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German Pages [150]
Christina Peetz
Helen Flanders Dunbar – Die Mutter der Psychosomatik
Mit 5 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0083-6 ISBN 978-3-8470-0083-9 (E-Book) Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aus den Förderungsmitteln der Privatstiftung Kärntner Sparkasse. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: In Memorium: Flanders Dunbar, Psychosomatic Medicine, 1959, Vol. 21. Ó Wolters Kluwer Health Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Flanders Dunbar (1902 – 1959): Lebens- und zeitgeschichtliche Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Flanders Dunbars Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . 2.1.1 Kindheit in Chicago und Manchester (Vermont) . . . 2.1.2 Jugend in New York und Philadelphia . . . . . . . . . 2.2 Akademische Laufbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Studium der Philosophie, Theologie und Medizin . . . 2.2.2 Zeit in Europa: Wien und Zürich . . . . . . . . . . . . 2.3 Vielseitiges Arbeitsleben in New York (1930 – 1950) . . . . . 2.3.1 Theodore P. Wolfe – Ehemann und Wissenschaftler . . 2.3.2 Das Zusammenführen von Medizin und Religion . . . 2.3.3 Psychosomatische Forschung . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Psychoanalyse und Psychobiologie: Ein medizintheoretischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Franz Alexander – Freund und Kritiker . . . . . . . . 2.3.6 Privatleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die letzte Dekade ihres Lebens . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Historische Entwicklungen der Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Geburt der Psychosomatik (Heinroth) . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Psychoanalytische Psychosomatik (Charcot, Breuer, Freud, Groddeck, Schultz-Hencke, Schur, Deutsch, Alexander, Weiss) . . . 3.3 Tiefenpsychologische Psychosomatik (Adler, Boss) . . . . . . . . . 3.4 Internistische Psychosomatik (Kraus, von Bergmann, Brugsch, Jores, Uexküll) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Neurologische Psychosomatik (Bechterew, von Krehl, Siebeck, von Weizsäcker, Mitscherlich, Goldstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Psychophysiologische Psychosomatik (Pawlow, Cannon, Seyle) . .
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Inhalt
3.7 Psychobiologische Psychosomatik (Flanders Dunbar, Engel, Weiner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Psychosomatik des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Unfallneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Flanders Dunbars (1948): Unfallkrankheit und Unfallpersönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sigmund Freud (1904): Unbewusste Fehlleistungen und Fehltritte 4.3 Karl Marbe (1926): Wahrscheinlichkeit von Unfällen . . . . . . . 4.4 Alexandra Adler (1941): Psychologische Aspekte bei Industrieunfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Franz Alexander (1951): Unfallpersönlichkeit und das Motiv der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Medard Boss (1954): Bis ans Zerreißen gespannte Lebensstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Was geschah mit dem Konzept in den letzten 60 Jahren? . . . . . 4.8 Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Strukturmodell der Unfallneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Persönlichkeitsprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Flanders Dunbars Persönlichkeitstypen . . . . . . 5.2 Temperamentenlehre der Antike . . . . . . . . . . 5.3 Acht Typen nach C. G. Jung . . . . . . . . . . . . . 5.4 Fritz Riemann und die vier Grundtypen der Angst 5.5 Fritz Künkel und die Ichhaftigkeit . . . . . . . . . 5.6 Neurosenstruktur nach Harald Schultz-Hencke . . 5.7 Konstitutionstypologie nach Ernst Kretschmer . . 5.8 Persönlichkeitstypen A, B, C und D . . . . . . . . 5.9 Vergleich und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters Flanders Dunbars: Kinder, Prä-Teenager und Teenager . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Seele und Körper des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Seele und Körper des Prä-Teenagers . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Seele und Körper des Teenagers . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Flanders Dunbar als Wissenschaftlerin und Mutter . . . . . . 6.5 Zeitgeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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7 Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Einleitung
Helen Flanders Dunbar war eine Pionierin der Psychosomatik. Sie scheint zudem eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen zu sein, die sowohl bei beruflichen als auch privaten Kontakten einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Besonders eindrucksvoll war ihr sehr arbeitsreiches und produktives Leben: So studierte sie teilweise zeitgleich drei verschiedene Fächer an drei Universitäten (Theologie, Philosophie und Medizin), indem sie bereits zu Studienzeiten zwei persönliche Sekretärinnen engagierte. Sie verfasste in ihren 57 Lebensjahren neben zahlreichen Zeitschriftenartikeln auch neun große Werke, die für ihre Zeit revolutionäre neue Ansichten über das Zusammenwirken der Seele und des Körpers aufzeigten. Darüber hinaus war sie Mitbegründerin der Zeitschrift Psychosomatic Medicine, welche auch im 21. Jahrhundert noch eine der renommiertesten Zeitschriften in diesem Fachgebiet ist. Zusätzlich zu dem beträchtlichen schriftlichen Werk arbeitete sie zeitgleich in Lehre und Forschung, unterhielt eine Privatpraxis, engagierte sich in Frauenvereinigungen und zog ihre Tochter groß. Ihr zweiter Ehemann Henry George Soule Jr. schreibt über ihren außergewöhnlichen Arbeitsstil, der sie so produktiv machte: Obwohl sie wusste, dass Menschen in Raum und Zeit limitiert sind, konnte sie dies emotional oder praktisch nicht einsehen und ihre selbst gewählten Verpflichtungen auf ein Maß limitieren, welches sie ohne Erschöpfung erfüllen konnte.1
Eindrücklich ist ihr tiefgehendes Interesse an allen Geschehnissen um sie herum. Ihre Tochter Marcia beschreibt sie als eine Person, die das Leben stets mit Neugierde betrachtete und wissenschaftlich zu entschlüsseln suchte, was sie zu einer anregenden Gesprächspartnerin mit überraschenden und tiefsinnigen Ideen machte.2
1 George Soule Jr.,1959, S.352. Originalzitat aus dem Englischen. 2 Persönliches Gespräch mit Marcia Dobson am 02. 06. 2010.
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Einleitung
In ihrem Nachruf äußert sich der Psychosomatiker Franz Alexander, der zu Lebzeiten mit Kritik an ihren Theorien nie gespart hat, sehr beeindruckt über sie: Flanders Dunbar war keine konventionelle Ärztin, die der traditionellen Karriere ihrer Profession folgte. Ihre Interessen waren weit gefächert und reichhaltig, ausgehend von Literatur, Religion, Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychologie bis zu innerer Medizin.3
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist diese bemerkenswerte Wissenschaftlerin jedoch in Vergessenheit geraten. Nur wenige ihrer Theorien haben überdauert, diese werden oftmals nur kurz zitiert und dann mit scharfer Kritik zerrissen. Dieses Werk ist das Ergebnis einer Dissertation über diese bemerkenswerte Wissenschaftlerin, getragen von der Hoffnung, sie auch im deutschsprachigen Raum wieder in den Blickpunkt zu rücken. Die Autorin wählte das Thema ihrer Dissertation mit dem Wunsch, eine wissenschaftlich arbeitende Frau zu porträtieren und ihr Werk kritisch zu beleuchten. Helen Flanders Dunbar war eine der Frauen, die trotz Widerstände der patriarchalisch geprägten wissenschaftlichen Welt des vergangenen Jahrhunderts ihr Werk und ihre neuen Ideen effektiv propagierte. Ein Besuch bei ihrer Tochter, der renommierten Psychoanalytikerin Prof. Dr. Marcia Dobson in Chicago, brachte neues biographisches Material zutage, welches den Lebensweg dieser Wissenschaftlerin nachzeichnet. Die Autorin war tief berührt von der Energie, der Entschlossenheit und dem Engagement von Helen Flanders Dunbar, die das neue Forschungsfeld der Psychosomatik gegen alle Widerstände beträchtlich voranbrachte. Aus diesem Grund, wird auf Helen Flanders Dunbar auch als »Mutter« der Psychosomatik verwiesen.
3 Alexander, 1959, S. 189. Originalzitat aus dem Englischen.
2 Flanders Dunbar (1902 – 1959): Lebens- und zeitgeschichtliche Hintergründe
2.1
Flanders Dunbars Kindheit und Jugend
2.1.1 Kindheit in Chicago und Manchester (Vermont) Helen Flanders Dunbar wurde am 14. Mai 1902 in Chicago als älteres von zwei Kindern geboren. Flanders Dunbar wuchs in einer wohlhabenden Familie auf. Ihr jüngerer Bruder Francis wurde 1906 geboren. Ihre Mutter, Edith Flanders Dunbar (1871 – 1963), war eine professionelle Ahnenforscherin, deren Hauptwerk in der Erforschung der Ahnenreihe der Familie Flanders bestand. Sie wird als Feministin beschrieben, die während des Ersten Weltkrieges mit erheblichem Engagement in der National League for Women’s Service aktiv war.4 Flanders Dunbars Vater, Francis William Dunbar (1868 – 1936), war ein Mathematiker, Elektrotechniker und Patentanwalt, dessen bekanntestes Projekt in der Verkabelung des berühmten Platzes Madison Square Garden in New York bestand. Nach der Eheschließung im Jahr 1900 fand er Arbeit in Chicago, wo Helen geboren wurde. Im ersten Lebensjahr erkrankte Flanders Dunbar, was zu einer Hospitalisierung im Säuglingsalter führte. Bezüglich der Art der Erkrankung gibt es unterschiedliche Quellenlagen. Die Autorin Stokes verweist in ihrem biographischen Artikel auf die gesundheitlichen Schwierigkeiten der jungen Helen als Folge einer Mangelernährung, verursacht durch Probleme bei der Säuglingsfütterung. Flanders Dunbar selbst verwies auf ihre frühe Erkrankung in späteren Jahren jedoch als Kinderlähmung. Ihr Kinderarzt klassifizierte die Erkrankung dagegen als rachitische Pseudo-Paralysis, eine Art Muskelschwäche.5 Unabhängig von den Unklarheiten bezüglich der Ursache und Art der frühen Erkrankung, lässt sich nicht eindeutig sagen, welche physischen Schäden zurückblieben. Flanders Dunbar überschritt auch im Erwachsenenalter die
4 Powell, 1974, S. 85. 5 Stokes, 1980, S. 210.
12
Lebens- und zeitgeschichtliche Hintergründe
Größe von 1,50 Meter nicht. Es bleibt zu vermuten, dass dies eine Spätfolge der frühen Erkrankung war. Da einige Wochen auf einer öffentlichen Schule für das empfindsame Mädchen katastrophal verliefen, wurde Flanders Dunbar erst im Alter von acht Jahren auf die University of Chicago Laboratory School, eine anerkannte Privatschule, geschickt. In den folgenden vier Jahren, in denen sie die Schule besuchte, absolvierte sie das übliche Lernpensum, das am Anfang des 20. Jahrhunderts Kindern vermittelt wurde. Zu Hause erklärte Helens naturwissenschaftlich orientierter Vater ihr das Rechnen und die Grundlagen der Physik. In späteren Jahren führte Flanders Dunbar oft ihr naturwissenschaftliches Interesse auf ihren Vater zurück.6 Francis William Dunbar legte in der Ausbildung von Flanders Dunbar außerordentliche Strenge an den Tag, so musste die kleine Helen teilweise schon vor dem Frühstück Mathematikaufgaben lösen.7 Im Jahre 1912 wurde ihr Vater in langwierige Patentstreitigkeiten mit der American Telephone and Telegraph Company verwickelt. Nach jahrelangem Rechtsstreit gewann die kleinere Firma den Gerichtsfall, was auch auf die Bemühungen von Flanders Dunbars Vater zurückzuführen war. Nach Abschluss des Falles verkaufte die Firma das Patent jedoch unverzüglich an die Gegenpartei des Gerichtsstreits, die American Telephone and Telegraph Company.8 Flanders Dunbars Vater, ein sensibler Mann, fühlte sich von seinen Arbeitgebern enttäuscht, so dass er 1914 im Alter von 46 Jahren eine frühe Rente antrat und mit seiner Familie nach Manchester, einer kleinen Stadt im Bundesstaat Vermont im Nordosten der USA, umsiedelte. Dort lebte die Familie von Einkünften aus Patentlizenzen von Flanders Dunbars Vater. Dieser zog sich zunehmend zurück und das Leben der jungen Helen wurde vom Einfluss dreier starker Frauen dominiert. Neben Flanders Dunbars Mutter Edith, die als »streng, ernst und puritanisch«9 beschrieben wird, lebten noch Flanders Dunbars Großmutter und ihre Tante zeitweise mit im Haushalt. Helens Großmutter mütterlicherseits, Sarah Ide Flanders (1827 – 1920), war die Witwe eines Geistlichen der Episkopalkirche10 und genauso streng und puritanisch wie Flanders Dunbars Mutter. Strokes verweist auf einen starken Einfluss des religiösen Glaubens ihrer Großmutter auf Flanders Dunbar.11 Ihr Leben lang blieb sie Angehörige der 6 7 8 9 10
Soule Jr., 1959, S.350. Persönliches Gespräch mit Marcia Dobson am 02. 06. 2010. Powell, 1974, S. 84. Hart, 1996, S. 49. Originalzitat aus dem Englischen. Die Episkopalkirche (Episcopal Church in the United Staates of America) ist eine der ältesten Kirchen in der anglikanischen Kirchengemeinschaft und vornehmlich in den Vereinigten Staaten vertreten. Flanders Dunbars Eltern wurden beide in Neu-England geboren, wo die Episkopalkirche erheblichen Einfluss ausübt. 11 Stokes, 1980, S. 210.
Flanders Dunbars Kindheit und Jugend
13
Episkopalkirche. Es wird berichtet, dass sie als erwachsene Frau regelmäßig die Grace Church in New York besuchte.12 Flanders Dunbars Tante mütterlicherseits, Ellen Ide Flanders (1868 – 1961) werden Attribute wie »scharfsinnig, manipulativ, aber herzlich«13 zugeschrieben. Sie war ihrer Nichte sehr zugetan und konnte ihren Lebensplan, eine medizinische Missionarin zu werden, aufgrund einer Erkrankung an Tuberkulose nicht verwirklichen. In Fragen bezüglich zwischenmenschlicher Kontakte war Helens Tante ihre erste Ansprechpartnerin. Flanders Dunbars Schulbildung in Manchester wurde in den ersten drei Jahren von einem Tutor übernommen, der Francis und Helen unterrichtete. Flanders Dunbar verbrachte ihre Freizeit mit Pferden und Büchern. Sie war eine ausgezeichnete Reiterin. Diese Leidenschaft bewahrte sie sich auch als erwachsene Frau. Powell beschreibt die jugendliche Flanders Dunbar als »einsames, überbehütetes Mädchen, das sich mit einem Buch wohler zu fühlen schien, als mit Menschen«14. In dieser Neigung scheint sich die Schüchternheit und das zurückgezogene Wesen von Flanders Dunbars Vater wiederzuspiegeln.
2.1.2 Jugend in New York und Philadelphia Im Alter von 15 Jahren trat Flanders Dunbar zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder eine längere Reise in die Karibik sowie nach Mittel- und Südamerika an. Auslöser schienen gesundheitliche Probleme von Flanders Dunbars zu sein, in Folge derer ihr New Yorker Arzt ihr eine vegetarische Diät und einen Klimawechsel verordnete. Es könnte sich bei der Erkrankung um eine Störung des Stoffwechsels gehandelt haben. Der Autor Powell vermutet sogar eine »Episode der Melancholie«.15 Über die genaue Natur der gesundheitlichen Probleme kann jedoch nur spekuliert werden. Gegen Ende der Reise blieb Flanders Dunbar mit ihrer Mutter und ihrem Bruder für etwa ein halbes Jahr in Kalifornien, wo sie die Bishop’s School in La Jolla besuchte. Im folgenden Jahr besuchte sie die Brearley School in New York, eine der besten Privatschulen für Mädchen, bis sie nach ihrem Abschluss 1919 auf das Bryn Mayr College in Philadelphia wechselte. Dort belegte Flanders Dunbar als Hauptfächer Mathematik und Psychologie und besuchte einen Vorbereitungskurs für das Medizinstudium. Während ihrer Schulzeit in New York und Philadelphia folgte ihr der weibliche Teil des Haushaltes zusammen mit ihrem Bruder. Die Familie fand zuerst in New York und dann in Philadelphia einen Wohnsitz. Ihr Vater blieb in 12 13 14 15
Hart, 1996, S. 49. Powell, 1974, S. 85. Originalzitat aus dem Englischen. Powell, 1974, S. 86. Originalzitat aus dem Englischen. Powell, 1974, S. 86. Originalzitat aus dem Englischen.
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Lebens- und zeitgeschichtliche Hintergründe
Manchester zurück. Als eher introvertiertes und schüchternes Mädchen hatte Flanders Dunbar wenig soziale Kontakte während ihrer Schulzeit und konzentrierte ihre Energie daher auf die Lerninhalte. Zudem war sie unglücklich über ihre kleine, eher rundliche Erscheinung. Sie bekam den Spitznamen »Kleine Dunbar«16, was auf ihre geringe Körpergröße zurückzuführen war. Fotografien aus ihrer Schulzeit zeigen Flanders Dunbar als untersetzte Person, die ihre Haare in einem strengen Dutt aus dem Gesicht trug. In späteren Jahren veränderte sich ihre Erscheinung deutlich, so dass sie von ihren Kollegen (z. B. Edward Thornton) als »hübsch, vital und charismatisch«17 bezeichnet wurde. Das Problem ihrer geringen Körpergröße löste sie in späteren Jahren, indem sie speziell angefertigte Plateausohlen trug. Zusammen mit langen schwarzen Kleidern wurden diese zu ihrem Markenzeichen.18 In Bryn Mayr wurde sie in Psychologie unter anderen von James Henry Leuba (1868 – 1946) unterrichtet. Leuba war ein Psychologe, der sich intensiv mit Religion auseinander setzte. Er versuchte, religiöse Erfahrungen, wie zum Beispiel »Bekehrung«, aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu erklären und so Wissenschaft und Religion zusammenzuführen. Leuba war es auch, der Flanders Dunbar mit den Schriften von Dante konfrontierte. Hinter der Kurzform Dante verbirgt sich der italienische Dichter und Philosoph Dante Alighieri (1265 – 1321). Er vertrat die Auffassung, dass Gottes Existenz nicht nur durch Belege in Manuskripten deutlich werde, sondern auch durch die Einzigartigkeit des Universums. Ihren Abschluss in Bryn Mayr erreichte Flanders Dunbar im Jahre 1923. Im Anschluss folgte eine beeindruckende akademische Karriere, welche sie an mehreren Universitäten absolvierte.
2.2
Akademische Laufbahn
2.2.1 Studium der Philosophie, Theologie und Medizin Im Herbst 1923 begann Flanders Dunbar ihr Studium der Philosophie an der Columbia University in New York. Ihrem Interesse an Dante folgend, studierte sie unter dem bedeutenden Dante Schüler Jefferson B. Fletcher (1865 – 1946). Dieser machte Flanders Dunbar mit seiner Auffassung von Dantes Schriften vertraut.
16 Stokes, 1980, S. 210. Originalzitat aus dem Englischen. 17 Hart,1996. 18 Powell,1974.
Akademische Laufbahn
15
Dantes zentrales Argument zielt darauf ab, dass Religion und Wissenschaft nicht antagonistisch sind, sondern einander durch Symbolik ergänzen.19
Flanders Dunbar erwarb ihren Master in Philosophie im Jahr 1924. Zu dieser Zeit beschäftigte sie bereits eine persönliche Sekretärin, Mary Anita Ewer.20 Während Flanders Dunbar an der Columbia University blieb, um zu promovieren, begann sie zeitgleich ein Studium der Theologie am Union Theological Seminary in New York. Sie begann eine zweite Sekretärin, Rosamond Hamilton Grant21, zu beschäftigen. Powell verweist darauf, dass Flanders Dunbar bereits im Herbst 1925 mit einem zusätzlichen Medizinstudium beginnen wollte, jedoch aufgrund einer Krankheit ihrer Mutter die Immatrikulation aufschob.22 Anstelle dessen arbeitete sie im späten Sommer des Jahres 1925 (wie auch die darauf folgenden vier Jahre) je fünf Wochen im Worcester State Hospital, einer psychiatrischen Einrichtung in Massachusetts. In dieser Zeit machte sie die Bekanntschaft von Anton T. Boisen (1876 – 1965), der als einer der ersten Kaplane in einer Psychiatrie tätig war und die Grundsteine für eine klinische Ausbildung für Geistliche legte. Im Jahr 1926 begann Flanders Dunbar schließlich das Medizinstudium an der Yale University in New Haven im Bundesstaat Connecticut. Sie zog mit ihrer Mutter und Sekretärin Rosamond Grant nach New Haven und ließ ihre andere Sekretärin Mary Ewer in New York zurück, welche dort Vorlesungen besuchte und diese schriftlich für Flanders Dunbar festhielt. Im ersten Jahr des Medizinstudiums pendelte sie an den Wochenenden nach New York, um dort an ihrer Dissertation zu arbeiten und Mary Ewers Zusammenfassungen zu studieren. Zu dieser Zeit war Flanders Dunbar in drei Universitäten gleichzeitig eingeschrieben, wo sie verschiedene Fächer studierte. Im April 1927 beendete Flanders Dunbar ihre Doktorarbeit in Philosophie an der Columbia University. Ihre Arbeit Symbolism in Medieval Thought and its Consummation in the Devine Comedy23 wurde im Jahre 1929 veröffentlicht. Die Arbeit verschaffte ihr anhaltendes Ansehen als Dante Schülerin. Eine Neuauflage erschien 1961. Im Mai 1927 graduierte sie vom Union Theological Seminary und erwarb
19 Hart, 1996, S. 50. Originalzitat aus dem Englischen. 20 Mary Anita Ewer (1892 – 1962) war Flanders Dunbars persönliche Sekretärin von ca. 1923 bis 1932 (Powell, 1974). 21 Rosamond Hamilton Grant arbeitete für Flanders Dunbar bis 1942/1943. Sie wurde als »strenge, ernste Frau« beschrieben, die »nicht geneigt war, Emotionen auszudrücken« (Powell, 1974, S. 93. Originalzitat aus dem Englischen.). 22 Powell, 1974, S. 93. 23 Dunbar, 1929.
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Lebens- und zeitgeschichtliche Hintergründe
ihren Bachelor mit der Note magna cum laude24. Zudem gewann sie ein begehrtes Reisestipendium. Im Juni 1927 beendete sie ihr erstes Jahr des Medizinstudiums in der Yale University. Ihre Kommilitonen in Yale gaben ihr den Spitznamen »Pocket Minerva«25, ein respektvollerer Spitzname als zu ihrer Schulzeit.
2.2.2 Zeit in Europa: Wien und Zürich Im Juli 1929 machte Flanders Dunbar von dem Reisestipendium Gebrauch, welches sie mit ihrer Bachelor-Arbeit im Union Theological Seminary gewonnen hatte und reiste während ihres vierten Jahres des Medizinstudiums nach Europa. Sie hatte im Vorlauf die anatomischen Untersuchungen für ihre medizinische Doktorarbeit The Optic Mechanisms and Cerebellum of the Telescope Fish26 abgeschlossen. Ab diesem Zeitpunkt begann sie ihre Unterschrift in »H. Flanders Dunbar« zu ändern. In Anbetracht der zu dieser Zeit von Männern dominierten medizinischen Fachwelt erscheint die Änderung ihres Namens auf eine bewusst mehrdeutig angelegte Verkürzung nicht verwunderlich. Sie behielt ihren Mädchennamen ihr ganzes Leben bei und änderte ihn auch nicht mit ihren zwei Ehen. Später unterzeichnete sie nur mit »Flanders Dunbar«.
Abbildung 1: Unterschrift von Flanders Dunbar.
Sie verbrachte etwa ein Jahr in Wien und wurde Hospitantin in der psychiatrischen Universitätsklinik Wien, wo sie unter dem Internisten Felix Deutsch (1884 – 1964) praktische Erfahrungen sammelte. Dieser versuchte als Internist, Psychoanalyse und Innere Medizin zu integrieren, was ihn teilweise zur Zielscheibe von Kritik machte. Er führte großflächige psychosomatische Studien durch und veröffentlichte zahlreiche Artikel und Bücher zu vielfältigen 24 Ihre Bachelor-Arbeit trug den Titel Methods of Training in the Devotional Life Employed in the American Churches. 25 Pocket (aus dem Englischen = Tasche) verweist auf ihre geringe Körpergröße. Minerva in Anlehnung an die römische Göttin der Weisheit, im Griechischen unter dem Namen Athene bekannt. 26 Powell, 1974, S. 97.
Akademische Laufbahn
17
Themen, die sein großes Interessenspektrum wiederspiegelten. Felix Deutsch erlangte auch Bekanntheit als Freuds persönlicher Arzt. Als Tutor von Freuds Sohn Martin, machte er Bekanntschaft mit dem Gründer der Psychoanalyse und tauschte sich mit ihm über relevante Themen aus.27 Obwohl sie ihren medizinischen Abschluss noch nicht erworben hatte, wurde Flanders Dunbar Mitglied der American Medical Association of Vienna, die postpromotionelle Kurse für Ärzte aus aller Welt organisierte. Durch den Kontakt zu Felix Deutsch machte Flanders Dunbar die Bekanntschaft seiner Frau Helene und begann eine Lehranalyse bei ihr. Die gebürtig aus Polen stammende Helene Deutsch (1884 – 1982) studierte Medizin in Wien und München. Sie war eine der berühmtesten Psychoanalytikerinnen, die zum engsten Kreis um Sigmund Freud gehörte. Helene Deutsch erhielt von 1818 – 1819 eine Lehranalyse bei Freud und ist unter anderem für ihre Spezialisierung auf die Psychologie der Frau und die weibliche Sexualität bekannt. Im Jahr 1912 heiratete sie Felix Deutsch. Das Ehepaar emigrierte 1935 in die USA, wo sich die beiden im Boston Psychoanalytic Institute engagierten.28 Flanders Dunbar begann ihre Wochenenden in Zürich zu verbringen, wo sie schließlich als Assistentin in der Klinik Burghölzli29 arbeitete. Zudem ist bekannt, dass sie mehrere Gespräche mit Carl Gustav Jung (1875 – 1961) führte.30 Der in der Schweiz geborene C.G. Jung studierte in Basel Medizin und arbeitete als Assistent von Eugen Bleuler (1657 – 1939) in der Klinik Burghölzli. Er engagierte sich in Freuds Bewegung, bis es wegen unterschiedlicher theoretischer Ansätze zum Bruch mit dem Vater der Psychoanalyse kam. Er war Zeit seines Lebens in Lehre und Forschung aktiv und wurde als Begründer der Analytischen Psychologie bekannt.31 Bevor Flanders Dunbar 1930 in die USA zurückkehrte, besuchte sie eine Reihe von Wallfahrtsstätten, die wegen ihrer religiösen Heilungen bekannt waren. Allen voran besuchte sie den Wallfahrtsort Lourdes in Frankreich, dem sie in ihrem Buch Seele und Körper32 ein Kapitel widmete. Weitere von ihr besuchte Wallfahrtstätten waren in Österreich (Mariazell, Maria-Alm, Maria-Taferl und die Wallfahrtskirche Maria Lavant bei Lienz) und Deutschland (Wallfahrtskirche Mariahilf in Passau). 27 Alexander, Eisenstein & Grotjahn, 1966, S. 299 – 307. 28 Roazen, 1989. 29 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, in der Bevölkerung unter dem Namen Burghölzli bekannt. 30 Aus C.G. Jungs Terminkalender konnte entnommen werden, dass Flanders Dunbar offizielle Termine am 27. Februar, am 03.,10.,11.,14. und 17. März 1930 hatte sowie am 08. und 09. Juni 1931. Aus persönlichen Briefen von Flanders Dunbar sind darüber hinaus einige inoffizielle Treffen bekannt (Powell, 1974, S. 102). 31 Bair, 2005. 32 Dunbar, 1951, S. 77 – 82.
18
Lebens- und zeitgeschichtliche Hintergründe
Nach ihrer Rückkehr nach New York im Jahre 1930 beendete Flanders Dunbar ihr Medizinstudium und erhielt ihren medizinischen Doktortitel. Die Zeit in Europa ließ die junge Frau äußerlich verändert zurück. Sie wurde in der folgenden Zeit als »schlank, auffallend hübsch und geschickt im Einsetzen ihres weiblichen Charmes«33 beschrieben. Helen Flanders Dunbars Tochter, Marcia Dobson, beschrieb ihre Mutter als hübsche und charmante Frau mit »olivfarbener Haut, schwarzen Locken und smaragdfarbenen Augen«.34 In Bezug auf die Wissenschaft und ihre Arbeit zeigte sie sich voller Begeisterung. Sie war interessiert an allem, was um sie herum vorging, und versuchte, alles wissenschaftlich zu untersuchen und die Welt um sich herum zu verstehen.
2.3
Vielseitiges Arbeitsleben in New York (1930 – 1950)
Nach Flanders Dunbars Rückkehr nach Amerika begann ein arbeitsintensives Leben, das ihre vielfältigen Interessen und Begabungen widerspiegelte. Sie hatte viele verschiedene Positionen inne, engagierte sich in Lehre und Forschung, unterhielt eine Privatpraxis und veröffentlichte neun Bücher sowie unzählige Zeitschriftenartikel. Sie beschäftigte drei Sekretärinnen35 und trieb sich selbst und andere bis an ihre Grenzen. Von 1931 bis 1949 war sie im Presbyterian Hospital and Vanderbilt Clinic in New York beschäftigt, wo sie sowohl medizinisch-somatisch als auch psychiatrisch konsultiert wurde. Während dieser Zeit lehrte sie im Columbia University’s College Ärzte und Chirurgen. Ab 1941 bis 1947 unterrichtete sie zudem im New York Psychoanalytic Institut. Sie gründete 1942 die American Psychosomatic Society und war die Herausgeberin der zugehörigen Zeitschrift Psychosomatic Medicine, welche auch heute noch zu den führenden Zeitschriften auf diesem Gebiet gehört. Im Folgenden werden die einzelnen Zweige ihres arbeitsreichen Lebens separat beleuchtet.
2.3.1 Theodore P. Wolfe – Ehemann und Wissenschaftler 1932 heiratete Flanders Dunbar den Schweizer Psychiater Dr. Theodore P. Wolfensberger (1902 – 1954), den sie in Zürich kennen gelernt hatte. Nach seiner 33 Stokes, 1980, S. 210. Originalzitat aus dem Englischen. 34 Persönliches Gespräch mit Marcia Dobson am 02. 06. 2010. 35 Neben Rosamond Hamilton Grant und Mary Anita Ewer beschäftigte sie Helen Taylor Van Voast.
Vielseitiges Arbeitsleben in New York
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Einreise in die USA verkürzte er seinen Namen zu Wolfe. Er kollaborierte mit Flanders Dunbar in einer Reihe von Studien und Veröffentlichungen zu einer Vielzahl von Themen. Wolfe hat Bekanntheit erlangt, als derjenige, der Wilhelm Reich bei seiner Emigration in die USA unterstützt hat. Wolfe übersetzte Reichs Werke in die englische Sprache. Ihn und Reich verband eine enge Freundschaft.36 Wilhelm Reich (1897 – 1957) war ein in Österreich geborener Psychoanalytiker, der in Wien Medizin studiert hatte. Bekannt wurde Reich unter anderem für seine Entwicklung der Charakteranalyse sowie sein Werk über Massenpsychologie. Seine später entwickelte Lehre der Orgonomie37 wurde sehr widersprüchlich diskutiert und brachte ihn teilweise in Verruf38. Kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges engagierte sich Wolfe für eine Einladung von Reich als Professor an der New School for Social Research in New York. Er legte eine Petition vor, unterschrieben von führenden Intellektuellen, die Reich Unterstützung zusicherten und erledigte für diesen sämtliche VISA Angelegenheiten. Reich siedelte 1939 mit seinem gesamten Labor nach New York über. In den vierziger Jahren begannen Flanders Dunbar und Wolfe Privatpraxen zu gründen und sich als niedergelassene Psychiater zu etablieren. Zu diesem Zweck wurden zwei teure Wohnungen in der Park Avenue angemietet. Flanders Dunbar war neben der Privatpraxis noch mit Forschungsvorhaben, Lehraufträgen und vielen anderen Projekten beschäftigt. Eine ihrer drei Sekretärinnen, Rosamond Grant, lebte zu dieser Zeit bereits mit dem Ehepaar in der gemeinsamen Wohnung, um jederzeit verfügbar zu sein. Powell wagt die Vermutung, dass sich Wolfe aufgrund Flanders Dunbars enormen Arbeitspensum »wie eine ihrer Sekretärinnen«39 zu fühlen begann. An der Columbia University, wo Flanders Dunbar zu dieser Zeit einen Lehrauftrag hatte, war auch Wolfe in einer untergeordneten Position angestellt. Er war oft damit beschäftigt, seiner Ehefrau zuzuarbeiten und Arbeiten für sie zu erledigen. Ihre knapp bemessene gemeinsame Freizeit wurde zu einem Großteil von sozialen Zusammenkünften eingenommen, die Wolfe verhasst waren. Im Jahr 1938 trennte sich Wolfe von seiner Gattin. Die Scheidung erfolgte im Dezember 1939. Flanders Dunbars Vater starb 18 Tage nach ihrer Scheidung. Kurz vor seinem Tod bat ihr Vater sie, seine zahlreichen wissenschaftlichen Artikel in einem Buch zusammenzufassen und zu veröffentlichen. Es kam jedoch nie zu dieser Veröffentlichung, was bei Flanders Dunbar große Schuldgefühle auslöste.40 36 Hart, 1996, S. 50. 37 Die Orgonomie ist die Lehre einer kosmischen allumfassenden Energie im Universum, auf die alles Leben zurückzuführen ist. 38 Alexander, Eisenstein & Grotjahn, 1966, S. 430 – 437. 39 Powell, 1974, S. 273. Originalzitat aus dem Englischen. 40 Persönliches Gespräch mit Marcia Dobson am 02. 06. 2010.
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Lebens- und zeitgeschichtliche Hintergründe
Der Verlust der zwei wichtigsten Männer in ihrem Leben ließ Flanders Dunbar tief gezeichnet zurück.
2.3.2 Das Zusammenführen von Medizin und Religion Joint Committee on Religion and Health Nach ihrer Rückkehr in die USA wurde Flanders Dunbar durch Unterstützung von Ethel Palmer Hoyt (1877 – 1952) in das Joint Committee on Religion and Health of the Federal Council of Churches and the New York Academy of Medicine eingeführt. Im Jahre 1930 wurde sie zur medizinischen Direktorin berufen. In dieser Funktion widmete sie ihre Zeit der Forschung und Lehre. Die Forschung umfasste für Flanders Dunbar den Bereich »des Zusammenhanges der Psyche und des Körpers sowie praxisnaher Experimente zwischen Ärzten und Geistlichen«.41 Zur selben Zeit wurde Flanders Dunbar die medizinische Leiterin und später Geschäftsführerin des neu gebildeten Council for Clinical Training von Theologiestudenten. Dies war eine Organisation, die unter ihrer Leitung wuchs und zunehmend Einfluss gewann. Die Organisation konzentrierte ihre Energie darauf, Studenten besser vorbereitet in ihr geistliches Amt zu entlassen. Angehende Priester erhielten Informationen über medizinische Grundlagen und Supervision.42 Flanders Dunbar war die ideale Besetzung für den Posten, da sie sowohl medizinisch als auch theologisch gebildet war und Erfahrung mit der praktischen Ausbildung aus ihrer Zeit im Worcester State Hospital mitbrachte. Im Jahre 1935 begann Flanders Dunbar systematisch große Summen an Geld für das Council for Clinical Training zu sammeln. Aufgrund ihrer vielen Verbindungen erreichte sie, dass sich zwischen 1933 und 1939 die Einnahmen des Joint Committee mehr als verdoppelten.43 Im Jahr 1935 präsentierte Flanders Dunbar zudem ihre bisherigen Ergebnisse der Forschung vor dem Joint Committee. Religion selbst, unabhängig von der Auslegung des Begriffes, ist kein allgemeiner Grundbestandteil der meisten »religiösen Heilungen«[…] Religion ist nicht essentiell für den Heiler, den Patienten oder die Situation. […] Obwohl durch das Komitee und durch klinische Forschungsprojekte relevante Daten gesammelt werden, wie Religion in die psychosomatische Ordnung passt.44 41 Powell, 2001, S. 104. Originalzitat aus dem Englischen. 42 Stokes, 1980, S. 211. 43 Im Jahr 1933 betrug das Einkommen des Komitees $14,325 und 1939 bereits $ 45,609 (Powell, 1974, S. 272). 44 Powell, 2001, S. 105. Originalzitat aus dem Englischen.
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Dieses Fazit ließ die Mitglieder des Joint Committee verärgert zurück, so dass Hoyt eine Änderung in der Führungsetage vorschlug. Sie schrieb in einem Brief an den Präsidenten des Joint Committee: Helen Dunbar besitzt zahlreiche außerordentliche Qualitäten und Fähigkeiten in diesem Feld zu arbeiten […] Ich fühle mich immer mehr davon überzeugt, dass sie so weit wie möglich von der Bürde der administrativen und leitenden Aktivitäten freigestellt werden sollte, um ihre Zeit für medizinische Forschung zu nutzen, für die sie so geeignet ist.45
Im selben Jahr verließ Flanders Dunbar den Posten als Direktorin des Joint Committees. Durch die geschickte Platzierung ihrer Repräsentanten, zum Beispiel ihrer Sekretärinnen oder Mitarbeiter in dem Komitee, konnte Flanders Dunbar jedoch zur Verärgerung von Hoyt ihren Einfluss im Joint Committee und dem Council for Clinical Training beibehalten. In den kommenden Jahren widmete Flanders Dunbar einen Großteil ihrer Zeit der systematischen psychosomatischen Forschung, welche in einem solchen Umfang eine Neuheit darstellte.
2.3.3 Psychosomatische Forschung Ihr erstes großes psychosomatisches Werk war ein umfassender Überblick über bestehende Ansätze anderer Autoren zum Thema Einheit von Körper und Seele. Emotions and Bodily Changes46 wurde 1935 veröffentlicht und mit neuen Ergänzungen vierfach neu aufgelegt.47 Zwischen 1934 und 1939 führte Flanders Dunbar die erste großflächig angelegte und gut finanzierte psychosomatische Studie an einem allgemeinen Krankenhaus durch. Vier Assistenten arbeiteten unter ihr, einer von ihren ihr Ehemann Wolfe. Die Studie wurde von der Macy Foundation finanziert. Flanders Dunbar untersuchte 1200 Patienten mit Frakturen, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, rheumatischen Erkrankungen und Herzerkrankungen.48 Sie untersuchte unter anderem die Familiengeschichten und Lebensumstände der Patienten sowie deren emotionale Befindlichkeit. Aus ihren Erfahrungen entwickelte sie unterschiedliche Persönlichkeitsprofile, die für die verschiedenen Erkrankungen kennzeichnend waren. Obwohl ihr Konzept der Persönlichkeitsprofile später verworfen wurde, hatte die von ihr durchgeführte Forschung erheblichen 45 Persönlicher Brief von Frau John Sherman Hoyt an Dr. William Adams Brown, Dez. 13, 1935, Hilter Handbook. In Powell 1974, S. 241. 46 Dunbar,1935. 47 In den Jahren 1935, 1938, 1943 und 1954. 48 Powell, 1974, S. 270.
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Lebens- und zeitgeschichtliche Hintergründe
Einfluss auf die Psychosomatik. Ihre Forschungsergebnisse lenkten die Aufmerksamkeit der amerikanischen Mediziner auf den Einfluss emotionaler Faktoren bei der Krankheitsgenese.49 Die Ergebnisse der großflächigen psychosomatischen Studie wurden 1943 in ihrem Werk Psychosomatic Diagnosis50 veröffentlicht. Vier Jahre später griff sie die Thematik erneut in ihrem Werk Mind and Body51 auf, welches 1947 erschien und zum Bestseller wurde. Ein Jahr später erschien bereits Synopsis of Psychosomatic Diagnosis and Treatment.52 Im medizinischen Alltag begegnete ihr seitens des Klinikpersonals oft Skepsis, manchmal bis zum Grad von Hohn und Spott. Ihre Assistenten und sie wurden als »Hexendoktoren«53 bezeichnet. Powell weist darauf hin, dass Flanders Dunbar in den späteren Jahren zynischer, verhärteter und manipulativer wurde, was angesichts der oft angetroffenen Ablehnung nicht verwunderlich erscheint. Viele männliche Kollegen, sowohl aus dem medizinischen als auch aus dem religiösen Arbeitsumfeld, fühlten sich »bedroht durch ihre Kombination aus Schüchternheit, Nichtkategorisierbarkeit und Stärke«.54 Darüber hinaus wurde Flanders Dunbars psychosomatische Forschungsweise von ihren psychiatrischen Zeitgenossen (z. B. Meyer, White, Jelliffe) kritisiert. Diese waren überzeugt, dass eine langfristige Psychoanalyse mit ausgewählten Patienten der Königsweg der Forschung sei. Flanders Dunbars Konzentration auf große klinische Populationen wurde als oberflächlich abgetan. Sie war als Praktikerin zudem nicht an der genauen Ätiologie der Erkrankung interessiert, sondern wollte die Gesundung ihrer Patienten vorantreiben. Darüber hinaus beschäftigte sie sich mit den Patienten als individuelle Personen und versuchte Probleme zu identifizieren, für die eine bestimmte Person anfällig war. Die Kritik, die Flanders Dunbar aufgrund ihrer neuen Forschungsherangehensweise zu spüren bekam, ist vor dem Hintergrund eines medizinisch-theoretischen Diskurses einzuordnen, der zu dieser Zeit in den USA herrschte.
2.3.4 Psychoanalyse und Psychobiologie: Ein medizin- theoretischer Diskurs In den 1930er Jahren gab es zwei verschiedene Formen der Psychoanalyse in den USA. Zum einen die amerikanische Form der Psychoanalyse, die sich seit 1906
49 50 51 52 53 54
Stokes, 1980, S. 211. Dunbar, 1943. Dunbar, 1947. Dunbar, 1948b. Powell, 1974, S. 271. Originalzitat aus dem Englischen. Powell, 1974, S. 270. Originalzitat aus dem Englischen.
