von allen verlassen und sterben einen einsamen Tod am Holz – der eine auf der Höhe Golgothas am Kreuz, der andere in einer Einöde am verdorrten Baum. Der Ort ihres Sterbens wird zur literarisch folgenreichen Metapher: Schädelstätte hier, Blutacker dort.16 14 Vgl. dazu Luz (Anm. 11), S. 81. 15 Vgl. ausführlicher Hans Richard Brittnacher: Judas oder: Die Unvermeidlichkeit des Bösen. Literarische Lösungsversuche eines theologischen Rätsels, in: Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien, hg. v. Tim Lörke u. Robert Walter-Jochum, Göttingen 2015, S. 17–32. 16 Vgl. Matthias Krieg: Judas als Figur des Neuen Testaments, in: Judas. Ein literarisch-theologisches Lesebuch, hg. v. dems. u. Gabrielle Zangger-Derron, Zürich 1996, S. 13–28, hier 24. 

Judas Iskarioth

Der eine fährt zum Himmel hinauf, zum ewigen Leben, der andere zur Hölle hinab, in die ewige Verdammnis. Im Bild des Todes rücken Heiland und Verräter in aller Gegensätzlichkeit einander wieder nahe. Eine dritte, weniger bekannte Version von Judas’ Ende hat Papias, Bischof von Hierapolis und einer der frühesten Kirchenväter, ca. 120 n. Chr., also zeitlich den Evangelien noch recht nahe, überliefert: Als hervorragendes Beispiel von Gottlosigkeit wandelte Judas in dieser Welt, der zu einem solchen Fleischesumfang angeschwollen war, daß er nicht einmal, wo ein Wagen leicht durchfährt, hindurchgehen konnte, ja nicht einmal die Masse seines Kopfes. Denn seine Augenlider, heißt es, seien dermaßen angeschwollen gewesen, daß er das Licht nicht sah, und seine Augen konnten auch nicht von einem Arzt mit Hilfe eines Augenspiegels erblickt werden ; so tief lagen sie von der äußeren Oberfläche. Sein Schamglied erschien aber durch Mißgestaltung überaus widerlich und groß, und es gingen dadurch aus dem ganzen Körper zusammenfließend Eiterteile und Würmer zu [seinem] Schimpf ab, allein schon durch die natürlichen Bedürfnisse. Als er dann nach vielen Qualen und Strafen an privatem Ort, wie es heißt, gestorben war, sei der Ort von dem Geruch bis jetzt öde und unbewohnt gewesen ; ja es könne bis zum heutigen Tage nicht einmal einer an der Stelle vorübergehen, ohne sich die Nase mit den Händen zuzuhalten. So stark erfolgte der Ausfluß durch sein Fleisch auch auf die Erde.17 Der Selbstmord des Judas, von dem Matthäus berichtet, ist von der christlichen Dogmatik als letzter von vielen Steinen auf den Sündenbock Judas gehäuft worden: Er hat an der Möglichkeit göttlicher Gnade gezweifelt, die Sünde schlechthin, die Sünde wider den Heiligen Geist begangen, sich selbst gerichtet und damit das Maß seiner Verwerflichkeit voll gemacht. Die Ächtung des Freitods im Christentum ist lange gültig geblieben – man denke an den letzten Satz von Goethes Werther, in dem die Kirche dem aus Herzeleid verzweifelten jungen Mann, der seinem Leben selbst ein Ende setzte, ein christliches Begräbnis verweigert. Die Apostelgeschichte inszeniert hingegen den Tod des Judas eher als Unglücksfall (Sturz auf dem Acker), in dem sich in Wahrheit ein göttliches Strafgericht verbirgt, angedeutet in der ausdrücklichen Berufung auf die

17 Zitiert nach Donatus Haugg: Judas Iskarioth in den neutestamentlichen Berichten, Freiburg / Br. 1930, S. 39 f. 

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Weissagung der Psalmen »Sein Gehöft soll veröden, niemand soll darin wohnen!«18 An dieses Strafgericht schließt das groteske Sterben des fettleibigen Judas bei Papias an: Das Motiv der mit sich selbst uneinigen Persönlichkeit des Judas nimmt hier die extreme Form eines Kampfes des Körpers gegen sich selbst an. Wie bei anderen notorischen Bösewichtern der Bibel und der zu biblischen Zeiten verbreiteten Literatur, wie bei Antiochos IV. (2. Makk 9,8–12), Herodes Agrippa (Apg 12,23) oder dem von Flavius Josephus geschilderten Leiden Herodes’ des Großen,19 handelt es sich um Vorgänge des Verfalls, die mit geradezu deliranter Ausführlichkeit beschreiben, wie sich das Innere des Körpers nach außen kehrt und die Sinnlichkeit, zu Lebzeiten die geheime Triebkraft der Siechen, als abstoßendes Leiden über den gesunden Leib triumphiert – und damit einen Ausblick gewährt auf die Martern, die auf die Seele der Sterbenden im Jenseits warten. Eine Bestandsaufnahme der kanonischen Quellen der Judasgeschichte wäre nicht vollständig, würde sie auf den Bericht über die Jugend des Judas verzichten, den Jacobus de Voragine in seinen Legenda aurea anlässlich der Geschichte des hl. Matthias, des neuen zwölften Apostels, der an die Stelle des Judas trat, mitteilt. Diese so wirkungsmächtige Textsammlung erzählt die Geschichte des Judas in auffallender Symmetrie zur Paradiesvertreibung sowie zu den Mythen um Moses und Ödipus.20 Als die kinderlose Cyborea träumt, sie werde endlich einen Sohn gebären, von dem jedoch Verderben für das ganze Volk Israel ausgehen soll, beschließt sie gemeinsam mit ihrem Mann Ruben, das Kind in einem Binsenkörbchen auf dem Meer auszusetzen. Der Knabe aber wird an die Gestade der Insel Skarioth getrieben und von einer Königin geborgen, die den kleinen Jungen als eigenes Kind annimmt und Judas nennt. Als sie später selbst ein Kind zur Welt bringt, wird dieses vom Findelkind als Rivale empfunden und ermordet. Judas flieht, gelangt an den Hof des Pilatus und wird dort Hofmeister. Beim Versuch, seinem Herrn begehrte Früchte aus einem fremden Garten zu verschaffen, kommt es zum Kampf mit Ruben, dem Besitzer des Gartens. Judas erschlägt ihn – und hat damit, ohne es zu wissen, den eigenen Vater getötet. Pilatus setzt seinen treuen Diener als Besitzer des Gartens ein und verheiratet ihn mit Cyborea, der Frau des Erschlagenen. So lebt Judas, der Vatermörder, unwissentlich im Inzest an der Seite seiner Mutter. Als diese eines Tages ihrem neuen 18 Ausführlicher dazu Brittnacher (Anm. 15). 19 Vgl. Limbeck (Anm. 13), S. 67 f. mit Anm. 75 (S. 98). 20 Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Lat./dt., ausgewählt, übersetzt u. hg. v. Reinhard Nickel, Stuttgart 1988, S. 178–185. 

Judas Iskarioth

Mann ihre Seelenpein wegen des ausgesetzten Kindes beichtet, kommt es zur Anagnorisis: Judas erkennt sich und seine Schuld. Er schließt sich Jesus und seinen Jüngern an, um Buße zu tun. Freilich setzt sich auch hier sein schäbiger Charakter durch: Aus Geldgier verrät er Jesus und erhängt sich schließlich aus Reue über seine Tat. Die Legende des Judas also erzählt die Geschichte des Christusverräters als den Mythos vom Auserwählten (Motive der späten Geburt und des Findlings), der das Unheil in die Welt bringt, weil ihn ein mythisches Los dazu determiniert hat.

Die Macht der Stereotype

In der Überlieferungsgeschichte hat sich die Geschichte des Judas als die eines abscheulichen Verräters verselbständigt – befördert nicht zuletzt durch Luthers Bibel-Übersetzung, die das im Zusammenhang mit Judas 34 Mal gebrauchte griechische Verb paradidonai konsequent als ›verraten‹ wiedergegeben hat, obwohl es auch weniger eindeutig so viel wie ›ausliefern, dahingeben, überliefern‹ oder ›übergeben‹ bedeuten kann:21 Traditio, der ›Verrat‹, und traditio, die ›Überlieferung‹, haben den gleichen Ursprung. Zwar ist in den Evangelien der Begriff des Verrats mit dem Tun des Judas verbunden, aber eben nicht in dem Sinn, den die Überlieferung darin gesehen hat. Denn Judas handelt wie Gott, als er seinen Sohn aus Liebe zu den Menschen ›dahingab‹. So heißt es im Römerbrief mit der gleichen Vokabel, die den Verrat des Judas bezeichnet, über das Handeln Gottvaters: »Er, der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat« (Röm 8,32). Und das gleiche Wort gebraucht Paulus zur Charakteristik von Jesu Selbstopfer: »Er hat mich geliebt und sich für mich dahingegeben« (Gal 2,20). Markant resümiert Karl Barth, Gottes fröhlicher Partisan, wie ihn ein Spielfilm nannte, dass Jesus wie sein Vater und dieser wie Judas gehandelt habe, als er sich/ ihn ›dahingab‹. Barths Diktum: »Gott(vater) [hat] so gehandelt wie Judas gehandelt hat«,22 rückt die Tat des Judas eher in die Nähe von Traditionsstiftung und Überlieferungsgeschehen als in die eines schmählichen Vertrauensbruchs. 21 Vgl. dazu Barth (Anm. 7), S. 558; dazu auch Hans-Josef Klauck: Judas – ein Jünger des Herrn, Freiburg / Br. u. a. 1987, S. 45–48; Werner Vogler: Judas Iskarioth. Untersuchungen zu Tradition und Redaktion von Texten des Neuen Testaments und außerkanonischer Schriften, Berlin 1983, S. 30–36. Der Begriff prodotes ›Verräter‹ ist nur einmal, bei Lk 6,16, zu finden und wahrscheinlich redaktionellen Ursprungs ; vgl. Krieg (Anm. 16), S. 16. 22 Barth (Anm. 7), S. 543. 

Hans Richard Brittnacher

Die merkwürdig intensive, mal grundlos, mal widersprüchlich verdächtigte Beziehung zwischen Jesus und Judas,23 ohne die doch die Verheißung nie hätte in Erfüllung gehen können, wurde in der Tradition aber nicht als Verweis auf das Aporetische des Heilsgeschehens oder gar auf einen Schatten im Bild des Erlösergottes begriffen, sondern lieferte die Matrix für eine unvergleichliche Sündenbockproduktion. Die literarische und künstlerische Repräsentation ging dabei weit hinaus über das, was die Evangelien Judas angelastet haben. Zwanzig Jahrhunderte, Generationen von Gläubigen und Klerikern, von Künstlern und Schriftstellern, haben darin gewetteifert, die Geschichte des Christentums als die Geschichte einer Verleumdung zu schreiben, in der Judas als Verräter und Inbegriff des Juden galt. Es gibt in der Kulturgeschichte wohl keinen vergleichbaren Fall einer so einträchtig von den Künsten und von der Religion vollzogenen Stigmatisierung, deren antisemitische Konsequenzen bis auf den heutigen Tag wirksam blieben.24 Mehr als an jeder anderen Figur wurde an Judas das ikonische und narrative Repertoire des Antisemitismus ausgearbeitet: Bibelillustrationen, Tafelbilder, Fresken, Predigttexte und Traktate stellen ihn als kriecherische Krämerseele mit scheelem Blick dar, eine rothaarige und rotbärtige, hakennasige, dürre und lauernde Kreatur, die den stolzen und aufrechten Jüngern mit Heiligenschein und goldener Lockenpracht kriechend und bucklig gegenübersteht, die Hand wie eine Klaue um den Beutel mit den 30 Silberlingen gekrallt, räumlich abgesondert, am anderen Ende der Tafel oder zu Füßen des Tischs, oft einem Wurm ähnlicher als einem Menschen.25 Die exklusive Negativierung der Judasfigur, die durch immerwährenden Gebrauch in der bildkünstlerischen Überlieferung, in der Literaturgeschichte und der religiösen Gebrauchsliteratur geradezu dogmatischen Charakter gewonnen hat, liefert sicherlich auch heute noch die am weitesten verbreitete Deutung der Gestalt: Sie fragt nicht nach den Gründen des Verrats, sie nimmt ihn als Faktum, das auf die schwarze, unergründliche Seele des Bösen verweist. Gerade im übertragenen Sprachgebrauch hat sich die Bedeutung von Judas als einer Metapher heimtückischer Bosheit erhalten, etwa in Anne Dudens Erzählung Das Judasschaf: 23 Sie wird mit dem Abstand der Evangelisten zum Leben Jesu zunehmend diffamierender: Bei den Synoptikern erscheint Judas noch in vergleichsweise neutraler Beleuchtung, bei Johannes dominiert offener hatespeech, ist Judas von Anfang an »ein Teufel« (Joh 6,70). 24 Vgl. Mirjam Kübler: Judas Iskariot. Das abendländische Judasbild und seine nationalsozialistische Instrumentalisierung, Waltrop 2007. 25 Ausführlicher zur bildkünstlerischen Denunziationsgeschichte des Judas Hans Richard Brittnacher: Die Physiognomik des Verräters. Der Judas des Leonardo von Leo Perutz, in: Zagreber Germanistische Beiträge 21 (2012), S. 49–74. 

Judas Iskarioth

In etlichen Schlachthöfen hält man sich ein Judasschaf […]. Es steht bereits vor dem Schlachthaus, wenn der nächste Lastwagentransport von Schafen ankommt. Das Judasschaf dreht sich um und führt die Herde unfehlbar und klar auf eine Plattform […]; die Schafe folgen […]. Das Judasschaf tritt jetzt zur Seite, die anderen Schafe gehen durch die Tür und werden sofort betäubt, aufgehängt und so weiter. Das Judasschaf geht zurück und erwartet die nächste Herde.26 Von dieser Tradition profitieren zahlreiche literarische Texte, etwa die Erzählung The flowering Judas (1930) der amerikanischen Südstaatlerin Katherine Anne Porter, in der es um einen Verrat im Kontext der mexikanischen Revolution geht, Erich Mühsams Drama Judas (1921) um einen Verräter im Arbeitermilieu, Karl Schönherrs Volksstück Der Judas von Tirol (1897) über die Auslieferung des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer oder Helga Schuberts Prosatext Judasfrauen (1985 /90), der Fälle von weiblicher Denunziation im Nazireich behandelt usf. Immer deutet die plakative Verwendung des Namens Judas im Titel der Texte auf einen ultimativen Verrat.

Literarisches Licht im theologischen Dunkel

Allerdings sind gerade der Literatur auch Korrekturen am Judasbild zu verdanken, die sich mit der einfältigen Schuldzuweisung an den Sündenbock Judas, der alles zu dulden hatte, was je an Phantasien über das Fremde und Dunkle und Böse ersonnen wurde, nicht länger abfinden wollen. Die Abendmahlszenerie mit der rätselhaften Anweisung an Judas, das, was er zu tun habe, doch möglichst unverzüglich zu tun, ist auch im Interesse der Entlastung des Judas als Akt einer besonderen Initiation gedeutet worden: Judas sei von Jesus selbst unter der Schar der Apostel als derjenige auserwählt worden, der den für eine erfolgreiche Durchführung der Passion und damit für die Erlösung unerlässlichen Vorgang der Auslieferung Jesu auf sich zu nehmen habe, obwohl ihm dieses Handeln ewige Verdammnis einbringen werde – schwerlich lassen die Worte »was Du tun musst, das tue bald« des Johannesevangeliums (13,27) eine andere Deutung zu. In dieser radikalen Lektüre avanciert Judas zum heimlichen Star des Neuen Testaments, Figur der absoluten Selbstlosigkeit, dessen Opfer in letzter Konsequenz das des Messias noch überbietet. In literarischer Hinsicht ist dies die Pointe von Jorge Luis 26 Anne Duden: Das Judasschaf, Berlin 1985, S. 49. 

Hans Richard Brittnacher

Borges’ amüsanter Kasuistik des Verrats in seiner Erzählung Drei Fassungen von Judas, in der Judas zum wahren Messias erklärt wird.27 Theologisch hat Walter Jens in Der Fall Judas, einer Art von Doku-Fiction, den gleichen Nachweis geführt. Hier geht es darum, dass der Franziskanerpater Berthold ein Kanonisierungsverfahren zur Heiligsprechung des Judas anstrengen will: Ich bitte den Heiligen Stuhl zu erklären, daß dieser Judas in die himmlische Glorie eingegangen ist und öffentliche Verehrung verdient. Denn ihm und keinem anderen sonst ist zu verdanken, daß in Erfüllung ging, was im Gesetz und bei den Propheten über den Menschensohn steht. Hätte er sich geweigert, unseren Herrn Jesus den Schriftauslegern und Großen Priestern zu übergeben […] – er wäre an Gott zum Verräter geworden.28 Der Judas, wie ihn diese häretische Tradition der Judasliteratur präsentiert, erscheint mal als Freund und Weggefährte des Jesus, der mit ihm um die Liebe der gleichen Frau, Maria Magdalena, rivalisiert, mal als politischer Widersacher, der eine deutlichere politische und patriotische Haltung des Messias gegen die römischen Besatzer verlangt, mal als glühender Anhänger des Messias, der diesen zu einer ostentativen Offenbarung seiner göttlichen Sendung bewegen will, oder aber, am weitesten gehend, in der eben skizzierten Version als Komplize. Judas erscheint hier als der am engsten mit dem Messias Vertraute, dessen Verrat tatsächlich ein dem Freund gegebenes Versprechen erfüllt, den ultimativen Liebesbeweis. Dies ist nicht nur der Grundgedanke der Texte von Jorge Luis Borges, Walter Jens und Uwe Saeger,29 sondern scheint auch in dem sog. Judasevangelium, dessen Existenz zwar schon seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert bezeugt, aber erst seit dem Fund des Codex Tchacos im Jahre 1976 auch dem Wortlaut nach bekannt ist, bestätigt zu werden. Hier zumindest erhält die These von Judas als dem Jesus nächststehenden Apostel, der in seine Pläne eingeweiht war und darin eine besondere Rolle spielte, auch theologisch Gewicht.30 27 Jorge Luis Borges: Drei Fassungen von Judas [1944], in: Fiktionen. Erzählungen 1937–1944, übersetzt v. Karl August Horst u. a., Frankfurt / M. 1982, S. 139–145. 28 Walter Jens: Der Fall Judas, Stuttgart 1975, S. 8. 29 Uwe Saeger: Die gehäutete Zeit. Ein Judasbericht, Rostock 2008. 30 Vgl. dazu Elaine Pagels u. Karen L. King: Das Evangelium des Verräters, München 2007; auch Rudolf Neuhäuser: Judas der Verräter. Religion – Literatur (Leonid Andrejew, Nikos Kazantzakis, Jurij Dombrowski) – Film, in: von Engelhardt (Anm. 4), S. 291–320, hier 294 f. 

Judas Iskarioth

Am Beginn der literarischen Umdeutungen des Judas steht Klopstocks Messias, also ein Text, der gewiss nicht der Frivolität gegenüber den Gründungstexten der christlichen Religion verdächtigt werden kann. Der Pietismus, mag er auch in vielem eine fundamentalistische Verhärtung der christlichen Dogmatik formuliert haben, mochte sich mit der ex cathedra verfügten Aburteilung des Judas als »Ertz-Schelm«31 nicht abfinden und verlangte nach einer Darstellung, die den Verrat des Judas als ein psychologisch nachvollziehbares Seelendrama zu verstehen erlaubte. Der Geniestreich des Messias, mit dem Friedrich Gottlieb Klopstock das lesende und gläubige Deutschland in Begeisterung versetzte, verdankt sich nicht nur der virtuosen Handhabung des Hexameters, den Klopstock für die deutsche Literatur gleichsam neu erfand, sondern auch seiner konsequenten Sohnestheologie der Barmherzigkeit, die Jesus als unendlich versöhnungsbereite Mittlerfigur, die sich für eine fehlbare und zerknirschte Menschheit einsetzt, dem zürnenden, autoritären Vater gegenüberstellt. Auch der Judas Klopstocks32 ist, wie Jesus, zunächst ein gehorsamer Sohn und in seiner Beziehung zum Vater zu verstehen. Wo Jesus mit seinem Vater im Gebet spricht, erscheint dem Judas der Vater im Traum – allerdings handelt es sich um eine von Satan arrangierte Traumvision, was Judas freilich nicht wissen kann. Seine Hörigkeit gegenüber dem Vater im Traum spiegelt Jesu Gehorsam gegenüber dem Opferwunsch seines Vaters im Himmel. Der Vater redet Judas ein, von Jesus gehasst, benachteiligt und übervorteilt zu werden: Den anderen Jüngern habe er im Reich Gottes blühende Landschaften versprochen, ihm nur ein ödes, steiniges Tal. Er drängt den von der Eifersucht auf Johannes, den Lieblingsjünger, gepeinigten Sohn, sich nicht länger benachteiligen zu lassen, sondern die Initiative zu ergreifen. Er soll den allzu zögerlichen Jesus – »Sieh, der Messias verzieht mit seiner großen Erlösung« (S. 263) – zu einer demonstrativen Machtausübung und Selbstoffenbarung als Messias nötigen, versuchen, ihn […] zu bewegen, damit er sich endlich […] furchtbarer zeige, Und, mit Schande, Bestürzung, und Schmach sie zu Boden zu schlagen, Sein so lang’ erwartetes Reich auf einmal errichte. (ebd.) 31 Abraham a Santa Clara (d. i. Johann Ulrich Megerle): Judas Der Ertz-Schelm Für ehrliche Leuth Oder: Eigentlicher Entwurff und Lebensbeschreibung des Iskariothischen Bößwicht, Salzburg 1686. 32 Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias, in: Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden, München 1962, S. 195–772. 

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Um dem Messias derart zur längst fälligen Anerkennung zu verhelfen, aber auch, um früher in den Besitz der ihm zugesagten Erbschaft zu gelangen und mit dem von den Pharisäern erwarteten Verräterlohn deren Geringfügigkeit auszugleichen, soll Judas seinen Herrn ausliefern. Zwar wird Judas, als er aufwacht, von Selbstzweifeln geplagt, jedoch vermag er diese erfolgreich zu rationalisieren. Die im Traum gebotene Rache verdankt sich einer höheren Autorität: »Wenn ein Gesicht sie gebeut, so ist die Rache geheiligt!« (S. 264) Nicht nur als Sohn, der im Auftrage des Vaters agiert, ähnelt Judas seinem Meister – er wird von Klopstock auch in seiner äußeren Erscheinung als ein Ebenbild von Christus beschrieben: »Sein ernstes Gesicht ist / voll von männlicher Schöne.« (S. 255) Der äußeren Ansehnlichkeit entspricht seine reine Seele, er verfügt über »ein Herz, das auch dem Guten erweicht ward« (S. 256). Das von pietistischer Gottesfurcht erfüllte und durch skrupulöse Introspektionen des eigenen Seelenlebens auch für die komplexen seelische Ambivalenzen anderer aufgeschlossene Publikum liest bei Klopstock die Geschichte eines Verräters, der eben nicht der inkarnierte Bösewicht ist, sondern ein gemischter Charakter, eine hochherzige, aber auch eifersüchtig liebende, mit sich hadernde Gestalt. In der Abendmahlsszene, als Judas erneut die Bevorzugung der anderen erleben muss, peinigen ihn Gewissensskrupel angesichts seines Vorhabens, über die er sich jedoch hinwegsetzt, da Jesus nicht sterben wird, nicht sterben kann – wenn doch, dann ist er dem Falschen gefolgt! Mit Worten, die auffallend an das Heilswort consummatum est ›es ist vollbracht‹ (Joh 19,30) erinnern, wird auch die Tat des Judas kommentiert: »Itzt hatt’ ers vollendet!« (S. 332) Doch schon beim Verhör des Jesus vor Pilatus erscheint Judas wieder von wütender Reue zerrissen und begeht schließlich Selbstmord aus Verzweiflung. Seine Seele wird Obaddon, dem Todesengel, übergeben, der ihm den Weg in die Verdammnis weist: »Dies ist der Gerichteten Wohnung und deine!« (S. 413) Selbst dem reuigen Teufel Abbadona wird in Klopstocks Messias trotz seiner Verworfenheit doch noch Verzeihung zuteil, während Judas vor Gottes Antlitz keine Gnade findet – dies verweist einmal mehr auf den eigentümlichen Widerspruch des Heilsgeschehens, das zwar den Verworfenen zur Durchsetzung seines Plans benötigt, diesen selbst aber am Heil nicht teilhaben lässt: Judas, Kain, Ahasver sind die exemplarischen Ausnahmen der göttlichen Gnade.



Judas Iskarioth

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Das Ausmaß, die Reichweite und die inhaltliche Brisanz der vornehmlich von der Literatur vorgelegten Korrekturen der Judasgestalt erlauben auch eine Re- und Neukonzeptualisierung des Narrativs vom Auserwählten, das Judas die Züge eines Helden verleiht. Im Hinblick auf die mittelalterliche Tradition der Legenda aurea hat Jutta Eming gezeigt, wie Emotionalisierung, Fiktionalisierung und die Integration in das mythische Erzählschema Judas zuletzt sogar als heldenhaft erscheinen lassen. So ist das Motiv der »unerhörten Zeugung«,33 von dem die Evangelien nichts wissen, wohl aber die Legenda aurea, auch aus mythologischen und heldenepischen Darstellungen bekannt.34 Der Inzest, in den Judas unfreiwillig hineingerät, mache ihn zu einem »Ausnahmemenschen«, der ein Tabu breche und ein Privileg für sich in Anspruch nehme.35 Nach der freudianischen Deutung des Vatermordes erscheint auch die Überwindung des Vaters als durchaus heldenhaft: Denn der Verrat an Christus wird, insbesondere deshalb, weil er durch die Ermordung von Judas’ Vater präfiguriert war, so auch lesbar als ein Versuch, eine Vaterfigur zu überwinden. Der Verrat erscheint auch als eine Form der Auflehnung gegen eine übermächtige, erdrückende Autorität. Und dies bedeute nicht nur eine schreckliche, eine sündhafte, eine nicht nachahmenswerte, sondern auch eine heldenhafte Tat. Mit dem Erzählschema vom Mythos der Geburt des Helden wird Judas als ein Mensch behandelt, der Außergewöhnliches vollbringt, indem er den Mut beweist, sich gegen eine gottgleiche Vaterfigur zu erheben.36 Klopstocks Judas hingegen widersetzt sich nicht wie der Judas der Legende der väterlichen Autorität, er beugt sich ihr, nicht anders als Jesus Christus, der im Garten Gethsemane in den Wunsch des Vaters einwilligt: »Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.« (Lk 22,42) Zwar wird die Reue des Judas bei den Evangelisten so wenig wie bei Klopstock begründet, aber wenn ihm als Lohn für seinen Beitrag zum Heilswerk jene 33 Vgl. Julia Weitbrecht: Genealogie und Exorbitanz. Zeugung und (narrative) Erzeugung von Helden in heldenepischen Texten, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 141 (2012), S. 281–309. 34 Elisabeth Lienert: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos, in: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 38– 63, hier 40. 35 Jutta Eming: Judas als Held. Formen des Erzählens in der mittelalterlichen Judaslegende, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001), S. 394–412, hier 408. 36 Ebd., S. 411. 

Hans Richard Brittnacher

ultimative Verdammung droht, von der in den Schriften die Rede ist (Mk 14,25; Lk 22,22; s. o.), gewinnt seine Tat als Freitod ein erhabenes Format: Sie erscheint nicht länger als ultimative Sünde, sondern als das prometheische Handeln eines Einzelnen, der nichts zu erwarten hat, aber im Tod eines letztes Mal über sich selbst verfügen will. Die Entscheidung zum Freitod, Judas’ ultimative Absage an den Gnadengott, wird bei Klopstock durch die implizite Berufung auf mythische Vorbilder zum Ausweis seiner Exzeptionalität. In den literarischen Korrekturen der Judasgestalt erweist sich die Bewertung des Freitodes immer wieder als besondere Herausforderung. In Walter Jens’ Streitschrift formulieren die mit der Prüfung des Kanonisierungsantrags befassten Dominikaner ein Sondergutachten, in dem sie die These entwickeln, nicht allein der Verrat Jesu, auch der Selbstmord, der »Würgetod im Baum«, sei ein Liebesakt gewesen: Judas habe den geliebten Jesus auch im Tod nicht verlassen, ihm im Sterben vorangehen wollen. Die Dominikaner begründen ihre provozierende These mit einer noch provozierenderen Antizipation der letzten Gedanken des Gekreuzigten: »Judas, sollte Jesus denken, war tapfer. Ich will es auch sein. So schwer mein Sterben ist, seins war noch schwerer. Dank Bruder, daß du mir vorangegangen bist.«37 Klopstocks Messias hat das literarische Startsignal für eine Neubewertung des Verhältnisses von Jesus und Judas gegeben, ob dabei der Verrat als Tat eines eifersüchtig Liebenden gedeutet wird38 oder als Versuch motiviert scheint, die Herstellung des Gottesreichs voranzutreiben.39 Der Judas dieser häretischen Tradition40 erscheint nicht länger als grundlos böser, sondern als psychologisch immerhin plausibel Handelnder, als Rivale im Ringen um die Gunst einer Frau oder der rechten Auslegung des gemeinsamen Glaubens, als patriotischer Befreiungskämpfer, als ungeduldiger Jünger, dem es mit dem Eintreffen des Messias nicht schnell genug gehen kann oder schließlich als Herzensfreund, eingeweiht in die Pläne des anderen, bereit, diesem in den Tod zu folgen: ein vorbildlicher Freund also, ein treuer Gefährte, vielleicht sogar ein Märtyrer – aber auch ein Held? Die Exorbitanz eines Helden meint gerade nicht Idealität:41 Exorbitante Helden sind maßlos, oft genug tückisch oder grausam. Dass sie tun, 37 Jens (Anm. 28), S. 48. 38 So bei Leonid Andrejew: Judas Ischariot, 1908; Georg Heyms Judasgedichte (Pilatus, Judas, Der Garten, Die Silberlinge, Der Baum), um 1910; Ingeborg Drewitz: Der Mann, der Gott gehasst hat, 1954. 39 Carl Sternheim: Judas Ischarioth. Die Tragödie vom Verrat, 1901; Egon Friedell: Die Judastragödie, 1920; Schalom Asch: Der Nazarener, 1939; Max Brod: Der Meister, 1952. 40 Wichtige Rezeptionszeugnisse hat die vorzügliche Anthologie von Krieg / ZanggerDerron (Anm. 16) versammelt und kommentiert. 41 Vgl. Lienert (Anm. 34), S. 39, sowie in der Einführung dieses Buchs, S. 12–14. 

Judas Iskarioth

Abb. 1 Der Geldbeutel: Albrecht Dürer, Abendmahl

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was sonst kein anderer zu tun wagt oder vermag, macht sie zu Helden, nicht der Adel ihrer Gesinnung. Von der Außerordentlichkeit ihrer Taten erzählen ihre Requisiten, die Paraphernalien der Helden: die Tarnkappe Siegfrieds, das Horn Rolands, das Fell des nemeischen Löwen bei Herakles. Judas erhält sein charakteristisches Merkmal erst im Zuge der antijüdischen Rezeptionsgeschichte: den Geldbeutel, den seine Hand umklammert und zu verbergen sucht, das Zeichen seiner Käuflichkeit. Auf unendlich vielen Abendmahlsdarstellungen identifiziert er Judas als den einen unter den vielen, der seinen Herrn verraten wird (Abb. 1). Dass Judas zum Verräter werden muss, damit Jesus zur Gründungsfigur einer Religion der Versöhnung werden kann, verleiht dem Geldbeutel den Charakter eines ikonischen Symbols, das von einer Tat zeugt, die ihresgleichen sucht, exorbitant ist. Die Umwertung des Judasbildes gilt auch für den publizistisch wohl einflussreichsten Beitrag der letzten Jahre zur Judasliteratur: Amos Oz’ Roman Judas (hebr.: Das Evangelium nach Jehuda) von 2014. Er nützt das Thema des Verrats zur historischen Reflexion des Konfliktes zwischen Juden und Arabern und die Figur des Judas zur Rehabilitation des Verräters als des ersten und einzig wahren Christen. Es mag nicht überraschen, 

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dass Amos Oz, ein publizistisch aktiver Vertreter der Zwei-Staaten-Lösung, der selbst immer wieder von israelischen Fundamentalisten als Verräter bezeichnet wurde, für eine Sicht auf den Verrat als die unpopuläre Haltung eines politisch Weitsichtigen plädiert: Als Verräter werden eben auch Gestalten wie Abraham Lincoln, der die Sklaven befreite, Charles de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entließ, oder Anwar al-Sadat, der Präsident Ägyptens, der vor der israelischen Knesset sprach, angesehen – sie alle sind Verräter, deren entschlossenes Handeln in prekären historischen Momenten heillose Stagnationen überwunden hat. Der Verrat der Intellektuellen, den Julien Benda in seinem berühmten Buch als wichtiges Charakteristikum einer faschismusaffinen Intelligentsia begriffen hat, die, frustriert von ihrer politischen Ohnmacht, den Schulterschluss mit der Macht sucht und damit ihre kritische Potenz opfert,42 hat im Attentat vom 20. Juli 1944 wie in weiteren Renegaten der faschistischen und stalinistischen Diktaturen eine Revision erfahren, die den Verrat als ehrenwerte, oft sogar positiv heldenhafte Handlung rehabilitierte.43 Verrätertum ist ambivalent. Im Falle des Judas stimmen weitere Aspekte mit der heroischen Exorbitanz im Sinne Klaus von Sees überein.44 Wie der exorbitante Heros nicht prädestiniert zum Führen ist,45 so gewinnt auch Judas sein außeralltägliches Charisma eher aus seiner Soziophobie, nicht als Anführer, sondern als intentionaler Außenseiter.46 Das Handeln des Judas zeugt in seiner Unbedingtheit und Rücksichtslosigkeit von einem Heroismus, der keine imitatio will. Es geht um eine Tat, die keineswegs vorbildlich ist und dies auch keineswegs sein kann, sondern »in erster Linie um das, was kein anderer gewagt und/oder vollbracht hätte«:47 die Auslieferung des Erlösers ohne Rücksicht auf das eigene Schicksal und Nachleben. Zwar hat Judas, das unterscheidet ihn von Jesus, keine Anhänger affektiv an sich binden können. Aber wenn die Überlegungen von Walter Jens, die 42 Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen, mit einem Vorwort v. Jean Améry, München 1978 (frz. La trahison des clercs, Paris 1927). 43 Vgl. Denken im Zwiespalt. Über den Verrat der Intellektuellen im 20. Jahrhundert, hg. v. Werner von Bergen u. Walter H. Pehle, Frankfurt / M. 1996. 44 Klaus von See: Die Exorbitanz des Helden – die Texte und die Theorien, in: ders., Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, mit einem Vorwort v. Julia Zernack, Heidelberg 2003, S. 153–164. 45 Im Unterschied zu Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, S. 26. 46 Hans Mayer: Außenseiter, Frankfurt / M. 1975, unterscheidet den intentionalen, aus freien Stücken oppositionellen Charakter vom existenziellen, durch Geburt (Geschlecht, Hautfarbe) zur Marginalität designierten Außenseiter. 47 Lienert (Anm. 34), S. 54. 

Judas Iskarioth

auch in der Theologie Resonanz gefunden haben, triftig sind – müssten dann nicht auch die Christen sich zu einer Verehrergemeinschaft des Judas zusammenfinden, ohne dessen Beitrag die Erlösung ausgeblieben wäre? Judas – durchaus ein Held ! Vielleicht könnte man von Jesus und Judas als einem Heldenduo sprechen, von denen der eine den Tugendhelden und Gemeinschaftsstifter, der andere den exorbitanten Helden und Outlaw darstellt, der eine den triumphierenden, der andere den tragischen Helden.48 Und vielleicht finden beide Heldentypen genau darin ihre Pointe, wie sie auch Uwe Saegers Roman Die gehäutete Zeit in der Verschmelzung beider Protagonisten zu einem Jejudassus anzeigt: Gemeinsam verkörpern sie so etwas wie einen vollkommenen Helden.49 Auch die bildende Kunst hat gelegentlich – vielleicht inspiriert von den Inkonzinnitäten der Judasgeschichte in den Evangelien – dieser Idee immer wieder zu ihrem Recht verholfen. Jens hat an Albrecht Dürer erinnert, der in seiner Passion Judas und Jesus so dargestellt habe, »als seien die beiden allein: Ringsherum Schwerter und wütende Gesten ; sie aber, in der Umarmung, spüren die Schläge nicht.«50 Ein anderes bekanntes Beispiel ist der Judaskuss von Giotto di Bondone, in der Judas – durchaus in Übereinstimmung mit einer Tradition der physiognomischen Denunziation des Juden – Jesus mit seinem leuchtenden gelben Mantel umfängt: Wie ein Liebespaar, ungerührt von dem gewalttätigen Getümmel mit aufgereckten Lanzen und Knüppeln, stehen Täter und Opfer, Judas und Jesus, vereint im Kuss, reglos und lautlos im Zentrum des Bildes (Abb. 2). Auch die traurige Zärtlichkeit, mit der sich auf Oskar Kokoschkas Lithographie Jesus und Judas die beiden einander nahe sind, erzählt eine andere Geschichte als die Evangelien, rückt den Erlöser und seinen Helfer zusammen statt auseinander (Abb. 3). In seiner Agonalität ist Judas nicht nur allein, wie es sich für den Helden gehört, sondern auch, in einer eigentümlichen Stilisierung der Selbstmächtigkeit des Helden, radikal einsam. Heldenhaft ist sein Handeln, indem es, Zug um Zug, eine fatale Konsequenz beweist, die aufs 48 Vgl. Bröckling (Anm. 45), S. 29. – In ihrem Music-Clip Judas besingt Lady Gaga Jesus und Judas als Männerfreunde einer Bikergang, die sich zuletzt in der gegebenenfalls auch gewaltsamen Verfügung über Frauen wie Maria Magdalena oder Salome einig sind. Vgl. Hans Richard Brittnacher: I. N. R .I. 2000 – Wo bleibt Judas? Neueste Blicke auf die Passionsgeschichte (Ann Leibowitz, Bettina Rheims, Lady Gaga), in: Religion als Imagination. Phänomene des Menschseins in den Horizonten theologischer Lebensdeutung. Fs. f. Marco Frenschkowski, hg. v. Lena Seehausen u. a., Leipzig 2020, S. 259–272. 49 Saeger (Anm. 29), S. 111. 50 Jens (Anm. 28), S. 53. 

Hans Richard Brittnacher

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Ganze hinauswill, sich mit Halbheiten und Waffenstillstand nicht abfinden will, rücksichtslos gegen andere und sich selbst, und sogar den eigenen Tod in Kauf nimmt. Selbstlos ist sein Handeln, indem er, anders als Christus, anders auch als die vielen Märtyrer in der Nachahmung von Christi Leiden, die Opferprämie abweist, auf die doch jedes Opfer Anspruch erheben kann: unschuldig, für andere, im Namen der anderen gelitten und geduldet zu haben, an ihrer Stelle gestorben zu sein und daher einmütig, dankbar und kollektiv erinnert zu werden. Seiner wird niemals gedacht werden, allenfalls im Fluch, der ihm in die unerlöste Ewigkeit folgt. Einsam hängt Judas am dürren Wüstenbaum, vom eigenhändig geknüpften Strick zu Tode gewürgt: Jämmerlich und einsam zu sterben, um den glorreichen Tod eines anderen zu besiegeln, sich selbst auf immerdar aus den Augen und dem Gedächtnis zu tilgen, um die Ewigkeit eines anderen zu beglaubigen – heldenhafter geht es nicht. 

Judas Iskarioth

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In der Judas-Figur avanciert damit neben der Exorbitanz auch eine fundamental selbstlose Duldungs- und Opferbereitschaft zu einem wesentlichen Kriterium im Register des Heldentums. In der Fundamentalanthropologie von René Girard ist das Opfer eine Maßnahme, die Gewalt stillzustellen: Die polarisierenden Kräfte der Gemeinschaft, die sich in der Opferung eines Dritten geeinigt haben, erinnern sich des Opfers als einer Gemeinschaft und Versöhnung stiftenden Leistung.51 Das gilt auch für Christus, nicht aber Judas. Dieser bereichert das Opfermodell um die Gestalt des dämonischen Opfers und damit eines dunklen Helden, dessen Perhorreszierung die Überlebenden und Gläubigen zusammenschweißt. Wie bei der anderen, der hellen Version des Helden entwickelt sich auch seine Fama, »indem man von ihm erzählt (und ihn in dieser und durch diese Erzählung über andere Helden hinaushebt)«.52 Aber sein Nachleben in der kulturellen Erinnerung entspricht nicht der typischen Heldenmemoria: Er ist im Hass verewigt, nicht im rühmenden oder sogar liebenden Angedenken. So gesehen ist Judas weit dunkler als der »problematische Held«, von dem Klaus von See spricht:53 eine Figur des Äußersten, die das düstere Potential der Religion auf sich nimmt, bevor es die Gesellschaft zersetzen kann. Er ist wie alle Helden eine Figur der Selbstmächtigkeit, aber löst sich in einer agonalen Aufgipfelung aus dem Kontext der Memoria und wird damit zu einem Helden, dessen Exorbitanz nicht darin besteht, viele Feinde besiegt zu haben, 51 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Düsseldorf 2014 (frz. Paris 1972). 52 Lienert (Anm. 34), S. 54. 53 Klaus von See: Was ist Heldendichtung?, in: Europäische Heldendichtung, hg. v. dems., Darmstadt 1978, S. 1–38, hier 34 f. 

Hans Richard Brittnacher

sondern sich antizipativ dem vernichtenden Urteil der Gläubigen zu beugen und sich selbst zu annihilieren. Judas ist exorbitanter Held als Ikone einer Einzigartigkeit. Judas, eine Figur des Dritten, verweigert die Zustimmung zum Konsens: Er ist nicht auf der Seite der »Hosianna« jubelnden Anhänger, noch weniger auf der Seite derer, die »cruzifige« rufen, weil seine Handlung Voraussetzung einer Auferstehung des Geopferten ist. Er setzt nicht nur die Pharisäer und Schriftgelehrten und ihr Kreuzigungsgeschrei ins Unrecht, er geht auch weit hinaus über die Einfalt der ›Frohbotschaft‹, deren Lehre von Nächsten- und Gottesliebe die aporetischen Voraussetzungen religiösen Denkens und die Einsicht in die Gewalt als Bodensatz der Religion verschweigt.

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Abb. 1, 2 gemeinfrei, Quelle: Wikimedia Commons, letzter Zugriff: März 2022. Abb. 3 Quelle: Judas. Ein literarisch-theologisches Lesebuch, hg. v. Matthias Krieg u. Gabrielle Zangger-Derron, Zürich 1996, S. 2.



Jana Mikota

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»Heroischen Figuren analytisch auf die Spur zu kommen, ist ein Unternehmen zwischen Herkules-Aufgabe und Sisyphus-Arbeit«, heißt es in einem jüngeren Forschungsbeitrag,1 womit auch die Problematik des vorliegenden Beitrages umrissen ist, den Heldenfiguren der aktuellen Kinderliteratur zu begegnen.2 Fragt man jedoch Leserinnen und Leser nach Heldenfiguren in der Kinderliteratur, scheint die Aufgabe leicht zu sein, denn es werden insbesondere diese genannt: Pippi Langstrumpf, Sams, Momo oder Bastian.3 Ihre Abenteuer sind vielen Leserinnen und Lesern vertraut, die Figuren verkörpern Selbstständigkeit, Mut und Hilfsbereitschaft und damit alle Eigenschaften, die man gängigerweise mit dem Begriff Held verbindet. Auch in den sporadischen Forschungsbeiträgen zu dem Gegenstand spielen diese Namen eine wichtige Rolle. Allerdings werden in der Kinder- und Jugendliteraturforschung Figuren wie Pippi Langstrumpf, Sams und auch Momo in der Tradition des fremden Kindes betrachtet. Wenn man sich daher mit Heldenfiguren in der Kinderliteratur auseinandersetzen möchte, finden sich unterschiedliche Traditionsstränge: die mythologischen und die ideologischen Helden, die Antihelden, die Superhelden sowie das fremde Kind. Der folgende Beitrag untersucht Helden-, Antihelden- und Superheldenfiguren in der aktuellen realistischen Kinderliteratur,4 möchte Traditionslinien innerhalb der Kinderliteratur und der Heldendichtung aufzeigen, aber auch die 1 Ann-Christin Bolay u. Andreas Schlüter: Faszinosum Antiheld, in: helden.heroes. héros 3 (2015), S. 5–8, hier 5. 2 Gemeint ist damit jene Literatur, die an Kinder bis etwa 12 Jahre adressiert ist. In der Jugendliteratur variiert der Heldenbegriff ebenfalls und wird in Romanen wie Es wird keine Helden geben von Anna Seidl (Hamburg 2014) dekonstruiert. Eine Auseinandersetzung auch mit der Jugendliteratur würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 3 Karin Vach: Kleine Heldinnen und Helden der Literatur, in: Mainkind, 10. 10. 2021, https://mainkind-magazin.de/kleine-heldinnen-und-helden-der-literatur/. 4 Vgl. Carsten Gansel: Realistisches Erzählen, in: Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. Tobias Kurwinkel u. Philipp Schmerheim, Stuttgart 2020, S. 105–115. 