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unter der Schirmherrschaft von Meyer, White, Jelliffe und Kempf55 entwickelte und zum anderen die in Berlin ausgebildeten Analytiker in Freud’scher Tradition, deren Hauptvertreter Radû, Alexander und Sachs56 waren und die ab 1931 drei große psychoanalytische Institute in New York, Chicago und Boston gründeten. Es gab erhebliche Unterschiede in der philosophischen Ausrichtung zwischen diesen beiden Formen der Psychoanalyse. Die amerikanische Psychoanalyse, der auch Flanders Dunbar zugerechnet wird, konzentrierte sich auf die Psychobiologie des Organismus, auf den »Organismus in seiner Ganzheit«.57 Flanders Dunbars Sicht entsprach demnach der Mehrheitsmeinung der amerikanischen Psychiatrie. Dennoch war sie mehr Praktikerin als Theoretikerin und konzentrierte ihre Energie auf die Forschung und nicht auf theoretische Diskussionen. Teilweise nannten sich die amerikanischen Analytiker auch Psychobiologen, obwohl sie zu ihrer Zeit als Psychoanalytiker bekannt waren. Die deutschen Psychoanalytiker als Freudianer betonten dagegen die dynamische Sichtweise von Erkrankungen. Ihr Schwerpunkt lag auf der Beschäftigung mit der Psychogenese von körperlichen Symptomen. Alexanders Theorie der Spezifität betonte die Vergangenheit und suchte nach unbewussten Mechanismen und Krankheitsursachen. Ein Beispiel für den theoretischen Diskurs innerhalb der amerikanischen Psychoanalyse ist die Kontroverse zwischen den Ansätzen von Alexander und Flanders Dunbar.
2.3.5 Franz Alexander – Freund und Kritiker Franz Alexander wurde am 22. 01. 1891 in Budapest geboren. Er studierte Medizin in Budapest und ein Semester lang in Göttingen. Nach Ende des Ersten Weltkrieges zog er nach Berlin, wo er der erste Ausbildungskandidat des Berliner Psychoanalytischen Institutes wurde und später als Dozent und Lehranalytiker tätig war. Seine psychoanalytische Sichtweise wurde stark von Freud beeinflusst. Zudem begann sich Alexander für die psychoanalytische Kriminologie zu interessieren und veröffentlichte einige Werke zu dieser Thematik. Im Jahr 1930 emigrierte Alexander nach Amerika und gründete das Chicago Institute for Psychoanalysis, welches er nach dem Vorbild des Berliner Institutes aufbaute. Dort widmete er seine Zeit und Energie der psychoanalytischen Forschung und 55 Adolf Meyer (1866 – 1950), William Alanson White (1870 – 1937), Smith Ely Jelliffe (1866 – 1945) und Edward J. Kempf (1885 – 1971). 56 Sndor Radû (1890 – 1972), Franz Alexander (1981 – 1964) und Hanns Sachs (1881 – 1947). 57 Powell, 1974, S. 15. Originalzitat aus dem Englischen.
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Lehre. In Chicago erhielt er 1930 zudem eine Gastprofessur für Psychoanalyse. Im Jahre 1938 wurde er Professor für Psychiatrie der University of Illinois. Im Jahre 1939 gründete er zusammen mit Helen Flanders Dunbar, Stanley Cobb, Carl Binger und anderen die Zeitschrift Psychosomatic Medicine, in der er regelmäßig aktuelle Forschungsergebnisse publizierte.58 Die Gründung der Zeitschrift Psychosomatic Medicine wurde von der Macy Foundation unterstützt, zu der Flanders Dunbar enge Kontakte hatte. Der ersten Ausgabe der Zeitschrift von Januar 1939 ist zu entnehmen, dass Flanders Dunbar die Funktion der Herausgeberin übernahm, während Alexander neben anderen Ärzten und Psychiatern Artikel für die Zeitschrift verfasste.59 Flanders Dunbars Ehemann Theodore P. Wolfe fungierte als Lektor. Im Vorwort der ersten Ausgabe verwiesen die Redakteure auf den Bedarf einer eigenen psychosomatischen Zeitschrift, um den Ansprüchen der wachsenden Forschung in diesem Feld gerecht zu werden. Der Berufsstand der Ärzte hat die Notwendigkeit erkannt, die oft benannte »Kunst der Medizin« systematisch zu studieren, die psychischen Komponenten im Krankheitsprozess sowie die emotionale Beziehung zwischen Arzt und Patient zu verstehen und therapeutisch zu nutzen. Dieses intensive Interesse und die Forschung in medizinischer Psychologie sind symptomatisch für eine neue Orientierung in der Krankheitsproblematik; tatsächlich ist es ein Zeichen des Beginns einer neuen Ära in ätiologischen und therapeutischen Überlegungen.60
Die Redaktionssitzungen der Zeitschrift Psychosomatic Medicine hielt Flanders Dunbar in regelmäßigen Intervallen in ihrem Haus ab. Sie arbeitete bis 1947 als Herausgeberin der Zeitung. Im Jahr 1943 gründete sie die der Zeitschrift zugehörige Gesellschaft, die American Psychosomatic Society. Flanders Dunbar und Alexander waren beide Pioniere auf dem Gebiet der psychosomatischen Forschung. Es wird gelegentlich diskutiert, wem der Titel der Gründerin, bzw. des Gründers der Psychosomatik zukommt.61 Alexander und Flanders Dunbar schienen Freunde zu sein. Nach ihrem plötzlichen Tod 1959 verfasste Alexander einen respektvollen Nachruf auf seine Kollegin. Keine einzige Person war in der Organisation des psychosomatischen Ansatzes in der modernen Medizin effektiver als sie. […]
58 Alexander, Eisenstein & Grotjahn, 1966, S. 384 – 398. 59 Psychosomatic Medicine, Jan 1939, Vol I, No.I, Editorial Board. 60 Psychosomatic Medicine, Vol I, No.I, Jan 1939. Introductory Statement, S.4. Originalzitat aus dem Englischen. 61 Stevens. & Gardner, 1982, S. 94.
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Ihre alles absorbierende Hingabe an ihre Arbeit diente uns allen als Inspiration. Trotzdem konnte niemand mit ihren ungeheuren Arbeitsgewohnheiten Schritt halten.62
Ungeachtet der Freundschaft war er gleichzeitig ihr »lautester und hartnäckigster Kritiker«.63 Alexander missverstand ihre Theorien und propagierte seine Kritik effektiv. Flanders Dunbars Werk Emotions and Bodily Changes wird auch von modernen Autoren oft genannt, doch ebenso oft wird ihre Theorie verworfen und zwar mit Kritik, die direkt aus Alexanders Feder stammen könnte64. Die Auswirkungen seiner persistierenden Kritik sind noch heute spürbar. Dunbar ist eine der meistzitierten, jedoch am wenigsten gelesenen medizinischen Autoren dieses Jahrhunderts.65
Die Kritik Alexanders missachtet die grundlegende Intention von Flanders Dunbars Ansatz und zielte in ihrer Grundessenz darauf ab, dass Flanders Dunbar keine Psychoanalyse verwendete und dass ihre Theorien nicht dynamisch, spezifisch oder ätiologisch wären.66 Konkret kritisierte er besonders die von ihr herausgearbeiteten Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitszügen ihrer Patienten und den psychosomatischen Erkrankungen. Alexander verwies darauf, dass die herausgearbeiteten Unterschiede nicht kausaler Natur seien und es sich daher um Pseudokorrelationen handele. Er schrieb dagegen in seinem Buch Psychosomatische Medizin, dass »echte psychosomatische Korrelationen zwischen emotionalen Konstellationen und vegetativen Reaktionen«67 vorlägen. Flanders Dunbar wurde bewusst, dass die von ihr genannten Persönlichkeitsprofile, erstmals aufgeführt in ihrem Werk Emotions and Bodily Changes, von Kritikern zu eng interpretiert wurden. Sie begann von Konstellationen zu sprechen.68 Dieser Revision ihrer Theorie wurde jedoch nicht viel Beachtung geschenkt. Des Weiteren verteidigte sie ihre Theorie mit der Erläuterung, dass weder die Persönlichkeit noch die Umwelt als alleinige Ursache eines Leidens anzusehen seien. Die Stärke der aufgezeigten Persönlichkeitskonstellationen lag ihrer Meinung nach im Feld der Prävention, wo besonders vor einer konkreten Manifestation der Symptome präventive Maßnahmen ergriffen werden könnten.69 62 63 64 65 66 67 68 69
Alexander, 1960, S. 190. Originalzitat aus dem Englischen. Stevens & Gardner, 1982, S. 93. Originalzitat aus dem Englischen. Powell, 1974, S. 31. Stevens & Gardner, 1982, S. 93. Originalzitat aus dem Englischen. Powell,1974, S. 31. Alexander, 1977, S. 50. Dunbar, 1948. Soule Jr., 1959, S. 351.
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Die weiteren Kritikpunkte Alexanders bezüglich ihrer mangelnden Beschäftigung mit der Krankheitsgenese müssen in Anbetracht von Flanders Dunbars eigentlicher Intention jedoch als irrelevant angesehen werden. Wie sie besonders deutlich in ihrem letzten Werk Psychiatry and the Medical Specialties70 schreibt, geht es ihr nicht um Dynamik, Spezifik oder Ätiologie. Das Ziel ist es nicht, einen »Grund« zu identifizieren und zu manipulieren, sondern effektive Interventionen zu entwickeln. Dieses Anliegen beschäftigt den Mediziner mehr als eine historische Erklärung der Ursachen, welche für die gewünschte Änderung irrelevant sein kann.71
Die beiden Wegbereiter der Psychosomatik Alexander und Flanders Dunbar unterschieden sich also deutlich in ihrer Herangehensweise an psychosomatische Fragestellungen. Im Jahre 1934 wurde dies auch strukturell deutlich, da die beiden Wissenschaftler zur selben Zeit zwei unterschiedliche Symposien über psychosomatische Fragestellungen organisierten. Die eine Fachkonferenz wurde von der American Psychoanalytic Association und Alexander organisiert, die andere von Flanders Dunbar und ihren Kollegen, unterstützt von der American Psychiatric Association.72 Die Arbeitsgruppe um Alexander in Chicago beschäftigte sich mit der Erforschung der Ätiologie von Erkrankungen, basierend auf Fallstudien von Patienten, die in langjähriger Psychoanalyse behandelt wurden. Flanders Dunbar und ihre Kollegen in New York konzentrierten sich dagegen auf Therapie und Intervention. Ihre Forschung basierte auf mehreren hundert Patienten und deren Fallgeschichten, die sie in öffentlichen Krankenhäusern untersuchten.
2.3.6 Privatleben Im Jahre 1940, sechs Monate nach ihrer Scheidung von Wolfe, heiratete Flanders Dunbar den 15 Jahre älteren George Henry Soule Jr. (1888 – 1970), einen liberalen Ökonomen und Redakteur der Zeitung The New Republic. Im Jahre 1941, mit beinahe 40 Jahren, bekam Flanders Dunbar eine Tochter, Marcia DunbarSoule. Mutter und Tochter standen sich sehr nahe. Aufgrund des immensen Arbeitspensums von Flanders Dunbar war es schwierig für die kleine Marcia, Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen. Marcia Dobson erinnert sich, dass sie gelegentlich Flanders Dunbars Sekretärinnen anrief, um sich in den Terminkalender ihrer Mutter eintragen zu lassen.73 70 71 72 73
Dunbar, 1959, S.4. Powell, 1974, S. 32. Originalzitat aus dem Englischen. Psychoanalytic Quaterly,1934, 3, S. 501 – 588. In Powell, 1974, S.32. Persönliches Gespräch mit Marcia Dobson am 02. 06. 2010.
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Einige ihrer Werke erschienen parallel zur Entwicklung der Tochter. Your Child’s Mind and Body74 erschien 1949. Die Bücher Your Pre-Teenagers Mind and Body75 und Your Teenagers Mind and Body76 legen Zeugnis über Flanders Dunbars differenzierte Beobachtungsgabe und ihr tiefes Verständnis für psychosomatische Vorgänge ab.
2.4
Die letzte Dekade ihres Lebens
In den späteren Jahren investierte Flanders Dunbar einen Großteil ihrer Zeit in ihre Privatpraxis, die sie seit Anfang der vierziger Jahre unterhielt. Ihr zweiter Ehemann Soule äußerte im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als praktische Ärztin folgende Einschätzung. Ihre hauptsächliche Herausforderung als praktizierende Psychiaterin war es, die emotionale Belastung der Fürsorge für ihre Patienten, die sie »meine Kinder« nannte, zu vermeiden; bezüglich deren Leid und Verwirrung sie sich sorgte und um die sie sich in einem Maße bemühte, welches die rein professionelle Beziehung teilweise überschritt.77
Ihr Tagesablauf war durch ein arbeitsintensives Leben gezeichnet. Sie erwachte in der Regel um fünf Uhr morgens und empfing ihren ersten Patienten um sechs Uhr früh, da viele ihrer Patienten während der Bürozeiten anderweitige Verpflichtungen hatten. Bis zum späten Nachmittag folgten zahlreiche Termine, die sie ohne Pause, oft sogar ohne Mittagspause, wahrnahm. Sie verfasste ausführliche Aufzeichnungen über jeden Patienten. Diese bildeten die Grundlage für ihre große Anzahl an Publikationen. Die Wochenenden verbrachte sie fast ausschließlich auf dem Land auf ihrem Grundstück in South Kent im Bundesstaat Connecticut. Sie war immer in Begleitung mindestens einer persönlichen Sekretärin und mit zahlreichen Zeitschriften, Büchern und Manuskripten unterwegs. Diese Wochenenden dienten ihr zum Schreiben und Lesen wissenschaftlicher Lektüre. Seit ihrer Kindheit war sie eine begnadete Reiterin, konnte jedoch diese Freizeitbeschäftigung aufgrund ihres Arbeitspensums nur noch selten ausüben. In ihrer knapp bemessenen Freizeit pflegte sie ihren Steingarten und schwamm regelmäßig in ihrem Pool. Auf dem Land war sie immer von einer Schar Pudel umgeben, deren Persönlichkeitsunterschiede sie differenziert erfasste und die sie wie Kinder behan74 75 76 77
Dunbar, 1949. Dunbar, 1962. Posthum veröffentlicht, Hrsg. Benjamin Lindner. Dunbar, 1962. Posthum veröffentlicht, Hrsg. Benjamin Lindner. Soule Jr., 1959. In Memoriam, S. 351. Originalzitat aus dem Englischen.
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delte.78 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges engagierte sich Flanders Dunbar zudem in internationalen Organisationen wie der World Health Organisation und der International Federation for Mental Health. Aufgrund der Vielzahl von Verpflichtungen und des hohen Arbeitspensums könnte man Flanders Dunbar als eine strenge, ernste Frau vermuten. Sie wird jedoch als eine Person beschrieben, die trotz der vielen selbstauferlegten Verpflichtungen eine »kindliche Spontanität«79 bewahren konnte und ihre privaten Angelegenheiten häufig in Unordnung ließ. Stokes verweist darauf, dass Flanders Dunbar in den letzten Jahren ihres Lebens vermehrt emotionale Belastungen mit Alkohol bewältigt habe80. Im Jahre 1948 beging eine ihrer ehemaligen Sekretärinnen Selbstmord. Unglücklich in ihrer zweiten Ehe, lebte Flanders Dunbar drei Jahre mit Dr. Raymond Roscoe Squier (1899 – 1951) zusammen, einem Gynäkologen, der ihr Kollege und Patient war. Dieser beging 1951 Selbstmord. In den Zeitungsberichten über seinen Tod wird er versehentlich von der Presse als Flanders Dunbars dritter Ehemann genannt.81 Ihre letzten Jahre verbrachte sie mit Soule. Im Jahr 1954 war Flanders Dunbar in einen beinahe tödlichen Autounfall verwickelt, der ihre Gesundheit und ihre Schönheit ruinierte. Soule, der am Steuer saß, wurde ebenfalls verletzt, Marcia auf dem Rücksitz blieb die einzig Unverletzte. Dieser Unfall sorge auch unter Flanders Dunbars Patienten für Unruhe, da sich das Gerücht verbreitete, sie sei gestorben.82 Zudem bereitete ihr ein mehrere Jahre anhaltender sinnloser und Aufsehen erregender Gerichtsstreit mit einem ehemaligen Patienten Ärger. Dieser wurde 1958 beendet und schien sie eine Menge Kraft gekostet zu haben. Am 21. August 1959, dem Tag der Veröffentlichung ihres späten Werkes Psychiatry in the Medical Specialities83 und eine Woche, bevor sie ihren üblichen Sommerurlaub nach Europa antreten wollte, wurde Flanders Dunbar von ihrer Tochter tot in ihrem Swimming Pool in ihrem Landhaus in South Kent aufgefunden. Sie war zu diesem Zeitpunkt 57 Jahre alt. Tageszeitungen wie die New York Times84 veröffentlichten Spekulationen über einen möglichen Suizid, für den es jedoch keine konkreten Hinweise gab85. Bei Flanders Dunbars plötzlichem Tod schien es sich demnach um einen tragischen Unfall zu handeln. Der 78 79 80 81 82 83 84 85
Soule Jr., 1959, S. 351. Stevens & Gardner, 1982,S. 93. Originalzitat aus dem Englischen. Stokes, 1980, S. 211. New York Times, Oct. 01, 1951, Life Story. www.time.com/time/magazine/article/ 0,9171,935096,00.html?iid=chix-sphere, letzter Zugriff 19. 12. 2008 Persönliches Gespräch mit Marcia Dobson am 02. 06. 2010. Dunbar, 1959. New York Times, Aug. 23, 1959c, sec. L, S. 95, col. 4 Dr. Dunbar found dead in her pool. Der Autopsiebericht verweist auf Tod durch Ertrinken (Powell, 1974, S. 275).
Die letzte Dekade ihres Lebens
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Unfalltod derjenigen Forscherin, die die »Unfallneigung« als klinisches Syndrom definiert hat, wirft im Zuge der Betrachtung ihrer eigenen Theorie neue Fragen auf. Denn Flanders Dunbar verwies in ihren Studien stets darauf, dass in 80 Prozent aller Unfälle der Gemütszustand der Unfallopfer eine entscheidende Rolle spielt.86
86 Dunbar, 1952, S. 82 – 89.
3 Historische Entwicklungen der Psychosomatik
Um die Bedeutung von Helen Flanders Dunbar für die Entwicklung der Psychosomatik herauszustellen, lohnt sich ein vertiefender Blick auf die historische Entwicklung der Psychosomatik und der beteiligten Pioniere. Es fällt auf, dass Flanders Dunbar die einzige weibliche Vertreterin ist.87 Eine nähere Beschäftigung mit der Psychosomatik als Wissenschaft und eine Institutionalisierung dieses Faches im Medizinalsystem fand erst nicht den Anspruch, einen vollständigen Überblick über alle relevanten Autoren der Psychosomatik zu geben. Dies ist an anderer Stelle schon ausführlich getan worden.88 Es geht vielmehr um die Einordnung von Helen Flanders Dunbar und ihren Beitrag neben denen ihrer männlichen Kollegen, die zusammen die Wissenschaft der Psychosomatik im letzten Jahrhundert ganz entscheidend vorangebracht haben.89
3.1
Die Geburt der Psychosomatik (Heinroth)
Die Gedanken der Psychosomatik haben ihre Wurzeln bereits in den Frühzeiten des ärztlichen Denkens, der Antike. Es entstanden erste Ideen von der Ganzheit des Körpers und vom Zusammenwirken oder dem Gegensatz zwischen Leib und Seele (vgl. Plato, Aristoteles, Paracelsus). Auch die Medizinmänner mit ihren Techniken können als eine Art frühe Psychotherapeuten angesehen werden, die Seele und Körper heilen wollten.90 In der Epoche der romantischen Medizin am 87 Weitere weibliche Pionierinnen der Psychosomatik sind Therese Benedek, Frieda FrommReichmann sowie Lou Andreas Salom¦. 88 z. B. Meyer & Lamparter (Hrsg.), 1994. 89 Weitere wichtige Pioniere der Psychosomatik, die hier nicht ausführlich behandelt werden, waren: Otto Fenichel, Michael Balint, Franz-Anton Mesmer, Isidor Sadger, Erich Wittkower, Waldemar Th. Sack, Erich Stern, Ernst Simmel, Heinrich Meng, Otto Rank, Sandor Ferenczi und andere. 90 Rattner, 1977, S.10.
32
Historische Entwicklungen der Psychosomatik
Anfang des 19. Jahrhunderts folgte zunächst eine Überbetonung schwärmerischer Werte der Liebe und nach dem Ersten Weltkrieg statt, obwohl wichtige Impulse schon früher gesetzt wurden. Bemerkenswert ist, dass diese Entwicklung in mehreren Ländern in etwa zeitgleich stattfand. Nach einer kurzen Vorstellung der Genese des Wortes »psychosomatisch« werden daher die parallel auftretenden Entwicklungen im Hinblick auf die zugrunde liegenden Strömungen der Medizin überblicksartig mit ihren wichtigsten Repräsentanten dargestellt. Es werden die Wurzeln einer psychoanalytischen, einer tiefenpsychologischen, einer internistischen, einer neurologischen, einer psychophysiologischen und einer psychobiologischen Psychosomatik dargestellt.91 Dieses Kapitel erhebt Weisheit. Diese wurde gefolgt von einem Aufschwung der naturwissenschaftlichen Medizin, welcher als Gegenbewegung angesehen werden kann, und der bis zur heutigen Zeit anhält. Mit der Geburt der Psychosomatik, bzw. der Schöpfung dieser Begrifflichkeit, wird Johann Christian August Heinroth (1773 – 1843) assoziiert. Er war ein deutscher Mediziner, Philosoph und Psychiater, der den weltweit ersten Lehrstuhl für »psychische Therapie« in Leipzig innehatte. Bekannt wurde vor allem sein umfassendes Werk Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung (1818). In diesem Werk zeigte sich bereits seine Auffassung, dass seelische Störungen die gesamte Person mit ihrer jeweiligen Lebensführung betreffen. Er gebrauchte als erster in einer seiner Schriften das Wort »psychosomatisch«. In diesem Werk schrieb er unter anderem über die Insomnie als Begleiterscheinung bei psychischen Erkrankungen. Der Begriff psychosomatisch wird lediglich einmal gebraucht und ist ihm »gewissermaßen unterschlüpft«92. Dennoch erweist sich der vielzitierte Schöpfer des medizinischen Terminus auch in seinen Theorien als Vordenker der Psychosomatik und beschreibt bereits 1818 eine gegenseitige Beeinflussung von Leib und Seele.93 Anfang des 19. Jahrhunderts wurde daraufhin einigen Krankheiten eine psychische Genese zugeschrieben. Dabei herrschte jedoch mehr ein moralistisch-ethisches Denken, so wurden unter anderem böse, sexuelle und sündige Gedanken als Ursache von Tuberkulose, Epilepsie und Krebs angesehen.94 Weitere Denkanstöße der Psychosomatik sind in die Epoche der Aufklärung einzuordnen. Doch selbst nach der Prägung der Begrifflichkeit »Psychosoma91 Ebenfalls bedeutsame Impulse entstanden aus einer dermatologischen Psychosomatik (Waldemar Th. Sack), einer gynäkologischen Psychosomatik und einer psychoendokrinologischen Psychosomatik (Therese Benedek), welche jedoch in diesem Kapitel nicht ausführlich betrachtet werden können. 92 Hahn, 1976, S.940. 93 Steinberg, 2007, S.413. 94 Bräutigam & Christian,1981, S.9.
Psychoanalytische Psychosomatik
33
tik« im 19. Jahrhundert wurde durch den Einfluss der Naturwissenschaft diese Auffassung zugunsten einer »reinen Körper-Medizin«95 vernachlässigt. Der Aufschwung der Medizin als eine Art medizinischer Materialismus wurde unterstützt durch den Arzt und Philosophen Julien Offray de Lamettrie (1709 – 1751) und seinem Werk L’homme machine (1875) in dem ein mechanisches Körperbild propagiert wurde.
3.2
Psychoanalytische Psychosomatik (Charcot, Breuer, Freud, Groddeck, Schultz-Hencke, Schur, Deutsch, Alexander, Weiss)
Die Wurzeln einer psychoanalytischen Psychosomatik reichen bis zu JeanMartin Charcot (1825 – 1893) zurück. Der französische Mediziner und Neurologe gilt als Begründer der modernen Neurologie. Er hatte im Húpital SalpÞtriÀre in Paris einen Lehrstuhl inne. In einer Vorlesung vor internationalem Publikum präsentierte er in den berühmten LeÅons du mardi klinische Fälle, u. a. auch der Hysterie. Beeinflusst von Charcot beschäftigten sich Josef Breuer (1842 – 1925) und Sigmund Freud (1856 – 1939), die zu der Zeit gemeinsam forschten, mit dem Phänomen der Konversion. Sigmund Freud, ein österreichischer Mediziner und Psychoanalytiker, erlangte durch die Begründung der Psychoanalyse und durch seine Religionskritik Weltberühmtheit. In hohem Alter emigrierte er aufgrund der nationalsozialistischen Entwicklungen nach London, wo er im Exil verstarb. Die Psychoanalyse Freuds mit ihren Hypothesen von der Konversionshysterie und der Aktualneurose kann als Pionierarbeit im Bereich der Psychosomatik angesehen werden. Freud beschäftigte sich jedoch nicht weiter explizit mit der Psychosomatik, er riet Viktor von Weizsäcker sogar in einem Brief davon ab, sich weiter in dieses Fachgebiet zu vertiefen und empfahl, sich rein auf das psychoanalytische Denken zu konzentrieren. Laut Freud ist die Konversion die »Verwandlung seelischer Inhalte in körperliche Symptome«.96 Der »eingeklemmte Affekt«97, entstanden durch unbewusste seelische Konflikte, verursacht also eine somatische Symptomatik mit besonderer Symbolhaftigkeit. Mit der Auflösung dieser Konflikte, z. B. durch eine psychoanalytische Behandlung, verschwinden dann auch die körperlichen Funktionsstörungen. Neben diesen Entwicklungen aus Wien entstanden weitere wichtige Impulse einer psychoanalytisch geprägten Psychosomatik im deutschen Baden-Baden. 95 Rattner,1977, S 12. 96 Uexküll, 1963, S.82. 97 Rattner, 1977, S.21.
34
Historische Entwicklungen der Psychosomatik
Der deutsche Mediziner Georg Groddeck (1866 – 1934) förderte sowohl als Arzt als auch als Schriftsteller die Psychosomatik. In einem Sanatorium trieb er insbesondere zwischen 1900 und 1934 praktische psychosomatische Behandlungsansätze voran.98 Bereits 1917 schrieb er in einem Aufsatz wichtige Beobachtungen zu psychosomatischen Zusammenhängen wie die »psychische Bedingtheit«99 von somatischen Erkrankungen nieder. Damit verwies er darauf, dass unbewusste Kräfte auf unser ganzes Leben einwirken und damit auch Gesundheit oder Krankheit mitbestimmen. Er neigte eher dazu, das Psychische zu sehr zu betonen und legte einen besonderen Wert auf den Symbolgehalt in vielen Körpervorgängen. Meine Damen und Herren! Sie werden verstanden haben, dass nach meiner Meinung in uns eine Kraft ist, die uns lenkt, die man das Es nennt, und dass diese Kraft sich unter anderem in dem äußert, was man Symbole nennt, und dass unter die Symbole auch die Erkrankungen gehören. Die Erkrankungen sind symbolische Äußerungen des Menschen.100
Dies führte dazu, dass einige Autoren ihm einen »Deutungszwang«101 attestierten und einige seiner Interpretationen ablehnten. So deutete Groddeck beispielsweise im Jahre 1917 das Vorliegen von Gebärmutterhalskrebs als Symbol eines unbefriedigten Kinderwunsches.102 Um die Kritik zumindest teilweise zu relativieren, sei darauf verwiesen, dass zu Beginn der psychoanalytisch geprägten Bewegung innerhalb der psychosomatischen Forschung der Wunsch nach Abgrenzung zur streng empirischen Naturwissenschaft bestand. Groddecks Begeisterung für Symboldeutung und damit einer Sinngebung der verschiedenen körperlichen Krankheitssymptome – zu dieser Zeit ein Novum in der Medizin – kann daher in diesen Zusammenhang eingeordnet werden. Als Neopsychoanalytiker entwickelte auch Harald Schultz-Hencke (1857 – 1913) neue Gedanken in diesem Feld. Er war ein deutscher Mediziner und Psychoanalytiker, der unter anderem am Berliner Psychoanalytischen Institut (BPI) tätig war. Er versuchte eine Synthese zwischen Individualpsychologie und Psychoanalyse herzustellen. Bereits im Jahr 1931 zeigte er in seinem Werk Schicksal und Neurose, dass die Psychoanalyse nichts Rätselhaftes oder Befremdliches ist. Er stellte die Freudschen Gedanken in abgeänderter Terminologie vor und wandelte beispielsweise den Freudschen Begriff »Triebe« in
98 99 100 101 102
Meyer & Lamparter (Hrsg.), 1994, S.133. Groddeck, 1917. Groddeck,1983, S.122. Rattner,1977, S.38. Uexküll,1963, S.7.
Psychoanalytische Psychosomatik
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»Antriebe« um. Zudem berücksichtigte er schon frühzeitig psychosomatische Erkrankungen und postulierte das viel zitierte Gleichzeitigkeitskorrelat.103 Das Leib-Seele Problem ist ein Scheinproblem. (…) Es gibt stets nur gleichzeitig beides, Seelisches und Körperliches »dazu«.104
Ebenfalls in Anlehnung an psychoanalytische Konzepte forschte auch Max Schur (1897 – 1969). Der aus Österreich stammende Mediziner und Psychoanalytiker war als persönlicher Arzt von Sigmund Freud tätig. Diese Anstellung erhielt er auf Empfehlung von Marie Bonaparte. Nach Freuds Ableben in London emigrierte Schur in die USA und war Präsident der American Psychoanalytic Association. Er betonte stets, dass Seele und Körper eng verknüpft sind, verwies aber auch darauf, die somatischen Aspekte nicht zu vernachlässigen. Diese Definition schließt nicht aus, dass allen Formen von Seelentätigkeit irgendwelche somatischen Vorgänge zugrunde liegen müssen.105
Der österreichische Mediziner und Psychoanalytiker Felix Deutsch (1884 – 1964) entwickelte ebenfalls wichtige Theorien in diesem neuen Wissenschaftsgebiet. Felix Deutsch veröffentliche 1922 ein Werk über das Anwendungsgebiet der Psychoanalyse in der inneren Medizin.106 Er engagierte sich bereits zu Beginn der 20er Jahre in der »angewandten Psychoanalyse in der Medizin« und vertrat die Auffassung, dass die Entwicklung der psychosomatischen Medizin zu einer Wiederversöhnung von Medizin und Psychoanalyse führen wird. Zudem postulierte er, dass die Psychotherapie die erfolgversprechendste Behandlungsform bei psychischen Störungen sei.107 Psychotherapie ist die Methode der Wahl bei psychosomatischen Störungen, in welchen sich das assoziative Material um das Symptom herum gruppiert. Der Patient wird das Material, dass für den Beweis eines psychosomatischen Anteils in der Erkrankung nötig ist nur dann präsentieren, wenn er sich nicht bewusst ist, was er über sein emotionales Leben alles preisgibt.108
Im Jahre 1936 emigrierte er mit seiner Ehefrau, der Psychoanalytikerin Helene Deutsch, in die USA. Dort forschten zu Beginn des 20. Jahrhundert viele europäische Psychoanalytiker. Nach 1933 kam es in Deutschland im Bereich der psychosomatischen Forschung zu einem Stillstand, da der Nationalsozialismus die Psychoanalyse als »Bedrohung des rasseneigentümlichen Volksethos«109 103 104 105 106 107 108 109
Rattner,1977, S.43. Schultz-Hencke, 1951, S. 10 – 12. Schur, 1973, S.21. Uexküll, 1963, S.27. Ammon, 1974, S.12. Deutsch, 1949. Originalzitat aus dem Englischen. Rattner, 1977, S.43.
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Historische Entwicklungen der Psychosomatik
ansah. Viele Psychoanalytiker waren jüdisch und wurden aus Nazi-Deutschland vertrieben oder umgebracht. Nicht nur die Vertreter der Psychoanalyse wurden verfolgt, sondern auch die Theorie selbst, als »verjudet«110 tituliert, sie wurde verboten und zensiert. Dies führte dazu, dass die USA einen Aufschwung der psychosomatischen Forschung erlebte, während diese in Deutschland nahezu zum Erliegen kam. Ein Psychoanalytiker, der in die USA einwanderte, war Franz Alexander (1891 – 1964).111 Der in Budapest geborene Mediziner und Psychoanalytiker, war der erste Ausbildungskandidat des Berliner Psychoanalytischen Institutes (BPI). Alexander entwickelte die charakteristischen Holy Seven112 der Psychosomatik. Dabei handelt es sich um sieben spezifische psychosomatische Krankheitsbilder, die er als eng verbunden mit bestimmten intrapsychischen Konflikten deutete. Zu ihnen gehören Asthma bronchiale, essentielle Hypertonie, Hyperthyreose, Neurodermitis, chronische Polyarthritis, Ulcus duodeni und Colitis ulcerosa. Er vertrat zudem im angloamerikanischen Raum die Hypothese der Konfliktspezifität und postulierte krankheitsspezifische Konflikte, die auf das vegetative Nervensystem einwirken und so mittels neuroendokriner Funktionen spezifische Erkrankungen hervorrufen. Jeder körperliche Vorgang wird direkt oder indirekt von psychologischen Reizen beeinflusst, weil der ganze Organismus eine Einheit bildet, deren sämtliche Teile miteinander verbunden sind.113
Das Modell der Konfliktspezifität ließ sich jedoch in empirischen Studien nicht bestätigen. Aktuell geht man davon aus, dass jedes Störungsbild durch jeden Konflikt hervorgerufen werden kann wie beispielsweise die Ulkuserkrankung, die zunächst als klassisches und oft zitiertes Beispiel für eine Psychosomatose galt. Nachdem jedoch das Darmbakterium Helicobacter pylori und dessen Einwirkung auf die Ulkusentstehung entdeckt wurde, traten die psychosomatischen Aspekte dieser Erkrankung völlig in den Hintergrund. Erst langsam gibt es wieder Stimmen, die zu einer psychosomatischen Sichtweise der Erkrankung zurückkehren wollen, da nur ca. 20 % der – mit dem Keim infizierten – Personen auch eine manifeste Infektion entwickeln, so dass psychische Faktoren bei der Krankheitsgenese mitspielen könnten.114 In Zusammenarbeit mit Alexander in den USA forschte auch Edoardo Weiss (1889 – 1970). Der italienische Mediziner und Psychoanalytiker gilt als Be110 Meyer & Lamparter (Hrsg.),1994, S.2. 111 Seine Auswanderung ist jedoch nicht als Flucht anzusehen, sondern erfolgte 1930 aufgrund einer Gastprofessur für Psychoanalyse in Chicago. Mit der Annahme erhielt Alexander den zweiten Lehrstuhl in Psychoanalyse weltweit. 112 Boll-Klatt, 2005, in Schmeling-Kludas (Hrsg.), S.78. 113 Alexander, 1951, S.VII. 114 Boll-Klatt, 2005, in Schmeling-Kludas (Hrsg.), S. 78 – 79.
Tiefenpsychologische Psychosomatik
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gründer der psychoanalytischen Bewegung in Italien. In 1939 emigrierte er in die USA, wo er die psychosomatische Forschung voranbrachte, insbesondere seine Forschungsergebnisse bezüglich der Agoraphobie sind bekannt.
3.3
Tiefenpsychologische Psychosomatik (Adler, Boss)
Nicht nur die Psychoanalyse gab wichtige Anstöße für die weitere Entwicklung der Psychosomatik, auch aus der Individualpsychologie Alfred Adlers (1870 – 1937) entstanden einige Impulse. Der österreichische Mediziner und Psychotherapeut ist der Begründer der Individualpsychologie. Seine Theorien haben bis zur heutigen Zeit einigen Einfluss auf die Tiefenpsychologie. In einem Werk von 1907 führte er seine Theorie über »Organminderwertigkeit« aus. Die »Minderwertigkeit« bestimmter Organe, beispielsweise anatomische Anomalie oder Funktionsstörung, machen das spezifische Organ anfällig für Erkrankungen, die sich häufig am »Ort des geringsten Widerstandes«115 manifestieren. Er exemplifizierte seine Theorie an einer beeindruckenden Sammlung von biographischen Ereignissen und der entsprechenden Organminderwertigkeit. Er betonte die prinzipielle Fähigkeit zur Kompensation von Organschwächen. Somit könnten angeborene oder erworbene Defizite ausgeglichen oder sogar überkompensiert werden. Das niedrigste Kompensationsorgan aber sei das Gehirn, genauer gesagt, der Geist. Daraus entwickelte Adler seine Theorie vom Genie. Schöpfer wie Beethoven und Smetana hätten ihre Organminderwertigkeit (z. B. einen Gehörschaden) überkompensiert durch ihre außerordentlichen Fähigkeiten.116 Mit diesen Überlegungen bezüglich der minderwertigen Organe, die eine Vulnerabilität für Erkrankungen besitzen, erweist sich Alfred Adler als ein Vordenker psychosomatischer Konzepte. Im deutschsprachigen Raum war insbesondere Medard Boss (1903 – 1990) ein wichtiger Pionier der Psychosomatik. Der Schweizer Mediziner, Psychiater und Daseinsanalytiker studierte unter Eugen Bleuler Medizin, absolvierte eine Analyse bei Sigmund Freud und versuchte die Daseinsanalyse von Martin Heidegger für die Psychiatrie nutzbar zu machen. Seine bemerkenswerten tiefenpsychologischen Ansichten haben die Psychosomatik in ihren Anfängen geprägt. Denn da bei jedem Kranksein immer der ganze Mensch leidend ist, kann im Grunde kein einziger Patient wirklich adäquat anders als psychosomatisch begriffen werden; vorausgesetzt, dass man »psychosomatisch« nicht länger für ein Synonym von »psy115 Rattner, 1977, S.25. 116 Rattner, 1977. S.26.
38
Historische Entwicklungen der Psychosomatik
chogen« hält, sondern unter psychosomatischer Medizin in erster Linie einmal ein daseingerechtes Bedenken menschlichen Krankseins versteht.117
3.4
Internistische Psychosomatik (Kraus, von Bergmann, Brugsch, Jores, Uexküll)
In der Berliner Charit¦ entstand am Anfang des 20. Jahrhundert eine internistisch geprägte Psychosomatik. Als Direktor der Klinik wirkte Friedrich Kraus (1858 – 1936) auf diese Entwicklungen ein. Er war ein österreichischer Internist, der in Prag Medizin studierte und zunächst in Österreich forschte und arbeitete. Im Jahre 1902 wurde er zum medizinischen Direktor der Charit¦ Berlin berufen. Ein Jahr vor seiner Emeritierung erschien das Werk Allgemeine und spezielle Pathologie der Person. (1926). In diesem Buch unterschied er zwischen »Kortikalperson« und »Tiefenperson«. Mitarbeiter von Kraus waren beispielsweise Gustav von Bergmann, Theodor Brugsch und Rahel Hirsch. Gustav von Bergmann (1878 – 1955) war ein deutscher Internist, der die psychosomatische Bewegung in Berlin beträchtlich voranbrachte. Sein Medizinstudium absolvierte er in Berlin, München, Bonn und Straßburg. Nach seiner Habilitation und einigen Arbeitsjahren in Marburg und Frankfurt kehrte er 1927 als Professor an die Charit¦ in Berlin zurück. Als Internist beschäftigte er sich in der Forschung, beispielsweise mit der Ulkuserkrankung, Bluthochdruck und Diabetes mellitus. In seinem Werk Funktionelle Pathologie (1932) und seinem klinischen Wirken schuf er wichtige Impulse für die Psychosomatik. Ein weiterer Mitarbeiter von Kraus war Theodor Brugsch (1878 – 1963). Er war ein deutscher Mediziner, der zunächst in Berlin Medizin studierte. In seinem Berufsleben war er u. a. in Hamburg und in Halle tätig. Im Ersten Weltkrieg war er als Stabsarzt in einem Kriegslazarett in Rumänien beschäftigt, später wurde er Ordinarius für Innere Medizin an der Charit¦ Berlin. Da seine Ehefrau jüdischer Abstammung war, wurde er im nationalsozialistischen Deutschland seiner Aufgaben als Hochschullehrer entbunden. Er praktizierte daraufhin in einer Privatpraxis weiter und engagierte sich nach Kriegsende in der Ostberliner Charit¦ der DDR. Neben den Entwicklungen in Berlin entstammten auch wichtige Impulse für die Psychosomatik aus Hamburg. Vorangetrieben wurde dies durch Arthur Jores (1901 – 1982), einem deutschen Mediziner, der nach dem Zweiten Weltkrieg Rektor der Universität Hamburg wurde. Zunächst interessiert an der Endokrinologie, wandte er sich den bis dato wenig erforschten Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele zu. Er beschäftigte sich mit der Psychoanalyse, 117 Boss, 1954, S.196.
Internistische Psychosomatik
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kritisierte aber dass sie bei Patienten mit somatisch relevanten Erkrankungen nicht vollständig einsetzbar sei. Er postulierte, dass ein Mensch krank wird, wenn er gegen seine innere Wahrheit lebt. Somit kann eine Erkrankung als Ausdruck des menschlichen Scheiterns angesehen werden.118 Krankheit ist das Prinzip der Natur, das Einzelindividuum zu zerstören. Dieser selbstzerstörerische Akt wird vorzugsweise (…) dann vollzogen, wenn das Leben entweder aus äußeren (Gefangenschaft) oder inneren Gründen (spezifisch menschliche Krankheit) keine Möglichkeit zur Selbstentfaltung mehr hat oder diese an dem natürlichen Ende des Lebens vollendet ist. (…).119
Ebenfalls in Hamburg wirkte Thure von Uexküll (1908 – 2004), ein deutscher Mediziner, der ab 1935 an die Charit¦ in Berlin wechselte. Vor allem durch sein Standardwerk Psychosomatische Medizin (1979), das in aktueller Auflage immer noch eines der wichtigsten Werke auf dem Gebiet der psychosomatischen Medizin ist, wurde er bekannt. Psychosomatische Medizin ist heute noch keine fest umrissene Disziplin, sondern eher eine Überschrift über eine Sammlung von Richtungen, in denen sich Vorstellungen, die in der Heilkunde und ihren Grenzgebieten immer wieder eine Rolle gespielt haben, von neuem zu Wort melden.120
Von Uexküll erläutert in seinem Werk von 1963 Psychosomatische Medizin die Genese psychosomatischer Erkrankungen. Unter anderem stellt er die sogenannten Ausdruckskrankheiten vor, bei denen unbewusste Motive sich in körperlicher Symptomatik niederschlagen. Diese Ausdruckskrankheiten lehnen sich an das Konzept der Konversion an und beinhalten eine Beeinflussung der inneren, vom vegetativen Nervensystem, gesteuerte Organe.121 Er entwickelte eine Systemtheorie der Psychosomatik. Psychosomatische Medizin stellt zunächst die These auf, der Einfluss seelischer Vorgänge auf die Entstehung und den Ablauf von Krankheiten sei ein Problem, das ebenso ernsthaft erforscht werden müsse wie der Einfluss chemischer, physikalischer oder bakterieller Prozesse.122
118 119 120 121 122
Rattner 1977, S.47. Jores, 1956, S.140. Uexküll, 1963, S.7. Uexküll, 1963, S.158. Uexküll, 1963, S.13.
40
Historische Entwicklungen der Psychosomatik
3.5
Neurologische Psychosomatik (Bechterew, von Krehl, Siebeck, von Weizsäcker, Mitscherlich, Goldstein)
Die neurologische Psychosomatik entwickelte sich zeitgleich in Heidelberg, Frankfurt und Freiburg. Auch Sigmund Freud war Neurologe, auch wenn er die Verknüpfung zwischen neurologischer Forschung und Psychoanalyse ablehnte. So gab es nach ihm noch psychoanalytisch aufgeschlossene Neurologen, die die Psychosomatik mitgeprägt haben. Durch die Vertreibung der jüdischen Forscher unter ihnen ist jedoch vieles Wissen verschüttet worden. Ein Pionier auf diesem Gebiet ist Wladimir Michailowitsch Bechterew (1857 – 1927), ein russischer Neurologe, Physiologe und Psychiater, der heutzutage hauptsächlich für die nach ihm benannte Wirbelsäulenerkrankung Morbus Bechterew bekannt ist. Nach seinem Medizinstudium in St. Petersberg studierte er u. a. bei Charcot in Paris und bei Wilhelm Wundt in Leipzig. Er forschte unabhängig von Pawlow über die Theorie der konditionierten Reflexe. Weitere Impulse kamen aus der sogenannten »Heidelberger Schule der Psychosomatik«. Diese ist eng verknüpft mit drei Namen: Ludolf Krehl (1861 – 1937) und seine Schüler Richard Siebeck (1883 – 1965) und Victor von Weizsäcker (1886 – 1957). Ludolf Krehl leitete ab 1907 die Medizinische Klinik in Heidelberg und plädierte im klinischen Alltag stets für eine umfassende Betrachtung des Patienten hinsichtlich Körper, Geist und Seele. Er sah die Persönlichkeit des Menschen als Einheit. Auf ihn geht der mittlerweile berühmte Ausspruch: »Wir behandeln keine Krankheiten, sondern kranke Menschen« zurück. Krehls Einfluss auf Weizsäcker war bedeutsam, die beiden arbeiteten beinahe 30 Jahre zusammen, so dass der Schüler die allmählichen Veränderungen der Medizin Krehls von einer experimentalphysiologischen bis hin zu einer biographisch geprägten Einstellung miterleben konnte.123 Krehls Schüler Siebeck und Weizsäcker trugen diese Ideen weiter. Siebeck übernahm 1931 die Nachfolge Krehls. Weizsäcker übernahm 1921 zunächst die Nervenabteilung und dann 1946 eine neue Abteilung »Allgemeine Klinische Medizin«, welche die heutige Psychosomatik beinhaltet.Weizsäcker studierte in Freiburg, Berlin und Heidelberg und war im Ersten Weltkrieg als Truppenarzt im Einsatz. Er engagierte sich für die Etablierung einer anthropologischen Medizin. Weizsäcker schrieb den berühmten Satz: Die psychosomatische Medizin muss eine tiefenpsychologische sein oder sie wird nicht sein.124
123 Danzer, 2011, S.397. 124 zitiert bei Rattner 1977, S.45.
Psychophysiologische Psychosomatik
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Viktor von Weizsäcker forderte, in der psychosomatischen Medizin den Kranken als Subjekt zu begreifen. Dies bedeutet, dass der Arzt nicht nur die objektiven Ereignisse, denen die entsprechende Person ausgesetzt ist, betrachtet, sondern zu verstehen versucht, wie der Patient diese Ereignisse erlebt und beurteilt.125 Nichts Organisches hat keinen Sinn, nichts Psychisches hat keinen Leib.126
Ein Mitarbeiter und Schüler von Weizsäcker war Alexander Mitscherlich (1908 – 1982), ein deutscher Mediziner und Psychoanalytiker, der auch schriftstellerisch erfolgreich war. Er emigrierte zu Beginn des Ersten Weltkrieges in die Schweiz, kehrte aber noch während des Krieges nach Deutschland zurück, wo er kurzzeitig inhaftiert wurde. Zunächst war er als Neurologe in der Klinik von Viktor von Weizsäcker tätig und gründete mit dessen Unterstützung im Jahre 1948 die erste Abteilung für Psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg. Mit den Entwicklungen in Frankfurt ist der Name Kurt Goldstein (1878 – 1965) verknüpft. Der deutsche Neurologe und Psychiater gilt als Begründer der Neuropsychologie. Zunächst studierte er Philosophie und Literatur in Heidelberg und später Medizin in Breslau. Er arbeitete in Königsberg und Frankfurt und ab 1930 auch in Berlin. Goldstein forschte im neurologischen Bereich, hielt aber auch enge Kontakte zur Gestaltpsychologie. Die Nationalsozialisten zwangen ihn 1933 mittels Gewalt zur Emigration. Er floh zunächst nach Zürich und dann weiter in die USA, wo er als Klinischer Professor, u. a. auch in Harvard, tätig war. Insbesondere ist Kurt Goldsteins Theorie des Organismus für die Psychosomatik von grundlegender Bedeutung.127
3.6
Psychophysiologische Psychosomatik (Pawlow, Cannon, Seyle)
Der Beitrag von Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 – 1936) führte ebenfalls zu grundlegenden neuen Gedanken im Feld der Psychosomatik. Der russische Mediziner, Physiologe und Nobelpreisträger128 ist unter anderem für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Verhaltensforschung, insbesondere der klassischen Konditionierung bekannt. Diese entwickelte er in Studien mit dem – heute so bezeichneten – Pawlowschen Hund. Er untersuchte die steuernde Tätigkeit des 125 126 127 128
Uexküll, 1963. S.79. Weizsäcker, 2008, S.63. Meyer & Lamparter (Hrsg.), 1994. S.248. Er erhielt den Nobelpreis für Medizin im Jahre 1904 für seine Forschung über die Verdauungsdrüsen. Mit dem erhaltenen Preisgeld finanzierte er seine Forschungen auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie.
42
Historische Entwicklungen der Psychosomatik
Nervensystems und die bedingten Reflexe. Die heutige psychosomatische Forschung in Russland fußt weiterhin auf seinen psychophysiologisch orientierten Erkenntnissen. Im englischsprachigen Raum wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die psychophysiologische, psychosomatische Forschung insbesondere durch Walter Bradford Cannon (1871 – 1945) weiter vorangetrieben. Er war ein amerikanischer Physiologe, der u. a. an der Harvard-Universität lehrte. Bekannt wurde er beispielsweise für seine differenzierte Beschreibung des fight-and-flight Mechanismus, dem er seinen Namen gab.129 Heutzutage gehört zudem die sogenannte Cannon-Bard-Theorie zum physiologischen Grundwissen. Diese besagt, dass bei der emotionalen Reaktion gleichzeitig die physiologische Erregung und die Wahrnehmung der Emotion auftreten und somit die körperlichen und psychologischen Prozesse voneinander unabhängig sind. Er verfasste im Jahre 1929 ein Buch über Körperliche Veränderungen bei Hunger, Schmerz, Angst und Wut. Die dort beschriebenen Erkenntnisse basierten auf Tierexperimenten, in denen er eine Notfallfunktion des Körpers in Belastungssituationen identifizierte, in der Adrenalin aus der Nebennierenrinde ausgeschüttet wird.130 Einer Anekdote zufolge entstand das Forschungsinteresse des jungen Arztes aus einer Erfahrung am eigenen Leib. Auf einer Wanderung rutschte der junge Cannon ab und blieb in einer Felsspalte stecken. Er befand sich in Lebensgefahr und erlebte Todesangst, konnte sich aber retten. Nachdem er wieder festen Boden unter den Füssen hatte, war er mehrere Minuten wie unter Schock. Sein Körper begann unkontrolliert zu zittern, vergleichbar einem Schüttelfrost. Dies erweckte sein Forschungsinteresse und er begann, die Auswirkungen von Hormonen, insbesondere von Adrenalin, auf den Körper zu untersuchen. Er beschrieb den Notstands-Zustand131 des Körpers, also eine körperliche Bereitstellungsreaktion in Situationen von Not und Gefahr. Das Fazit von Cannons Forschung war die Erkenntnis, dass Affekte Auslöser vegetativer Veränderungen sind.132 In enger Zusammenarbeit mit Cannon beschäftigte sich auch Hans Selye (1907 – 1982) mit diesem Ansatz, ein in Österreich geborener Mediziner mit ungarischer Abstammung. Bekannt wurde er vor allem durch seine StressForschung, wobei er 38 Bücher über das Thema Stress veröffentlichte. Er wird häufig als »Vater der Stressforschung« betitelt und ist auch noch im Jahre 2012 der meist zitierte Autor auf diesem Gebiet. Im Jahre 1934 wanderte er nach Kanada aus, wo er in Forschung und Lehre in diesem Gebiet erfolgreich war und schließlich 1982 in Montreal verstarb. 129 130 131 132
Cannon,1975. Rattner,1977, S.39. Auch emergency state genannt. Uexküll, 1963, S.170.
Psychobiologische Psychosomatik
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Die Autoren Selye und Cannon gelten heutzutage als Begründer des psychobiologischen Modells der Stressreaktion. Das Schema der neuro-endokrinen Kopplung des Stressmodells geht zum einen von einem neuronalen Weg über das vegetative Nervensystem aus133 und zum anderen von einem neuroendokrinen Weg durch Kortisol und Adrenalin. Auch an dem Einfluss von Stress auf das Immunsystem wird im Fachgebiet der Psychoneuroimmunologie geforscht. Das sogenannte Diathese-Stress-Modell verweist auf eine Beteiligung der genetischen Prädisposition bei der Ausprägung der Symptome im Sinne einer individuellen Reaktionsspezifität. Demnach gibt es eine organische Vulnerabilität, die dazu führt, dass sich unter Stressbelastung eine organische Erkrankung dort manifestiert, wo eine körperliche Organschwäche anlagebedingt vorhanden ist. Dies wird auch als »locus minoris resistentiae«134 bezeichnet. Es darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass Stress jeweils nur einen möglichen Risikofaktor unter vielen darstellt und keine hinreichende Krankheitsursache ist.
3.7
Psychobiologische Psychosomatik (Flanders Dunbar, Engel, Weiner)
Weitere Impulse bezüglich der psychosomatischen Forschung entstammten einer psychobiologischen Sichtweise. Eine wichtige Vertreterin im amerikanischen Raum war Helen Flanders Dunbar (1902 – 1959). Sie war auch Psychoanalytikerin, dennoch kann ihre psychosomatische Forschung eher der psychobiologischen Richtung zugeordnet werden. Sie brachte die Psychosomatik, insbesondere mit der Gründung der Zeitschrift Psychosomatic Medicine135 (1939) und der Gründung der American Psychosomatic Society (1942) voran. Zwischen 1934 und 1939 führte sie zudem die erste großflächig angelegte und gut finanzierte psychosomatische Studie an einem allgemeinen Krankenhaus durch, in welcher sie 1600 Patienten mit Frakturen, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, rheumatischen Erkrankungen und Herzerkrankungen untersuchte. 133 Von der Amygdala über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. 134 Seligmann, 1997, vgl. Boll-Klatt, in Schmelig-Kludas, (Hrsg.), 2005. 135 In den meisten Lehrbüchern wird irrtümlich Franz Alexander als Initiator und Herausgeber der Zeitschrift Psychosomatic Medicine genannt. Die Gründung erfolgte jedoch gemeinsam mit Stanley Cobb, Carl Binger und anderen. Der ersten Ausgabe im Jahr 1939 ist zu entnehmen, dass Flanders Dunbar als Herausgeberin fungiert, während Franz Alexander Artikel einreichte. Die Zeitschrift wurde durch Flanders Dunbars Beziehungen zur Macy Foundation finanziert, die Treffen fanden in regelmäßigen Intervallen in ihrem Privathaus statt und ihr Ehemann fungierte als Lektor. Die Funktion der Herausgeberin hatte Flanders Dunbar bis 1947 inne.
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Historische Entwicklungen der Psychosomatik
Im anglo-amerikanischen Raum war auch George Libman Engel (1913 – 1999) tätig. Er war ein amerikanischer Mediziner und Psychiater, der in New York am University of Rochester Medical Center arbeitete und ab 1950 in der American Psychosomatic Society präsent war. Engel war einer der führenden psychosomatischen Forscher und entwarf ein biopsychosoziales Modell. Die Grundidee dieses Modells war, dass Krankheit als Wechselwirkung von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren verstanden wird. Ebenfalls mit psychobiologischen Grundgedanken forschte Herbert Weiner (1921 – 2002) auf diesem Fachgebiet. Der aus Österreich stammende Mediziner, wuchs in London auf und wanderte 1939 in die USA aus. Er studierte Medizin in Harvard und an der Columbia University in New York. Im Jahre 1977 erschien sein Klassiker Psychobiology and Human Disease, der die moderne Hirnforschung und die Psychosomatik miteinbezog. Unter anderem leitete er 20 Jahre lang die Abteilung für Verhaltensmedizin an der University of California in Los Angeles und war zehn Jahre lang als Herausgeber der von Flanders Dunbar und Franz Alexander gegründeten Zeitschrift Psychosomatic Medicine tätig.136 Trotz psychobiologischer Forschungsinteressen vergaß er jedoch nie die subjektiven menschlichen Empfindungen im Hinblick auf eine Erkrankung. Die psychosomatische Medizin befasst sich mit lebenden Personen, nicht mit Maschinen oder toten Körpern. Sie forscht nach den letztendlichen und nicht nur den nächstliegenden Ursachen für subjektives Krankheitsempfinden und Krankheit.137
3.8
Psychosomatik des 21. Jahrhunderts
Im allgemeinen Sprachgebrauch und in der Presse gibt es auch im 21. Jahrhundert noch häufig eine missverständliche Darstellung der Psychosomatik. So hört oder liest man oft ungenaue Definitionen, die zumeist darauf abzielen, dass ein körperliches Leiden ohne organ-pathologischen Befund dann wohl psychosomatisch sei. Dies ist jedoch irreführend. Die Annahme, dass psychosomatische Erkrankungen primär seelische Ursachen haben, die sich in sekundär körperlichen Störungen manifestieren, ist nicht mehr haltbar.138 Ebenso sind die einseitigen kausalen Zusammenhänge zwischen psychischen und körperlichen Manifestationen überholt. Es gibt häufig keine klare kausale Zuordnung der Ursache psychosomatischer Erkrankungen, es müssen immer Körper, Seele und soziale Faktoren betrachtet werden. In der Psychosomatik des 21. Jahrhunderts wird daher ein multifaktorielles bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis fa136 Hellhamer, 2002. 137 Weiner,1986, S. 361. 138 Danzer,1994, S.13.
Psychosomatik des 21. Jahrhunderts
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vorisiert. Es wird nicht dem Körper weniger, sondern der Seele mehr Beachtung geschenkt. Beim Menschen erkrankt eigentlich nie primär nur die Seele, der Geist oder der Körper alleine; immer erkrankt die ganze »bio-psycho-soziale Einheit Mensch«, auch wenn sich dabei einzelne Aspekte in den Vordergrund geschoben haben.139
Weitere Modelle, die im 21. Jahrhundert vorherrschen, sind das Konzept der Alexithymie und das Stresskonzept.140 Die Alexithymie postuliert, dass bei Unfähigkeit der emotionalen Verbalisierung oder dem Bewusstmachen von inneren Konflikten die psychosomatische Erkrankung als Ausdrucksmöglichkeit der inneren Not fungiert. Die empirische Wissenschaft verweist häufig auf das Stresskonzept in Zusammenhang mit psychosomatischen Krankheitsmodellen. Dieses Konzept verbindet somatische, psychische und soziale Variablen und ihren Beitrag zur Krankheitsgenese. Stress ist dabei definiert als: Resultat aus einem bestimmten Verhältnis zwischen wahrgenommenen Anforderungen der Umwelt und den Möglichkeiten der Person, diesen wirkungsvoll zu begegnen.141
Damit wird deutlich, dass die erfolgte Bewertung einer aufgetretenen Stresssituation und der eigenen Bewältigungsstrategien auch immer einen subjektiv getönten Vorgang darstellen. Die Zahl der somatischen Krankheitsbilder, für deren Genese und Aufrechterhaltung Stress herangezogen wird, steigt stetig an. Auch im therapeutischen Rahmen hat sich das Stresskonzept bewährt. Dies kommt insbesondere durch die damit verknüpften Implikationen. Mit der Aussage, jemand sei stressbedingt erkrankt, machen wir noch keine Aussage darüber, ob es an zu hohen Anforderungen von außen oder ungünstigen intrapsychischen Copingstrategien liegt. Der Patient kann daher sein eigenes Überforderungserleben kommunizieren. Zudem werden in unserer Gesellschaft mit dem Stressbegriff auch häufig Fleiß, Leistungsorientiertheit und Belastbarkeit assoziiert.142 Die aktuelle Entwicklungstendenz in der Psychosomatik des 21. Jahrhunderts ist vor allem ein therapeutisches Vorgehen, unterstützt durch ein zunehmendes psychosomatisches Krankheitsverständnis der Patienten.143 Um dies im stationären Alltag eines Krankenhauses verwirklichen zu können, benötigt man eine integrierte Psychosomatik im Sinne einer personalen Heilkunde, in der das 139 140 141 142 143
Danzer, 1994, S.13. Boll-Klatt, 2005, in Schmeling-Kludas (Hrsg.), S. 75 – 100. Boll-Klatt, 2005, in Schmeling-Kludas (Hrsg.), S.81. Boll-Klatt, 2005, in Schmeling-Kludas (Hrsg.), S. 82 – 83. Bräutigam & Christian,1981, S.12.
46
Historische Entwicklungen der Psychosomatik
psychosomatische Krankheitsgeschehen im Kontext der einzelnen Biographie betrachtet wird. Jede menschliche Erkrankung kann in ihren biomedizinischen, psychosozialen und geistigen Dimensionen erfasst, beurteilt und eventuell therapiert werden. (…) Jede menschliche Erkrankung entsteht im Kontext einer bestimmten Biographie, einer je eigenen existentiellen Situation und nimmt ihrerseits Einfluss auf den Lebenslauf, ohne dass deswegen zwischen Krankheit und Biographie immer schon kausale oder finale Korrelationen zu eruieren sind.144
Trotz der großen Fortschritte, die die Psychosomatik seit dem Ersten Weltkrieg vorangebracht haben, gibt es dennoch weiteren Forschungs- und Institutionalisierungsbedarf. Der Mediziner Ahrens schrieb 1988 über die Situation der Psychosomatik in Deutschland folgende Einschätzung: Die Situation der Psychosomatik scheint mir am ehesten mit der eines Kramladens vergleichbar : Es gibt allerlei exotische oder verstaubte Utensilien, etwas bizarr sortiert, in jedem Fall aber gemütlich bis verträumt präsentiert. Die ziemlich hoffnungslose Konkurrenzsituation zu dem somatischen Supermarkt nebenan wird zwar registriert, aber fatalistisch verarbeitet mit Hinweis wie: es gäbe schon noch Kunden, die eine so persönliche Betreuung zu schätzen wüßten.145
Um diese Analogie aufzugreifen, könnte man im Jahre 2012 über die Situation der Psychosomatik in Deutschland schreiben, dass sie sich vom einzeln stehenden Kramladen immerhin schon zum Spezialitätenregal in den somatischen Supermärkten hochgearbeitet hat. Teilweise noch misstrauisch beäugt von den restlichen Mitarbeitern, werden doch immer wieder Kunden zu den gemütlichbizarren Regalwänden weitergeschickt. Und in ruhigen Momenten bleiben sogar gelegentlich neugierige Kunden und Mitarbeiter aus eigenem Antrieb stehen und bestaunen die exotischen Auslagen.
3.9
Fazit
Seit der Antike beschäftigen sich Philosophen mit dem Leib-Seele-Problem. Mediziner und Psychologen haben sich bis zur heutigen Zeit in die Betrachtungen anthropologischer Annahmen, Leib-Seele-Konzepten und Vorstellungen von Ätiologie und Pathogenese psychosomatischer Störungen vertieft. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die psychosomatische Medizin, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg von verschiedenen Ländern und Hintergründen aus weiterentwickelt hat. 144 Danzer, 1994, S.17. 145 Ahrens, (Hrsg.),1988, S.3.
Fazit
47
Zunächst brachte die psychoanalytische Bewegung die Psychosomatik entscheidend voran. Wesentliche Entwicklungen entstanden in Wien und in BadenBaden. In diesem Artikel wurden stellvertretend Charcot, Breuer, Freud, Groddeck, Schultz-Hencke, Schur, Deutsch, Alexander und Weiss vorgestellt. Die hierbei formulierten psychosomatischen Modelle gehen zum Teil auf Ableitungen vom Konzept der Konversion zurück, ergänzen dieses jedoch durch neue Aspekte. Stellvertretend für eine tiefenpsychologische Sichtweise der Psychosomatik wurden Adler und Boss vorgestellt, die sich mit ihren Theorien als Pioniere einer tiefenpsychologischen Sichtweise qualifizieren. Die internistische Psychosomatik wurde insbesondere in Berlin und Hamburg geprägt. Wichtige Repräsentanten waren Kraus, von Bergmann, Brugsch, Jores und von Uexküll. Uexküll formulierte ein pluralistisches Modell der Psychosomatik, in der das bio-psycho-soziale Geschehen im Mittelpunkt steht. Die neurologische Psychosomatik in Heidelberg, Freiburg und Frankfurt wurde vertreten durch Goldstein, von Krehl, Siebeck, von Weizsäcker und Mitscherlich. Ein weiterer wichtiger Neurologe und Pionier war Bechterew. Durch psychophysiologische Forschungsbeiträge von Pawlow, Cannon und Seyle wurde das Menschenbild in der Medizin entscheidend geprägt und es entstanden wichtige Impulse für die psychosomatische Theoriebildung. Eine psychobiologische Psychosomatik repräsentierte die Herangehensweise von Flanders Dunbar, Engel und Weiner. Flanders Dunbar ging von einer Parallelität im Auftreten von seelischen und körperlichen Aspekten aus und versuchte statistisch nachzuweisen, dass Symptome auf beiden Ebenen überzufällig häufig gemeinsam auftreten. Helen Flanders Dunbar nimmt damit unter den Pionieren der Psychosomatik ihren Platz ein. In einer Zeit, in der die psychosomatische Forschung in Deutschland unter den Nationalsozialisten nahezu stillstand, unternahm Flanders Dunbar die erste großflächige psychosomatische Forschung, schrieb acht bedeutende psychosomatische Werke, gründete die American Psychosomatic Society und gab die begleitende weltberühmte Zeitschrift Psychosomatic Medicine heraus.
4 Die Unfallneigung
Das Konzept der Unfallneigung besteht seit ca. 100 Jahren. Es entspringt der Zeit des Ersten Weltkrieges und wurde zum ersten Mal parallel von zwei Autoren beschrieben. Im Jahre 1926 wurde dieses Syndrom in zwei Publikationen veröffentlicht. Die britischen Psychologen Eric Farmer und E.G. Chambers veröffentlichten 1926 einen Artikel über die »accident proneness«. Parallel verwies der deutsche Psychologe Karl Marbe 1926 auf die »Unfallneigung«. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass beide Konzepte zeitgleich völlig unabhängig voneinander entwickelt wurden.146 Flanders Dunbar war jedoch die erste Autorin, die diese Krankheit ausführlich untersuchte und beschrieben hat. Ihre Ausarbeitung der Unfallpersönlichkeit erregte in der wissenschaftlichen Welt große Aufmerksamkeit. Flanders Dunbar war zu Beginn der Studie das Interesse der Industrie am Konzept der Unfallneigung völlig unbekannt. Sie wollte die von ihr beforschte Patientengruppe lediglich als gesunde Kontrollgruppe heranziehen, bis sie Auffälligkeiten entdeckte. Im Folgenden werden zunächst Flanders Dunbars Ausführungen zu dem Thema dargelegt, gefolgt von anderen Autoren, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Thema der Unfallneigung beschäftigt haben. Zum Schluss erfolgt eine Einordnung und kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept. Es wird der Frage nachgegangen, was mit dem Konzept seit dessen bemerkenswertem Aufschwung in den 50er Jahren passiert ist und welche Konsequenzen sich daraus für die Psychosomatik des 21. Jahrhunderts ergeben.
146 Burnham, 2008.
50
Die Unfallneigung
4.1
Flanders Dunbars (1948): Unfallkrankheit und Unfallpersönlichkeit
Flanders Dunbars Entdeckung dieses seltsamen Leidens Flanders Dunbar wurde auf das Phänomen der Unfallkrankheit auf überraschende Weise aufmerksam. Bei ihrer groß angelegten psychosomatischen Forschung in amerikanischen Krankenhäusern untersuchten Flanders Dunbar und ihre Kollegen über vier Jahre ca. 1200 Patienten, so dass sie einen repräsentativen Querschnitt der typischerweise in New Yorker Krankenhäusern behandelten Patienten erhielten. Sie suchten Zusammenhänge zwischen seelischen Faktoren und Herzgefäßerkrankungen sowie Diabetes mellitus. Ihr Ziel war es, charakteristische Persönlichkeitszüge für diese Patientengruppe zu identifizieren. Nun benötigten sie eine gesunde Kontrollgruppe, um die identifizierten Persönlichkeitszüge mit denen gesunder Menschen zu vergleichen. Aufgrund der organisatorischen Schwierigkeit, eine so große Anzahl von Vertretern der Durchschnittsbevölkerung zur Teilnahme an einer Studie zu bewegen, beschloss die wissenschaftliche Arbeitsgruppe um Flanders Dunbar, die an Knochenbrüchen leidenden Patienten der Krankenhäuser als Vertreter der Außenwelt heranzuziehen. Ihre Prämisse war, dass Unfälle etwas Zufälliges sind. Diese Vorannahme sollte sich durch die Forschungsergebnisse deutlich ändern. Die Forschungsgruppe um Flanders Dunbar fand zur allgemeinen Überraschung, dass Knochenbruchpatienten durchaus nicht »normal« sind. Das Vorhandensein dieses seltsamen Leidens, das wir als »Unfallsucht« bezeichneten, brachte uns um die Kontrollgruppe (…).147
Das Interesse Flanders Dunbars war geweckt und sie begann sich für diese Erkrankung zu interessieren. Sie verweist in ihrem Werk Körper und Seele auf die Unfallsucht als auf eine Krankheit mit der Vorliebe sich die Knochen zu brechen. Da solch ein Leiden noch keine Benennung in medizinischen Fachbüchern gefunden hat, schlägt sie die Betitelung Unfallneigung (accidentitis) vor. Bei dieser Krankheit spielen laut Flanders Dunbar seelische Konflikte eine wichtige Rolle. Sie kommen durch Unfälle zu Schaden, weil sie sich in einer Gemütsverfassung befinden, die zwar alles andere als stark, aber auch keineswegs das ist, was man gewöhnlich unter »geistesgestört« versteht. Mindestens 80 % der Millionen größerer Unglücksfälle, die sich jedes Jahr ereignen, werden durch dieses Leiden verursacht.148 147 Dunbar, 1951, S.85. 148 Dunbar,1951, S. 82 – 83.
Flanders Dunbars (1948): Unfallkrankheit und Unfallpersönlichkeit
51
Weiterhin führt sie aus, dass nicht zwangsläufig jeder, der sich den Fuß verstaucht, an dieser Krankheit leide und sie auch nicht gleichbedeutend mit der Persönlichkeitseigenschaft Ungeschicklichkeit sei. Personen, denen das Attribut ungeschickt verliehen wird, verletzen sich oftmals nicht. Ihr ganzes Umfeld ist häufig in Staunen versetzt, wie es ihnen gelingt zu stolpern, zu fallen und Dinge zu zerbrechen, ohne sich und anderen jemals Schaden zuzufügen. Andererseits verweist Flanders Dunbar darauf, dass es viele flinke und gewandte Menschen gäbe, die sich immer wieder in den Rettungsstellen der Krankenhäuser einfinden. Sie halten sich für ausgesprochene Pechvögel oder glauben, daß Gott sie strafen wolle. In Wahrheit sind sie ihren eigenen seelischen Konflikten zum Opfer gefallen.149
Stichprobe der Knochenbruchpatienten. Allgemeine Kriterien: Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen Flanders Dunbar beobachtete die von ihr untersuchte Kontrollgruppe der Knochenbruchpatienten ausgesprochen differenziert. Sie befragte sorgfältig 500 Patienten in Hinblick auf Alter, Geschlecht, Ausbildungsstatus, Arbeit, Einkommen, allgemeines Verhalten, sexuelle Einstellung, Einstellung gegenüber Eltern und Kindern, neurotische Charakterzüge, Sucht, persönliche Interessen, Einstellung zu Krankheiten, zentrale Konflikte, allgemeine Anspannung, Aggression, Aktivität, Träume und Phantasien sowie natürlich zu der Lebenssituation vor dem Unfall. Von den 500 befragten Knochenbruchpatienten waren 47 % weiblichen Geschlechts.150 In Bezug auf die Altersverteilung zeigte sich, dass die Unfallsucht eine Krankheit junger Menschen ist. In der untersuchten Stichprobe traten die meisten Unfälle, das heißt 87 %, in der Altersgruppe zwischen 15 und 24 auf, im Gegensatz zu den 68 % in der Altersgruppe zwischen 25 bis 34 und den 60 % in der Altersgruppe 35 bis 55.151 Flanders Dunbar gibt bei der vorliegenden Altersverteilung zu bedenken, dass womöglich eine größere Zahl der jungen Menschen durch entsprechende Unfälle zu Tode gekommen ist, so dass die geringeren Fallzahlen in höheren Jahren dadurch verfälscht sein könnten. Interessant ist auch die ausführliche Dokumentation der Vorerkrankungen. Die untersuchte Stichprobe, das heißt alle Patienten, die mit Knochenbrüchen bereits mehrfach ins Krankenhaus gekommen waren, zeigen hinsichtlich anderer Erkrankungen wie Diabetes mellitus, kardiovaskulärer Erkrankungen, Allergien und Adipositas eine deutlich geringere Prozentzahl. Weniger als 30 % 149 Dunbar,1951, S.83. 150 Dunbar, 1948c, S.182. 151 Dunbar, 1951, S.93.
52
Die Unfallneigung
der Patienten berichten von irgendeiner Vorerkrankung. Weitergehend differenziert sie die Art der Unfälle. In der Stichprobe stellte sich heraus, dass 48 % der Unfälle auf Stürze zurückgehen, 22 % sind motorisierte Unfälle, 22 % sind Sportunfälle und bei 7 % handelt es sich um andere Arten von Unfällen.152 Wiederholungstendenz, Erblichkeit und Pseudo-Erblichkeit Flanders Dunbar konnte darüber hinaus eine besondere Tendenz, stets ähnliche Unfälle zu erleben, identifizieren. Falls Menschen im persönlichen Umfeld mit verletzt wurden, deutete sich auch eine Tendenz an, dieselbe Person erneut zu verletzen. Alle diese Aspekte belegte die Autorin mit kurzen Fallvignetten. Ein Beispiel für diese Wiederholungstendenz ist: Fall 32: Drei Verletzungen des linken Armes: Handgelenk, Finger und Ellbogen separat und zeitlich getrennt voneinander verletzt. Zusätzlich eine Verletzung des rechten Armes.153
Eine andere Wiederholungstendenz zeigte sich in der Art der Unfälle, die wiederholt auftraten. In der Stichprobe traten Wiederholungen nicht nur in der Verletzung derselben Körperteile, sondern auch in der Art der Unfälle, zum Beispiel Stürze oder motorisierte Unfälle auf. In der Untersuchung der Personengruppe mit gehäuften Unfällen wurde deutlich, dass 40 % der Befragten auch eine Häufung der Unfälle in der Familie haben. Dies ist ein Wert, der dreimal so hoch ist wie in anderen Patientengruppen. Flanders Dunbar diskutiert diese Tatsache mittels einer Unterscheidung zwischen Erblichkeit und Pseudo-Erblichkeit. Unter Pseudo-Erblichkeit versteht sie den Kontakt zu einer Person, die unter der entsprechenden Erkrankung leidet. Flanders Dunbar interpretiert diese Häufung der Unfälle in Familien nicht mit dem Vorliegen einer genetischen Prädisposition oder familiären Knochenbeschaffenheit, sondern vermutet, dass die Pseudo-Erblichkeit hier eine große Rolle spielt. Zudem scheinen Familienmitglieder oder Freunde, denen gehäuft Unfälle passieren, einen größeren Einfluss zu haben, wenn sie persönlich bekannt sind, als wenn sie unbekannt sind und nur von ihnen und ihren Missgeschicken berichtet wurde. Dies nannte Flanders Dunbar den »exposure factor«154, das heißt einen Faktor des »Ausgesetztseins« gegenüber diesem Verhalten. Sie relativiert diese Einschätzung durch den Hinweis, dass dies nur ein kleiner Aspekt der Unfallneigung darstelle, der nicht überbewertet werden sollte.
152 Dunbar, 1948c, S.184. 153 Dunbar, 1948c, S.188. 154 Dunbar, 1948c, S.134.
Flanders Dunbars (1948): Unfallkrankheit und Unfallpersönlichkeit
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Die Unfallpersönlichkeit: Charakteristische Eigenschaften Flanders Dunbar erarbeitete auf der Basis der untersuchten Stichprobe den Typus der Unfallpersönlichkeit. Sie zeigte gemeinsame Eigenschaften auf, die in der Untersuchung hervorstechend waren und die nach ihrer Einschätzung diese Patientengruppe charakterisieren. In der groß angelegten Studie, die sie von 1934 bis 1938 im Presbytarian Hospital mit 1128 Patienten durchführte, waren 232 Knochenbruchpatienten.155 Diese diente als Basis für die Entwicklung von Persönlichkeitsprofilen von so genannten Unfallsüchtigen. Nach Flanders Dunbars Angaben weichen nur 20 % der Studienteilnehmer von ihrem entwickelten Persönlichkeitsprofil ab.156 Diese Personengruppe ist gekennzeichnet durch Entschlussfreudigkeit, so dass oft der Eindruck der Triebhaftigkeit entsteht. Es gibt eine Konzentration auf aktives Handeln und schnell erreichbare Ziele. Zudem deuteten sich häufig »Lebemannallüren« an, die sich in einer leichtfertigen Haltung gegenüber Fragen des Sexus und der Familie äußern. Flanders Dunbar interpretiert die Entschlussfreudigkeit der Unfallsüchtigen als Ausdruck eines Wunsches nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Die Personengruppe scheint oft keinen festen Lebensplan zu haben, wichtig ist für sie die derzeitige Ausgangslage. Die Personen dieser Gruppe empfinden ihre Familie oft als streng und – damit einhergehend – zeigen sie häufig eine unbewusste Abneigung gegen jede Autorität, ob in der Manifestation von Eltern, des Ehegatten, der Kirche oder des Arbeitgebers. Zudem seien sie weniger krank als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Sie zeichnen sich durch eine überdurchschnittlich gute Gesundheitsstatistik aus. Flanders Dunbar interpretierte diese Tatsache dahingehend, dass die Unfallsüchtigen im Gegensatz zu kardiovaskulär erkrankten Personen ihren Ärger nicht in sich verschlossen »hochkochen« lassen.157 In der Jugend zeigte ein hoher Anteil dieser Patienten neurotische Züge und einige hatten als Kinder delinquentes Verhalten, sie logen und stahlen. Diese Züge verschwanden offenbar mit der Entwicklung der Unfallneigung. Im Vergleich dieser Persönlichkeitsstruktur mit anderen Bevölkerungsgruppen verweist Flanders Dunbar auf die Übereinstimmung mit dem »jugendlichen Missetäter« und dem »erwachsenen Verbrecher«. Das charakteristische Verhalten des Individuums, das beharrlich die Grenzen bricht, gleicht praktisch dem des Individuums, das beharrlich die Knochen bricht, und zwar
155 Dunbar, 1948c, S.134. Statistische Ergänzugen: Von der 1126 Patienten umfassenden Gesamtstichprobe sind 748 Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, 148 Patienten mit Diabetes melitus und 232 Patienten mit Frakturen eingeschlossen. 156 Dunbar, 1948b, S.385. 157 Dunbar, 1948b, S.386.
54
Die Unfallneigung
bis zu dem Punkt, wo der eine ein Verbrechen begeht und dem andern ein Unfall zustößt.158
Flanders Dunbar verweist auf eine Übereinstimmung zwischen den Verbrechern und den Unfallsüchtigen. Beide Personengruppen scheinen selten krank zu werden. Sie erklärt sich dieses Phänomen damit, dass beide Bevölkerungsgruppen einen Ausweg aus ihren seelischen Konflikten durch einerseits unsoziale Handlungen oder andererseits die Unfallsucht finden. Nach ähnlichen Erlebnissen in der Kindheit, beispielsweise einer mangelhaften Anpassung an eine strenge Autorität zu Hause oder in der Schule, folgt dann dissoziales Verhalten wie Lügen, Stehlen oder Schule schwänzen. Dann bricht die parallele Entwicklung jedoch ab und die eine Gruppe beginnt die Laufbahn als Verbrecher, während die andere anfängt, sich selbst zu schaden. Die eine Personengruppe richtet ihre Aggressionen also gegen die Gemeinschaft, während die Unfallsüchtigen diese gegen sich selbst richten. Flanders Dunbar betont zudem, dass Personen mit Unfallsucht nicht versuchen, sich Schmerz zuzufügen, weil sie perverse sadomasochistische Neigungen haben. Es sei vielmehr ein Ausdruck der Unfähigkeit mit einem seelischen Konflikt fertig zu werden, so dass Körper und Geist für etwas »Unerfreuliches«159 empfänglich seien und dies zu einer körperlichen und seelischen Notwendigkeit werde. Der zentrale Konflikt Flanders Dunbar verweist auf einen zentralen Konflikt, der die Ursache für die seelischen Kräfte, die den betreffenden Menschen zur Unfallsucht treiben, darstellt. Die jeweiligen Umstände, die dem Unfall vorangehen und die Gedanken, die die entsprechenden Personen dabei haben, sind mehr als nur kleine Alltagssorgen. Besonders ist zu betonen, dass die zugrunde liegenden Konflikte den entsprechenden Personen in keiner Weise bewusst sind.160 Nach Flanders Dunbar haben sie alle mit dem Verhältnis der Person zur Autorität zu tun. Die Personen mit Unfallneigung zeigen oft die Tendenz, ihre Befriedigung und Sicherheit außerhalb der autoritären Hierarchie zu suchen und vermeiden dadurch das Dominieren in sozialen Rollen. Sie kommen dadurch scheinbar gut mit Autoritäten zurecht, da ihre Abwehr die meiste Zeit gut funktioniert. In Situationen, wo sie sich nun mit ungewöhnlichen Ereignissen konfrontiert sehen, zum Beispiel mit überraschender Arbeitslosigkeit oder dem Besuch einer dominanten Schwiegermutter, brauchen diese Personen etwas, um mit der Si158 Dunbar, 1951, S.87. 159 Dunbar, 1951, S.89. 160 Dunbar, 1951, S. 91 – 94.