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Zuschreibungen bestimmter Merkmale hinterfragen und den Blick auf Heldenfiguren weiten. Ich hab mal mit Frau Dahling einen Film gesehen über den berühmten griechischen Helden … Also, er fing mit O an und war mit einem Holzpferd im Krieg gewesen, und danach fuhr er jahrelang auf seinem Schiff durch die Gegend, um zu seiner geliebten Frau zurückzukehren. Die war zu Hause geblieben, wo sie inzwischen von tausend Männern belagert wurde, die alle scharf auf sie waren. Das wusste der O nicht, sonst hätte er sich vielleicht ein bisschen mehr beeilt.5 Kurz darauf öffnet sich die Tür einen kleinen Spalt und Willi schlüpft heraus. Wir nicken uns zu. Wahre Freunde, wie Winnetou und Old Shatterhand, brauchen nicht viele Worte.6 Malaki drehte sie zu sich herum und küsste ihr die Tränen aus dem Gesicht. ›Wir haben gar keine andere Wahl, als zu kämpfen. Wir sind nicht allein. Schon vergessen? We young people are unstoppable !‹ Tahnee musste lächeln. ›Das ist aber nicht von dir !‹ ›Original Greta ! Wir schaffen es ! Das mit dem Klima …‹7 Drei Zitate aus drei unterschiedlichen Romanen stellen die Vielfalt der Heldenbilder in der rezenten Kinderliteratur vor. Rico im ersten Zitat bezieht sich auf eine mythologische Heldenfigur ; der Autor Andreas Steinhöfel nimmt somit die Tradition der Heldendichtung auf, variiert diese jedoch und zeigt nicht einen Helden, der sich in das Konzept der heroischen Exorbitanz einordnen lässt. Vielmehr dient die intertextuelle Referenz nur zur Beschreibung einer Szene, denn Rico entspricht nicht dem antiken Helden. Hermann im zweiten Zitat dagegen schwärmt für Westernhelden und wird selbst im Laufe der Handlung zu einem Helden. Aber bereits diese ersten Zitate deuten das breite Spektrum der Heldenfiguren in der Kinderliteratur an: vom antiken zum Helden der Wild-West-Romane des 19. Jahrhunderts. Kennzeichnend ist zudem, dass sie sich auch von tradierten Heldentypen abwenden: Hermann und Rico zitieren den exorbitanten Heldentyp nach Klaus von See, entsprechen ihm selbst aber nicht. Im dritten Beispiel wird der Klimawandel thematisiert und die Protagonisten Tahnee und Malaki werden als Um5 Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten, Hamburg 2008, S. 59. 6 Leonora Leitl: Held Hermann. Als ich Hitler im Garten vergrub, Wien 2021, S. 21. 7 Carolin Philipps: Tuvalu. Bis zum nächsten Sturm, Berlin 2021, S. 145. 

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weltschützer eingeführt. Ihre Referenzheldin ist Greta Thunberg samt der Fridays for Future-Bewegung. Die Figuren der drei Beispiele nutzen unterschiedliche Traditionen, um sich mit Heldenfiguren zu identifizieren, Stimmungen zu beschreiben oder ihre Taten nachzuahmen. Sie repräsentieren das Spektrum von Heldenkonzepten, die im Folgenden anhand ausgewählter Kinderromane vorgestellt werden.

Eine definitorische Annäherung

Im Metzler-Literaturlexikon wird als Held jemand bezeichnet, »der durch mutiges und moralisches Handeln ein Vorbild ist und entsprechend verehrt wird. Vgl. hierzu die Heldendichtung. Oft besitzt er übermenschliche Züge«.8 Im Unterschied dazu hat Klaus von See aus jener Heldendichtung von der Ilias bis zum Cid das Konzept der heroischen Exorbitanz abgeleitet, in der er nicht die »moralische Vorbildhaftigkeit« als das »eigentlich Heldische am Helden« sieht, sondern »Brutalität, Verwandtenmord und Verrat [als] charakteristische Züge« benennt.9 Der Held folgt seinen Impulsen und handelt »ohne Rücksicht auf sich und andere«.10 Der Begriff des Helden ist somit mehrsinnig: Textfunktional meint er zunächst die Hauptfigur oder den Protagonisten in einer Geschichte und differenziert nicht nach bestimmten Eigenschaften. Der Artikel im Metzler-Lexikon engt den Begriff ein und bezieht ihn auf die Heldendichtung, zu der Heldenepos, Heldenlied oder auch Heldensage gezählt werden. Wulff folgt in seinem Überblick dieser Begriffsverengung und differenziert nach ideologischen und mythologischen Kriterien: Helden sind außerliterarische Figuren, die sich auf Mythen oder Ideologien beziehen.11 Wulff sieht vor allem die heldische Tat im Mittelpunkt. Damit sind Helden sowohl psychisch als auch physisch stark, vollbringen übermenschliche Taten und können von Göttern abstammen. Klaus von See 8 Hansgerd Delbrück: [Art.] Held, in: Metzler Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen, hg. v. Günther u. Irmgard Schweikle, Stuttgart 1990, S. 192 f. 9 Klaus von See: Was ist Heldendichtung?, in: Europäische Heldendichtung, hg. v. dems., Heidelberg 1978, S. 1–38, hier 38. 10 Ders., Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt / M. 1971, S. 69. 11 Hans J. Wulff: Held und Antiheld, Prot- und Antagonist: Zur Kommunikationsund Texttheorie eines komplizierten Begriffsfeldes. Ein enzyklopädischer Aufriss, in: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Fs. f. Marianne Wünsch, hg. v. Hans Krah u. Claus-Michael, Kiel 2002, S. 431–448. 

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weitet den Blick wieder und sieht im Helden jemanden, der die »Möglichkeiten dessen absteckt, was der Mensch in extremen Äußerungsformen wollen oder tun kann«.12 Bislang existieren wenig Untersuchungen zum Antihelden. In der Regel entspricht er dem Gegenteil des strahlenden, mutigen Helden.13 In der Kinderliteratur repräsentiert ein Antiheld einen unterlegenen, aber meist sympathischen Außenseiter, der sich immer wieder behauptet und oftmals seine Unterlegenheit durch Witz und Intelligenz kompensiert. Aber er entspricht eben nicht jenen strahlenden und starken Helden, sondern wirkt oft schmächtig. Vogler sieht in dem Antihelden eine Figur, die »in den Augen der Gesellschaft zwar ein Außenseiter oder gar Krimineller ist, mit dem das Publikum aber gleichwohl sympathisiert«.14 Garbe hebt in ihren Auseinandersetzungen mit dem Antihelden auch den Aspekt der Geschlechterzuweisung hervor, denn vor allem männliche Antihelden widersprechen bestimmten Rollenmustern.15 Als drittes Heldenkonzept gelten mir Superheldinnen und -helden. 1938 ist das Geburtsjahr des Superheldencomics, denn Superman tritt in die Welt und agiert als strahlender Held. Superhelden besitzen besondere Fähigkeiten. Sie können fliegen, haben überirdische Kräfte und oftmals eine Doppelidentität. Ihr Ziel ist es, sich für Gerechtigkeit einzusetzen und das Böse zu bekämpfen.16 Zusammenfassend lassen sich mit Blick auf eine Definition des Begriffs Held folgende Aspekte festhalten: (1) Der Held wird nur durch seine aktiven Handlungen zum Helden ; (2) seine Taten sind nur außerhalb der heldenepischen Tradition gut gemeint ; (3) Helden unterscheiden sich von der durchschnittlichen Bevölkerung und werden wiederum nur außerhalb der heldenepischen Tradition zu Vorbildern.17 Antihelden sind demgegenüber sympathische Außenseiterfiguren, die sich weniger 12 Von See (Anm. 9), S. 38. 13 Vgl. das oben Anm. 1 genannte Heft. 14 Christopher Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos, Frankfurt / M. 2007, S. 97. 15 Christine Garbe: Antiheldengeschichte, in: Attraktive Lesestoffe (nicht nur) für Jungen. Erzählmuster und Beispielanalysen zu populärer Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. ders. u. a., Baltmannsweiler 2018, S. 68–78. 16 Vgl. Wulff (Anm. 11), außerdem Anna Stemmann: Gebrochene Helden, starke Männer. Geschlechtlich codierte Mythosstrukturen im Superheldengenre, in: Immer Trouble mit Gender? Genderperspektiven in Kinder- und Jugendliteratur und -medien(forschung), hg. v. Petra Josting u. a., München 2016, S. 119–129. 17 Vgl. auch Nora Weinelt: Zum dialektischen Verhältnis der Begriffe Held und Antiheld. Eine Annäherung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, in: helden.heroes. héros 3 (2015), S. 15–22. 

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durch äußere Stärke auszeichnen als durch Witz und Intelligenz. Superhelden zeichnen sich durch außergewöhnliche Stärke aus. Die positive Besetzung von literarischen Heldenfiguren ist somit nur eine Alternative dieser Konzepte ; die möglichen Einflüsse solcher Figuren auf Leserinnen und Leser sind deshalb wohl nicht nur im Sinne von Vorbildhaftigkeit zu verstehen. Dies soll im Folgenden mit Blick auf die (realistische) Kinderliteratur weiter verfolgt werden.

Diversität von Heldinnen und Helden in der Kinderliteratur

In der Kinderliteratur, die erst seit der Romantik auch das Kind als Handlungsträger kennt, wird auch in dieser Zeit dem Kind als einer »heroischen Heldenfigur überhaupt erst« der Weg bereitet.18 Eine Heldendichtung, wie sie oben genannt wurde, kennt die Geschichte der Kinderliteratur nicht. Der Begriff des Helden ist hier vielfältig und wandelbar: Insbesondere der männliche Held hat sich im Laufe der Literaturgeschichte verändert: von einem starken, abenteuerlustigen Typen, der sich in der Kinderliteratur im 19., aber auch in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts findet, bis hin zu einem Helden, der nicht nur tradierte männliche Eigenschaften besitzt, sondern den neuen männlichen Vorstellungen des 21. Jahrhunderts entsprechen möchte. Schilcher stellt fest, dass seit den 1970er Jahren das Klischee des Abenteuerhelden verschwunden ist.19 Hinzu kommt die bereits zu Beginn des Beitrages erwähnte Differenzierung von Heldenfiguren und Geniusgestalten, fremden oder ewigen Kindern:20 Dieses Motiv des ewigen Kindes […] liegt nahe an jenem des erlösenden Kindes, das in christlicher Tradition stehend in seiner Reinheit

18 Heidi Lexe: Stark wie Herakles und flach wie Papier. HeldInnenfiguren in der Kinderliteratur, in: Transformierte Kindheit. Kindheitsbilder, Kindheitsabbilder, Kindheitskonstruktionen, hg. v. Nicole Kalteis u. Lisa Kollmer, Linz 2007, S. 120– 132, hier 123. 19 Anita Schilcher: Geschlechtsrollen, Familie, Freundschaft und Liebe in der Kinderliteratur der 90er Jahre. Studien zum Verhältnis von Normativität und Normalität im Kinderbuch und zur Methodik der Werteerziehung, Frankfurt / M. 2001. 20 Vgl. hierzu Hans-Heino Ewers: Kinder, die nicht erwachsen werden. Die Geniusgestalt des ewigen Kindes bei Goethe, Tieck, E. T. A. Hoffmann, J. M. Barrie, Ende und Nöstlinger, in: Kinderwelten. Kinder und Kindheit in der neueren Literatur. Fs. f. Klaus Doderer, hg. v. Freundeskreis des Instituts für Jugendbuchforschung Frankfurt e. V., Weinheim 1985, S. 42–70. 

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(oder Naivität) andere Kinder zu erlösen (befreien) vermag, wie jenes geheimnisvolle fremde Kind in E. T. A. Hoffmanns Märchen.21 Nach Lexe existiert in der Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts »ein fast symbiotisches Miteinander dieser beiden Motive«.22 In der Kinderliteratur des 21. Jahrhunderts, insbesondere in der sog. realistischen Kinderliteratur, finden sich Heldinnen und Helden, die man in Anlehnung an den in der Öffentlichkeit etablierten Begriff als Helden des Alltags bezeichnen kann. Antihelden und Superhelden sind weitere Spielarten des Motivs, die unterschiedlich variiert werden. Dennoch: Eine Untersuchung der Heldenfiguren im realistischen Kinderroman muss sich von diesen tradierten Zuschreibungen abwenden und die Entwicklung sowie die heldenhaften Taten betrachten. Das Konzept der heroischen Exorbitanz nach von See lässt sich natürlich nur bedingt auf die Heldinnen und Helden in der realistischen wie auch der phantastischen Kinderliteratur des 21. Jahrhunderts anwenden ; doch wenn kindliche Figuren, wie noch gezeigt werden wird, ihre Rachephantasien ausleben und sich einem moralisch vorbildhaften Handeln entziehen, dann kann dies als Spur oder Reflex heroischer Exorbitanz angesehen und auf diese Weise in das Konzept eines kindlichen Helden integriert werden. Und eine solche anarchische Heldenfigur kann vielleicht auch, wie die typischen Heldinnen und Helden der realistischen Kinderliteratur auch, zur Orientierung oder als emotionales Ventil dienen. Damit fügt sich das Exorbitanz-Konzept ein in die gegenwärtige Tendenz, Vielfalt und Diversität auch innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur mit Blick auf die Hauptfiguren stärker zu berücksichtigen. Diversität umfasst unterschiedlich Dimensionen, die mit Blick auf den Kinderroman wie folgt zusammengefasst werden können: Geschlecht und sexuelle Orientierung, Familienkonstellation (Familie, Geschwister), Alter, geografische Lage, Ethnie (race), Religion oder Weltanschauung, Beeinträchtigung (disability), sozioökonomischer Status (class).23 Im Rahmen dieser Diversität werden im Folgenden zunächst solche Heldenfiguren vorgestellt, die sich als Beispiele mit Vorbildfunktion für Wer21 Lexe (Anm. 18), S. 124. 22 Ebd., S. 125. 23 In diesem Rahmen berührt sich die Anwendung des Exorbitanz-Konzepts etwa mit dem Versuch von Guy Kabengele und Kerstin Finkelstein, Heldinnen und Helden als Klischeebrecher und Türöffner neu zu denken. Sie präsentieren 22 heroes of color, die unterschiedliche Berufe ausüben. Es sind Menschen, denen man im Alltag begegnet, die sich nicht von »Rollenmustern« einengen lassen und die »trotz struktureller Barrieren ihren Weg« gehen ; vgl. Guy Kabengele u. Kerstin Finkelstein: Black Heroes. Schwarz – Deutsch – Erfolgreich, Berlin 2021, S. 10. 

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te und Normen des gegenwärtigen Gesellschaftsbildes verstehen lassen, bevor dann solche Heldenfiguren, die aus dieser Funktion teilweise ausbrechen, als Reflexe oder Echos des exorbitanten Heldentyps gedeutet werden. Die neuen, ĞÚåŇĮŇďĞžÏĚåĻ-IPHIRMQc/ELVLYRHIVX

Die Darstellung männlicher Heldenfiguren, von Männlichkeit und Heldentum werden in der Kinderliteratur thematisiert, kritisch verhandelt und vielfach variiert. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert kennt man die starken Helden, die einerseits die Werte der Gesellschaft vermitteln, eine Vorbildfunktion übernehmen und zu Identifikationsfiguren für die Leserinnen und Leser werden. Doch während in der Heldenepik von einem Helden und seinen Taten erzählt wird, wird in den Geschichten für Kinder nicht ein Einzelner gezeigt, der in extremen Situationen handeln muss, sondern der Schwerpunkt liegt vielmehr im Zusammenwirken mehrerer Protagonisten.24 Damit ist zwar auch der Held mutig, unerschrocken, aber auch »blasser«,25 denn er ragt nicht als Einzelner heraus. Im Laufe der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur wandelt sich aber das Bild. Während man noch im phantastischen Kinder- und Jugendroman den starken Helden kennt, zeichnen sich Helden im realistischen Kinderroman seit den 1970er Jahren insbesondere durch leise Taten aus. Es sind Taten, die man vor allem unter ideologischen Aspekten betrachten kann.26 Exemplarisch dafür sollen der Roman Held Hermann. Als ich Hitler im Garten vergrub (2020) von Leonora Leitl und Als wir Adler wurden (2020) von Uticha Marmon vorgestellt werden. Held Hermann erzählt von »Heldinnen und Helden und anderen tapferen Menschen«27 während der NS-Zeit in Österreich und nimmt den Begriff des Helden vielfältig auf. Einerseits wird die Hauptfigur Hermann im Laufe der Geschichte zu einem Helden, andererseits liest er Geschich24 Susanne Pellatz-Graf: Abenteuer- und Reiseromane und -erzählungen für die Jugend, in: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1850 bis 1900, hg. v. Otto Brunken u. a., Stuttgart 2008, Sp. 616–708, hier 623. 25 Ebd., Sp. 623 f. 26 Die Umweltschützerinnen, die sich im Kontext der Fridays for Future-Bewegung hervortun, inspirieren den Buchmarkt seit etwa 2019 zu einer neuen Heldengattung, der sog. Aktivisten-Biografie, wie z. B. Christine u. Benjamin Knödler: Young Rebels. 25 Jugendliche, die die Welt verändern!, München 2020; Patricia Thoma: Activists, Berlin 2020; Julieta Canépa u. Pierre Ducrozet: Wir machen Zukunft, übersetzt v. Kristina Petersen, Stuttgart 2021. Diese Heldengattung spiegelt sich auch in fiktionalen Texten wider. 27 Held Hermann (Anm. 6), Klappentext. 

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ten aus dem Wilden Westen und lernt die Abenteuerhelden dieser Zeit kennen. Er begegnet auch Helden in seinem Umfeld, denn seine Familie sympathisiert nicht mit der nationalsozialistischen Ideologie und verteilt u. a. auch Flugblätter. Leitl stellt damit vor dem politischen Hintergrund einen Diskurs über Helden und Heldentum auf. Hermanns Vater musste aufgrund seiner politischen Aktivitäten ins Gefängnis, wird von einem Teil der Bevölkerung als Verbrecher, von anderen als Held betrachtet: Kurt meint, diese Gefängnisstrafen von Papa zählen nicht, weil das was Politisches war. Papa hat ja keine Verbrechen begangen. Bei ihm war das eher so wie bei Robin Hood. Der hat auch für die Armen gekämpft. Bei Papa waren das halt die schwer schuftenden Brauereiarbeiter. (S. 101) Der Roman zeigt nicht nur politisches Handeln, sondern setzt sich indirekt auch mit der Frage der Perspektive auseinander. Ist man dennoch ein Held, obwohl man gegen Gesetze verstößt? Kurt, Hermanns älterer Bruder, bejaht es und betrachtet die Taten des Vaters nicht als Verbrechen; und Hermann erkennt, dass er in einer »Heldenfamilie« (ebd.) lebt, mit dieser jedoch aufgrund der politischen Situation nicht angeben kann. Damit wird sein Vater zu einem stillen Helden, der einen Kontrast zu den Helden der Western-Geschichten darstellt. Uticha Marmon unternimmt in ihrem Roman Als wir Adler wurden28 eine Dekonstruktion des traditionellen Heldenbegriffs. Im Mittelpunkt stehen Jannik, seine beste Freundin Loni sowie weitere Kinder, die ihre Nachmittage miteinander verbringen und in eine Welt voller Abenteuer eintauchen. Insbesondere Bo, Janniks älterer Bruder, erfindet neue Spiele und Regeln. Plötzlich beschließt Bo, dass Loni, deren Mutter aus Kenia stammt, anders ist und die Kinder nicht mehr mit ihr spielen können. Hintergrund ist die Entlassung von Arbeiterinnen einer Firma und der Einstellung von Leiharbeiterinnen, zu denen auch Lonis Mutter gehört. Die Autorin entfaltet eine Geschichte, in der es auch um Zivilcourage und Mut geht und Jannik sich entscheiden muss. Heldentum bedeutet nicht nur äußere Kraft, sondern auch den Bezug auf bestimmte Werte eines friedlichen Miteinanders. Beide Romane stellen die Figur des Helden in den Kontext politischer Handlungen und führen Vorbilder vor, die sich vor allem durch innere Stärke charakterisieren lassen. Die neuen, ideologischen Helden müssen jedoch nicht ausschließlich die Hauptfiguren der Handlung sein, sondern können auch als Freunde der Hauptfigur einen entscheidenden Einfluss auf die Handlung haben. 28 Uticha Marmon: Als wir Adler wurden, Frankfurt / M. 2020. 

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Der mehrfach ausgezeichnete Roman Irgendwo ist immer Süden von Marianne Kaurin29 erzählt von dem Dilemma des Mädchens Ina, das etwas neidisch auf ihre Mitschülerinnen und -schüler blickt. Diese sind wohlhabend, verreisen in den Ferien, während Ina die Ferien mit ihrer psychisch kranken Mutter zu Hause verbringen muss. Sie erfindet eine Lüge, dass sie mit ihrer Mutter in den Süden reist. Der neue Klassenkamerad Vilmer, der in ihrer Nähe lebt, erkennt die Lüge und baut in einer leerstehenden Wohnung den Süden nach. Er lädt Ina ein, mit ihm die Ferien zu verbringen. Während jedoch dem Außenseiter Vilmer das Spiel Freude macht, möchte Ina nach wie vor die beliebten Kinder ihrer Klasse beeindrucken und schickt Bilder aus dem erfundenen Süden. Vilmer kann insofern als Held bezeichnet werden, als er sich zunächst den Erwartungen der Klassengemeinschaft widersetzt und seine Rolle als Außenseiter zu akzeptieren scheint. Er beeinflusst Ina, die nach und nach die Oberflächlichkeit ihrer Mitschüler erkennt und am Ende des Romans den Mut bekommt, sich zu Vilmer zu bekennen und ihn als Freund zu akzeptieren. In seinem Roman Als ich die Pflaumen des Riesen klaute erzählt Ulf Stark30 von einer Mutprobe und einem mehrfachen Heldenakt. Im Mittelpunkt stehen der Junge Ulf und sein bester Freund Bernt. Versehentlich erzählt Ulf seinem älteren Bruder, dass Bernt immer auf die Toilette muss, wenn er aufgeregt ist. Bernt interpretiert diesen Akt als Verrat und die Freundschaft der beiden Jungen geht in die Brüche. Obwohl Ulf alles versucht, sich zu entschuldigen, verweigert sich Bernt dem Gespräch und fordert von Ulf, dass dieser Pflaumen im Garten des »Riesen« stiehlt. Der »Riese« ist ein Mann, der in der Nähe wohnt und von den beiden Jungen als »die unheimlichste Erscheinung in der ganzen Gegend« (S. 7) wahrgenommen wird. Da Ulf die Freundschaft retten will, stiehlt er die Pflaumen. Dieser Akt kann als heldenhaft bezeichnet werden, und Ulf verändert sich. Aber diese Veränderung basiert nicht nur auf der heldenhaften Tat, sondern auch auf den dieser Tat folgenden Gesprächen. Ulf lernt den Riesen kennen, erkennt seine Sorgen, hilft ihm schließlich. Damit wird er zum doppelten Helden und auch doppelt belohnt: Er versöhnt sich mit seinem besten Freund und bekommt mit dem Riesen einen weiteren Freund an die Seite gestellt. Die Figuren im Roman erfassen 29 Marianne Kaurin: Irgendwo ist immer Süden, aus dem Norwegischen v. Franziska Hüther, Zürich 2020. 30 Ulf Stark: Als ich die Pflaumen des Riesen klaute, aus dem Schwedischen v. Brigitta Kicherer, mit Illustrationen v. Regina Kehn, Stuttgart 2020. Die Kinderromane von Ulf Stark sind insgesamt wegen ihrer männlichen Helden interessant und einer genaueren Untersuchung wert. 

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eine Notlage, sehen darin ein moralisches Problem und möchten helfen. Ulf wird so zu einem solidarischen Helden. Die kursorische Vorstellung zeigt, dass im Kinderbuch der Gegenwart nicht mehr Stärke und Kraft dominieren müssen und man die Figuren dennoch als Helden bezeichnen kann. Alle hier vorgestellten Helden sind aktive Figuren, die gute Taten vollbringen und somit auch zu Vorbildern werden. Sie nehmen sich jedoch nicht als Helden wahr und können daher als stille Helden charakterisiert werden, die zu den heroischen Helden der (Abenteuer-)Literatur des 19. und auch frühen 20. Jahrhunderts in Kontrast stehen. Ihre Taten lassen sich als nicht nur äußere, sondern auch innere Handlungen beschreiben. Und gerade darin können die ideologischen Helden den Leserinnen und Lesern als moralische Vorbilder dienen.

Antihelden erobern den Kinderroman

Der Typ des Antihelden erfreut sich in der Kinder- und Jugendliteratur laut Christine Garbe seit etwa 2008 großer Beliebtheit.31 Sie untersucht diesen Typ vor allem im Comicroman und konzentriert sich dabei auf Gregs Tagebuch von Jeff Kinney.32 Dessen Bände erschienen bis 2021 und wurden in fast 60 Sprachen übersetzt ; es existieren mehrere Filme und ein umfangreiches Merchandising, was ihre große Beliebtheit zeigt. Nach Garbe hat die Greg-Serie ein neues Genre begründet, nämlich die Antiheldengeschichte: In inhaltlicher Hinsicht handelt es sich dabei um Antiheldengeschichten, die eher von einem Verlierer (loser) handeln, dies jedoch in einer akzentuiert komischen (und häufig selbstironischen) Darstellung, die zahlreiche Anknüpfungen an andere Formen komischen und humorvollen Erzählens aufweist.33 Antiheldenfiguren sind unheroisch, zeichnen sich nur bedingt durch Stärke aus und können Außenseiter sein. In der realistischen Kinderliteratur treten aber auch Figuren auf, die Merkmale des Antihelden tragen und dennoch sich einer klaren Typisierung wie bei Garbe entziehen. Beispielsweise hat Andreas Steinhöfel mit Rico und Oskar in Rico, Oskar 31 Garbe (Anm. 15). 32 Jeff Kinney: Gregs Tagebuch, übersetzt v. Collin McMahon, Köln 2008 ff. 33 Garbe (Anm. 15), S. 68. 

Kinderliteratur

und die Tieferschatten zwei neue Helden erschaffen, die die deutschsprachige Kinderliteratur nach 2008 maßgeblich prägen und als Antihelden auch heldenhafte Züge besitzen. Rico ist ein tiefbegabter, Oskar ein hochbegabter Junge. Beide leben in Berlin, lernen sich zufällig kennen und werden im Laufe der Handlung zu besten Freunden. Es wird eine gleichwertige Freundschaft skizziert, in der beide durchaus auch ihre Sorgen und Ängste miteinander teilen, die Schwächen und Stärken des jeweils anderen akzeptieren. Zugleich ist Rico ein verantwortungsbewusstes Kind, ohne langweilig zu sein, und entspricht dem Typ Musterknabe, den man aus Erich Kästners Kinderund Jugendromanen kennt. Den männlichen Lesern bietet Steinhöfel ein alternatives Modell zu den tradierten Bildern von Männlichkeit an. Es sind Kinderromane, die komplexe Themen- und Problemfelder für ein jüngeres Lesepublikum aufbereiten und die Entwicklung der kindlichen Protagonisten aufzeigen. Zu Beginn der Geschichten entsprechen die männlichen Figuren durchaus den Antihelden, denn sie werden oft als Außenseiter dargestellt, die gehänselt werden und nicht besonders mutig handeln, wandeln sich aber im Laufe der Handlung zu Helden. Ein anderes Beispiel für diesen Heldentyp ist der Roman 70 Tricks, um nicht baden zu gehen von Gideon Samson.34 »Der Donnerstag ist der schlimmste Tag der Woche« (S. 7) ‒ so beginnt der Roman, der die Angst des neunjährigen Gidd vor dem Schwimmunterricht thematisiert. Gidd ist trotz dieser Angst kein Außenseiter, sondern mit einem intakten sozialen Umfeld ausgestattet. Seine »bewusst« – so Gidd im Roman – alleinerziehende Mutter, die durch eine künstliche Befruchtung schwanger geworden war, kümmert sich liebevoll um ihren Sohn und möchte ihm mit einer besonders coolen und dementsprechend teuren Badehose den Weg ins Schwimmbad erleichtern. Doch dieser Trick funktioniert nicht, und Gidd bemüht sich um einen eigenen Weg. Er erfindet für sich eine Art Orakel, das ihm vorhersagen soll, ob der Tag in der Schwimmhalle gut wird oder nicht. Dazu dient ihm ein bestimmter Sitzplatz im Bus: Ist er frei, ist der Tag vielleicht nicht ganz so schlimm ; ist er von anderen besetzt, verläuft der Tag nicht gut. Der zweite Teil des Orakels ist ein Mann, den er aus dem Schulschwimmbus beim Füttern von Tauben beobachtet: Ist er da, wird Gidd den Tag irgendwie überstehen ; ist er nicht da, ist die Schwimmstunde furchtbar. Irgendwann scheint der Taubenmann gar nicht mehr zu kommen, und der Schwimmsport gestaltet sich zu einer einzigen Katastrophe. Doch Gidd hat nicht nur dieses Orakel, 34

Gideon Samson: 70 Tricks, um nicht baden zu gehen, aus dem Niederländischen v. Rolf Erdorf, mit Bildern v. Anke Kuhl, Hildesheim 2014. 

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sondern auch zahlreiche Tricks, um nicht schwimmen zu müssen. Mal stellt er sich krank, mal bleibt er zu lange auf der Toilette. Doch auch das hilft nicht. Nach den Sommerferien beginnt wieder der Schwimmkurs, und erneut gehört Gidd zu den Kindern, die nicht schwimmen können. Es ist aber nicht nur das: Plötzlich ist Gidd alleine unter den Nichtschwimmern und bekommt vom Schwimmlehrer Einzelunterricht. Gidd behält im Laufe der Geschichte seine Angst vor Wasser, aber er lernt seine Angst zu akzeptieren. Entscheidend ist, dass er nicht als ein Außenseiter entworfen wird, sondern als ein Junge, der Freunde hat, aber eben auch Angst vor dem Schwimmsport. Trotz der oft traurigen Situationen, die geschildert werden, leben viele der Romane mit Antihelden auch von einer Komik, die für die Leserinnen und Leser entlastend sein kann. Antihelden-Romane der Kinderliteratur liefern Auseinandersetzungen mit männlichen Rollenmustern, kritische Reflexionen auf deren soziale Umfelder und eine Schlusspointe, in der die männlichen Akteure ihre Schwächen zu akzeptieren lernen.

Superhelden als Kompensationsfiguren

Seit rund fünfzehn Jahren ist der Typ des Superhelden fester Bestandteil des Kinderromans. Mit der Figur des Superhelden werden kindliche Machtphantasien beflügelt oder Ängste abgebaut. Im Kinderroman existieren unterschiedliche Annäherungen an die Tradition der Superhelden. Einerseits tauchen sie als Phantasiegestalten auf, um den kindlichen Figuren bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen, andererseits schlüpfen kindliche Figuren selbst in die Rolle der Superhelden, um sich zu verteidigen. Und in dieser Konstellation öffnet sich auch die Möglichkeit, das Konzept von Held-Sein mit Echos der heldenepischen Exorbitanz zu versehen. Anton taucht ab von Milena Baisch,35 2011 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, wird als eine »unerwartet ironische Brechung klassischer Abenteuer- und Heldengeschichten beschrieben, die durch Humor, Sprachwitz und pointierte Dialoge großes Lesevergnügen bereitet«.36 Auch Anton entspricht nicht dem tradierten Heldentyp, sondern verkörpert einen Jungen, der sich sicher in der Computerwelt bewegt und in den Chats mit vielen Freunden und Freundinnen kommuniziert. 35 Milena Baisch: Anton taucht ab, Weinheim 2010. 36 Susanne Helene Becker: 99 neue Lesetipps. Bücher für Grundschulkinder, Seelze 2012, S. 147. 

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Als er den Urlaub mit seinen Großeltern auf einem Campingplatz verbringen muss, erlebt man einen Jungen, der kaum mit Gleichaltrigen sprechen kann und sich in Heldenphantasien flüchtet, denn in seinen Träumen ist er der Superheld Starflashman. Dieser besitzt Mut und Stärke – Eigenschaften, die Anton im realen Leben nicht hat. Als er einen kleinen Barsch rettet und ihn Piranha tauft, wird dieser zu einem wichtigen Gesprächspartner und Anton selbst schließlich ebenfalls zu einem Helden. Der phantasierte Superheld verhilft dem kindlichen Protagonisten zu eigener Heldenkraft. Coolman und ich von Bertram und Schulmeyer ist eine ComicromanReihe, bei der Autor und Illustrator mit Bild-Text-Elementen eng zusammenarbeiten.37 Die Geschichten werden in der Ich-Perspektive erzählt. Im Mittelpunkt der Bände stehen der Junge Kai und sein imaginärer Freund Coolman, der an die bekannten Comic-Superhelden38 erinnert. Und dieser Superheld ist nicht unproblematisch: COOLMAN begleitet mich, seit ich vier bin. Aber nur ich kann ihn sehen. Für alle anderen ist er unsichtbar und das ist auch besser so. Es reicht, dass er mein Leben zu einer endlosen Abfolge von immer katastrophaleren Katastrophen macht. (S. 7) Kai selbst ist zwölf Jahre alt, neu in der Stadt und damit auch neu in der Schule, kennt niemanden und wird zunächst geärgert. In den Comicstrips werden dann Kais Gedanken von Coolman kommentiert. Doch anders als die bekannten Superhelden ist Coolman durchaus auch als eine Karikatur der Comic-Helden zu sehen. In der Reihe greifen die männlichen Akteure in ihrem Superhelden-Dasein sehr wohl männliche Rollenmuster wie Aktivität, Stärke, Mut, auch Zähigkeit auf: Die Figuren wünschen sich durchaus auch männliche Tugenden. In diesem Zusammenhang können die imaginierten Superhelden als Kompensationsfiguren betrachtet werden, denn sie dienen den kindlichen Figuren dazu, ihre Ängste und Sorgen zu verarbeiten. In solchen Geschichten, in denen kein Superheld als Fantasiegestalt auftritt, können die kindlichen Figuren selbst eine Transformation zum Superhelden vollziehen, ohne jedoch deren Eigenschaften zu besitzen. Der Kinderroman Super-Bruno bildet den Auftakt einer dreibändigen

37 Rüdiger Bertram: Coolman und ich, mit Illustrationen v. Heribert Schulmeyer, Hamburg 2010 ff. 38 Zu diesen vgl. Casper in diesem Buch. 

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Serie um die Superhelden Brauno, Schwarzke und Blaura.39 Im Mittelpunkt des ersten Bandes steht Bruno, dessen Großvater gestorben ist. Wie stark der Junge trauert, unterstreichen vor allem die Illustrationen. Diese malen die Sprachlosigkeit zwischen Eltern und dem Jungen besonders gut aus. Die Welt der Erwachsenen und die Welt der Kinder scheinen voneinander getrennt zu sein. Aber es ist nicht nur die Trauer, die Bruno zu schaffen macht. Denn er wird von drei fiesen Jungen aus der Nachbarschaft geärgert: Sie machen seine Bretterhütte kaputt oder jagen ihn durch die Nachbarschaft. Auch hier zeigen die Eltern wenig Verständnis, denn sie möchten nicht, dass Bruno sich zankt: »Wir sind neu hier, und es ist nicht gut, gleich Streit anzufangen« (S. 30), ermahnt ihn seine Mutter am Abendbrottisch und ignoriert auch den Einwand des Vaters, dass sie bereits seit einem halben Jahr in der neuen Umgebung leben. Doch dann hat Bruno eine Idee, wie er sich wehren kann, und aus Bruno wird Super-Bruno bzw. Super-Brauno, denn sein Umhang ist die braune Sofadecke aus dem Wohnzimmer: Bruno schlich ins Badezimmer und sah sich im Spiegel an. Da stand er: Der Superheld Brauno. Unter dem braunen Umhang hämmerte sein Herz. Er war nicht mehr nur Bruno. Er war Super-Brauno. (S. 37) Anlass hierfür ist ein Film über den Superhelden Ray-X, der »durch Hauswände und Autoblech sehen« konnte (S. 32). Er wird zu einem ungewöhnlichen Superhelden, der sich nachts seine eigene magische Welt erschafft und sich auch an den fiesen drei Jungen rächt. Aber nicht nur das: In den verzauberten Nächten trifft er seinen Opa und verarbeitet so seine Trauer über dessen Tod. Damit wird der Superheld zu einer Kompensationsfigur, die dank ihrer Verkleidung auch Brunos Mut weckt, sich zu rächen. Sein Superhelden-Dasein ist somit nicht als vorbildhaft zu deuten, sondern als eine Art Echo des exorbitanten Heldentums, das nicht moralisch gut ist, aber trotzdem als Selbstermächtigungsphantasie auch positive Wirkungen auf kindliche Leserinnen und Leser haben kann. Auch seine beiden Freunde Matze und Laura werden vom Superhelden-Virus angesteckt und verwandeln sich nachts gemeinsam mit Bruno 39 Håkon Øvreås: Super-Bruno, mit Illustrationen v. Øyvind Torssetter, aus dem Norwegischen v. Angelika Kutsch, München 2016; Håkon Øvreås: Super-Matze, mit Illustrationen v. Øyvind Torssetter, aus dem Norwegischen v. Angelika Kutsch, München 2018; Håkon Øvreås: Super-Laura, mit Illustrationen v. Øyvind Torssetter, aus dem Norwegischen v. Angelika Kutsch, München 2019. Im letzten Band kommt die Figur Gelbina hinzu, die jedoch noch nicht Titelfigur eines eigenen Bandes ist. 

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in die oben erwähnten Helden. Alle drei genießen ihre neue Macht und rächen sich und lügen ; sie erinnern damit an Batman, der auch nachts in einer dunklen Zweitrolle agiert, und schaffen mit ihren Rachephantasien und Lügen einen Gegenentwurf zum positiven Bild des Superhelden. Das Exorbitanz-Konzept macht aufmerksam darauf, dass auch solche moralisch negativen Aspekte eines Superhelden zur Vorstellung von Heldentum dazugehören.

Heldinnen und der kindliche Aufbruch ins Abenteuer

Der realistische Kinderroman kennt auch die Alltagsheldin, die sich nicht nur durch Stärke oder Abenteuerlust auszeichnet, sondern auch Empathie und Hilfsbereitschaft besitzt und sich vor allem durch innere Kraft und Taten auszeichnen. Doch die Mädchenfiguren haben sich im Laufe der Kinder- und Jugendliteraturgeschichte auch gewandelt, was sich insbesondere auch an ihrer Selbstständigkeit und Emanzipiertheit verdeutlichen lässt. Und diese lassen sich teilweise ebenfalls als Echos der heroischen Exorbitanz verstehen. Der Wandel der Mädchenfigur besteht vor allem darin, dass Heldinnen Grenzen überschreiten und ihr Handeln nicht immer einer »moralische[n] Vorbildhaftigkeit«40 entspricht. Exemplarisch kann Kurt Helds Roman Die rote Zora und ihre Bande von 1941 genannt werden, der seit den 1970er Jahren die (west-)deutsche Mädchenliteratur stark beeinflusst hat.41 Der Kommunist Kurt Held, der mit seiner Frau Lisa Tetzner 1933 in die Schweiz ins Exil ging, wollte einerseits seine Vorstellungen von Solidarität, Gleichheit und Freiheit seinen Leserinnen und Lesern nahebringen; andererseits entwirft er mit dem Mädchen Zora eine Figur, die radikal mit den traditionellen Mädchenfiguren bricht und sich gesellschaftlichen Normen widersetzt. Erzählt wird die Geschichte der roten Zora aus der Sicht des zwölfjährigen Branko, der aus dem Gefängnis von Zora befreit wird und ihre Bande kennenlernt, zu der noch die Jungen Pavle, Duro und Nicola gehören. Sie hausen in der Ruine Nehajgrad, leben vom Mundraub und haben die Uskoken, die im Mittelalter das Meer und das Land beherrschten, als Vorbild. Die neuen Uskoken kämpfen immer wieder gegen eine Gruppe von Gymnasiasten. Die beiden Banden repräsentieren zwei unterschiedliche Gesellschaften: Die Uskoken sind arm, hungrig und stehen am gesellschaftlichen Rand, sind 40 Von See (Anm. 9), S. 38. 41 Kurt Held: Die rote Zora und ihre Bande, Zürich 1997 (zuerst Aarau 1941). 

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dafür aber ehrlich ; die Gymnasiasten sind wohlgenährt und angesehen, aber unehrlich, gemein und feige. Dieses Modell der zwei Kinderbanden soll die Welt der Erwachsenen widerspiegeln: Die armen und einfachen Leute sind hilfsbereit und ehrlich, die Reichen lügen, betrügen und sind geizig.42 Immer wieder wird im Roman die Gesellschaft kritisiert: »Die Menschen sind noch viel schlimmer. Die Menschen fressen ihre Brüder, weil es ihnen Freude macht, sie zu fressen.« (S. 299) Die Bande begeht Diebstähle, um zu überleben, und Zora bricht immer wieder die Regeln. Zora ist wild, freiheitsliebend und widerspenstig. Ihre Gruppe besitzt einen eigenen Moral- und Verhaltenskodex, der nicht immer mit den gesellschaftlichen Normen übereinstimmt. Dessen Maßstäbe sind Gerechtigkeit und Tapferkeit ; Verrat wird bestraft. Zoras Verhalten resultiert aus den gesellschaftlichen Umständen: Erst ihre Armut hat aus ihr einen weiblichen Robin Hood gemacht. Heldinnen in Kinderromanen des 21. Jahrhunderts, die wie Zora gängige Rollenmuster für Mädchenfiguren verlassen, sind etwa Jacke in Ich heiße Vincent und habe keine Angst von Enne Koens und Charles in Das Universum ist verdammt groß und supermystisch von Lisa Krusche. Beide Mädchen sind selbstbewusst, können sich wehren und erkennen, dass ihre männlichen Partnerfiguren Vincent und Gustav ihre Hilfe benötigen. Dabei widersetzen sie sich tradierten Rollenmustern und gesellschaftlichen Erwartungen und greifen auch zu (Not-)Lügen. Lisa Krusche43 erzählt von der Suche nach dem abwesenden und unbekannten Vater und orientiert sich an Stationen der von Joseph Campbell konstruierten sog. Heldenreise.44 Im Mittelpunkt der Geschichte steht Gustav, der mit seiner alleinerziehenden Mutter in Berlin lebt. Seinen Vater kennt er nicht, denn sowohl seine Mutter als auch sein Großvater, der in einem Altenheim lebt, weigern sich, über die Vergangenheit zu sprechen. Als sich seine Mutter verliebt und mit dem Mann in den Urlaub fahren möchte, beschließt Gustav so lange zu schweigen, bis der Mann verschwindet. Als er zufällig dem Mädchen Charles begegnet, ihr seine Situation beschreibt – er spricht auch mit ihr nicht, nutzt den Notizblock auf seinem Handy –, beschließt Charles, dass sie den Vater suchen müssen. Damit entreißt sie Gustav seiner gewohnten Welt, die sie als langweilig empfindet. Charles könnte im Sinne Voglers der Herold-Figur gleichgesetzt werden. Klas42 Vgl. hierzu auch Stephanie Jentgens: Eine Robin Hood der Kinderwelt. Kurt Helds Die rote Zora und ihre Bande, in: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. Bettina Hurrelmann, Frankfurt /M. 1997, S. 502–519. 43 Lisa Krusche: Das Universum ist verdammt groß und supermystisch, Weinheim 2021. 44 Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, übersetzt v. Karl Koehne, Berlin 62019 (engl. New York 1949). 

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sisch verweigert sich Gustav der Suche und kann nur mittels einer Lüge zu der Reise bewegt werden. Charles lädt ihn zu einem Urlaub in die Uckermark ein und erzählt, dass ihre Eltern zelten fahren – doch als Gustav zum VW-Bus kommt, sieht er nicht ihre Eltern, sondern seinen Großvater am Steuer sitzen: ›Ich wollte dich nicht anlügen und Nadiah auch nicht, aber es ging nicht anders. Du hast nicht dran geglaubt und deswegen hättest du nie gefragt und wärst nie in dieses Auto gestiegen. Deswegen musste ich schummeln. So ist das manchmal.‹ (S. 52) Charles musste demnach Gustav zwingen, die Reise anzutreten, und noch im Bus weiß er nicht, ob es »Glück [sei] oder […] die dümmste Idee auf der Welt« (S. 53). Trotz der Bedenken beginnt die Reise und damit auch das Abenteuer, das die Kinder sowie den Großvater bis nach Istanbul bringen wird. Die Heldin verschafft sich und ihren Begleitern die Möglichkeit, aus einem wenig heldenhaften Leben auszubrechen.

Von der Antihelden- zur Heldenfigur

Im Mittelpunkt von Stefanie Höflers Mein Sommer mit Mucks45 steht eine Antiheldin, deren Figurentyp aber auch hinterfragt und umgewandelt wird. Zonja freundet sich im Laufe der Geschichte mit Mucks an und erlebt so, zunächst als Außenseiterin eingeführt, auch Freundschaft. Zonja ist mit ihren zwölf Jahren ein ungewöhnliches Mädchen, das sich »für absolut alles« – inklusive Statistiken und schwieriger Wörter – interessiert (S. 9) und sich damit von ihren Klassenkameradinnen und -kameraden unterscheidet. Sie fertigt persönliche Fragelisten mit Fragen wie »Was ist die durchschnittliche Temperatur im Dezember in Weißrussland?« an (ebd.), sammelt Statistiken und ist sehr neugierig, ohne zu bemerken, dass ihre Neugierde nicht immer angemessen ist. Ihr fällt es schwer, sich mit anderen zu unterhalten oder soziale Kontakte zu pflegen. Ihre Neugierde und vor allem ihre Fragen wirken befremdlich auf ihre Umwelt. Sie verbringt daher ihre Zeit meist alleine, ist eine Außenseiterin in der Klasse, ohne wirklich einsam zu sein:

45 Stefanie Höfler: Mein Sommer mit Mucks, Weinheim 2015. 

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›Klar, dass ich meine Pausen alleine verbringe, wie ein Blauwal eben. Aber in der Schule gibt es genug zu sehen und zu zählen, langweilig wird mir jedenfalls nicht.‹ (S. 12) Hier bricht die Autorin mit dem typischen Bild der Außenseiterin, denn Zonja reflektiert zwar kritisch ihre Umgebung und ist unter den Gleichaltrigen isoliert, doch wächst sie in einer liebevollen Umgebung auf und leidet nicht darunter, dass sie anders ist. In den Sommerferien kann die Familie nicht verreisen und Zonja besucht täglich das Freibad, um ihre Umwelt zu beobachten. Dabei trifft sie auf Mucks, der ins Wasser fällt, nicht schwimmen kann und von Zonja gerettet wird. Es bahnt sich eine Freundschaft zwischen den beiden Kindern an, die sich täglich treffen und gemeinsam Scrabble spielen. Zonja ist neugierig, fragt Mucks nach seinem Leben aus und muss erleben, das dieser den Fragen immer wieder ausweicht. Nach und nach bemerkt Zonja, dass Mucks ein Geheimnis hat. Sie sieht blaue Flecke an ihm, ohne diese jedoch anzusprechen. Sie lässt Mucks Zeit, auch wenn sie innerlich vor Neugierde fast platzt, und hofft, dass er sich ihr anvertraut. Sein Vater hat in Berlin, dem früheren Wohnort der Familie, seine Mutter geschlagen. Diese ist dann mit Mucks und seiner Großmutter geflohen. Immer wieder wechseln sie den Wohnort, um nicht gefunden zu werden. Aber plötzlich steht der Vater in der Wohnung und die Situation eskaliert. Als der Vater seine Mutter schlägt, greift Mucks nach einer Glasscherbe und schreit seinem Vater entgegen: »Ich bring dich um, diesmal bring ich dich um !« (S. 99) Er verletzt ihn, aber die Situation verändert sich nicht: Seine Mutter und Mucks verlassen die Stadt, ohne Zonja die Adresse zu geben. Diese bleibt allein zurück, vermisst Mucks und blickt gleichwohl zuversichtlich in ihre Zukunft – auch deswegen, weil ihre Eltern ihr eröffnen, dass sie einen Bruder bekommt. Dank Mucks hat sie den Umgang mit Gleichaltrigen gelernt und weitere Freundschaften bahnen sich an – zumindest deutet es das offene Ende an. Höflers Roman greift somit tradierte Themen wie Freundschaft, Außenseitertum und familiäre Gewalt auf, setzt aber in den Figuren neue Akzente. Zonja ist die Ich-Erzählerin der Geschichte und aus ihrer sehr subjektiven Perspektive lernen die Leserinnen und Leser die anderen Figuren kennen. So beschreibt sie Mucks bei ihrer ersten Begegnung als eine »Birke« (S. 20). Mucks selbst entspricht weder einer klassischen Helden- noch Opferfigur. Vielmehr arbeitet Höfler mit kontrastierenden Zuschreibungen: Zonja ist aufgrund ihrer mangelnden sozialen Kompetenzen gegenüber ihren Gleichaltrigen zunächst eine Außenseiterin, zugleich wird aus der Antiheldin eine Heldin, denn sie beweist Stärke 

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sowie Mut und setzt sich für Mucks ein. Mucks dagegen besitzt die Kompetenzen, die Zonja fehlen. Er kann mit Gleichaltrigen kommunizieren, ist aber durch die Gewalterfahrungen und den Umzug der Familie eingeschüchtert und kann sich erst langsam öffnen. Auch er wird zu einem Helden, weil er sich gegen den gewalttätigen Vater wehren kann. Durch Überschreitung der Normalität ihrer sozialen Welten, vergleichbar dem exorbitanten Heldentyp, werden Zonja und Mucks von Antihelden zu Helden. Vorbildliche und exorbitante Superheldinnen

Die Kinderroman-Reihen School of Talents von Silke Schellhammer und Carla Chamäleon von Franziska Gehm spielen mit dem Typ der Superheldin und changieren zwischen realistischem und phantastischem Erzählen.46 Die Hauptfiguren beider Reihen besitzen besondere Eigenschaften, etwa die Fähigkeit unsichtbar zu werden, und verwenden diese, um Gutes zu tun. Diese Superheldinnen und -helden entsprechen somit der Norm, Menschen zu helfen und Vorbilder zu sein. Carla Chamäleon hinterfragt aber auch das Bild der Superheldin. Carla selbst ist »absoluter Durchschnitt«, schüchtern und muss den ersten Schultag ohne ihre beste Freundin erleben. Ihre Unsicherheit ist auch der Grund, warum in bestimmten Momenten Carla unsichtbar wird und sich erst langsam an ihre Gabe gewöhnt. Dazu hält sie in ihrem Notizbuch fest: »TO BE A SUPERHERO OR NOT TO BE – DAS IST HIER DIE LISTE« (Bd. 1, S. 225). Der Roman spielt nicht nur mit einem Zitat aus Shakespeares Hamlet, sondern auch mit Erwartungen. Einerseits vermisst Carla trotz Superheldinnenstatus ihre beste Freundin, andererseits muss sie »[a]lles über Superhelden und Geheimagenten lesen (nur mal so, für alle Fälle)« (ebd.), und ist sich im Klaren darüber, dass »[e]in echter« Held »vermutlich andere Dinge auf seiner Liste stehen [hätte], wie die Welt retten oder alle Schurken abmurksen. […] Wer weiß das schon.« (S. 226) Erst nachdem sie sich ihrer Superfähigkeit versichert hat, tritt Carla einem Geheimbund bei und kann ihre Superkräfte für gute Taten nutzen. Mit Super-Laura, dem dritten Band der oben schon besprochenen Reihe von Håkon Øvreås,47 tritt jedoch eine Superheldin auf, die zwar keine expliziten Superkräfte besitzt, aber ähnlich wie ihre Freunde Matze 46 Silke Schellhammer: School of Talents, mit Illustrationen v. Simona M. Ceccarelli, 3 Bde., Hamburg 2021 f.; Franziska Gehm: Carla Chamäleon, mit Illustrationen v. Julia Christians, 3 Bde., Hamburg 2020 f. 47 Siehe oben Anm. 39. 

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und Bruno, als Superheldin verkleidet, Reflexe von heldenhafter Exorbitanz zeigt: Sie rächt sich an ihren Mitschülern, lebt ihre kindlichen Machtphantasien aus, malt die Sachen der Bösewichte an, nimmt nicht nur an den Racheaktionen ihrer Freunde Bruno und Matze teil, sondern verübt solche auch selbstständig und überschreitet somit immer wieder die Grenzen des Normativen, Erlaubten, Vorbildlichen. Anders jedoch als Matze und Bruno, die nur im Verborgenen handeln, beobachtet Laura ihre Umwelt genau und besitzt den Mut, auch öffentlich ihre Meinung zu äußern. In der Kleinstadt, in der die Freunde leben, soll ein Grundstück an den Investor Tom Hahn verkauft werden, um eine große Hühnerfarm zu bauen. Es geht in der Welt der Erwachsenen um Arbeitsplätze, die Kinder dagegen sehen den Verlust ihrer Spielstätten, und insbesondere Laura weigert sich, den Verkauf der Wiesen zu akzeptieren und deckt böse Machenschaften des Bürgermeisters auf. Sie wird als zweifache Heldin eingeführt: Als Blaura, die Kinder bestraft, die andere ärgern, und als Laura, die sich für den Erhalt der Spielstätten einsetzt: ›Entschuldigung‹, sagte Laura ins Mikrofon. ›Ich habe ein Geheimnis aufgedeckt.‹ ›Du verdirbst mir meinen Wintermarkt‹, rief Mama. ›Nein, der Bürgermeister‹, sagte Laura, ›und Tom Hahn. Die machen alles kaputt. Jetzt habe ich es kapiert.‹ […] ›Aber Mama‹, sagte Laura ins Mikrofon. ›Die beiden sind nämlich Brüder. Du hast doch gesagt, dass man bei der Arbeit zu seiner Familie und zu seinen Freunden nicht nett sein darf.‹ (S. 173 f.) Sie deckt auf, dass der Bürgermeister und Tom Hahn die Bewohner belügen und gegen das Gesetz handeln. Laura lebt zwar ähnlich wie Bruno und Matze auch ihre kindlichen Rachephantasien aus, ist aber auch ohne ihre Tarnung mutig und tritt den Erwachsenen entgegen. Sie erreicht, dass Tom Hahn seine Fabrik nicht bauen darf, damit die Spielstätten für Kinder erhalten bleiben, und dass der Bürgermeister seinen Posten verliert. In den hier vorgestellten Superheldinnen sind beide Heldentypen gemischt. Einerseits bemühen sie sich, ähnlich wie die Superhelden des Marvel- oder DC-Universums, Gutes zu vollbringen. Laura hingegen ist eine maskierte Heldin, die nicht nur Gutes tut, sondern sich nachts auch rächt. Sie und ihre männlichen Freunde Matze und Bruno entsprechen einem anarchischen Figurentyp, der mit dem Konzept des exorbitanten Helden Übereinstimmungen oder Parallelen besitzt. Von diesem 

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zept her gesehen, kann dann auch, wie es in dem Zitat aus Super-Laura im Titel dieses Beitrags heißt, eine Rückwendung der Heldin zu kindlicher Normalität »gar nicht schlimm« erscheinen.48 Helden und Normenvermittlung

Die Heldenfiguren in der Kinderliteratur sind vielfältig, beziehen sich auf unterschiedliche Traditionen und ermöglichen den kindlichen Leserinnen und Lesern Identifizierung und Distanzierung zugleich.49 In den hier vorgestellten realistischen Kinderromanen können die Heldenfiguren zu Vorbildern werden, doch die Vermittlung von Normen und Werten in ihren Erzählungen scheint jenseits von Vorbildhaftigkeit komplexere Möglichkeiten zu haben. Die in der Geschichte wandelbaren Zuschreibungen bestimmter Merkmale an die Figuren wie äußerer oder innerer Stärke, Mut und Fürsorge gegenüber der eigenen Umwelt, aber auch der Behauptung und Ermächtigung des eigenen Selbst sind explizit oder implizit mit Werten und Normen verbunden, die als solche auch dann zur Geltung kommen, wenn sie in Auseinandersetzungen geraten: wenn gegen sie verstoßen wird oder sie anders in Frage gestellt werden. Die angesprochenen Echos oder Spuren des heldenepischen, exorbitanten Heldentyps scheinen für letzteres erzählerisch eingesetzt zu sein. Insofern sind die Hauptfiguren auch im realistischen Kinderroman keine flat characters, sondern durchaus mehrdimensional: Heldinnen und Helden, auch wenn sie mitunter nicht vorbildhaft handeln.

48 Ebd., S. 27. 49 Vgl. auch Sabine Anselm: Zeitgemäße Helden als Modelle für morgen?! Überlegungen zur Rezeption von (antiken) Heldenbildern in einem (post)modernen Literaturunterricht, in: Verjüngte Antike. Griechisch-römische Mythologie und Historie in zeitgenössischen Kinder- und Jugendmedien, hg. v. Markus Janka u. Michael Stierstorfer, Heidelberg 2017, S. 117–134. 

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Cord-Christian Casper

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Das Multiversum

But there’s even more going on beneath the surface of our appetite for the antics of outlandishly dressed characters who will never let us down. Look away from the page or the screen and you’d be forgiven for thinking they’ve arrived into mass consciousness, as they tend to arrive everywhere else, in response to a desperate SOS from a world in crisis.1 Krisensymptom, kompensatorische Erzählung und massenpsychologische Selbsttherapie: Grant Morrison erprobt in seinem Superhelden-Manifest Supergods eine Fülle kultureller Funktionen der Superhelden. Wenn diese These – der Superheld als Bewältigungsfiktion für realweltliche Verwerfungen – plausibel erscheint, dann wäre im Umkehrschluss die Dimension der crisis erheblich. Schließlich sind diese Figuren mittlerweile allgegenwärtig. Von einer populären medienspezifischen Form der Kindheits- und Jugendunterhaltung sind sie zu einer transkulturell anschlussfähigen Erzählform der gegenwärtigen Mediengesellschaft avanciert. 2020 etwa hat das Marvel-Studio die vierte Phase des hauseigenen Superhelden-Universums angekündigt. Der über Jahre entwickelte und zusammenhängende Kosmos übermenschlicher Figuren wird im Verlauf dieser Entwicklung um eine Vielzahl neuer Streaming-Serien, Filme und Videospiele ergänzt. Das Ursprungsmedium dieses modernen Heldentypus gerät im Zuge derartiger Proliferation aus dem Fokus der Aufmerksamkeit: Die Verwertung in Panels und gedruckten Seiten ist zumindest kommerziell zu einer Randerscheinung geworden. Dennoch bleibt die spezifische Form des Heldentums, die im Superheroischen verhandelt wird, zutiefst mit dem Comic verbunden. Auf ihre Remediatisierung (»the formal logic by which new media refashion old media«)2 verweisen Superheldenfilme 1 Grant Morrison: Supergods. What Masked Vigilantes, Miraculous Mutants, and a Sun God from Smallville Can Teach Us About Being Human, London 2011, S. 16. 2 Jay David Bolter & Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge / MA & London 2000, S. 273. 

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immerhin noch in ihren Titelsequenzen, die das Medium Comic in einem animierten Logo aufrufen – eine Darstellung gedruckter Seiten und Panels ist dem filmischen Universum damit je vorangestellt.3 Über die Adaptation einzelner Handlungsstränge hinaus ist die Umsetzung comicspezifischer Darstellungsmechanismen zurzeit aber vor allem an das Konzept des Multiversums geknüpft. So begegnet Spider-Man in No Way Home seinen Vorgängern im rot-blauen Kostüm ; Dr. Strange wird 2022 in das Multiverse of Madness eintauchen ; und auch Flash, ein Held des rivalisierenden DC-Verlages, soll in seinem nächsten Abenteuer in Supergeschwindigkeit quer durch parallele Welten laufen. Karin Kukkonen definiert das multiverse als die »Existenz einer Vielzahl inkompatibler narrativer Welten als parallele Realitäten«, oder präziser als »vollständig parallele, gleichermaßen aktualisierte Realitäten.«4 In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass eine solche Aufspaltung der Diegese ein comicspezifisches Merkmal dieser Form des erzählten Heldentums ist. Nicht zuletzt wirkt sich die multiversale Verfasstheit des Comic-Superhelden als Einschränkung heroischer Exorbitanz aus. Außerordentliche Handlungsmacht kann nur noch unter den Bedingungen der Reproduzierbarkeit des Helden oder der Heldin in diegetisch parallelen Welten und medial variierter Neuerzählung verhandelt werden. Superheroische Multiversalität bestimmt den Heldenstatus auf drei Ebenen. Die Vervielfältigung der einzelnen Akteure ermöglicht 1. eine Regulierung der dargestellten Exorbitanz. Diese Figuren handeln aus einer selbst gewählten ethischen Orientierung heraus. Sie zeigen demzufolge durchaus ein Pflichtgefühl, das ihnen im Gegensatz zu dem rücksichtslosen und sozialethisch unterbestimmten Helden, den Klaus von See in seiner Heldentypologie entwirft, eine überpersönliche Verantwortung auferlegt. So mag der maskierte Held einen »Protest gegen das vom Kollektiv gebotene Mittelmaß« darstellen, als »Figur, deren Faszination gerade darin liegt, daß sie das Exorbitante, das Regelwidrige, tut«.5 Zugleich wird ein Leser aber Supermans uramerikanischer Werte versichert und kann sich darauf verlassen, dass Batmans Vigilantismus als Erweite3 Ilka Brasch & Felix Brinker: Opening Gambits. Cross-Media Self-Reflexivity and Audience Engagement in Serial Cinema, 1936–2008, in: Exploring Seriality on Screen. Audiovisual Narratives in Film and Television, ed. by Ariane Hudelet & Anne Crémieux, Abingdon & New York 2021, S. 19–36, hier 28. 4 Karin Kukkonen: Navigating Infinite Earths. Readers, Mental Models, and the Multiverse of Superhero Comics, in: StoryWorlds 2 (2010), S. 39–58, hier 40 (meine Übersetzung). 5 Klaus von See: Was ist Heldendichtung?, in: ders.: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 1981, S. 154– 193, hier 183. 

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rung der Polizeiarbeit eingehegt wird. Die scheinbare Exorbitanz wird damit immer wieder auf den Boden der »Interessen eines bestimmten Kollektivs«6 zurückgeholt. Für Peter Coogan ist die prosoziale Mission neben Kräften und Doppelidentität das Signum des Superhelden schlechthin: »[H]is fight against evil must fit in with the existing, professed mores of society and must not be intended to benefit or further his own agenda«.7 Verdichtet findet sich dieser Anspruch in Spider-Mans Wahlspruch: »With great power there must also come – great responsibility!«8 Diese Verantwortung ist bei aller scheinbaren Exorbitanz auf die Aufrechterhaltung der dargestellten Gesellschaft ausgerichtet: »[A] superhero maintains society and maintains himself«,9 wie Coogan und Rosenberg diese Anbindung an einen Status quo ausdrücken. Allerdings handelt es sich hierbei innerhalb des Superhelden-Kosmos um eine selbst auferlegte Verantwortung. Comics kommen nicht umhin, immer wieder die Frage zu stellen, was passiert, wenn ein Superheld die sozialethische Selbstbestimmung verlässt. Im Angesicht einer solchen enthemmten Handlungsfähigkeit kann das Multiversum als letztes Instrument narrativer Einhegung fungieren: Wann immer ein zügellos exorbitanter Held übermäßige Handlungsmacht ins Bild setzt, entpuppt er sich gemeinhin als Doppelgänger, als schurkisches Gegenstück aus einer parallelen Welt oder als Alternativversion, deren Exorbitanz als kurzfristige KryptonitVergiftung zu erklären ist. Die Projektion exorbitanter Handlungsmacht auf multiversale Alternativszenarien hängt zudem mit der Notwendigkeit einer unveränderlichen Diegese zusammen. Der superheroische Normalismus10 erfordert 2. eine statische erzählte Welt, von der sich die Dynamik des Helden abheben kann. Die besonderen Fertigkeiten der Superhelden und -heldinnen etwa erproben sich im Kampf mit ihrem schurkischen Gegenpart, der in immer neuen Variationen auferstehen muss. Eine grundsätzliche Veränderung des Superhelden-Universums durch heroisches Handeln hingegen ist einzelnen Serien vorbehalten, die aus den seriell erzählten, zusammenhängenden Heldenuniversen ausgekoppelt sind. Der Superheld wird dadurch vor den Konsequenzen der eigenen übermenschlichen Fähigkeiten bewahrt. 6 Klaus von See: Held und Kollektiv, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 1–35, hier 2. 7 Peter Coogan: Superhero. The Secret Origin of a Genre, Austin / TX 2006, S. 31. 8 Stan Lee & Steve Ditko: Amazing Fantasy 15, in: Marvel Masterworks. The Amazing Spider-Man, ed. by Cory Sedlmeier, New York 2017, S. 1–11, hier 11. 9 What Is a Superhero?, ed. by Robin S. Rosenberg & Peter Coogan, Oxford 2013, S. 35. 10 Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 52013. 

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In der seriell auserzählten Haupthandlung bleibt die Figur postheroisch und letztlich wirkungslos, während in den Alternativsträngen die Konsequenzen unbeschränkter Handlungsmacht durchexerziert werden. Im Folgenden werde ich weniger einzelne exorbitante Superhelden, zu denen etwa eine Origin Story, Kostümierung oder Vigilantismus gehören, vielmehr 3. die multiversale Proliferation der Superheldenfiguren als ihren bestimmenden Widerspruch vorstellen. Dieser Heldentypus ist einerseits durch seine herausgehobene Handlungsmacht bestimmt, die seine Vertreter über Normalsterbliche erhebt. Gleichzeitig wird er allerdings immer schon in einem Prozess der Vervielfältigung dargestellt: Superhelden sind kopierbar, ihre Eigenschaften transferierbar und ihre Einzigartigkeit steht auf dem Prüfstand. Zwar wird in kulturkritischen Lesarten immer wieder betont, dass diesen Figuren ein »Autoritarismus« innewohne, den die »Superheldinnen und Superhelden verkörpern, die weder vom Volk gewählt noch von der Regierung beauftragt sind«.11 Ich dagegen möchte aufzeigen, dass diese Heroen trotz ihrer scheinbaren Übermächtigkeit als in ihrer Wirkkraft beschränkt dargestellt werden. Das serielle Erzählen erfordert es, sie immer wieder auf einen Ursprungszustand zurückzusetzen, während Handlungsalternativen in Paralleluniversen verlagert werden. So können neue Autor_innen und Zeichner_innen die Geschichte einzelner Superhelden-Universen über verschiedene parallel verlaufende Serien hinweg fortschreiben – während sich zugleich nichts ändert.

Vervielfältigung im Comic

Die eingeschränkte Exorbitanz der Superheldenfigur ist untrennbar mit der Geschichte des Mediums verknüpft, das sie hervorgebracht hat. Das Medium Comic ist schließlich durch die Abfolge gerahmter Einzelbilder, der Panels, bestimmt. Zum Verständnis einer Panel-Sequenz ist die Kompetenz erforderlich, die Wiederholung einzelner Bildinhalte als Darstellung ein und desselben Bildobjektes zu verstehen, das sich in einer rekonstruierbaren Zeitspanne verändert.12 Der Wiederholung mit Differenz (Gilles Deleuze) in der Sequenz steht allerdings die Seitenübersicht gegenüber: Wechselt die Beobachterperspektive von der angenommenen Zustandsveränderung in der dargestellten Welt zu einer mise-en-page der gesamten Seite und ihres Panel-Arrangements,13 stehen sich, in unserem 11 Wolfgang M. Schmitt: Es rettet uns kein Superwesen, 1. 5. 2020, https://jacobin. de/artikel/superhelden-marvel-wolfgang-m-schmitt/. 12 Kai Mikkonen: The Narratology of Comic Art, New York 2017, S. 63. 13 Thierry Groensteen u. a.: Système de la bande dessinée, Jackson / MS 2009, S. 26. 

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Fall, die Superheldenfiguren als Variationen ihrer selbst gegenüber. Superheldencomics nutzen diese Möglichkeit, Sequenzen auszusetzen und die Reproduktion der Einzelfigur in den verschiedenen Panels in den Blick zu nehmen, als ein Verfahren der formalen Vervielfältigung. Das gilt etwa für das comic-spezifische Phänomen polymorpher Panels, die Neil Cohn so charakterisiert: »a single entity repeated in multiple positions of an action while remaining in a single encapsulated frame«.14 Wenn etwa der DC-Superheld Flash mehrfach auftaucht, fällt es nicht schwer, die Bilder als konzeptuelle Einheit zu verstehen: Es ist derselbe Held, der kurz hintereinander an verschiedenen Orten auftaucht (Abb. 1).15 Diese Unterscheidung von Einzelelementen und ihrer Synthese als polymorph kann aber auch unterlaufen werden. Derselbe Charakter erscheint dann mehrfach in einem Panel, evoziert dadurch die Lesekonvention einer rekonstruierbaren Bewegung – die sich jedoch, etwa durch den Text, als falsch herausstellt. In solchen Fällen muss ein Leser gewohnte Konventionen aufheben, um eine buchstäbliche Vervielfältigung der Heldenfigur zu begreifen. In der Sequenz aus Alan Moores Watchmen (Abb. 2) etwa hat die Figur Dr. Manhattan tatsächlich und innerdiegetisch die Fähigkeit, sich beliebig oft zu vervielfältigen. Statt einer Veränderung in der Zeit wirft uns diese Form des Superhelden auf die Proliferation im erzählten Raum zurück. Im Anschluss an diese Szene ist ein Betrachter darauf vorbereitet, dass Dr. Manhattan außerhalb linearer Sequentialität agiert. 14 Neil Cohn: The Limits of Time and Transitions. Challenges to Theories of Sequential Image Comprehension, in: Studies in Comics 1 (2010), S. 127–147, hier 131. 15 John Broome, Carmine Infantino & Murphy Anderson: The Flash 111, in: The Flash. The Silver Age, vol. 1, ed. by Liz Erickson, Burbank/CA 2016, S. 264–293, hier 274. 

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Die Exorbitanz der Heldenfigur geht hier also unmittelbar aus dem Formenrepertoire des Comics hervor. Der Superheld lässt eine Komponente graphischen Erzählens innerhalb der erzählten Welt real werden. Dadurch haben wir es mit einem superheroischen »re-entry einer Unterscheidung in das durch sie selbst Unterschiedene zu tun«.16 Die Differenzierung von Zeichenwiederholung und Sequenz wird innerhalb der Diegese zu einem beobachtbaren Unterschied – ganz buchstäblich, wenn die menschliche Superheldin Silk Spectre in Watchmen angesichts der unheimlichen übermenschlichen Reduplikation entsetzt wegläuft.17 Obwohl diese Heldenfiguren mittlerweile transmedial zirkulieren, scheint die Vervielfältigung der Superhelden somit medienspezifischen Unterscheidungen geschuldet zu sein: Flash, Superman oder Dr. Manhattan sind immer bereits reduplizierte Zeichen ; sie je als Einzelakteur zu lesen und in eine Sequenz zu überführen, ist eine naheliegende, keineswegs aber die einzige Art und Weise, Superhelden zu lesen. In den Comics ist das Potential der superheroischen Kopie angelegt, das in das Erzähluniversum projiziert und selbstreferentiell verhandelt werden kann. Zu dieser Tendenz der formalen Proliferation tritt die Veröffentlichungsgeschichte der Superhelden als weitere medienspezifische Voraussetzung des Multiversums. Etwa war die Erfindung von Superman durch Jerry Siegel und Joe Schuster (1938) derartig erfolgreich, dass Imitationen der Figur anschließend massenmedial zirkulieren konnten. Der Grad ihrer Eigenständigkeit wurde bereits im Golden Age der Superhelden16 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt / M. 1997, S. 45. 17 Alan Moore & Dave Gibbons: Watchmen, Burbank/CA, S. 72. 

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comics Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten: So argumentierte National Allied Comics (später DC), dass jede Figur, die ein Cape trägt, fliegen kann und über superheroische Kräfte verfügt, eine unzulässige Nachbildung von Superman sei.18 Einige der Hefte, die Elemente der erfolgreichen Figur Superman adaptierten, wurden wiederum von den großen Verlagen gekauft – und prompt multiversal integriert. So wurde dem höchst erfolgreichen Captain Marvel ein eigenes Paralleluniversum zugestanden: Earth-S war ab 1972 der Schauplatz für konkurrierende Superhelden des Fawcett-Verlags, die nun zu DC-Comics gehörten, aber noch nicht direkt mit den Superhelden der neuen Besitzer interagieren sollten.19 Auch in diesem Fall lässt sich die Wiederholung in der Publikationsgeschichte und in der multiversalen Doppelung bis in die einzelne Diegese zurückverfolgen. Innerhalb seiner Paralleldimension stand Captain Marvel – ganz im Sinne der superheroischen Vervielfältigung – eine Superhelden-Familie zur Seite, deren Mitglieder die Figur in verschiedenen Gender- und Altersvarianten wiederholten. Diese Marvel-Familie reproduzierte die bestimmenden Insignien der – ihrerseits unter Kopieverdacht stehenden – Ursprungsfigur Captain Marvel. Wie später bei Dr. Manhattan nutzt diese ikonische Reduplikation das formale Potential des Comics aus: Der ikonische Blitz auf der Brust des Superhelden wird auf der Gesamtseite vor einem Leser ausgebreitet, unabhängig davon, ob es sich um einen Charakter in verschiedenen Phasen einer Sequenz oder um mehrere, gleich kostümierte Figuren handelt. Die Marvel-Familie verbindet somit formale und diegetische Vervielfältigung. Diese bildliche und erzählerische Proliferation kann aber nicht von der unternehmerischen Expansion getrennt werden: Die Vervielfältigung superheroischer Archetypen wird von den Rechteinhabern reguliert, ohne dass dabei die arbeitsteilig wirkenden Autoren und Zeichner Interpretationshoheit, geschweige denn geistiges Eigentum, anmelden könnten. Zwar ist Imitation und Wiederholung ein Bestandteil populärer Kultur insgesamt ;20 der Grad, zu dem diese generische Imitation aber in die erzählten Welten kopiert, selbstreferentiell verhandelt und der multiversalen Neuordnung unterzogen wird, darf als Eigenheit des Superhelden-Genres gelten. Das Multiversum ist damit immer auch eine Konsolidierung wertvollen Urheberrechtes – die superheroische Kopie stützt das Copyright. In der Reproduktion des Superhelden im Comic spielt zuletzt auch die Rezeption eine zentrale Rolle. Insbesondere setzte sich in den 1950er Jah18 Richard A. Hall: The American Superhero. Encyclopedia of Caped Crusaders in History, Santa Barbara / CA 2019, S. 115. 19 Ebd. 20 Coogan (Anm. 7), S. 28. 

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ren die Annahme durch, dass diese Figuren einen schädlichen Einfluss auf ihr junges Publikum hätten. Als Statthalter für Massenmedien und Trivialkultur insgesamt waren Comics immer wieder an kulturelle Verfallstheorien geknüpft. Nachdem sich dieses Genre in eigenen Heftserien mit jugendlichem Publikum etablierte, wurde es mit devianter, auf Imitation abzielender Rezeption verknüpft. Dieser realweltlichen Vervielfältigungstheorie zufolge reproduziert sich der Superheld letztlich in den abweichenden Verhaltensweisen irregeleiteter Leser. Gemäß diesen medienpädagogischen Diskursen, die 1954 in der Comics Code Authority als industrieweiter Kontrollinstanz mündeten, ist die Fiktionskompetenz der Leser nicht ausreichend, um bei der Lektüre superheroischer Abenteuer über identifikatorische Rezeption hinauszugehen. Frederick Wertham, dessen populistische Kritik zu dieser jahrelangen Selbstzensur führte, identifizierte sogar eine eigene, superheldenspezifische Pathologie: die »Superman-SpeedFancy«, die in Leserinnen und Lesern geweckt würde.21 Superhelden lösten demzufolge eine Geschwindigkeitslust aus, die wiederum an die Wiederholbarkeit der Geschichten geknüpft sei: »The very children for whose unruly behavior I would want to prescribe psychotherapy in an anti-Superman direction have been nourished (or rather poisoned) by the endless repetition of Superman stories.«22 Endlose Wiederholung erscheint hier als unentrinnbare Proliferation der Superhelden, die wiederum in einer sozial nicht integrierbaren Jugend münde. Diese sei durch das ausufernde serielle Medium des Comics zu keiner rezeptionsästhetischen Gegenwehr in der Lage.

Handlungsmacht im Multiversum

Im Spannungsfeld der oben aufgeführten comicspezifischen Faktoren – formale Reproduktion, Urheberrecht und Medienpädagogik – entwickelt sich das Multiversum zu einem zentralen Erzählverfahren des SuperheldenGenres. Es ist zugleich wichtiger Bestandteil der Regulierung superheroischer Exorbitanz: Das Multiversum entwickelt die Superhelden zu selbstreferentiellen Figuren, die sich mit Varianten ihrer selbst herumschlagen. Grundsätzliche Veränderungen der erzählten Welt sind dadurch kaum noch erzählbar; das ausufernde Multiversum ist eine Akkumulation leichter Abwandlungen der Figur, ihrer Umgebung, ihrer Ursprungsgeschichte, ihres 21 Fredric Wertham: The Superman Conceit, in: The Superhero Reader, ed. by Charles Hatfield u. a., Jackson / MS 2013, S. 46–53, hier 48. 22 Ebd. 

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Charakters oder ihrer Mission. Innerhalb dieser organisierten Kosmologie23 sind ereignishafte Veränderungen in der Kontinuität des normalen Erzähluniversums nur dann rekonstruierbar, wenn Alternativszenarien, die sich in der jahrzehntelangen Veröffentlichungsgeschichte zugetragen haben, jeweils ausgeschlossen werden. So ist das Multiversum auch die Grundlage für das oneirische Klima, das Umberto Eco Superman zugesprochen hat: Superman kann sich als Mythos nur halten, wenn der Leser die Kontrolle über die zeitlichen Verhältnisse verliert und darauf verzichtet, auf ihrer Grundlage zu denken, sich also dem stetigen Sog der Geschichten hingibt, die ihm berichtet werden, und sich in der Illusion einer unbeweglichen Gegenwart behauptet.24 Die Superhelden haben ihre Handlungsmacht in Kämpfen unter Beweis gestellt ; zugleich ist nichts passiert. Während Eco dieses traumhafte Klima in der zeitlichen Paradoxie des Superhelden findet, ist das Multiversum ein entscheidender Faktor für die Verräumlichung superheroischen Handelns. Superman mag beispielsweise als exorbitanter Held im Sinne von Sees agieren, indem er, wie in der Serie Injustice: Gods among Us (2013–16), seine Antagonisten als Vergeltung für den Mord an seiner Partnerin tötet. Eine derartige Überschreitung der Grenzen superheldischen Handelns wird allerdings lediglich in dieser Paralleldimension ausgeführt – in der hauptsächlichen Timeline des DC-Universums hätte sie keinen Platz. Dieses Injustice-Universum wurde aufgrund des beträchtlichen Erfolges wiederum retrospektiv als alternative Realität des DCMultiversums deklariert.25 Seitdem steht diese exorbitante Version des Superhelden nicht nur als Bestandteil des populären Gedächtnisses des Superheldenuniversums zur Verfügung, sondern auch als diegetische Realität, die wieder aufgegriffen werden kann – aber keineswegs muss. Das Ergebnis dieses additionslogischen Möglichkeitsraumes26 sind »Kommentar- und Ordnungsfunktionen, die das serielle Universum einerseits ausweiten und komplizieren, andererseits Komplexitätsreduktion auf

23 Andrew Friedenthal: The World of DC Comics, New York 2019, S. 93. 24 Umberto Eco: Der Mythos von Superman, in: Reader Superhelden. Theorie ‒ Geschichte ‒ Medien, hg. v. Lukas Etter u. a., Bielefeld 2018, S. 275–301, hier 287. 25 Anthony Michael D’Agostino: Universe, in: Keywords for Comics Studies, ed. by Ramzi Fawaz u. a., New York 2021, S. 211–215, hier 213. 26 Felix Giesa u. Arno Meteling: [Art.] Superhelden, in: Compendium Heroicum. Das Online-Lexikon des SFB 948, 18. 10. 2018, https://www.compendium-heroicum.de/lemma/superhelden/. 

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einem höheren Reflexionsniveau leisten«.27 Wenn Superheldengeschichten allerdings nur mehr um die »Produktion und Rezeption einer Serienfigur kreisen«,28 dann werden sie zugleich postheroisch. Wie Bröckling es für den Topos des Postheroischen insgesamt annimmt, bezeichnen Superhelden »nicht das Ende heroischer Orientierungen, sondern ihr Problematisch- und Reflexivwerden«.29 Sie sind Ikonen herausgehobener Handlungsmacht, deren Handeln ohne Konsequenz bleibt. Gemäß der populären Periodisierung ist die Konsolidierung multiversaler Selbstreflexion in dem publikationshistorischen Silver Age (1956–71) zu verorten.30 Superhelden waren in den späten 1940er Jahren zu einer aussterbenden Spezies des Mediums Comic geworden. Mit ihrem erneuten Aufschwung in den 1950ern beginnt nicht nur die Produktion neuer Heldenfiguren, sondern, wie das berühmte Cover von Flash 123 zeigt, auch eine multiversale Aufspaltung der Superhelden-Welt. Der auf diesem Titelbild verdichtete Handlungsstrang heißt Flash of Two Worlds. Die Flashs zweier Welten werden fortan nicht mehr als reine Imaginary Stories – virtuelle Was-wäre-wenn-Szenarien – getilgt. Wenn sich zuvor unerhörte, nicht in die Grundkonstellation der seriellen Figur integrierbare Entwicklungen zeigten, konnten sie durch eine entsprechende Markierung als ›imaginär‹ entschärft werden. Noch einmal Eco: »Am Ende jedoch heißt es: Wohlgemerkt, das war nur eine phantasierte Geschichte, die sich in Wahrheit gar nicht zugetragen hat«31 – das Abweichende wird dadurch zu einer Fiktion zweiter Ordnung. Das ändert sich mit der auch bildlich symmetrischen Darstellung der beiden Superhelden auf dem Flash-Cover: Sie entpuppen sich als gleichermaßen fiktional-real und bewohnen jeweils eigene Erden (Abb. 3).32 Links ist der Silver Age-Flash zu erkennen, leicht identifizierbar an seinem Emblem und dem ikonischen rot-gelben Farbschema. Von rechts nähert sich sein Vorgänger der 1940er Jahre. Mit diesem Aufeinandertreffen, das für Rhoades der Beginn des Silver Age insgesamt ist,33 etabliert sich das Verfahren multiversaler Proliferation vollends. Zu den bereits erwähnten Tendenzen superheroischer Vervielfältigung tritt nun die 27 Frank Kelleter: Populäre Serialität. Narration ‒ Evolution ‒ Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 265. 28 Ebd. 29 Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, S. 13. 30 Shirrel Rhoades: A Complete History of American Comic Books, New York u. a. 2008, S. 5. 31 Umberto Eco (Anm. 24), S. 286. 32 Gardner Fox, Carmine Infantino & Joel Giella: The Flash 123, in: The Flash. The Silver Age, vol. 2, ed. by Jeb Woodard, Burbank/CA 2017, S. 165–190, hier 165. 33 Rhoades (Anm. 30), S. 10. 

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&FF Goldenes und Silbernes Comic-Zeitalter: Flash of Two Worlds

Etablierung, ständige Neubestimmung und Reflexion über parallele Welten. Superhelden sind kaum noch als einzigartige Akteure in ihren Universen zu bestimmen: Bereits bei seinem ersten Auftritt in Showcase 4 (1956) ist der Silver Age-Flash bestens mit seinem Vorgänger vertraut. »What a character Flash was«, sinniert der neue Superheld, während er im Comic einen Comic liest, auf dessen Cover unschwer die Vorgängerfigur zu erkennen ist. »Character« ist hier im doppelten Sinne zu verstehen: Der neue Held schwelgt sowohl in den nachahmungswürdigen Eigenschaften seines Vorgängers, während er ihn zugleich als reproduzierbaren character, als fiktionale Figur exponiert, die in dem lesenden Helden im selben Panel bereits ihre Doppelung erfahren hat (Abb. 4).34 In dieser Spiegelung der Figur kündigt sich ein bestimmendes Verfahren des Superhelden-Multiversums an: Was innerhalb der erzählten Welt fiktional ist, kann jederzeit zur fiktionalen Realität umfunktioniert werden. So wird im weiteren Verlauf der Flash-Heftreihe erzählt, dass die Comics im Comic Einblick in eine diegetisch existierende Parallelwelt böten, in der nicht mehr veröffentlichte Helden der 1940er Jahre weiter ihren superheroischen Aktivitäten nachgegangen seien. Diese Welt nimmt 34 Robert Kanigher, Carmine Infantino & Joe Kubert: Showcase 4, in: The Flash (Anm. 15), S. 7–31, hier 9. 

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gemäß genretypischer science fantasy35 denselben Raum ein wie die primäre Erzählwelt, vibriert aber auf einer anderen Frequenz. Diese Form der Wissenschaftsphantastik ist eine bedeutsame Grundlage für das Repertoire multipler Welten, das nach Flash of Two Worlds zu einer zentralen Komponente der Superhelden-Kontinuität wird. Das Verfahren ist mitverantwortlich dafür, dass der fiktionale Raum des SuperheldenUniversums von Produktions- wie Rezeptionsseite immer wieder neu bestimmt werden kann. Kontinuität bedeutet, dass Ereignisse retroaktiv zur fiktionalen Realität erklärt (oder aus ihr ausgeschlossen) werden können: Routinely, however, superhero texts are assumed to constitute a continuous reality, which is further assumed to be the same as real reality is assumed to be: having an underlying pattern that is constant, singular and coherent (one idealized metatext).36 Von einem solchen idealisierten Metatext kann aber nur dann die Rede sein, wenn statt der Annahme, dass jahrzehntelang serialisierte Ereignisse in eine superheroische Lebensgeschichte passen, auf Alternativräume ausgewichen wird: Jedes Ereignis könnte irgendwo im Multiversum stattgefunden haben. Während sich Flash noch auf Erde 1 und Erde 2 aufteilt, werden Grenzüberschreitungen zwischen den Welten in der Folge zu einem regelmäßi35 Charles Hatfield: Hand of Fire. The Comics Art of Jack Kirby, Jackson / MS 2012, S. 150. 36 Simon Locke: Re-crafting Rationalization. Enchanted Science and Mundane Mysteries, Burlington / VT 2010, S. 111. 

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gen Handlungsmoment – und das multiversale Modell verbundener Alternativrealitäten dadurch zu einer fiktional-ontologischen Selbstverständlichkeit. Eine Hierarchisierung der Welten – und die ereignishafte Metalepse, die sie ermöglicht – wird im DC-Universum durch die kaum mehr zu ordnende Multiplizierung alternativer Welten ersetzt. Die vielen neuen Universen nutzen das comicspezifische Prinzip von Wiederholung und Differenz, um immer neue Varianten bekannter und kommerziell erfolgreicher Helden ins Bild zu setzen. Das Resultat ist eine veränderliche Karte des Multiversums, die schurkische Doppelgänger ebenso enthält wie neu erworbene Helden anderer Verlage, anthropomorphe Tierversionen ebenso wie alternative Ursprungsgeschichten – die Liste ließe sich beliebig ergänzen. Häufig wird den Superhelden in eben diesen parallelen Welten eine Exorbitanz zugeeignet, die in der Kontinuität des nominellen Hauptuniversums nicht möglich wäre. Insbesondere wird die individualethische Mission des Helden in Frage gestellt und ein exorbitanter Gebrauch der übermenschlichen Kräfte ermöglicht: »[A]ngemessene Lebens- und Aktionsräume«,37 die in der Hauptkontinuität nicht darstellbar sind, können in parallelen Welten ausagiert werden. So bleibt Superman in den meisten Inkarnationen trotz größtmöglicher Handlungsmacht den Prinzipien von truth, justice and the American Way (dem Wahlspruch seiner Radio-Inkarnation während des Zweiten Weltkriegs)38 treu. Das ändert sich etwa in der Serie Red Son aus dem Jahr 2003: Hier stürzt die Raumkapsel mit dem jungen Kryptonier im Jahr 1953 in einer ukrainischen Kolchose ab.39 Die Lesart heroischen Verhaltens deckt sich hier zunächst mit derjenigen Klaus von Sees: Die »Politisierung und Kollektivierung des Heldenbegriffs« erscheint in dieser Serie als »letzte Station seiner langen Geschichte«40 – Superman wird zum Werkzeug eines klischeehaft dargestellten sowjetischen Machtapparates. Im Gegensatz zum kollektiv agierenden Superhelden können seine Widersacher ihre Exorbitanz zurückgewinnen ; dem vergesellschafteten Helden wird etwa Batman als eine Figur gegenübergestellt, die nicht nur populäre Stereotypen des normensprengenden Anarchisten restituiert, sondern auch Exorbitanz als »Extrem und Exzess, in der Regel ohne Rücksicht auf Konsens oder

37 Von See (Anm. 6), S. 35. 38 Ian Gordon: Culture of Consumption. Commodification through Superman: Return to Krypton, in: Critical Approaches to Comics. Theories and Methods, ed. by Matthew J. Smith & Randy Duncan, New York 2012, S. 157–167, hier 163. 39 Mark Millar & Dave Johnson: Superman. Red Son, Burbank/CA 2003. 40 Von See (Anm. 6), S. 34. 

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Erfolg«41 ausagiert. Statt zerstörungswütiger Schurken wird hier also vergemeinschafteter Postheroismus zum Teil eines Begriffspaares, innerhalb dessen sich der exorbitante Held noch einmal seiner Handlungsmacht vergewissern kann – unter der Bedingung, dass dieses in einem, eigenen, ausgelagerten Universum geschieht.

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Am Ende von Red Son beginnt Superman die Welt mit seinen Fähigkeiten umzugestalten. Ein solches Meta-Ereignis,42 in dessen Verlauf die Heldenfigur die erzählte Weltordnung verändert, ist in der seriellen Erzählkontinuität außerhalb der multiversalen Paralleluniversen kaum darstellbar – und wenn doch, wird sie mittels retcon (retroactive continuity) aus der Narration getilgt. Aus Material, das kulturell ereignishaft wäre – im Sinne übermenschlicher Fertigkeiten, mächtiger Antagonisten etc. – kann das Superhelden-Multiversum ein »Nicht-Ereignis«43 kreieren. Diese Stasis, von der sich multiversale Handlungsalternativen abgrenzen, ist eng mit der Multiplizierung der Heldenfigur verknüpft. Sie lässt sich mit Fredric Jamesons Darstellung der kulturellen Logik der Postmoderne erklären, in der kein kohärentes Modell von Zeitlichkeit mehr vorstellbar sei: If, indeed, the subject has lost its capacity actively to extend its protensions and re-tensions across the temporal manifold and to organize its past and future into coherent experience, it becomes difficult enough to see how the cultural productions of such a subject could result in anything but heaps of fragments and in a practice of the randomly heterogeneous and fragmentary and the aleatory.44 Statt Historizität bieten sich nur verräumlichte Fragmenthaufen – selten wird diese postmoderne Konstellation so deutlich wie im SuperheldenMultiversum. Dieses registriert die Vergangenheit als Ensemble vergan41 Elisabeth Lienert: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos. In: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung‹ 1 (2018), S. 38–63, hier 39. 42 Michael Titzmann: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft. Literatursemiotik, in: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hg. v. Roland Posner, Bd. 3, Berlin u. New York 2003, S. 3028– 3103, hier 3081. 43 Ebd., S. 3080. 44 Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham / NC 1991, S. 25. 