Flanders Dunbars (1948): Unfallkrankheit und Unfallpersönlichkeit
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tuation zurecht zu kommen oder ihr zu entfliehen. In solch einer Situation, wenn also die charakteristische Abwehr nicht mehr reicht und Konflikte mit der Autorität unausweichlich werden, passiert der Unfall. Die Aggressivität bricht aus, in einem Impuls sich selbst zu bestrafen oder denjenigen der als verantwortlich für die Frustration angesehen wird. Die Bedingungen kurz vor dem Unfall sind daher oft geprägt von einer aggressiven Feindseligkeit oder großem Druck durch eine Autorität. Oft erspart der Unfall dann eine unerfreuliche Auseinandersetzung mit der Autorität für den Moment. Dem sekundären Krankheitsgewinn sollte demnach besondere Beachtung geschenkt werden.161 Diese Tendenz wird auch in folgendem Fallbeispiel deutlich. Fall 123: Eine streng erzogene römisch-katholische Frau im Alter von 24 Jahren stand auf der Treppe vor ihrem Haus. Sie war seit einem Jahr verheiratet und befand sich auf dem Weg zur Beichte. Sie war besorgt, dass sie die Benutzung von empfängnisverhütenden Mitteln beichten musste. Während sie überlegte, ob sie zurück ins Haus gehen sollte um einen Regenschirm mitzunehmen, stürzte sie plötzlich ohne für sie ersichtlichen Grund die Treppe hinunter und brach sich eine Hüfte. Im Nachhinein berichtete sie: »Aber es war eine Erleichterung nicht zur Beichte gehen zur müssen, da mein Beichtvater sehr streng ist und mir sicher keine Absolution erteilt hätte, so dass ich entweder in die Hölle gekommen wäre oder bald Kinder kriegen müsste.162
Dennoch ist zu beachten, dass die Schwierigkeiten mit der Autorität offenbar nicht die einzige Ursache sind, denn dann und wann hat jeder Mensch im Leben einen Konflikt mit der Autorität. Ausschlaggebend ist vermutlich auch die Art und Weise des Betreffenden, mit diesem Konflikt umzugehen. In der nachträglichen Bewertung zeigen die Unfallsüchtigen häufig eine ausgeprägte Tendenz zu unterdrückten Schuldgefühlen. Sie deuten dann ihre gebrochenen Gliedmaßen als Strafe für ein Vergehen oder eine Auflehnung gegen die Autorität und nicht als etwas, das sie sich selbst zugefügt haben.163 Aspekte der Arbeitssicherheit Einer der Hauptzweige, in den das Konzept der Unfallsucht Einzug erhalten hat, ist der Bereich der Arbeitssicherheit. Da Unfallsüchtige nicht nur sich selbst, sondern auch andere verletzen, wird auch dem Aspekt der Prävention besondere Beachtung geschenkt. Die Theorie der Unfallneigung hat besondere Aufmerksamkeit im Bereich der
161 Dunbar, 1948b, S.386. 162 Dunbar, 1948b, S.383. 163 Dunbar, 1951, S. 91 – 95.
56
Die Unfallneigung
Industrie, des Militärs und im sozialen Bereich erlangt. Besonderes Interesse haben Versicherungsträger und Arbeitgeber. Flanders Dunbar verweist in ihrem Werk Psychosomatic Diagnosis 1948 auf eine Studie des National Research Councils, welche die Arbeitssicherheit in einem Unternehmen, das 1400 kaufmännische LKW-Fahrer angestellt hatte, untersucht. Dieses Unternehmen zeigte sich aufgrund der jährlich zunehmenden großen Anzahl von Autounfällen besorgt. Nach Konsultation von Arbeitspsychologen wurden in diesem Unternehmen diejenigen Fahrer, die die höchste Unfallrate aufzeigten, in andere Bereiche versetzt. Innerhalb von vier Jahren konnte das Unternehmen die Anzahl der Unfälle auf ein Fünftel der Ausgangsrate reduzieren. Bis zum Zeitpunkt der Publikation der Studie konnte das Unternehmen diese geringe Unfallrate schon drei Jahre halten. Hervorzuheben ist zudem die Tatsache, dass die Arbeiter, die aufgrund ihrer hohen Autounfallstatistik versetzt wurden, weiterhin kleinere Unfälle hatten, bei denen sie sich selbst verletzten. Flanders Dunbar zitiert mehrere vergleichbare Studien, die immer wieder auf eine mehr als zufällige Häufung von Unfällen bei einer kleinen Personengruppe verweisen. Darauf basierend zieht sie den Schluss, dass zwischen 88 bis 90 % aller industriellen Unfälle allein personalen Faktoren zugeschrieben werden können. Damit übereinstimmend gibt das National Safety Council an, dass nur 17 % aller Unfälle auf mechanische Gründe zurückzuführen sind.164 Weitergehend verweist Flanders Dunbar auf den Heinrichs Report von 1936, der deutlich macht, dass der Großteil der Unfälle auf eine kleine Prozentzahl der Angestellten zurückgeht. 0,8 % der Angestellten sind verantwortlich für 10 % aller Unfälle. Culpin fand in seiner Untersuchung von 1936 sogar heraus, dass 25 % der Angestellten den Großteil der Unfälle verursachen. Diejenigen Personen, denen die meisten Unfälle bei der Arbeit passieren, verunglücken auch häufig zu Hause oder auf dem Weg zur Arbeit.165
Therapeutische Implikationen Flanders Dunbar schenkte immer den Themen der Diagnostik und Therapie besondere Beachtung. Auch die Entwicklung des Persönlichkeitsprofils der Unfallpersönlichkeit diente allein dem Ziel, die entwickelten Persönlichkeitsprofile als diagnostischen Weg zur frühzeitigen Erkennung und zur Therapie heranzuziehen. Laut Flanders Dunbar sind die beiden wichtigsten diagnostischen Punkte zum einen die aktuelle Lebenssituation der Patienten, in der die 164 Dunbar, 1948c, S.170. 165 Dunbar, 1948c, S.174
Sigmund Freud (1904): Unbewusste Fehlleistungen und Fehltritte
57
meisten Konflikte entstehen und zum anderen die charakteristischen Reaktionen und Konfliktlösungsversuche.166 Flanders Dunbar verweist darauf, dass bei sorgfältiger psychosomatischer Behandlung eines Patienten mit Unfallneigung die Möglichkeit gegeben ist, weiteren Unfällen vorzubeugen. Im Mittelpunkt der Behandlung stehen zunächst der Schmerz und die Heilung der Verletzung. Die Behandler sollten demnach in Kenntnis der Persönlichkeitsakzentuierung dieser Personengruppe den Schmerz anders interpretieren. Er muss nicht allein durch die Muskelkontraktionen im Umfeld der Verletzung verursacht sein, sondern kann auch durch Anspannung, die durch Schuldgefühle hervorgerufen wird, verstärkt werden. Sie verweist auf mehrere Fälle, in denen Gespräche Entspannung und Linderung bringen konnten. Aus der therapeutischen Sichtweise, so Flanders Dunbar, ist diese Patientengruppe schwer zu behandeln, da sie, sobald eine körperliche Verbesserung eingetreten ist, schnell das Interesse an der Möglichkeit eines Mitwirkens emotionaler Faktoren verliert. Weitergehend formuliert die Autorin einige praktische Empfehlungen für den Psychiater oder Mediziner, der diese Patientengruppe behandelt. Beispielsweise empfiehlt sie kein verwöhnendes oder zu strenges Verhalten dem Patienten gegenüber, um angesichts des häufig vorliegenden Konfliktes mit Autoritäten keinen Widerstand hervorzurufen.167
4.2
Sigmund Freud (1904): Unbewusste Fehlleistungen und Fehltritte
In Sigmund Freuds Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslebens168 verweist der Autor darauf, dass alle menschlichen Handlungen zugrunde liegende Motive haben, welche durch psychoanalytische Ergründung enthüllt werden können, unabhängig davon, ob sie der Person bewusst sind oder nicht. Er vermutet Sinn und Absicht hinter den kleinen Funktionsstörungen des täglichen Lebens, zum Beispiel Vergessen, Versprechen, Verlesen, Verschreiben, Vergreifen und anderen Irrtümern. Nach Freud hat alles im Leben eine Bedeutung, es gibt nichts Harmloses, wenn man nur genau beobachtet und sich dann – mittels freien Assoziierens – dem unbewussten, zugrunde liegenden Motiv nähert. Von den Überlegungen zum Vergreifen ist es nur ein kleiner Schritt zur psychischen Kausalität bei Unfällen und so schreibt Freud: 166 Dunbar, 1948b, S.385. 167 Dunbar, 1948c, S. 227 – 230. 168 Erstveröffentlichung 1904.
58
Die Unfallneigung
Sich selbst fallen lassen, einen Fehltritt machen, ausgleiten, braucht gleichfalls nicht immer als rein zufälliges Fehlschlagen motorischer Aktion gedeutet werden.169
Er verweist auf scheinbar zufällige Selbstbeschädigungen, denen ebenfalls ein unbewusster psychischer Konflikt zugrunde liegt. Bei vielen Fällen konnte er eine Tendenz zur Selbstbestrafung identifizieren, die eine zufällig gebotene äußere Situation geschickt ausnutzt. Als Fallvignette führt er Frau X an. Sie ist verheiratet und aus gutbürgerlichem Milieu. Die Patientin verletzte sich, indem sie in einer durch Baumaßnahmen beeinträchtigten Straße stolperte und auf das Gesicht stürzte, ohne sich mit den Händen abzustützen. Dabei zog sie sich vorübergehende Hämatome sowie Schrammen im ganzen Gesicht zu. Eine genauere Befragung lieferte Freud folgende Deutung der Unfallsituation: Frau X wollte die Straße plötzlich überqueren, da sie in einem Geschäft ein schönes Bild erblickt hatte, welches sie in das Kinderzimmer hängen wollte. Darüber hinaus äußerte sie: »Es war vielleicht doch eine Strafe.«170 Diese Idee der Bestrafung bezog sich auf eine Abtreibung, die sie erst vor kurzem mit dem Einverständnis ihres Mannes durchgeführt hatte, die sie aber im Nachhinein bedauerte und aufgrund derer sie sich seitdem mit Selbstvorwürfen quälte. Nach Freud setzt sich in diesem Unfall demnach eine unbewusste Selbstschädigungstendenz durch, die als Selbstbestrafung für verwerflich gedeutete Handlungen zu sehen ist. In seiner Schrift führt Freud als Beispiel zahlreiche – und häufig amüsante – eigene Fehlleistungen an. Bei dem Thema Unfälle und Selbstverletzung hat er jedoch nicht viel Erfahrung einzubringen. Dazu bemerkt er, dass er bei kleineren Verletzungen bei Mitgliedern seiner Familie anstatt der erhofften Anteilnahme stets die Frage stellte: »Wozu hast du das getan?«171 Zusammenfassend lässt sich der Schluss ziehen, dass Freud schon 1904 erste Ideen zu einer psychischen Determinante bei Unfällen zu Papier brachte. Die Überlegung eines zugrunde liegenden Motivs der Selbstbestrafung wird sowohl bei Franz Alexander, Karl Menninger als auch Flanders Dunbar erneut aufgegriffen.
169 Freud, 1904, S. 140. 170 Freud, 1904, S. 147. 171 Freud, 1904, S.144.
Karl Marbe (1926): Wahrscheinlichkeit von Unfällen
4.3
59
Karl Marbe (1926): Wahrscheinlichkeit von Unfällen
Im Jahre 1926 veröffentlichte Marbe seine Schrift zur Praktischen Psychologie der Unfälle und Betriebsschäden. Mit dieser zielte er darauf ab, ganz konkrete Anregungen für die Versicherungsgesellschaften, die Industrie und die Verkehrsanstalten zu geben und somit Unfallprävention zu betreiben. Er verweist zunächst auf die Definition von Unfällen. Ein Unfall liegt demnach vor, »wenn jemand durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine (körperliche und geistige) Gesundheitsschädigung erleidet«.172 Weitergehend verweist er darauf, dass es einen zusätzlichen Faktor gibt, der das Glück oder Unglück eines Menschen beeinflusst: seine Persönlichkeit. Persönlichkeit und Umwelt sind die einzigen Bedingungen möglicher Unglücke und Unfälle. Bald ist mehr die Eigenart der Persönlichkeit, bald mehr die Umwelt entscheidend.173
Er nähert sich dem Begriff der Persönlichkeit und beschreibt, dass er darunter sowohl die geistige als auch die körperliche Persönlichkeit eines Menschen verstehe. Zudem gibt es eine momentane Einstellung der Persönlichkeit, die zu Unfällen beitragen kann, zum Beispiel die momentane geistige und körperliche Überanstrengung oder momentane Ablenkung der Aufmerksamkeit. Darüber hinaus sei jedoch der Einfluss der angeborenen und habituell erworbenen Persönlichkeit von besonderer Bedeutung für das Vermeiden oder Eintreten von Unfällen. Dabei trifft er die Unterscheidung, dass die angeborene Persönlichkeit als konstanter Faktor zu verstehen sei, die habituell erworbenen Eigenschaften dagegen als relativ konstanter Faktor. Die wichtigste Erkenntnis seiner Untersuchung deutet darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Menschen, einen Unfall zu erleiden, nach der Anzahl seiner früheren Unfälle zu bemessen ist. Die Unfallvorgeschichte gibt demnach offenbar Auskunft über das Maß seiner Unfallneigung. Diese Theorie belegt er mit einer statistischen Untersuchung in einer militärischen Abteilung. Er zitiert eine Untersuchung von 3000 Personen, bei der es möglich war, aufgrund der Unfallanzahl in den ersten fünf Jahren die wahrscheinliche Unfallanzahl in den zweiten fünf Jahren vorauszusagen. Die Personen mit den meisten Unfällen hatten 1,75-mal so viele Unfälle wie die anderen Personen.174 Weiterhin verweist er auf Bewusstseinszustände, die Unfälle begünstigen. Dies können zum Beispiel Gedanken an eine Unfallrente darstellen, Gleichgül172 Marbe, 1926, S.3. 173 Marbe, 1926, S.6. 174 Marbe, 1926, S16.
60
Die Unfallneigung
tigkeit oder eine Erwartungshaltung. Diese Zustände führen geradezu zu einer Unfallbereitschaft. Er vermutet, dass diese Zustände nicht im Bewusstsein manifest, sondern eher im Unbewussten anzusiedeln sind. Als Analogie zu der inneren Bereitschaft einen Unfall zu erleiden, vergleicht er diese mit Wünschelrutengängern, die ebenfalls die Erwartung einer Bewegung haben und somit die Bewegung selbst hervorbringen. Marbe schließt daran Überlegungen zu Testungen und Prävention an. Für die Unfallneigung könnten Handgeschicklichkeit und vorsichtiges Verhalten mit verschiedenen Versuchen getestet werden, beispielsweise mit dem Erbsenversuch175. Als Konsequenz seiner Überlegungen schlägt er den Versicherungen vor, einerseits durch sorgfältige Eignungsprüfungen die Auswahl von Arbeitern zu beeinflussen. Andererseits sollte bei der Identifizierung von eingestellten unfalldisponierten Personen ein Bereichswechsel vorgenommen werden. Die entsprechenden Individuen sollten aus besonders gefährdeten Funktionen geeigneteren Wirkungsfeldern zugeführt werden. Schlussendlich empfiehlt er den Versicherungen eine Abstufung der Prämien unter Berücksichtigung der erlittenen Unfälle. So könne man die Unfallbereitschaft und Unfallerwartung verringern.
4.4
Alexandra Adler (1941): Psychologische Aspekte bei Industrieunfällen
Die österreichische Psychoanalytikerin Alexandra Adler (1901 – 2003), zweitälteste Tochter von Alfred Adler, beschrieb 1941 in einem Zeitschriftenartikel die Möglichkeit eines psychologischen Faktors bei dem gehäuften Auftreten von Arbeitsunfällen in der Industrie. Sie verweist auf eine von ihr durchgeführte Studie im Jahr 1930, in welcher sie 130 Industriearbeiter (100 europäische und 30 amerikanische) untersuchte, die über häufige Unfälle berichteten.176 Um sich ein Bild von ihrer Persönlichkeit zu machen, befragte sie die Arbeiter nach ihrer Biographie, nach Träumen, nach Kindheitserinnerungen und nach ihrer emotionalen Reaktion auf den Unfall. Darüber hinaus wurden Testungen zur Messung der manuellen Fähigkeiten, der Konzentration und der Reaktionsgeschwindigkeit durchgeführt. Als Kontrollgruppe wurden 20 Arbeiter, die noch nie einen Unfall erlitten hatten, untersucht. Es zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe und den zu Unfällen neigenden Arbeitern hinsichtlich der Testungen der ma175 Beim Erbsenversuch müssen die Versuchspersonen eine Einordnung von einer bestimmten Anzahl von Erbsen in sechs Reagenzgläser vornehmen. Marbe,1926, S.54. 176 Adler, Alexandra, 1941.
Alexandra Adler (1941): Psychologische Aspekte bei Industrieunfällen
61
nuellen Fähigkeiten, der Konzentration und der Reaktionsfähigkeit. Entscheidende Unterschiede fand Adler jedoch in den psychologischen Untersuchungen, auf deren Basis sie die Patienten in acht Gruppen unterteilte.
Abbildung 2: Tabelle nach Adler (1941). [Originaltabelle aus dem Englischen]
Die letzten drei Gruppen fasst Adler zusammen und erläutert diese nur kurz. Die sechste Gruppe beinhaltet Alkoholiker, die alle Anzeichen von chronischem Alkoholkonsum wie beispielsweise Tremor zeigten. Zudem standen viele während des Unfalls unter dem Einfluss von Alkohol. Die Arbeiter der siebten Gruppe zeigten ein geringes Intelligenzniveau und waren weder des Lesens noch des Schreibens mächtig und konnten vermutlich der Arbeitsroutine nicht folgen. Die achte Gruppe beinhaltet Personen, die eine körperliche Erkrankung hatten, beispielsweise Parkinson oder wiederholte Petit mal Anfälle einer Epilepsie. In den verbleibenden 106 Patienten und fünf Gruppen zeigten sich andere Auffälligkeiten. In der ersten Gruppe, die mit 60 Personen die größte Untergruppe darstellt, zeichneten sich die Personen durch eine bittere und rachsüchtige Einstellung gegenüber ihren Eltern oder Ausbildern aus. Diese wurden von dieser Patientengruppe häufig für ihr unglückliches Leben verantwortlich gemacht. Oft berichteten sie, dass die Eltern sie gezwungen hätten diese Beschäftigung aufzunehmen, obwohl sie sich eine völlig andere Tätigkeit selbst gewünscht hätten. Nun »können sie sehen, was dabei herausgekommen ist«177. 177 Adler, 1941, S.100. Originalzitat aus dem Englischen.
62
Die Unfallneigung
Ein großer Teil dieser Gruppe, etwa ein Drittel, berichtete von Suizidgedanken in der Vorgeschichte. Adler verweist darauf, dass bei suizidalen Personen Rachegedanken häufig auftreten und der Suizid oft als ein Versuch, jemanden zu bestrafen, gewertet werden kann. Nach Adler ist in dieser Patientengruppe der Unfall quasi als Ersatz für den Suizid zu werten. Die zweite Gruppe, die »Pechvögel« berichteten übereinstimmend von Kindheit an Pech gehabt zu haben und zeigten eine große Erwartungshaltung gegenüber dem erneuten Auftreten eines Unfalls. In der dritten Gruppe zeigte sich der starke Wunsch nach Fürsorge durch andere. Sie berichteten von Verzärtelung in ihrer Kindheit und der Sehnsucht, dass diese Aufmerksamkeit weiter geführt werde. Es zeigte sich, dass diese Personengruppe die Versorgung nach dem Eintreten des Unfalls genoss und Adler schließt daraus auf einen hohen sekundären Krankheitsgewinn. Die Unfälle in der vierten Gruppe der überaus ambitionierten Arbeiter erklärt Adler damit, dass durch den Wunsch andere zu übertrumpfen, mangelnde Vorsicht bei der Arbeit einhergehen könnte. In der fünften Gruppe zeigten sich die Arbeiter besonders ängstlich in Hinblick auf das erneute Auftreten eines Unfalls, so dass dieser quasi zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wurde. Adler schließt ihren Artikel mit therapeutischen Überlegungen zu dieser Patientengruppe. Sie empfiehlt Psychotherapie sowie andere Arten der Einstellungsänderung aus dem Bereich der Arbeitssicherheit, abhängig von der individuellen Person. Sie gibt jedoch zu bedenken, dass bei den 130 von ihr untersuchten Arbeitern eine verbitterte und hoffnungslose Einstellung vorherrschte, die ihrer Einschätzung nach der tiefen Exploration bei einer Psychotherapie eher im Wege stehen würde.
4.5
Franz Alexander (1951): Unfallpersönlichkeit und das Motiv der Schuld
Der amerikanische Psychoanalytiker Franz Alexander (1891 – 1964) widmet der Unfallpersönlichkeit ein Kapitel in seinem Werk Psychosomatische Medizin178. Die Theorie der Unfallneigung beinhaltet nach Alexander eine Disposition des Opfers, welches in irgendeiner Form aktiven Anteil an der Unfallverursachung nimmt. Dies bestätige seiner Ansicht nach seine alltäglichen Beobachtungen. Die Ursachen für die meisten Unfälle sind demnach nicht oberflächliche sichtbare menschliche Eigenschaften, sondern entspringen aus der Gesamtstruktur 178 Alexander,1951.
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der Persönlichkeit. Alexander betont in Anlehnung an die statistischen Untersuchungen von Marbe (1926), dass wissenschaftlich bewiesen der »unfallanfällige Mensch« existiert. Weitergehend zitiert er Flanders Dunbar und die von ihr erarbeiteten Eigenschaften, welche die Unfallpersönlichkeit charakterisieren. Über Flanders Dunbars Beobachtungen hinausgehend beruft er sich zudem auf die psychoanalytische Einordnung dieses Phänomens. Besondere Bedeutung kommt nach dieser Sichtweise dem emotionalen Zustand des Menschen unmittelbar vor dem Unfall zu. Psychoanalytische Forschungen haben die Natur der unbewussten Motive klargelegt, die manche Menschen treiben, in einer Unfälle herausfordernden Weise zu handeln. Das verbreitetste Motiv findet sich in einem Schuldgefühl, von dem das Opfer sich durch selbst auferlegte Bestrafung zu entsühnen versucht. Der unbewusst herbeigeführte Unfall dient diesem Zweck.179
Alexander verweist darauf, dass in unserer Zivilisation derzeit die Einstellung, dass Schuld durch Leiden gesühnt werden kann, vorherrsche. Wenn ein Kind sich falsch verhalten hat, wird es bestraft. Das mit der Strafe einhergehende Leiden tilgt wiederum die Schuld und führt zum Wiedererwerb der Liebe der Eltern. Nach der psychoanalytischen Sichtweise spielt sich in der menschlichen Persönlichkeit dasselbe Prinzip ab. Der innere Richter fordert ein Leiden für die begangenen Übeltaten, dies führt zur Wiederherstellung des inneren Friedens. Nach Alexander ist das schon bei Flanders Dunbar beschriebene Konfliktpotential gegenüber Autoritäten vor diesem Hintergrund einzuordnen. Es handelt sich nach seiner Einschätzung also um eine sich erhaltende Kindheitsaufsässigkeit gegenüber Autoritäten. Diese geht mit der gleichzeitig auftretenden Schuldreaktion aufgrund von feindseligen Antrieben einher. Demnach zeichnen sich die Individuen durch einen unbewussten Selbstbestrafungsdrang aus. Das Motiv der Schuld, des Grolls und der Rache zeigen sich besonders in psychoanalytischen Fallbeispielen. Franz Alexander berichtet von einem Fall aus seiner Praxis. Er habe einen Mann mit schweren Depressionen behandelt, der von anhaltenden Konflikten mit seinem autoritären Vater berichtete, welcher seine Eheschließung mit einer Frau aus einer anderen gesellschaftlichen Schicht ablehnte. Alexander empfiehlt ihn an einen Kollegen weiter, da ihm die Familie des Patienten privat bekannt war. Auf dem Weg zu dem letzten Termin bei ihm, vor der Überweisung zum weiterbehandelnden Analytiker, wurde der Mann in der Nähe der Praxis von einem Auto überfahren. Alexander schildert eindringlich seinen darauf folgenden Besuch im Krankenhaus, in welchem er seinen Patienten äußerlich »wie eine Mumie bandagiert« aber in bester Stimmung vorfand. Der Patient begrüßte ihn überschwänglich mit den Worten »Jetzt 179 Alexander, 1985, S.166.
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habe ich für alles gezahlt«.180 Des Weiteren berichtete der Verunfallte in anhaltend guter Stimmung von einer Vielzahl von Plänen, allen voran dem Vorhaben sich seinem Vater entgegenzustellen. Alexander bewertet die Fallgeschichte so, dass der Patient sich durch den Unfall vom Druck des schlechten Gewissens befreit habe, welches aus seinen feindseligen Gefühlen gegen seine Familie herrührte. Erst nach dem Unfall war er bereit, seinen Ärger frei zu äußern. Die therapeutischen Konsequenzen, die Franz Alexander aus seinen Beobachtungen zieht, zielen auf das Konzept ab, dass die primären Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen auf die menschliche Persönlichkeit ausgerichtet werden müssen. Einerseits seien eine Wandlung der Persönlichkeit anzustreben und andererseits eine Überführung der entsprechenden gefährdeten Individuen in eine andere Beschäftigung, wo sie sich selbst und anderen weniger schaden können. Zur Exploration der Unfallpersönlichkeit empfiehlt Alexander das psychiatrische Interview, welches die gesamte Persönlichkeit des Menschen umfasst, da die Persönlichkeitsakzentuierung »nicht mit den gewöhnlichen Methoden psychologischer Tests aufgedeckt werden«181 könne. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Franz Alexander die Theorie der Unfallneigung und das Konzept der Unfallpersönlichkeit, wie sie von Flanders Dunbar beschrieben wurde, unterstützt. Er ergänzt das Konzept jedoch noch zusätzlich mit einigen psychoanalytischen Beobachtungen, allem voran dem unbewussten Motiv der Schuld und der Selbstbestrafung.
4.6
Medard Boss (1954): Bis ans Zerreißen gespannte Lebensstrukturen
Der Daseinsanalytiker Medard Boss (1903 – 1990) beginnt sein Kapitel über die unfallanfälligen Menschen mit einem Verweis auf die wirtschaftliche Bedeutung, die diesem Phänomen zukommt. Das Interesse der Versicherungsgesellschaften sowie die Bedeutung im Bereich der Arbeitsausfälle und Entschädigungszahlungen sind massiv. Er verweist darauf, dass in manchen Ländern Unfälle als Todesursache besonders bei Menschen im körperlich leistungsfähigsten Alter an der Spitze der Statistiken stehen und sogar die Zahlen der Verlustziffern von Weltkriegen übertreffen. Als Reaktion auf diese beeindruckenden Statistiken wurden vormals Verbesserungen an den technischen Schutzeinrichtungen vorgenommen. Die Erkenntnis, dass an der überwiegenden Zahl der Unfälle 180 Alexander, 1985, S.168. 181 Alexander, 1985, S.169.
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nicht die Maschinen und der Zufall Schuld trugen, sondern der verunglückte Mensch selbst, habe diese Sichtweise deutlich geändert. Weitergehend zitiert er Flanders Dunbar und ihre großflächige Studie derjenigen Personen, die als unfallanfällig beschrieben werden können. Die identifizierten Eigenschaften, die diesen Individuen nach Flanders Dunbar zugeschrieben werden, bestätigt er. Darüber hinaus berichtet er von den zusätzlichen Aspekten, die in Bezug auf die Lebensstruktur solcher Menschen in einer psychoanalytischen Behandlung identifiziert werden konnten. Als Fallvignetten führt Boss u. a. Frau R. U. an, die exemplarisch aus sechs unfallanfälligen Kranken, die in langjähriger psychoanalytischer Behandlung von ihm betreut wurden, von ihm zur genaueren Vorstellung ausgewählt wurde. Im Folgenden wird eine Begebenheit aus dem Leben der Patientin R. U. exemplarisch wiedergegeben. Die 23-Jährige Frau R. U. wird als eine Person mit einem intelligenten Verstand, aber einem grundsätzlich infantilen Wesen beschrieben, die unter anderen durch eine prüde mütterliche Erziehung noch nie eine gegengeschlechtliche Beziehung eingegangen sei. Allen gefährlichen Situationen, in denen sie sich in die leibliche Nähe eines jungen Mannes hätte begeben können, sei sie ausgewichen und habe ohne Schuldgefühle die jungen Männer sitzen gelassen und Reißaus genommen. Als sie sich schließlich ernsthaft auf eine Verabredung mit einem jungen Mann eingelassen hat, um eine gemeinsame Nacht zu verbringen, erlebt sie den Tag der Verabredung mit einer zappeligen Unruhe. Sie beschreibt die Situation als durch eine Stimmung »des bis zum Zerreißen Gespanntseins«182 gekennzeichnet. Zur eigentlichen Begegnung mit dem jungen Mann sei es nie gekommen, denn noch vor dem Treffen habe sie es zuwege gebracht, sich ein Bein zu brechen. Weitere Unfälle der Patientin, die sich in ähnlicher Stimmung zugetragen haben, werden von Boss geschildert. Die Erlebnisse von R. U. zeichnen sich besonders durch eine gespannte Stimmung aus. Sie brach sich diesmal »wirklich anstelle einer mitmenschlichen Beziehung, eines mitmenschlichen Versprechens ihre eigenleiblichen Knochen«.183 Weitergehend verweist Boss auf die Wirksamkeit der psychoanalytischen Behandlung. Diese führte zu einer entspannten Stimmung und Lebensart der behandelten Menschen. Die von ihm psychoanalytisch behandelte Frau R.U. habe seit einigen Jahren keine Unfälle mehr erlitten. Boss verweist ausgehend von den Beispielen darauf, dass Unfälle immer in Momenten einer schweren Konfliktsituation geschehen. In solchen Momenten, wenn einer angespannten zwischenmenschlichen Beziehung nicht entgangen werden kann. Es bleibt den entsprechenden Personen also kein anderer Ausweg, 182 Boss, 1954, S.130. 183 Boss, 1954, S.131.
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Die Unfallneigung
als durch unbewusste Fehlhandlungen ihre aggressiven Empfindungen auszuleben. Dabei zerbrechen dann diese Menschen oft genug an Stelle ihrer mitweltlichen ihre innerleiblichen Verbindungen, ihre eigenleiblichen Binde- und Stützgewebe.184
Wie auch Franz Alexander bestätigt auch Medard Boss die Theorie der unfallanfälligen Menschen und verweist auf Flanders Dunbar und ihre wissenschaftlichen Beobachtungen, besonders auf die charakterlichen Eigenschaften dieser Personengruppe. Er berichtet sehr anschaulich über einige Personen, die sich in langjähriger Psychoanalyse befinden. Sein Fazit ist, dass die unfallanfälligen Menschen die Unfälle als Ausweg aus ihren bis ans Zerreißen gespannten Lebensstrukturen benutzen.
4.7
Was geschah mit dem Konzept in den letzten 60 Jahren?
In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Flanders Dunbars Theorie der Unfallneigung und ihr spezifisches Persönlichkeitsprofil des Unfallmenschen eine allgemein anerkannte Theorie. Auch Thure von Uexküll verweist in seinen Grundfragen der psychosomatischen Medizin auf diese spezifischen Fehlleistungen des Menschen. Er schreibt: »Inzwischen haben sich die Erfahrungen, die Flanders Dunbar gegen ihre ursprüngliche Erwartung gemacht hat, immer wieder bestätigt.«185 Wie schon aufgezeigt, stimmten auch Alexandra Adler, Franz Alexander und Medard Boss mit diesem Konzept überein und entwickelten Ergänzungen in Hinblick auf die Psychogenese und die zugrunde liegenden Motive. Dennoch ist das Konzept der Unfallneigung im 21. Jahrhundert nahezu in Vergessenheit geraten. Schlägt man die klassischen diagnostischen Nachschlagewerke wie das DSM-IV oder das ICD-10 auf, wird man vergeblich nach einer »Unfallkrankheit« suchen. Davon ausgehend ist die Frage zu stellen, was mit dem Konzept der Unfallneigung in den letzten 60 Jahren geschehen ist. Die Unfallneigung ist ein Beispiel für eine Theorie, die nie erschöpfend verworfen wurde, sich jedoch auch nicht durchgesetzt hat. Nach anfänglicher Begeisterung in den 50er und 60er Jahren wurde hauptsächlich im Bereich der Psychosomatischen Medizin auf das Phänomen aufmerksam gemacht. Es wurde darauf hingewiesen, es sei wie ein Syndrom, auf welches praktische Ärzte achten sollten. Mit der Zeit wurden die Publikationen zu diesem Thema immer weniger. Außer gelegentlichen Versuchen, das Konzept der Unfallneigung mittels statis184 Boss, 1954, S.130. 185 Uexküll, 1963, S.53.
Was geschah mit dem Konzept in den letzten 60 Jahren?
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tischer Beweise zu belegen oder zu verwerfen, verschwand das Thema schleichend aus dem Feld der wissenschaftlichen Veröffentlichungen. In der empirischen Forschung versuchten Wissenschaftler mittels mathematisch-logistischer Modelle eine Unfallverteilung zu erstellen und die Tendenz zu wiederholten Unfällen in Zahlen und Korrelationen abzubilden. Im Jahre 2007 erschien eine umfassende Metaanalyse einer niederländischen Arbeitsgruppe um Ellen Visser, die empirische Artikeln zwischen 1966 und 2005 untersuchte. Diese schloss 79 statistische Artikel, die ihren Kriterien gerecht wurden, in ihre Meta-Analyse mit ein. Die Artikel beschrieben die Untersuchung der Anzahl der Unfälle und Verletzungen pro Individuum in verschiedenen Populationen. Visser und ihre Kollegen konnten aufzeigen, dass Unfälle in der Gesamtpopulation in Häufungen auftreten und dass diese Häufung nicht durch den Zufall allein erklärbar ist. Sie konnten also statistisch nachweisen, dass eine Unfallhäufung bei bestimmten Individuen vorliegt. Obwohl die Häufung von Personen mit wiederholten Unfällen demnach belegt ist, ist es auf statistischer Basis nicht möglich, eine Vorhersage zu machen, welche Individuen Unfälle erleiden werden.186 Dies war bereits in den 1970er Jahren bekannt und scheint ebenfalls zum schwindenden Interesse in der wissenschaftlichen Welt beigetragen zu haben. Burnham beschäftigt sich in einem aktuellen Artikel von 2008 mit der Frage, warum die Theorie für Psychiater nicht interessant wurde. Er kommt zu dem Schluss, dass eine bedeutsame Schwierigkeit darin liegt, ein solches Syndrom psychiatrisch einzuordnen, denn es besteht aus einer Aneinanderreihung von Geschehnissen über einen gewissen Zeitraum. Diese Neigung lässt sich zwar in einem psychiatrischen Interview erheben, jedoch nicht zwangsläufig in einem klinischen Setting beobachten und somit auch nicht medikamentös behandeln. Das Konzept der Unfallneigung passt demnach einfach nicht in psychiatrische Kategorien. Dazu kommt die Frage des therapeutischen Vorgehens. Flanders Dunbar verwies bereits auf die Schwierigkeit, diese Personengruppe psychotherapeutisch zu behandeln. Personen mit einer Unfallneigung zeigen nach ihrer Erfahrung kein Interesse mehr an einer therapeutischen Intervention sobald die Fraktur verheilt ist. Die Unfallkrankheit ist also eine Krankheit, die sich nicht stationär in entsprechenden Einrichtungen, nicht medikamentös und aufgrund der fehlenden Veränderungsmotivation auch nur schwer psychotherapeutisch behandeln lässt. Der Bereich, in dem das Interesse für das Konzept einer vermehrten Neigung zu Unfällen noch deutlich länger Anklang fand, ist das der Arbeitssicherheit und der Industriepsychologie. In diesem Feld herrschte jedoch die Prämisse, dass Fehlerquellen in der Umwelt schneller korrigiert werden können als Persön186 Burnham, 2008.
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Die Unfallneigung
lichkeitsfaktoren. Als Reaktion auf diese Vorannahme entwarfen Techniker verstärkte Sicherheitsvorkehrungen, um den »menschlichen Faktor« bei Unfällen möglichst gering zu halten. Die steigenden Sicherheitsvorkehrungen und doppelten Absicherungen sollen dazu dienen, dass auch Unfallmenschen weniger Unfälle verursachen und dazu den sachbezogenen und monetären Schaden einzudämmen. Kurz, sie verringerten die Bedeutung dieser Personengruppe als »kollektives soziales Problem«.187 Als Fazit lässt sich festhalten, dass die ursprüngliche Bedeutung der Theorie der Unfallneigung und Flanders Dunbars Unfallpersönlichkeit mit der Zeit abgenommen hat. Sie wurde nie erschöpfend widerlegt, da sie aber kaum Möglichkeiten für Interventionen bietet, hat das Interesse der Forschungsgemeinschaft abgenommen und platziert das Konzept mittlerweile als eine interessante historische Theorie, die jedoch in der Regel bei alltäglichen diagnostischen und therapeutischen Fragen nicht konsultiert wird.
4.8
Kritische Würdigung
»Der Prototyp des landesüblichen Unfalls ist der Ziegelstein, der vom Dache fällt.«188
Neben dieser grundlegenden Einschätzung eines Unfalls in der Bevölkerung wird auch im Sprachgebrauch die allgemeine Sichtweise von Unfallgeschehnissen deutlich. Wir sprechen davon, dass jemanden ein Unfall »zugestoßen« ist; man kann einen Unfall »erleiden« oder in ihn »verwickelt« sein. All dies verweist auf ein Konzept, dass ein Unfall etwas ausschließlich Zufälliges ist. Die Theorie der Unfallneigung rüttelt an dieser allgemeinen Prämisse, indem sie besagt, dass die Gemütsbeschaffung der verunfallten Person an dem Geschehnis selbst beteiligt ist. Flanders Dunbar geht in ihrer Theorie noch einen Schritt weiter und verweist nicht nur auf den Einfluss bei einem Geschehnis, sondern zeigt auf, dass es bestimmte Menschen gibt, denen wiederholt in allen Lebensbereichen Unfälle passieren. Relevanz behält diese Theorie vor allem hinsichtlich der Betrachtungsweise, dass es sich bei den Personen mit gehäuften Unfällen nicht um Menschen mit stabilen und nicht veränderlichen Persönlichkeitseigenschaften handelt, sondern dass ein zentraler Konflikt als Auslöser vor einem und vor wiederholten Unfällen zugrunde liegt. Das Interesse, das dieses Konzept hervorruft, liegt unter anderem in der Faszination der Vorstellung, ein tiefes Verständnis der psychologischen Prozesse, die dem »menschlichen Fehler« zugrunde liegen, entwickeln zu können. 187 Burnham, 2008, S.267. 188 Rattner, 1963, S.325.
Kritische Würdigung
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Die Theorie, dass anstelle externaler Faktoren bei Unfällen auch personale Faktoren eine große Rolle spielen, birgt jedoch auch soziale Gefahren. Im Rückblick auf die düsteren Zeiten der industriellen Revolution findet sich ein Kapitel der Menschheitsgeschichte, in welchem sich Verkrüppelungen und tödliche Unfälle von Tausenden von Arbeitern wiederfinden, die ungeschützten Maschinen und hoch gefährlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren. Heutzutage stellt die Tatsache, dass die Gesetzgebung für Arbeiter die Verantwortung für Unfälle am Arbeitsplatz übernommen hat, eine bedeutende Sicherheit für die entsprechenden Personen dar. Daher ist ein häufig genannter Kritikpunkt des Konzeptes auch die angebliche Schuldzuschreibung eines Unfalls auf das Individuum, anstelle der ihn umgebenden Arbeitsstätte und der entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen. Dies ist jedoch nicht im Sinne von Flanders Dunbars Theorie zu verstehen. Ihr Konzept beinhaltet mehr als nur eine vermeintliche Schuldzuweisung. Es ist nicht der Versuch, den Menschen für sein unbewusstes Handeln verantwortlich zu machen. Auch kann das Geschehen eines Unfalls nicht durch einen monokausalen Einfluss erklärt werden. Schon Marbe schilderte den Versuch, die menschlichen Faktoren der Unfallneigung begrifflich als unbekannten personalen Faktor im Unfallgeschehen, sozusagen als X-Faktor in der Persönlichkeit eines Menschen, darzustellen.189 Die Begrifflichkeit X-Faktor verdeutlicht zutreffender Weise, dass sie nur einen von vielen Faktoren darstellt und neben dem Anteil des Zufalls auch andere Unbekannte anzusiedeln sind. Weiterhin ist zu beachten, dass bei genauer Betrachtung derjenigen Patienten, die sich wiederholt nach Unfällen in Rettungsstellen einfinden, auch differentialdiagnostisch ausführlich vorgegangen werden muss. Außer Acht gelassen werden müssen Personen, bei denen biologische Faktoren wie der Einfluss von Alkohol und Drogen, Beeinträchtigungen in Sicht, Gehör oder andere zugrunde liegende organische Erkrankungen, wie beispielsweise Osteoporose, vorrangig zum Unfallgeschehen beitragen. Abzugrenzen ist dieses Leiden auch von misshandelten Personen, die sich aufgrund von »Stürzen« durch Fremdeinwirkung wiederholt in Rettungsstellen einfinden und auch von Patienten mit artifizieller Störung oder Münchhausen-Syndrom. Der Unterschied zu letzterer Patientengruppe ist unter anderem anhand des Grades des bewussten Vorgehens zu erklären. Nach Flanders Dunbar sind die zugrunde liegenden Konflikte bei den Unfallpersönlichkeiten unbewusst, während Personen mit artifiziellen Störungen ihren Körper und ihre »Erkrankungen« instrumentalisieren, um das Gewünschte, beispielsweise Aufmerksamkeit und Zuwendung durch medizinische Versorgung zu erhalten. Die Idee, dass auch bei scheinbar eindeutig somatischen Erkrankungen wie 189 Marbe, 1926.
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Die Unfallneigung
Frakturen eine psychosomatische Sichtweise anzuwenden ist, ist ein Konzept, welches heute noch genauso aktuell ist wie vor 60 Jahren. Daraus erwächst die These, dass es keine klar abzugrenzenden psychischen Erkrankungen gibt, die den rein somatischen gegenüber zustellen sind, sondern vielmehr dass die Psychosomatik eine Grundeinstellung der behandelnden Mediziner darstellt. Sie ist eine grundsätzliche Herangehensweise an den Patienten, der als Leib-Seele Einheit verstanden wird, ein Herangehen im Sinne des bio-psycho-sozialen Modells.