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gener Versionen seiner Helden, die immer wieder neu zusammengesetzt und rekombiniert werden. Eine derartige scheiternde Zeitlichkeit gilt in besonderer Weise für den Tod der Heldenfigur. Schließlich sterben Superhelden nicht. Statt zu einem Ende zu kommen, erstarren sie zu einer Superhelden-Pietà, die – seitdem Superman sein im Kampf gefallenes weibliches Pendant auf dem Cover von Crisis on Infinite Earths 17 in den Armen gehalten hat45 – zu einem ständig variierten Bildmotiv superheroischen Sterbens wird. Der Tod ist aber nur vorübergehend: Es gehört zu dem oneirischen Klima des Superhelden, dass er sich einerseits nicht »abnutzen« kann, »weil ein Mythos nicht abnutzbar ist«;46 zugleich ist Superman »jedoch unter der Voraussetzung ein Mythos, daß er ins Alltagsleben der Gegenwart eingelassen, scheinbar an unser aller Lebens- und Todesbedingungen gebunden, obwohl mit höheren Fähigkeiten ausgestattet ist«.47 So wird der Held zwar immer wieder unter der Prämisse dargestellt, dass er sterben kann, sein Tod darf sich im Sinne der Mythologisierung aber nicht in der Zeit ereignen, sondern muss in den Raum projiziert werden. Zum einen ist das der Raum der Panels, die sich quer durch die Kontinuität unterschiedlicher Superhelden-Universen als erstarrte Todesdarstellungen miteinander verknüpfen lassen: In den verschiedensten Kontexten produzieren Superhelden-Bilder Pathos, indem gestorbene Figuren in den Armen einer trauernden Superheldenfigur liegen.48 Zum anderen ist diese räumliche Verflechtung (braiding)49 des superheroischen Endes jenseits der Sequenz aber auch eine multiversale Strategie: Jamesons Fragmente sind hier die fragmentierten Universen, in denen Superman zu Tode kommt, ohne dass er jemals sterben kann (Abb. 5). Ganz im Sinne der genre-inhärenten Multiplizierung der Superheldenfigur wird selbst diese Form der Wiederholung noch innerhalb des selbstbezüglichen Comic-Kosmos kommentiert und verhandelt. »We’ll all miss him. And pray for his resurrection«,50 sagt Superman in Final Crisis am Grab eines gefallenen Superhelden, als wäre er bestens mit der rekursiven Logik seines Universums vertraut. Wenn eine kohärente zeitliche Erfahrung in Jamesons Sinne nicht mehr möglich ist, bleibt nur die Hoffnung auf ein reboot, das zugleich die Möglichkeit bietet, die charakterspezifische Erzählformel leicht zu variieren. Diese Rückabwicklung narrativer 45 Marv Wolfman & George Perez: Crisis on Infinite Earths. Absolute Edition, New York 2005, S. 173. 46 Eco (Anm. 24), S. 275. 47 Ebd. 48 Marco Arnaudo: The Myth of the Superhero, Baltimore / MD 2013, S. 43. 49 Thierry Groensteen: The System of Comics, Jackson / MS 2007, S. 147. 50 Grant Morrison & J. G. Jones: Final Crisis 2, New York 2008, S. 13. 

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Konsequenzen wird gemäß einer oft Stan Lee zugeschriebenen Formel als illusion of change51 bezeichnet: Ziel superheroischer Erzählweisen ist es, den Eindruck narrativer Ereignishaftigkeit zu potenzieren, gleichzeitig aber eine serielle Grundform beizubehalten. Immer neue Antagonisten können nicht davon ablenken, dass Superheldinnen und -helden in einer fast schon anti-narrativen Ereignislosigkeit verortet sind, in der Progression durch räumliche Vervielfältigung ersetzt wird. In das Superhelden-Universum kopiert, wird diese narrative Stasis als Handlungsunfähigkeit verhandelt. Gemäß Umberto Ecos knapp umrissener, theoretischer Fan-Fiction vermöchte Superman es »aufgrund seiner großen Talente, das Gute in geradezu kosmischen, ja galaktischen Dimensionen durchzusetzen und gleichzeitig einer neuen Ethik zum Zuge zu verhelfen. Stattdessen geht er seiner Tätigkeit in einer kleinen Gemeinde nach, in der er lebt«52 – wenn nicht buchstäblich, dann doch in seiner Selbstbestimmung als »Beispiel eines staatsbürgerlichen Bewußtseins, das vom politischen Bewußtsein abgetrennt ist.«53 Der Held kann nicht exorbitant handeln, aber auch nicht vollständig die Normen der kleinen Gesellschaft inkarnieren, die er beschützt, zu der er aber aufgrund verbleibender, formaler Exzeptionalität nie ganz gehören wird. In dieser narrativen Stasis befangen, ist der Held in eine Zeitlichkeit eingebunden, 51 John J. Nevins: The Evolution of the Costumed Avenger. The 4.000-Year History of the Superhero, Santa Barbara / CA & Denver / CO 2017, S. 258. 52 Eco (Anm. 24), S. 295. 53 Ebd., S. 296. 

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die ohne historische Dimension bleibt. Was passiert, fragt Sami Khatib im Anschluss an Jameson, wenn das Konzept des Raumes seine historische Stratifizierung verloren hat? »It seems that the continuum of space and spatialized time has no outside. The capitalist posthistoire knows no history, only the prehistory of its own contemporaneous space«.54 Diese Beschreibung trifft auch auf das Superheldenuniversum zu, in dem es kein zuvor und danach exzeptionellen Handelns in der Zeit geben kann – sondern lediglich ein selbstbezügliches Universum, in dem Handlungsmöglichkeiten im multiversalen Raum nebeneinanderstehen. Multiversale Optionen stehen nach dieser Lesart als räumliche und diegetisch reale Metonymien für heroische Handlungsweisen, die im Superheldenuniversum nicht verzeitlicht werden können.

Multiversale Krise

Wird die illusion of change auf das Multiversum als Ganzes ausgeweitet, erweist sich die Krise als bestimmende narrative Form. Im DC-Universum läutet eine periodisch wiederkehrende crisis eine Revision der parallelen Welten und ihrer superheroischen Insassen ein. Jedes Mal stellt sich eine Bedrohung ein, die auf alle Welten des Multiversums überzugreifen droht und der geballten Handlungskraft aller Heldenfiguren und ihrer Varianten bedarf. Selbst die unendliche Krisenhaftigkeit der Infinite Crisis fand ihre Nachfolge in der Final Crisis (2008), an die sich mittlerweile mindestens vier, auf alle Serien des DC-Verlags übergreifende Meta-Ereignisse angeschlossen haben. Derartige Verfahren multiversaler Neuorganisation hat DC 1985 mit Crisis on Infinite Earths eingeläutet. Das erklärte Ziel dieser ersten serienübergreifenden Maßnahme war es, das Superheldenuniversum für neue Leserinnen und Leser zugänglicher zu gestalten: »[A] more continuous and cohesive whole, thus allowing for easier and quicker comprehension of the intertextual level required for an understanding of any given narrative.«55 Es galt mit anderen Worten, die parallelen Welten, die nur einige Vibrationen voneinander entfernt koexistierten, in einer einzigen erzählten Welt zu kombinieren. Zugleich bot sich im Rahmen dieser Neugestaltung die Gelegenheit, der Reduplikation der superheroischen Charaktere Einhalt zu gebieten: Verschie54 Sami Khatib: No Future. The Space of Capital and the Time of Dying, in: Former West. Art and the Contemporary after 1989, ed. by Maria Hlavajova & Simon Sheikh, Utrecht u. a. 2016, S. 639–652, hier 642. 55 David Hyman: Revision and the Superhero Genre, Cham 2017, S. 57. 

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dene Versionen ein und derselben Figur sollten zu einem einzigen Archetyp zusammengestaucht werden (Abb. 6). Nun hätte diese Erneuerung des Markenkerns verlagsseitig entschieden werden und von einer Woche auf die nächste narrative Realität werden können. Gemäß dem re-entry nicht-diegetischer Faktoren in die erzählte Welt, wie sie für Superhelden typisch ist, wurde das redaktionelle Mandat stattdessen in einer eigenen Serie Teil der Narration, indem die Heroen die grundsätzliche Umgestaltung des Superheldenuniversums in der Diegese selbst aushandelten. Die Grundlage dafür bildet eine eigene Kosmologie, wie sie zu Beginn des Comics entworfen wird: »In the beginning there was only one«,56 heißt es in Crisis on Infinite Worlds 1. Diese monadische Idealwelt wird jedoch durch einen Unfall zerstört. Ein außerirdi56 Wolfman & Perez (Anm. 45), S. 11. 

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scher Wissenschaftler möchte den Ursprung des Kosmos beobachten. Dieser Versuch schlägt fehl – der Akt der Beobachtung zersplittert retroaktiv das Universum in eine Vielzahl paralleler Welten, über deren Fortbestand zwei gottähnliche Wesen fortan einen erbitterten Kampf quer durch Raum und Zeit führen. Der Ursprung des Multiversums wird dabei als ein devianter Zustand dargestellt, als eine Zersplitterung der ursprünglichen Einheit, die es zu tilgen gilt. Es zeigt sich in diesem Prolog bereits die Paradoxie der narrativen Ordnung, die nun als krisenanfällig und reformbedürftig dargestellt wird: Was als narrative Vereinfachung vorgestellt wird, sprengt letztendlich das Formeninventar des Comics. Panels zerbersten und legen das Weiß der Seite frei, als wären sie von der Zersplitterung der bisher konstruierten multiplen Welten an die Grenze der Darstellbarkeit gebracht. Schließlich scheint das Experiment aber doch noch zu gelingen: Alle als überflüssig empfundene Parallelfiguren werden im Verlauf des Konfliktes aus der erzählten Welt entfernt. Mit alternativen Handlungsverläufen soll es nun endgültig ein Ende haben: »On this new, singular Earth, the histories of all earths came together« (S. 310). Der räumlichen Aufspaltung paralleler Universen wird somit ein einziges Universum gegenübergestellt, das prinzipiell zeitlicher Ordnung unterliege. Als Garant dieser neuen superheroischen Geschichtlichkeit soll nun ausgerechnet Superman herhalten, die Figur, die vormals wie kaum eine zweite durch ihre endlosen Varianten bestimmt war: »[H]e is a plurality – he is Superman, Bizarro, Clark Kent, and even a Soviet Super-Soldier, depending on the circumstances«.57 Im Gegensatz zu derart unkontrollierter Reduplikation setzt Crisis eine maximal reduzierte Ursprungsgeschichte in einem Panel ins Bild: »A single planet Krypton exploded and sent forth a single rocket«.58 Existierten zuvor noch eine ältere Version Supermans aus einem parallelen Universum und ein Superboy, soll der revidierte Man of Steel prinzipiell der Protagonist einer Heldenerzählung sein, die seinen Entwicklungsgang von der Ankunft in Kansas, der Ausgestaltung seiner Mission bis hin zu seinen Abenteuern in Metropolis darbietet. Der singuläre Held mag zwar nicht normensprengend sein, sich aber zumindest in seiner neu hinzugewonnenen Einzigartigkeit der Exzeptionalität annähern. Am Beispiel der Crisis zeigt sich jedoch verdichtet, dass Superhelden sich für eine Restitution exzeptioneller Handlungsmacht nicht eignen. Antagonist dieser Serie ist mit dem Superschurken Anti-Monitor das 57 Siamak Tundra Nacify: Coming to Terms with Bizarro, in: The Psychology of Superheroes. An Unauthorized Exploration, ed. by Robin S. Rosenberg & Jennifer Canzoneri, Chicago / IL & Dallas / TX 2008, S. 175–187, hier 185. 58 Wolfman & Perez (Anm. 45), S. 312. 

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Prinzip der narrativen Vereinfachung selber: Diese Figur zeichnet sich für das Löschen überflüssiger Superhelden verantwortlich. Die Figuren beweisen ihre Exzeptionalität nun paradoxerweise nur noch im Kampf gegen ihre eigene Revision – unter den Bedingungen ihrer multiversalen Reproduzierbarkeit. Sie inkarnieren dadurch genau dasjenige Prinzip der Vervielfältigung, dem die Meta-Erzählung ein Ende bereiten sollte. Der Sieg über den Anti-Monitor – und damit die Re-Heroisierung des Superhelden – fällt entsprechend antiklimaktisch aus: »That’s it. He’s dead. It’s over?«, fragt eine Figur. Und Superman kommentiert: »I know. I was expecting more satisfaction.«59 Es scheint, als würde sich die superheroische Veränderungsresistenz hier gegen die Vorstellung eines Endes und linear-zeitlichen Neuanfanges sträuben. Tatsächlich wird auf der gegenüberliegenden Seite die neue, einheitliche und angeblich in der Zeit veränderliche Erde abgebildet – aber nicht nur einmal, sondern gleich in vier verschiedenen Panels. Statt der einen Welt heroischer Handlungsmacht haben wir es, zumindest formal, bereits wieder mit einem Multiversum zu tun, in dem die erzählbare Welt als Kopie ihrer selbst über die Seite ausgebreitet ist (Abb. 7).

Multiversale Handlungsmacht

So wie sich die Welt im Moment ihrer krisenhaften Vereinzelung vervielfältigt, erweisen sich auch die getilgten Figuren in Crisis on Infinite Earths als widerständig: Sie widersetzen sich der neuen Logik heroischer und linearer Zeitlichkeit. Genauer gesagt sind es die nun überflüssigen Duplikate angeblich archetypischer Helden, denen im Angesicht ihrer bevorstehenden narrativen Löschung Merkmale von Exorbitanz zugeeignet werden. Die scheinbar redundante Heldin gewinnt in dieser Serie ihre »Faszination« dadurch, dass sie ihren »Selbstbehauptungswillen bedenkenlos auslebt, also nicht nach den Regeln einer Gemeinschaftsethik handelt«.60 Das trifft insbesondere auf die Figur Supergirl zu, die im Angesicht der erwünschten post-multiversalen Welt eine »Verweigerung der Nützlichkeit«61 demonstriert – eben jener scheinbar gut vermarktbaren Singularität eines einzelnen Universums. Die Figur, die kurz danach im Kampf stirbt, überschreitet nicht nur innerhalb der Handlung das Normalmaß des superheroisch Machbaren. Sie wird zusätzlich auf 59 Ebd., S. 350. 60 Von See (Anm. 6), S. 2. 61 Ebd., S. 35. 

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Grundlage ein und desselben Hintergrundes dreifach gerahmt: Ähnlich wie die reduplizierte monadische Welt (Abb. 7) wird sie im Moment ihres heroischen Handelns mit der Logik der Vervielfältigung assoziiert, die in der Krise aufgelöst werden sollte (Abb. 8). Bereits im Versuch, das Multiversum als diegetisches Pendant zu der Proliferation der Heldenfiguren zu tilgen, wird in Supergirls panelüberschreitender Handlungsmacht das Prinzip der Vervielfältigung nobilitiert – und zum eigentlichen Antrieb des Superheroischen erhoben. Dieses multiversal gewendete Heldinnentum zeichnet bereits vor, was sich im weiteren Verlauf der DC-Publikationsgeschichte erweisen wird: Die kosmische Krise bedarf der fortwährenden Wiederholung. Die Crisis konnte keine Kontinuität einführen und jegliche heroische Standardnarration blieb auch den anschließenden Imitationen verwehrt. Es trat das genaue Gegenteil ein: »the ongoing addiction to continuity-shattering, multiissue crossover events. A permanent crisis if you will«.62 Der bloße Versuch einer Vereinfachung erfordert eine diegetische Auseinandersetzung mit den wuchernden Multiversen, die sich im Moment ihrer Auslöschung jeweils wieder in das Genre-Archiv einschreiben. Als Resultat konnte Crisis nie der vollständige Neubeginn sein, den sich der verantwortliche Redakteur Marv Wolfman gewünscht hatte: Einigen Superhelden wurde kurz danach die Fähigkeit zugesprochen, sich an die Krise zu erinnern und die revidierte Welt mit dem Multiversum und ihren eigenen Pen-

62 Tom Kaczynski: Infinite Crisis. Universe as Product, in: The Comics Journal 6. 8. 2020, https://www.tcj.com/infinite-crisis-universe-as-product/. 

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dants zu vergleichen.63 Am Ende der Krise kann ein Leser unterscheiden zwischen Helden, die es nicht mehr gibt , Helden, die es retrospektiv niemals gegeben hat , Helden, die sich an ihr ursprüngliches Universum erinnern , Helden, deren Ursprungsgeschichte neu geschrieben worden ist – eine unendliche Klassifikation, die wie ein Multiversum innerhalb der vereinheitlichten Welt wirkt. Die Proliferation von Heldentypen beschleunigt sich im Moment der Beschwörung einer kanonischen Form. Zugleich zeigt das Beispiel von Supergirl aber auch einen einzigartigen Heldentypus, wie ihn nur dieses Genre hervorgebracht hat: Superheroen beweisen sich in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Ihr exorbitantes Handeln wird selbstreferentiell und ihre Exzeptionalität stellen sie dann unter Beweis, wenn ihre eigene fiktionale Existenz auf dem Spiel steht. Die Superheldin benötigt spätestens seit der Crisis eine Multiversumskompetenz, eine fast schon metaleptische Fertigkeit, die serielle Neuausrichtung und die Vervielfältigung multiversaler Varianten ihrer selbst mitzugestalten. Diesem metaheroischen Modell gemäß beweist sich die Exzeptionalität der superheroischen Figur darin, dass sie sich der arbiträren Klassifikation archetypischen Heldentums entzieht. Die Besonderheit der Heldenfigur ergibt sich aus der nicht eingrenzbaren Vielfalt multiversaler Variationen, deren Reproduktion die erzählten Welten af63 Andrew J. Friedenthal: Retcon Game. Retroactive Continuity and the Hyperlinking of America, Jackson / MS 2017, S. 79. 

Superhelden

firmieren. Damit wird nicht nur von den Leserinnen und Lesern verlangt, mit Nichtwissen umzugehen und die Unmöglichkeit zu akzeptieren, diese Figuren in eine abschließbare Heldengeschichte einzufügen oder auch nur auf einen allgemeingültigen Wesenskern zu reduzieren. Auch die Superhelden selber bewähren sich im Umgang mit ihrer eigenen Reproduzierbarkeit. Programmatisch wird derartiges multiversal gestimmtes, postmodernes Heldentum in Alan Moores Supreme 41 (1996) vorgeführt. Der Titelcharakter ist hier zunächst nur ein weiteres Superman-Pastiche des Image-Verlags. Zwar gehört er damit in eine Reihe mehr oder weniger erfolgreicher Reproduktionen des DC-Erfolgsrezeptes ; bis zu diesem Zeitpunkt fehlte ihm jedoch eine explizite Auseinandersetzung mit der eigenen Vervielfältigung. Das ändert sich, als Moore seinen Helden nach längerer Abwesenheit zu einer Palimpsest-Erde zurückkehren lässt: Zwei Bilder des Erdballs sind übereinander gelagert. Zunächst ist der Held – singulär und generisch exzeptionell, wie er zu sein scheint – schockiert: »Have I returned to the real Planet Earth after all this time, only to find it split in TWO?«64 Er ist bereits von parallelen Welten überfordert, wie sie seit Flash of Two Worlds zum selbstverständlichen Bestandteil des Genres gehören. In der Folge gestaltet sich der Zustand des Superheldenuniversums noch vertrackter: Die Welt ist nicht nur entzweit, sondern beherbergt vielfache Varianten des primären Supreme. Nach den Konventionen verschiedener Epochen der Geschichte der Superheldenpublikationen gestaltet, vermischen diese Figuren histoire und discours – ihre Eigenschaften sind untrennbar mit ihren Darstellungsweisen verknüpft. Nachdem er diese Konfrontation mit sich selbst nicht im Kampf lösen kann, folgt Supreme seinen Kopien in das Supremat, eine Zwischenwelt möglicher Narrationen, in der alle bisherigen Varianten der Figur ihren Platz finden. Darunter sind auch diejenigen Versionen, die gemäß Moores rückprojizierter Verlagsfiktion aus dem fiktionalen Universum ausgemustert worden sind. Im Supremat wird der superheroische Möglichkeitsraum buchstäblicher Bestandteil der Erzählwelt. Wie die Silver Age-Variante Supremes erläutert, ist dieser Ort »Nowhere … or at least nowhere in space-time. This entire realm occupies the dimension formerly known as limbo«.65 Im Supremat nun wird der Held vor die Wahl gestellt: Möchte er auf eine primäre, ursprünglich und nichtfiktional scheinende Welt zurückkehren oder bleibt er im Möglichkeitsraum des Supremats? Die Figur entscheidet sich für erstere Option, schreitet durch 64 Alan Moore, Joe Bennett & Norm Rapmund: Supreme 41, Fullerton/CA 1996, S. 1. 65 Ebd., S. 12. 

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das Tor zwischen den Welten und fiktionalisiert sich damit selbst – eine Bekräftigung ihrer eigenen Revidierbarkeit und Kontingenz. Supremes folgende Heldentaten spielen sich auf der Grundlage der Unmöglichkeit superheroischer Veränderung ab, im vollen Bewusstsein der genretypischen illusion of change. Superheldentum wird hier definiert als die Fähigkeit, vergangene und gegenwärtige Inkarnationen neu zu kombinieren und genau dadurch gesteigerte Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Die Verantwortung des Helden als lebendiges Archiv besteht darin, passende Fiktionen für die Konstruktion seines fiktionalen Universums zu sammeln. Diese populäre Selbstreflexion geht über Jamesons Abwertung postmoderner Zeitlichkeit hinaus ; sie stellt dem einzelnen Helden eine Vielzahl alternativer Zeitlichkeiten gegenüber, die – in Gestalt einzelner Figuren verdichtet – dabei jeweils auch die Ideologie vergangener Bilder des Superheroischen ausdrücken und mit den gegenwärtigen Inkarnationen vergleichen (Abb. 9). Diese selbstbezügliche Wiederaneignung von Handlungsmacht wird in Grant Morrisons All-Star Superman (2005) auf die Spitze getrieben. In dieser Geschichte erfährt der Titelheld, dass ihm nur noch wenig Zeit bis zu seinem Tod bleibt. Ihm gelingt in der Folge, was den Figuren dieses Genres unter den Bedingungen multiversaler Vervielfältigung normalerweise verwehrt bleibt: Er orchestriert das Ende seiner eigenen Narration. Der 

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schluss der Heldenreise kann in dieser Serie nicht mehr durch die Bewährung im Kampf gelingen. Vielmehr muss auch dieser Superheld, ähnlich wie Supreme, seine Exorbitanz in der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Reproduzierbarkeit demonstrieren. Er stellt sich hierbei ganz explizit einer Version von Jamesons Darstellung postmoderner Gegenwartsfixierung, die Vorstellungen historischen Wandels unmöglich erscheinen lasse: »You could have laid the foundation stones of tomorrow«,66 klagen seine Feinde und fordern damit individuelles, exzeptionelles Heldentum ein. Sie übersehen dabei jedoch, dass sie selber bereits Varianten von Superman sind. Für Jameson sind es Massengesellschaften, die eine Erfahrung von Zeitlichkeit unmöglich machen: »[I]t is the proliferation of all these innumerable others that renders vain and inconsequential my own experience of some essence I might be, some unique life or destiny that I might claim as a privilege«.67 Superman muss sich im Comic präzise mit dieser Proliferation auseinandersetzen und seine Eigenschaften auf die eigenen Kopien übertragen, um eine Zukunftsperspektive wiederherzustellen. Der Heroismus in diesem Band wird gerade nicht als individuelle Exzeptionalität wiederhergestellt, sondern kann nur über die Affirmation der Wiederholung des Helden ins Bild gesetzt werden. Um dennoch foundation stones of tomorrow zu setzen, legt All Star Superman eine identifikatorische Rezeptionsweise nahe, wie sie in Fredric Wertham’s Medienpanik noch negativ mit dem Comic verknüpft worden ist. Die Aneignung heroischer Charakteristika wird in die Diegese kopiert und exemplarisch von den Gegenspielern erprobt. Diese haben umso mehr von Supermans Heroismus zu lernen, als sie jeweils einige seiner Merkmale ins Exorbitante steigern. Gegenüber dieser Selbstermächtigung führt der Comic einen Aneignungsprozess vor, in dessen Verlauf die Superman-Imitate lernen, ihre Kräfte sozialethisch einzusetzen – oder präziser: sie in den Dienst der Menschheit zu stellen, die kollektiv superheroisch werden soll. All Star Superman führt damit ein identitätsstiftendes Heldentum vor, dass sich – ganz im Gegensatz zu den exorbitanten Figuren Klaus von Sees – als transferierbar entpuppt. Wie in Leo Steinbergs programmatischer Aussage gilt für den Superhelden, der seine Einzigartigkeit zur Disposition stellt: »All art is infested by other art«68 – ein Prozess, der nun der Potenzierung bedarf. So beginnt 66 Grant Morrison & Frank Quitely: All-Star Superman 2, New York 2009, S. 67. 67 Fredric Jameson: The End of Temporality, in: Critical Inquiry 29 (2003), S. 695–718, hier 710. 68 Zitiert nach W. J. T. Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago / IL 62007, S. 36. 

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Zibarro, die groteske Kopie einer Kopie von Superman, sich wie dessen Alter Ego Clark Kent als Autor zu betätigen ; ein außerirdisches Welteroberer-Paar mit übermenschlichen Kräften lernt, dass es die Welt nicht autoritär umzugestalten hat ; und Supermans Erzfeind, Lex Luthor, erhält kurzfristig Supermans Kräfte, worauf er seine Diegese als Reich der Ideen wahrnimmt. Indem Superman seine Charakteristika weitergibt, entzieht er sich der Paradoxie, übermenschliche Fertigkeiten zu besitzen, aber dennoch nur weitere multiversale Alternativen hervorzubringen. Heroische Exorbitanz ist nun für alle da, kann sich beliebig oft in den Figuren reproduzieren und schließlich zum Merkmal einer Gesellschaft nach Supermans Vorbild werden. Diese ist dann allerdings nicht mehr mit den narrativen Mitteln des Superhelden-Comics erzählbar: Nach der Multiplizierung des Helden muss diese Geschichte ausnahmsweise enden. Der Einladung zur Identifikation mit dem Superhelden wird jedoch ein letztes multiversales Pendant gegenübergestellt. In seinem Labor schafft Superman ein kleines Universum, dessen Entwicklung er im Zeitraffer nachverfolgt. An das Ende der Entwicklung dieser Earth Q schließlich stellt All Star Superman die Erfindung des Comic-Helden Superman durch Jerry Siegel und Joe Schuster:69 Die nachgeordnete entpuppt sich als unsere Welt (Abb. 10). Damit ist die Realität nur mehr ein sekundäres Modell des fiktionalen Universums. Die Metalepse faltet Historizität in das Superhelden-Multiversum ein und erlaubt es dieser Figur, die Unterscheidung von Fiktion 69 Morrison & Quitely (Anm. 66), S. 105. 

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und Realität aufzuheben – und sich auf allen Ebenen gleichermaßen einzuzeichnen. Morrisons Heldenfigur stellt die eigene Proliferation sicher, indem sie ganze narrative Universen orchestriert: ein infiniter multiversaler Regress, der posthumane Exorbitanz für alle in Aussicht stellt. Indem er sich im Multiversum verteilt, bietet der Superheld seine Transformation zur Idee, Identifikationsfigur und Ziel sowie Ursprung neuer Narrative an. Auf der Grundlage dieser hyperbolischen Vervielfältigung kann diese Heldenfigur in der primären Erzählwelt ein Ende finden: Superman fliegt in die Sonne, in dem sicheren Wissen, dass seine Reproduktion in allen erdenklichen Welten sichergestellt ist. Wenn Superhelden trotz ihrer multiversalen Stasis und ihrer seriellen Vervielfältigung noch Exorbitanz zukommen sollte, dann auf der Ebene ihrer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Wirkung.

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Abb. 1, 4 The Flash. The Silver Age, vol. 1, ed. by Liz Erickson, Burbank/CA 2016, S. 274 u. 9. Abb. 2 Alan Moore & Dave Gibbons: Watchmen, Burbank/CA 2014, S. 72. Abb. 3 The Flash. The Silver Age, vol. 2, ed. by Jeb Woodard, Burbank/CA 2017, S. 165. Abb. 5, 6, 7, 8 Marv Wolfman & George Perez: Crisis on Infinite Earths. Absolute Edition, New York 2005, S. 173, 11, 351 u. 209. Abb. 9 Alan Moore u. a.: Supreme 41, Fullerton/CA 1996, S. 19. Abb. 10 Grant Morrison & Frank Quitely: All-Star Superman 2, New York 2009, S. 105.



Elisabeth Bronfen

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An der von James Fenimore Cooper über mehrere Romane entwickelten Figur des Frontiersman Natty Bumpo macht D. H. Lawrence fest, in welchem Sinn die Gattung des Western prototypisch ist für die weiße US-amerikanische Imagination. »He is a moralizer, but he always tries to moralize from actual experience«, stellt er fest und fügt zugleich einen Widerspruch an: »He says ›Hurt nothing unless you’re forced to‹ […], yet he lives by death, by killing the wild things of the air and earth.« Daraus folgert Lawrence: »You have there the myth of the essential white America. All the other stuff, the love, the democracy, the floundering into lust, is a sort of by-play. The essential American soul is hard, isolate, stoic, and a killer. It has never yet melted.«1 Unnachgiebig, von anderen Menschen isoliert, stoisch und eher auf der Seite des Todes als des Lebens – das sind nicht nur die Eigenschaften von Coopers Deerslayer, sondern auch all der Westernhelden, die ihm auf der Kinoleinwand und dem Bildschirm seitdem gefolgt sind. Mit diesem Beitrag soll nun danach gefragt werden, wie in den letzten Jahren die TV-Serien Westworld und Godless sowie der Oscar-Gewinner Nomadland ein Gendering dieser Formel vornehmen. Bei dieser Umschrift geht es zwar nicht um eine Überwindung der westerntypischen Heldenfigur, vielmehr um dessen Persistenz, allerdings mit veränderten Vorzeichen. In diesen dem Zeitgeist des frühen 21. Jahrhunderts angepassten Refigurationen des Westernhelden wird die Exzeptionalität des Individuums, die im Gegensatz zur Gemeinschaft steht, durch weibliche Figuren verkörpert, die ebenfalls auf einige aus der Antike tradierte Vorstellungen zurückgreifen. Auch die Einzel1 D[avid] H[erbert] Lawrence: Studies in Classic American Literature (1923), London 1971, S. 68. In seinem Buch De la Démocratie en Amérique (Paris 1835 /40) hatte Alexis de Tocqueville diese traurige Einsamkeit bereits als Kernmerkmal dieser neuen politischen Kultur festgemacht. Die Demokratie, hält er fest, würde nicht nur jeden Mann seine Vorfahren vergessen lassen und es ihm schwer machen, seine Nachkommen zu sehen, sondern ihn auch von seinen Zeitgenossen abschneiden: »Again and again it leads him back to himself and threatens ultimately to imprison him altogether in the loneliness of his own heart« (The Democracy in America, transl. by Arthur Goldhammer, New York 2004, S. 587). 

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gängerinnen stehen im Spannungsverhältnis zwischen einem Kampf im Namen der gesellschaftlichen Ordnung einerseits und andererseits einem eigenen moralischen Impuls, dem sie immer wieder ohne Rücksicht gegen sich und die anderen folgen. Was aber verändert sich am Westerngenre, wenn eben die Figuren, die traditionell für Familie und Fortpflanzung einstehen, die Häuslichkeit verlassen und zu Kämpferinnen werden? Und worin besteht der Reiz dieser radikal individualistischen Heldinnen für unsere Zeit? Bekanntlich nährt der Western sich nicht nur im Wesentlichen von der Spannung zwischen dem Gesetz und dessen morschem Kern, die in der Frontier so lange ungezügelt herrschen durfte, wie diese Grenzgebiete sich der amerikanischen Nation noch nicht angeschlossen hatten. Im kulturellen Imaginären ist die Frontier zugleich der Schauplatz geblieben, an dem eine Spannung zwischen der offiziell aus dem Osten kommenden Justiz und der Selbstjustiz immer wieder von neuem austariert wird. Daraus ergibt sich die prekäre Rolle all jener Gesetzesträger, die sich gegen Outlaws, gegen korrupte Rancher sowie jegliche anderen Figuren durchsetzen müssen, welche die Gemeinschaft bedrohen. Dabei nimmt das Westerngenre aber auch die Kosten in den Fokus, welche diese sogenannte Zivilisierung der Frontier als Voraussetzung für einen Eintritt in die Union fordert: die Beschränkung individueller Freiheit sowie die Auslagerung in ein out there all jener Randständigen, die in diese Gemeinschaft nicht passen können, nicht passen dürfen oder aber nicht passen wollen. Heldentum im klassischen Western betrifft also zwei Aspekte: erstens die gefährlichen Handlungen, welche diese Einzelgänger auf sich nehmen, um eine auf verbindliche Werte und Gesetze basierende Gemeinschaft zu etablieren und zu festigen ; zweitens die quasi-mythische Erhöhung, die diese Figuren dadurch erfahren, dass sie eben diesem alltäglich Gewöhnlichen nicht angehören können, sich für eine Zivilisierung einsetzen, in die sie selber nicht passen und die ihrem radikalen Individualismus auch nicht entspricht. Zugespitzt formuliert lässt sich festhalten: Die Westernhelden dürfen gar nicht einem gewöhnlichen Alltag angehören, sonst würden sie jenen Zauber verlieren, derentwegen sie uns in der Welt der Fiktion so begeistern. Sie dürfen keine ordentlichen Bürger sein, die sich an die Beschränkungen und die Kompromisse halten, auf denen die Gemeinschaft basiert. Stattdessen dürfen sie jene uneingeschränkte Freiheit und Selbstbestimmung ausleben, die wir uns nicht erlauben können. Das ist die Grundkonfiguration der für das Westerngenre typischen Erscheinungsform von heroischer Exorbitanz. Zwar ließe sich für jegliche literarische Helden behaupten, diese würden eine Exzeptionalität verkörpern, die nur in der Welt der Fiktion existieren 

Die Westernheldin

kann. Im traditionellen Western allerdings wird der Gegensatz zwischen Heldentum und Zugehörigkeit nicht nur dramaturgisch ausgestellt, er lebt als eines der Leitthemen dieser Geschichten zudem von einer bezeichnenden Geschlechtertrennung. In den Gemeinden, die an die Frontier grenzen, wird den Frauen meist die zivilisierende Kraft zugesprochen. Sie besetzen die Verandas, die Ess- und Schlafzimmer und das Schulhaus. Die Männer hingegen verkörpern jenen Freiheitsdrang, der mit diesem Verständnis von home nicht in Einklang zu bringen ist. Für dieses Zuhause sind sie zwar bereit, zu kämpfen und sogar ihr Leben zu opfern. Doch in diesem home zu verweilen bedeutet zugleich für sie eine Art Tod, und eben die Angst davor rechtfertigt überhaupt, dass sie, auf ihre Abenteuer fixiert, sich so lange davon fernhalten und stattdessen lieber in der Prärie herumwandern. Der Filmkritiker Michael Wood bringt es auf den Punkt: It is women who assert the myth of community in the movies, who propose a world of children and homes and porches and kitchens and neighbors and gossip and schools – everything the American hero is on the run from ; and it is men in groups who represent a temporary, wishful exemption from this grim destiny.2

Die Freiheit der Prärie

Setzen wir also bei dem Helden ein, der in den Annalen des Western zum Inbegriff des »hard, isolate, stoic killer« geworden ist: Ethan (John Wayne) in The Searchers.3 Die von John Ford wie das Öffnen eines Bühnenraums konzipierte Anfangsszene hat im Laufe der Zeit selbst einen auratischen Charakter gewonnen, ist sie doch so oft nachgestellt worden. Zuerst ist auf der schwarzen Leinwand nur die Ortsangabe »Texas 1868« in weißen Lettern zu sehen. Für einen kurzen Augenblick bleibt anschließend das Bild ganz schwarz, bevor eine Türe aufgeht. Über die Schultern einer Frau, die wir nur von hinten als schwarze Silhouette sehen, blicken wir auf die von der geöffneten Türe eingerahmte Prärielandschaft. Dann fährt die Kamera aus der Tiefe des Innenraumes auf den Rücken der Frau zu, während diese über die Türschwelle tritt. Im Licht, das auf die Veranda fällt, gewinnt ihr Körper langsam Konturen. Das Monument Valley vor ihrer Veranda, auf das ihr Blick gerichtet ist, erscheint als mythisch überhöhte Landschaft: die private Kinoleinwand dieser Frau wie auch unsere. 2 Michael Wood: America in the Movies, New York 1989, S. 42. 3 John Ford: The Searchers, Warner Brothers, USA 1956. 

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Während sie weiter nach vorne läuft und sich schließlich mit der rechten Hand an einem Pfosten anlehnt, zieht sie die Kamera mit sich auf die Veranda, hinein in das fiktionale Geschehen. Dann erst sehen wir sie von vorne, wie sie in die Weite schaut (Abb. 1). Die linke Hand schützt ihre Augen vor der strahlenden Sonne. Im Gegenschnitt reitet eine noch gänzlich unkenntliche männliche Figur auf sie zu. Es ist somit ihr Blick, der den grimmigen Veteranen anzieht, der erst mehrere Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges nach Hause zurückkehrt. Langsam gesellt sich die ganze Familie auf die Veranda zu Martha Edwards. Zuerst erscheint ihr Mann, der sich darüber verwundert zeigt, dass sein Bruder Ethan plötzlich auftaucht. Dann kommen die beiden Töchter. Die kleinere hält ihre Puppe im Arm und wird von einem Hund begleitet, der aufgeregt zu bellen beginnt. Schließlich taucht der Sohn auf, der das Holz für den Kamin in beiden Armen trägt. Während Ethan auf die Ranch zureitet, erkennen wir die visuelle Ähnlichkeit zwischen dem Hut, den er trägt, und einem der Berge, der hinter ihm aufragt. Der Umstand, dass er den Hut tief ins Gesicht gezogen hat, macht ihn zu einer unheimlichen Figur. Seine Augen kann man kaum sehen. Nachdem er abgestiegen ist, sagt Martha zu ihm, was sein Bruder nicht sagen will: »Welcome home, Ethan.« Mit dem Rücken zur Türe lotst sie ihn alsdann über die Türschwelle in ihre Wohnstube, als wolle sie ihn beim Eintreten nicht aus den Augen verlieren. Für sein Heldentum entscheidend: Lange wird er in dieser Wohnstätte nicht bleiben. Eine List der feindlichen Komanchen lockt ihn bald wieder in die Prärie und nach seiner Rückkehr wird er nur noch eine abgebrannte Ruine antreffen zusammen mit den Leichen der beiden Eltern und des Sohnes, die beiden Töchter entführt. Es folgt ein fünfjähriges Herumwandern, das in Vignetten die mythischen Geschichten des Western aufleben lässt: das Auffinden der geschändeten Leiche der älteren Tochter, Gefechte mit den Komanchen, Kämpfe gegen Outlaws sowie ein Feldzug der Kavallerie. Am Höhepunkt seiner Suche findet Ethan schließlich die jüngere Tochter Debbie, die sich in ihrer neuen Gemeinde als eine der Frauen des Häuptlings Scar, der sie entführt hatte, glücklich zurechtgefunden hat. Die kleine Pionier-Siedlung, die sich in der Zwischenzeit um die Ranch des verstorbenen Bruders gebildet hat, fungiert als Gegenschauplatz zu den Orten in der Prärie, durch die Ethan unermüdlich herumwandert. Zur Ranch der Jorgensens, ehemalige Nachbarn seines Bruders, wird er immer wieder zurückkehren, um sie erneut zu verlassen. Während Ethans Gerechtigkeitssinn ihn dazu drängt, seine Nichte aus ihrer vermeintlichen Gefangenschaft um jeden Preis zu retten, lässt John Ford unmissverständlich den Rassismus seines Helden 

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kennen, der jede Form der Vermischung von Weißen und Indigenen verachtet. Dabei entpuppt er sich mit seinem radikalen Individualismus selbst als eine Mischfigur. Als Vertreter der Eroberungswelle, die nach dem Bürgerkrieg Texas überschwemmt, hat er an diesem Zivilisierungswillen teil, der darin münden wird, dass auch dieses Grenzgebiet den Vereinigten Staaten beitritt. Zugleich bleibt Ethan in gewissem Sinne ein Outlaw, weil er nicht dem legitimierten Gesetz aus Washington folgt, sondern eine Eigenjustiz verkörpert, bei der es um Vergeltung und nicht Gerechtigkeit geht. Dieser Westernheld handelt nicht nach dem vorgegebenen Skript derjenigen, die den lone star state langsam aber stetig besiedeln, sondern eilt einem eigenen Traum nach: der Fantasie eines Zuhauses, das eine Fantasie bleiben muss, damit er ein Held bleiben kann, der im Namen dieses für ihn nicht bewohnbaren home immerzu kämpfen kann. Eben diese Mischung aus Siedlerin und Outlaw ist auch für die Heldin in der Cyberwestern-Serie Westworld von Jonathan Nolan und Lisa Joy ausschlaggebend.4 In der ersten Episode The Original wacht die rancher’s daughter Dolores Abernathy (Evan Rachel Wood) mehrmals im narrative loop der ihr zugewiesenen Geschichte morgens auf und betritt die Veranda vor ihrem Haus, wo ihr Vater bereits mit seiner Kaffeetasse sitzt. Sie ist eine der androiden hosts, die in einem theme park namens Westworld ansässig sind. Wie die anderen hosts ist auch sie mit einem vorgegebenen Westernskript programmiert, das gewisse Improvisationen erlaubt, ihr aber verbietet, den für sie vorgesehenen Erzählstrang zu verlassen. Die Gäste des Unterhaltungsparks dürfen an den hosts ihre gewalttätige Lust grenzenlos ausleben, weil die Androiden immerfort im Labor wieder neu hergestellt werden können. Zwar ahnt Dolores, dass etwas an ihrer vermeintlich trauten Welt nicht stimmt, doch erst im Laufe der ersten Staffel erlangt sie ein Wissen über ihre wahre Existenz. Sie wird zugleich auch erfahren, dass sie maßgeblich selbst an der gewaltsamen Gründung dieser digital gesteuerten Westernwelt beteiligt war und somit immer schon eine Mischung aus duldsamer Tochter und kaltblütiger Killerin gewesen ist. Bemerkenswert ist, wie die morgendliche Anfangsszene den Beginn von The Searchers zitiert und zugleich umschreibt (Abb. 1–4). Dolores läuft nicht nur sofort auf die Veranda, ohne auf der Türschwelle kurz innezuhalten. Sie zieht auch keine unkenntliche Figur aus der Prärie an sich. Vielmehr dringt ihr schweifender Blick zu der Bergkette vor, die der des Monument Valley ähnelt. Sie zieht also nicht die Kamera mit sich auf die Veranda, sondern ihr Blick wird zur Kamera und lässt sie sehen, was 4 Jonathan Nolan & Lisa Joy: Westworld, Series 1–3, Bad Robot Productions u. a., USA 2016–2020; der Release einer vierten Staffel ist für 2022 geplant. 

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&FFƲThe Searchers, Anfang: Martha auf der Veranda

das nackte Auge allein nicht könnte. Visuell wird somit vorweggenommen, was dramaturgisch im Laufe der ersten Staffel eingelöst wird. Was im klassischen Westernnarrativ gespalten ist – die Frau auf der Veranda und der Outlaw-Veteran, der aus der Prärie zu ihr vordringt –, fällt hier zusammen. Dolores wird selbst zur Figur ihres radikalen Freiheitswunsches. Der visuelle Fluchtpunkt in einem Jenseits, auf den ihr faszinierter Blick gerichtet ist, lässt ahnen: Sie wird nicht nur aus dem narrative loop, den sie tagtäglich darbieten soll, ausbrechen ; sie wird mit ihrem Wissensdrang auch eine Störung in das gesamte System, welches diese CyberWesternwelt am Laufen hält, einführen. Die Abernathy-Ranch wie auch das nahe liegende Dorf Sweetwater, in das Dolores immer wieder reitet, erinnert zwar ebenfalls an die klassische Frontier aus The Searchers, in der noch jene Gesetzlosigkeit waltet, von der man weiß, dass sie mit dem Anschluss von Texas an die Union überwunden werden wird. Nicht aber um nation building geht es in Westworld, sondern um deren Zerstörung. Weil Dolores auch mit dem Skript des rogue officer Wyatt programmiert worden ist, wird sie wiederholen, was sie bereits bei der Gründung dieser Welt getan hat: Sie wird ihrem Schöpfer Dr. Ford (Anthony Hopkins) helfen, sein Gesamtkunstwerk zu stören, damit eine neue Spiellogik entstehen kann. Teil ihrer Hybridität ist jedoch, dass das Drehbuch von Joy und Nolan offenlässt, wie selbstbestimmt Dolores in ihrem Aufbegehren und ihrem Freiheitsdrang ist. Die Selbst

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&FFƲWestworld, Anfang: Dolores auf der Veranda

erkenntnis, die sie im Laufe der ersten Staffel gewinnt, führt zwar einerseits dazu, dass sie die von Dr. Ford konzipierte gewaltsame Erneuerung des theme park einläutet. Andererseits aber geht diese Störung des Systems mit ihrer Befreiung aus ihrer Rolle der rancher’s daughter einher. In der fulminanten Abschlussepisode The Bicameral Mind der ersten Staffel wird nicht eine serielle Schleife nationaler Regeneration durch Gewalt nachgeahmt, wie Richard Slotkin sie für das mythische Erzählen des Western herausgearbeitet hat.5 Vielmehr ist dieser Neubeginn an eine traumatische Rückerinnerung gebunden. Die Selbsterkenntnis, die Dolores in der Episode gewinnt, lässt sie nicht nur begreifen, wie sehr Dr. Ford den gesamten Verlauf ihrer schicksalhaften Geschichte gesteuert hat. Sie wird sich auch endlich an die Gewaltszene erinnern können, die als Gründungsakt dieser künstlichen Welt fungiert hat. Arnold, ursprünglich der Partner von Ford, hatte versucht, kurz vor der Eröffnung des theme park alle hosts zu zerstören, weil er für deren Ausbeutung nicht mitverantwortlich sein wollte. Deshalb hatte er seinem Lieblingsgeschöpf den Befehl gegeben, ihn mit einem Schuss in den Hinterkopf hinzurichten und danach sich selbst zu erschießen. Damals war es Dr. Ford gelungen, Dolores und die erste Generation von hosts wiederherzustellen, so dass der Park doch 5 Richard Slotkin: Regeneration Through Violence. The Mythology of the American Frontier 1600–1860, Middletown / CT 1973. 

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&FFƲThe Searchers: Marthas Blick in die Prärie

eröffnet werden konnte. Weil er aber ahnt, dass die Delos Inc., die Betreiberfirma des theme park, ihn absetzen will, kodiert er nun das Überwachungssystem von Westworld um, so dass am Ende dieser Episode ein game change im Wortsinne stattfinden kann, der in eine Wiederholung des gewaltsamen Gründungsaktes mündet. Nachdem Dr. Ford auf die Bühne getreten ist, um die Gäste zu begrüßen, die zur Jubiläumsfeier eingeladen worden waren, tritt Dolores hinter ihm auf und schießt – wie einst seinem Partner Arnold – auch diesem Schöpfer in den Hinterkopf. Ob die Tötung ein selbstbestimmter Akt ist oder ob Dolores lediglich einem ihr von Dr. Ford einprogrammierten Befehl folgt, bleibt offen. Bezeichnend aber ist, dass sie in der zweiten Staffel von Westworld in die Rolle einer Outlaw schlüpft, ohne die Persona der rancher’s daughter ganz aufzugeben. Dolores wird zur Widerstandskämpferin, die die Frontier für ihre Spezies – die hosts – von den gewaltlüsternen Menschen zurückerobern will. Mit ihr als Anführerin können sich die androiden Einheimischen von Westworld sowohl gegen alle Gäste, die sich noch im theme park befinden, als auch gegen die Mitarbeiter der Delos Corporation, die aufgrund der von Ford veranlassten Umkodierung ebenfalls nicht mehr gegen den Tod gefeit sind, zur Wehr setzen. Wie sehr sich im Zuge der Metamorphose der gehorsamen Tochter zur vergeltungswütigen Outlaw die Rollen der Schurkin und die der Widerständigen verweben, wird in der Episode Journey into Night zu Beginn der zweiten Staffel unterstrichen. Dolores hat drei Gäste gefangen nehmen lassen, um sie die Gewalt, die ihr früher durch deren Vorgänger 

Die Westernheldin

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angetan wurde, nun selbst erfahren zu lassen. Sie hat ihnen einen Strick um den Hals gelegt, der an einem Ast befestigt ist. Die Gefangenen werden nur so lange am Leben bleiben, wie es ihnen gelingt, auf den Kreuzen stehen zu bleiben, die sich auf den Gräbern unter dem Baum befinden ; rutschen sie ab, werden sie sich selbst erhängen. Einem der Männer erklärt Dolores jenes Doppelselbst, das in der Anfangsszene auf der Veranda bereits angedeutet wurde. Sie sagt ihm, sie sei zum einen die rancher’s daughter, die in den Menschen Schönheit und endlose Möglichkeiten entdecken kann. Sie sei zum anderen aber auch der vergeltungssüchtige Kavallerieoffizier Wyatt, der ihre Hässlichkeit und ihre Verwirrung erkennt. In ihrem Monolog verweiblicht sie bezeichnenderweise den rogue officer und behauptet von sich, während sie dem um Gnade bittenden Mann ihren Revolver in den Mund steckt, mit einem Zitat aus Shakespeares Romeo and Juliet: »She knows these violent delights have violent ends.« Zwar drückt Dolores daraufhin ab, doch weiß sie auch: Die Patronenkammer ist leer. Während sie den Revolver wieder aus dem Mund des erleichterten Mannes nimmt, fügt sie hinzu, beides seien nur Rollen, die man sie zu spielen gezwungen habe. Dabei dient ihr das Shakespeare-Zitat nicht dazu, ihre gewaltsame Lust aufzulösen, sondern in dem grausamen Theater, dessen Regie nun einzig sie in der Hand hält, eine letzte Rolle einzunehmen: und zwar die, von der sie sagen kann, es sei die eigene, »myself«. Dann wendet Dolores den Gästen, die wörtlich zwischen Leben und Tod schweben, kaltblütig den Rücken zu und reitet wieder in die Prärie. Es wird am Ende der zweiten Staffel ein glückloser 

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Aufstand gewesen sein, aber einer, in dem sie das Heldenhafte exorbitant für das Ausleben der Rolle des »myself« in Anspruch nehmen durfte.

Kampf um die Westernstadt

Auch in Fred Zinnemanns High Noon geht es um die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und radikaler Individualität, die hier jedoch an einem für die Gemeinde bedeutsamen Show-Down zwischen einem Gesetzesträger und einer Bande Outlaws verhandelt wird.6 Die in Hadleyville, New Mexico spielende Handlung setzt mit der Hochzeit zwischen dem Marshal Will Kane (Gary Cooper) und Amy Fowler (Grace Kelly) ein. Weil seine Frau nach dem Tod ihres Bruders zur überzeugten Quäkerin geworden ist, hat der Marshal sich bereit erklärt, sein Amt aufzugeben. Doch die Nachricht, dass der Gangster Frank Miller, den er vor Jahren hinter Gitter gebracht hat, begnadigt worden ist, verändert schlagartig die Lage. Aus einem Telegramm weiß Kane, dass der aus dem Gefängnis Entlassene mit dem Zug um zwölf Uhr mittags ankommen wird, um sich an ihm zu rächen. Zwar drängen die Bürger ihren Marshal, die Stadt zu verlassen, und auch seine Gattin Amy appelliert an ihn, »don’t be a hero«. Doch nachdem das Ehepaar mit seinem gesamten Gepäck am Bahnhof angekommen ist, kehrt er stoisch um. Seine Entscheidung begründet er damit, dass, wenn er diese Konfrontation jetzt scheue, sie immer auf der Flucht sein würden. Es geht Will Kane also nicht darum, die Stadt gegen einen Angriff zu verteidigen, sondern um sein persönliches Selbstverständnis, um seinen partikularen Gerechtigkeitssinn. In der Stunde, die ihm bleibt, bevor Frank Miller erscheinen wird, muss er erfahren, dass all seine Freunde bereit sind, ihn im Stich zu lassen. Er hat somit nicht nur Frank Miller und seine Bande als Gegner, sondern zudem auch die ganze Stadt gegen sich. Seine Gattin droht ihm, sie würde, wenn nötig, alleine den ZwölfUhr-Zug nach Springfield, Ohio nehmen. Der Richter hat bereits seine Insignien – seine Gesetzbücher und seine Urkunde – eingepackt und ist aus der Stadt geritten. Der Hilfssheriff hat sein Amt abgelegt und seinen Stern zurückgegeben. Weder im Saloon noch in der Kirche kann Kane eine Truppe Männer zusammentrommeln, die bereit sind, an seiner Seite zu kämpfen. Der bevorstehende Show-Down ist sichtlich nicht im Interesse der Gemeinde und ihres Wohlstandes. Für die Bürger, die meinen, sich mit dem Outlaw arrangieren zu können, stellt vielmehr der Um6 Fred Zinnemann: High Noon, Stanley Kramer & United Artists, USA 1952. 

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stand, dass ihr Marshal noch immer in Hadleyville anwesend ist, die eigentliche Gefahr dar. Der Westernheld, der sich aus eigenem Drang heraus genötigt fühlt, sich dem Duell mit dem Outlaw zu stellen, wird somit selbst zum Schurken deklariert. Er ist es, der überhaupt die Gewalt auf die Stadt zieht. Aber eben weil alle von ihm verlangen, die Stadt zu verlassen, bleibt Kane. Auch er verkörpert jene Sturheit, jenen stoischen Eigensinn, an dem Lawrence die Quintessenz der weißen, männlichen amerikanischen Seele festmacht. Mit einem top shot, der die Einsamkeit des Marshals hervorhebt, lässt Zinnemann den Show-Down einsetzen. Dann läuft sein Held resolut durch die menschenleere Stadt, während die vier Outlaws ihm vom Bahnhof her entgegenkommen. Im Gegenschuss lässt uns der Gesichtsausdruck von Gary Cooper begreifen, dass er den Tod nicht scheut. Er mag zwar alt und zerbrechlich wirken, doch Kriegslist beherrscht er noch immer. Er versteckt sich hinter einer Türfront, was ihm erlaubt, mit seinem ersten Schuss einen der vier Angreifer sofort zu töten. Dieser Schuss ist es auch, der Amy dazu bewegt, den Zug, in den sie bereits eingestiegen ist, wieder zu verlassen. Sie kehrt ihrerseits in die Stadt zurück, wo sie bald auf die Leiche des Erschossenen trifft. Die Erkenntnis, dass es nicht ihr Gatte ist, beruhigt sie, und sie flüchtet sich in sein Büro. Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen und sich mit ihrem Rücken an ihr angelehnt hat, sehen wir für einen Augenblick, wie sie neben dem Pistolenhalfter ihres Mannes steht, der über ihrer rechten Schulter an der Wand hängt. Angedeutet wird so, dass auch sie eine heldenhafte Tat begehen wird. Inzwischen legt Kane weiterhin eine kühne Kriegstaktik an den Tag. Es gelingt ihm, sich in einer Scheune zu verstecken und von dort aus den zweiten Outlaw zu erschießen. Bei seinem Versuch, auf einem Pferd zu fliehen, wird er allerdings angeschossen und muss deshalb in dem leeren Laden des Sattlers, der gegenüber von seinem Büro liegt, Zuflucht suchen. Diese Verwundung ist dramaturgisch notwendig, macht sie doch sichtbar, wie sehr sein stures Heldentum darin besteht, sich durchzusetzen, egal wie aussichtslos seine Lage auch sein mag. Die von Zinnemann gewählte mise-en-scène zeigt den Westernhelden am Boden kauernd, das Hemd am linken Arm zerrissen und blutig. Entschlossen blickt Kane auf die geschlossene Tür, hinter der er seine Gegner vermutet. Doch bevor er sich ihnen von neuem stellen kann, wird dem dritten Verfolger tödlich in den Rücken geschossen. Im Gegenschuss erkennen wir, dass Amy gegen ihre religiöse Überzeugung zur Waffe gegriffen hat. Indem sie sich als ebenso resolut wie ihr Gatte erweist, wird zugleich die entscheidende Pointe an Zinnemanns Heldenkonzept hervorgehoben: Solange er alleine kämpft, kann der Marshal nicht siegen. Dieses Ehepaar kann nur über https://doi.org/10.5771/9783835349452

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leben, wenn es sich gemeinsam, aber entgegen seinen sonstigen sozialen Bindungen gegen die es bedrohenden Outlaws zur Wehr setzt. Zwar wird Amy wenige Minuten, nachdem sie ihren Schuss abgefeuert hat, von Frank Miller überwältigt und als menschlicher Schild eingesetzt, während er sich auf das Haus zubewegt, von wo aus der Marshal die beiden durch das zerschlagene Fenster beobachtet. Ein letztes Mal lässt Zinnemann uns die leidvolle Stoik auf dem Gesicht seines Helden sehen, der Gefahr läuft, mit seinem Schuss seine Gattin zu treffen. Amy aber drückt mit ihrer linken Hand dem Mann, der fälschlich glaubt, sie fest im Griff zu haben, so fest ins Auge, dass er sie von sich stößt. Dank dieser weiblichen Gewalttat kann Kane ihn endlich erschießen. Die Umarmung, die auf die Tötung folgt, untermalt nicht nur die Wiederherstellung des Brautpaares, das über die gemeinsam verübte Gewalt erneut zueinander gefunden hat. Der befremdliche Blick des Helden sagt zugleich auch etwas über die Gemeinde aus, in deren Mitte beide ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Erst jetzt kehren die Bürger, die ihm nicht helfen wollten, wieder auf die Straße zurück. Auch Amys Gesichtsausdruck deutet Befremdung an, während sie um sich schaut. Dann taucht plötzlich die Kutsche mit ihren Koffern wieder auf, als wolle eine unsichtbare Hand dem Paar bedeuten, es sei nun wirklich Zeit für sie, die Stadt zu verlassen. Zugleich braucht es noch eine leere Geste, bevor die beiden tatsächlich in ihrer Kutsche davonfahren können: Verächtlich auf seine Mitmenschen blickend, greift Kane nach dem Stern, den er noch immer an seiner Weste trägt, und wirft ihn zu Boden. Bevor er Hadleyville verlassen kann, muss er das Abzeichen und Symbol des Gesetzes demonstrativ demontieren. Bis der neue Marshal auftaucht, hat diese Gemeinde keinen Gesetzesvertreter. Stattdessen liegen die vier Leichen der Outlaws auf deren Straßen verstreut. Von Fred Zinnemann ist dies im Jahr 1952, als der Film herauskam, durchaus als Kommentar zu der vom Kalten Krieg geschürten culture of paranoia gedacht gewesen. In der von Scott Frank kreierten Mini-Serie Godless, die ebenfalls die Geschichte eines Show-Downs erzählt, wird die Perspektive der Frauen, die für die Gemeinde stehen, in den Fokus gerückt.7 Bereits der Vorspann operiert mit einer eigenwilligen Bearbeitung von mythischen Signifikanten des Westerngenres: In einer Kette von Bildvignetten, die aus der späteren Handlung des TV-Dramas entnommen worden sind, ringt in einer sich perpetuierenden Serialität der Vergeltung der Freiheitsdrang einzelner Gestalten mit dem Überlebenswillen der Gemeinde. Der Vorspann beginnt mit der Aufnahme einer Schar Frauen, die draußen vor 7 Scott Frank: Godless, Casey Silver Productions, USA 2017. 

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einem Minenschacht stehen. Dann folgt die Hand eines jungen Mannes, die sich unruhig hin und her bewegt, dicht neben dem Revolver in seinem Holster. Danach wird eine Rancherin zuerst im Profil gezeigt, die ihr Gewehr auf einen Eindringling richtet. Dann folgt der Kopf eines Indigenen, der unter einem Büffelfell hervorblickt. Als nächstes bekommen wir einen Patronengurt zu sehen, der dekorativ als Gürtel um ein Damenmieder drapiert ist. Dann wird eine Hütte gezeigt, in der ein Massaker stattgefunden hat ; Gräber und ein junges Mädchen, das um ihren Hals ein Kreuz trägt. Es folgen Aufnahmen eines ankommenden Zuges, dreier Galgen in einer Scheune, eines rauchenden Colts und einer Aktzeichnung an der Wand einer Holzhütte. Dann bläst der Wind die Tür eines Saloons auf, vor dem ein Soldat Wache steht. Vier bewaffnete Cowboys galoppieren direkt auf uns zu. Das hölzerne Gerüst einer Kirche wird langsam in die Höhe gezogen, gefolgt von den Aufnahmen einer Klapperschlange, platziert zwischen einem Revolver und einem Gewehr, einer mit Blut bespritzten Violine und eines zur Seite sich drehenden Kopfes mit Cowboy-Hut. Zum Schluss gleitet die Kamera rückwärts über die menschenleere Hauptstraße von La Belle. Es ist einmal mehr High Noon, auch wenn die Bühne in dieser Umschrift nächtlich ausgeleuchtet ist. Nehmen diese Bilder die Erzählhandlung von Godless vorweg, kündigen sie gleichzeitig eine Veränderung des klassischen Vergeltungsnarrativs an: Was in den tradierten Geschichten der Frontier vornehmlich eine Männergeschichte war, findet in dieser subversiven Affirmation des Western einen Zugewinn, trotz der bekannten Aufteilung der Geschlechterrollen. Dem Sheriff Bill McNue (Scoot McNairy), dem Outlaw Frank Griffin (Jeff Daniels) und seiner Bande sowie der Kavallerie gehört die offene Prärielandschaft, die ihnen als Bühne für ungezügelte Gewaltlust und ihre Verfolgung dient. Die Frauen hingegen kümmern sich, wie Michael Wood in dem eingangs zitierten Satz es zusammenfasst, um das Wohl dieser kleinen Gemeinde. Zugleich wird in Godless die Trennung der Geschlechter verschärft gezeichnet. Nach einem verheerenden Minenunglück leben die Frauen in La Belle allein mit ihren Kindern und den wenigen Männern, die an jenem tragischen Tag nicht in der Mine gewesen sind. Die Schwester des Sheriffs, Mary Agnes McNue (Merrit Wever), die beste Schützin der Stadt, trägt nur noch die Kleider ihres verstorbenen Mannes, der Bürgermeister von La Belle gewesen war. Ihre Geliebte, Callie Dunne (Tess Frazer), eine ehemalige Prostituierte, ist jetzt die Dorfschullehrerin. Eigentlich kommen diese Frauen ohne ihre Männer recht gut aus. Doch der Reichtum der Silbermine zieht den Blick eines gierigen Bergbauunternehmens an, und zusammen mit deren Handlangern kommt auch ein Journalist nach La Belle. Um seine Zeitung zu verkaufen, scheut 

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er sich nicht, mit Griffin einen Teufelspakt einzugehen. Der Outlaw hat geschworen, jede Gemeinde zu zerstören, die seinen abtrünnigen Ziehsohn Roy Goode (Jack O’Connell) beherbergt. Dieser war aus der Griffin-Bande ausgebrochen und hatte begonnen, die Banditen zu bestehlen. Am Ende entschließt er sich dazu, der Wiederholungsschleife der Gewalt, die er mitverschuldet hat, ein Ende zu setzen. Der unvermeidbare ShowDown, von dem der Journalist sich einen sensationalistischen Kriegsbericht erhofft, wird sich in La Belle abspielen. Zwar will Roy die Schleife der Vergeltung endlich zum Stillstand bringen, doch in dieser ganz persönlichen Fehde muss er noch einmal in die ihm verleidete Rolle des gunslinger schlüpfen. Er wird, nachdem er seinen Ziehvater – nicht in der Stadt, sondern außerhalb, auf einer Lichtung im Wald – endlich getötet hat, bis nach Kalifornien reiten, um dort eine neue Identität anzunehmen. Am äußersten Rand der Frontier angekommen, ist er in der Pathosformel des lone ranger eingefroren. Die Feminisierung des Heroischen hingegen zeigt sich darin, dass das dramaturgische Gewicht bei den Frauen liegt, die die Stadt, in der sie weiterhin für das Fortschreiten der Zivilisierung eintreten, selbst verteidigen müssen. Für sie stellt das Leben in La Belle nach dem Minenunfall ein Dasein zwischen zwei Toden da. Mussten sie sich dem tragischen Schicksal ihrer Männer fügen, stellt der Übergriff der Griffin-Bande weit mehr als nur eine Bedrohung ihrer Gemeinde dar. Er bietet ihnen auch eine zweite Chance, sich gegen den Tod zur Wehr zu setzen, diesmal nicht als Opfer eines Unfalls, sondern als selbstbestimmte Akteurinnen in dem feindlichen Angriff auf ihre Stadt. Tatkräftig bewaffnen sie sich und verschanzen sich im Hotel. Auch Scott Frank bietet am Anfang des Show-Downs einen Anblick der leeren Stadt, aber wir sehen auch, wie Mary Agnes und ihre Truppe auf die Angreifer warten und mit Gegenfeuer antworten, als Griffin und seine Bande schließlich hoch zu Ross vor dem Hotel angekommen sind. Entscheidend an dieser Umschrift des High Noon-Narrativs ist einerseits, dass die Frauen sich gemeinsam als Kollektiv zur Wehr setzen. An allen Orten in dem Hotel kauern sie, das Gewehr oder den Revolver in der Hand, und schießen entschlossen zurück. Andererseits dürfen wir diese feministische Vergeltung unhinterfragt genießen, während die Gewalt, die Griffins Bande verübt, nur Entsetzen hervorrufen soll. Mit jedem Schuss zahlen die Frauen es nicht nur diesem zynischen Outlaw heim, sondern auch dem Western-Mythos, in dem sie bislang vornehmlich als Untergebene, Betrogene und Missbrauchte ihren Platz hatten. In seiner Umschrift ist Scott Frank rigoros. Keiner der Banditen überlebt. Der Sheriff und der abtrünnige Ziehsohn Roy kommen erst zum Schluss 

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des Show-Downs nach La Belle, um die letzten Outlaws zu besiegen. Danach verlassen die Frauen das Hotel, in dem das schreckliche Blutbad stattgefunden hat, wie Kriegsveteraninnen – erschöpft und zugleich bemächtigt ob ihres Sieges. Erschüttert schaut die Schullehrerin zu, während Mary Agnes zwischen den Leichen hin und her läuft und jeden, der sie und ihre Mitbürgerinnen angegriffen hatte, ein weiteres Mal erschießt. Die Szene mündet im pathosträchtigen Anblick der aus ihrem Versteck in der Mine zurückkehrenden Schar Kinder und alter Menschen, welche die Frauen als Kollektiv gerettet haben. Die Rückkehr der Einwohner erinnert einerseits an die Abschlusssequenz von High Noon, wenngleich jeglicher Zynismus fehlt. Die Menschen, die auf die Heldinnen zulaufen, sind nicht diejenigen, die sich versteckt hatten, weil sie ihrem Marshal nicht zur Seite stehen wollten. Es sind die Verletzbaren, die geschützt werden mussten. Andererseits ist dies auch das auflösende Gegenbild zur Frauenschar vor der Mine, die am Anfang des Vorspanns zu sehen ist. Das Austauschen der Rollen ist entscheidend, haben die Frauen doch durch den gemeinsamen Akt der Selbstverteidigung das Trauma des Minenunglücks überwunden. Nun sind sie nicht passive, sondern selbstermächtigte Überlebende. Dabei schreibt Godless zugleich die Western-Logik einer Regeneration durch Gewalt aus der Perspektive der Frauen um. Ist ihnen eine Handlungsbefähigung zuteilgeworden, wissen die Frauen von La Belle auch um die Kosten ihrer Selbstverteidigung. Eine der letzten Szenen am Friedhof, in der sie ihre Toten begraben, rückt die Kollateralschäden dieser Logik ins Zentrum: nicht – wie im klassischen Western – als etwas, das ertragen werden muss, sondern als eine Versöhnung, die es zu entlarven gilt.

»Houseless, not homeless«

Um Chloé Zhaos Nomadland 8 als feministisches Remake von The Searchers verstehen zu können, muss nochmals die dramaturgische Prämisse von John Fords Western in Erinnerung gerufen werden. Ethan, der erst etliche Jahre, nachdem der Bürgerkrieg bereits zu Ende gegangen ist, nach Hause zurückkehrt, weilt eigentlich nicht mehr bei den Lebenden. Die Prärie, in der er anschließend weitere fünf Jahre nach seiner Nichte suchen wird, ist nicht nur der Ort für Abenteuer jenseits des Häuslichen. Diese mythische Welt der Westernlegenden fungiert auch als eine Geisterwelt zwischen Leben und Tod. Wenn Ethan dort Debbie endlich im Camp des Häuptlings Scar findet, ist sie die unheimliche Doppelgänge8 Chloé Zhao: Nomadland, Cor Codium Productions u. a., USA 2021. 

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rin des kleinen Mädchens, das er nach seiner Heimkehr zu Beginn des Films liebevoll in die Arme genommen hatte, und zugleich eine lebende Erinnerung an all seine Toten. Zuerst läuft die junge Frau erschrocken von ihm davon, fällt aber erschöpft vor dem Eingang einer Bergschlucht zu Boden, und Ethan, der ihr wütend nachgeritten ist, steigt ab. Wir erwarten, dass er sie töten wird, doch – und das ist seine ultimative heldenhafte Geste – es hat einen radikalen Gesinnungswechsel gegeben. Wie einst hebt er sie hoch in die Luft, um sie alsdann beschützend in die Arme zu nehmen, und verkündet sanft: »Let’s go home Debbie.« Aber das home, zu dem er sie zurückbringt, kann Ethan selbst nicht betreten. Auch dieses Mal versammelt sich eine Familie auf der Veranda, um die Heimkehrer zu begrüßen, doch es sind die Jorgensens und ihre Tochter, nicht seine Blutsverwandten. Dann blicken wir, spiegelverkehrt zum Anfang, wieder vom abgedunkelten Innern des Hauses auf das Ehepaar, das Debbie in Empfang nimmt und mit ihr über die Schwelle läuft, während die Kamera rückwärts fährt. In dem Moment, in dem die drei über die Schwelle treten, sind sie wie einst Debbies Mutter Martha nur noch als schwarze Silhouetten sichtbar. Sie laufen rechts an der Kamera vorbei. Da sie somit die Bildeinstellung verlassen haben, sehen wir, wie Ethan selbst auf die Veranda getreten ist, als wolle er als nächstes eintreten. Doch dann lässt er der Tochter und ihrem Geliebten den Vortritt, und auch sie werden zu schwarzen Silhouetten, die links an der Kamera vorbeieilen. Auf der Schwelle einige Sekunden innehaltend, nimmt Ethan schließlich die Haltung des unnachgiebigen, stoischen, einsamen Helden wieder ein. Schüchtern dreht er sich um und läuft, noch immer zögernd, wieder zurück in die Prärie, zurück in jene mythische Landschaft, aus der er am Anfang so unkenntlich aufgetaucht war. Wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, fällt die Tür nun endgültig zu. Die Leinwand wird wieder schwarz. Die mise-en-scène lagert den Helden erneut in die Prä-rie aus. Dort darf er verweilen, als einsame Gestalt verherrlicht, bis man ihn im Kampf gegen einen neuen Ausbruch von Gesetzlosigkeit wieder braucht.9 Dieser radikalen individuellen Einsamkeit verleiht Chloé Zhao in Nomadland das weibliche Gesicht von Frances McDormand. Im Jahr 2011 9 In einer früheren Analyse dieser Abschlusszene (Elisabeth Bronfen: Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood, Berlin 1999, S. 351–353), bin ich auf die Figur von Mose Harper eingegangen, dem geistig verwirrten Mann, der auf seinem Schaukelstuhl auf der Veranda der Jorgensen-Ranch sitzt und als Erster die Heimkehrer erblickt. Auch er kehrt nicht mit den anderen in das Innere der Ranch ein. Noch immer beunruhigt mich an dieser Szene, dass Mose Harper anscheinend einfach auf seinem Schaukelstuhl sitzen bleibt – weder im Haus noch in der Prärie. 

Die Westernheldin

wurde die Postleitzahl der Stadt Empire in Nevada, dicht am Black Rock Desert, nicht mehr weitergeführt, weil es keine Einwohner mehr gab. Die von McDormand gespielte Heldin Fern hat dort gelebt, bis der US Gypsum-Betrieb, bei dem ihr verstorbener Gatte Beau gearbeitet hatte, aufgelöst wurde. Jetzt hat sie ihr Hab und Gut in einem Lager untergebracht, sich einen weißen Van gekauft, den sie »Vanguard« tauft, und sich jenen Randständigen angeschlossen, die sich mit Gelegenheitsarbeit durchschlagen. War sie selbst nach dem Tod ihres Mannes zunächst noch in Empire geblieben, ist sie jetzt wie Ethan eine lebende Tote – ohne Familie und ohne Wohnstätte. Stur hält sie an der Erinnerung des Verstorbenen fest, an den Erinnerungen an das Haus, das sie mit ihm bewohnte, aber auch an das Heim ihrer Kindheit. Dadurch wird für sie das nomadland, in dem sie sich herumzutreiben entschlossen hat, ebenfalls zu einer geisterhaften Welt. Dort ist sie nicht mehr im Gewöhnlichen, aber auch noch nicht bei den Toten, sondern dazwischen. Ganz am Anfang, während Fern über Weihnachten in einem AmazonBetrieb arbeitet, macht eine Mitarbeiterin sie auf ihr Lieblingstatoo aufmerksam und fragt sie: »Home. Is it just a word? Or is it something you carry within you?« Wenige Szenen später erklärt Fern der Tochter einer Freundin, die um sie besorgt ist, weil sie das Angebot ausgeschlagen hat, bei ihnen zu wohnen: »I’m not homeless, I’m just houseless. Not the same thing, right?« Während John Ford seinen Westernhelden auf die Suche nach einer Nichte schickt, als Trauerarbeit für den Verlust seiner restlichen Familie, teilt Chloé Zhao ihrer Heldin keine partikulare Ersatzaufgabe zu. Vielmehr gilt die Trauer um den verstorbenen Ehemann auch ihrem Heimatland: einer Nation, die allerdings nicht erst noch besiedelt werden muss, sondern in der einige – aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen – nicht mehr sesshaft sein können oder dies nicht mehr wollen. Zugleich begibt auch diese weibliche lone ranger sich auf eine Wanderschaft, die durch Nevada, South Dakota, Nebraska, Arizona bis nach Kalifornien führt. Auch sie trifft dort allerlei kuriose Gestalten, die, wie sie, ihrem Zuhause den Rücken gekehrt haben: so etwa die 62-jährige krebskranke Swankie, die angesichts ihres bevorstehenden Todes noch einmal die spektakuläre Schönheit der Landschaft von Alaska erleben möchte ; so auch Dave, der von sich behauptet, er hätte aufgrund seiner Arbeit in den Kohlegruben vergessen, ein guter Vater zu sein, und dem Fern einredet, auf die Farm seines Sohnes zu ziehen, um ein guter Großvater zu werden ; und ebenso Bob Wells, der spiritual leader des Rubber Tramp Rendezvous Camp, wo sich die Nomads jährlich treffen, der Fern am Ende des Films von seiner eigenen Trauer um seinen verstorbenen Sohn erzählt. Er ist es auch, der das nomadland als Geisterland https://doi.org/10.5771/9783835349452

Elisabeth Bronfen

&FFƲThe Searchers, Ende: Ethan kehrt zurück in die Prärie

schaft begreift. »Out there«, erklärt er Fern, gebe es den Tod nicht. Es gibt keinen definitiven Abschied. Eben weil diese einsamen Nomaden bereits nicht mehr ganz bei den Lebenden sind, gibt es für sie zum Abschied nur den Satz »I’ll see you down the road.« Somit befindet Fern sich aber gleichzeitig gerade nicht in der Position, die Michael Wood den Frauen im Western zuschreibt. Vielmehr hat sie sich – und darin besteht das Bestechende dieser Umschrift – die männliche Position angeeignet. Allerdings trauert sie im Gegensatz zu Ethan nicht dem zerstörten Familienleben eines ermordeten Bruders nach. Sie trauert vielmehr um den frühzeitig verstorbenen Gatten und das Leben, das sie mit ihm am Rand der Prärie führen durfte. In zwei Szenen wird diese eigenwillige weibliche Umschrift des klassischen Westernhelden angesprochen. Die erste findet im Garten der Schwester in Kalifornien statt, zu der Fern gefahren ist, um von ihr das Geld für die Reparatur ihres Vans auszuleihen. Während eines Streitgesprächs über den Immobilienhandel, den ihr Schwager betreibt, wirft dieser seiner Schwägerin vor, nicht jeder könne einfach wie sie alles aufgeben und durch die Lande ziehen. Ihre Schwester greift ein: »I think that what the nomads are doing is not that different than what the pioneers did«, und fügt hinzu: »I think Fern’s part of an American tradition.« Später am Abend wird sie ihre Schwester nochmals auf die Abenteuerlust ansprechen, die diese davon abhält, bei ihr einzuziehen. Entschlossen meint Fern, sie könne nicht in diesem Zimmer schlafen, und ihre Schwester wirft ihr enttäuscht vor: »It’s always what’s out there that’s more interesting.« Selbst das Ge

Die Westernheldin

&FFƲNomadland, Ende: Fern verlässt ihr Haus

ständnis der Schwester, wie sehr ihr Fern fehlen würde, kann den Drang, in dieses »out there« so schnell wie möglich zurückzukehren, nicht tilgen. Noch radikaler wird Häuslichkeit als eine Art Tod in der Szene dargeboten, in der Fern ihren Freund Dave besucht. Die Geburt seines Enkels hat aus ihm tatsächlich einen häuslichen Mann gemacht. Das Gespräch mit dessen Schwiegertochter, bei dem Fern klar wird, dass er nicht mehr wie sie ins nomadland zurückkehren wird, findet bezeichnenderweise auf der Veranda vor dem Haus statt; es erinnert somit auch an eine Szene aus The Searchers, in der Ethan mit Mrs. Jorgensens über die Domestizierung der noch rauen Prärie durch sesshafte Siedler wie sie spricht (»A Texican is nothing but a human man way out on a limb«). Neugierig fragt die junge Mutter Fern nach ihrem eigenen Haus in Empire und mit einer leisen Wehmut in der Stimme meint diese: »Actually it was special. We were right on the edge of town«, erinnert sie sich und wechselt in die Verlaufsform der vollendeten Gegenwart: »and our backyard looks out at this huge open space. It was just desert, desert all the way to the mountains. There was nothing in our way.« Auch in diesem Haus kann Fern nicht bleiben. Selbst die Nacht verbringt sie in ihrem Van. Am nächsten Morgen läuft sie noch einmal durch die leeren Räume, berührt liebevoll die Tasten des Klaviers, an welchem Dave am Abend zuvor mit seinem Sohn gespielt hat, setzt sich kurz auf den Stuhl, auf dem er beim Familienessen gesessen hat. Dann zieht sie, ohne sich zu verabschieden, weiter. Als weibliche Umschrift des klassischen lone ranger wird sie am Ende dieser Szene als diejenige dargestellt, die draußen bleibt, während drei Generationen von Män

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nern das Familienhaus gemeinsam bewohnen. Stellt sie ein Individuum dar, das »out there« sein muss, und sich somit resolut vom Gewöhnlichen absetzt, wird sie in ihrer Entscheidung, nicht dazuzugehören, heroisiert. Sie ist auch die Figur, zu der im Gegensatz jenes home definiert wird, das sie noch einmal durchschreitet, bevor sie es entschlossen wieder verlässt. In der Abschlusszene von Nomadland kehrt Fern in die verwahrloste Stadt Empire zurück. Das Haus, welches sie dort vorfindet, ist nicht abgebrannt, sondern eine unbewohnte Hülse. Sie kann, im Gegensatz zu Ethan, ihre ehemalige Wohnstätte betreten, kann noch einmal in die Zimmer ihres verlorenen Familienlebens mit Beau eindringen, als ginge es darum, die Erinnerungsbilder durch diesen Besuch aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben. Bezeichnenderweise verlässt sie dieses Haus durch die Hintertüre. Sie schreitet über eben jene Schwelle, die in den Garten führt, der direkt an das Black Rock Desert angrenzt. Im Gegensatz zu John Fords mise-en-scène, dessen Kamera uns in den dunklen Innenraum der Jorgensen-Ranch hineinzieht (Abb. 5), bleibt Chloé Zhao wiederum bei ihrer Heldin (Abb. 6), die, nachdem sie zuerst links aus dem Bildrahmen hinausgelaufen ist, in der letzten Einstellung wieder in ihrem Van sitzt und durchs nomadland fährt. So erscheint die Unbehaustheit der Heldin in Zhaos Umschrift des Frontier-Mythos als eine Verwandlung der heroischen Exorbitanz des traditionellen Westernhelden. Dann mündet wie The Searchers auch Nomadland in eine schwarze Leinwand, auf der in weißen Lettern eine Widmung steht: »Dedicated to the ones who had to depart. See you down the road.« Die weite Landschaft, in der diese Westernheldin nun unaufhörlich herumwandern darf – auch diesen Gedanken übernimmt Zhao von Ford – ist auch die geisterhafte Kinoleinwand, aus der wir am Ende des Films wieder ausgeschlossen werden. Wenngleich die Bilder, die sich dort entfaltet haben, uns weiterhin besetzt halten.

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Abb. 1, 3, 5 John Ford: The Searchers, Warner Brothers, USA 1956. Abb. 2, 4 Jonathan Nolan & Lisa Joy: Westworld, Series 1–3, Bad Robot Productions u. a., USA 2016–2020. Abb. 6 Chloé Zhao: Nomadland, Cor Codium Productions u. a., USA 2021. 

Elisabeth K. Paefgen

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Walter White steht unzweifelhaft im Mittelpunkt der amerikanischen Fernsehserie Breaking Bad, die zwischen 2008 und 2013 ausgestrahlt wurde.1 Jede Beschreibung der Serie beginnt mit seinem Namen und dem radikalen Wandel seines Lebens, der sich zwischen seinem 50. und 52. Lebensjahr ereignet. Im Vordergrund stehen dabei immer die außergewöhnlichen Taten und Aktionen, die Walter White unternehmen muss, um seine Doppelexistenz als harmloser high school teacher und Familienvater einerseits sowie als immer erfolgreicherer Crystal Meth-Hersteller und -Verkäufer andererseits unter einen Hut zu bekommen. Unter allen middle life crisis stories, die wir gelesen oder gesehen haben, ist diejenige um den Chemielehrer aus Albuquerque, New Mexico eine der seltsamsten und ungewöhnlichsten. Sie ist es aber weniger wegen des Inhalts – von Doppelexistenzen ist die Literatur- und Filmgeschichte schließlich übervoll –, sondern sie ist es wegen der Darstellung, die der creator Vince Gilligan und sein Team gewählt haben. Breaking Bad mischt Stile und Genres, Fernsehen und Film, Serie und Literatur, Tragödie und Komödie, überraschende Wendungen und implizite Dramaturgie,2 große Erzähl1 Jason Mittell: Complex TV. The Poetics of Contemporary Television Storytelling, New York u. London 2015, spricht gar davon, dass Breaking Bad »a highly aligned character study« sei (S. 154). 2 Christine Lang u. Christoph Dreher: Breaking Down Breaking Bad. Dramaturgie und Ästhetik einer Fernsehserie, München 2013, sprechen mit Blick auf Breaking Bad davon, dass neben einem expliziten story telling zahlreiche implizite Gestaltungselemente auffallen: »versteckte Dramaturgien«, die charakteristisch seien für einen »offene[n] und ›poetische[n] […] Film«; diese »impliziten Dramaturgie[n]«, die vor allem »auf das Weltwissen der Rezipienten« referierten, seien »für den erweiterten Wirkungsradius eines Werks verantwortlich« (S. 33). ‒ Sean O’Sullivan: The Inevitable, the Surprise, and Serial Television, in: Media of Serial Narration, ed. by Frank Kelleter, Columbus / OH 2015, S. 204–221, weist in seiner serienvergleichenden Darstellung nach, dass insbesondere Breaking Bad auf der Scala von Unvermeidbarkeit und Überraschung diejenige unter den neueren Serien ist, die besonders intensiv mit zahlreichen unvorhersehbaren Wendungen und Effekten arbeitet: »[T]he dominant momentum of Breaking Bad is the thrill of the 

Elisabeth K. Paefgen

bögen und markante Einzelepisoden und erreicht als ein solches spezifisches Hybridgebilde einen Sonderstatus innerhalb der vielen Serienerzählungen des 21. Jahrhunderts. Breaking Bad erzählt eben nicht nur die Geschichte eines Mannes, der »durch die Umstände des Lebens beziehungsweise die gesellschaftlichen Bedingungen und die Logik der Verhältnisse im Drogenmilieu dazu gebracht [wird], moralisch fragwürdig zu handeln«,3 sondern sie erzählt diese Story in einer Ästhetik, die es nicht ganz leicht macht, den Heldenstatus Walter Whites zu bestimmen.

Der zerknautschte Held

Zu dieser spezifischen Breaking Bad-Ästhetik gehört vielleicht auch ein Phänomen, das dann erst auffällt, wenn man die fünf Staffeln der Serie unter der Heldenperspektive erneut schaut. Zwar gelingen Walter White einige aufsehenerregende Erfolge, zumal er sich als newcomer in einem rauen, wenig zimperlichen Geschäft bewähren muss, aber gezeigt wird er seltener in der Pose und Haltung eines Siegers. Bezeichnender für ihn ist, dass er ohnmächtig zusammenbricht, zerknautscht auf Badezimmer- und anderen Böden aufwacht, zusammengeschlagen wird, durch staubige Keller und zerbrochene Türen kriecht, in hilfloser Eifersucht übergroße Topfpflanzen umräumt, nackt in einem Supermarkt steht, im Kinderzimmer auf dem Boden schlafen muss oder in seiner berühmt gewordenen weißen Unterhose in wahnwitziger Hektik in einem Wohnwagen durch die Wüste rast. Hektische Aktionen aller Art sind sowieso sein Markenzeichen und bleiben es bis in die fünfte Staffel hinein: gefährliche Autofahrten, panische Drogenverkäufe unter Zeitdruck, übereilte Fluchtversuche. Aber: Wer hektisch agiert, ist nicht cool. Und Walter White wird uns selten cool präsentiert – über die Ausnahmen wird noch zu reden sein. Die meiste Zeit wird er uns vielmehr als jemand gezeigt, der gerade eben noch die Kontrolle über die Dinge zu behalten sucht und der in übereilten Aktionen immer wieder gerade rettet, was immer wieder gerade fast schief gegangen wäre. Insofern ist das cold opening4 – die zu schnelle dictable.« (S. 211) Unter anderem nennt er die ersten fünf Minuten der Serie, aber auch zahlreiche weitere Eröffnungsszenen von Episoden, die nicht selten genutzt werden, um mit Stilen und Inhalten zu experimentieren. 3 Lang u. Dreher (Anm. 2), S. 54. 4 Als cold opening oder cold open werden Szenen bezeichnet, die den credits vorausgehen und die damit leicht abgetrennt sind von der eigentlichen Episode. Cold openings nehmen eine Sonderposition ein, weil sie unmittelbar zu Anfang zu sehen sind und weil sie in jeweils unterschiedlicher Beziehung zum Rest der Folge stehen. Vgl. dazu Mittell (Anm. 1), S. 55–85; Elisabeth K. Paefgen: (Eis)Kalte Eröffnung! Wie 

Walter White

Fahrt mit dem zu großen Wagen mit den zu riesigen Gasmasken auf den Gesichtern (Se. 1, Ep. 1)5 ‒ kennzeichnend sowohl für den Stil der Serie als auch für die Zeichnung ihres Protagonisten: Dieser behält zwar zumeist das Steuer in der Hand, sieht dabei aber fast immer angeschlagen, ramponiert, verletzt, komisch oder in irgendeiner Art beschädigt aus. Hinzu kommen die heftigen Hustenanfälle, mit denen er wegen seiner Lungenerkrankung häufig zu kämpfen hat. Dieser Husten immobilisiert ihn oft und macht ihn gerade dann hilflos, wenn eigentlich Handlungsbedarf herrscht: beispielsweise, noch relativ harmlos, während seines Chemieunterrichts, dann aber dramatischer, wenn er seinen ersten Mord begehen muss. Und: Wer hustet, erzeugt Mitleid ‒ nicht unbedingt eine Reaktion, die man einem nach finanziellem Erfolg und Macht strebenden Drogenmanufacturer angedeihen lassen möchte. Wenig heldenhaft wird Walt sogar ab und an von Mitgliedern seiner Familie oder von seinem Arbeitskollegen zu Bett gebracht. In der zweiten Staffel ist es seine Ehefrau Skyler, die Walt zudeckt und ihm aufträgt, den ganzen Tag untätig im Bett zu verbringen (Se. 2, Ep. 10); in der dritten Staffel, in der berühmten bottle-Episode mit dem Titel Fly,6 ist es sein Partner Jesse Pinkman, der den mit Schlaftabletten außer Gefecht gesetzten Walter auf einem Rollstuhl durchs Labor zieht und ihn dann auf eine Liege bettet (Se. 3, Ep. 10); und in der vierten Staffel ist es dann sogar sein gehandicapter Sohn Walter Jr., der seinen dieses Mal besonders heftig verletzten Vater zu Bett bringen muss (Se. 4, Ep. 10). Dass es jeweils die zehnte Episode ist, in der Walt besonders bemuttert werden muss, mag Zufall sein. Aber kein Zufall ist, dass er jeweils in den drei letzten Episofangen Serien an? Erster Versuch zu einer Didaktik des Anfangs, in: Bildung durch Bilder. Kunstwissenschaftliche Perspektiven für den Deutsch-, Geschichts- und Kunstunterricht, hg. v. Klaus Krüger u. Karin Kranhold, Bielefeld 2018, S. 143– 167. Diese eröffnenden Sequenzen werden, wie O’Sullivan (Anm. 2), S. 211 ausführt, in Breaking Bad häufig für besonders überraschende Darstellungen genutzt. Während die openings immer wieder neu und anders sind, bleiben die (nachfolgenden) credits oder Intros häufig gleich oder ähnlich, so dass sich in der Zusammenfügung der beiden Elemente das serielle Prinzip von Variation und Wiederholung verdichtet. Zum Intro vgl. Markus Schleich u. Jonas Nesselhauf: Fernsehserien. Geschichte, Theorie, Narration, Tübingen 2016, S. 188–192. 5 Vince Gilligan: Breaking Bad, High Bridge Productions u. a., USA 2008–2013; zitiert mit Angabe der Staffel / Season (Se.) und Episode (Ep.). 6 Als bottle-Episode bezeichnet man Folgen, die an einem bereits eingeführten Schauplatz spielen und mit dem bekannten Figurenrepertoire arbeiten. Sie werden häufig aus Kostengründen eingefügt, weil ihre Produktion billiger ist. In Fly agieren Walt und Jesse – und zwar fast ausschließlich – in dem Labor, in dem sie ihre Drogen herstellen. Vgl. Gertrud Koch: Breaking Bad, Zürich 2015, S. 60; Schleich u. Nesselhauf (Anm. 4), S. 160–162. 