4.9
Strukturmodell der Unfallneigung
Das Konzept der Unfallneigung beinhaltet viele verschiedene charakteristische Aspekte. Um diesen gerecht zu werden, bietet sich das folgende Modell an, in dem zehn zentrale Strukturelemente dargestellt werden. Die Unfallneigung kann man unterschiedlich auffassen. Sie kann situations- oder persönlichkeitsbedingt sein. Einerseits beinhaltet das Konzept eine Unfallneigung, die auf einen spezifischen Unfall angewendet werden kann. Dies betrifft jeden Menschen zu einem Zeitpunkt seines Lebens. Andererseits gibt es laut Flanders Dunbar eine Unfallpersönlichkeit, die das Lebensmuster einer Personengruppe mit relativ stabilen Eigenschaften darstellt. Das folgende Strukturmodell beschreibt nicht die Unfallpersönlichkeit, sondern allgemein Menschen, deren Unfallneigung auch nur auf eine spezifische Unfallsituation angewandt werden kann. Sie können also einen oder mehrere Unfälle haben, ohne eine Unfallpersönlichkeit im Sinne von Flanders Dunbar zu sein. Die zehn Charakteristika sind nur künstlich voneinander getrennt. Es handelt sich dabei nicht um einzelne voneinander unabhängige Elemente, sondern um ein verknüpftes Netz von zusammenhängenden Aspekten. Angst oder Aggressionen entstehen beispielsweise durch Konflikte mit Autoritäten, diese führen wiederum zu einem Selbstbestrafungsdrang. Die enge Verknüpfung zeigt sich auch in den dargelegten Fallbeispielen. Anhand der meisten Fallbeispiele könnte man alle zehn Punkte ausführen. Im Hinblick auf die Anschaulichkeit erfolgte jedoch eine Kürzung der Fallbeispiele, um den jeweiligen Aspekt hervorzuheben. Ein wichtiger Aspekt der Unfallneigung ist die Aggression. Der Unfall ereignet sich zumeist in einer emotionalen Krisensituation, die von Ressentiment, Rache, Trotz oder Wut gekennzeichnet ist. Flanders Dunbar charakterisierte Personen mit Unfallneigung dadurch, dass sie zumeist ihren Ärger nicht ausagieren, sondern unterdrücken. Die Tendenz Konflikte, beispielsweise mit Autoritäten, nicht offen auszutragen, führt dann dazu, dass sich über lange Zeit Anspannung, Ärger und Groll aufstauen. In der Situation vor dem Unfall findet häufig eine neuerliche Kränkung statt, so dass die entsprechenden Personen unter großem
Strukturmodell der Unfallneigung
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Abbildung 3: Strukturmodell der Unfallneigung. [Peetz, 2012]
inneren Druck stehen, auf den sie mit einer unüberlegten Handlung reagieren, die dann häufig zu einem Unfall führt, in welchem sie sich und andere Menschen verletzen. Auch Medard Boss verweist darauf, dass die übermäßig angespannte Psyche über den Umweg des Unfalls Muskeln und Knochen zerreißt und dadurch unterdrückte Aggressionen freisetzt. Flanders Dunbar stellt einen Vergleich von Persönlichkeitseigenschaften der »Unfallmenschen« mit der Bevölkerungsgruppe der Missetäter auf. Nach ähnlicher Entwicklung in Kindheit und Jugend entwickeln sich beide Personengruppen jedoch in unterschiedliche Richtungen: Die eine Personengruppe richtet ihre Aggressionen gegen die Gemeinschaft und beginnt gegen das Gesetz zu verstoßen, während die Unfallsüchtigen die Aggressionen gegen sich selbst richten. Hervorzuheben ist, dass die unterdrückten Aggressionen, die durch den Unfall plötzlich freigesetzt werden, sich nicht nur gegen den Unfaller selbst richten. Gelegentlich werden auch andere Menschen mit verletzt. Zudem erleiden sekundär auch die Arbeitgeber, Sozialversicherungsträger, die Familie und Partner häufig Nachteile und finanzielle Verluste. Durch den Unfall kann so unbewusst ein subtiler Protest gelebt und eine Rache ausgetragen werden, ohne dass die entsprechende Person zur Rechenschaft gezogen werden kann, denn er ist ja »verunglückt«.
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Die Unfallneigung
Ein Jugendlicher fuhr mit seiner Mutter zum Einkaufen. Dabei sprach er die Bitte aus, dass er den Wagen am kommenden Tag erneut ausleihen dürfe, um mit Freunden zum Angeln zu gehen. Als die Mutter der Bitte ablehnte, wandte er sich ärgerlich um und trat dabei »versehentlich« auf den Gashebel, so dass der Wagen in den Straßengraben stürzte, wobei er selbst und seine Mutter verletzt wurden.190
Oftmals geht mit dem Unfall auch ein hoher sekundärer Krankheitsgewinn einher. Alexandra Adler identifizierte in ihrer Studie eine Untergruppe von Personen, die einen starken Wunsch nach Fürsorge durch Andere äußerten. Diese Personen berichteten von Aufmerksamkeit und Fürsorge durch Andere in ihrer Kindheit und der Sehnsucht, dass diese Verzärtelung weiter geführt werde. Es zeigte sich, dass diese Personengruppe die Versorgung nach dem Eintreten des Unfalls genoss. Auch Flanders Dunbar fiel bei ihrer Studie eine Tendenz zur Übertreibung der Geschehnisse des Unfalls auf. Sie deutete diese Tendenz als einen Versuch, den Krankheitsgewinn in Form von Zuwendung zu verstärken und aufrecht zu erhalten. Neben der sozialen Komponente erfolgt Krankheitsgewinn auch häufig in der Vermeidung von unangenehmen Situationen. So erspart der Unfall den entsprechenden Personen oft für den Augenblick eine unerfreuliche Auseinandersetzung mit ihren Konflikten. Es findet eine Flucht in die Krankheit statt, so dass die Unfaller für den Moment ihren Lebensschwierigkeiten entrinnen. Josef Rattner schreibt dazu treffend: »In psychisch ausweglosen Lagen steigern sich seine Unruhe und Aggressionsbereitschaft, bis sie ihn mit Hilfe des Unfalls in die Flucht des Spitals führen, wo er aller Entscheidungen und Verantwortungen enthoben ist.«191 Auch Karl Marbe erwähnte den hohen Krankheitsgewinn der Unfaller, so dass er den Versicherungen eine Abstufung der Prämien unter Berücksichtigung der erlittenen Unfälle nahe legte, um so die Unfallbereitschaft zu verringern, indem der sekundäre Krankheitsgewinn verringert wird. Ein verheirateter 31 Jahre alter Mann wurde mit einer Tibiakopffraktur ins Krankenhaus eingeliefert. Zunächst gab er an, auf dem Weg zur Arbeit auf dem Eis ausgerutscht zu sein. Später revidierte er seine Aussage insofern, als dass er angab, seit einem Jahr ohne Arbeit zu sein und den Unfall auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch erlitten habe. Er berichtete, dass er seiner Ehefrau bisher die Arbeitslosigkeit verheimlicht habe. Generell sei er unsicher bei Vorstellungsgesprächen. An diesem Tag sei er jedoch besonders ängstlich gewesen, da er vermutete, dass er nach einem erneuten Misserfolg seiner Ehefrau seine Arbeitslosigkeit nicht länger würde verheimlichen können. Er sagte im Krankenhaus: »Das einzig Gute an meinem Unfall ist, dass es mich davon abhält, meiner Ehefrau zu gestehen, dass ich keinen Job habe.192
190 Alexander, 1985, S.166. 191 Rattner, 1963, S.328. 192 Dunbar, 1948c, S. 382 – 383.
Strukturmodell der Unfallneigung
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Oftmals zeigt sich bei dem Unfaller auch eine Größenidee. Der Unfall geschieht in einem Moment der Selbstüberschätzung, in dem die eigene Stärke, Grandiosität und Überlegenheit überschätzt werden. Dies zeigt sich beispielsweise an dem Missachten von Sicherheitshinweisen und dem Durchführen von riskanten Vorhaben. Darin zeigt sich auch eine Tendenz, die Realität mit ihren Grenzen und die Verwundbarkeit des eigenen Selbst nicht anzuerkennen. Ein 17-Jähriger Junge kam mit einem Knöchelbruch ins Krankenhaus, den er sich bei einem Basketballturnier zugezogen hatte. Bei genauerer Befragung stellte sich heraus, dass er sich in seinem Leben bereits sieben ernstere und eine Unzahl kleinerer Verletzungen zugezogen hatte – nicht alle davon beim Sport. Er berichtete, dass er den Unfall erlitten habe, da seine Mannschaft weit zurückgelegen habe und er mit besonderen Anstrengungen versuchte, Punkte zu erzielen. Weiterhin berichtete er, dass sein Hauptinteresse der Sport sei und er immer gern Fußball und Basketball gespielt habe, auch gern mit größeren Jungs. Er sei klein für sein Alter, und sei beim Sport immer dafür, dass es hart genug hergehe und spiele oft in einer draufgängerischen Art. Am Tag des Unfalls habe er sich zudem sehr über seine Mutter geärgert, da er wegen häufigem Stubenarrest nicht regelmäßig zu seinem Basketballtraining habe gehen können und ihr Mitschuld am Verlieren seines Teams gab.193
Personen, denen ein Unfall geschieht, nehmen sich oft als »Pechvogel« wahr. Der Begriff wurde im Hinblick auf die mittelalterliche Vogeljagd geprägt, bei der Äste mit Pech bestrichen wurden, damit Vögel darauf kleben bleiben. So wurde der Pechvogel zum Symbol für jemanden, der ein Missgeschick erleidet. Alexandra Adler verwies schon in ihrer Studie auf eine Untergruppe der Pechvögel. Diese Personen berichteten übereinstimmend, von Kindheit an Pech gehabt zu haben und zeigten eine große Erwartungshaltung gegenüber dem erneuten Auftreten eines Unfalls. Ist jemand in der eigenen Wahrnehmung ein Pechvogel, das heißt eine Person, der ohne ihr Zutun etwas Schlimmes widerfährt, ist damit eine bestimmte Weltsicht impliziert. Sie beinhaltet den Glauben an eine Macht außerhalb des eigenen Wirkungskreises, den Glauben an ein Schicksal. Dieser Glaube weist auch auf eine stabile Rollenzuschreibung hin: Einem Pechvogel stoßen wiederholt Unglücksfälle zu, ohne dass er dies je beeinflussen könnte. Dieser Mensch ist kein Subjekt mehr, sondern fühlt sich als Objekt. Flanders Dunbar notierte typische Äußerungen der Personen mit Unfallneigung, in denen sich diese Weltsicht niederschlägt: Warum passiert das mir? Ich vermute meine Zeit war gekommen, da mir vorher nie etwas zugestoßen ist.
193 Dunbar, 1951, S. 93 – 94.
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Die Unfallneigung
Wenn ich nur nicht an diesem Tag dorthin gegangen wäre, dann würde ich heute hier nicht liegen. Das wird mir eine Lehre sein. Manchmal benötigt man zwei Anläufe um eine Lehre zu verinnerlichen. Ich fühle mich, als ob mir jemand etwas Schlechtes gewünscht hat.194
Die Situation, in welcher sich ein Unfall zuträgt, ist häufig von Unkonzentriertheit geprägt. Die Konzentration, das heißt die willentliche Fokussierung der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Tätigkeit, gelingt dann nicht. Flanders Dunbar beschreibt Personen mit Unfallneigung durch eine Tendenz zur Entschlussfreudigkeit und gelegentlich infantilen Verhalten. Diese Personen sind schnell von Entschluss, spontan, teilweise impulsiv und voller Aktivität. Auch Rattner verweist darauf, dass sich diese Personen durch »Unbesonnenheit und Ungestüm«195 auszeichnen. Die Unkonzentriertheit erklärt sich zum Teil auch daraus, dass die Personen in der Stichprobe von Flanders Dunbar häufig berichteten, einen Beruf auszuüben, der sie nicht ausfülle. Bei solch einer Tätigkeit liegt es nahe, dass die Konzentration nicht vollständig auf die gerade auszuübende Tätigkeit gerichtet ist. Zudem tragen sich die Unfälle häufig in einfachen Situationen196 zu, bei welchen ein Abschweifen der Aufmerksamkeit nachvollziehbar erscheint. Wichtig ist noch hervorzuheben, dass es sich bei der Unfallneigung nicht um Ungeschicklichkeit per se handelt. Flanders Dunbar verweist darauf, dass die Sinnesfähigkeit und motorische Gewandtheit der Personen mit Unfallneigung nicht schlechter als im Durchschnitt sind. Personen, die ungeschickt sind, verletzen sich oftmals nicht. Sie können ihr Leben lang durch die Welt stolpern, Dinge zerbrechen und überall anstoßen, ohne sich jemals eine ernsthafte Verletzung zuzuziehen. Personen mit Unfallneigung ziehen sich dagegen bei scheinbar lapidaren Umständen schwerwiegende Verletzungen zu. Flanders Dunbar identifizierte typische Bemerkungen der Personen mit Unfallneigung: Ich bin immer gern beschäftigt und kann es nicht leiden, wenn man untätig herumsteht. Abenteuer und Aufregung liegen mir. Wenn ich erst weiß, wie ich eine Sache anfassen muss, bleibe ich auch dabei; und wenn nicht, dann versuche ich’s aufs Geratewohl und lasse es drauf ankommen. Ich führe das, was ich gerade tue, gern zu Ende, doch manchmal fällt mir etwas anderes ein, was ich lieber zuerst tun möchte; und dann springe ich auf und tue es.
194 Dunbar, 1948c, S.221. 195 Rattner, 1963, S.327. 196 Nach Flanders Dunbar »silly ways«.
Strukturmodell der Unfallneigung
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Ich habe es immer eilig, auch wenn ich viel Zeit habe.197 Herumsitzen würde mich wahnsinnig machen. Nichts ist schwieriger für mich, als da zu sitzen, ohne etwas zu tun. So bin ich, erst handeln und danach denken.198
Ein Aspekt, der ebenfalls mitbeachtet werden muss, ist die Angst vor einem Unfall. Nach Flanders Dunbars Erkenntnissen bezüglich der Personen mit Unfallneigung sind diese keine ängstlichen Menschen. Im Gegenteil zeigte sich eher draufgängerisches Verhalten. Alexandra Adler verwies jedoch auf eine Untergruppe von Personen in ihrer Stichprobe, deren Angst vor einem Unfall diesen mitbedingte. In dieser Untergruppe zeigten sich die Arbeiter besonders ängstlich in Hinblick auf das erneute Auftreten eines Unfalls, so dass dieser quasi zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wurde. Flanders Dunbar beschrieb in ihrem Werk zudem das Konzept eines »exposure factor«, das heißt sie identifizierte häufig Familienmitglieder und enge Freunde im Umfeld der Personen mit Unfallneigung, denen ebenfalls gehäuft Unfälle zustießen. Auch die eigene Erwartung im Sinne einer Selbsteinschätzung als »Pechvogel« stellt eine gewisse Bereitschaft gegenüber einem neuerlichen Unfall her. Diese Bereitschaft könnte sich in motorischer Unsicherheit und körperlicher Anspannung niederschlagen, welche wiederum Unfälle begünstigen. Ein Polizist, 38 Jahre alt, wurde mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus behandelt. Der Unfall trug sich an derselben Stelle zu, an der ein Kollege von ihm in der Woche zuvor auf dem Eis gestürzt war. Der Patient sei an dieser Stelle besonders vorsichtig gelaufen, da er an diesen Unfall gedacht habe, der dem Kollegen an der gleichen Stelle geschehen war.199
Oftmals zeigte sich eine unbewusste Tendenz zur Selbstbestrafung durch den Unfall. Viele Personen deuten in der nachträglichen Bewertung den Unfall als Sühne, Buße, Strafe oder göttliche Rache. Sie verweisen dann auf ihre gebrochenen Gliedmaßen als Bestrafung für ein Vergehen oder eine Auflehnung gegen eine Autorität und nicht als etwas, das sie sich selbst zugefügt haben. Im Gespräch mit Personen mit Unfallneigung konnte Flanders Dunbar zudem oft ausgeprägte unterdrückte Schuldgefühle identifizieren, die dann mit dem Unfall teilweise gesühnt wurden. Vor allem der orthodox-psychoanalytische Ansatz der Unfallneigung stellt das Schuldgefühl in den Vordergrund. Franz Alexander verweist auf das in unserer Zivilisation vorherrschende Konzept Schuld durch Leiden zu tilgen. Bei Personen mit Unfallneigung fordert quasi ein innerer Richter Leiden für begangene Übeltaten, die sich in einem Unfall und den damit 197 Dunbar, 1951, S.87; S.91. 198 Dunbar, 1948c, S.218; S.197. 199 Dunbar, 1948c, S.181.
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Die Unfallneigung
einhergehenden Verletzungen manifestieren. Beim Vorliegen eines so ausgeprägten Schuldgefühls bei diesen Personen liegt es nahe, dass Handlungen oder Phantasien vorliegen müssen, die solch ein Gefühl hervorrufen. Zu vermuten wären Phantasien mit sexuellen oder aggressiven Inhalten. Auch die unterschwelligen Konflikte mit Autoritäten und die feindseligen Antriebe diesen gegenüber können zu den Schuldgefühlen und damit zum unbewussten Selbstbestrafungsdrang führen. Eine Frau wurde auf dem Nachhauseweg von der Arbeit beim Überqueren einer Straße angefahren. Sie war streng erzogene Katholikin und befand sich zum Zeitpunkt des Unfalls genau ihrer Kirche gegenüber und es bedrückte sie, dass sie am Morgen keine Zeit gefunden hatte hinein zu gehen, wie sie es sonst immer tat, um ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken. Der Unfall erschien ihr wie eine göttliche Strafe und sie war voll Reue ob ihres Versäumnisses.200
Weiterhin zeigen sich bei den Personen mit Unfallneigung eine Betonung des Lustprinzips und eine Vernachlässigung des Realitätsprinzips. Flanders Dunbar fand bei genauer Befragung der Unfallpersonen gewisse übereinstimmende Eigenschaften. Vordergründig zeigten diese Menschen eine starke Entschlussfreudigkeit, und zwar so sehr, dass der Eindruck der Triebhaftigkeit entstand. Die meisten zeigten eine Vorliebe für schnell zu erreichende Werte, anstatt lange vorauszuplanen. Zudem gaben sie konkreten Erfahrungen den Vorzug vor intellektuellen Werten. Außerdem zeigten sie häufig in Fragen bezüglich Sexualität und Partnerschaft eine verhältnismäßig leichtfertige Haltung, die Flanders Dunbar mit dem Begriff »Lebemannallüren« umschrieb. Durch das Ausleben der Triebe und der instinktiven Bedürfnisse zeigt sich der Versuch Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden. Nach Sigmund Freud zeigt sich darin das Bedürfnis des Es, das heißt des Unbewussten in der menschlichen Psyche, welches nach der sofortigen Befriedigung der Triebe und Bedürfnisse strebt, um Unlust-Gefühlen auszuweichen. Oftmals geht dem Unfall eine Situation voraus, in der das Anerkennen der Realität nicht länger vermieden werden kann und die sofortige Bedürfnisbefriedigung unmöglich wird. Ein 20-Jähriges Mädchen wurde wegen Verletzungen des linken Armes im Krankenhaus behandelt. Der Arm war in der Fabrik, in der sie arbeitete, in eine Maschine geraten und dabei gebrochen und verstümmelt worden. Über ihr persönliches Leben berichtete sie, dass sie eine strenge Erziehung genossen habe und katholisch erzogen wurde. Weiterhin berichtete sie, dass sie viele Freunde habe und oft ausgehe. Sie sei nicht gern allein und lege viel Wert auf unmittelbar zu erreichende Wünsche und schätze greifbare Augenblickserlebnisse wie Schwimmen, Tennis, Reiten und pflege keine geistigen Interessen. Ihr entschlossenes pseudo-impulsive Verhalten zeigt der Ausspruch: »Ich bin ziemlich schnell von Entschluss. Andere Leute würden Angst 200 Dunbar, 1951, S.92.
Strukturmodell der Unfallneigung
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haben, sich operieren zu lassen, aber ich habe mich dazu im Nu entschlossen. Genauso ist es wenn ich ausgehe.« Der Unfall ereignete sich an einem Tag, an dem sie nach einem vergnüglichen Wochenende zur Arbeit erschien. Sie mochte die Arbeit an der Maschine nicht, und man hatte ihr den Wechsel zu einer leichten Büroarbeit versprochen, welche sie freudig stimmte. Als ein anderes Mädchen an der Maschine an diesem Morgen ohnmächtig wurde, sprang sie für diese ein. Wenig später geriet ihr Handschuh in die Maschine und zog den ganzen Unterarm mit hinein.201
Der zentrale Konflikt, der sich bei Personen mit Unfallneigung findet, ist ein Konflikt mit Autoritäten. Personen mit Unfallneigung sind oft von einer außerordentlich starken und oft unbewussten Abneigung gegen jede Autorität gekennzeichnet. Sie bezeichnen überdurchschnittlich oft ihre Erziehung als streng und berichten von Schlägen in der Kindheit oder ungewöhnlich harten Bestrafungen. Eine hohe Prozentzahl der Personen in Flanders Dunbars Stichprobe berichtete von einer strengen religiösen Erziehung. 53 % der Personen waren römisch-katholisch, 17 % jüdisch und 20 % protestantisch. Nur 10 % der Personen in der Stichprobe berichteten, dass Religion für sie kein wichtiger Bestandteil des Lebens darstellte. Oft war ihr ganzes Leben von Konflikten mit Autoritäten gekennzeichnet. Zu Beginn häufig mit den Eltern oder Stiefeltern, dann in der Schule, in Kirche und Berufsumfeld und später mit dem Ehepartner. Die charakteristische Reaktion auf diese Konflikte ist oft das Streben nach Unabhängigkeit, und Autonomie außerhalb autoritärer Beziehungen. Dazu treten häufig Schuldgefühle wegen des Widerstandes gegenüber den Autoritäten auf. In charakteristischer Weise werden die Konflikte heruntergespielt und vermieden und die offene Austragung der Konflikte findet nicht statt. Anstelle dessen pflegen sie einen unterschwelligen Groll über lange Zeit. Sie kommen dadurch scheinbar gut mit Autoritäten zurecht, da ihre Abwehr die meiste Zeit gut funktioniert. Wenn jedoch Situationen eintreten, in denen die unbewusst schwelenden Konflikte mit der Autorität unausweichlich werden, geschieht häufig ein Unfall und der Auseinandersetzung kann zumindest für den Moment entgangen werden. Die Bedingungen kurz vor dem Unfall sind daher oft geprägt von einem großem Druck durch eine Autorität. Franz Alexander äußerte sich dazu: »Der Mensch mit Unfallneigung ist seinem Wesen nach ein Rebell; er kann nicht einmal Selbstbeherrschung ertragen. Er rebelliert nicht nur gegen äußere Autoritäten, sondern auch gegen die Macht seiner eigenen Vernunft und Selbstbeherrschung.«202 Ein unverheirateter 34-Jähriger Mann fand sich mit einer Fraktur der Wirbelsäule im Krankenhaus wieder. Er hatte an einem hohen Gebäude gearbeitet, von welchem ein Seil bis nach unten führte. Der Chef verbot allen Arbeitern am Seil nach unten zu 201 Dunbar, 1951, S. 88 – 89. 202 Rattner, 1963, S.237.
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Die Unfallneigung
klettern. Der Arbeiter kletterte das Seil hinab, denn er »habe es ihm zeigen wollen, dass er sich nicht herumkommandieren lasse«, sei jedoch auf halber Strecke zum Boden abgestürzt.203
Dem Unfall liegt häufig ein Gefühl der Ambivalenz zugrunde. Die Ausgangssituation vor einem Unfall ist häufig von dem gleichzeitigen Wunsch nach Annäherung und Vermeidung gekennzeichnet. Medard Boss verweist ebenfalls darauf, dass Unfälle immer in Momenten einer Konfliktsituation oder Notlage, zumindest im Erleben der Person, geschehen. In solchen Momenten kann dann häufig einer angespannten zwischenmenschlichen Situation nicht entgangen werden. Die Personen wollen beispielsweise gleichzeitig hingehen und fernbleiben. Das Nebeneinander gegensätzlicher Gefühle, Gedanken und Wünsche hemmt letztlich die Fähigkeit zu einer Entscheidung und lähmt die Handlung, so dass den entsprechenden Personen oft kein anderer Ausweg bleibt, als durch unbewusste Fehlhandlungen eine Entscheidung zu vermeiden. Diese Ambivalenz schlägt sich auch im Körper nieder. Die vom Zentralnervensystem kontrollierten bewussten Bewegungen des Körpers werden durch Muskeln ausgeübt, die als Gegenspieler aufeinander abgestimmt sind. Der Antagonist und der Agonist arbeiten in wechselnder Kontraktion der Muskeln zusammen. Jedoch arbeiten die beiden nach dem Gegenspielerprinzip, beispielsweise ist es nicht möglich gleichzeitig Beuge- und Streckmuskel zu aktivieren. Wenn nun ein Ambivalenzkonflikt vorliegt und eine Person sowohl zur Kaffeetafel der strengen Schwiegermutter gehen möchte, aber gleichzeitig dieser gerne fernbleiben möchte, schlägt sich dieser Konflikt auch auf die muskuläre Aktivierung nieder, das heißt die Person stolpert, da sie nicht gleichzeitig vorwärts und zurück gehen kann. Ein 17-Jähriges Mädchen fiel vom Schlitten und verletzte sich. Sie machte sich beim Schlittenfahren Gedanken darüber, dass sie überhaupt nicht hätte draußen sein sollte, da ihre Eltern ihr das ausdrücklich verboten hatten. Zwei Jahre zuvor hatte sie sich bei einem ähnlichen Unterfangen den Fuß verknackst.204
203 Dunbar, 1948c, S.200. 204 Dunbar, 1951, S.92.
5 Persönlichkeitsprofile
5.1
Flanders Dunbars Persönlichkeitstypen
Eine der bekanntesten und auch umstrittensten Theorien von Flanders Dunbar ist die Theorie der Persönlichkeitsprofile, die sie 1935 im Zuge ihrer großflächigen Studie in allgemeinen Krankenhäusern ausführlich beschreibt und in beinahe all ihren späteren Werken erneut aufgreift und verfeinert. Flanders Dunbar verweist auf ihre Beobachtung, dass Personen, die an einem bestimmten Syndrom erkrankt sind, einander mehr ähneln, als Menschen, die an einem anderen Syndrom erkrankt sind oder Menschen die gesund sind.205 Von dieser Überlegung ausgehend versuchte sie, die für eine bestimmte Art der Erkrankung spezifischen Persönlichkeitseigenschaften zu identifizieren. Flanders Dunbars Tochter, Marcia Dobson, berichtete von einem Spiel aus ihrer Kindheit. Immer wenn Mutter und Tochter zusammen in einem Restaurant essen waren, pflegte Marcia ihre Mutter zu fragen, woran die Menschen um sie herum sterben würden. Flanders Dunbar sagte dann nach Blickdiagnose mögliche Todesursachen vorher. Diese Situation, ein harmlosen Ritual zwischen Mutter und Tochter, die sich sehr nahe standen, hat jedoch einen wahren Kern. Zum einen wird dadurch Flanders Dunbars wissenschaftliches Interesse noch einmal deutlich. Sie war bekannt dafür, dass sie sich für alle Vorgänge um sie herum interessierte, sie war nie nur Privatperson. Sie beobachtete immerzu die sie umgebende Welt und versuchte, sie wissenschaftlich zu verstehen und einzuordnen. Zum anderen zeigt sich daran Flanders Dunbars Auffassung der präventiven Medizin. Denn wenn es gelänge, vor dem Ausbruch bestimmter Erkrankungen Individuen zu identifizieren, die eine Prädisposition für eine bestimmte Erkrankung in sich tragen, könnte man schon frühzeitig spezifische therapeutische Interventionen einleiten. Dies war Flanders Dunbars erklärtes Ziel.206 205 Dunbar, 1948b, S.22. 206 Persönliches Gespräch mit Marcia Dobson am 02. 06. 2010.
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Persönlichkeitsprofile
Unbewusste Wahl der Erkrankung Flanders Dunbar beschäftigte sich ausführlich mit der Frage, welcher Mensch welche Erkrankung bekommt und warum. Sie betrachtete verschiedene Einflussfaktoren, die eine Prädisposition für eine spezifische Erkrankung mitbedingen. Ein zentraler Einflussfaktor ist nach ihrer Auffassung die Kindheit eines Menschen. In ihrem Werk Körper und Seele, bedient sich Flanders Dunbar einer einprägsamen Analogie, die den Einfluss kindlicher Erlebnisse zur Krankheitsentwicklung in späteren Jahren verdeutlicht. Sie verweist auf »Zeitminen« die aus der kindlichen Lebensphase entstehen und zunächst unbemerkt bleiben, bis sie sich schließlich als mitwirkende Ursache einer Erkrankung herausstellen. Dies sind die Zeitminen der Kindheit, die entweder durch den Schock eines einzigen Ereignisses oder durch die ständige Reibung zwischen dem kindlichen Geist und seiner Umwelt gelegt wurden. Sind diese Minen erst einmal verankert, so können sie sich zwar mit einer dicken harten Kruste des Vergessens überziehen, doch bleiben sie stets eine Gefahr, falls die Zünder nicht entfernt werden können.207
Diese Zeitminen zu identifizieren war für sie der Inbegriff einer psychosomatischen Auffassung der Medizin. Mittels Fragen und Tests sowie der ärztlichen Kenntnis des menschlichen Verhaltens sollen erfahrene Mediziner diese Minen identifizieren. Sein berufliches Können muß dann darüber entscheiden, ob er den Zünder ohne Gefahr entfernen kann. Wie bei jedem anderen medizinischen Fall ist eine Behandlung oft schlimmer als gar keine Behandlung, denn sie kann gerade die Explosionen auslösen, die der Arzt abwenden wollte.208
Wie jeder Psychosomatiker stellte auch Flanders Dunbar die Frage nach »Anlage versus Umwelt« bei der Entstehung von Erkrankungen. Um diese Einflussfaktoren weiter zu differenzieren, führte sie den Begriff der »Pseudo-Erblichkeit« ein. Sie berichtete von der Erfahrung, dass Patienten bestimmte Beschwerden entwickelten, nachdem sie in ihrer nächsten Umgebung bei Freunden oder Familienmitgliedern Erkrankungen miterlebt hatten, die in der Regel nicht als ansteckend gelten. Diese oft angstvoll besetzten Erfahrungen können nach ihrer Theorie auch eine sogenannte Zeitmine der Kindheit darstellen.
207 Dunbar,1947, S.20. 208 Dunbar, 1947, S.22.
Flanders Dunbars Persönlichkeitstypen
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Solche Gemütsregungen kommen häufig dadurch zustande, daß der Betreffende während seiner Kindheit einen geliebten Menschen oder jemanden, mit dem er sich weitgehend identifizierte, leiden sah.209
Flanders Dunbar erklärt die Wirkungsweise dieser Pseudo-Erblichkeit, also der gefühlsbedingten Ansteckung, mit der engen Verflechtung von seelischen und körperlichen Funktionen. Ab dem Säuglingsalter werden körperliche Veränderungen durch die Tätigkeit des sympathischen Nervensystems gesteuert, welches nicht der bewussten Willensbeeinflussung unterliegt. Das vegetative Nervensystem überträgt die nervlichen Impulse, so dass die Tätigkeit lebenswichtiger Organe, z. B. die des Herzens, aufrechterhalten wird. Die Nerven können auch durch emotionale Reaktionen angeregt werden und die Organe, deren Funktion von diesen Nerven gesteuert wird, können durch übermäßige Reize verändert werden, so dass durch einen allmählichen Wandel eine ausgewachsene Krankheit entstehen kann. Aufgrund dieser Disposition entstehen demnach Faktoren, die eine Erkrankung begünstigen. Oft liegt zwischen diesen Zeitminen der Kindheit und dem Ausbruch der Erkrankung eine lange Inkubationszeit. Wenn nun im Erwachsenenalter eine zusätzliche Belastung auftritt, kann dies zum auslösenden Moment für den Erkrankungsbeginn werden. Flanders Dunbar widmete sich weiterhin der Frage, welche Erkrankungen sich dann manifestieren und verweist auf eine unbewusste Wahl der Erkrankung. Gleichbedeutend zur großen Vielfalt der Charakterzüge und individuellen Geschmäcker gibt es auch unterschiedliche Erkrankungen und körperliche Funktionen, die gestört sein können. Flanders Dunbar verweist treffend auf die Analogie zu individuellen Kleidern, die jeder Mensch sich unterschiedlich nach eigenem Geschmack zusammenstellt. Die Menschen, die sich ihre Symptome aussuchen, werden nicht in böser Absicht krank. Es muss zunächst ein zwingender seelischer Grund für die Krankheit vorhanden sein. Dann wird die Wahl des Symptoms auf der Grenzlinie zwischen dem Bekannten und dem Vergessenen getroffen.210
Die Manifestation einer Erkrankung in einem spezifischen Körperteil unterliegt laut Flanders Dunbar zum Teil einer unbewussten Wahl. Sie wirft unter anderem die Frage auf, warum beispielsweise bei Menschen, die eine Disposition für Blutgerinnsel haben, sich diese bei dem einen in den Beinen, bei dem nächsten im Herzen und bei dem dritten im Gehirn festsetzen. Entsprechend zeigt sich, den seelischen oder selbst körperlichen Zwang zur Krankheit vorausgesetzt, eine hartnäckige Eigenwilligkeit in der Wahl der Krankheit. Selbst wenn 209 Dunbar, 1947, S.22. 210 Dunbar, 1947, S.40.
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Persönlichkeitsprofile
die Art der Krankheit bereits feststeht, kann eine unbewusste Wahl darüber entscheiden, welcher Körperteil von ihr befallen werden soll.211
Ein weiterer Aspekt, der die Wahl eines Symptoms mit beeinflusst, stellt die jeweilige »Mode« dar. Flanders Dunbar verweist diesbezüglich auf die Geschichte der Hysterie, die im 19. Jahrhundert besonders unter Frauen eine weit verbreitete Erkrankung war. Die Hysterie galt damals als Ausdruck besonderer Empfindsamkeit und war im 19. Jahrhundert quasi salonfähig. Mittlerweile ist sie laut Flanders Dunbar jedoch »in Ungnade gefallen« und man begegnet diesem Krankheitsbild kaum mehr. Menschen neigen dazu, sich Krankheiten zuzulegen, die »gerade zum guten Ton gehören«212 oder »mit der man sich wenigstens sehen lassen kann«.213 Auch dies ist eine Art der psychischen Ansteckung. Woher entstammt nun, abgesehen von der seelischen Ansteckung diese unbewusste Entscheidung für ein bestimmtes Krankheitsbild? Nach Flanders Dunbar liegt die Antwort zum Teil in der physischen Veranlagung, zum Teil in der durch Erziehung bedingten Prägung und zum Teil in dem »geheimnisvollen Teil einer Persönlichkeit«.214 Dieser geheimnisvolle Teil der Persönlichkeit war es, dem Flanders Dunbar einen Großteil ihrer Forschung widmete und den sie zu entschlüsseln suchte.
Persönlichkeitsprofile als Forschungsmethode Die von Flanders Dunbar entwickelten Persönlichkeitsprofile stellten für sie keine Einordnung von Menschen in Schubladen dar, sondern sie sah ihre identifizierten Persönlichkeitsprofile als eine Forschungsmethode. Eine Forschungsmethode, die zur Identifikation und Aufklärung über bestimmte Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Erkrankungen Aufschluss geben soll.215 Sie verweist auf ein Gleichnis von Martin Hewitt: Man sucht einen Mann, von dem man nur die Information hat, dass er schielt, einen Leberfleck auf der rechten Hand hat und humpelt. Wenn man nun einen Mann findet, der schielt, ist das noch kein Beweis, dass es sich um den Gesuchten handelt, da tausende Menschen schielen. Wenn nun einer der schielenden Männer einen Leberfleck auf der rechten Hand besitzt, würde das den Wert von der Kombination der Eigenschaften von Schielen und Leberfleck um ein Hundertfaches erhöhen. 211 212 213 214 215
Dunbar, 1947, S.32. Dunbar, 1947, S.39. Dunbar, 1947, S.39. Dunbar, 1947, S.38. Dunbar, 1948b, S.22.
Flanders Dunbars Persönlichkeitstypen
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Allein für sich genommen beweisen die Eigenschaften nichts, zusammen steigt die Wahrscheinlichkeit jedoch beträchtlich an. Wenn jetzt dieser Mann auch noch humpelt, ist es mit großer Wahrscheinlichkeit die gesuchte Person. Alle Merkmale allein für sich sind häufig anzutreffende Einzelerscheinungen, aber zusammen erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, den Gesuchten gefunden zu haben, drastisch. Davon ausgehend zieht Flanders Dunbar Schlüsse über ihre Persönlichkeitsprofile. Sie verweist darauf, dass die Hälfte der identifizierten Persönlichkeitseigenschaften vermutlich ganz vielen Menschen eigen ist. Erst die Kombination der Eigenschaften in der beschriebenen Weise ist aussagekräftig und kann zur Diagnostik dienen. Die Forschungsmethode, um besagte Persönlichkeitsprofile zu identifizieren, stützt sich auf die Technik des »history-taking«216. Damit ist eine ausführlichen Anamnese gemeint, bei der es unter anderem darum geht zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen, über Träumen zu sprechen, auf die Körpersprache zu achten, die therapeutische Beziehung mit zu berücksichtigen, die Lebensgeschichte ausführlich zu erheben und die Methode der freien Assoziation mit einzubeziehen. Die Patienten werden im Zuge dieser Anamnese bezüglich der Familienanamnese, persönlichen Daten, Krankengeschichte, Anzahl von Verletzungen, Schulbildung, Arbeitserfahrungen, Einkommen, der beruflichen Stellung, sozialen Beziehungen, sexueller Anpassung, Einstellung gegenüber der Familie, charakteristischen Verhaltensmustern, neurotischen Eigenschaften, Neigungen und Interessen, der Lebenssituation zu Beginn der Erkrankung, Reaktion auf die Erkrankung, bezüglich des zentralen Konflikts und der charakteristischen Reaktionen befragt. Diese Technik der ausführlichen Anamnese ist laut Flanders Dunbar das diagnostische Hilfsmittel, um bestimmte Eigenschaften und den Lebensstil der entsprechenden Person zu identifizieren.
Acht Persönlichkeitsprofile psychosomatischer Erkrankungen Flanders Dunbar führte in den Jahren zwischen 1934 und 1938 die erste großflächig angelegte und gut finanzierte psychosomatische Studie im Presbyterian Hospital, einem allgemein-medizinischen Krankenhaus, durch. Die Arbeitsgruppe untersuchte 1128 Patienten217 und ordnete die Patienten acht großen Krankheitsbildern zu. Besonders auffällig ist die differenzierte Unterteilung, die 216 Dunbar, 1948c, S.132. 217 Ihre Arbeitsgruppe untersuchte zwischen 1934 – 1938 eine Stichprobe von 1128 Patienten, von denen 565 Personen für differenzierte Gespräche und Untersuchungen herangezogen werden konnten. Dunbar, 1948c, S.132.
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Persönlichkeitsprofile
Flanders Dunbar hinsichtlich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen vornimmt und welche zu vier verschiedenen Kategorien führt. Sie entwickelt schließlich acht verschiedene Persönlichkeitsprofile für Patientengruppen mit Knochenbrüchen, koronarer Herzkrankheit, hypertensiver Herzkrankheit, Angina pectoris, rheumatischem Fieber und rheumatoider Arthritis, rheumatischer Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen und Diabetes mellitus. Flanders Dunbar verweist darauf, dass es die größten Gemeinsamkeiten zwischen der hypertensiven Herzkrankheit, der koronaren Herzkrankheit und den Personen mit Angina pectoris gibt und sich diese wiederum von den anderen Gruppen unterscheiden. Da diese drei Erkrankungen eng verwandt sind, bestärkt dies ihre Theorie. Frakturen Die Patienten mit Frakturen schloss Flanders Dunbar in ihre Studien bezüglich der Persönlichkeitsprofile mit ein, nachdem sie festgestellt hatte, dass diese Patienten, einst als Kontrollgruppe gedacht, auffällige Gemeinsamkeiten zeigten. Da der Persönlichkeitstyp der Personen mit Unfallneigung im vorherigen Kapitel ausführlich dargelegt ist, wird an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen. Flanders Dunbar ergänzte jede ausführliche Beschreibung der Persönlichkeitseigenschaften und Auffälligkeiten mit einem »Label«, das heißt einer Art bezeichnendem Kennwort, um einen Charaktertyp zu verdeutlichen. Demnach seien die Personen mit Unfallneigung »Landstreicher«218 und ein typischer Ausspruch lautet: Ich muss immer weiter machen. Ich kann es nicht aushalten einfach nur herumzustehen und nichts zu tun. Wenn ich ärgerlich werde, äußere ich das nicht, sondern tue etwas. Ich handele bevor ich denke.219
Hypertensive Herzkrankheit Flanders Dunbar fand Gemeinsamkeiten in den Lebensumständen bei Personen mit einer hypertensiven Herzkrankheit. Die hypertensive Herzkrankheit (HHK) entsteht durch einen dauerhaft erhöhten Blutdruck, welcher schlussendlich zu einer Schädigung des Herzmuskels führt. In so einem Falle wird die Muskulatur des Herzens dicker und steifer, so dass sich das Herz in der Diastole nicht mehr ausreichend entspannen kann.220 In dieser Patientengruppe gab es eine Fami218 Originalzitat aus dem Englischen »hoboes«. 219 Dunbar, 1948c, S.575. Originalzitat aus dem Englischen. 220 Baum,1997.
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lienvorgeschichte von Herz-Kreislauf-Erkrankungen von 49 % bei Eltern und Geschwistern. Zudem berichteten 98 % der Patienten, dass sie Herz-KreislaufErkrankungen oder einen plötzlichen Tod bei Freunden oder Familienmitgliedern miterlebt hätten. Diese Patientengruppe berichtete häufig von einer strengen Erziehung, oft war die Mutter dominant. Es zeigte sich oftmals eine Ambivalenz gegenüber dem Vater und eine ängstliche Haltung gegenüber der Mutter. Sie selbst hatten viele Kinder. Das Ausbildungsniveau war größtenteils niedrig und entsprach nicht ihrer intellektuellen Kapazität. Demnach war auch zumeist die berufliche Tätigkeit unterhalb der eigentlichen Kapazitäten und auch das Einkommen eher gering. Charakterlich zeichneten sich die Personen durch schüchternes, teilweise ängstliches Verhalten aus, welches gelegentlich durch Alkoholkonsum und wechselnde Partnerschaften kompensiert wurde. Die Personen zeigten zudem eine große Anpassungsfähigkeit im sozialen und konventionellen Rahmen. Jedoch fehlte häufig die emotionale Anpassungsfähigkeit in intimen Beziehungen. Im sexuellen Bereich folgten diese Personen kulturellen Mustern, berichteten aber auch öfters von Promiskuität und gelegentlich von Impotenz. Männliche Personen versuchten vielfach ihre Überlegenheit gegenüber der Ehefrau zu beweisen. Sie versuchten, Familienoberhaupt und -ernährer zu sein, bei gleichzeitigem Wunsch nach Fürsorge und Aufmerksamkeit. Es traten wenig frühe neurotische Verhaltensweisen auf, im Erwachsenenalter zeigten sich jedoch perfektionistische Tendenzen und Wutausbrüche, vorwiegend als Reaktion gegen ihre passiven Tendenzen. Im Bezug auf Genussmittel lag mehrheitlich ein exzessiver Gebrauch von Kaffee, Zigaretten und Alkohol vor. Als persönliche Hauptinteressen nannten Personen dieser Gruppe »Frauen, Wein und Vergnügungen«221. Vor Ausbruch der Symptomatik ereignete sich häufig ein Todesfall oder eine Trennung von einer geliebten Person. Als Reaktion auf die Erkrankung erfolgten passive Tendenzen und ein Heranziehen der Erkrankung als Alibi für eigene Misserfolge. Als zentralen Konflikt erkannte Flanders Dunbar Situationen, die von Aggression und Passivität gekennzeichnet waren sowie die Themen der Rivalität und Selbstbestrafung. Als Charaktertyp bezeichnete sie diese Patientengruppe als den »Platzhirsch«222 oder jemanden, der so eine Position anstrebt. Ein typisches Patientenzitat lautet: Ich bin ärgerlich, aber ich kämpfe nicht gerne – ich weiß nicht genau warum, irgendetwas muss einmal passiert sein. Diskussionen sind meine Stärke, ich kann den ganzen Tag lang argumentieren.223
221 Originalzitat aus dem Englischen »wine, women and song«. 222 Aus dem Englischen »top dogs«. 223 Dunbar, 1948c, S.575. Originalzitat aus dem Englischen.
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Koronare Herzkrankheit Eine weitere Patientengruppe, die Gemeinsamkeiten aufzeigte, war die Gruppe der Personen mit einer koronaren Herzkrankheit. Die koronare Herzkrankheit (KHK) ist eine Erkrankung der Koronararterien. Durch verschiedene Risikofaktoren kommt es zu einer Ablagerung von Plaque in den Gefäßwänden. Diese ziehen dann eine Versteifung der Arterien und eine Verringerung des Gefäßdurchschnitts nach sich und beeinträchtigen somit die Durchblutung.224 42 % der Patienten mit KHK berichteten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Eltern und Geschwistern. Auch bei diesen Patienten wurde die Erziehung oftmals als streng beschrieben, sie zeigten sich ebenfalls häufig ambivalent oder ärgerlich gegenüber dem Vater und ängstlich gegenüber der Mutter. Personen dieser Patientengruppe hatten eine hohe Heiratsrate und viele Kinder. Sie zeigten vielfach die Tendenz, ihre Ausbildung rasch abzuschließen und ihre Karriere zu planen. Viele versuchten sich in ihrer Arbeitsstelle bis zur Spitze hochzuarbeiten und sie zeigten von allen Gruppen das höchste Einkommen. Sie berichteten oftmals davon, lange zu arbeiten und keinen Urlaub zu nehmen und teilten nicht gerne Verantwortung. Um Überstunden zu bewältigen nahmen sie oft Stimulanzien ein. Sie wurden mehrheitlich respektiert, hatten aber auch eine Tendenz zu dominieren. Im Privatleben zeigten sie oftmals die Rolle des exemplarischen Ehemannes und Vaters kombiniert mit sexueller Frustration und geheimer Promiskuität. Diejenigen mit männlichem Geschlecht versuchten gegenüber der Ehefrau, die Rolle des Familienernährers und das Familienoberhauptes einzunehmen. Ähnlich wie Patienten mit der hypertensiven Herzerkrankung berichteten sie oftmals von dem gleichzeitigen Wunsch nach Versorgung durch die Gattin. Größtenteils behielten sie ihre Sorgen und Probleme für sich. Vor Ausbruch der Erkrankung erlebten sie häufig einen Schock im Arbeitsbereich, beispielsweise eine personale Veränderung, die ihre Autoritätsfigur oder -vorbild betraf. Als Reaktion auf die Erkrankung erfolgte häufig eine Bagatellisierung und Vernachlässigung ihrer selbst. Als zentralen Konflikt benannte Flanders Dunbar das Verhältnis zu Autoritäten, bzw. den Versuch eine autoritäre Position einzunehmen oder diese zu überflügeln. Entsprechend identifizierten sich diese Personen meist mit autoritären Konzepten. Ebenso wie die Patienten mit hypertensiver Herzerkrankung ordnet sie dieser Patientengruppe den Charaktertyp des Platzhirsches, bzw. des »Top Dogs« zu. Ein typisches Patientenzitat lautet: Ich habe mein ganzes Leben lang hart gearbeitet. Ich muss immer weiter arbeiten. Ich muss der Boss sein.225 224 Baum, 1997. 225 Dunbar, 1948c, S.575. Originalzitat aus dem Englischen.
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Angina pectoris Die dritte Patientengruppe im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren die Patienten mit Angina pectoris. Diese Beschwerden, welche übersetzt soviel wie Brustenge oder Herzschmerz bedeuten, beinhalten anfallsartige Schmerzen in der Brust, die durch eine Durchblutungsstörung des Herzens entstehen und oftmals auf eine Blockierung eines Herzkranzgefäßes zurückzuführen sind. Angina pectoris Beschwerden gelten als Vorboten eines Herzinfarktes.226 In dieser Patientengruppe berichteten 65 % von familiären Vorerkrankungen aus dem Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Personen mit diesen Beschwerden berichteten ebenfalls von einer strengen Erziehung und einer durchschnittlichen Heiratsrate. Sie hatten von allen acht Patientengruppen die schlechteste Krankenvorgeschichte mit einer Tendenz, die eigene Gesundheit zu vernachlässigen. Sie zeigten häufig ein hohes akademisches Level, oftmals jedoch mit Abbrüchen. Diese Patientengruppe berichtete vorwiegend, bei derselben Arbeitsstelle zu bleiben, und hatte ein relativ hohes Einkommen. Des Öfteren waren sie im künstlerischen Bereich tätig und berichteten von langen Arbeitszeiten und ebenfalls von Einnahme von Stimulanzien, um weiter arbeiten zu können. Sie waren häufig sozial beliebt und hatten vielfach eine Tendenz indirekt zu dominieren. Im privaten Bereich waren sie gegenüber ihrer Familie ambivalent und im sexuellen Bereich ängstlich und unsicher mit geheim gelebter Promiskuität. Sie neigten zum Grübeln und dazu, ihre Sorgen für sich zu behalten und waren skeptisch gegenüber Religion eingestellt. Vor Ausbruch der Erkrankung waren sie häufig dem plötzlichen Tod eines Verwandten oder Freundes ausgesetzt oder erlitten finanzielle Verluste. Nach Erkrankungsbeginn zeigten sie eine Tendenz, die Symptome zu bagatellisieren und trotzdem weiter zu arbeiten. Sie zeigten mehrheitlich eine starke Anspruchshaltung gegenüber dem Medizinalsystem. Der zentrale Konflikt war im Bereich der Rivalität mit Autoritäten anzutreffen, jedoch mehr in dem Sinne des Wunsches mitzuhalten als zu überflügeln. Es zeigte sich eine Tendenz, den Vater bzw. die Vaterfigur zu imitieren. Als Charaktertyp bezeichnete Flanders Dunbar diese Personen als »Divas«227 oder als »große Fische im kleinen Teich«228. Rheumatisches Fieber und rheumatoide Arthritis Die nächste Patientengruppe, der Flanders Dunbar verschiedene Persönlichkeitseigenschaften zuordnete, waren Patienten, die an rheumatischem Fieber 226 Uexküll, 1990. 227 Aus dem Englischen »prima donnas«. 228 Aus dem Englischen »big frogs in small puddles«.
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erkrankt waren oder an rheumatoider Arthritis litten. Rheumatisches Fieber ist eine entzündlich-rheumatische Systemerkrankung von Haut, Herz, Gelenken und Gehirn, gelegentlich als »Streptokokkenrheumatismus« bezeichnet, was unter anderem auf die Art der Infektion verweist. Rheumatoide Arthritis, auch als chronische Polyarthritis bezeichnet, ist eine entzündliche Erkrankung der Gelenke, die häufig schubweise verläuft und insbesondere Hand-, Knie-, Schulter-, Fuß- und Hüftgelenke betrifft.229 Bei dieser Personengruppe berichteten 52 % von Herz- Kreislauf- Erkrankungen bei Eltern und Geschwistern und einem eher schlechten eigenen Gesundheitsstatus mit vielen Erkrankungen. Vielfach berichteten sie von einem schlechten sozialen und ökonomischen Hintergrund und von eher schlechtem Kontakt zu den Eltern. Es gab häufig Ressentiments gegenüber beiden Elternteilen, mit der Tendenz, die Eltern auszunutzen. Vorwiegend erfolgte eine Identifikation mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil und gelegentlich eine starke Abhängigkeit von der Mutter. Die Ausbildung war eher durchschnittlich, ebenso der Arbeitsstatus. Charakterlich waren diese Personen oftmals schüchtern, still, sensibel, teilweise kindisch und tendenziell eher unbeliebt. Diese Personen wurden oftmals als »gute Kumpel« eingeschätzt, mit diplomatischen Umgangsformen, aber auch der Bitte um Mitleid und Rücksicht aufgrund der Erkrankung. Sie berichteten zumeist von einigen guten Freunden und fühlten sich in Gruppen eher unwohl. Es zeigte sich eine Tendenz, persönliche Ambitionen in Träumen und Fantasien zu realisieren. Im privaten Bereich zeigte sich mehrheitlich eine Angst vor Bindungen und sexuellen Kontakten. Frühe neurotische Verhaltensweisen waren gelegentliche Wutanfälle, Albträume, Schlafwandeln sowie Pingeligkeit gegenüber dem Essen. Im Erwachsenenalter zeigten sich Stimmungsschwankungen und Schuldgefühle bei Masturbation und gegenüber eventuellen nicht gelebten homosexuellen Wünschen. Vielfach berichteten Menschen dieser Personengruppe von einer Überbetonung von Sauberkeit, Ordnung, Pünktlichkeit und perfektionistischen Verhaltensweisen. Vor Ausbruch der Erkrankung ereignete sich oftmals eine Unterbrechung emotionaler Bindungen, beispielsweise einer Trennung von den Eltern durch räumliche Veränderungen. Als Reaktion auf die Erkrankung erfolgte vielfach eine Befriedigung durch das Leid, Übertreibung oder Missachtung des ärztlichen Rates sowie eine Flucht in Träume und Fantasien. Als zentralen Konflikt nannte Flanders Dunbar die Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Rolle, die Identifikation mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil sowie ein Konflikt hinsichtlich Vermeidung und Unterwerfung.
229 Baum, 1997.
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Ein typisches Patientenzitat lautet: »Alles was ich tue schmerzt, aber ich mache trotzdem weiter.«230 Rheumatische Herzkrankheit Die rheumatische Herzerkrankung ist eng mit dem rheumatischen Fieber assoziiert. Etwa 50 % der Patienten mit akutem rheumatischem Fieber entwickeln eine chronische rheumatische Herzerkrankung die sich in Form einer Herzklappenerkrankung manifestiert. Wie beim rheumatischen Fieber geht der rheumatischen Herzerkrankung in der Regel eine Streptokokkeninfektion voraus. Als Symptome finden sich oft Fieberschübe mit hochgradiger Tachykardie und gelegentlich rascher Entwicklung einer auch tödlichen Herzinsuffizienz.231 Die Personengruppe mit der rheumatischen Herzerkrankung in Flanders Dunbars Stichprobe berichtete von 44 % familiärer Belastung bezüglich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zudem berichteten 65 % von dem Miterleben von Tod oder Krankheit bei nahen Freunden oder Verwandten. Häufig starb einer oder beide Elternteile vor der Adoleszenz der Patienten durch einen Unfall, Selbsttötung oder eine ernste Erkrankung. Die Beziehung zu den Eltern war regelmäßig geprägt durch die Angst vor Abhängigkeit, so dass die Patienten häufig die Märtyrerrolle in der Familienkonstellation übernahmen. Diese Personengruppe zeigte mehrheitlich eine geringe Heiratsrate und wenig Kinder. Sie wies eine schlechte Gesundheitsstatistik auf, vor allem Infektionen des Atmungssystems, Infektionen, gastrointestinale Beschwerden oder Allergien waren vermehrt zu finden. Vielfach berichteten sie von einer relativ geringen Bildung, auch mitbedingt durch ihren schlechten Gesundheitsstatus. Beruflich zeigte sich eine Tendenz, im selben Betrieb zu bleiben, vorausgesetzt, es gelang ein Beziehungsaufbau zu den Vorgesetzten. Das Einkommen war eher gering. Sozial waren Menschen dieser Personengruppe beliebt und häufig gute Geschichtenerzähler, wobei sie oftmals vom Wunsch getrieben waren anderen zu gefallen. Frauen legten gelegentlich kindliches Auftreten an den Tag, welches sozial positiv aufgenommen wurde. Als Verhaltensmuster zeigten sie sich meist angenehm, gesprächig, ehrgeizig mit einer Tendenz zur Übertreibung und Betonung von sozialen Vergnügungen. Im Privatleben deutete sich vorwiegend eine Angst vor Sexualität und der Ehe an, sowie eine Tendenz zu Märtyrertum in persönlichen Beziehungen sowie bei Frauen eine hohe Abtreibungsrate. Neurotische Verhaltensweisen in der Kindheit waren oftmals Phobien, übertriebene ängstliche Reaktionen und Albträume. Im Erwachsenenalter zeigte sich häufig Agoraphobie oder Klaustrophobie und eine Tendenz zur tiefen Bewunderung 230 Dunbar, 1948c, S.575. Originalzitat aus dem Englischen. 231 Baum, 1997.
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Persönlichkeitsprofile
für Personen, die andere ängstigen oder unterdrücken. Vor Ausbruch der Erkrankung erfolgte ein dramatischer Tod innerhalb der Familie oder der Freunde oder eine stark ängstigende Situation. Als Reaktion auf die Erkrankung versuchten diese Personen meist entweder häufig diese abzustreiten oder das Mitleid der anderen zu genießen und unbewusst dadurch ihr Leiden zu erhöhen. Als zentralen Konflikt nannte Flanders Dunbar zum einen die Kalamität mit Autoritäten, das heißt eine Nachahmung der Vorgesetzten in der Fantasie und zum anderen ein Konflikt bezüglich der sexuellen Rolle, im Sinne einer Bevorzugung der passiven Rolle sowie eine Ambivalenz gegenüber dieser Vorliebe. Ein charakteristisches Patientenzitat dieser Patientengruppe lautet: »Ich habe furchtbare Albträume.« oder »Ich bin geboren, um ein Märtyrer zu sein.«232 . Als Charaktertyp benannte Flanders Dunbar diese Personen als »Lehrers Liebling«233 oder Märtyrer.
Herzrhythmusstörungen Die nächste Patientengruppe, in der Flanders Dunbar Gemeinsamkeiten fand, waren Patienten mit Herzrhythmusstörungen. Unter kardialer Arrhythmie versteht man eine Störung der normalen Herzschlagfolge: Das Herz schlägt zu schnell, zu langsam oder unregelmäßig. Herzrhythmusstörungen sind durch nicht regelrechte Vorgänge bei der Erregungsbildung und -weiterleitung im Herzmuskel verursacht.234 Bei dieser Personengruppe zeigte sich eine familiäre Belastung der Herz-Kreislauferkrankung von 44 %. Zudem berichteten 56 % der Patienten von extremer Nervosität. Vielfach waren diese Personen mit beiden Elternteilen aufgewachsen, oft mit einem älteren Geschwisterkind in einer aus der Mittelklasse stammenden Familie. Die Eltern beschränkten häufig die Aktivitäten der Kinder, vor allem in Hinblick auf sexuelle Erfahrungen. Zumeist berichteten diese Personen von einem hohen Ausbildungsniveau, damit einhergehend einem hohen Einkommen, aber einem wechselhaften Arbeitsleben mit vielen wechselnden Arbeitgebern. Im sozialen Bereich zeigten diese Personen häufig eher gehemmte Umgangsformen, waren aber bei anderen beliebt. Häufig berichteten sie von einer Tendenz missmutig zu sein, wenn sie alleine waren, und gespielt fröhlich im Kontakt mit fremden Menschen. Es fiel ihnen mehrheitlich schwer ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Emotionale Beziehungen waren oftmals inadäquat, wurden aber trotzdem weitergeführt. Im sexuellen Bereich zeigten sie vorwiegend Verwirrung gegenüber ihrer Sexualität, häufig eine Kombination zwischen Angst und Ekel. Kindliche neurotische 232 Dunbar, 1948c, S.575. Originalzitat aus dem Englischen. 233 Aus dem Englischen »teacher’s pet«. 234 Uexküll, 1990.
Flanders Dunbars Persönlichkeitstypen
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Verhaltensweisen waren oftmals übertriebene Angst, Enuresis, Nägelkauen und gelegentliches Schlafwandeln. Im Erwachsenenleben zeigten sich offene Ängste und ein aktives Fantasieleben. Mitglieder diese Personengruppe benutzten häufig Stimulanzien wie Kaffee und Nikotin und waren oftmals religiös. Vor Ausbruch der Erkrankung erfolgte meist eine Situation mit dem Gefühl versagt zu haben, und die erste Manifestation der Symptome erfolgte überwiegend in sozialen Situationen. Reaktionen auf die Erkrankung waren zumeist Angst und Entmutigung. Als zentralen Konflikt nannte Flanders Dunbar das Problem der Selbstfindung und die eigene Rolle im Leben. Oftmals beschäftigte diese Menschen der Versuch, bedeutsam zu sein. Typische Patientenzitate lauteten: Ich möchte etwas beitragen, aber ich vermute, ich bin dazu bestimmt, zu versagen. Ich habe Angst vor Menschen. Am glücklichsten bin ich, wenn ich mir etwas vorstelle.235
Als Charaktertyp bezeichnete Flanders Dunbar diese Personengruppe als »Kinder im Dunkeln«.236
Diabetes mellitus Unter Diabetes mellitus, auch häufig als Zuckerkrankheit bezeichnet, versteht man eine Gruppe von Stoffwechselerkrankungen mit dem Hauptsymptom der Überzuckerung des Blutes durch Insulinmangel oder Insulinunempfindlichkeit.237 In der Familiengeschichte berichteten etwa 35 % der Personen von mindestens einem Familienmitglied, welches unter dieser Erkrankung litt. Diese Personen wiesen ansonsten einen guten Gesundheitsstatus auf und berichteten mehrheitlich von einem unterschwelligen Kampf mit den Eltern, welcher sich durch das Leben hindurch zog. Männliche Personen mit Diabetes mellitus zeigten häufig eine Tendenz, unverheiratet zu bleiben. Vorwiegend erreichte diese Personengruppe einen hohen Ausbildungsstatus. Das Einkommen war jedoch oft geringer als das Ausbildungsniveau vermuten ließ. Im privaten Bereich berichteten diese Personen häufig von Schwierigkeiten in persönlichen Beziehungen, welche auch häufig mit Arbeitsverlust einhergingen. Als Persönlichkeitsmerkmale zeigten sich diese Personen häufig wenig entscheidungsfreudig und berichteten von sozialer Angst. Sie waren vielfach oberflächlich eine angenehme Gesellschaft, dabei aber selbstunsicher und distanziert. Im sexuellen Bereich führten sie eher passive als aktive Ehen und berichteten vielfach von Angst im Bezug auf homosexuelle Tendenzen. Es zeigte sich oftmals ein Konflikt 235 Dunbar, 1948c, S.575. Originalzitat aus dem Englischen. 236 Aus dem Englischen »children in the dark«. 237 Uexküll,1990.
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Persönlichkeitsprofile
zwischen Hass und Unterwerfung gegenüber den Eltern und Ehepartnern. Neurotische Charaktermerkmale waren in der Kindheit vielfach Wutausbrüche, Phobien und Albträume und im Erwachsenenalter Depressionen und ein Hang zu paranoiden Ideen. Diese Personen offenbarten meist ein Interesse für Essen und Genuss und eine Vermeidung konkurrenzbetonter Sportarten. Darüber hinaus gab es wenig religiöses Interesse, es sei denn eigene homosexuelle Neigungen führten zu religiösen Experimenten. In diesem Fall zeigten sie aber eine größere Affinität zu asketischer als zu fanatischer Religiosität. Der Lebenssituation vor dem Ausbruch der Erkrankung ging meist eine lange Zeit des »Verschleißes« durch harte Arbeit, ein intrapsychischer homosexueller Konflikt oder Kämpfe mit Familie oder dem Ehegatten voraus. Als Reaktion auf die Erkrankung folgte häufig zunächst eine depressive Reaktion gepaart mit einem Gefühl der Erleichterung nun ein Alibi für das Gefühl der eigenen Inadäquatheit zu haben. Der zentrale Konflikt war vorwiegend ein »Abhängigkeit versus Autonomie« – Konflikt und ein Konflikt hinsichtlich der sexuellen Rolle. Als Charaktertyp bezeichnete sie diese Personengruppe als »Wirrkopf«238. Typische Patientenzitate lauten: Doktor, es ist schrecklich. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Immer bin ich am Rande davon, jemanden oder mich selbst zu verletzen. Sie müssen mir helfen ich kann nicht für mich selbst Verantwortung übernehmen, ich kann keine Entscheidungen treffen.239
Therapieempfehlungen Zunächst zitiert Flanders Dunbars den deutschen Philosophen Immanuel Kant, der schrieb: Die Ärzte glauben, ihrem Patienten sehr viel genutzt zu haben, wenn sie seiner Krankheit einen Namen geben.240
Flanders Dunbars erklärtes Ziel war es jedoch, aus den abgeleiteten Persönlichkeitsprofilen neben Prognose und Diagnose auch Empfehlungen für das weitere therapeutische Vorgehen abzuleiten. Die Persönlichkeitsprofile sollen dem Mediziner ein Hilfsmittel an die Hand geben, so dass er durch mehr Verständnis für eine bestimmte Erkrankung die ärztliche Konversation besser steuern kann. Sie verweist darauf, dass der medizinische Erfolg bei der Behandlung eines Patienten davon abhängt, worauf der Arzt bei der Betrachtung eines Patienten seinen Fokus legt. Bei der Therapie soll es demnach auch darum gehen, gegen die Wurzel der 238 Aus dem Englischen »muddlers«. 239 Dunbar, 1948c, S.575. Originalzitat aus dem Englischen. 240 Dunbar, 1935, S.594.
Flanders Dunbars Persönlichkeitstypen
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Erkrankung und nicht nur gegen das Symptom vorzugehen. Flanders Dunbar verweist zudem darauf, dass es ein wichtiger Punkt der Therapie sei, emotionale Akzeptanz bei den Patienten zu schaffen und nicht nur Verhaltensänderungen vorzuschlagen. So werde beispielsweise ein ärztlicher Vorschlag weniger zu arbeiten bei einem Patienten mit koronarer Herzerkrankung nicht zu einer Verhaltensänderung führen, solange er dies nicht für sich akzeptiert und emotional integriert hat. Dies birgt auch Implikationen für die Therapie: Das Problem ist nicht so sehr den Patienten anders handeln zu lassen, sondern ihn anders fühlen zu lassen.241
Daraus erschließt sich zudem, dass der Patient, so er ein Verständnis für die Genese seiner Erkrankung gewonnen hat, auch selbst die Heilung vorantreiben kann und nicht passiv bleiben muss. Er kann seine eigene Genesung vorantreiben, nicht nur durch die Einnahme von Pillen und die Befolgung von Anweisungen, sondern auch durch das Verstehen und damit einhergehend einer möglichen Änderung seiner eigenen Verhaltensweisen, die wahrscheinlich seine Anfälligkeit für eine bestimmte Erkrankung verstärkt haben. Kritische Würdigung Flanders Dunbars Persönlichkeitsprofile gehören zu ihren bekanntesten und auch umstrittensten Theorien. Viele damit einhergehenden Aspekte, z. B. die Theorie der »Pseudo-Erblichkeit« und auch die »unbewusste Wahl der Erkrankung« sind jedoch solche, die auch in der Psychosomatik des 21. Jahrhunderts noch ihren Platz finden. Bei näherer Beschäftigung mit Flanders Dunbars Persönlichkeitsprofilen ist es zudem wichtig ihre Intention mit zu beachten. Diese Theorien entstanden aus den Beobachtungen einer praktizierenden Ärztin in einem öffentlichen Krankenhaus, welche bei Personen mit bestimmten Erkrankungen Ähnlichkeiten in deren Persönlichkeit feststellte und diese wissenschaftlich zu bestimmen suchte. Ihr Ziel war dabei vor allem den praktischen Nutzen der Persönlichkeitsprofile im Sinne einer präventiven Medizin herauszustellen mit daraus erwachsenden Hilfen für Diagnostik, Prognose und Therapie. Auch betrachtete Flanders Dunbar den Anwendungsbereich ihrer herausgearbeiteten Persönlichkeitstypen differenziert. Nach ihrer Erfahrung wird eventuell derjenige, der sich in einem unausweichlichen Konflikt mit den Eltern oder dem Ehepartner sieht, möglicherweise zuckerkrank. Jemand mit Lebemannallüren ist eher für Unfälle prädestiniert und jemand, der sich sein Leben 241 Dunbar, 1935, S.578. Originalzitat aus dem Englischen.
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Persönlichkeitsprofile
lang mit Fanatismus zu Arbeit und »Selbstzucht« bekannt hat, wird höchstwahrscheinlich ein Herzleiden entwickeln.242 Sie verweist darauf jedoch mit deutlichen Einschränkungen: Diese Erkrankungen sind in keiner Weise vorherbestimmt. Es handelt sich vielmehr um einen von vielen verschiedenen Einflussfaktoren, den sie in der Persönlichkeit eines Menschen identifizierte. Die Frage, ob ein Mensch erkrankt und welche Erkrankung ihn befällt, beschäftigte sie ihr ganzes Arbeitsleben hindurch. Besonders hervorzuheben ist zudem ihre besondere Gründlichkeit bei der Erhebung ihrer Daten. Ihre Methode des »history-taking« kann man auch als tiefenpsychologisches Gespräch bezeichnen. Sie selbst oder ein Mitglied ihrer Arbeitsgruppe befragten im Zuge ihrer Studie an einem öffentlichen New Yorker Krankenhaus von 1934 – 1938 über 500 Menschen sehr ausführlich mittels dieser Methode. Diese Interviews beinhalteten zwischen einem und sechs Gesprächen von etwa einer Stunde Dauer. Die Gespräche begannen oftmals auf der Basis einer gewöhnlichen Konversation, beispielsweise mit der Frage, wie den Patienten das Krankenhaus gefällt oder welches Buch sie gerade lesen. Danach wurden allgemeine Fragen, die in eine medizinische und soziale Anamnese gehören (z. B. nach Vorerkrankungen, der allgemeinen Lebenssituation, dem Gebrauch von Genussmitteln und ähnlichem) gestellt. Nachfolgend wurden die Patienten einfühlsam zu verschiedenen Lebensbereichen befragt, insbesondere auch mit einem Blick auf ihre Einstellung zu verschiedenen Situationen und Erlebnissen sowie ihre emotionale Reaktion darauf. Ein Beispiel für die Gründlichkeit ihrer Befragung in verschiedenen Lebensbereichen ist eine Frage, die stets bei weiblichen Patientinnen im Bereich der gynäkologischen Anamnese gestellt wurde. Dazu gehörte nicht nur die Erhebung des Alters zu Beginn der Menarche und menstruelle Beschwerden, sondern auch stets die persönliche Reaktion der Patientin auf die erste Menstruation. So führte die Frage »War es ein überraschendes Ereignis für Sie oder waren Sie darauf vorbereitet?«, nach Flanders Dunbars Erfahrung häufig zu einem Einstieg in Fragen in Bezug auf die Sexualität. Weiterführend befragten Flanders Dunbar und ihre Mitarbeiter die Patienten auch nach aktuellen und früheren Träumen, achteten auf sprachliche Besonderheit, Körpersprache und bezogen die Methode der freien Assoziation mit ein. Wenn es indiziert erschien, führten die Mitarbeiter zudem einen Rorschach-Test durch. Aufgrund dieser Fülle an Material gelang es Flanders Dunbar, ihre schriftlichen Werke mit vielen Fallgeschichten anzureichern, die die Ausführlichkeit der durchgeführten Anamnesen wiederspiegeln. Patienten, bei denen eine Psychotherapie indiziert erschien, wurden zudem in der Zeit ihres Kli-
242 Dunbar, 1948b, S.39.
Temperamentenlehre der Antike
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nikaufenthaltes täglich aufgesucht und nach Entlassung aus dem Krankenhaus in eine ambulante Therapie überführt. Die Inhalte der Anamnese haben auch im 21. Jahrhundert nicht an Aktualität eingebüßt. Zusammen mit den von ihr beschriebenen Konzepten der Vulnerabilität gegenüber bestimmten Erkrankungen gelang es Flanders Dunbar bereits vor 70 Jahren, Bereiche der Psychosomatik darzustellen, die auch im 21. Jahrhundert noch wichtiger Inhalt der wissenschaftlichen Betrachtung des Menschen sind. Flanders Dunbar bewies sich mit ihrer vielschichtigen Sichtweise demnach als Wegbereiterin der Psychosomatik.
5.2
Temperamentenlehre der Antike
Bereits in der Antike haben sich Ärzte und Philosophen mit der Persönlichkeit eines Menschen befasst und verschiedene Einteilungen getroffen. Eine der bekanntesten ist die Lehre von den vier Temperamenten. Der Begriff Temperament geht auf das lateinische Verb »t¦mpero« zurück, das besagt: »Ich halte das rechte Maß«. Diese Idee findet sich auch in der griechischen Humanmedizin, die die vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle und ihr jeweiliges Mischverhältnis betrachtete. Von diesen Säften und ihrer Zusammensetzung hängen nach der Temperamentenlehre Krankheit und Gesundheit ab. Gesundheit wird als eine ausgewogene Mischung dieser vier Säfte begriffen; Krankheiten dagegen sind ein Ungleichgewicht dieser vier Körpersäfte, in denen je einer überwiegt.243 Die Lehre von den vier Temperamenten wird in den vorherrschenden Lehrbüchern entweder Hippokrates (460 – 377v. Chr) oder dem römischen Arzt Galenus (129 – 199 n. Chr.) zugeschrieben. Obwohl Hippokrates meist als Begründer der Vier-Säfte-Lehre benannt wird, wird man vergeblich nach einer klaren und systematischen Theoriebildung in den hippokratischen Schriften suchen. Hippokrates hat weder ein Kapitel noch ein ganzes Unterkapitel diesem Thema gewidmet. Zudem bestehen bei zahlreichen hippokratischen Schriften noch Zweifel, welche Texte er selbst und welche von seinen Schülern, beispielsweise seinem Schwiegersohn Polybos, verfasst wurden. Dennoch sind viele hippokratische Vorüberlegungen die Grundlage, auf der Galenus die Temperamentenlehre aufbaut und konkreter ausführt. Alle diese (Säfte) enthält also der Körper des Menschen zu jeder Zeit, aber infolge des Einflusses der Jahreszeit werden sie bald verhältnismäßig stärker, bald schwächer (wirksam), ein jeder nach der Reihe und nach seiner Natur. (…) Während des Jahres herrscht bald der Winter am meisten vor, bald der Frühling, bald der Sommer, bald der 243 Fisseni, 1998.
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Persönlichkeitsprofile
Herbst. So herrscht auch im Menschen bald der Schleim am meisten vor, bald das Blut, bald die Galle, zunächst die gelbe, dann die sogenannte schwarze Galle.244
Das Modell der Vier-Säfte-Lehre besagt, dass das Temperament eines Menschen von dem Verhältnis von vier Körpersäften bestimmt ist. Davon ausgehend führt nun Galenus aus, dass ein Übermaß an schwarzer Galle (griechisch »m¦laina chol¦«) zu einem melancholischem Temperament führt, welches durch langsam ab- und ansteigende Reaktionen gekennzeichnet ist und der Trauer zugewandt ist. Bei einem Vorherrschen der gelben Galle (griechisch »chol¦«) folgt ein cholerisches Temperament. Dieses Temperament ist gekennzeichnet von rasch ansteigenden Reaktionen, mit der vorherrschenden Emotion der Wut, bis hin zum Jähzorn. Das griechische Wort für Schleim ist »phlegma«. Bei einem Übermaß an Schleim ist das Temperament phlegmatisch und damit gekennzeichnet von schwer auslösbaren Reaktionen, die bis zur Teilnahmslosigkeit führen können. Blut bedeutet im Lateinischen »sanguis«. Bei dem sanguinischen Temperament dominiert das Blut und kennzeichnet diese Temperamentsform durch leicht wechselnde Reaktionen, die sich durch Freude und Hoffnung auszeichnen.245 Basierend auf dieser Theorie ergaben sich auch therapeutische Interventionen. Der Arzt kann durch Lebensumstellung, Diät, Aderlass, Schröpfen, Abführmittel und operative Eingriffe das Ungleichgewicht dieser Säfte beeinflussen. Diese Praktiken wurden teilweise bis in die frühe Neuzeit angewendet. Fisseni verweist darauf, dass die Lehre von den vier Temperamenten auf die wichtige Rolle chemischer Prozesse im menschlichen Körper aufmerksam gemacht hat, das heißt konkret auf den Einfluss von Hormonen als Botenstoffe und deren Einfluss auf das menschliche Verhalten.
5.3
Acht Typen nach C. G. Jung
C. G. Jung (1875 – 1961) war ein Mitarbeiter von Freud und trennte sich von ihm, da er, wie einige andere Freudschüler die These der Libido als sexuellen Grundantrieb bezweifelte und später ablehnte. C. G. Jung wurde als Begründer der analytischen Psychologie bekannt und bemühte sich um ein Verständnis des Menschen aus philosophischen und religiös-mystischen Ursprüngen.246 In seinem 700 Seiten umfänglichen Werk Psychologische Typen von 1921 teilt C. G. Jung das Bewusste und Unbewusste in vier Grundfunktionen ein: Empfinden, Denken, Fühlen und Intuieren. In diesem Konzept sind Empfinden und 244 Hippokrates (Übersetzung von Kapferer, 1934) 245 Fisseni, 1998. 246 Fisseni, 1998.
Acht Typen nach C. G. Jung
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Abbildung 4: Vgl. Rothschuh (1959).
Intuieren Formen irrationaler Wahrnehmung, das heißt bei einer Empfindung geht es um eine Wahrnehmung ohne Bewertung, nach Jung also ohne Sinnverleihung. Beim Intuieren geht es um unbewusstes Wahrnehmen, um eine schnelle Erfassung dessen, was einer Sinneswahrnehmung zugrunde liegt. Denken und Fühlen dagegen sind Formen rationaler Bewertung. Denken trifft die rationale Entscheidung über wahr und falsch. Fühlen befindet über gut und böse; Es ist eine emotionale Einschätzung, die jedoch rational zustande kommt.247 Die Empfindung sagt, daß etwas existiert, das Denken sagt, was es ist; das Gefühl sagt, ob es angenehm oder unangenehm ist; und die Intuition sagt, woher es kommt und wohin es geht.248
Jeder Mensch trägt in unterschiedlicher Gewichtung diese vier Funktionen in sich. Wenn sich ein Individuum mit einer dieser Funktionen im Leben zu orientieren versucht, führt dies theoriegemäß zu einer Vernachlässigung der entgegengesetzten Funktion. 247 Fisseni, 1998. 248 Jung, 1971, S.61.
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Persönlichkeitsprofile
Abbildung 5: Die vier Grundfunktionen nach C.G. Jung. [Fisseni, 1998]
Weiterhin kann man nach Jung die vier Grundfunktionen noch in Einstellungsformen unterteilen: Introversion und Extraversion. Diese sind Modi der Weltwahrnehmung die jedem Menschen quasi von Geburt mitgegeben sind. Nun kombiniert Jung die zwei Einstellungen mit den vier Grundfunktionen, die er zu acht so genannten »Grundtypen« menschlicher Personen und Eigenschaften zusammenfasst. Das Schema lässt auf diese Weise viele Auslegungen zu. Zusätzlich ergänzt Jung jeden Typus mit einem Beispiel aus der europäischen Geistesgeschichte. Diese Typologien sind auch eine mögliche Erklärung in Bezug auf Kontroversen zwischen Philosophen, Dichter, Theologen und Wissenschaftler, da der eine Typus Mühe hat, den anderen zu verstehen. Tabelle 1: »Acht Typen« nach C.G. Jung mit den zwei Einstellungen und vier Grundfunktionen249
Denken Fühlen Empfinden Intuieren
Extravertiert extravertierter Denktypus extravertierter Fühltypus extravertierter Empfindungstypus extravertierter Intuitionstypus
249 Fisseni, 1998.
Introvertiert introvertierter Denktypus introvertierter Fühltypus introvertierter Empfindungstypus introvertierter Intuitionstypus
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Der extravertierte Denktypus zeigt das Bestreben, seine gesamte Lebensführung an intellektuellen Schlüssen zu orientieren. Ihm erscheint als richtig, was seiner Formel entspricht. An dieser Formel wird gemessen, was gut und böse ist. Auch seine Umgebung muss sich seiner Formel unterordnen, seine Moral verbietet ihm, Ausnahmen zu dulden. Als beispielhafte Vertreter benannte Jung hauptsächlich Männer und zwar Reformatoren, Kritiker und Propagandisten. Ein Beispiel für einen solch gearteten Denktypus ist Darwin.250 Der introvertierte Denktypus orientiert sich vorwiegend an Ideen und beschäftigt sich mit der inneren Realität. Das Denken wird demnach von einem subjektiven Faktor geleitet, Ideen werden verfolgt, jedoch lediglich nach innen. Dies kann zu einem Mangel an praktischen Fähigkeiten führen, da äußere Tatsachen lediglich als Beispiele herangezogen werden. Dieser Denktypus ist meist in der Verfolgung seiner Ideen hartnäckig, eigensinnig und unbeeinflussbar und treibt die Entwicklung von Innovationen voran. Ein Beispiel wäre nach Jung der Typus des zerstreuten Professors, ein prominenter Vertreter ist Kant.251 Der extravertierte Fühltypus strahlt häufig Sicherheit gefühlsmäßiger Art aus, ist taktvoll und hilfsbereit. Das Gefühl befindet sich in Übereinstimmung mit objektiven Werten, das heißt die Gefühle entsprechen den objektiven Situationen. Beispielsweise richtet sich die Liebeswahl nach dem passenden Partner, das heißt es wird jemand geliebt, der im Sinne von Stand, Alter, Vermögen, Größe und Respektabilität adäquat ist. Der extravertierte Fühltypus unterdrückt am meisten sein Denken. Nach Jung sind häufige Vertreter weiblichen Geschlechts, z. B. Vorsitzende/r, und Fürsorger/innen. Die neurotische Version dieses Typus stellt nach Jung die Hysterie dar.252 Der introvertierte Fühltypus wirkt nach außen häufig kühl und reserviert, erlebt aber innerlich tief und gefühlvoll. Nach außen entsteht so eine harmonische Unauffälligkeit jedoch nach dem Motto: »Stille Wasser sind tief«. Auch hier ordnet Jung die typischen Vertreter oft dem weiblichen Geschlecht zu. Beispielsweise könnte es sich bei typischen Vertretern um Frauen handeln, die sich mit kühler Leidenschaft für Kunst und Religion einsetzen. Der extravertierte Empfindungstypus orientiert sich an Erlebnissen, die die Sinne ansprechen und genießt das Leben. Er muss jedoch nicht ohne Ideale und Prinzipien sein. Dazu kommt ein Realismus, der sich aus realen Erfahrungen am konkreten Objekt speist. Besonders markant ist bei diesem Typus die Genussbetonung gemeinsam mit einer reinen Tätigkeit. Diese Persönlichkeitsbetonung kann bis zum »rohen Genussmenschen«253 oder »skrupellosen raffinierten Äs250 251 252 253
Jung, 1971. Jung, 1971. Jung, 1971. Jung, 1971.