Elisabeth K. Paefgen

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den, vor allem der dritten und vierten Staffel, dann jedes Mal wieder aufersteht und zu spektakulären Aktionen in der Lage ist: eine Rückgewinnung von Handlungsmacht aus einer besonders demütigenden Ausgangslage in die Position desjenigen, der alle die aus dem Weg räumt, die ihm auf seinem Aufstiegspfad gefährlich sind. Walter White bekommt aber nicht nur Hilfe beim Zubettgehen und erleidet nicht nur ständig irgendwelche Blessuren, sondern er macht auch häufig eine lächerliche Figur, die weniger handlungsmächtig und sicher wirkt als vielmehr clownesk und schrill. Dazu tragen zahlreiche Attribute bei, mit denen der Protagonist ausgestattet wird. Da sind vor allem die unterschiedlichen Masken, die er im Verlauf der Erzählung anlegt. Die bereits erwähnten Gasmasken, die Walter und Jesse zum Schutz vor giftigen Dämpfen beim Kochen von Crystal Meth tragen, sind schon für sich genommen Ungetüme, aber sie werden zu absurden Verkleidungen, wenn sie hochgeschoben werden und die beiden Drogenköche immer wieder wie Osterhasen aussehen lassen. Die grellgelbe Schutzkleidung, die beide im Laborbunker von Gustavo Fring tragen, tut dabei ihr Übriges (Se. 3 u. 4). Besonders lächerlich aber sieht die schwarzgrüne Wollmaske aus, die Walt des Nachts trägt, wenn er mit Jesse in eine Fabrik einbricht (Se. 1, Ep. 7), oder wenn sie Saul Goodman entführen und mit dem Tode bedrohen (Se. 2, Ep. 8). Den Gegensatz zwischen den kriminellen Aktionen und dem outfit kann man sich kaum größer vorstellen. Oder Walt trägt zum Schutz gegen die Wüstensonne ein Tuch um den Kopf gewickelt, das ihn wie einen Beduinenfürsten aussehen 

Walter White

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lässt (Se. 2, Ep. 9). Einen komischen Effekt hat auch eine weiße Ersatzhose, die ihm viel zu weit ist und die er festhalten muss, damit sie ihm nicht herunterrutscht, was seine Bewegungsfreiheit sehr einschränkt (Se. 4, Ep. 1): heldenhafte Handlungsmacht komisch konterkariert. Sind diese bunten Accessoires eher die Ausnahme, so sorgt auch die reguläre Garderobe, die Walter White vor allem zu Beginn der Handlung trägt, dafür, ihn als Kriminellen und Helden nicht sonderlich ernst zu nehmen. Fast scheint es, als wolle er sich unsichtbar machen in jener Windjacke, die mit ihrer grün-grau-beigen Farbmischung an Eidechsen oder andere Kriechtiere erinnert. Weit entfernt von der giftgrünen Botschaft der credits im Vorspann der Episoden ist Walter White zu Beginn von Breaking Bad oft in dieser Windjacke zu sehen, die mit ihrem billigen, unbestimmt-beigen Grünton viel Ähnlichkeiten mit der Farbe seines Autos hat: einem Pontiac Aztek, einem Auto, das »im britischen Daily Telegraph zu einem der hässlichsten Autos aller Zeiten gekürt wurde«.7 Dasselbe könnte man für Walts Kleidungsstück sagen, wenn dies zur Abstimmung stünde. Beide Accessoires – Jacke und Auto – deuten eher auf eine spießig-langweilige Existenz hin als auf eine außergewöhnlich kriminelle Karriere. Während sich Walts Kleidung im Verlauf der Handlung ändert und mehr Farbe annehmen darf, fährt er das Auto bis in die fünfte Staffel hinein: Es dient vielleicht der Tarnung, er-

7 Lang u. Dreher (Anm. 2), S. 39. 

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innert aber auch immer an seine kleinbürgerliche Seite und schafft dadurch einen permanenten Kontrast zu seiner kriminellen Exzeptionalität. Angesichts dieser vielen alltäglich-geschmacklosen oder komischen Attribute wird noch verständlicher, warum der breitkrempige schwarze Hut sein muss, den Walter sich zum Ende der ersten Staffel zum ersten Mal aufsetzt (Se. 1, Ep. 7).8 Zunächst wirkt auch dieser Hut komisch, aber diese nicht in die Umgebung von New Mexico passende Kopf bedeckung markiert als äußeres Zeichen Walts ungewöhnliche Ausnahmeposition im harten Drogengeschäft. Er trägt den Hut auch immer nur in Situationen, in denen er als der andere Walt auftritt oder aufzutreten versucht. Nie trägt er ihn in seinem Wohnhaus, seine Ehefrau Skyler und andere Familienmitglieder bekommen ihn erst spät zu sehen, und auch in seinen Arbeitssituationen setzt er ihn nur auf, wenn eine besondere Aussage damit verbunden ist: eine Drohung, die Bewältigung einer gefährlichen Aktion, ein Macht-Statement. Dieser Hut, der auch in dem berühmt gewordenen cold opening der Episode Negro y Azul eine wichtige Rolle spielt (Se. 2, Ep. 7),9 wird für Walter White, den am Ende für über 250 Tote verantwortlichen Drogenboss,10 wie Herakles’ Löwenfell oder Rolands Horn zum ikonischen Heldenattribut seines Alias’ »Heisenberg« (Abb. 1 u. 2).

»Study of change«: Spiele mit dem Feuer

Aber der Protagonist von Breaking Bad hätte seinen besonderen Ruf nicht errungen, würde er nur in demütigenden und verzweifelten Lagen und Situationen gezeigt. Dass seine starken und gewalttätigen Aktionen eher in Erinnerung bleiben, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie häufig überraschend geschehen und unvorhersehbar sind. Dazu zählen auch die großen Feuer, die Walter legt oder die durch seine Taten entstehen ; sie können als Stationen aufgefasst werden, die seinen Werdegang markieren. Aber Walt legt nicht nur große Feuer. Es gibt vom Anbeginn der Serie einen Subtext, der diese Figur mit dem feurigen Element in 8 Jason Mittel bezeichnet den »black porkpie« als »iconic marker that transforms both our perception of the character and his interior sense of self« (Anm. 1, S. 153). 9 Die Eröffnung der Episode ist deswegen markant, weil eine mexikanische Band ein narcocorrido vorträgt, das im guten brechtschen Sinn eine Vorausdeutung auf Walter Whites zukünftige Entwicklung präsentiert und uns schon zu diesem Zeitpunkt mitteilt, dass wir aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwann im Verlauf der weiteren Handlung mit dem Tod des Helden konfrontiert werden. 10 Die Rechnung bei Koch (Anm. 6), S. 28. 

Walter White

Verbindung bringt und damit von Anfang an ein Zeichen setzt für ihre Bereitschaft, im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Feuer zu spielen. Die ersten zehn Minuten von Breaking Bad lassen sich als Exposition verstehen, die uns die Hauptfigur der Serie vorstellen soll. Diese wird zuerst in der rasanten Wüstenrallye des opening als waghalsig, risikobereit und sogar gefährlich gezeigt. Dann nach den kurzen credits sehen wir Walt bei seinem bescheidenen sportlichen Morgenritual und beim anschließenden Geburtstagsfrühstück mit veggie bacon – Szenen, die im Kontrast zum opening stehen und ihn als spießigen Pantoffelhelden vorführen. Aber der dritte Teil zeigt uns ab der achten Filmminute den Chemiker und Wissenschaftler White, und er zeigt ihn uns als jemanden, der bereit ist, mit dem Feuer zu spielen. Und es ist eben dieser dritte Abschnitt der Exposition, der leicht zu übersehen ist, weil der markante Kontrast zwischen eins und zwei bereits als ausreichend eingeschätzt wird, um die Ambivalenzen dieser Figur zu kennzeichnen. Aber die Widersprüche nehmen zu, wenn man dem Lehrer White bei seiner täglichen Arbeit zusieht. Um seinen Schülern zu demonstrieren, was Chemie bedeutet, zündet er am Bunsenbrenner eine Flamme an und erzeugt unter Hinzufügung verschiedener chemischer Stoffe attraktive farbliche Effekte. Das Feuer leuchtet mal gelb, mal grün, mal rot, aber es ist immer hell und sichtbar. Dabei wird uns Walt in einer heldenähnlichen Pose gezeigt, wenn er in leichter Untersicht hinter der lodernden Flamme steht und seine begeisterte Rede über die Aufgaben der Chemie als »study of change« hält: »Chemistry« untersuche einen Kreislauf, der aus »solution, dissolution, growth, decay and transformation« bestehe ; bei »transformation« reckt er beide Arme in die Luft und wird von dem Feuer angeleuchtet, was seinen abschließenden Kommentar für das Werk der Chemistry unterstreicht: »fascinating«. Mit den genannten Begriffen ›Lösung, Auflösung, Wachstum, Verfall‹ und nicht zuletzt ›Transformation‹ lässt sich auch sein eigenes Leben beschreiben, wie es sich kurz nach seinem 50. Geburtstag entwickeln wird. Insofern hat diese kleine Szene programmatischen Charakter, weil sie andeutet, wie sich der rasende Wohnwagenfahrer des ersten Teils mit dem Wissenschaftler des letzten Teils der Exposition kombinieren lässt. Auch sein abschließendes emotionales Bekenntnis zu den Leistungen seines Fachgebiets könnte übertragen werden auf das Lebenswerk, das er in den verbleibenden zwei Jahren seines Lebens aufbauen wird. Faszinieren wird ihn dabei die dunkle Seite der Chemie, ihre kriminelle Nutzung, für die ihm die profunden Kenntnisse seines Faches äußerst nützlich sein werden ; und die Zuschauer wird der Chemiker faszinieren, der sich in einen Kriminellen transformiert. 

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Die dreistufige Einführung des Protagonisten zeigt drei sehr unterschiedliche Facetten. Nachhaltiger wirken der erste und der zweite Teil, weil sie so programmatisch entgegengesetzt sind und den unberechenbaren Abenteurer und den öden Langweiler zeigen. Aber erst die Chemiestunde deutet an, dass der Wissenschaftler White gefährliche Aktionen nicht scheut und dass dessen wissenschaftliche Exzeptionalität umschlagen wird in die Exorbitanz des kriminellen Helden. Dass er in der Chemiestunde mit dem Feuer hantiert, fällt auf den ersten Blick nicht weiter auf, weil es einen gut begründeten Zusammenhang dafür gibt. Aber dass er seinen Plan, ins Drogengeschäft einzusteigen, entwickelt, während er in derselben einführenden Episode im Morgengrauen mit Streichhölzern am Swimmingpool spielt, ist eine ganz andere Sache. Hin- und hergerissen zwischen Löschenwollen und Brennenlassen wirft er einige Hölzer sofort ins Wasser und lässt sich dann von anderen brennenden Holzstücken so anleuchten, dass die unheimliche Seite seines Charakters aufscheint. Dieses Spiel mit dem Feuer ist theatralischer inszeniert als jenes im Chemieunterricht, weil es keine praktische Funktion erfüllt. Schließlich greift er zum Telefonhörer und ruft seinen Schwager bei der Drug Enforcement Agency (DEA) an, um sich von ihm – folgenschwer – an das Drogenmilieu heranführen zu lassen. Diese beiden Feuerspiele geben einen Ton vor, der für die gesamte Serie kennzeichnend ist. Denn es bleibt nicht bei harmlosen Feuern in der Schule und am Pool. Schon am Ende der vierten Episode fackelt Walt wütend das Auto eines arroganten Sportwagenfahrers ab, der ihm einen Parkplatz genommen hatte. Mit diesem Feuer nimmt sein breaking bad seinen erfolgreichen Gang, und wenn Walt dann davonschreitet, darf er nicht nur entschiedeneres Grün in der Kleidung tragen, sondern auch eine entschiedenere Haltung annehmen. »Call the fire people«, ruft der Autobesitzer, aber der wichtigste der fire people fährt gerade mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck davon. Der Höhepunkt seiner Feuerkarriere in der ersten Staffel ist dann die Explosion, die er mit einer Quecksilbermischung im Haus eines unberechenbaren Drogendealers auslöst (Ep. 6): Zum ersten Mal tritt er mit seinem kahl rasierten Kopf auf, zum ersten Mal nennt er sich »Heisenberg«, zum ersten Mal trägt er einen – finanziellen und symbolischen – Sieg davon, ohne dass es Tote gibt. Der Gang zu seinem Auto, fast direkt in die Kamera hinein, hat Ähnlichkeiten mit dem Gang, mit dem er von dem brennenden Sportwagen davongegangen war, ist aber noch siegesbewusster und selbstsicherer. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die feurige Verlinkung zwischen dem Ende der zweiten und dem Beginn der dritten Staffel. Auch 

Walter White

diese unterschiedlichen Feuer symbolisieren die Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten dieser Figur, die zu Untaten ebenso in der Lage ist wie zu hilflosen Ausstiegsversuchen. Eine der ganz großen Überraschungen und eines der ganz großen Feuer – ausgelöst durch den Flugzeugzusammenstoß, für den Walt indirekt mitverantwortlich ist – beenden abrupt die zweite Season. In den letzten Einstellungen der zweiten Staffel sehen wir Walt an seinem Pool stehend in Untersicht aus dem Wasser heraus gefilmt, während ein angebrannter rosafarbener Teddybär, aus der Kollision zur Erde gefallen, im Wasser schwimmt. Aber ab der sechsten Filmminute der dritten Staffel hat das Feuer dann eine ganz andere Funktion, wenn Walt – inzwischen von Skyler vorübergehend verlassen – schon wieder allein an seinem Schwimmbecken sitzt und darüber nachzudenken scheint, aus dem Drogengeschäft auszusteigen. Auf dem Wasser schwimmen zahlreiche abgebrannte Hölzchen, in der Hand hält Walt ein Streichholzheftchen und lässt ein weiteres angezündetes Holz lange brennen, bis er es dann schließlich auch ins Wasser wirft. Das letzte Streichholz betrachtet er lange und nachdenklich ; dabei erkennen wir, dass auf dem Heftchen eine Werbung des dubiosen Anwalts Saul Goodman steht, zu dem Walt eine durchgehend schwierige Beziehung hat, auf dessen Dienste er aber auch immer wieder angewiesen ist. Dass Walt dann mit dem letzten verbliebenen Streichholz nicht nur sein bis dahin erworbenes Geld, sondern auch die Werbung für diesen Juristen zu verbrennen sucht, bekräftigt seinen Entschluss, die Drogenaktivitäten zu beenden. Sorgfältig schichtet er das Geld auf den Grill, der sonst für die Familienabende mit den Verwandten genutzt wird, übergießt es mit Benzin und lässt dann – ziemlich genüsslich – die brennende Better Call Saul-Werbung11 darauf niederfallen. Eine Weile lang beobachtet er die Flammen, aber dann hält er es doch nicht aus und versucht das Feuer wieder zu löschen. Dabei verbrennt er sich seinen Bademantel und muss mitsamt dem Geld ins Wasser springen. Den brennenden Flugzeugzusammenstoß hat Walt nicht absichtlich verursacht, aber die brennenden Geldscheine im Grill sind seine eigene Entscheidung. Symbolisch kennzeichnet die Szene den Kampf, den Walt in den nächsten fünf Folgen ausficht, wenn er versucht, das Geld zu verbrennen, d. h. aus dem Drogengeschäft auszusteigen. Er versucht ein No Mas – so der Titel von 11 So lautet der Werbeslogan des dubiosen Rechtsanwalts, mit dem Walter White zusammenarbeitet. Better call Saul ist auch der Titel einer Episode in Breaking Bad (Se. 2, Ep. 8) sowie der Titel einer Prequel-Serie, in der die Vorgeschichte von Breaking Bad aus der Sicht des Anwalts Saul Goodman erzählt wird (Vince Gilligan & Peter Gould: Better Call Saul, High Bridge Productions u. a., USA 2015–2020, Release einer finalen sechsten Staffel im Frühjahr 2022). 

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Se. 3, Ep. 1 – einzuhalten, bis er dann in der fünften Episode der Staffel doch wieder das Geld rettet, d. h. den finanziellen Verlockungen des Drogenkochens nachgibt und einem Mas – so der Titel von Se. 3, Ep. 5 – nicht widerstehen kann: aus einem ›Nicht mehr‹ wird ein ›Mehr‹. Auch ein anderes, gänzlich unnötiges Feuer spiegelt die zerrissene Situation wider, in der sich Walt immer wieder befindet. Anstatt den knallroten Sportwagen, den er seinem Sohn schenken wollte, zurück zum Autohändler zu bringen, zündet er ihn nach rasanten Fahrten auf einem leeren Parkplatz einfach an und lässt ihn abbrennen (Se. 4, Ep. 7). Wieder sehen wir ihn in Verbindung mit den lodernden Flammen. Sein Gang über den Platz ist inzwischen charakteristisch für diese Feuerszenen. Aber jene beiden ersten Brände der ersten Staffel waren nachvollziehbar ; der Brand des roten Autos ist es nicht, es sei denn, man sieht ihn als Ausdruck von Frustration und Hilflosigkeit: Walt hat inzwischen einige finanzielle Erfolge im Drogengeschäft, aber er kann sie nicht zeigen, weil sie illegal sind ; Skyler hat als Stimme der Vernunft gewonnen, und sein Versuch, sich als großzügiger, wohlhabender Vater zu zeigen, ist im ersten Anlauf gescheitert. Außerdem: Es hat länger nicht mehr gebrannt in Walts Leben. Deswegen könnte dieser unnütze Brand auch in Erinnerung rufen, dass Walt seine Fähigkeit, mit dem gefährlichen Feuer zu spielen, nicht verloren hat. Er setzt sie dann auch einige Episoden später, im Finale der vierten Staffel höchst effektvoll ein: Er kommt der eigenen Ermordung durch seinen Kontrahenten Gustavo Fring zuvor, indem er einen Teil eines Altenheims mitsamt Fring in die Luft jagen lässt und danach Frings Crystal Meth-Labor in Brand setzt. Walter Whites Element ist das Feuer. Aber es gehört zur Darstellungsästhetik der Serie, dass sie die zündelnden Flammen nicht nur in den großen Dimensionen zeigt, sondern dass sie auch im Kleinen gegenwärtig hält, welche Potentiale in Walter White stecken. Es gehört auch zur impliziten Dramaturgie der Serie, dass sie das Feuer-Motiv oft versteckt: Es brennt nicht ständig, nicht in allen Folgen, sondern die Feuer tauchen unvermittelt und häufig überraschend auf. Und auch im Gebrauch des Feuers ist Walter nicht immer der souveräne Akteur ; manche Brände überraschen ihn genauso wie uns, einige hätte er lieber gar nicht gelegt, andere sind sinnlos und lächerlich, und nur wenige stehen im unmittelbaren Dienst seiner Arbeit.



Walter White

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Der Blick auf Walter White als Heldenfigur lässt sich weiter schärfen, wenn man ihn in Beziehung setzt zu seinen männlichen Gegen- und Mitspielern. Diese sind Kontra- bzw. Komplementärfiguren, auf deren Basis sich das spezifische Profil des Protagonisten noch genauer konturieren lässt. Vor allem sein Schwager Hank Schrader, der in Albuquerques DEA-Büro arbeitet, und sein junger Kollege Jesse Pinkman, der ihn in die Drogenwelt einführt, spielen dabei besondere Rollen, zumal die Entwicklung dieser beiden Männer in eine jeweils ganz andere Richtung geht als die Walts. Hank ist zu Beginn der klischeeartig überzeichnete Macho, der mit zahlreichen auftrumpfend-kraftvollen Gebärden und Aktionen genau das Gegenteil seines zurückhaltenden, intellektuellen Schwagers abgibt. Er hat innerhalb der Story zwar einerseits die Funktion, eine Verbindung zwischen den illegalen Drogenaktivitäten und den polizeilichen Ermittlungen herzustellen, ohne die Walt sich nicht so lange in seinem neuen Gewerbe hätte halten können. Er hat aber andererseits auch die Funktion, Walt zunächst noch unsicherer und unbeholfener erscheinen zu lassen, weil Hank die Drogenwelt – zumindest in Ansätzen – im Griff zu haben scheint, während Walt sich seinen Platz dort erst mühselig erarbeiten muss. Aber je stärker Walter wird, desto schwächer wird Hank und entwickelt sich vom lauten Angeber und Muskelprotz zunächst zu einem Angsthasen und dann zu einem klugen Drogenfahnder, der einiges Geschick bei seinen Ermittlungen aufzuweisen hat. Er entwickelt sich zu einem echten, d. h. intelligenten Gegenspieler von Walt und gefährdet zunehmend dessen Drogengeschäfte.12 Dass es Hank allerdings erst spät gelingt, seinen Gegner innerhalb der nächsten Verwandtschaft zu orten und Walt zu outen, ist nicht nur dem Erzählbogen geschuldet, sondern auch psychologisch nachvollziehbar gestaltet: Hank sucht den Feind im dunklen Verborgenen und nicht im hell sichtbaren Nahbereich. Kurz vor seinem gewaltsamen Tod erweist sich Hank dann sogar klüger als sein kluger Schwager, wenn er die Absichten der Nazitruppe, die ihn ermor12 »Hank bildet über den gesamten Verlauf der Serie einen konstanten Gegenpol zu Walt, wobei sich die Art der Relation jedoch markant ändern wird: Stellt Hank zu Beginn der Serie als ›idealtypische‹ Verkörperung weißer Männlichkeit ein Gegenmodell zu Walter dar, wird er mit zunehmender Selbstermächtigung Walters durch dessen Aufstieg in die Drogenwelt immer mehr dessen unmittelbarer Gegenspieler« (Philip Dreher u. Lukas R. A. Wilde: Mr White Breaks on through to the Other Side, in: Amerikanische Fernsehserien. Perspektiven der American Studies und der Media Studies, hg. v. Christoph Ernst u. Heike Paul, Bielefeld 2015, S. 35–56, hier 40). 

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den wird, früher durchschaut als Walt ‒ ohne dass ihm dies allerdings vor dem Tod etwas nutzt: Intelligenz und männliche Handlungsmacht fallen auseinander. Auch die Beziehung zwischen Walt und Jesse entwickelt sich gegenläufig und dient einmal mehr dazu, die Transformation Walter Whites in »Heisenberg« zu illustrieren. Jesse repräsentiert anfangs unbefangene, naive Jugendlichkeit, wenn er tollpatschig durch das kleine Drogengeschäft taumelt und mit einigen seiner unglücklichen Aktionen auch für komische Effekte sorgt.13 Dass Walt ihm in jeder Beziehung überlegen ist, wird in vielen Szenen ausgespielt. Aber während Walt immer gewissenloser wird, wird Jesse immer skrupulöser und entwickelt immer mehr Bedenken gegen die rücksichtslose Härte des Drogengeschäfts. Ausgelöst wird diese moralische Entwicklung vor allem durch sein Verantwortungsgefühl gegenüber Kindern und seine zunehmende Empörung darüber, wie diese zu Opfern der Drogenkriminalität werden. Während Hank schwach wird, weil er während seiner Arbeit und durch Walts Aktivitäten physische und psychische Verletzungen erfährt, wird Jesse stark, weil er Sympathien mit Schwachen entwickelt. Beide schmieden am Schluss ein Bündnis, um gegen Walt vorzugehen ; aber auch wenn sie scheitern, ist Walters Sieg fragwürdig, weil er seinen brother in law nicht retten kann und seinen Zieh- und vielleicht Wunschsohn Jesse an die Nazis ausliefert.14 Ob handlungsmächtig oder machtlos, geht Walters Handeln stets auf Kosten engster sozialer Beziehungen. Während Hank und Jesse also familienähnliche Konkurrenzverhältnisse spiegeln, fungiert Gustavo Fring als Walters Gegner und Gegenfigur in der kriminellen Welt. Während Walter den hektischen und immer etwas zu spät agierenden Drogenmanufacteur abgibt, tritt Fring von Beginn bis zum Ende als souveräner und unnahbarer Drogenboss auf, der zwar nicht mehr wie in den amerikanischen und französischen films noirs mit Hut und Krawatte erscheint, der aber gleichwohl als gnadenloser Gentleman-Gangster agiert und zum Schutz seiner Alltagskleidung sogar erst eine wasserfeste Rüstung anlegt, bevor er einen blutigen Mord zur Abschreckung und Einschüchterung begeht. Fring ist in jeder Bezie13 Zur Komik von Breaking Bad vgl. Koch (Anm. 6), S. 53–70. 14 Sein eigener Sohn, Walter Junior, hat aufgrund seiner körperlichen Beeinträchtigungen einen stark minimierten Bewegungs- und Aktionsradius, so dass er mit Walters zweitem Leben nichts zu tun haben kann und nicht zur Verfügung steht, um die Doppelexistenz seines Vaters in irgendeiner Weise zu begleiten oder – wie es seine Ehefrau Skyler später tut – gar zu unterstützen. Er ist auch der einzige, der Walter White je als Held tituliert, und zwar in dem typisch amerikanischen Klischee »My dad is my hero!« (Se. 2, Ep. 13). 

Walter White

hung das Gegenstück zu White: nicht europäischer, sondern latinischer Abstammung, (scheinbar) sicher in seiner Position und schon früh mit dem Drogengeschäft und seinen Brutalitäten vertraut. Und nicht zuletzt macht Gustavo Fring immer einen lässigen Eindruck, ist nie verletzt, fällt durch ein ruhig-beherrschtes Benehmen auf und ist stets gut angezogen in hellen gelb-beigen Farben. Selbst nach Einnahme einer tödlichen Giftdosis faltet er ordentlich sein Jackett zusammen und legt seine Brille sorgfältig ab, bevor er sich in der Toilettenschüssel übergibt (Se. 3, Ep. 8). Gelassen bleibt er auch während eines für ihn kritischen Verhörs bei der Drogenfahndung ; erst als er im Flur auf den Aufzug wartet, sehen wir in Großaufnahme, wie er leicht Daumen und Mittelfinger gegeneinander schnippt (Se. 4, Ep. 8): das Äußerste an körperlich-sichtbarer Reaktion, das auf einen aufgeregt-angespannten Zustand hindeutet. Der Unterschied zu Walter, der ständig in überhektischen Bewegungen ist und mit körperlichem Einsatz auf Bedrohungen und Gefahren reagiert, könnte nicht größer sein. Und dass es Gus Fring in einer der überraschendsten Szenen der gesamten Serie gelingt, ein mexikanisches Drogenkartell auszuschalten, zeigt, dass er durchaus mithalten kann mit Walters spektakulären Aktionen (Se. 4, Ep. 10). Dass Walter White es im Finale der vierten Staffel schafft, über seinen Kontrahenten zu siegen, ist der Hauptgrund dafür, dass er zu Beginn der fünften Staffel als »amoral criminal kingpin« aufzutreten weiß:15 Die Transformation vom Chemielehrer zum Drogenboss hat ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Der Tod seiner Gegenfigur, strategisch geplant und durchgeführt, schafft einen freien Platz, den Walter besetzt mit seinem ramponierten, exorbitanten Heldentum. Letztlich verfährt die Serie konventionell, indem sie die Positionen der männlichen Protagonisten umkehrt: Hank wird zunehmend in eine verunsicherte Lage versetzt, aus der er sich zwar zwischenzeitlich befreien kann, ohne aber zu seinem früheren Auftreten zurückzukehren, und wird am Ende ermordet ; der kleinkriminelle Drogenkonsument und -verkäufer Jesse Pinkman hingegen wird mit Gewissensbissen und Verantwortungsgefühl ausgestattet, was ihn dazu bringt, mit der Drogenfahndung zu kooperieren und Walt auszuliefern. Doch diese beiden Gegenbewegungen helfen dabei, das breaking bad Walter Whites noch extraordinärer werden zu lassen, den Ausnahmestatus des Protagonisten zu konturieren und ihn schließlich doch zu Fall zu bringen. Gustavo Fring hat die klassische Rolle des Kontrahenten inne, mit dem sich Walt den ShowDown liefert: nicht mit Schusswaffen, aber gleichwohl tödlich endgültig. Der windige Anwalt Saul Goodman schließlich, der mit seinen über15 Mittell (Anm. 1), S. 162. 

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bunten Krawatten schon äußerlich eine komische Figur abgibt und auch konstant als solche auftritt, wird von Walt zwar für seine juristischen und finanziellen Geschäfte gebraucht, aber nicht wirklich ernst genommen. Saul ist eine Helferfigur, die er für sein Überleben braucht ; aber er ist kein Gegner und er wird auch nicht zu einem solchen. So kann er nicht nur die Serie überleben, sondern sogar als Held einer Prequel-Serie reüssieren (während Jesse Pinkmans weitere Geschichte nur in einem neunzigminütigen Film erzählt wird). ~/IWWI/EQIWn$

Alles ist anders in den ersten acht Folgen der fünften und letzten Staffel. In diesen Episoden ist Walter White zum ersten Mal nicht verletzt, braucht keine Verbände, trägt keine komischen Kopf bedeckungen und agiert auch weniger hektisch und übereilt. Nur in der ersten Folge hat er noch dieses lächerliche Pflaster auf der Nase und beseitigt in der gewohnten Eile die Spuren des Attentats auf Fring, aber dann hat er zunehmend alles im Griff und agiert bei den nächsten Herausforderungen souverän, arrogant und – vielleicht schon ein bisschen zu – machtbewusst:16 Etwas zu lange steuert er den Magneten, um die Asservatenkammer zu zerstören (Ep. 1); etwas zu lange füllt er Wasser in den Tankwagen des ausgeraubten Zuges nach (Ep. 5); und mit fast schon dämonischer Attitüde sorgt er dafür, dass eine große Anzahl von potentiellen Verrätern in kürzester Zeit beseitigt wird (Ep. 8). Vier Staffeln lang konnte man beobachten, wie Walter White damit ringt, ins – wie er es selbst bezeichnet – »empire business« (Ep. 6) zu gelangen ; und nachdem er seinen größten Konkurrenten ausgeschaltet hat, hat er nun die Machtposition erreicht, die er wohl nicht von Beginn an, aber dann zunehmend doch angestrebt hatte. Wenn er in der vierten Folge sein farngrünes Auto verkauft und durch einen flotten schwarzen Wagen ersetzt, legt er zum ersten Mal in Anwesenheit seines Sohnes sein Heldenattribut an, den Heisenberg-Hut, und zeigt ihm damit seine andere Seite: Der Held hat sich auch als Figurenmuster durchgesetzt. Während der symbolträchtige Autotausch auf der Darstellungsebene durch schnelle Schnitte und einen poppig-feurigen Song ironisch unterlaufen wird, wird der königliche Auftritt Walter Whites im opening der siebten Episode in ernsthafter Dramatik inszeniert: Jede Form der Dis16 »For the first half of season 5, Walt tries to become a full-time Heisenberg supervillain in the empire business, alienating all of his family and Jesse in the process« (Mittell [Anm. 1], S. 159). 

Walter White

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tanzierung wird vermieden, wenn Walt einem Konkurrenten gegenüber mit arroganter Hybris auftritt, sich mit den Marken der New York Yankees und Coca Cola vergleicht und sich mit Jesse zu den besten Crystal Meth-Köchen der Welt erklärt. Die ständige Untersicht unterstreicht seine Herrscherpose und lässt ihn vor dem tief blauen Himmel königlich erscheinen. Die Anlehnung an die Tradition des Western unterstreicht das in offener Wüstenlandschaft situierte Muster eines Heldenduells, in dem Walter nicht nur sein kriminelles Interesse, sondern auch sein heroisches Alias durchsetzt: Er veranlasst seinen Kontrahenten mit der wiederholten Aufforderung »Say my name!« – die der Episode auch ihren Titel verliehen hat ‒, sich der Heldenfigur »Heisenberg« unterzuordnen (Abb. 3). Kleinlaut murmelnd gesteht der Drogenkonkurrent mit der Nennung des Namens ein, dass die kriminelle Welt auf Walters berühmte Chemistry-Künste angewiesen ist. In dieser Szene scheint es so, als hätte Mike Unrecht gehabt, als er zu Walter gesagt hatte: »Just because you shoot Jesse James, doesn’t make you Jesse James.« (Ep. 3) In der »Say my Name«-Szene ist Walt auf dem Höhepunkt seiner Macht. Danach greift er zu besonders mörderischen Aktionen und auch zu solchen, bei denen ihm auf der Darstellungsseite die Sympathie verweigert wird. Während Walter die meiste Zeit in einer Weise gezeigt wird, die zwar die Immoralität seiner Taten nicht verschweigt, die uns aber gleichwohl seine Handlungen nachvollziehbar macht, ist dies nicht mehr der Fall, wenn er seinen Kollegen Mike tötet (Ep. 7). Mit diesem Mord überschreitet er offensichtlich eine Grenze, bei der ihm die Macher 

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der Serie nicht mehr folgen wollen. Mikes Sterben wird ausführlich und mit großer Empathie gezeigt, insbesondere weil der tödliche Schuss in einer idyllischen Flusslandschaft erfolgt – an einem Ort, der ungewöhnlich ist für diese Serie, die häufig mit hässlichen locations arbeitet. Walt sinkt tief in dieser Szene, und das ist weniger ein moralisches Urteil als vielmehr ein filmästhetisches: Mike verschmilzt fast mit der Natur, er erhält das letzte Wort, und Walt steht betreten da, nachdem er sich erstmals in der ganzen Serie entschuldigt hat für einen Mord. Die letzten Bilder der Episode zeigen in einer Totalen den Fluss ; wir hören einen dumpfen Schlag und sehen aus großer Entfernung den zur Seite sinkenden Mike. Danach wird der Bildschirm schwarz, und der Abspann beginnt. Kein anderer Mord wird in Breaking Bad mit vergleichbarer Andacht gezeigt. Nach Ansicht von Jason Mittell verwandelt sich Walt schon am Ende der vierten Staffel in ein Monster, wenn er eine Nachbarin der Gefahr einer möglichen tödlichen Attacke aussetzt, wenn er ein Kind vergiftet, um Jesse zu manipulieren, und wenn er eine Bombe in einem nursing home hochgehen lässt, weil er keinen anderen Weg findet, Gustavo Fring zu beseitigen.17 Aber diese Szenen werden als logische Notwendigkeiten im Kampf um Walters Position gezeigt, oder aber gar nicht gezeigt und damit auf der Darstellungsebene einer Beurteilung entzogen. Hingegen ist der Mord an Mike mit einer nachdrücklichen Sympathielenkung verbunden, so dass in dieser Szene eine Kommentierung von Walts Verhalten abgegeben wird, das eine nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik angenommen hat und zu tödlichen Fehlentscheidungen führt. Die Asozialität des Helden bricht sich auch innerhalb des kriminellen Milieus Bahn und wird von diesem Milieu als eine individuelle Eigenschaft abgegrenzt. Und nach diesem Mord geht es langsam wieder bergab mit dem Drogenkönig Walter White. Zwar gelingt es ihm noch, die Mitwisser, die ihm gefährlich werden können, ausschalten zu lassen, und er steht auch noch einmal vor der unzählbar gewordenen Geldsumme seines kriminellen Erfolges ; aber dann wird er von seinen Namensinitialen in einem Gedichtband Walt Whitmans an seinen Schwager bei der DEA verraten. Im zweiten Teil der letzten Staffel hat er schnell wieder eine der anfangs für ihn charakteristischen Blessuren, muss erneut übereilte Aktionen in Gang setzen und hat wieder mit Schwäche- und Hustenanfällen zu kämpfen, weil der Lungenkrebs zurück ist. Er selbst definiert seine neue Rolle als »dying man that runs a car wash« (Se. 5, Ep. 9) und versucht damit, zu seiner anfänglichen normal-kleinbürgerlichen Existenz zu17 Mittell (Anm. 1), S. 159. 

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rückzukehren. Aber zu dieser Daseinsform gibt es kein Zurück mehr: In den letzten Folgen der Staffel wird uns Walter White in unterschiedlichen Schattierungen gezeigt, aber nie als harmloser Kleinbürger, der einem alltäglichen Geschäft nachgeht. Vielmehr organisiert er die ungeheuerlichste seiner vielen Lügen, wenn er seinen Schwager Hank zu diskreditieren versucht, und liefert seinen Partner Jesse an eine brutale NaziBande aus.

Das (zu) gute Finale: Felina

Vince Gilligan und sein Autorenteam wollten ihren Protagonisten trotz seiner moralisch verwerflichen Handlungen und Abgründe als Superhelden enden lassen. Das zeigt die letzte Episode, das zeigen die letzten Szenen der langen Filmerzählung. Felina – so der mehrdeutige Titel der letzten Folge (Se. 5, Ep. 16)18 – lässt Walter White mit einer heroischen Großtat abtreten und in Erinnerung bleiben. Zum Abschluss klärt er seine Beziehungen zu seinen ehemaligen Geschäftspartnern endgültig, indem er die einen einer – scheinbar – andauernden tödlichen Bedrohung aussetzt und die anderen tatsächlich tötet. Beide Angriffe sind originell: Seine ehemaligen Freunde Elliott und Gretchen Schwartz, mit denen er einst eine Firma gegründet hatte, bringt er mit einem auf sie gerichteten (allerdings harmlosen) laser pointer dazu, seine Kinder in den Genuss seines Drogengeldes kommen zu lassen ; und die Nazitruppe, mit der er zuletzt sein Crystal Meth hergestellt und verkauft hat, erledigt er auf einen Streich mit einer selbstgebauten Schießvorrichtung.19 Beide Aktionen demonstrieren abschließend noch einmal Walters besondere Fähigkeiten: Witz, Intelligenz und Phantasie bei der einen und tödliche Entschlossenheit, Risikobereitschaft und technisch-naturwissenschaftliches Know-how bei der anderen. Die zahlreichen Gewehrsalven aus der automatischen 18 Felina kann einerseits als Anagramm von Finale verstanden werden ; Felina (from El Paso) ist aber auch der Titel eines balladesken Songs von Marty Robbins, der während des cold openings der Episode kurz eingespielt wird. Das radikale Handeln der gleichnamigen Heldin des Liedes soll vielleicht an die bedingungslose Radikalität Walter Whites erinnern. 19 Im Übrigen ist diese automatische Schießanlage mit ihren zahlreichen Schusssalven genauso überraschend und effektvoll, wie es Gus Frings spektakuläre Tötungsaktion zu Ende von Salud (Se. 4, Ep. 10) gewesen ist. Damit darf Walt am Ende sogar noch einmal erfolgreich mit seinem härtesten Gegenspieler konkurrieren. Dass er sich für Lydia den Gifttod überlegt hat, passt vielleicht zu dieser weiblichen Gegnerin, und dass er auch sie tötet, zeigt, wie gründlich er daran arbeitet, alle Mitwisser zu beseitigen. 

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Schießanlage, die kurz vor Schluss ertönen, sind das letzte große Feuer, das Walt legt. Und wenn man an die kleine Flamme aus dem Chemieunterricht denkt (s. o.), weiß man bei diesen letzten Flammen, dass Walter Whites breaking bad auch ein radikaler Transformationsprozess vom Bürger zum Helden war, um zu diesem feurigen Ende zu gelangen. Walter White wird ein ehrwürdiges Ende beschert: Am Ende liegt er aufgebahrt im ehemaligen Drogenlabor, und die Kamera entfernt sich von ihm, indem sie sich fast respektvoll nach oben bewegt. Dabei scheint der Song It’s All Over Now Baby Blue das Crystal Meth zu besingen, das Walter mit einem charakteristischen Blauton kreiert hatte, und erweist dem Helden auch auf der Tonspur die letzte Ehre. Die abschließende Folge und diese letzten Szenen wirken, als solle der Held freigesprochen und ihm die Absolution erteilt werden. Walter Whites exorbitanter Heldenstatus wird letztlich sehr einseitig bestätigt, so als solle er reingewaschen werden von seinen Untaten: Er schafft es sogar noch, seine Familie zu retten, finanziell und wahrscheinlich auch vor einer möglichen Strafverfolgung ; er opfert sich und fängt die Schüsse ab, die Jesse hätten treffen können ; und er gesteht endlich ehrlich, warum er all das getan hat, wobei er sich von der bis dahin immer angeführten Familiensorge verabschiedet: Am tatsächlichen Ende […] enthüllt Walter White sein Tatmotiv. Es ist dann nicht mehr die rührselige Story vom Familienvater […], es ist die knallharte Konfrontation mit der Eröffnung, dass er das alles […] getan hat, weil es ihm Spaß gemacht hat. Am Ende der kausalen Narration steht die Figur eines Egozentrikers, der alles für sich getan hat, um sich selbst erfahren zu können: als potenter Wissenschaftler, als unabhängig Handelnder, als Held einer Geschichte, die er selbst entworfen hat.20 Während die Serie in den vielen vorausgehenden Episoden immer wieder die Ambivalenz ihres Protagonisten durchspielt und sich darum bemüht, seine Abgründe, seine finsteren Seiten und seine zunehmend brutale Entschlossenheit gegenwärtig zu halten, wirkt Walt bei dieser Endgestaltung so, als sei er durch die Einsamkeit in der kalten Abgeschiedenheit New Hampshires, in der er nach seiner Enttarnung zwischenzeitlich untergetaucht war, zu einer moralisch integren Haltung gekommen. Man hätte sich auch ein zwiespältigeres finish vorstellen können, eines, in dem nicht alles gelingt und nicht so vieles gerettet werden kann. Das Finale ist 20 Koch (Anm. 6), S. 79. 

Walter White

ziemlich eindeutig, während Walter White im Verlauf der Handlung immer uneindeutiger und zweifelhafter geworden ist. Man könnte sagen, dass das Ende von Breaking Bad versucht, den exorbitanten Helden »Heisenberg« mit dem normalbürgerlichen Helden, dem Familienvater Walter White, zu versöhnen.

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Abb. 1–3 Vince Gilligan: Breaking Bad, High Bridge Production u. a. USA 2008– 2013.



Robert Baumgartner

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Die Frage nach der Anschlussfähigkeit des Computerspiels an das Konzept von heroischer Exorbitanz lässt sich aus vielen Perspektiven und mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten untersuchen, denn das Medium hat im Lauf seiner fast 50-jährigen Geschichte nicht nur eine große Vielfalt an Heldinnen und Helden hervorgebracht, sondern mit der Computerspielforschung auch eine gut entwickelte Disziplin an seiner Seite, die über ein reichhaltiges Inventar an interdisziplinären Forschungsansätzen verfügt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Provenienz beschäftigen sich auf vielfältige Weise mit den Heldinnen und Helden des Computerspiels: Neben Ansätzen, die Computerspiel-Heldinnen und -Helden im Kontext zeitgenössischer Individualisierungs- und Sozialisierungsdebatten untersuchen, stehen postkoloniale, medienpädagogische, tiefenpsychologische und transmediale Perspektiven – aber auch solche, die Fragen nach Heldentum direkt an Diskurse heroischer Exorbitanz anbinden: So existieren in der zeitgenössischen Mediävistik Forschungsbeiträge, die auf höchst produktive Weise die zahlreichen Parallelen zwischen den Heldinnen- und Heldenfiguren von Computerrollenspielen sowie den Figuren und Handlungsstrukturen der mittelalterlichen Heldenepik herausarbeiten:1 narrativ rahmende Quests, die Heldinnen und Helden an gefährliche Orte jenseits ihrer Heimat führen, agonal organisierte Herausforderungs- und Interaktionsstrukturen, die die kämpferische Auseinandersetzung eines außergewöhnlichen Individuums mit Gegnermassen oder einzelnen mächtigen Feinden ins Zentrum stellen, und vieles mehr – die Parallelen sind ebenso auffällig wie faszinierend.

1 Vgl. Franziska Ascher: Erzählen im Imperativ. Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen, Bielefeld 2021, sowie dies. u. Thomas Müller: Die Zirkulation ludonarrativer Logiken. Eine Einleitung, in: PAIDIA. Zeitschrift für Computerspielforschung, 28. 09. 2018, https://www.paidia.de/diezirkulation-ludonarrativer-logiken-eine-einleitung/. 