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Persönlichkeitsprofile
theten«254 entwickelt sein aber auch zu ästhetisch hoch differenzierten Menschen. Der introvertierte Empfindungstypus erlebt die Welt subjektiv und hat häufig Schwierigkeiten, die inneren Erlebnisse auszudrücken. Dieser Typus orientiert sich an der Intensität der durch den äußeren Reiz ausgelösten subjektiven Empfindung. Häufig besitzen Vertreter eine hohe künstlerische Ausdrucksfähigkeit, z. B. Musiker und Maler des Abstrakten.255 Der extravertierte Intuitionstypus lässt sich alle Möglichkeiten offen und deutet die Wirklichkeit immer wieder neu, das heißt er greift viel auf und führt wenig zu Ende. Es gibt häufig eine starke Abhängigkeit von äußeren Situationen und eine Suche nach neuen Möglichkeiten. Dies führt gelegentlich zu einer geringen Rücksichtnahme auf die Umgebung. Nicht selten sind Vertreter unmoralische und rücksichtslose Abenteurer, aber auch Menschen, die eine Art Witterung für zukünftige Konstellationen haben, für das »was kommen«256 wird. Typische Vertreter dieses Typus sind Diplomaten, Spekulanten, Kaufleute, Agenten und Politiker. Der introvertierte Intuitionstypus träumt und phantasiert gern. Es handelt sich häufig um Phantasten, Träumer und Künstler. Dies schlägt sich beispielsweise auch in der verbalen Ausdrucksfähigkeit nieder, so bleibt die Sprache häufig subjektiv und sogar teilweise unverständlich. Der Intuitive bleibt auch häufig beim Wahrnehmen und – als Künstler- beim Gestalten der Wahrnehmung. Typische Vertreter sind nach Jung Künstler, Seher und auch Propheten mit »starkem Sendungsbewusstsein«.257
5.4
Fritz Riemann und die vier Grundtypen der Angst
Fritz Riemann (1902 – 1979) war ein deutscher Psychologe und Psychoanalytiker, der als Dozent und Lehranalytiker am Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie in München tätig war. In seinen späteren Jahren wandte er sich u. a. auch dem Gebiet der Astrologie zu. In seinem bekanntesten Werk Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie beschreibt der Autor vier Persönlichkeitsstrukturen. Diese Theorie basiert nach Riemann auf psychoanalytischen Erkenntnissen und Erfahrungen der Psychotherapie und Tiefenpsychologie. Er betont jedoch, dass es sich dabei
254 255 256 257
Jung, 1971. Jung, 1971. Jung, 1971. Jung, 1971.
Fritz Riemann und die vier Grundtypen der Angst
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nicht um Typologien handelt, da sie nicht »fatalistisch und endgültig festlegend seien« und nicht »schicksalhaft gegeben und unabänderlich«258. Nicht nur, weil ich einen bestimmten Körperbau habe, bin ich so oder so, sondern weil ich eine bestimmte Einstellung, ein bestimmtes Verhalten zur Welt, zum Leben habe, das ich aus meiner Lebensgeschichte erworben habe, prägt das meine Persönlichkeit und verleiht ihr bestimmte strukturelle Züge.259
Sobald es jedoch eine der vier Grundängste überwiegt, führt dies zur Ausbildung der vier Persönlichkeitsstrukturen, zu vier Arten des »In-der-Welt-Seins«260. Riemann verweist darauf, dass wir alle mehr oder weniger akzentuierte Anteile dieser Strukturen in uns tragen bzw. sie leben. Nach Riemann handelt es sich bei den Persönlichkeitsstrukturen zunächst um »Normalstrukturen« mit gewissen Akzentuierungen. Sobald jedoch die Akzentuierungen extreme Ausprägungen erreichen, sind sie als pathologisch anzusehen. Je ausgeprägter und einseitig eine dieser Strukturen vorherrscht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf eine frühkindliche Entwicklungsstörung zurückzuführen ist. Aus diesem Grund widmet er vor allem den lebensgeschichtlichen Hintergründen seine Aufmerksamkeit. Die Grundlage der vier Persönlichkeitstypen sind die von Riemann entworfenen vier Grundarten der Angst. Vor diesem Hintergrund formt er seine Persönlichkeitstypen aus. Nach Riemann gehört das Erlebnis von Angst zum Dasein eines jeden Menschen. Er klassifiziert jedoch verschiedene Forderungen, die an alle Menschen gestellt werden und die Ängste mit sich bringen, welche er als vier Grundformen der Angst zusammenfasst. Die erste Forderung an den Menschen, ist die, ein einmaliges Individuum zu werden. Dieser Impuls zur Selbstwerdung bringt allerdings auch die Angst vor Selbsthingabe, Ich-Verlust und Abhängigkeit mit sich. Denn je stärker die Individualität ausgeprägt ist, desto mehr fallen wir aus der Geborgenheit des Dazugehörens heraus. Die zweite Forderung ist die, dass wir uns der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauend öffnen. Diese Form der Selbsthingabe, bzw. Hingabe an das Leben, birgt jedoch Angst vor der Selbstwerdung, Einsamkeit und Isolierung. Die dritte Forderung zielt darauf ab, Dauer anzustreben. Dieser Impuls nach Stabilität geht mit der Angst vor Veränderung, Vergänglichkeit und Unsicherheit einher. Die vierte Forderung ist die Bereitwilligkeit zum Wandel. Dieser Impuls zur Veränderung birgt die Angst vor der Notwendigkeit und Unfreiheit in sich. 258 Riemann, 1999, S.32. 259 Riemann, 1999, S.32. 260 Riemann, 1999, S.31.
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Persönlichkeitsprofile
Dabei stehen die ersten beiden Forderungen und die letzten zwei einander diametral gegenüber. Es geht darum, das richtige Gleichgewicht zwischen den entsprechenden Impulsen zu finden. Ausgehend von den, von ihm beschriebenen vier Grundformen der Angst, beschreibt Riemann vier Persönlichkeitsstrukturen: Der schizoide Typ, der depressive Typ, der zwanghafte Typ und der hysterische Typ. Die schizoiden Persönlichkeiten Bei der Persönlichkeit des schizoiden Typs besteht eine Grundangst vor Hingabe. Damit geht ein Impuls zur Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung einher. Diese Tendenz äußert sich in Autarkiestreben und der Distanzierung von den Mitmenschen. Wird die Distanz unterschritten, zeigt sich die Angst vor mitmenschlicher Nähe in Bedrohungserleben. Da sich Nähe oft nicht vermeiden lässt, entwickelt die Person dann Schutzhaltungen, hinter denen sie sich abschirmen kann. Auf die Umwelt wirken solche Menschen oft kühl, distanziert und unpersönlich. Dadurch entsteht eine Kontaktlücke zwischen dem Individuum und der Umwelt.261 Die depressiven Persönlichkeiten Bei der Persönlichkeit des depressiven Typs geht es um die Grundangst, ein eigenständiges Ich zu werden und damit einhergehend Geborgenheit zu verlieren. Es besteht ein starker Wunsch nach Verschmelzung mit einer geliebten Person und eine Tendenz zu Ich-Aufgabe und Hingabe. Der Individuation wird ausgewichen. Dadurch entsteht eine überwertige Bedeutung des Partners und eine Abhängigkeit. Mit diesem großen Wunsch nach Nähe geht auch eine Verlustangst einher.262 Die zwanghaften Persönlichkeiten Bei der Persönlichkeit des zwanghaften Typs geht es um die Sehnsucht und das Streben nach Dauer. Dies äußert sich im Festhalten von Bekannten und Gewohntem und wenig Offenheit gegenüber Neuem. Das Grundproblem ist also das überwertige Sicherheitsbedürfnis und eine Angst vor Wandel und Vergänglichkeit. Dies manifestiert sich bei Menschen mit zwanghaften Anteilen
261 Riemann, 1999, S. 34 – 79. 262 Riemann, 1999, S. 80 – 133.
Fritz Künkel und die Ichhaftigkeit
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dann beispielsweise durch Überbetonung von Traditionen und einer Strukturierung des Lebens mit Schemata, Regeln und Gewohnheiten.263 Die hysterischen Persönlichkeiten Bei der Persönlichkeit mit hysterischen Anteilen liegt eine Überbetonung am Reiz des Neuen, Unbekannten und der Freude am Wagnis vor. Dem liegt die Angst vor dem Endgültigen, Unausweichlichen, Notwendigen zugrunde. Menschen mit dieser Persönlichkeitsakzentuierung streben nach Veränderung und Freiheit und fürchten Einschränkungen und Traditionen. Dies birgt jedoch auch die Gefahr des Lebens in einer »Scheinrealität«, mit sich, d. h. einer Wunschwelt in der Begrenzungen nicht existent sind.264 Nach Riemann begegnen die vier Grundformen der Angst in unterschiedlichen Ausprägungen jedem von uns. Die großen Ängste des Daseins lassen sich nicht umgehen, doch gibt es häufig den Versuch, ihnen durch kleine banale Ängste auszuweichen. Diese neurotischen Ängste sind letztlich jedoch nur aufzulösen, wenn die dahinterliegende grundsätzliche Angst erkannt wird und wir uns damit aus einander setzen. Ein Mittel der Wahl dafür ist die Psychotherapie.
5.5
Fritz Künkel und die Ichhaftigkeit
Fritz Künkel (1889 – 1956) war ein deutscher Psychologe und Psychiater und gehörte zu den führenden Vertretern der Individualpsychologie in Deutschland. Aufgrund seiner autoritären und konservativen Gesinnung ist er jedoch teilweise umstritten. In einem seiner bekanntesten Werke Einführung in die Charakterkunde (1944) beschreibt Künkel vier Charaktertypen und stellt diese schematisch dar : Der Cäsar, der Star, das Heimchen und der Tölpel. Um diese Charaktertypen einordnen zu können, muss man zuerst betrachten, was Künkel unter der Ichhaftigkeit versteht, die die Grundlage für diese Typologie bildet, denn nach Künkel sind alle diese Charaktertypen »ichhaft erstarrt«265. Der Grad der Ichhaftigkeit ist nach dem Autor nicht erblich determiniert. Er schreibt: »Das neugeborene Kind ist noch nicht ichhaft«266. Nach Künkel entsteht die Ichhaftigkeit erst in Anpassung an die Umgebung und den 263 264 265 266
Riemann, 1999, S. 134 – 192. Riemann, 1999, S. 193 – 243. Künkel, 1944, S.64. Künkel, 1944, S.64.
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Persönlichkeitsprofile
Wechselwirkungen zwischen Kind und Umwelt. Daraus erklärt sich auch, dass die Typen der Ichhaftigkeit auch in allen denkbaren Mischungen auftreten können und sich im Verlauf eines Menschenlebens mehrfach ändern können. Der Zweck dieser typischen Verhaltensweisen ist die Bewahrung des Ich. Weiterführend geht Künkel davon aus, dass alle Charakterzüge immer doppelseitig bedingt sind. Sie gehen demnach nicht allein durch Vererbung hervor und werden auch nicht allein durch die Umgebung bestimmt. Das zentrale Element stellt nach ihm die Wechselwirkungen dar : Jede Regung des Charakters eines Lebewesen ist eine Antwort auf die Anregungen der Umwelt. Es muß dem Scharfsinn und der Menschenkenntnis des Lesers überlassen bleiben, mit Hilfe der hier gegebenen schematischen Typen die unendliche Fülle von Abstufungen und Mischungen, die das Leben darbietet, auf ihre wesentlichen Linien zurückzuführen und aus ihren Grundformen zu verstehen.267
Die vier von Künkel benannten Typen, sind durch die Gegensatzpaare hart und weich sowie aktiv und passiv gekennzeichnet. Abhängig von der Art wie ein Kind aufwächst, welcher Erziehung sich die Eltern bedienen und wie das Kind auf diese reagiert, bilden sich tendenziell die von ihm benannten Charaktertypen aus. Tabelle 2: Künkels vier Typen268
Aktiv Passiv
Verweichlicht Star anspruchsvoll will bewundert werden Heimchen wehleidig will beschützt werden
Verhärtet Cäsar herrisch will gefürchtet werden Tölpel stumpf will in Ruhe gelassen werden
Typus Star (aktiver verweichlichter Charakter) Kinder, die verwöhnt aufwachsen, lernen häufig, sich als wichtige und beachtenswerte Persönlichkeit zu sehen. Damit einher geht der Anspruch auf die Erfüllung aller Wünsche. Wenn alles den Weg geht, den der Star sich wünscht, überzeugt er mit strahlend guter Laune. Nach Künkel kann heilpädagogisch erst dann eingewirkt werden, wenn er nach einem möglichen Zusammenbruch in eine passive Form der Ichhaftigkeit übergeht.269 267 Künkel, 1944, S.64. 268 Künkel, 1944, S.65. 269 Künkel, 1944.
Fritz Künkel und die Ichhaftigkeit
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Typus Heimchen (passiver verweichlichter Charakter) Auch hier steht häufig eine verwöhnende Erziehung am Anfang. Die Beachtung und die Erfüllung der Wünsche wird hier aber durch Zartheit, Schwäche und Mitleid gewonnen. Künkel verweist darauf, dass das Leiden unbewusst entsteht und nicht bewusst manipulativ vorgetäuscht wird. Schwierig wird es für Heimchen, wenn die bekannten Mittel aufhören zu wirken und Helfer und Diener ausbleiben. Heilpädagogisch sollte eine Förderung der eigenen Leistung und Anstrengung im Mittelpunkt stehen.270 Typus Cäsar (aktiver verhärteter Charakter) Bei Kindern, deren Erziehung zu hart war und hohe Anforderungen und Kritik vorherrschte, wird häufig ein Grundsatz im Sinne eines »Ich kann mich nur auf mich selbst verlassen« entstehen. Dies liegt der egoistischen Haltung eines Cäsars zugrunde. Er betrachtet andere als Objekte, um nicht selbst zum Objekt gemacht zu werden. Daraus folgt jedoch, dass er nie für, sondern immer nur gegen etwas kämpft. Auch hier verweist Künkel darauf, dass erst nach einem Zusammenbruch und einem Übergang in eine passive Haltung die Heilpädagogik tätig werden kann.271 Typus Tölpel (passiver verhärteter Charakter) Auch dieser Charakter hat gelernt, dass man sich nicht auf die Erwachsenen verlassen kann, darüber hinaus jedoch auch, dass er sich nicht selbst helfen kann. Der Ausweg aus den Entbehrungen und Enttäuschungen ist der Verzicht. Indem das Kind lernt, den eigenen Wünschen zu entsagen, z. B. durch Entwertung. Ein mögliches Lebensmotto wäre »Ich bin einer, dem kann keiner.« Die scheinbare Faulheit und Gleichgültigkeit ist demnach ein Schutz. Heilpädagogisch wäre nach Künkel das Mittel der Wahl hier die Ermutigung.272 Abschließend ist es wichtig noch einmal zu betonen, dass die von Künkel beschriebenen vier Namen lediglich karikaturhafte Übertreibungen darstellen.
270 Künkel, 1944. 271 Künkel, 1944. 272 Künkel, 1944.
106
5.6
Persönlichkeitsprofile
Neurosenstruktur nach Harald Schultz-Hencke
Harald Schultz-Hencke (1892 – 1953) war ein deutscher Psychoanalytiker, der u. a. am Berliner Psychoanalytischen Institut (BPI) tätig war und der Neopsychoanalyse zugeordnet werden kann. Nach Schultz-Hencke entwickelt sich die Persönlichkeitsstruktur in den ersten fünf Lebensjahren eines Menschen. Dabei spielen sowohl angeborene Merkmale als auch Umwelteinflüsse eine Rolle. Zudem benennt er eine »Neurosenstruktur«, d. h. eine Persönlichkeitsstruktur, die durch beispielsweise problematische angeborene Faktoren wie Hypersensibilität, Hypermotorik, Hypersexualität, Debilität oder Organminderwertigkeit eine Disposition für eine spätere Erkrankung legen. Auf die Persönlichkeitsentwicklung wirkt sich in der Erziehung des Kindes Verwöhnung und Härte, bzw. der Wechsel zwischen diesen beiden Erziehungsstilen als ungünstig aus. Unter Härte fasst SchultzHencke auch ungünstige Rahmenbedingungen wie finanzielle Engpässe im Haushalt, Erkrankungen oder Trennung der Eltern.273 Seiner Meinung nach entwickeln sich Persönlichkeiten durch eine eingetretene Hemmung des natürlichen angeborenen Antriebserlebens eines Kindes. Die Hemmung wird durch Erziehungseinflüsse mitbedingt. Das Antriebserleben enthält nach Schultz-Hencke die Grundtendenzen Besitzstreben, Geltungsstreben und Sexualstreben. Jedes Kind reagiert mit verschiedenen Mechanismen, Anpassungen und Abwehrmechanismen auf die Anforderungen der Umwelt. Mit der Zeit wiederholen sich die Reaktionsweisen und werden zu habituellen Reaktionen. Diese Muster nennt Schultz-Hencke dann Persönlichkeit oder Persönlichkeitsstruktur. Nach dem Autor gibt es einige Strukturen die anfälliger gegenüber psychischen Erkrankungen sind und damit sogenannte Neurosenstrukturen. Er unterscheidet zwischen einer depressiven, einer zwanghaften, einer schizoiden und einer hysterischen Struktur274.
Schizoide Struktur Durch eine frühkindliche Intentionshemmung in Bezug auf zwischen-menschliche Beziehungen erfolgt eine tief gehende Kontaktgestörtheit. Menschen mit so einer Persönlichkeitsstruktur sind häufig reserviert und scheu aber auch misstrauisch und kalt gegenüber ihren Mitmenschen und erzeugen durch diesen Habitus beträchtliche Distanz.275 273 Boessmann, 2006. 274 Boessmann, 2006. 275 Schultz-Hencke,1947.
Konstitutionstypologie nach Ernst Kretschmer
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Depressive Struktur Durch eine Gehemmtheit oraler und aggressiver Antriebe entsteht eine Persönlichkeitsstruktur, die die bedrohlichen oralen und aggressiven Strebungen massiv abwehren und so in Versuchungs- und Versagenssituationen scheinbar hilflos wirken. Die Bedürfnisse der Umwelt erscheinen dann unerfüllbar und die aggressive Energie richtet sich gegen das eigene Selbst.276 Zwanghafte Struktur Die zwanghafte Persönlichkeitsstruktur entsteht durch die Beschneidung des Bedürfnisses Besitz zu ergreifen oder die Umwelt zu explorieren im Sinne einer motorischen Entfaltung und äußert sich durch ein Durchbrechen »dranghaftmotorischer« Impulse in Versuchungs- oder Versagungssituationen.277 Hysterische Struktur Die hysterische Struktur entsteht durch eine kombinierte Hemmungserfahrung in den ersten fünf Lebensjahren im Sinne einer fehlenden Herausbildung einer Realitätsprüfung. Dies führt zu fortgeführter Irrationalität in verschiedenen Lebensbereichen, in theatralischem Leben und einer Sexualisierung der Umwelt.278
5.7
Konstitutionstypologie nach Ernst Kretschmer
Ernst Kretschmer (1988 – 1964) war als Professor für Psychiatrie in Marburg und Tübingen tätig und erforschte u. a. die Schizophrenie und manische Depression. Im Jahre 1929 war er Anwärter des Nobelpreises für Medizin. Er war zur Zeit des Nationalsozialismus tätig und wird wegen seiner Konformität mit der damaligen Ideologie und der Wissenschaft (z. B. Rassenlehre) heute kritisch diskutiert. Kretschmer entwickelt in seiner Typenlehre vier Typen, denen er einen spezifischen Körperbau, damit einhergehende Eigenschaften und eine Disposition zu einer bestimmten psychiatrischen Erkrankung attestiert. Die Art der psychiatrischen Erkrankung ist theoriegemäß eine Übersteigerung der zugeschriebenen Charaktereigenschaften. Ausgehend von den Forschungen Kraepelins, der die »psychiatrischen Formkreise des manisch-depressiven (zirkulären) und schizophrenen Irreseins (De276 Schultz-Hencke, 1947. 277 Schultz-Hencke, 1947. 278 Schultz-Hencke, 1947.
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Persönlichkeitsprofile
mentia praecox)«279 herausgearbeitet hat, ergänzt Kretschmer diese psychiatrischen Typen zunächst mit Zuordnungen zur Beschaffenheit des Körperbaus. Er verweist darauf, dass sich davon ausgehend auch umfassendere Betrachtungen hinsichtlich normal-psychologischer Temperamentstypen angeschlossen haben. Er stützt sich dabei auf klinische Beobachtungen in seinem Alltag. Wir müssen den sauren und mühsamen Weg der systematischen wörtlichen Beschreibung und Aufzeichnung des ganzen äußeren Körpers von Kopf bis zu Fuß gehen, wo irgendmöglich, mit Tasterzirkel und Bandmaß messen, dazu photographieren und abzeichnen.280
Er verwendete in seinem klinischen Alltag einen mehrseitigen Fragebogen zum menschlichen Konstitutionsschema, in dem der Kliniker jeweils zu Gesicht und Schädel, Körperbau, Körperoberfläche, Drüsen und Eingeweide schematisch seine Beobachtungen ankreuzen kann. Beispielsweise hat der Forscher zur Nase folgende Auswahlmöglichkeiten: Groß, mittel, klein, lang, kurz, dünn, dick (knorpeliger Typ), schmal, breit (knöcherner Typ), spitz, stumpf, gezogen, gestülpt, blaß, rot, flach gesattelt, tief gesattelt, gebogen, gerade, eingezogen, vorspringend, zurücktretend, kräftig konturiert, schwach konturiert, Nasenwurzel scharf, Nasenwurzel schwach abgesetzt.281
Die in dem Werk Körperbau und Charakter abgebildeten Schemata wurden auf Basis von 290 Fällen beschrieben, die nach der oben genannten Methode untersucht und eingeordnet wurden. Der pyknische Typus ist gekennzeichnet durch eine »starke Umfangsentwicklung der Eingeweidehöhlen«282, einen gedrungenen Körperbau, einem kurzen Hals und breitem Gesicht sowie einer Neigung zum Fettansatz. Der athletische Typus zeichnet sich aus durch eine starke Entwicklung des Skelettes und der Muskulatur. In der Beschreibung beschreibt Kretschmer durchaus die »schönsten Exemplare dieser Gattung«283 mit breitem Brustkorb, breiten Schultern und tendenziell großer Körpergröße. Der leptosome Typus (gelegentlich auch asthenischer Typus genannt)284 wird eher ein unterdurchschnittliches Längenwachstum bescheinigt. Er sei häufig mager, zart- flachbrüstig bis hin zur »Schmalbrust« mit verhältnismäßig langen und dünnen Extremitäten sowie einem relativ kleinen Kopf. 279 280 281 282 283 284
Kretschmer, 1933, S.1. Kretschmer, 1933, S.2. Kretschmer, 1933, S.3. Kretschmer, 1933, S.32. Kretschmer, 1933, S.27. Kretschmer verweist jedoch darauf, dass der Begriff »asthenisch« rein sprachlich bereits ein Werteurteil im Sinne etwa Kraftlosen oder Kränklichen innehat und er den Begriff leptosom (leptos = schmal) vorzieht.
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Konstitutionstypologie nach Ernst Kretschmer
Weitergehend verweist er auf die Gruppe der dysplastischen Spezialtypen, mit abweichenden Körperbauvarianten (z. B. eunuchoider Hochwuchs, Maskulinismen, diensephal-endokrine Fettwuchsformen, Infantile und Hypoplastische).285 Kretschmer verwies auf eine enge Korrelation zwischen dem Körperbau und den Temperamenten. Er ordnet den Pyknikern die cyclothymen Temperamente, den Athletikern die viskösen Temperamenten und den Leptosomen die schizothymen Temperamente zu. Die cyclothymen Temperamente werden den Pyknikern zugeschrieben. Diese sind nach Kretschmer Menschen, die eher schlichte, unkomplizierte Naturen sind und deren Gedanken und Gefühle unverstellt von der Umwelt registriert werden kann. Temperamentsmerkmale aus der klinischen Beobachtung dieser Patienten waren die Eigenschaften gesellig, gutherzig, freundlich, gemütlich, heiter, humoristisch, lebhaft bis hitzig, aber auch still, ruhig, schwer nehmend und weich.286 Die visköse Temperamente werden den Athletikern zugeschrieben. Diese Temperamente sind im Allgemeinen ruhig, bedächtig, zuverlässig, zäh, forsch, aber auch energisch und aktiv. Es gibt auch eine explosive Neigung, Athletiker sind häufig erregbar und explosiv. Die schizothymen Temperamente werden den Leptosomen zugeschrieben. Diese Menschen sind gekennzeichnet von Oberfläche und Tiefe im Charakter. Menschen mit dieser Temperamentsart werden häufig Eigenschaften zugeschrieben wie ungesellig, still, zurückhaltend, ernsthaft (humorlos), schüchtern, feinfühlig, empfindlich, nervös, aufgeregt, lenksam, gutmütig, brav, stumpf, dumm. Teilweise erleben sie ein »Insichhineinleben« und sind eher als Sonderlinge bekannt.287 Tabelle 3: Kretschmers Typologie288 Körperbau Mittelgroß, gedrungener Körperbau, Neigung zum Fettansatz Athletisch kräftiger Körperbau, breite Schultern, muskulär Leptosom Flacher langer Brustkorb, hager, Lange dünne Extremitäten Dysplastisch atypisch, missgebildet (z. B. grobe Störungen der Körperproportionen)
Pyknisch
285 286 287 288
Kretschmer, 1933, S.77. Kretschmer, 1933, S.175. Kretschmer, 1933, S.193. Modifiziert nach Kretschmer, 1933, S.14.
Temperament
Psychose
Cyclothyme Temperamente Viscöse Temperamente Schizothyme Temperamente
Manischdepressiv Epilepsie Schizophrenie Epilepsie
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Persönlichkeitsprofile
Weitergehend ordnet Kretschmer den speziellen Typen auch eine Neigung zu einer bestimmten psychiatrischen Erkrankung zu. Er gibt an, diese Häufungen in Bezug auf eine bestimmte Erkrankung im klinischen Alltag beobachtet zu haben. Demnach tendieren Pykniker zur manisch-depressiven Störung, die Athletiker zur Epilepsie und die Leptosomen zur Schizophrenie. Der Autor exemplifiziert seine Temperamenten Einordnung zudem auch an »geniale(n) Menschen«289, deren Hochbegabung sich nach Kretschmer durchaus in sein Schema einordnen lässt: Demnach sind theoriegemäß cyclothyme Künstlertemperamente vornehmlich Realisten und Humoristen. Namentlich ordnet er beispielsweise Luther, Goethes Mutter, Wilhelm Busch und Gottfried Keller dieser Gruppe zu. Schizothyme Künstlertemperamente sind dagegen Pathetiker, Romantiker und formvolle Stilkünstler wie Schiller, Hölderlin, Rousseau und Novalis. Zum Schluss verweist Kretschmer auf die Bedeutung seiner Theorie: Nicht nur für die klinische Diagnostik und Therapie, sondern ebenso sehr für die praktische Menschenkenntnis und Menschenbeurteilung auf allen Lebensgebieten.290
5.8
Persönlichkeitstypen A, B, C und D
Persönlichkeit und koronare Herzkrankheit: Typ-A-Persönlichkeit Als allgemein gesicherte Risikofaktoren für das Vorliegen einer Koronaren Herzkrankheit (KHK) gelten Alter, systolischer Blutdruck, Rauchen, Cholesterinspiegel und Body-Mass-Index (BMI).291 Im Jahr 1975 veröffentlichten Rosenman und Friedman eine Studie, die den Beitrag von psychologischen Variablen zur Entstehung von koronarer Herzkrankheit in den Blickpunkt der Forschung rückte. Meyer Friedman (1910 – 2001) und Ray H. Rosenman (*1920), zwei amerikanische Kardiologen, betrieben in den 50er Jahren in San Francisco eine gemeinsame Praxis. Einer Anekdote nach kam die erste Überlegung, ob die Persönlichkeit einen Einfluss auf kardiologische Erkrankungen hat, nach einer Beobachtung im eigenen Wartezimmer ihrer Praxis auf. Die beiden Ärzte beobachteten, dass die Stühle im Wartezimmer insbesondere am vorderen Rand der Sitzfläche und an den Armlehnen stark abgenutzt waren. Diese ungewöhnliche Abnutzung konnte erklärt werden, indem man das Verhalten der Patienten beobachtete. Anstatt sich geduldig zurückzulehnen, saßen die Patienten auf der Stuhlkante, sprangen 289 Kretschmer, 1933, S.370. 290 Kretschmer, 1933, S.240. 291 Amelang & Schmidt-Rathjens, 2003.
Persönlichkeitstypen A, B, C und D
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häufig auf, um erneut nachzufragen, wie lange sie noch warten müssen und erweckten insgesamt den Eindruck, ungeduldig und gestresst zu sein. In ihrer Theorie beschreiben Friedman und Roseman Personen mit der TypA-Persönlichkeit als charakterisiert durch zwei Persönlichkeitseigenschaften: Einerseits durch einen selbst gemachten Zeitdruck, das heißt durch ein Streben mehr zu erreichen und viele Projekte gleichzeitig zu erledigen und zum anderen durch eine gewisse Aggressivität. Dies äußert sich auch im Versuch andere zu dominieren und im beruflichen und sportlichen Ehrgeiz.292 Empirische Studien identifizierten die Persönlichkeitseigenschaften Zeitnot und Feindseligkeit als einen erklärungsmächtigen Prädiktor für die KHK: TypA-Personen litten nach Untersuchungsergebnissen etwa doppelt so häufig an Herzerkrankungen wie Nicht-Typ-A Personen.293 Die beiden Kardiologen geben weiterhin Therapieempfehlungen. Diesen stellen sie die Überlegung voran, dass eine Änderung lediglich durch Eigenmotivation erreicht werden kann. Diese ist oft bei dieser Patientengruppe gering, da häufig der berufliche Erfolg fälschlicherweise dem Verhaltensmuster zugeschrieben wird. Weiterhin empfehlen sie Selbstbeobachtung, Gruppenpsychotherapie, Biofeedback und Autogenes Training als mögliche Therapieformen. Meyer Friedman, der sich selbst als ein in Heilung begriffener Typ-A- Persönlichkeit sah, erlitt 1955 einen Herzinfarkt.294 In den Jahren nach der Veröffentlichung von Rosenman und Friedman erhielt dieses Konstrukt viel Aufmerksamkeit in der psychosomatischen Forschung. Die Typ-A-Persönlichkeit erhöht das Risiko für eine kardiale Grunderkrankung. Viele Studien295 replizierten die Ergebnisse von Rosenman und Friedman, zum Teil auch an hohen Stichprobengrößen. Der Einfluss der Typ-A-Persönlichkeit auf die Krankheitsentstehung konnte jedoch nicht konstant aufgezeigt werden. In der jüngeren Vergangenheit wird der Typ-A-Persönlichkeit im Feld der empirischen Studien demnach nur noch eine geringere Prädiktivität zugeschrieben. Dies mag zum Teil dem Umstand geschuldet sein, dass mit den Jahren andere Messinstrumente zum Einsatz kamen. So wurde das von Rosenman und Friedman verwendete Messinstrument, das Strukturierte Interview, in welchem auch Verhalten der Probanden provoziert wurde und welches sehr zeitaufwändig war, in den neueren Studien fast vollständig durch das sehr ökonomische Jenkins Activity Survey (JAS)296 ersetzt. Beide Messinstrumente korrelieren nur mäßig miteinander. 292 293 294 295
Friedman & Rosenman, 1977. Friedman & Rosenman, 1977. »Recovering Type A« Vgl. Haynes, Feinleib & Kannel, 1980. Stichprobengröße der Faminghamstudie: 1674 Personen. 296 Jenkins, Zyzanski & Rosenman, 1979.
112
Persönlichkeitsprofile
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Konstrukt der Typ-A-Persönlichkeit nach anfänglichen hohen Validitäten mittlerweile eher geringeres Aufsehen erregt. Da das Krankheitsbild der KHK als multifaktoriell angesehen wird, gibt es zudem vermehrt Studien, die nicht einzelne Risikofaktoren wie Typ-A-Verhalten, sondern das gesamte Ursachengefüge untersuchen. Im 21. Jahrhundert hat sich das Typ-A-Verhalten als einer der als ursächlichen angesehenen Faktoren neben Alter, systolischer Blutdruck, Rauchen, Cholesterinspiegel und BMI eingeordnet und somit seine Sonderrolle verloren. Heutzutage gibt es jedoch kaum eine Studie der Risikofaktoren der KHK, welche das Konstrukt ausschließt. Selbst wenn in der aktuellen Forschung die Tendenz dahingeht, einzelne Komponenten des Konstruktes zu betrachten und beispielsweise Ehrgeiz, Aggression und Feindseligkeit als eigenständige Prädiktionsbeiträge zu berechnen.297 Typ-B-Persönlichkeit Unter Typ-B-Persönlichkeit werden Personen gefasst, die kontrastierende Eigenschaften zu Typ-A-Persönlichkeiten haben. Dementsprechend ist die Typ-BPersönlichkeit nur eine Art Hilfskonstrukt, welches Personen mit Nicht-Typ-AVerhalten einschließt.298 Typ-D-Persönlichkeit (»Distress-Persönlichkeit«) Der niederländische Professor für medizinische Psychologie in der Universität Tilbur, John Denollet, entwickelte das Konstrukt der Typ-D-Persönlichkeit und überprüfte es empirisch. Die Prävalenzrate der Typ-D-Persönlichkeit ist laut Denollet ca. 21 % der Allgemeinbevölkerung.299 Die sogenannte Typ-D-Persönlichkeit, auch genannt Distress-Persönlichkeit, wird charakterisiert durch eine hohe negative Affektivität und hohe soziale Hemmung. Personen mit hoher negativer Affektivität (z. B. Angst, Ärger, Reizbarkeit und Schwermut) erleben diese negativen Affekte über die Zeit hinweg und unabhängig von Situationen. Personen mit diesem Persönlichkeitsstil haben zudem ein negatives Selbstbild und eine Neigung, ihre Aufmerksamkeit auf negative Stimuli zu richten. Soziale Hemmung ist definiert als eine stabile Tendenz, den Ausdruck von Emotionen in sozialen Interaktionen zu vermeiden. Personen mit hoher sozialer Hemmung sind daher häufig unsicher und angespannt im Kontakt mit den 297 Amelang & Schmidt-Rathjens, 2003. 298 Amelang & Schmidt-Rathjens, 2003. 299 Denollet, 2000.
Persönlichkeitstypen A, B, C und D
113
Mitmenschen. Menschen mit einer Kombination aus diesen beiden Persönlichkeitseigenschaften erleben also nicht nur stärker als andere Menschen negative Affekte, sie haben auch Schwierigkeiten diese zu bewältigen. Denollets empirische Untersuchungen konnten zeigen, dass Patienten mit einer Typ-D-Persönlichkeit nach einem erlittenen Myokardinfarkt im Vergleich zu Personen ohne diese Persönlichkeitseigenschaften eine signifikant schlechtere Prognose aufweisen. Zudem zeigte sich in einer 5-Jahres-Studie, dass Personen mit Typ-D-Persönlichkeit ein 4-fach erhöhtes Risiko für einen plötzlichen Herztod oder einen Reinfarkt zeigten und zwar unabhängig von dem Vorliegen weiterer Risikofaktoren.300 Das erklärte Ziel des niederländischen Forschers war die frühzeitige Identifizierung von Patienten, die in diese Risikogruppe gehören.301 Das Konstrukt der Typ-D-Persönlichkeit ist ein relativ neues Konstrukt, auf welchem, nach der schwindenden Bedeutung der anderen Persönlichkeitstypen (bei Krebs und KHK), neue Hoffnungen liegen. Derzeit liegen erst Erfahrungen mit Personen vor, die bereits an einer KHK erkrankt sind; Prognosestudien gibt es derzeit noch nicht, Aufgrund der relativ neuen Konstruktes wird erst die längere Sicht zeigen, ob dieses Konstrukt einen eigenständigen Prädiktionsbeitrag in der KHK-Forschung leisten kann.302
Persönlichkeit und Krebs: Typ-C-Persönlichkeit Das Mitwirken psychosozialer Risikofaktoren bei Krebserkrankungen ist umstritten. In den letzten Jahrzehnten wurden in der Forschung zwei Hypothesen zu diesem Thema vorgebracht, einerseits die Hypothese der »Krebspersönlichkeit« und andererseits die Verlust-Depressionshypothese. Die Verlust-Depressionshypothese wurde vor allem von Forschern unterstützt303, die empirisch eine überzufällige Häufung von Verlusterlebnissen und Depressivität im Leben von Patienten mit einer Krebserkrankung nachweisen wollten. Durch Metaanalysenkonnte dies jedoch widerlegt werden.304 Menschen mit einer Typ-C-Persönlichkeit (Typ C von Cancer), scheinen durch eine gewisse Hilflosigkeit ausgezeichnet zu sein und Defizite beim Ausdruck eigener Emotionen zu haben. Zudem besitzen sie besondere Copingstile wie Verleugnung und Verdrängung. Die Studienlage zu diesem Thema ist jedoch dünn und sehr leicht für Kritik zugänglich, da die Daten nur retrospektiv erfasst 300 301 302 303 304
Denollet, 2000. Denollet entwickelte einen psychometrischen Test, die Tyo D-Skala (DS16). Amelang & Schmidt-Rathjens, 2003. vgl. Graham, Snell, Graham & Ford, 1971. McGee, Wiliams & Elwood, 1994.
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Persönlichkeitsprofile
wurden und sich somit die Frage stellt, ob die gefundenen Auffälligkeiten eine Reaktion auf die Erkrankung darstellen. Das Konstrukt der »Krebspersönlichkeit« hielt empirischen Untersuchungen305 nicht stand, so dass man sie heute von einigen Wissenschaftlern als »Mythos« bezeichnet wurde.306
5.9
Vergleich und Kritik
Die Theorie der Persönlichkeitsprofile von Flanders Dunbar ist eine ihrer bekanntesten und zugleich auch ihre am kontroversesten diskutierte Theorie. Sie ging von ihrer Beobachtung aus, dass Menschen, die an einem Syndrom erkrankt sind, einander mehr ähneln als Menschen, die gesund sind. Daraus folgerte sie spezifische Persönlichkeitsprofile für häufig auftretende psychosomatische Krankheitsbilder. Wichtig ist an dieser Stelle noch einmal Flanders Dunbars Intention in den Blickpunkt zu rücken, namentlich die Idee der frühzeitigen Intervention. Persönlichkeitsprofile sollten nach ihrer Theorie eine frühzeitige Diagnostik möglich machen, die dann präventive Interventionen zur Folge hätte. Sie stellte es sich in etwa so vor, dass der kundige Mediziner jemanden mit einer bestimmten Persönlichkeitskonstellation identifizieren und bereits vor Ausbruch der psychosomatischen Erkrankung intervenieren könnte. Bereits seit der Antike haben sich Ärzte und Philosophen mit der Persönlichkeit des Menschen und mit einer möglichen Klassifikation in Typen befasst. So wurden exemplarisch die Temperamentenlehre des Hippokrates und deren Weiterentwicklung durch Galenos sowie weitere Klassifikationsversuche von C.G. Jung, Fritz Riemann, Fritz Künkel, Harald Schultz-Hencke und die von der empirischen Forschung gestützten Persönlichkeitstypologien A, B, C und D in diesem Kapitel vorgestellt. Die Temperamentenlehre des Hippokrates/Galenos beeindruckt mit einer eingängigen Klassifikation: Der heitere Sanguiniker, der verlangsamte Phlegmatiker, der aufbrausende Choleriker und der schwermütige Melancholiker sind ausdrucksvolle Beschreibungen. Diese Klassifikation und ihre zugrunde liegende Theorie der ungleichen Mischung der vier Körpersäfte sind jedoch im 21. Jahrhundert medizinisch nicht bestätigt worden. Daher darf die wissenschaftliche Basis als überholt gelten. Die Grundfrage, welche sich hinter Hippokrates/Galenos Typisierung abzeichnet, ist jedoch auch eine Frage, welche sich ebenfalls Flanders Dunbar gestellt haben dürfte. Es ist die Frage nach dem 305 vgl. König, 2000. 306 Amelang & Schmidt-Rathjens, 2003.
Vergleich und Kritik
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Wesen des Menschen, eine Frage wie ein Mensch beschaffen ist und was die gemeinsamen Elemente sind. C. G. Jungs Unterteilung in acht Typen beinhaltet dieselbe Vereinfachung wie andere Typisierungen. Die Problematik springt daher im Sinne einer Vereinfachung und Verkürzung sogleich ins Auge. Auch die Jungschen Auslegungen der Typen an konkreten Beispielen halten nicht immer einer differenzierten Betrachtung stand. Beispielsweise bezeichnet er Sigmund Freud als den Extravertierten und Alfred Adler als den Introvertierten und versuchte, in deren Theorien diese Behauptungen zu exemplifizieren. Die Psychoanalyse kreist demnach um die äußere Welt und die Objektbeziehungen und die Individualpsychologie um die innere Welt und das Ich. Weiterhin kritikwürdig sind C. G. Jungs Konzept der Männlichkeit und Weiblichkeit, welche sich in der Typisierung deutlich widerspiegelt. Er ordnet Frauen ausschließlich dem Fühlen zu und Männern dem Denken. Im 21. Jahrhundert ist solch eine verkürzte Einteilung zweifelsohne überholt. Fritz Riemann mit seinen vier verschiedenen Arten des »In-der-Welt-Seins«, schränkte seine Theorie dahingegen ein, dass auch er keine absoluten Persönlichkeiten beschrieb, sondern lediglich strukturelle Persönlichkeitszüge. Für seine Theorie gelten dieselben Einschränkungen wie für alle Typologien. Die vier schematischen Charaktertypen von Fritz Künkel: Der Cäsar, der Star, das Heimchen und der Tölpel sind karikaturhafte Übertreibungen und beinhalten in ihrer verzerrten Form dennoch ein Stück Wahrheit. Wenn man dies im Blick behält, können aus dieser Typologie hilfreiche Gedankenanstöße in Bezug auf die Betrachtung von Individuen entstehen. Die Neurosenstruktur von Schultz-Hencke hat das psychodynamische Denken in Deutschland tief geprägt. Die Psychotherapie-Richtlinien beinhalten Empfehlungen für Therapeuten in Bezug auf die verfassten Gutachten, welche an den Gutachter der Krankenkassen für eine analytische oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gehen. Die dort beschriebene Strukturdiagnose kann konflikt-dynamisch-inhaltlich nach den Neurosenstrukturen von SchultzHencke formuliert werden. Auch in der ICD-10 und der DSM-IV finden sich indirekt die Strukturen nach Schultz-Hencke als einige von mehreren Persönlichkeitsstörungen (depressive, zwanghafte, schizoide und histrionische Persönlichkeits-störungen) wieder. Dennoch ist hervorzuheben, dass SchultzHencke seine formulierten Neurosenstrukturen nicht mit Persönlichkeitsstörungen gleichsetzt. Neurosenstrukturen sind keine Krankheiten, sondern Dispositionen.307 Die Theorie von Ernst Kretschmer, welche dieser in Anlehnung an eigene klinische Beobachtungen entwickelte, erscheint sehr verkürzt und teilweise 307 Boessmann, 2006.