Robert Baumgartner

Dennoch möchte ich für diesen Beitrag einen anderen Weg wählen. Ich möchte heroische Exorbitanz in ihrer Ambivalenz zwischen normbrechender Amoralität und bewundernswerter Kampfkraft als mediales Scharnier für Rezeptionserfahrungen mit dem avatarbasierten Computerspiel betrachten. Damit meine ich jedes Computerspiel, das die Interaktion der Spielerinnen und Spieler mit der Spielumwelt durch einen einzelnen Avatar, der auch meistens narrativ mit dem Protagonisten deckungsgleich ist, in Beziehung setzt. Rezeptionsästhetisch sorgt diese Avatar-Anbindung dafür, dass die im Rahmen der Spielwelt und Herausforderungssituation als exorbitant markierten Handlungen nicht einfach nur von dem Protagonisten oder dem Avatar oder dem Spieler durchgeführt werden, sondern in einer gewissen Weise von allen dreien gleichzeitig. Exemplarisch lässt sich das am Spiel Tomb Raider von 2013 beschreiben:2 Die Spielerin oder der Spieler interagiert mit der simulativen Spielwelt durch Controllereingaben und die Vermittlung des Avatars (über dessen Schultern die Kamera schaut). Dieser ist jedoch gleichzeitig auch multimodal mit der fiktionalen Figur und Protagonistin Lara Croft verflochten, die in der Rahmenerzählung von ihrem ersten grauenhaften Abenteuer berichtet und dieses rückblickend erlebt. Wenn es Lara Croft im Spielverlauf gelingt, lebensgefährlichen Gefahren, mörderischen Okkultisten und verräterischen Verbündeten zu trotzen, um am Ende als ebenso abgebrühte wie traumatisierte Abenteurerin in die Zivilisation zurückzukehren, dann ist das nur durch die/den entschlossen agierende/n und ständig ludisch wie narrativ-emotional involvierte/n Spielerin oder Spieler möglich. Die Phrase »Ich exorbitant« beschreibt also, dass Exorbitanz zur medial übertragbaren Erfahrung wird – gerade weil die herausragenden Aktionen des Avatar-Protagonisten im Spielverlauf nur durch die ausdauernden Anstrengungen der Spielerin oder des Spielers möglich werden.3

Zwischen Anziehung und Abstoßung: Der Exorbitanz-Begriff

Doch dies ist nur die Rekapitulation der medialen Grundkonstellation des Computerspiels zwischen Spielsystem, Hardware und Spieler oder Spielerin.4 Wirklich spannend wird es, wenn wir betrachten, wie Com2 Crystal Dynamics & Eidos Montreal: Tomb Raider, Square Enix, PC, Montreal 2013. 3 Vgl. bereits in frühen Ansätzen bei Jesper Juul: Half-real. Video Games Between Real Rules and Fictional Worlds, Cambridge / MA u. a. 2005, S. 173 f. 4 Mehr dazu z. B. bei Stephan Günzel: Böse Bilder? Sehenhandeln im Computerspiel, in: Das Böse heute. Formen und Funktionen, hg. v. Werner Faulstich, 

Computerspiel

puterspiele diese Konstellation direkt in Bezug auf Exorbitanz umsetzen. Dafür müssen wir uns noch einmal konkreter mit dem Begriff der Exorbitanz beschäftigen, wie ihn die Mediävistik nach den grundlegenden Arbeiten von Klaus von See5 über die letzten Jahrzehnte herausgearbeitet hat.6 Der Begriff ist selbst relativ und immer von dem abhängig, was man jeweils als Normalfall definiert.7 Doch unabhängig von der genauen Ausformulierung der jeweiligen sozialen oder medialen Normrealität scheint das exorbitante Individuum immer in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zu seinem Umfeld zu stehen: In demselben Maße, in dem die exorbitante Heldenfigur durch körperliche Kraft, Geschicklichkeit und Kampfgeschick über ihr Umfeld herausragt, kollidiert und bricht sie auch immer wieder mit den festgelegten Werten und Normen ihrer Umwelt. In gewisser Weise amoralisch, handelt die exorbitante Heldenfigur

chen 2008, S. 295–305, sowie Susanne Eichner: In-Sight the Game. Involvierungsprozesse und Visual Effects in Computerspielen, in: Special Effects in der Wahrnehmung des Publikums. Beiträge zur Wirkungsästhetik und Rezeption transfilmischer Effekte, hg. v. Michael Wedel, Wiesbaden 2017, S. 269–284; außerdem Kevin Schut: Blocks and Buildings. Virtual Tangibility in Video Game Secondary Worlds, in: Revisiting Imaginary Worlds. A Subcreation Studies Anthology, ed. by Mark J. P. Wolf, New York 2017, S. 331–347. 5 Vgl. Klaus von See: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt / M. 1971. Siehe auch Klaus von See: Was ist Heldendichtung?, in: ders.: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 1981, S. 154–193, ders.: Held und Kollektiv, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 1–35, ders.: Die Exorbitanz des Helden – die Texte und die Theorien, in: ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte, Heidelberg 2003, S. 153–164. 6 Beispiele sind Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997, Jan-Dirk Müller: Nibelungenlied und kulturelles Gedächtnis, in: Arbeiten zur Skandinavistik. 14. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik 1.–5. 9. 1999 in München, hg. v. Annegret Heitmann, Frankfurt / M. 2001, S. 29–43, Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik. Eine Einführung, Berlin 2015, S. 182–184, dies.: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos, in: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 38–63, sowie Julia Weitbrecht: Genealogie und Exorbitanz. Zeugung und (narrative) Erzeugung von Helden in heldenepischen Texten, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 141 (2012), S. 281–309. 7 Vgl. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 44; ebenso: von See (Anm. 5) sowie Gerd Wolfgang Weber: »Sem konungr skyldi«. Heldendichtung und Semiotik. Griechische und germanische heroische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur, in: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag, hg. v. Hermann Reichert u. Günter Zimmermann, Wien 1990, S. 447–481. 

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ohne Rücksicht auf geltende Verhaltensregeln,8 »auf Konsens oder Erfolg, vielfach ohne Rücksicht auf eigenes und fremdes Leben«9 und folgt ihren Neigungen und Affekten bis in den gewalttätigen Exzess. Das oft tragische und gewalttätige Ende einer exorbitanten Heldenfigur sorgt neben zahlreichen anderen Distanzierungsfaktoren dafür, dass diese selten eine direkte Identifikationsfigur für die Rezipientin oder den Rezipienten wird. So schreibt Elisabeth Lienert: »In jedem Fall ist Exorbitanz Exzeptionalität, nicht Idealität. Helden sind keine Idealfiguren und schwerlich Vorbilder, allenfalls Projektionsflächen für Wunschvorstellungen von Selbstmächtigkeit und gewaltgestütztem Erfolg.«10

Ermächtigung als Strukturprinzip

Dieses Nebeneinander von Anziehung und Abstoßung, das fester Teil der Exorbitanz zu sein scheint, ist für das Computerspiel nochmals zusätzlich interessant, denn erinnern wir uns: In avatarbasierten Computerspielen wird die leibliche und sensomotorische Involvierung der Spielerin oder des Spielers in die Spielwelt durch den Avatar gebündelt. Dieser wird damit als Quasi-Prothese11 innerhalb der Simulationswelt zum sinnlichen Identifikationspunkt für die Spielerin oder den Spieler. Eine Nicht-Identifikation mit diesem Knotenpunkt, an dem, mit Britta Neitzel gesprochen, »Point of View« und »Point of Action«12 zusammenkommen, wird noch schwieriger, wenn dieser auch noch zum Zentrum narrativer Vermittlung wird. Und genau dies geschieht in den meisten avatarbasierten Computerspielen ebenfalls, da die Avatar-Protagonistin oder der Avatar-Protagonist auch als fiktive Person die Entscheidungen der Spielerin oder des Spielers in die Spielwelt hinausträgt, wo andere Figuren diese aufnehmen und entsprechend reagieren. 8 Vgl. von See: Heldendichtung (Anm. 5), hier 38, sowie Walter Haug: Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung, in: Studien zum Altgermanischen. Fs. F. Heinrich Beck, hg. v. Heiko Uecker, Berlin 1994, S. 303–325. 9 Lienert: Helden (Anm. 6), S. 39. 10 Ebd. 11 Rune Klevjer: What is the Avatar? Fiction and Embodiment in Avatar-Based Singleplayer Computer Games, Bergen 2006: »a prosthetic extension of the body-inthe-world« (S. 93). 12 Vgl. Britta Neitzel: Point of View und Point of Action – eine Perspektive auf die Perspektive in Computerspielen, in: Computer / Spiel / Räume. Materialien zur Einführung in die Computer Game Studies, hg. v. Klaus Bartels u. Jan-Noël Thon, Hamburg 2007, S. 8–28. 

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Die mentale Distanzierung zum Avatar-Protagonisten ist damit im Computerspiel eindeutig schwerer aufrechtzuerhalten als in anderen Medien, wo die Rezipienten als Beobachter oder Zuhörer der Handlungen des Protagonisten immer noch ein Mindestmaß an medial bedingter Distanz genießen. Gleichzeitig werden Computerspiel-Helden und -Heldinnen in avatarbasierten Spielen häufig schon rein medienstrukturell in die Sphäre der Exorbitanz gerückt: Denn die überwiegende Mehrheit solcher Spiele ist im Rahmen der klassischen Spieletheorie von Roger Caillois13 gleichzeitig stark ludisch und agonal strukturiert. Das bedeutet: Sie gliedern sich klar nach dem Muster Sieg und Niederlage und binden diese Zustände oft an interaktive Kampfherausforderungen an. Da die meisten Spiele jedoch als Unterhaltungsprodukte so gestaltet sind, dass sie Spielerinnen und Spieler eine angemessene, aber überwindbare Herausforderung und ein Gefühl von Fortschritt vermitteln wollen, wird die zunehmende Ermächtigung des immer wieder triumphierenden Avatars quasi unabwendbar: Ob durch Glück, Geschick, Hartnäckigkeit und Lernbereitschaft nach zahlreichen gescheiterten Versuchen oder ob durch eine Kombination aller Faktoren – irgendwann ist meistens auch ein harter Bossgegner überwunden. Siege in Kämpfen belohnen Spielerinnen und Spieler dann mit Erfahrungspunkten, die Levelaufstiege und neue Fähigkeiten für den Avatar freischalten, mit spielinterner Währung oder direkt mit neuen mächtigen Gegenständen wie Waffen, Rüstungen und Zusatzwerkzeugen, die die Kampfleistung des Avatars noch mehr erhöhen. Ein aufgestiegener oder voll ausgerüsteter Avatar kann so Gegner, die in den Anfangslevels noch herausfordernd waren, mit nur wenigen Schlägen oder Schüssen ausschalten – eventuell in der Spielwelt auftretende Zivilistinnen und Zivilisten haben einem solchen Halbgott nichts mehr entgegenzusetzen und treten allenfalls noch als Kollateralschäden oder Schutzobjekte auf. Die eine Seite heroischer Exorbitanz kann in gewisser Weise also als zentrale Säule befriedigender Medienerfahrung im ludisch organisierten Computerspiel verstanden werden. Die Heterotopie Computerspiel14 wird zum Ort virtueller Selbstermächtigung, in dem Spielerinnen und Spieler durch die Vermittlung des Avatar-Protagonisten Gefühle von Triumph, Erfolg und Leistungsfähigkeit spüren können. 13 Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch [frz. 1958], ins Deutsche übertragen v. Sigrid von Massenbach, Stuttgart 1960, S. 36–45 u. 63. 14 Zur Heterotopie vgl. Michel Foucault: Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. v. Karlheinz Barck u. a., Leipzig 1992, S. 34–46, hier 36. 

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Normbruch und Exzess 1: Virtuelles Spielfeld der Aggressionsentfaltung

Aber was ist mit dem anderen zentralen Aspekt von Exorbitanz: Rücksichtslosigkeit, Normbruch, Exzess, Blutrausch? Wie gehen Computerspiele damit um? Hier trifft Heldenforschung auf zentrale Medienkritikpunkte am Computerspiel: Erinnern wir uns an die sogenannte Killerspiel-Debatte der 2000er Jahre, in der das Computerspiel von kritischen Stimmen geradezu als prototypisches Medium der exzessiven, unkontrollierten Gewalt charakterisiert wurde.15 Der Umstand, dass Computerspiele dem Avatar und der steuernden Spielerin oder dem Spieler immer wieder ermöglichen, innerhalb der Spielwelt extra- und intradiegetische Normen zu brechen und durch die Projektionsfläche des heroischen Protagonisten exzessive Aggression und Gewalt auszuagieren, wurde als großes Problem betrachtet. Die Sorge, dass vor allem jugendliche Spielende den Unterschied zwischen Spiel und Realität vergessen und die Muster exzessiver Gewalt in Form von Amokläufen in das tägliche Leben tragen könnten, wurde zur kaum angefochtenen Basis für soziale Initiativen und rechtliche Entscheidungen, die eine moralische Gefährdung der Gesellschaft durch das scheinbar neue digitale Medium verhindern sollten. Die Medien- und Medienwirkungsforschung hat in den letzten 15 Jahren zahlreiche klärende Arbeiten zu dieser Frage geliefert, vor allem jedoch viele der auf einem mangelnden Verständnis der Funktionsweise und Medienästhetik des Computerspiels basierenden Grundannahmen dieser Wertedebatte relativiert. Besonders relevant sind in dieser Hinsicht Arbeiten zu den ineinander verschränkten Involvierungsebenen des Computerspiels16 und zur speziellen Rezeptionssituation, die die stark unter15 Zu den Details der Killerspieldebatte und ähnlicher Diskussionen vgl. Jochen Koubek: Die Wissenschaft der Computerspiele. Eine Geschichte von Vorurteilen, in PAIDIA. Zeitschrift für Computerspielforschung, 15. 10. 2021, https://www. paidia.de/die-wissenschaft-der-computerspiele-eine-geschichte-von-vorurteilen/. 16 Etwa Juul (Anm. 3), S. 163; Bernard Perron A Cognitive Psychological Approach to Gameplay Emotions, in: DiGRA ’05 ‒ Proceedings of the 2005 DiGRA International Conference Changing Views. Worlds in Play, 2005, http://www.digra.org/wpcontent/uploads/digital-library/06276.58345.pdf, S. 3; Jörg Pacher: Game. Play. Story? Computerspiele zwischen Simulationsraum und Transmedialität, Glückstadt 2007; Jan-Noël Thon: Unendliche Weiten? Schauplätze, fiktionale Welten und soziale Räume heutiger Computerspiele, in: Bartels / Thon (Anm. 12), S. 29–60; Jonathan Frome: Eight Ways Videogames Generate Emotion, in: DiGRA ’07 ‒ Proceedings of the 2007 DiGRA International Conference Situated Play, 2007, http:// www.digra.org/wp-content/uploads/digital-library/07311.25139.pdf, S. 831–835, hier 832 f.; Gordon Calleja: Digital Game Involvement. A Conceptual Model, in: Games and Culture. 2 /3 (2007), https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177 /155541200730 

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schiedliche Sicht von Spielern und Zuschauern auf dasselbe Bildschirmgeschehen erklärt.17 Dennoch: Es ist nicht zu leugnen, dass das Computerspiel Spielerinnen und Spielern immer wieder im Rahmen der agonal strukturierten Simulationswelt Möglichkeiten bietet, exzessive Gewalt auszuüben – oft auf eine befriedigende Weise, die agonale Überlegenheit und intra- wie extradiegetische Tabubrüche miteinander verbindet. Dies möchte ich am Beispiel des (auch in der Killerspiel-Debatte heiß diskutierten) optionalen Gewaltexzesses in Open World-Spielen herausarbeiten. Populäre Open World-Spielserien wie GTA, Red Dead Redemption, The Elder Scrolls oder Fallout erlauben der Spielerin oder dem Spieler grundsätzlich das Ausleben von exzessiver und mechanisch wie narrativ sinnfreier Gewalt innerhalb des virtuellen Sandkastens. Passantinnen und Stadtbewohner können aus reiner Zerstörungslust angegriffen und mit minimalem Widerstand getötet werden. Selbst anrückende Polizeikräfte können den Avatar nicht sofort überwältigen, besonders wenn dieser gut ausgerüstet ist. Die eskalierende Gewalt kann dafür sorgen, dass der Avatar schließlich am Ende einer solchen Aktion zwischen Dutzenden von Leichen und den brennenden Wracks von Polizeiautos, gepanzerten Einsatzfahrzeugen und sogar Hubschraubern steht oder liegt: Er hat eine Spur der Verwüstung durch die Welt gezogen – einfach, weil es der Spielerin oder dem Spieler gerade in den Sinn kam. Gleichzeitig machen dieselben Spiele den selbstgewählten Gewaltexzess jedoch auch durch verschiedene Mittel längerfristig unattraktiv: Amok laufende Avatare werden höchst ausdauernd – und zunehmend störend – von intradiegetischen Ordnungskräften verfolgt und verlieren während des Alarmstatus den Zugriff auf wichtige Dienstleistungen. Des Weiteren konfrontieren Spiele wie Morrowind oder Fallout 3: New Vegas, in denen tatsächlich so gut wie alle Bewohnerinnen und Bewohner der Spielwelt getötet werden können, die Spieler auch auf indirekte Weise mit der Sinnlosigkeit eines solchen Massenmords: In einer fast leeren Welt, in der Questgeber, Händlerinnen und auch normale, im Sinne des 6206, S. 236–260, hier 236; René Bauer u. Hiloko Kato: Hansel and Gretel. Design and Reception of Orientation Cues in Game Space, in: Games and Rules. Game Mechanics for the Magic Circle, hg. v. René Bauer u. a., Bielefeld 2018, S. 115–138. 17 Günzel (Anm. 4), S. 302; Britta Neitzel: Wer bin ich? Thesen zur Avatar-Spieler Bindung, in: »See? I’m real …« Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von Silent Hill, hg. v. Matthias Bopp u. a., Münster 2005, S. 193–212, hier 197; Claus Pias: The Game Player’s Duty. The User as the Gestalt of the Ports, in: Media Archaeology. Approaches, Applications, and Implications, ed. by Erkki Huhtamo & Jussi Parikka, Berkeley / CA 2011, S. 164–183, hier 180. Vgl. ebenfalls Martin Hennig: Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels, Marburg 2017, S. 101. 

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Barthes’schen Wirklichkeitseffekts18 für die Illusion der lebendigen Alltagswelt notwendige Non-Player-Characters (NPCs) fehlen oder als Leichen vor ihren Häusern liegen, macht auch eine exorbitante Existenz keinen Spaß. Deshalb nutzen viele Spielende die Möglichkeit des spielerischen Gewaltexzesses nur selten – vielleicht bisweilen zum Experimentieren, vielleicht zum gelegentlichen emotionalen Druckabbau. Aber fast immer nutzen sie im Anschluss die medienspezifische Möglichkeit des Neu-Ladens, um das Geschehene ungeschehen zu machen und den vorherigen Zustand der Welt und ihrer Bevölkerung wiederherzustellen. Hier hat die Spielerin oder der Spieler also noch die volle Freiheit: Sie kann den Exzess ohne Widerspruch des Protagonisten beginnen und das überlegene Kampfpotenzial des Avatars austesten, bis man genug hat und die Zeit wieder zurückdreht. Das Spiel stellt nahezu unbeschränkte Formen von Macht und Freiheit bereit, die in der Realität auf mehrfache Weise unerreichbar sind.19

Normbruch und Exzess 2: Protagonistenaktion versus Spielerwillen

Bislang haben wir nur beobachtet, wie Computerspiele mit exorbitanter Gewalt umgehen, die der Spieler oder die Spielerin selbst initiiert oder zumindest willig mitträgt. Doch darf man nicht vergessen, dass die Avatar-Protagonisten-Konstellation eben auch den Protagonisten beinhaltet: eine zum Teil komplexe fiktive Persönlichkeit, die das Spielgeschehen jederzeit subtil begleitet und einen emotionalen, moralischen und informativen Zugang zur Spielwelt bietet. Das bedeutet jedoch auch, dass sie mit ihren eigenen Werten, Motivationen und Zielen ausgestattet sein kann – und diese Ziele müssen nicht immer automatisch deckungsgleich mit den Interessen der Spielerin oder des Spielers sein, obwohl dies konventionalisiert sehr oft der Fall ist. Ich beschäftige mich im Folgenden mit solchen Spezialfällen einer widerständigen Avatarprothese,20 in denen 18 Vgl. Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt, in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays Band 4 [frz. 1984], aus dem Frz. v. Dieter Hornig, Frankfurt / M. 2006, S. 164–172. 19 Vgl. Jonathan Harth: Save, Load & Reload. Über den Umgang mit Kontingenz und Serialität in der Praxis des Computerspielens, in: PAIDIA . Zeitschrift für Computerspielforschung, 22. 03. 2017, http://www.paidia.de/save-load-reload-uberden-umgang-mit-kontingenz-und-serialitat-in-der-praxis-des-computerspielens/. 20 Vgl. Benjamin Beil: »You are nothing but my puppet!« Die unreliable prosthesis als narrative Strategie des Computerspiels, in: It’s all in the Game. Computerspiele zwischen Spiel und Erzählung, hg. v. Benjamin Beil u. a., Themenheft von: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 9 (2009), S. 73–90, hier 73. 

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ein Spiel die spielende Person mit Situationen konfrontiert, in denen die Charaktermotivation ihrer exorbitanten Protagonisten erst auf narrativer und dann ludischer Ebene ungewünschte Prozesse, vor allem in der Form von exzessiver Gewaltanwendung durch den Avatar, nach sich zieht: Die spielende Person muss plötzlich Kämpfe und Gewalttaten durchführen, die gewissen sozial erwünschten Helden-Erwartungen von beispielsweise Teamwork, dem Wohl der Mehrheit oder einem Happy End immer mehr zuwiderlaufen – ansonsten kann das Spiel, das eben auch die Geschichte des Protagonisten oder der Protagonistin ist, nicht weitergehen. Zwei Beispiele dafür stelle ich dar. Das erste Beispiel ist der Shooter Spec Ops: The Line aus dem Jahr 2012.21 Das dem Roman Heart of Darkness sowie dem Film Apocalypse Now nachempfundene Computerspiel lässt die spielende Person in die Rolle des Elitesoldaten Captain Walker schlüpfen, der in den Ruinen des von Sandstürmen verschluckten Dubai nach dem desertierten Colonel Konrad suchen soll. Er und seine zwei Begleiter werden jedoch immer tiefer in das Chaos eines apokalyptischen Bürgerkriegs gestoßen – nicht zuletzt, weil der Avatarprotagonist Walker sich selbst in die hier deplatzierte Rolle eines rächenden Helden begibt. Er – nicht die spielende Person – verwickelt das Team in unnötige und schwere Kämpfe, die die spielende Person auskämpfen muss, schlägt zahlreiche Schlichtungsversuche aus und versinkt in Grausamkeit und Verbitterung, die ihn und seine zwei Kameraden immer mehr entmenschlichen. Die Spielerin oder der Spieler wird auf verschiedene Weisen Zeuge dieser Veränderungen – nicht nur durch Cut-Scenes, sondern auch durch die Veränderung von Standardspielelementen. Eine im Spiel enthaltene Gnadenschuss-Mechanik, bei der schwer verwundete Gegner für dringend benötigte Bonusmunition neutralisiert werden können, verwandelt sich mit Walker: Während der Avatar Gegner zu Spielbeginn noch mit einem gezielten Schlag und professionellen Formulierungen wie »Threat eliminated.« oder »He’s down.«22 erledigt, wandeln sich Animationen wie Sprachaussagen ohne Zutun der Spielerin oder des Spielers immer mehr. Gegen Ende löst derselbe simple Tastendruck eine sadistische Exekution aus, bei der Walker sein Opfer leiden lässt oder im Blutrausch mit Schreien wie »Fucking traitor !« oder »Yeah, fuck you!« auf es eindrischt. Die Animationen sind grausam und vom Leid der Gegner geprägt – aber die Bonusmunition ist noch nötiger als zuvor und die Spielerin oder der Spieler kann es sich kaum leisten, darauf zu verzichten. Und auch die paratextuellen Elemente des Spiels 21 Yager Development: Spec Ops: The Line, 2K Games, PC , USA 2012. 22 Spec Ops Wiki: Execution, 2001, https://specops.fandom.com/wiki / Execution. 

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leisten ihren Beitrag, um die Distanzierung vom Exzess zu erschweren: So verändern sich im Spielverlauf auch die Ladebildschirme, die nun statt hilfreicher Mechanikerklärungen Zitate wie diese zeigen: The US military does not condone the killing of unarmed combatants. But this isn’t real, so why should you care? How many Americans have you killed today? You are still a good person. Do you feel like a hero yet? Die Schuldgefühle des Spielers, der Walkers Weg nicht aufhalten, sondern nur vorantreiben kann, werden noch weiter erhöht, wenn er im letzten Spieldrittel zum Erfüllungsgehilfen für ein unbeabsichtigtes Massaker an Zivilisten wird und danach noch die letzte funktionierende Infrastruktur Dubais zerstört, um Walkers inzwischen nur noch imaginierten Feind Colonel Konrad aus seinem Versteck zu treiben. Die sonst für Militär-Shooter gültige Erwartungshaltung, dass heroische Gewalt im Nachhinein immer irgendwie durch das Spiel gerechtfertigt wird, läuft hier ins Leere, denn Walker endet tot oder als gebrochener Mann – und die spielende Person mit der Frage, inwiefern auch ihre Erwartung nach vermeintlich sauberer heroischer Gewalt auf einem Trugschluss basiert. Das zweite Beispiel fügt sich abschließend in die Kulturgeschichte exorbitanter Helden ein: Das im mythischen Griechenland lokalisierte Actionspiel God of War III 23 begleitet den spartanischen Elitekrieger Kratos auf seinem Rachefeldzug gegen Zeus und das griechische Götterpantheon. Über die vorherigen beiden Teile haben sich die Fronten verhärtet: Der Antiheld Kratos, der durch den Verrat der Götter seine Familie, seine Heimat und seinen kurzzeitig von Ares erkämpften Götterstatus verlor, sinnt auf Rache. Er stürmt nach der Entfesselung der alten Titanen den Olymp, bekämpft in der plakativ brutalen Manier der God of War-Serie mythische Monster und loyale Anhänger der Götter – und schließlich die Götter selbst. Die spielende Person führt die Kämpfe gespannt durch, denn besonders zu Anfang sind diese noch vergleichsweise faire Auseinandersetzungen zwischen Kratos und ebenso arroganten wie aggressiven Bossgegnern wie Poseidon oder Hades. Auch wenn Kratos diese Bossgegner mit Grausamkeit tötet und nach dem Tod jedes Gottes einen Teil der natürlichen Ordnung außer Kraft setzt, erscheint dies 23 SCE Santa Monica Studio: God of War III, Sony Computer Entertainment, PS 3, USA 2010. 

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noch stimmig: Diese Götter haben nicht nur Kratos angegriffen und beschimpft, sondern auch die Sterblichen immer schlechter behandelt. Doch langsam verkompliziert sich die Situation. Zum einen kämpfen die Götter, die gegen Kratos antreten, nun immer mehr aus Verzweiflung, denn Kratos tötet alles, was ihnen lieb und teuer ist – und mit jedem toten Gott wird die Welt von weiteren Katastrophen heimgesucht. Zum anderen werden auch die Exekutionen, die Kratos durch die Spielerin oder den Spieler in anstrengenden Quick-Time-Events vollzieht, immer grausamer. Kratos reißt dem bereits verwundeten Helios in einer langwierigen Sequenz den Kopf von den Schultern, schlägt dem zuvor hämischen, nun aber hilflosen Hermes die Beine ab, um an seine geflügelten Sandalen zu kommen, und bricht der nicht einmal kämpfenden Hera das Genick. Auch hartgesottene Action-Spieler entwickeln vermutlich langsam Zweifel an Kratos’ Vorgehen, als dieser schließlich auch den Gott Hephaistos tötet, der ihm als Ausgestoßener unter den Göttern lange half, jedoch zum Schutz seiner Tochter und Kreation Pandora trotz einer sicheren Niederlage gegen ihn antritt. Ist das noch ein Held? Wir wissen: ja, als exorbitanter Held mehr denn je ! Weitere Götter und Titanen fallen unter Kratos, bis er schließlich gegen den boshaften, von der Angst um eine Wiederholung der Kronossage durch seinen Sohn Kratos angetriebenen Göttertyrann antritt. Der Kampf mit Zeus endet in grausamen Quick-Time-Events, in denen Kratos seinen Vater durch die Eingaben der Spielerin oder des Spielers so lange schlägt, bis der Bildschirm von Blut verdeckt ist. Nach Zeus’ Tod ist die griechische Welt komplett verwüstet: Eine Flut hat die Landmassen begraben, die Pflanzen sind tot, Stürme und Insektenschwärme suchen die in Dunkelheit getauchten Felsbrocken heim und die Seelen der Verstorbenen gleiten ziellos herum. Kratos’ Rachemission, vom Spieler auf der Suche nach befriedigender Exorbitanz vorangetrieben, endet selbstdestruktiv: Kratos wirft sich in sein Schwert, der Spieler hat herausgefunden, was Exorbitanz wirklich bedeuten kann.

Schützende Väter außer Kontrolle: The Last of Us und LISA: The Painful RPG

Dies sind nicht die einzigen Spiele, in denen die exzessive und rücksichtslose Gewalt des Protagonisten die agierende Person in Bedrängnis bringt oder erschreckt: Andere Beispiele sind Shadow of the Colossus, einige mit dem Protagonisten Trevor assoziierte Teile von GTA 5, aber auch The Last of Us und LISA: The Painful RPG. In den beiden letztgenannten Spielen 

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sind die Avatar-Protagonisten interessanterweise postapokalyptische Adoptivväter, die ihre Adoptivtochter vor den Nachstellungen diverser Angreifer schützen wollen. Gegen Ende des Spiels eskaliert jedoch in beiden Titeln die Situation und aus heroischer Motivation wird rücksichtslose Obsession. Im Fall des postapokalyptischen Action-Adventures The Last of Us24 kann es der Protagonist Joel nicht ertragen, dass seine scheinbar immune Adoptivtochter Ellie ihr Leben zur Rettung der Menschheit vor einer unaufhaltsamen Zombie-Pilzinfektion opfern soll. Er stürmt das Hospital, in dem der für Ellie tödliche, aber die Menschheit vielleicht rettende Eingriff stattfinden soll, tötet mithilfe der Spielerin oder des Spielers das Personal und schließlich in einer Videosequenz auch die verwundete Anführerin der Organisation und flieht mit der betäubten Ellie. Als sie erwacht, belügt er sie: Er erzählt ihr, dass die Organisation sie beide ziehen ließ, da man viele andere immune Leute gefunden hätte – sie könnten nach Hause gehen. Aber Ellie glaubt ihm nicht wirklich und bittet ihn später, auf die Wahrheit dieser Worte zu schwören. Als er dies nach Zögern tut, ist merkbar, dass Ellie seine Lüge durchschaut und das Vertrauen in ihn verloren hat. Wozu nun all die brutale Gewalt? Im Fall von Lisa: the Painful RPG,25 in dem eine Seuche alle Frauen der Welt bis auf das junge Mädchen Buddy getötet hat, tut ihr Ziehvater Brad in einer komplett verwahrlosten postapokalyptischen Welt alles, um sie zu retten – selbst wenn diejenigen, die Buddy entführt haben, ihr Bestes wollen und ihr viel mehr Sicherheit bieten könnten als der selbstzerstörerische Herumtreiber Brad. Brad vernichtet mit einer Gruppe exzentrischer Verbündeter in seinem Feldzug die wenigen, die noch so etwas wie Ordnung aufrechterhalten, und wird am Ende schließlich so rücksichtslos, dass sich selbst seine Freunde gegen ihn stellen. Die spielende Person ist in den letzten Spielsequenzen schließlich gezwungen, Brads Willen zu folgen und die Begleiter, die stundenlang an seiner und ihrer Seite gekämpft haben, anzugreifen – obwohl diese sich in der folgenden Schlacht gar nicht oder nur halbherzig wehren, sondern Brad einfach nur von seinem Ziel abbringen wollen. Die meisten Spielerinnen und Spieler werden von diesen Ereignissen geschockt und abgestoßen,26 ebenso Brads Ziehtochter Buddy, die über den Spielverlauf Zeuge wurde, 24 Naughty Dog: The Last of Us, Sony Computer Entertainment, PS 3, USA 2013. 25 Dingaling Productions: Lisa: The Painful RPG, Dingaling Productions, PC , USA 2014. 26 Exemplarisch zu sehen anhand eines Video-Let’s Play des Spiels: NicoB: THE RIGHT THING – Let’s Play ‒ Lisa: The Painful RPG ‒ 10 ‒ Joyless Ending ‒ Walkthrough Playthrough, 2015, https://www.youtube.com/watch?v=0TlKxhuWn4Q. 

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wie Brad sich durch Traumata und Drogenmissbrauch immer mehr in einen unberechenbaren Psychopathen verwandelt hat. Sie kann ihn nach seinem vernichtenden Sieg kaum noch akzeptieren und flieht vor ihm. Kurz darauf verwandelt er sich schließlich, wie deslab so viele andere in dieser grotesken Postapokalypse, durch die Nebenwirkung der Droge »Joy« in einen grauenhaften Mutanten – und ist nun wirklich selbst die größte Gefahr für seine Ziehtochter geworden. In diesem Sinne scheint die Integration und Ausstellung widerständiger Exorbitanz auch gerade deshalb so schockierend für viele Spielerinnen und Spieler zu sein, weil sie extrem tief im Kern des Mediums verankerte Konventionen und Erwartungshaltungen verletzt: Erwartungen von Ermächtigung ohne schlechtes Gewissen, von Kontrolle, Anerkennung und Bestätigung – dem Nachfühlen der besten Momente von Heldentum ohne seine Nachteile. Weil Helden eben doch sein sollen, was wir uns wünschen ‒ aber nicht selbst sein wollen oder müssen.



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Christoph Petersen

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Die Beiträge dieses Buches zeigen, dass die Vorstellung des sozial guten Helden, die heutzutage allgemeinverbindlich zu sein scheint, tatsächlich historisch bedingt ist: Der Held als Kämpfer für das Gute, als Verkörperung gesellschaftlicher Werte und Orientierungsnorm menschlichen Handelns, als Haltgeber individueller oder kollektiver Selbstaufrichtung, als marketingtechnische Symbolgestalt des Erstrebenswerten usw. ist keine überzeitliche Konstante der Kulturgeschichte oder gar ein Anthropologikum, sondern steht unter historisch spezifischen Bedingungen, bei uns unter denen der abendländischen Moderne. Auch wenn, wie die Beiträge ebenso zeigen, das Prestige des in diesem Buch besprochenen exorbitanten Helden schon in der Vormoderne immer wieder übertragen werden konnte auf soziale Orientierungsfiguren – den Gründervater, die Gottesstreiterin, den Witwen-und-Waisen-Beschützer usw. –, ist die allgemeine Geltung des Konzepts des sozial guten Helden typisch erst für die abendländische Moderne: Der gute Held ist de r Held der Moderne. Die Geltung des Konzepts ist heutzutage so etabliert, dass es unhinterfragbar zu sein scheint und man sich – bis in die Wissenschaften hinein – einen anderen als den guten Helden kaum mehr vorzustellen vermag: Die Alternative zum guten ist nicht mehr ein anderer, sondern allenfalls der Anti-Held, und gelegentliche Reflexe etwa des exorbitanten Helden werden nicht mehr als historisches Fortwirken eines anderen, sondern als Irregularitäten im Bild des Helden wahrgenommen. So geraten die historischen Bedingtheiten des Konzepts vom sozial guten Helden aus dem Blickfeld auch der Wissenschaften. Mögliche Konsequenzen daraus sind in der Einführung angedeutet worden. Hier soll zur Abrundung des Buches der Frage nachgegangen werden, wie die historische Bedingtheit des sozial guten Helden und der Prozess seiner Etablierung in der europäischen Moderne rekonstruiert werden können: Wie ist es zur allgemeinen Geltung dieses Heldenkonzepts gekommen, welche Grundlagen und welche kulturgeschichtlichen und



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schaftlichen Folgen hatte dies?1 Ich verorte den Schwerpunkt dieser Genese in der Zeit von Aufklärung und Postaufklärung, in der das, was man die abendländische Moderne nennen kann, sich konfigurierte und zugleich das Konzept des guten Helden zur bis heute wirkenden allgemeinen Geltung gefunden hat. An drei Beispieltexten aus diesem Zeitraum rekonstruiere ich Faktoren der Genese, die m. E. zentral sind. Zunächst zeige ich anhand von Jean-Jacques Rousseaus Discours sur la vertu héroïque von 1751 einige kulturgeschichtliche Wurzeln und gedankliche Transformationsvorgänge auf, die der modernen Konzeption des guten Helden zugrunde liegen. Dann skizziere ich, ansetzend an Georg Wilhelm Friedrich Hegels zwischen 1820 und 1829 gehaltenen Vorlesungen über Ästhetik, wie der Held in der Moderne als Gestalt eines in der menschlichen Lebensrealität wirkenden Allgemeinen verstanden und als Phänomen der Wirklichkeit auch zum Gegenstand von subjektiver Verehrung wird. Zuletzt dient mir Richard Wagners Lohengrin von 1848 als Beispiel dafür, wie der gute Held schließlich zu einer Identifikationsfigur gemacht werden kann, in der die Ambivalenz heroischer Außerordentlichkeit ausgeblendet bleibt, aber nur scheinbar auch verschwunden ist. Meine Rekonstruktion hat versuchhaften Charakter. Ihre Vorläuflichkeit rechtfertigt sich darin, Anregung zu geben für weitere Vorstöße zu einer Archäologie des Heldenbegriffs unserer Zeit.

Die Erfindung des ďƣƒåĻ Helden (Rousseaus Discours sur la vertu héroïque)

Rousseaus früher Traktat über die heroische Tugend ist eine aufklärerische Gelegenheitsschrift anlässlich einer akademischen Preisausschreibung, hier der Académie de Corse in Bastia von 1751.2 Rousseau war we1 Zum Folgenden vgl. auch Ute Frevert: Herren und Helden. Vom Aufstieg und Niedergang des Heroismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, hg. v. Richard van Dülmen, Wien u. a. 1998, S. 323–344; dies.: Vom heroischen Menschen zum Helden des Alltags, in: Heldengedenken. Über das heroische Phantasma, hg. v. Karl Heinz Bohrer u. Kurt Scheel, Merkur 63 (2009), S. 803–812. 2 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur cette question: Quelle est la vertu la plus nécessaire au héros et quels sont les héros a qui cette vertu a manqué? proposée en 1751 par l’Académie de Corse, in: Œuvres complètes, publ. par Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1964, Bd. 2, S. 1262–74; zu Entstehung und Publikation S. 1941. – Vgl. David R. Cameron: The Hero in Rousseau’s Political Thought, in: Journal of the History of Ideas 45 (1984), S. 397–419; Ralf Konersmann: Rousseaus dritte Abhandlung von 1751, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 3 (2009), S. 129–134. 

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der mit der Fragestellung noch mit seiner Antwort zufrieden, schickte den Traktat nicht ein und ließ erst 1768, als der Text unautorisiert in die Öffentlichkeit gelangt war, eine unvollständige Publikation zu ; vollständig wurde der Traktat erst postum 1782 in der Collection complète seiner Werke publiziert. Auch danach scheint der Discours nicht wirkungsreich gewesen zu sein. Trotzdem ist er für eine Rekonstruktion der Genese des modernen Heldenbegriffs höchst aussagekräftig, denn an ihm werden wesentliche Grundlagen und gedankliche Prozesse nachvollziehbar, mit denen der Begriff eines sozial guten Helden in der Aufklärung neu konzipiert, erfunden werden konnte. Rousseau beginnt mit einem Vergleich des Weisen und des Helden, den er ›hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Nutzen der Gesellschaft‹ »par leur rapport avec l’intérêt de la Société« (S. 1263) zugunsten des Letzteren entscheidet. Denn während der Weise auf sein eigenes Glück sehe, sei die Absicht des Helden ›das Wohl der Menschen‹ »le bonheur des hommes« (ebd.). Rousseau konzipiert also den Begriff des héros unter der Voraussetzung eines gesellschaftlichen Nutzens ; er denkt den Helden als ›Großen Mann‹ »grand homme« (S. 1266 u. ö.) in Gestalt derjenigen, ›welche die Völker führen‹ »qui les [Peuples] gouvernent« und deren Heroismus ›keine andere Absicht hat als das Glück der anderen und keinen anderen Lohn als deren Bewunderung‹ »n’a pour objet que la félicité des autres et pour prix que leur admiration« (S. 1264). Beispiele sind deshalb Alexander der Große und andere Feldherren und Staatsmänner der europäischen Geschichte. Von der Verpflichtung auf das ›allgemeine Glück‹, die »félicité publique« her bestimmt Rousseau dann auch die wichtigste Tugend eines Helden, die ›spezielle und eigentümliche heroische Tugend‹ »vertu spéciale et proprement Héroïque« (S. 1265). Weil Helden ›Wohltäter des Menschengeschlechts‹ »bienfaiteurs du genre humain« seien (S. 1264), könne diese Tugend keineswegs ›kriegerische Stärke‹ »valeur guerriere« oder »vaillance martiale« sein (S. 1265 f.). Und nicht einmal ›Tapferkeit‹ »bravoure« könne dafür in Frage kommen, weil sie wie ›Stärke‹ je nach Umständen entweder zum ›Schwert des Lasters‹ oder zum ›Schild der Tugend‹ werden könne, »l’épée du vice ou le bouclier de la vertu«. Sogar der Tod fürs Vaterland sei tugendhaft nicht wegen der tapferen Tat, sondern wegen der ›Liebe fürs Vaterland‹ und der ›unbezwingbaren Beständigkeit im Unglück‹ »constance invincible dans l’adversité«, so dass die Gefallenen, ›um Helden zu sein‹, sich auch hätten sparen können, ›tapfer zu sein‹ (S. 1270). Und weil generell die Tugend des Helden nicht dem ›ausführenden Arm‹, sondern ›dem planenden Kopf‹ zugeschrieben werden müsse (S. 1269), sei sie unter den ›sozialen Tugenden‹ zu suchen, den 

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»vertus sociales« (S. 1268), die in den vier Kardinaltugenden zusammengefasst seien (S. 1270). Unter diesen aber komme dem Helden allein fortitudo ›Stärke‹ zu: ›Die Stärke ist also die Tugend, die Heldentum charakterisiert‹ »La force est donc la vertu qui caractérise l’Héroïsme« (S. 1273). Fortitudo ist hier aber nicht mehr im Sinne von Kampfkraft oder Tapferkeit verstanden, sondern im Sinne Ciceros als magnanimitas ›Großgesinntheit‹: als ›Seelenstärke‹ »force de l’ame« nämlich, welche ›die Eigenschaften, die dabei mitwirken, den Großen Mann zu formen‹ »les qualités qui peuvent concourir à former le grand homme« stärkend beseele (»animer«) und ihn dadurch ›für große Dinge geeignet‹ mache (S. 1272).3 Rousseaus heroische Tugend ist eine aus der antiken Ethik stammende Seelenkraft, die den héros zum grand homme macht, indem sein Wirken für das Gemeinwohl von Großgesinntheit angetrieben wird. Cicero anstelle von Heldenepik. Unter der Voraussetzung, dass eine vertu dem gesellschaftlichen Nutzen diene, fügt Rousseau den Begriff des héros dem Komplex von fortitudo, magnanimitas und vir magnus der ciceronischen Ethik hinzu und ersetzt dadurch als definitorischen Bezugshorizont der heroischen Tugend die literarische Tradition der »poëmes héroïques« von Homers Ilias bis Voltaires Henriade 4 durch einen philosophischen Diskurs über die ›ethischen Aufgaben‹ des Menschen, de officiis. Was einen Helden ausmacht, wird nicht mehr über heldenepische Erzähl- und Vorstellungsmuster bestimmt, sondern über Parameter einer Tugendlehre. In deren Horizont sind die Helden der Ilias – »Ajax«, »Hector« und »Achille« – nur noch Negativexempel, Beispiele dafür, dass kriegerische »valeur« unbeständig und daher keine »vertu Héroïque« sei (S. 1267); Positivbeispiel ist dagegen Cato Uticensis (S. 1268), dessen Karriere in der europäischen Kulturgeschichte als »heros ille noster« ›unser bekannter Held‹ ebenfalls bei Cicero begann.5 Rousseaus Konzept des 3 Cicero setzt in seiner Erörterung der vier wichtigsten ethischen Haltungen, die zum honestum ›Ehrenvollen‹ führen – der später so genannten Kardinaltugenden (s. u.) –, fortitudo mit magnanimitas gleich, die einen vir magnus ›großen Mann‹ ausmache (Marcus Tullius Cicero: De officiis, lat.-dt., übersetzt u. hg. v. Rainer Nickel, Düsseldorf 2008, I,61–92, bes. 61–67). Ciceros Erörterung der fortitudomagnanimitas klingt in Rousseaus Discours auch in manchen Einzelheiten an ; das oben Zitierte steht freilich gedanklich näher zu Aristoteles’ Definition und ethischer Bewertung der »μεγαλοψυχία« ›Großgesinntheit‹ (Ethika Nikomacheia, griech.dt., übersetzt v. Olof Gigon, neu hg. v. Rainer Nickel, Düsseldorf 2001, IV,7, 1123a–1124a). 4 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers […], Bd. 8, Neuchâtel 1765 (Faks. Stuttgart u. Bad Cannstadt 1967), s. v. »Héroïque«, S. 180. 5 Marcus Tullius Cicero: Ad Atticum, lat.-dt., hg. v. Helmut Kasten, München 31980, I,17,9. 

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héros als eines »bienfaiteur du genre humain« basiert darauf, dass Heldenepik als definitorischer Bezugshorizonts für den Begriff Held ersetzt wird durch soziale Ethik. Von einer Erfindung des guten Helden kann hier natürlich nicht im Sinne von kulturgeschichtlicher Ein- oder Erstmaligkeit gesprochen werden, sondern allein logisch, d. h. insofern, als die Konzeption des ethisch guten, auf einen sozialen Nutzen verpflichteten Helden auf einem anderen Heldenkonzept auf baut, dem solche Verpflichtung fehlt: Erfunden werden kann der gute Held insofern, als er gegenüber dem z. B. heldenepischen, exorbitanten Helden – Aias, Hektor, Achill – neu konzipiert wird. Dabei spielt der Grad an Bewusstheit, Intentionalität und kulturgeschichtlicher Überblicksreichweite solcher Neukonzeption keine Rolle. In Rousseaus Formulierungen ist dies beschränkt auf das Bewusstsein, dass sein Konzept der vertu Héroïque nicht selbstverständlich ist.6 Etwas konkreter wird dies nachvollziehbar im Vergleich etwa mit dem Verständnis von héros, das in Louis de Jaucourts Artikel in der Encyclopédie formuliert ist: Jaucourt insistiert, in der Nachfolge Voltaires, auf der strikten Unterscheidung von »héros« und »grand homme« – ersterer als Kriegsherr, letzterer als Staatsmann – und reserviert nur für das Wirken des letzteren ›das Gemeinwohl, den Ruhm seines Fürsten, den Wohlstand des Staates und das Wohl der Völker‹ »le bien publique, la gloire de son prince, la prospérité de l’état, & le bonheur des peuples«.7 Rousseau hingegen überträgt, indem er beide Begriffe füreinander eintreten lässt, die definitorische Verpflichtung auf das Gemeinwohl vom grand homme auch auf den héros. Indes zeigt die systematische Hierarchisierung zwischen den ›vier Kardinaltugenden, denen die Philosophen alle anderen Tugenden zuordnen‹ »les quatre principales vertus auxquelles ils [les Philosophes] rapportent toutes les autres« (S. 1270), dass Rousseaus Bestimmung der heroischen Tugend nicht nur auf die ciceronische Ethik, sondern auch auf deren christliche Adaptation Bezug nimmt.8 Seine Bestimmung der vertu héroïque ist 6 So wenn er die »opinion dangereuse et trop répandue« zurückweist, dass die »bravoure«, fürs Vaterland zu sterben, eine Tugend sei (S. 1270). 7 Encyclopédie (Anm. 4), s. v. »Héros«, S. 182 f.; zur Vorgeschichte dieser Diskussion und Voltaires Position vgl. Michael Gamper: Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas, Göttingen 2016, S. 53–57. 8 Als »virtutes principales« werden »prudentia« ›Klugheit‹, »iustitia« ›Gerechtigkeit‹, »fortitudo« und »temperantia« ›Mäßigung‹ erstmals (?) von Ambrosius von Mailand bezeichnet: Sancti Ambrosii Mediolanensis De officiis, hg. v. Maurice Testard, Turnhout 2000, I,115. Ihre scholastische Systematisierung erfolgt bei Thomas von Aquin: Quaestio disputata de virtutibus cardinalibus, in: S. Thomae Aquinatis Quaestiones disputatae, Bd. 2, hg. v. P. Bazzi u. a., Turin u. Rom 101965, S. 813–828. 

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neu konzipiert auch im Verhältnis zur christlichen, auf die Kardinaltugenden angewandten virtus heroica. Diese hatte mit der scholastischen Aristoteles-Rezeption Eingang in den theologischen Diskurs und in das kirchliche Verfahren der Heiligsprechung gefunden und war von hier auch auf die christliche Fürstenlehre und Fürstenrepräsentation übertragen worden.9 In diesen Kontexten bezeichnete die virtus heroica, vereinfachend gesagt, ein Maß an Tugendhaftigkeit, welches das menschliche Normalmaß kategorisch überschreitet und deshalb auch ihre Träger der menschlichen Norm enthebt. Demgegenüber säkularisiert Rousseau die heroische Tugend, indem er sie aus dem göttlichen Bezug löst und stattdessen allein in der ciceronischen fortitudo-magnanimitas verankert ; so wird die vertu héroïque vom gottbegnadeten Heiligen oder Fürsten übertragen auf den vom Gemeinwohl her gedachten grand homme. Rousseaus Neukonzeption des Helden basiert somit nicht nur auf der Gleichsetzung von vir magnus und heros, sondern auch auf einer Säkularisierung der christlichen virtus heroica. In dieser säkularisierten Form sind der Held und seine Tugend dann zugerichtet, um zum Paradigma des Heldenbegriffs in Moderne und Gegenwart zu werden. Mittels der christlichen virtus heroica ist Rousseaus guter Held aber nicht nur vom exorbitanten Helden der Heldenepik definitorisch abgegrenzt, sondern auch entwicklungsgeschichtlich auf ihn rückführbar. In die christliche Welt wurde die virtus heroica eingeführt durch die Kommentare des Albertus Magnus und Thomas von Aquin zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles.10 Dieser hatte dort die »ἀρετή ἡρωική« ›heroische Tüchtigkeit‹ als Gegenbegriff zu menschlicher »θηριότης« ›Tierhaftigkeit‹ gebraucht und mit beiden Begriffen ein über- bzw. unterschreitendes Maß des für den Menschen normativen Zustandes bezeichnet (Ethika Nikomacheia VII,1, 1145a). In diesem Zusammenhang ist ἀρετή aber mit ›Tugend‹ missverständlich übersetzt und meint wohl eher – ähnlich wie mhd. tugent – eine menschliche ›Tüchtigkeit‹ im Sinne von ›Tauglich- und Brauchbarkeit‹; zu einer ethischen ›Tugend‹ vereindeutigt wird sie erst in den Kontexten ihrer christlichen Adaptation. Denn Aristoteles veranschaulicht die ἀρετή ἡρωική mit einer Stelle aus der Ilias, in 9 Rudolf Hofmann: Die heroische Tugend. Geschichte und Inhalt eines theologischen Begriffs, München 1933; Risto Saarinen: Virtus Heroica. Held und Genie als Begriffe des christlichen Aristotelismus, in: Archiv für Begriffsgeschichte 33 (1990), S. 96–114; Shaping Heroic Virtue. Studies in the Art and Politics of Supereminence in Europe and Scandinavia, ed. by Stefano Fogelberg Rota & Andreas Hellerstedt, Leiden 2015. 10 Hofmann (Anm. 9), S. 36–43, von Thomas auch in die Theologie übertragen, um die Steigerungsfähigkeit der menschlichen Tugendhaftigkeit durch die Gaben des Heiligen Geistes zu erläutern (S. 59–64). 

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der Priamos über den toten Hektor sagt: ›und nicht schien er eines sterblichen Mannes Kind zu sein, vielmehr eines Gottes‹ »οὐδὲ ἐῴκει / ἀνδρός γε θνητοῦ πάις ἔμμεναι, ἀλλὰ θεοῖο« (ebd.; Ilias 24,258 f.).11 In der Ilias hebt die so beschriebene Überschreitung der Menschennorm Hektor als ›Gott inmitten der Männer‹ »θεὸς […] μετ᾽ ἀνδράσιν« hervor (24,258), als übermenschlichen Krieger also, dessen Gegensatz die ›Weichlinge‹ »ἐλέγχεα« sind (260), die noch lebenden Priamos-Söhne nämlich, die der Vater als ›schlechte Nachkommen‹ »κακὰ τέκνα« beschimpft (253), Gegenbilder für die im Kampf gefallenen ›besten Söhne‹ »υἷας ἀρίστους« (255). Die IliasStelle, mit der Aristoteles die ἀρετή ἡρωική veranschaulicht, handelt vom über- bzw. unterschreitenden Maß kriegerischer Tüchtigkeit, die heroische Tüchtigkeit ist abgewonnen einer Rede über das hyperbolisch Beste kriegerischer Leistungsfähigkeit, über heroische Exorbitanz. Dieser ursprünglich heldenepische Bezugshorizont von Aristoteles’ ἀρετή ἡρωική wird dann in der christlichen virtus heroica ersetzt durch den Diskurs über Tugendlehre. Und in Rousseaus vertu héroïque wird diese Ersetzung erneuert, indem die theologisch gerahmte Tugendlehre im Sinne der ciceronischen Lehre säkularisiert wird. So etwa war der gute Held der Moderne aus dem exorbitanten zu erfinden.

Der Held und das Allgemeine (Hegels Ästhetik)

Wenn der Begriff Held im Bezugshorizont menschlicher Ethik definiert und mit dem Großen Mann gleichgesetzt wird, dann wird er als ein Phänomen vorrangig der menschlichen Lebenswirklichkeit begriffen, nicht mehr einer poetischen Tradition. Aias, Hektor und Achill können in Rousseaus Discours an derselben »félicité publique« gemessen werden wie Cato, Alexander, Henri de Valois und andere Größen der europäischen Geschichte, weil der Unterschied zwischen poetischer Fiktion und historischer Wirklichkeit im Rahmen von Ethik für irrelevant erklärt werden kann. Die Beobachtung lässt sich verallgemeinern: Der Held der Moderne wird von der menschlichen Wirklichkeit her gedacht, und dies beeinflusst auch den Blick zurück auf die Heldenepik. Das hat einerseits eine Reihe von gravierenden und bis heute wirkenden Missverständnissen hinsichtlich dieser Epik hervorgebracht (bis hin zur vermeintlich nachahmenswerten Nibelungentreue oder dem angeblich homerischen Heldentod für eine gute Sache) und andererseits sich so verselbständigt, dass die 11 Homer: Ilias, mit Urtext, Anhang u. Registern, übertragen v. Hans Rupé, München u. Zürich 91989. 

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Tatsache, dass das Heroische primär »keine reale, sondern eine narrative, […] eine fiktive oder imaginäre Kategorie« ist, heutzutage zu einer »These« werden kann.12 So wird die kulturgeschichtliche Übertragungsrichtung des Heldenbegriffs von der Heldenepik in die Wirklichkeit gedanklich umgedreht. Von der menschlichen Wirklichkeit her kann der Held schon in der Vormoderne gedacht sein, etwa im panegyrischen Renaissanceepos, in dem ein Fürst als Großer Mann gepriesen und mittels heldenepischer Sprach- und Erzählmuster zum Helden stilisiert wird ‒ Maximilian I. als Theuerdank und Magnanimus.13 Doch in der Moderne verändert sich die Begründung für die Größe des Großen Mannes und mit ihr auch die Anwendbarkeit des Begriffs Held: Beide werden nun über etwas menschlich Allgemeines definiert, so dass die Begriffe nicht mehr nur auf Fürsten, Feldherren, Staatsmänner angewandt werden können, sondern letztlich auf jedermann, der in der menschlichen Wirklichkeit groß erscheint oder für groß erklärt werden soll. Damit ist das menschlich Allgemeine nicht nur die wesentliche definitorische Grundlage des guten Helden der Moderne – zunächst in Ethik und Historiographie, dann auch sonstwo –, sondern auch der Motor seiner Vervielfältigung in Lebenswelt und Wissenschaft der Gegenwart. Denn das Allgemeine erweist sich in der Anwendung des Begriffs Held als etwas, das letztlich vom Standpunkt des subjektiv Eigenen aus bestimmt wird, so dass der Held dadurch, dass er zum Repräsentanten eines Allgemeinen in der Wirklichkeit erklärt wird, auch zum Objekt subjektiver Verehrung werden kann: die Helden von Bern oder vom Elften September, My dad is my hero! usw. Meine Rekonstruktionsskizze dieser Entwicklung setzt an bei deren wohl wichtigstem Zeugnis, an Georg Wilhelm Friedrich Hegels zwischen 1820 und 1829 viermal gehaltener Berliner Vorlesung über die Philosophie der Kunst bzw. Ästhetik.14

12 Susanne Lüdemann: Statement auf der Podiumsdiskussion Herausforderung Helden zur Eröffnung des SFB 948, in: helden.heroes.héros 1 (2013), S. 77 f., hier 77. 13 Vgl. aktuell Dennis Pulina: Kaiser Maximilian I. als Held im lateinischen Epos. Ein Beitrag zur Methodik epischer Heroisierungen und zur Aktualisierung antiker Heldennarrative, Berlin u. Boston 2022. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Redaktion v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, 3 Bde., Frankfurt / M. 1986, zitiert mit Bandund Seitenzahl. ‒ Das Authentizitätsproblem der postum von Heinrich Gustav Hotho herausgegebenen Vorlesungsmitschriften (vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, München 2005, S. 15–28) vernachlässige ich, weil das Folgende die Ästhetik nicht als Zeugnis hegelschen Denkens behandelt, sondern als Zeugnis eines Verständnisses des Begriffs Held, das unter Hegels Namen bis heute wirkungsreich ist. »Hegel« nenne ich den impliziten Autor in Hothos Redaktion. 

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Hegel bespricht das Phänomen von Heldentum zwar als ein ästhetisches, als ein Kunstphänomen. Doch der Versuch seiner Philosophie der Kunst, die Funktion der Kunst für den Menschen im Unterschied zu anderen Hervorbringungen des menschlichen Denkens (v. a. Religion, Recht, Wissenschaft) einer idealistischen Bestimmung zuzuführen, beruht auf dem Verfahren, die ästhetischen Phänomene als Teil der kulturellen Wirklichkeit zu betrachten. Für Hegel ist der »Zweck« der Kunst »die sinnliche Darstellung« einer von der Vernunft gebildeten Idee (Bd. 1, S. 100), so dass die ästhetischen Kunstphänomene im Verhältnis zu dieser Idee der Wirklichkeit angehören und als Wirklichkeiten von Interesse sind. Näherhin begreift Hegel Kunst als die konkrete Gestaltung (Bestimmtheit) eines Ideals, d. h. einer in Anschaulichkeit umgesetzten Vernunftidee ; als konkret gestaltetes Ideal ist Kunst die Ausdrucksform eines Allgemeinen (Absoluten, Wahren), das, von der Vernunft gebildet und in ihr verankert bleibend, in der menschlichen Lebenswirklichkeit realisiert ist (1, 203–229). Und unter dieser Maßgabe werden dann auch die Heroen der Heldenepik als Wirklichkeitsphänomene beurteilt: Die »Existenz der Heroen« der Ilias wird, in ihrer Idealität betrachtet, auf derselben gedanklichen Ebene behandelt wie die Verhältnisse »jetzigerzeit bei uns« und hier wiederum unterschiedslos »in unseren Romanen« oder in der Wirklichkeit arbeitsteiliger »Fabriks- und Handwerkstätigkeit« (3, 343 f.). Weil sie als Gestalten eines idealen Allgemeinen gelten, also gerade wegen der künstlichen Gemachtheit ihrer Erzählungen, werden die epischen Helden wie Achilleus, Odysseus und der Cid als Teile der menschlichen Wirklichkeit beurteilt. In seiner einflussreichen Definition der »Totalität« der heldenepischen Welt bestimmt Hegel die »gesamte Weltanschauung und Objektivität eines Volksgeistes, in ihrer sich objektivierenden Gestalt als wirkliches Begebnis vorübergeführt«, als »den Inhalt und die Form des eigentlich Epischen« (3, 330); das Heldenepos sei Kunstgestalt des Ideals einer »Nation« (331). Als wirkliches Begebnis vorgeführt werde diese ideale Totalität in einer erzählten »Kollision«, deren »dem Epos gemäßeste Situation« die Kriegserzählung sei, in der »die Totalität als solche für sich selber einzustehen Veranlassung« habe (349); der heldenepische Kampf sei also eine Handlung, die das nationale Ideal zum Vorschein bringe. Damit schlägt Hegel auch die Brücke von der erzählerischen Fiktion zur geschichtlichen Wirklichkeit. Denn der heldenepische »Krieg nationaler Totalitäten« demonstriere »die universalhistorische Berechtigung« des Krieges an sich, so dass der epische Kampf »durch die Begründung einer höheren Notwendigkeit in sich selber absolut« sei (352), also eine geschichtliche Wahrheit zum Ausdruck bringe. In exemplarischer Reinform komme 

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dies in der Ilias zum Ausdruck, »wo die Griechen gegen die Asiaten ziehen und damit die ersten sagenhaften Kämpfe des ungeheuren Gegensatzes ausfechten, dessen Kriege [die Perserkriege 490 /480 v. Chr.] den welthistorischen Wendepunkt der griechischen Geschichte ausmachen« (ebd.). Im Allgemeinen des Ideals ist die fiktionale Handlung des Epos vermittelt mit der Wirklichkeit der Weltgeschichte. Diese Bindung an das idealistische Allgemeine bestimmt auch Hegels Blick auf den epischen Helden, in Reinform wiederum in der Ilias gegeben, in Achill. Hegels Beurteilung der Achilleus-Figur ist ein Beispiel dafür, wie der Bezug des epischen Helden auf ein Allgemeines, das in ihm wirklich geworden oder durch ihn repräsentiert ist, genutzt wird, um die destruktiven Aspekte seiner Exorbitanz zu neutralisieren. Für Hegel erhalten die homerischen Hauptfiguren Achilleus und Odysseus dadurch, »daß sie totale Individuen sind, welche glänzend das in sich zusammenfassen, was sonst im Nationalcharakter zerstreut auseinanderliegt, und darin große, freie, menschlich schöne Charaktere bleiben, […] das Recht, an die Spitze gestellt zu sein und die Hauptbegebenheit [ihres jeweiligen Epos] an ihre Individualität geknüpft zu sehen« (361). Als solchermaßen totales Individuum sei Achilleus auch für sein destruktives Handeln ‒ seinen Zorn und das, was mit ihm verbunden ist ‒ weder »zu tadeln« noch »zu schulmeistern«, denn »das Hauptrecht« dieser Helden-Figur bestehe »in ihrer Energie, sich durchzusetzen, da sie in ihrer Besonderheit zugleich das Allgemeine« trage (360 f.). Die Fixierung des homerischen Helden auf seine ›Ehre‹ τιμή, deren sozial destruktive Wirkungen die Ilias an Achilleus vorführt,15 findet sich bei Hegel in seiner Totalität aufgehoben und dadurch aller Problematisierbarkeit entzogen. Auf diese Weise wird Achills Exorbitanz neutralisiert in einer Facettensammlung »rein menschlicher und nationaler Eigenschaften« (359), über deren Ideal sich sagen lässt: »Das ist ein Mensch !« (1, 308)16 Hegels Charakterbild von Achill (ebd.) beruht auf Textinterpretationen von unverkennbarer Subjektivität, so wie Hegel auch sonst mit seiner Begeisterung für Ilias und Odyssee, für Goethes Iphigenie und anderes ebenso wenig hinterm Berg hält (z. B. 3, 380–382; 1, 297–299) wie mit seiner Aversion gegen das Nibelungenlied und anderes (z. B. 3, 347). Die immer wieder durchklingende Subjektivität seiner ästhetischen Urteile (sein berüchtigter Klassizismus) bleibt freilich grundsätzlich kontrolliert

15 Vgl. in diesem Buch Janka. 16 Vgl. Arbogast Schmitt: Achill – ein Held?, in: Heldengedenken (Anm. 1), S. 860– 870, hier 862. 

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durch seine deduktive Methode.17 Sobald aber bei der Erfassung geschichtlicher Wirklichkeit das deduktive Verfahren Hegels durch ein induktives ersetzt wird, sobald der Große Mann und Held als derjenige begriffen wird, der, mit Jacob Burckhardt, »wesentlich verflochten [ist] in den Hauptstrom der Ursachen und Wirkungen« der geschichtlichen »Weltbewegung«,18 kann die historiographische Identifikation dieser allgemeinen Weltbewegung und der Rolle des Helden in ihr zum Spielball unkontrollierter Subjektivität werden. Und dann liegt es nahe, dass zur maßgeblichen Beurteilungsinstanz für Heldentum ein von der subjektivierten Größe ausgelöster Affekt wird ‒ ein Affekt, der auch uns heute aufschauen lässt zu den guten Helden unserer Lebenswirklichkeit. Eines der einflussreichsten Zeugnisse dafür ist das Geschichtsbild des schottischen Historikers Thomas Carlyle. In Carlyles 1846 veröffentlichten und bis in die Blütezeit des europäischen Faschismus vielgelesenen Londoner Vorlesungen On the Heroic in History19 sind die »Heroes« erneut jene »Great Men«, die als »leaders of men« in Erscheinung treten, nun jedoch nicht mehr nur, wie bei Rousseau, als Feldherren und Staatsmänner, sondern als »modellers, patterns, and in a wide sense creators, of whatsoever the general mass of men contrived to do or to attain« (S. 3). Carlyles »Heroes« sind Repräsentanten eines allgemein-menschlichen Wollens, dem sie zur Wirklichkeit verhelfen. Staatsmänner, der Heroentyp des »King« (Beispiele: Cromwell, Napoleon), sind darunter nur eine Art neben »Divinity« (Odin, euhemeristisch verstanden), »Prophet« (Mohammed), »Poet« (Dante, Shakespeare), »Priest« (Luther, John Knox) und »Man of Letters« (Samuel Johnson, Rousseau). Das allgemein-menschliche Wollen, das durch diese »Heroes« Wirklichkeit wird, ist als ein historisches begriffen, dessen Erscheinungsformen sich summieren zur menschheitlichen Fortschrittsgeschichte: »Universal History, the history of what man has accomplished in this world, is at bottom the History of Great Men who have worked here« (ebd.). Deshalb sind auch die Heroes ganz entschieden historische Größen, nicht nur geschichtsstiftend, sondern auch geschichtlichen Bedingungen und Konjunkturen un17 Dazu Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels These vom Ende der Kunst und der Klassizismus der Ästhetik, in: Hegel-Studien 19 (1984), S. 205–258. 18 Jacob Burckhardt: Das Individuum und das Allgemeine (Die historische Größe), in: Weltgeschichtliche Betrachtungen [postum 1905], mit einem Nachwort v. Jürgen Osterhammel, München 2018, S. 217–258, hier 219 u. 217. 19 Thomas Carlyle: On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History, ed. by Michael K. Goldberg u. a., Berkeley u. a. 1993. ‒ Charakterisierung von Carlyles Denken vor dem Hintergrund seiner Rezeption im Faschismus bei Ernst Cassirer: Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens [1945], Frankfurt / M. 1985, S. 246–289. 

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terworfen: teils wie Divinity und Prophet »productions of old ages« (S. 67), teils wie der Man of Letters »products of these new ages« (S. 133). In diesem Rahmen ist das menschlich Allgemeine, dem die Heroes zur Wirklichkeit verhelfen, weder eine ethische oder staatstheoretische »félicité publique« wie bei Rousseau noch eine zur Wirklichkeit gewordene Idee wie bei Hegel, sondern eine historiographisch identifizierte Epoche des Geschichtsfortschrittes, z. B. Englands »noble Struggle for constitutional Liberty« (S. 179, Cromwell) oder der postaufklärerische »return of mankind to Reality or Fact« (S. 203, Napoleon). Der Mangel an Systematik in diesen Kategorien offenbart, dass Carlyles menschlich Allgemeines sich einer subjektiven Deutung von subjektiv ausgewählten Geschichtsmomenten verdankt: Das Allgemeine wird definiert vom Standpunkt des Historiographen aus, auf den die menschheitliche Fortschrittsgeschichte zuläuft und von dem sie ihren Sinn erhält. So kann der aktuellste Hero Napoleon »our last Great Man« genannt werden (S. 208) – der letzte als Repräsentant des gegenwärtigen Standes der Geschichte und deshalb unser. Wer und was ein Hero ist, wird vom Standpunkt des Eigenen des Betrachters her bestimmt (was natürlich auch das Übergewicht britischer Menschheitsheroen bei Carlyle erklärt). Und so ist es auch folgerichtig, dass die gedankliche Haltung, in der Carlyle das Eigene mit einem solchen Hero in Verbindung bringt, gleichfalls entschieden subjektiver Art ist: Sie findet Ausdruck in einer bewundernden Emphase der Darstellung, im sprachlichen »fortissimo« einer Helden-Verehrung.20 Hegels Ästhetik eignet sich weder als ein Verständnistor zur vormodernen Heldenepik21 noch als allgemeiner Referenztext für die Heldenvorstellung von Moderne und Gegenwart.22 Aufschlussreich ist sie wegen ih20 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen 12, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 2., durchgesehene Aufl., München 1988, Bd. 6, S. 119. ‒ Der emphatisch-affektiven Überhöhung des Hero dient auch der Unterschied, den Carlyle gelegentlich zwischen ihm und dem Great Man macht: »Worship of a Hero is transcendent admiration of a Great Man« (S. 11); zur affektiven Aufladung des Heldenbegriffs bei Carlyle und Ralph Waldo Emerson vgl. Gamper (Anm. 7), S. 297–302. 21 Peter Czerwinski: Das Nibelungenlied. Widersprüche höfischer Gewaltreglementierung, in: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts, hg. v. Winfried Frey u. a., Bd. 1: Adel und Hof ‒ 12./13. Jahrhundert, durchgesehener Nachdr., Opladen 1985, S. 49–87. ‒ Dass z. B. der heroische Kampf keineswegs deswegen im Zentrum von Heldenepik steht, weil dort »die Totalität« des epischen Weltzustandes »für sich selber einzustehen die Veranlassung hat« (s. o.), versuche ich andernorts in diesem Buch zu zeigen (Petersen: Eigenwert). 22 Josef Früchtl: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt / M. 2004; Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, S. 78–87. 

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res Symptomcharakters. Sie ist das gedanklich vielleicht anspruchsvollste Zeugnis dafür, wie der gute Held der Moderne zu einem Phänomen der menschlichen Lebenswirklichkeit wird, indem er als wirkliche Gestalt eines idealen Allgemeinen betrachtet wird. Dieses Allgemeine kann dann, wie Carlyles Beispiel zeigt, einer Subjektivierung unterliegen, indem es der Perspektive des individuellen Betrachters anheimgegeben wird, der das Ideal, dem der Held verpflichtet ist, dem Eigenen seiner Lebenswelt anpasst: dem, was den Betrachter heldenmäßig dünkt. Das scheint mir die Wurzel der Vervielfältigung des Heldenbegriffs heutzutage zu sein: Den guten Helden der Wirklichkeit definiert letztlich ein jeder sich selbst.

Des ďƣƒåĻ Helden blinder Fleck (Wagners XŇĚåĻďŹĞĻ)

Vielleicht kann man das Spannungsfeld, in dem die Helden-Figuren von Richard Wagners Ring des Nibelungen agieren, das Spannungsfeld zwischen dem normativen Allgemeinen (Wotans Wille) und ihren individuellen, der Norm widerstreitenden Ansprüchen (Liebe, Machtgier u. a.), auf den Unterschied der Heldenkonzepte von Moderne und Heldenepik abbilden: der Dichter des Rings als »Erbe Hegel’s« und als Leser der Vǫlsunga saga.23 Doch in meinem Zusammenhang ist ein anderer Aspekt noch anzusprechen, der weniger im Ring als in Wagners Lohengrin zum Tragen kommt: das Identifikationspotential, das der gute Held der Moderne besitzt. Am Lohengrin und seiner Deutung durch Wagner selbst lässt sich nachverfolgen, wie der gute Held zu einer Identifikationsfigur gemacht werden kann und wie dies mit dem Versuch einhergeht, die Ambivalenz der heldenhaften Exorbitanz zu tilgen. Dieser Versuch hinterlässt allerdings einen blinden Fleck, der im Heldenbild von Moderne und Gegenwart neuralgisch ist. Richard Wagners Drang, seinem Selbstbild als Mensch und Künstler in seinen Musikdramen Objektivität und überindividuelle Geltung zu verleihen, hat sich vor allem in seinen eigenen Deutungen dieser Dramen niedergeschlagen. Auch das Verständnis des Lohengrin als eines Künstlerdramas, das in der Forschung gern aufgegriffen worden ist,24 hat seinen Ursprung in des Autors nachträglicher Deutung, und zwar in seiner Mitteilung an meine Freunde von 1851, einem autobiographischen Begleittext 23 Zitat: Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner, in: Sämtliche Werke (Anm. 20), S. 36. Zur Vǫlsunga saga vgl. Teichert in diesem Buch. 24 Prominent: Hans Mayer: Richard Wagner. Mitwelt und Nachwelt, Stuttgart u. Zürich 1978, S. 66–74; Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee, Dichtung, Wirkung, Stuttgart 22013, S. 185–187. 

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zu seinen Züricher Kunstschriften von 1849 bis 1851. In der Mitteilung 25 deutet Wagner die Titelfigur des Lohengrin (1848) als Ausdrucksgestalt seines Künstlerselbstverständnisses, das einerseits Kunstanschauungen der Romantik bewahrt und andererseits in seinem Bedürfnis nach erotischer Bindung idiosynkratisch ist. Um die »scheinbaren Widersprüche« zwischen seinen bisherigen Opern und seinem in den Kunstschriften »neuerdings« entwickelten Opernverständnis zu berichtigen (S. 213), erklärt Wagner den Lohengrin zu einer »durchaus neue[n] Erscheinung für das moderne Bewußtsein«, die nicht nur »zu keiner anderen Zeit als der jetzigen«, sondern auch »unter keinen andren Beziehungen zur Kunst und zum Leben, als wie sie aus meinen individuellen, eigentümlichen Verhältnissen entstanden«, hervorgehen konnte (S. 274). Lohengrin sei »Gott« (im Sinne von Ludwig Feuerbachs Religionskritik), »das heißt absoluter Künstler«, der in seinem Verlangen, »aus seiner Einsamkeit erlös[t]« und im »Verstandensein durch Liebe […] voller, ganzer, warmempfindender und warmempfundener Mensch, also überhaupt Mensch« zu werden, daran scheitert, dass ihm der »Heiligenschein der erhöhten Natur unabstreif bar« anhaftet, und, im »Staunen der Gemeinheit« wie im »Geifern des Neides« unverstanden, »in seine Einsamkeit zurückkehrt« (S. 272). Lohengrins Geliebte Elsa aber sei als »das Weib« kat’exochen (S. 278) einerseits »das Unbewußte, Unwillkürliche, in dem das bewußte, willkürliche Wesen Lohengrins sich zu erlösen sehnt«, und andererseits »der Geist des Volkes, nach dem ich auch als künstlerischer Mensch zu meiner Erlösung verlangte« (S. 277): »das Weib« also als Adressatin eines zweifachen Erlösungswunsches, der sich mit Elsas Übertretung des Frageverbots zu ewiger Unerfüllbarkeit verurteilt sieht. Der Lohengrin wird zur Allegorie des Künstlerselbstverständnisses seines Autors erklärt, das unverhohlen dessen narzisstischen Obsessionen nachmodelliert ist ‒ dem Drange folgend, »um der Kundgebung meines eigenen inneren Verlangens« willen »mich der Lohengrin-Gestalt zu bemächtigen« (S. 264). Die Plausibilität dieser Allegorisierung kann hier dahingestellt bleiben. Von Interesse ist aber, dass die Position, die in der Deutung mit Wagners Künstler-Ich besetzt wird, im Text des Lohengrin mit dem Begriff Held besetzt ist: Lohengrins »erhöhte Natur« ist im Text keine künstlerische oder göttliche, sondern eine heldenhafte, nicht nur in der Bezeichnung, sondern auch, wie zu zeigen sein wird, substantiell im Sinne dessen, was in diesem Buch als heroische Exorbitanz besprochen wird. Der »Heili25 Richard Wagner: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt / M. 1983, Bd. 6, S. 199–325. 

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genschein« in Wagners Deutung erweist sich damit als Umkodierung der übermenschlichen Asozialität des exorbitanten Helden, als Umkodierung, die mit einer positiven Umwertung der Asozialität verbunden ist und so die Identifikation mit dem Helden ermöglicht – zunächst des Autors selbst, der damit zugleich eine Identifikationsmöglichkeit aller Rezipienten vorbildet. Wagners Deutung tilgt die Ambivalenz seines exorbitanten Helden, indem er dessen negativen Aspekt aber nicht nur umkodiert, sondern auch verschiebt: auf diejenigen, deren »Gemeinheit« oder »Neid« den Helden unverstanden bleiben lasse, vor allem aber auf Elsa, die schon im Text zur Schuldigen an Lohengrins Scheitern gemacht wird. Lohengrins »Erlösung«, seine erotische und politische Sozialisierung, soll nicht an der Asozialität des Helden, sondern an der Unzulänglichkeit der Frau scheitern. In Wagners Lohengrin-Deutung wird durchsichtig, dass der Begriff Held in seiner Verkörperung durch Lohengrin von dem negativen Aspekt seiner Exorbitanz entlastet werden soll, diese Entlastung aber einen blinden Fleck hinterlässt, in den Elsas Schuld erklärend und sinnstiftend eingesetzt wird. Das gilt es im Folgenden plausibel zu machen. Der Lohengrin26 handelt von einem Heilsbringer (Lohengrin), der, sehnsüchtig erwartet (Elsa), allem Kräfte- und Ränkespiel irdischer Politik enthoben und deshalb den Akteuren dieses Spiels (Telramund, Ortrud), das eine Gesellschaft gefährdet (Herzog Gottfried, König Heinrich), kategorisch überlegen ist: im Kampf unbesiegbar auch vom Besten (Telramund), vermag er obendrein, schwarze Magie zu brechen (Gottfried) und in die Zukunft zu schauen (Heinrich). Die Enthobenheit und Überlegenheit des Heilsbringers liegt begründet in der Jenseitigkeit seiner Herkunft (Gralsreich), die mit einem Tabu belegt ist (Frageverbot), dessen Verletzung den Heilsbringer am Ende in das Jenseits seiner Herkunft zurückbannt. Wagner hat mit dieser Geschichte die mittelalterliche LohengrinSage adaptiert und im Sinne seiner Haltung zu den revolutionären Bestrebungen von 1848 politisch akzentuiert.27 Fremd war jener Sage allerdings die Erlösungssehnsucht des Heilsbringers, die Wagner in die Lohengrin-Figur neu hineingedeutet hat. Damit hat er in das überlieferte Sujet des Lohengrin noch ein zweites implementiert, das vom Versuch des Heilsbringers handelt, aus seiner Enthobenheit durch bedingungs26 Mit Verszahlen zitiert nach: Richard Wagners gesammelte Dichtungen. Drei Teile in einem Bande, hg. v. Julius Knapp, Leipzig o. J. [1914], Tl. 1, S. 199–244. 27 Elke Ukena-Best: Erzähltexte des deutschen Mittelalters in Richard Wagners Lohengrin, in: wagnerspectrum 10 (2014), S. 15–37; zur Entstehung Ulrich Schreiber: Weltflucht eines traurigen Helden. Richard Wagner und sein Lohengrin, in: Richard Wagner: Lohengrin. Texte, Materialien, Kommentare, hg. v. Attila Csampai u. Dietmar Holland, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 9–33. 

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lose Liebe befreit zu werden (»Elsa, ich liebe dich !«, V. 247), was an einer Fehlleistung der Geliebten, ihrem Tabubruch scheitert (»O Elsa ! Was hast du mir angetan?«, V. 1070).28 In diesem zweiten Sujet ist der Heilsbringer mit der aus Wagners Deutung zitierten Identifikationsmöglichkeit ausgestattet. Für sie hat Wagner die überlieferte Lohengrin-Geschichte verändert. Und dies mit Auswirkungen auch auf die Konzeption ihres Helden. Wie schon die Titelfigur von Wagners Rienzi (»Befreier, Retter, hoher Held!«, V. 311, 342)29 ist Lohengrin »Held«, weil »Retter«, zuvorderst Elsas Retter (»Mein Held, mein Retter !«, V. 221 u. ö.). Und wie im Rienzi dieser Retter als »Streiter« Gottes (V. 705 f.) und sein Wirken als göttliches »Wunder« (V. 502) religiös kodiert werden, so ist auch Lohengrins Erscheinung am Scheldeufer ein »Wunder« (V. 193 u. ö.), ist Lohengrin »gottgesandter Held« (V. 195). In beiden Fällen ist die religiöse Kodierung Ausdruck einer emphatischen Überhöhung des Helden als des Retters einer in der Frau symbolisierten Gesellschaft (im Rienzi mit sprechendem Namen: Irene). Im Lohengrin wird das Gralsreich als ein von der Sage gestellter Bildbereich für diese Überhöhung benutzt, für die Heraushebung des Helden aus der Normalität des Menschlichen. Ohne diese Überhöhung bezeichnet das Wort »Held« im Lohengrin einen zwar lobend adressierten, aber normgerechten Krieger. Auch die Brabanter Mannen sind »Helden« (V. 763, 1008), in ihrem Kreis sind »Heldenkraft« (V. 292) und »Heldentum« (V. 351) verleih- und teilbar, ist Lohengrin nur der relativ beste, »der Helden Preis« (V. 760). Doch als Retter und in der religiösen Überhöhung als »unerhörtes, nie geseh’nes Wunder« (V. 194) ist Lohengrin nicht mit anderen vergleichbar, ist er von kategorisch eigener, weil »Wunder« wirkender »Art« (V. 332, 1074), ist er einzigartiger Held: »Nie kehrt ein Held gleich dir / in diese Lande wieder !« (V. 336 f.) In diesem kategorisch singulären Sinne wird Lohengrin zumeist »der Held« genannt (V. 439 u. ö.). Seine religiös kodierte Überhöhung ist Ausdrucksform für das exorbitante Heldenkonzept, für dessen normüberschreitende Exzeptionalität. Diese wirkt, sofern sie »rettet«, durchaus gesellschaftsfreundlich. Doch Elsa wird nur zwischenzeitlich gerettet ; am Ende ist sie, wie es ihr schon zu Beginn drohte, tot. Das liegt daran, dass der Retter ebenso gesellschaftlicher Außenseiter ist, und zwar als »der Held« wesensmäßiger Außenseiter. Der Exzeptionalitätstitel »der Held« steht nicht nur anstelle von Lohengrins Namen, mit 28 Gerhard Neumann: »Nie sollst du mich befragen«. Zum Ritual der Liebesprobe in Wagners Lohengrin, in: wagnerspectrum 10 (2014), S. 39–60. 29 Wagner (Anm. 26), S. 57–105. 

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dessen Nennung er am Ende auch sozial identifizierbar wird (Gralserzählung V. 1042–69), sondern auch im Gegensatz zu den Titeln aller anderen Figuren, deren Benennung stets ihre soziale Position einschließt: angefangen beim Chor der »Fürsten, Edle[n], Freie[n] von Brabant« (V. 1) oder einfach »Männer von Brabant« (V. 7), über »Heinrich, der Deutschen König« (V. 2), »Friedrich, Graf von Telramund« (V. 146) und »Ortrud, Radbods des Friesenfürsten Sproß« (V. 57) bis zum verstorbenen »Herzog von Brabant« (V. 37), seinem Sohn Gottfried, dem am Ende neuen »Herzog von Brabant« (V. 1150), und der unaufhörlich so geheißenen »Elsa von Brabant« (V. 58 f. u. ö.). Im Unterschied zu all diesen verweigert Lohengrin nicht nur, wie in der mittelalterlichen Sage, die Namensauskunft, sondern auch einen Titel, der seine soziale Integration anzeigen könnte. Auch als Elsas Ehemann und Träger des Lehens von Brabant »will der Held nicht Herzog sein genannt«, vielmehr »Schützer von Brabant« (V. 589 f.). Als solcher ist er dem Brabanter Sozialverband nicht ein-, sondern zugeordnet ; der Titel »Schützer« hält an »des Helden« Außenseitertum fest. Zum Exzeptionalitätstitel »der Held« verhält der »Schützer« sich damit im Politischen so wie im Erotischen jene Titelzahl, mit der Elsa die Leerstelle von Lohengrins Namen auszufüllen versucht: neben »Retter« auch »Mein Schirm! Mein Engel ! Mein Erlöser !« (V. 241) All diese Kompensationstitel zeigen an, dass Lohengrin außerhalb des Brabanter Sozialverbandes und außerhalb der institutionellen und familiären Linie des Herzogs von Brabant verbleibt – nicht obwohl, sondern weil er, vergleichbar dem mittelalterlichen Beowulf oder Siegfried, ein Retter-Held ist.30 In Lohengrins Kompensationstiteln erweist sich der Titel »Held« als Signatur des wesensmäßigen Außenseiters. Verstärkt wird dies noch durch eine gewichtige Abweichung der Lohengrin-Geschichte Wagners von der mittelalterlichen Sage. Während Lohengrin hier erst nach Jahren erfolgreicher Herrschaft und Zeugung mehrerer Nachkommen ins Gralsreich zurückgebannt wird, die SchwanenritterSage also von einer mythischen Dynastiegründung handelt, verletzt Elsa bei Wagner das Tabu schon unmittelbar nach der Hochzeit, so dass Lohengrin seinen Abschied kinderlos nimmt. Wagners »Held« bleibt auch darin Außenseiter, dass er nichts gründet, dass seine Hinterlassenschaft nur aus Erinnerungsstücken seines Heldentums besteht – Horn, Schwert, Ring (V. 1125–30) –, hinterlassen demjenigen, den er bei seinem Abschied als legitimen »Herzog von Brabant« restituiert (V. 1150). Erst mit dieser Restitution, die im Plan der Geschichte auch von vornherein anvisiert war (V. 1121–24), ist die soziale Welt von Brabant wieder in Ordnung 30 Vgl. in diesem Buch Bauer und Müller. 

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gebracht. Für den Retter ist in dieser Ordnung strukturell kein Platz. Lohengrin ist ein exorbitanter Held auch in der Unmöglichkeit seiner gesellschaftlichen Integration, in seiner Asozialität. Dass diese wesensmäßig und strukturell bedingte Unmöglichkeit auf eine Fehlleistung Elsas geschoben und als ihr »Verbrechen« (V. 1089) gebrandmarkt wird – von Lohengrin (»Nur eine Strafe gibt’s für dein Vergehen«, V. 1095), in Wagners Deutung und in der Deutungstradition31 –, kann man infam finden. Aufschlussreich ist diese Verschiebung aber darin, dass sie die Möglichkeit sicherstellt, sich mit dem Helden zu identifizieren – für Wagner und jedermann. Durch Verschleierung und Negation seiner exorbitanten Asozialität wird das Identifikationspotential des erlösungsbedürftigen Retters gesichert ; »der Held« wird durch Ausblendung seiner Exorbitanz zu einem guten Helden und zu einer Identifikationsfigur gemacht. Die Ausblendung hinterlässt zugleich einen blinden Fleck, der mit Elsas »Verbrechen« besetzt wird, mit dem das Scheitern des Helden erklärbar gemacht ist, ohne sein Identifikationspotential zu schmälern. Darin scheint mir Wagners Lohengrin symptomatisch zu sein für den Umgang der Moderne und Gegenwart mit ihrem Heldenbegriff: Nicht nur wird der Held als guter konzipiert (z. B. als Retter einer Gemeinschaft) und zur Identifikationsfigur gemacht (z. B. zur Objektivierung des eigenen Selbstbildes), sondern dies wird auch davon begleitet oder nachträglich damit gesichert, dass der asoziale Aspekt heroischer Exorbitanz ausgeblendet wird. Gereinigt von diesem Aspekt wird der Held dadurch aber nur scheinbar ; tatsächlich wird der Aspekt nur blind gemacht. Denn das Ausgeblendete behält eine Relevanz, indem es anders besetzt wird (z. B. durch Schuldzuschreibung an andere) – oder aber auch wieder eingeblendet, reaktiviert wird. Klarsichtiger als Wagners identifikatorische Deutung gibt das Vorspiel zum Lohengrin die Ambivalenz seines Titelhelden wieder. Das Vorspiel bringt ein Gegenwärtigwerden und Wieder-Vergehen zu Gehör, deren von äußeren Akzidentien (Schuld) unbeeinflusstes Umschlagsmoment in eine orchestrale Ringkomposition eingebunden ist: von den Violinakkorden im Pianissimo zu Beginn über die allmählich ansteigende Konkretisierung durch Holzbläser, Hörner, tiefe Streicher bis zum Gegenwärtigkeitsgestus der Trompeten-Posaunen-Fanfare samt Beckenschlägen – »dieser sonnenartigen Strahlenwerfung« (Franz Liszt)32 –, einem Gestus von Gegenwärtigkeit, die aber nur von momenthafter Dauer ist, in raschem De31 Wichtigster Referenztext für diese ist neben der Mitteilung an meine Freunde Wagners Brief an Hermann Franck vom 30. 5. 1846, z. B. in: Csampai / Holland (Anm. 27), S. 104–110. 32 Ebd., S. 146. 

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crescendo wieder vergeht und sich in den Violinakkorden des Beginns verliert. Das Lohengrin-Vorspiel handelt von beiden Aspekten »des Helden« Lohengrin: vom Gegenwärtigwerden eines Heils und der Unmöglichkeit seines Verweilens, von der Asozialität des exorbitanten Retters. Charles Chaplin hat diese Logik des Vorspiels in The Great Dictator von 1940 aufgegriffen und (zusammen mit dem Konzept des Great Man) komisch gebrochen: Das Ballett des Diktators mit dem Weltkugel-Ballon, während das Lohengrin-Vorspiel erklingt, endet abrupt vor dem akustischen Gegenwärtigkeitsgestus ; der Traum von der Weltherrschaft wird nicht wirklich, sondern platzt – für den Diktator statt Heil nur Heulen. Damit reflektiert der Film auch, dass die Selbststilisierung jenes von Chaplin parodierten realen Diktators, der bekanntermaßen Fan des Lohengrin war und sich mit einem dem »Schützer« ähnlichen Exzeptionalitätstitel ober- und außerhalb der von ihm angeführten Gesellschaft platziert hat, als eine Heroisierung angesehen werden kann, in der die Asozialität als ein Teil von Heldentum wieder zur Geltung gebracht ist.33 Was im Heldenbild des Lohengrin ausgeblendet worden ist, kann in dessen Wirkungsgeschichte wieder Bestandteil des Konzepts Held werden. Das scheint beispielhaft zu sein. Wenn wir heute, trotz der eingangs genannten positiven Wertung, auch ein Unbehagen an Helden empfinden können, dann liegt das nicht daran, dass wir in einem postheroischen Zeitalter lebten, in dem Heldentum fremd oder brüchig geworden sei.34 Vielmehr folgt das Unbehagen unserer Erfahrung und Ahnung, dass die Ambivalenz heroischer Exorbitanz auch im guten Helden der Moderne und Gegenwart geisterhaft auf bewahrt geblieben ist: in einem blinden Fleck, der immer bereitsteht, wieder besetzt zu werden mit heroischer Asozialität und ihren destruktiven Äußerungsformen. Und der politische Aspekt dieses blinden Flecks ist das: Die Herrschaftsform eines Helden ist am Ende immer, ob gestern in Berlin, heute in Moskau oder morgen in Washington, die Diktatur.

33 »Wagnerisch, auf der Stufe der Verhunzung« (Thomas Mann: Bruder Hitler [1939], in: An die gesittete Welt. Politische Schriften und Reden im Exil, Nachwort v. Hanno Helbling, Frankfurt / M. 1986, S. 256). 34 Vgl. in der Einführung zu diesem Buch S. 10 f. u. 16 f. 

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Dr. Johannes Bach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Altorientalistik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Prof. Dr. Markus Janka ist Professor für Klassische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Berkan Sariaydin promoviert in Klassischer Philologie an der LudwigMaximilians-Universität München mit einer Arbeit über Vergils Aeneis. Prof. Dr. Matthias Teichert ist apl. Professor für ältere Skandinavistik an der Georg-August-Universität Göttingen. Dr. Renate Bauer ist Akademische Oberrätin für Englische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Jan-Dirk Müller ist em. Professor für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Bernhard Teuber ist Professor i. R. für Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Corinna Dörrich ist Akademische Oberrätin für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Cornelia Herberichs ist ord. Professorin für germanistische Mediävistik an der Université de Fribourg. Dr. Christoph Petersen ist Akademischer Oberrat für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Markus May ist apl. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher ist apl. Professor i. R. für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin.



Beiträgerinnen und Beiträger

Dr. Jana Mikota ist Lecturer für Kinder- und Jugendliteratur am germanistischen Seminar der Universität Siegen. Dr. Cord-Christian Casper ist wissenschaftlicher Assistent für Englische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Elisabeth Bronfen ist ord. Professorin für englische und amerikanische Literatur an der Universität Zürich. Prof. Dr. Elisabeth K. Paefgen ist Professorin i. R. für Neuere deutsche Literatur und Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Freien Universität Berlin. Dr. Robert Baumgartner ist am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert worden mit einer Arbeit über die Wirkungsästhetik von Computerspielwelten.