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Persönlichkeitsprofile
willkürlich. Er vernachlässigt zudem Geschlecht, Alter und kulturelle Einflüsse. Im 21. Jahrhundert gelesen, hat sie zudem noch einen bitteren Nachgeschmack, da sie eine Theorie ist, welche dem Zeitgeist des vorkrieglichen Nazi-Deutschlands deutlich wiederspiegelt. Kretschmer verweist in seinem 1931 veröffentlichtem Werk jedoch auf die Diskrepanz zwischen seiner Typologie und der damals florierenden Rassetypologie. Eine Identität der Konstitutionstypen mit bestimmten Rassetypen kann nicht in Frage kommen.308
Auch das Ariertum wird von ihm wissenschaftlich nicht gestützt. Dennoch wurde seine Theorie nach 1933 im Zuge der national-rassistischen Instrumentalisierung der Wissenschaft oft herangezogen, um diese zu untermauern. Die von Kretschmer teilweise verherrlicht dargestellten »muskulösen Athletiker« wurden zu »Herrenmenschen« stilisiert. Zudem wurden seine Theorien später auch in Bezug auf die menschliche Sexualität ausgedehnt und rassistische und diskriminierende Elemente konnten sich manifestieren. Menschen mit asthenischem Körperbau wurde generell eine Affinität zur Homosexualität zugeschrieben. Kretschmer selbst forschte in diesem Gebiet nicht weiter, jedoch wurden seine Theorien oft zitiert und weiterverwendet. Zusammenfassend lässt sich bemerken, dass die Typologisierungen von Kretschmer ein Beispiel darstellen, welche Gefahr Typenbildungen innewohnt, insbesondere, wenn sie auf einen Zeitgeist treffen, in welchem Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung wuchern wie im Nationalsozialismus. Die unterschiedlichen Theorien der Persönlichkeitstypen haben die wissenschaftliche und philosophische Welt seit der Antike beschäftigt. Das Typologisieren und Klassifizieren hat seit jeher einen festen Platz in der Wissenschaft. Es werden Modelle entwickelt, um komplexe Zusammenhänge zu veranschaulichen, wohl wissend um die Einschränkungen dieser Modelle und Typenbildungen. Häufiger Kritikpunkt einer solchen Systematik ist die Tatsache, dass sie vorab festgelegt und daher relativ unbeweglich sind. Es besteht die Gefahr, dass Sachverhalte in Klassen gezwängt werden, in die sie nicht vollständig passen und dadurch feine Nuancen übersehen werden. Typologisierungen sind daher per se anfechtbar, da sie immer Verkürzungen enthalten. Dies liegt jedoch in der Natur der Sache, denn es handelt sich schließlich um Typen. Die Suche nach Persönlichkeitstypen ist zugleich auch die Suche nach etwas Gemeinsamen, das Erkrankte verschiedenster Störungsbilder verbindet. In dieser Suche tauchen existentielle Fragen auf: Gibt es eine Konstitution als 308 Kretschmer, 1933, S.159.
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Disposition für Erkrankungen? Warum wird unter vergleichbaren Lebensumständen ein Mensch krank und der andere nicht? Flanders Dunbars Persönlichkeitstypen waren ihre Antwort auf diese Grundfragen der psychosomatischen Medizin und ihre Hypothesen haben die weitere psychosomatische Forschung enorm stimuliert. Die von ihr identifizierten Persönlichkeitstypen wurden selten konkret kritisiert, vielmehr ist mit der Zeit in der psychosomatischen Forschung ein anderes Modell an die Stelle getreten. Zunächst wurden Flanders Dunbars Persönlichkeitstypen von Franz Alexanders Spezifitätsmodell verdrängt, welches sich in seiner Zeit außerordentlicher Beliebtheit erfreute. Franz Alexander verweist auf eine Konfliktspezifität, die abhängig von bestimmten Dispositionen zu vegetativen und emotionalen Reaktionen führt und damit zu bestimmten Erkrankungen. Er geht weiterhin davon aus, dass jede emotionale Spannung zu einem spezifischen physiologischen Syndrom führt. Alexanders Spezifitätstheorie beinhaltet also den zentralen Gedanken, dass es krankheitsspezifische Konflikte gibt, die sich auf das vegetative Nervensystem und neuroendokrine Funktionen auswirken.309 Das Spezifitätsmodell von Franz Alexander ist jedoch auch ein Kausalmodell und daher für Kritik anfällig. Die Frage, welche Symptomkonstellation auf situative Zustände und welche auf Charakter- oder Persönlichkeitszüge zurückzuführen ist, blieb daher weiterhin umstritten. Heutzutage geht man davon aus, dass jeder Konflikt jedes Störungsbild bedingen kann und die einseitige Festlegung auf einen spezifischen Konflikt als überholt einzustufen ist. Im Vordergrund steht daher ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell, welches die Ätiopathogenese von Erkrankungen zu ergründen sucht. Bei der Entstehung psychosomatischer Krankheiten geht man aktuell davon aus, dass spezifische und unspezifische Faktoren beteiligt sind. Ein einziges Erklärungsmodell im Sinne einer Krankheitspersönlichkeit ist daher überholt. Reaktionsformen im Sinne einer Erkrankung können daher auf jede denkbare Konfliktsituation hin auftreten und eine individuelle Organreaktion auslösen. Dies kann an einem Beispiel verdeutlich werden. Betrachten wir beispielsweise eine Kassiererin in einem Geschäft. Nehmen wir an, dieses Geschäft wird überfallen und unsere Protagonistin das Opfer eines Überfalles. Die Täter bedrohen sie mit einer Schusswaffe und schließen sie einige Stunden unfreiwillig in einen Schrank ein, aus welchem sie aber körperlich unversehrt von der Polizei befreit werden kann. Nun wäre denkbar, dass diese Frau als Reaktion auf das Erlebte eine Störung entwickelt. Das Vorgefallene, das heißt die Konfrontation mit der eigenen Todesangst und das Eingesperrtsein in einem engen Raum könnten die Entwicklung einer Angsterkrankung begünstigen. Dem muss aber 309 Boll-Klatt, in Schmeling-Kludas (Hrsg.), 2005.
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Persönlichkeitsprofile
nicht so sein. Je nach ihrer individuellen Disposition kann sie auch Funktionsstörungen verschiedenster Organe oder eine Erkrankung auf dem Bereich der depressiven Störungen entwickeln oder jede andere denkbare Erkrankung. Im Gegensatz dazu besteht auch die Möglichkeit, dass sie als resilientes Individuum nach einigen Tagen und Wochen psychisch und körperlich unbeschädigt aus diesem Vorfall hervorgeht. Das heißt, die Situation gibt einige äußere Reize hinzu, aber auch die persönliche Disposition spielt eine Rolle bei der Entwicklung von Symptomen oder Symptomfreiheit. Psychosomatische Erkrankungen sind also eine situationsunabhängige Antwort auf Belastungen. Je nach Autor gibt es jedoch häufig unterschiedliche Gewichtung der Bedeutung der auslösenden Situation, eventuellen Vorerfahrungen in Kindheit und Jugend, die daraufhin folgende körperliche Reaktion und das seelische Erleben. Der Begriff Psychosomatik verweist bereits auf eine Leib-Seele-Geist-Einheit und damit auf den Gedanken, dass es seelische Ursachen für körperliche Symptome gibt und umgekehrt. Die moderne Auffassung der Psychosomatik geht dahin, dass der Patient in seiner »gesamten biologischen, seelischen, sozialen und geistigen Existenz«310 wahrgenommen werden soll. Dadurch rückt ein Mensch mit seinem spezifischen Lebensstil in den Blickpunkt der Betrachtung. Es wird sowohl seine Beziehung zur Umwelt, sein Charakter als auch seine Physiognomie betrachtet. Der Begriff Lebensstil geht auf den Individualpsychologen Alfred Adler zurück, der proklamierte, dass ein tiefes psychotherapeutisches Verständnis eines Menschen nicht leichtfertig und nur mit »künstlerischer Einfühlungskraft«311 erreicht werden kann, um so der Differenziertheit und Ganzheit einer Person am ehesten gerecht zu werden. Der Ausdruck Lebensstil hat gegenüber den Persönlichkeitstypen den entscheidenden Vorteil, dass er nicht die Starrheit der Typen innehat, sondern eine größere Individualität berücksichtigt. Dies sind zusammenfassende Überlegungen zur kritischen Würdigung der Theorie der Persönlichkeitstypen. Diese Theorien finden also durchaus ihren Platz in der wissenschaftlichen Betrachtung und können – unter den genannten Einschränkungen – ein hilfreiches Instrument darstellen, gehen jedoch nicht darüber hinaus. Gelegentlich jedoch meine ich, in einem Gegenüber ein Teil eines solchen Typus aufblitzen zu sehen. Dann sitzt man plötzlich einem Heimchen im Künkelschen Sinne gegenüber, isst mit einer Typ-A-Persönlichkeit zu Mittag oder sieht deutlich eine schizoide Persönlichkeitsstruktur aufblitzen. Diese Momente vergehen jedoch rasch wieder und verschwinden hinter der Differenziertheit der Individualität des jeweiligen Menschen. 310 Rattner & Danzer, 2008, S.19. 311 Rattner, 1994, S.176.
6 Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters Flanders Dunbars: Kinder, Prä-Teenager und Teenager
6.1
Seele und Körper des Kindes
Unter dem Titel Seele und Körper des Kindes, mit dem Untertitel Ein praktischer Ratgeber für Eltern, veröffentlichte Flanders Dunbar ihr erstes Werk über die Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters. Zu dieser Zeit war ihre eigene Tochter Marcia acht Jahre alt. Die Kapitel tragen die Überschriften: »Schläft Ihr Kind?«, »Isst Ihr Kind?«, »Spielt ihr Kind?«, »Lieben Sie Ihr Kind?«, »Gehorcht Ihr Kind?«, »Verweigert der Körper Ihres Kindes manchmal den Gehorsam?«, »Wird Ihr Kind krank?«, »Verübt Ihr Kind kleine oder größere Delikte?« und »Ihr Kind als Elternteil«.312 Im Vorwort verweist Flanders Dunbar darauf, dass das Buch nicht auf Kindererziehung ausgerichtet ist, sondern auf die Erziehung der Eltern.313 Diese Grundhaltung zieht sich durch das gesamte Werk und wird an mehreren Beispielen exemplifiziert. Sie empfiehlt einen respektvollen Umgang mit Kindern. Es sei zudem günstig sich in sie hineinzuversetzen und so besser zu verstehen, wie es sich anfühlt, wenn z. B. »ein Riese«314, also ein Erwachsener, auf einen zukommt und einen aus dem Bett reißt. Flanders Dunbar schreibt: »Sie haben vergessen, dass Sie sich selbst so verhalten haben«315. Wenn ein Kind unverständlich reagiert, ist es Aufgabe der Eltern zu verstehen, warum das Kind so handelt. Sie sollten nachempfinden, warum es unruhig und traurig ist. In so einem Fall ist es günstig, das Kind selbst zu Wort kommen zu lassen und es zu befragen. Hier kommt Flanders Dunbars Prämisse zutage, wonach Kinder häufig selbst wissen, was gut für sie ist. Dies zeigt sie an Beispielen wie Essensauswahl oder Schlafgewohnheiten auf. Sie plädiert dafür, eine gelassene Mutter oder Vater zu sein und sich nicht panisch nach Ratgeberbüchern zu 312 313 314 315
Dunbar, 1949. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1949, S.2. Dunbar, 1949, S.5. Dunbar, 1949, S.11. Originalzitat aus dem Englischen.
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Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
richten, die beispielsweise die ideale Zeit für Schlaf festlegen, da jedes Kind individuelle Bedürfnisse hat. Flanders Dunbar bringt in ihrem Werk zahlreiche Fallbeispiele von gelungenen oder misslungenen Interaktionen mit Kindern. Zudem schildert sie Rückblicke ihrer erwachsenen Patienten auf die eigene Kindheit und zeigt weiterführende Konsequenzen bestimmter Verhaltensweisen der Eltern für das weitere Leben der Kinder auf. Sie bringt ihre Argumente und Beispiele in einem flüssigen, angenehm lesbaren Stil vor und schafft es scheinbar spielend, philosophische und literarische Zitate in den Text einzuflechten. So zitiert sie beispielsweise im Abschnitt über das kindliche Toilettentraining Shakespeares Othello.316 Auch Plato oder Goethes Faust finden sich bei ihr wieder. Ein Hinweis darauf, dass die Autorin die Schrift in der Mitte des 19. Jahrhunderts für die begüterte Mittelschicht verfasst hat, ist der häufige Verweis in Fallbeispielen auf die Interaktionen zwischen Kind, Kindermädchen und Hauspersonal. Ein wichtiger Teil ihres Werkes ist die Interaktion zwischen Eltern und ihren Kindern. Grundsätzlich vertritt sie die Einstellung: »Verhalten spricht lauter als Worte es tun«317. Sie plädiert für eine kooperative Beziehung, welche auf gegenseitigem Respekt beruht. Als Elternteil sollte man auch eigene Fehler zugeben können. Wenn man sich gottähnlich fehlerlos inszeniert, hinterlässt das nur Gefühle der Inadäquatheit oder Schuld bei den Kindern, da sie solch ein Vorbild nie erreichen können.318 Wenn Kind und Eltern nicht in ihren Meinungen übereinstimmen, hilft oft ein Kompromiss. Wieder empfiehlt Flanders Dunbar eindringlich, dem eigenen Kind zuzuhören und auch die eigene Position kritisch zu reflektieren.319 Nach ihrer Einschätzung ist ein Zustand der emotionalen Aufgewühltheit bei den Eltern schädlich für die Interaktion mit dem Kind. In diesem Fall sollten die Eltern zunächst einige Minuten vor dem Kinderzimmer verbringen, um wieder die Kontrolle zu erlangen und nicht emotional unreflektiert mit dem Kind zu interagieren. Auch hier empfiehlt Flanders Dunbar einen Perspektivwechsel und plädiert dafür, einige Minuten an das Dilemma des Kindes zu denken, anstatt an das eigene. Weiterhin verweist sie darauf, dass ihrer Ansicht nach viele Eltern versuchen, bei den eigenen Kindern die Fehler, die ihre Eltern an ihnen begangen haben, wieder gut zu machen. Dies geschieht dann im Sinne eines »Wir werden unserem 316 317 318 319
Akt 3. Es geht um das Motiv der Rache. Dunbar, 1949, S.162. Dunbar, 1949, S.100. Dunbar, 1949, S.107.
Seele und Körper des Kindes
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Kind nie das antun, was uns selbst angetan wurde«320. Beispielsweise wird jemand, der in Armut aufgewachsen ist und darunter gelitten hat, höchstwahrscheinlich versuchen, ein Vermögen anzuhäufen, so dass es dem eigenen Kind materiell an nichts fehlt. Dennoch ist die Möglichkeit relativ groß, dass sich das eigene Kind trotzdem nicht so wie gewünscht entwickelt. Flanders Dunbar schreibt dazu: Sie werden sich wundern, dass Ihnen Gott das nach ihrem ganzen Märtyrertum angetan hat. Gott tat es nicht. Sie haben es selbst getan – gegenüber ihrem Kind und sich selbst – durch eine übertriebene emotionale Reaktion, weil das leidende Kind in Ihnen immer noch existiert.321
Daraufhin plädiert Flanders Dunbar dafür, dass Eltern lernen sollten, sich selbst gegenüber »gute Eltern« zu sein. Sie führt dies am Beispiel der Selbstbestrafung aus. Sie verweist darauf, dass Menschen, die unfreundlich und irrational mit sich selbst und den eigenen Fehlern umgehen, sich höchstwahrscheinlich auch gegenüber ihren Kindern in derselben Art und Weise verhalten werden. Das Kapitel über Gehorsam leitet sie mit den Worten ein: Wissen Sie, was sie meinen, wenn sie sagen, dass ihr Kind ungehorsam ist? Was meint Gehorsam überhaupt?322
Flanders Dunbar lehnt in ihrem Werk körperliche Bestrafung ab und verweist zum einen auf die Gefahr, dadurch eigene Affekte ungefiltert am Kind auszulassen und zum anderen, dass das Kind aus so einer Situation nicht lernt, die Konsequenzen der eigenen Handlung einzuschätzen. Wenn ein Kind nach einer Bestrafung eine Handlung unterlässt, hat es ihrer Ansicht nach lediglich gelernt, etwas zu unterlassen, weil die Eltern sonst schimpfen oder strafen und nicht weil es verstanden hat, weswegen die Situation unangemessen oder gefährlich war.323 In diesem Sinne gibt sie die Antwort auf ihre eingangs gestellte Frage, was denn Gehorsam überhaupt sei: »Zu gehorchen heißt: Tu was ich sage – auch wenn ich falsch liege«.324 Die beste allgemeine Regel über Gehorsam ist, diesen in der Kind-Eltern-Beziehung so weit wie möglich außen vor zu lassen.325
Im Gegensatz dazu empfiehlt sie ein gemeinsames Handeln. Man sollte sich absprechen und versuchen, einander zu helfen, richtig zu liegen. Ihrer Ansicht nach sollten Eltern ihren Kindern helfen, sie unterstützen, viel erklären und sie 320 321 322 323 324 325
Dunbar, 1949, S.85. Dunbar, 1949, S.86. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1949, S.103. Dunbar, 1949, S.121. Dunbar, 1949, S.149. Dunbar, 1949, S.151. Originalzitat aus dem Englischen.
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Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
befähigen, die Probleme allein zu lösen. Wenn ein Kind einen Sinn für Integrität und Verantwortung entwickelt hat, kann es auch Lebenssituationen realistisch einschätzen und neue Lebenssituationen allein meistern.326 Sie betrachtet auch die sexuelle Entwicklung des Kindes und plädiert für eine freiheitliche und unprüde Erziehung, bei gleichzeitiger Vorsicht, die Kinder nicht zu überfordern. Sie verweist darauf, dass Erwachsene der Sexualität eine sehr hohe Bedeutung einräumen und deswegen häufig frühe Fragen der Kinder zu ausführlich und weitschweifend beantworten. Es entstehen dann ganze Aufklärungsgespräche, wenn ein einfacher Satz genügt hätte. Eine gelungene Eltern-Kind-Interaktion ist das Fallbeispiel der kleinen Diana. Das viereinhalb Jahre alte Mädchen findet im Schrank ihrer Mutter einen Tampon und fragt, was dies denn sei. Dianas Mutter antwortet: »Pack es aus, was denkst du denn, was es ist?« Diana beschaut den Gegenstand und sagt: »Es sieht aus wie ein Verband.« »Das stimmt.«, antwortet die Mutter. »Wann braucht man es?« fragt das Kind. »Was glaubst du?«, fragt die Mutter. »Wenn man zuviel blutet für ein Pflaster«, antwortet Diana. Die Mutter bestätigt dies und Diana wendet ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zu.327 Auch bezüglich Masturbation bemerkt Flanders Dunbar, dass oftmals die Kinder gehemmt aufwachsen und häufig durch Verbote und Gruselgeschichten massive Schuldkonflikte entstehen. Sie weist darauf hin, dass Masturbation als Teil der normalen Entwicklung akzeptiert werden sollte.328 Generell kommt im gesamten Werk ihre Ansicht zum Ausdruck, dass Kinder sich nach dem Vorbild der Eltern richten und mittels emotionaler Ansteckung und Beobachtungslernen Verhaltensweisen ihrer Bezugspersonen übernehmen. Ein Beispiel ist das Lügen. Flanders Dunbar verweist darauf, dass Kinder anfangen zu lügen, wenn sie dies bei ihren Eltern beobachten, beispielsweise wenn sich diese am Telefon verleugnen lassen. Ehrliche Eltern haben ehrliche Kinder, es sei denn sie haben eine irrationale Wahrnehmung ihrer eigenen Ehrlichkeit.329
Weitere Kapitel befassen sich mit Erkrankungen. Flanders Dunbar meint, dass bei Erkrankungen oder schlechtem Benehmen der Kinder viele Eltern dazu tendieren, Vorfahren als Sündenbock zu benennen und den Einfluss der Genetik über zu betonen. Kinder erben jedoch keine Erkrankungen, sondern lediglich Prädispositionen für Erkrankungen. Viel häufiger kommt ihrer Meinung nach die schon in Kapitel 4.1.2.2 beschriebene Pseudo-Erblichkeit bei der Manifestation der Erkrankungen zum Ausdruck. 326 327 328 329
Dunbar, 1949, S. 148 – 149. Dunbar, 1949, S. 175 – 176. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1949, S.169. Dunbar, 1949, S.245.
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Neurotische Verhaltensweisen entstehen nach Flanders Dunbars Ansicht häufig durch Missverständnisse und emotionale Verletzungen in der Kindheit. Werden diese nicht korrigiert, sondern mit der Zeit angehäuft, summieren sie sich, bis die Erkrankung ausbricht.330 In der normalen Kindesentwicklung lernt das Kind bestimmte Funktionen des Körpers zu beherrschen. Falls es wieder zu einem Rückfall kommt und die entsprechende Körperkontrolle nicht mehr funktioniert, liegt nach Ansicht der Autorin häufig ein Konflikt im Sinne von ambivalenten Gefühlen des Kindes oder unterdrückten Affekten vor. Darüber hinaus benennt sie die Problematik, die entsteht, wenn Eltern in bestimmten Situationen den Verdacht haben, ihr Kind spiele eine Krankheit nur vor. Fast keine Erkrankung ist wirklich geschwindelt. Wir haben über Simulation gesprochen, aber wir sind zu der Erkenntnis gekommen, dass es kein Simulieren ohne das Vorliegen einer neurotischen Erkrankung gibt; der Hauptgrund von Neurosen sind die Eltern, vielleicht ihrer, vielleicht derer von ihrem Kind.331
Über die Verwendung von Medikamenten schreibt sie den treffenden Satz: »Medizin wird schneller verabreicht als Zuneigung«332. Wenn ein Kind bestimmte Krankheitssymptome zeigt, ist es ihrer Auffassung nach Aufgabe der Eltern und Ärzte nachzudenken, was die Ursachen dafür sind. Eltern können zum Beispiel auf die Organsprache hören, insbesondere im präverbalen Stadium des Kindes. Träume stellen ebenfalls einen hilfreichen Anknüpfungspunkt für ein tieferes Verständnis des eigenen Kindes dar. Anstatt nur eine Diagnose zu suchen, welche man den Kindheitssymptomen zuordnen kann, sollte man beobachten, was vor sich geht, nicht nur bei dem Kind, sondern auch Zuhause und in der Umgebung. Es ist nicht genug zu sagen, dass jemand unsicher und ambivalent ist, finden Sie heraus, was ihn unsicher und ambivalent macht. In psychologischen wie auch physiologischen Manifestationen gibt es keinen Ersatz für intensive Beobachtung.333
Natürlich widmet sie auch einige Überlegungen der von Kindern. Diese stellt für sie »eine Form der Revolte gegen Autoritäten oder, in einigen Fällen, gegen Verantwortung«334 dar. Sie berichtet Fallgeschichten von kleinen Jungen, die sich zum »Club der gebrochenen Knochen«335 zusammengeschlossen haben. Dieser enthält ein hohes Prestige für die Knaben. Weiterhin betont sie, dass Kinder über 330 331 332 333 334 335
Dunbar, 1949, S.92. Dunbar, 1949, S.185. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1949, S.22. Dunbar, 1949, S.221. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1949, S.200. Dunbar, 1949, S.200. »Broken Bone Club«.
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Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
die Art der eigenen Erkrankung informiert werden sollten. Dies ist insbesondere notwendig, damit sie mit dem Arzt kooperieren können. Generell steht sie Veränderungen optimistisch gegenüber : Ungünstige Tendenzen können zu beinahe allen Zeitpunkten korrigiert werden, bevor sie zu weit entwickelt sind, aber sie werden nicht korrigiert, bis die Eltern willens sind, nachzuprüfen und die Ursache herauszufinden.336
Im letzten Abschnitt ihres 300-seitigen Werkes gibt Flanders Dunbar einen Ausblick auf die Ziele einer gelungenen Erziehung: Eine solche hinterlässt Kinder vorbereitet, selbst gute Eltern zu werden und zu helfen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.337
6.2
Seele und Körper des Prä-Teenagers
Ihr Werk mit dem Titel Seele und Körper des Prä-Teenagers ist posthum im Jahre 1962 erschienen. Im Vorwort widmet sie das Buch Eltern und Kindern, denn diese werden ihrer Einschätzung nach das Buch zweifellos in die Hände bekommen. Unter Prä-Teenagern versteht die Autorin Mädchen im Alter zwischen 9 – 12 Jahren und Jungen im Alter von 11 – 14 Jahren. Sie verweist darauf, dass die Basis ihres Werkes Fragen sind, die ihr Eltern und Kinder gestellt haben. Die Kapitel heißen: »Verwandlung von der Kindheit«, »Veränderungen des Körpers«, »Veränderungen im Status«, »Veränderungen der Kommunikation«, »Veränderungen der Regeln und Vorschriften« und »Veränderungen im sexuellen Bewusstsein«.338 Die Autorin führt aus, dass PräTeenager nicht einfach nur junge Teenager sind, sondern ganz eigene Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben. Sie beschreibt nachvollziehbar und einfühlsam die zahlreichen Veränderungen, mit denen Kinder und Eltern konfrontiert werden und welche sie in eine neue Welt befördern, in der sich Kinder und auch ihre Eltern plötzlich nicht mehr zuhause fühlen.339 Zusammen mit den körperlichen Veränderungen gehen noch zahlreiche emotionale Veränderungen einher. Auf der körperlichen Ebene erfolgt beispielsweise ein Wachstumsschub, das Körpergefühl verändert sich, viele werden kurzzeitig ungeschickt, die Geschlechtsteile beginnen sich zu verändern. Auf der emotionalen Ebene sind Prä-Teenager häufig unruhig und ärgerlich, lehnen Hilfe ab und wissen oft selbst den Grund dafür nicht. Flanders Dunbar erwähnt, dass viele Prä-Teenager berichten, dass ein Jahr besonders schlimm für sie war, 336 337 338 339
Dunbar, 1949, S.188. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1949, S.288. Dunbar, 1962a, S. 7 – 9. Dunbar, 1962a, S.15.
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das sogenannte »Horrorjahr«340. Ein Prä-Teenager hat im Rückblick über diese Zeit den Ausspruch getätigt: Du liebst Personen heftig, ohne zu wissen warum und du hasst Personen, von denen du dachtest sie zu lieben.341
Die Erwachsenen bekommen häufig erst später mit, wie ihren Kindern in dieser Zeit zumute war. Häufig bleibt es auch ihren Freunden gegenüber schwierig, verwirrende Gedanken zu verbalisieren. Die Prä-Teenager können teilweise Unterstützung seitens der Gleichaltrigengruppe bekommen und vor allem von älteren Jugendlichen, welche die Veränderungen schon durchgemacht haben. Junge Menschen in dieser Lebensphase haben gelegentlich Gedanken mit gewalttätigem Inhalt, möglicherweise Phantasien mit dem Inhalt zu töten oder getötet zu werden. Die Prä-Teenager sind in der Regel geschockt und gestehen dies erst Jahre später. Die Prä-Teenager müssen beginnen ihren Platz in der Welt zu finden, sie fangen an sich mit den Themen Status, Besitz, Freunde, Identität, Kleidung und sozialer Stellung aus einander zu setzen. Flanders Dunbar empfiehlt diesbezüglich: Das Kind sollte die Möglichkeit bekommen mit seinem Aussehen zu experimentieren, uneingeschränkt von den häufig unpassenden Vorschriften seiner Eltern.342
Sie empfiehlt Kindern Freiraum zu geben, um eigene Fähigkeiten zu erkennen und das eigene Urteilsvermögen zu erproben. Sofern ihm nicht in seinem Alter die Möglichkeit gegeben wird, eigene Entscheidungen zu treffen, sein Aussehen und seinen Staus zu akzeptieren und zu modifizieren, wird es im späteren Leben deutlich mehr Schwierigkeiten haben.343
Nur wenn Kinder schon jung üben, Verantwortung zu tragen, werden sie auch im Erwachsenenalter damit gut zurecht kommen. Den Eltern wird also empfohlen, Prä-Teenager schon in viele Entscheidungen mit einzubeziehen. Zusammenfassend schreibt sie: Die Entwicklung von der Kindheit zum Teenageralter kann als ein Übergang von einem Zustand mit eng limitierten Wahlmöglichkeiten zu einem Zustand mit größeren Wahlmöglichkeiten angesehen werden.344
Die Autorin betont eindrücklich die Bedeutung eines demokratischen Umgangs in der Familie. Zusammenfassend wird in diesem Werk erneut deutlich, wie Flanders Dunbar eine günstige Beziehung zwischen Eltern und Kindern auffasst: 340 341 342 343 344
Dunbar, 1962a, S.20. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962a, S.21. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962a, S.81. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962a, S.78. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962a, S.99. Originalzitat aus dem Englischen.
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Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
Diese Beziehung sollte auf wechselseitiger Liebe, Respekt und Verständnis gründen. Die differenzierten Betrachtungen des Heranwachsens eines Prä-Teenagers umfassen selbstverständlich auch Überlegungen in Hinblick auf Erkrankungen. Zunächst zeigt Flanders Dunbar auf, dass die Todesursachen von Jugendlichen zwischen 10 und 20 Jahren dieselben sind, wie von Erwachsenen und zwar am häufigsten Unfälle, gefolgt von Krebs- und Herzkreislauferkrankungen. Sie verweist kongruent mit ihrem ersten Buch auf die Wichtigkeit, die Ursache von Erkrankungen zu betrachten und sich nicht nur auf die Symptomatik zu konzentrieren. Wenn der Übergang von einer Entwicklungsphase zur nächsten nicht reibungslos verläuft, kann es passieren, dass unreife Aspekte im Kind zurückbleiben. Diese sind auf den ersten Eindruck nicht sichtbar, leben jedoch in Situationen wieder auf, die analog zu denen sind, in welchen das Kind nicht gelernt hat adäquat damit umzugehen.345 Eltern suchen häufig nach oberflächlichen Ursachen. Beispielsweise fragen sie ob das Kind etwas Falsches gegessen hat, zu lange aufgeblieben ist oder sich zu dünn angezogen hat. Dieses Verhalten kann tatsächlich zu bestimmten Symptomen führen, die spannendere Frage ist jedoch, warum das Kind sich in dieser oder jener Art verhalten hat, mit der Folge krank zu werden. Auch wenn Eltern bei Erkrankungen der Kinder die Deutung anbringen, das Kind wolle lediglich Aufmerksamkeit erregen oder die Schule schwänzen, fragt Flanders Dunbar erneut: Warum möchte das Kind Aufmerksamkeit oder nicht zur Schule? Wenn es Prä-Teenagern gelegentlich gestattet wird, eine kleine Auszeit von der Schule zu nehmen ohne krank zu sein, wird ihre Gesundheit und die Anwesenheit in der Schule sich höchstwahrscheinlich verbessern.346
Weiterhin weist Flanders Dunbar auf die Bedeutung der Organsprache bei Erkrankungen von Prä-Teenagern hin. Krankheitssymptome von Individuen und ihre Reaktion darauf sollten genau betrachtet werden, denn dies mag Auskunft über die Art von stressreichen Situationen geben, auf welche die Person besonders anfällig reagiert.347 Die Organsprache findet sich nach ihrer Erfahrung schon häufig in der tagtäglichen Kommunikation mit der Person wieder. Ein Prä-Teenager sagt beispielsweise »Es hat mir den Atem verschlagen«348 oder »Das konnte ich nicht verdauen«.349 345 346 347 348 349
Dunbar, 1962a, S.23. Dunbar, 1962a, S.39. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962a, S.45. Dunbar, 1962a, S.46. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962a, S.46. Originalzitat aus dem Englischen.
Seele und Körper des Prä-Teenagers
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Ein Beispiel sind Erkrankungen der Haut bei Prä-Teenagern. Die Haut ist nach Flanders Dunbar die Grenze zwischen Individuum und Außenwelt. Oft sind Erkrankungen der Ausdruck eines Konfliktes, z. B. der Wunsch nicht berührt zu werden oder mehr berührt zu werden. Allergien seien häufiger durch besseren Umgang miteinander zu heilen als durch den Austausch der Kissenbezüge, auf welche das Kind allergisch reagiert. Aufgabe der Erwachsenen ist es, herauszufinden was zu (Haut)Irritationen geführt haben könnte.350 Auch in Bezug auf Unfälle hat die Autorin Handlungsanweisungen für die Eltern. Wenn Prä-Teenager häufig Unfälle haben, sollte man versuchen zu verstehen, worüber das Kind nachgedacht hat, kurz bevor der Unfall passierte.351 Bezüglich Erkrankungen sagt sie, dass Frustrationen häufig dem Krankheitsbeginn vorausgehen.352 Eltern und Prä-Teenager sollten einander helfen Stresssituationen zu begegnen und aufmerksam zu sein, um die Situationen zu erkennen, die lang genug unbemerkt geblieben sind, um Schwierigkeiten zu bereiten.353
Sie weist darauf hin, dass auch Müdigkeit und Krankheit Stresssituationen darstellen und auch als solche behandelt werden sollten. Weiterhin widmet sie sich mit gewohnt genauer Beobachtungsgabe den körperlichen Veränderungen, mit denen der Prä-Teenager konfrontiert ist. Meist beginnen die ersten körperlichen Veränderungen bei Mädchen mit etwa 9 bis 12 Jahren und bei Jungen etwas später, mit 11 bis 14 Jahren. Generell sind dies jedoch auch nur vage Beschreibungen, da jeder Mensch individuell ist.354 Flanders Dunbar meint, dass das beginnende sexuelle Bewusstsein in der Regel die Eltern mehr verwirrt als die Kinder selbst. Sie äußert sich in Bezug auf einstige Tabus, beispielsweise die Themen Geld, Sex und Gott. Ihrer Ansicht nach kann man einem Kind gegenüber fast alles sagen, egal wie frustrierend oder peinlich es sein mag. Was zählt, ist nicht was man sagt, lediglich wie man es sagt. »Heutzutage sollte es keine Tabus mehr geben«355. Eltern sollten auch die mit dem sexuellen Erwachen einhergehenden verwirrenden Gefühle nicht auf die leichte Schulter nehmen: Jemandem zu sagen er solle nicht fühlen was er fühlt, ist so aussichtslos wie den Gezeiten zu befehlen aufzuhören.356
350 351 352 353 354 355 356
Dunbar, 1962a, S.47. Dunbar, 1962a, S.49. Dunbar, 1962a, S.51. Dunbar, 1962a, S.54. Dunbar, 1962a, S.30. Dunbar, 1962a, S.153. Dunbar, 1962a, S.26. Originalzitat aus dem Englischen.
128
Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
In Bezug auf Selbstbefriedigung geht Flanders Dunbar darauf ein, dass die Kirche dieses Verhalten als Sünde deklarierte. Sie wurde bereits im 17. Jahrhundert ein Pamphlet gegen Onanie erlassen. Gegen Ende des 18. Jahrhundert wurden auch noch scheinbar wissenschaftliche Informationen hinzugefügt. Diese besagten, dass Selbstbefriedigung zu verschiedenen Erkrankungen führe. Dadurch wurden zu den alten Schuldgefühlen noch neue Ängste hinzugefügt. Fehlinformationen bezüglich der Selbstbefriedigung halten sich häufig über Generationen hinweg. Viele Kinder haben Angst vor Masturbation, noch mehr fühlen sich deswegen schuldig, aber die meisten fühlen sich deswegen einsam.357
Sie erwähnt Beispiele von Eltern, die mit Bestrafung auf erwachendes körperliches Interesse und Selbstbefriedigung reagiert haben. Flanders Dunbar betont, dass Eltern ihren Kindern keine Schuldgefühle machen sollten, da nichts schlechten Angewohnheiten so sehr Nahrung gibt wie Schuld.358 Ein Anhaltspunkt dafür, dass das Buch einer anderen Zeit entstammt, ist der Umgang mit der weiblichen Menstruation. Flanders Dunbar verweist auf Beispiele, in denen Mütter ihre Töchter während deren Menstruation, auch »der Fluch«359 genannt, im Haus ließen, da zuviel Aufregung in dieser Zeit gefährlich sei. Flanders Dunbar bezeichnet diese Meinung als veraltet.360 Eltern, die selbst eine schwierige Adoleszenz hatten, tendieren dazu den eigenen Kindern das ebenfalls anzutun. Viele Kulturen und Familien erlassen Verbote und Einschränkungen anstatt die neuen Freiheiten und Möglichkeiten zu betonen. Zudem wird ein Unterschied gemacht, zwischen dem, was Jungen und was Mädchen können oder müssen. Zusammenfassend schreibt sie über diese schwierige Zeit mit den vielen Veränderungen: »Es gibt wenig was die Eltern tun können, nur informieren und ein Vorbild sein«.361
6.3
Seele und Körper des Teenagers
Das dritte Werk mit dem Titel Seele und Körper des Teenagers ist ebenfalls posthum im Jahre 1962 erschienen. Die Kapitel heißen: »Übergang zur Reife«, »Veränderungen des Körpers«, »Veränderungen des Krankheitsmusters«, »Veränderungen des Status«, »Veränderungen der Kommunikation«, »Verän357 358 359 360 361
Dunbar, 1962a, S.202. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962a, S.185. Dunbar, 1962a, S.208. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962a, S.208. Dunbar, 1962a, S.226. Originalzitat aus dem Englischen.
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derungen der Regeln und Vorschriften«, »Veränderungen im sexuellen Bewusstsein« und »Fazit: Das erwachsene Kind«.362 Es ist eine Fortführung des Werkes über die Prä-Teenager. Einige Kapitel ähneln sich, viele andere sind ergänzt um Themen wie Geld, Heirat, Gesetz und Religion. Wenn für Flanders Dunbar das Prä-Teenager Alter etwa bis zum 12. Lebensjahr bei Mädchen und bis zum 14. Lebensjahr bei Jungen geht, datiert sie das Teenageralter ab diesem Zeitraum bis etwa zum 21. Lebensjahr. Sie verweist darauf, dass es in vielen Kulturen Zeremonien und Feierlichkeiten gibt, die das Kind in der erwachsenen Welt begrüßen. Damit wird mitunter die Schwelle vom Prä-Teenager zum Teenager gefeiert, welche als Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein gedeutet wird, wobei das Ganze ihrer Ansicht nach eher ein Prozess sei.363 Allgemein verweist sie darauf, dass die meisten Kinder Angst davor haben, ein Teenager zu werden. Es entsteht häufig eine Barriere zwischen Eltern und Kindern aus Angst und Verlegenheit auf beiden Seiten. Zudem haben Teenager häufig das Bestreben, die eigenen Eltern zu überflügeln. Dies ist oft für die Eltern schwer zuzulassen. »Es ist ein Fehler die Worte eines Teenagers zu ernst zu nehmen und ein noch größerer Fehler seine Gefühle nicht ernst zu nehmen«.364 Es rücken Themen in den Blickpunkt wie Wahl der Freunde, Taschengeld und viele Entscheidungen, die getroffen werden müssen und bezüglich derer Eltern oft andere Vorstellungen haben als ihre Kinder. Flanders Dunbar zitiert einen Teenager, der sagte: »Wir würden lieber unsere eigenen Fehler machen«.365 Sie plädiert dafür, den Teenagern eine große Entscheidungsfreiheit einzuräumen, beispielsweise bei der Wahl der Kleidung, der Freunde aber auch bei akademischen Entscheidungen und warnt davor, in der Kommunikation mit dem Nachwuchs zuviel im Sinne von »bei uns war das damals so und so« einzufügen. Mütter und Väter, die so zu ihren Söhnen und Töchtern sprechen, vergessen, dass sich, seit der Zeit in der sie aufgewachsen sind, die Welt geändert hat, so wie auch diese anders war als die Welt in den Tagen der Großväter.366
Auch im Teenageralter ist sowohl für Eltern als auch die Kinder ein wichtiges Thema die beginnende Veränderung des Körpers. Die Autorin betont, dass es selbstverständlich für Teenager ist, den körperlichen Veränderungen und der eigenen Erscheinung ein steigendes Interesse zuzuwenden. Sie betont, wie schwierig dieser Prozess für Teenager sein kann, bis schließlich eine Akzeptanz des eigenen Körpers erreicht wird. Schwierig für die Adoleszenten ist auch der 362 363 364 365 366
Dunbar, 1962b, S. 7 – 10. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.15. Dunbar, 1962b, S.19. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.122. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.118. Originalzitat aus dem Englischen.
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Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
häufig angestrebte soziale Vergleich mit der »Norm«. Auf dem Weg zur Selbstakzeptanz gibt es viele Experimente und emotionale Krisen. Der Teenager projektiert häufig seine alten Gefühle der Unzulänglichkeit auf seine aktuell wahrgenommenen physischen Defizite.367
Die am Ende der Teenagerzeit erreichte Akzeptanz ist wichtig, auch um späteren Schwierigkeiten mit dem eigenen Körper vorzubeugen, z. B. wenn sie selbst Eltern werden und sich Frauen mit den körperlichen Veränderung der Schwangerschaft auseinandersetzen müssen. Flanders Dunbar verweist darauf, dass Eltern bei Nachfrage durch ihr Kind viele Informationen zur Verfügung stellen sollten, denn die Aufklärung in der Kindheit kann schon wieder in Vergessenheit geraten sein. Wenn die Eltern entsprechende Gespräche mit den Teenagern führen, empfiehlt sie eine empathische Haltung: »Beim Zuhören, konzentrieren Sie sich darauf, wie es sich anfühlen mag, ein Teenager zu sein.«368 Auch der Frage nach den ersten sexuellen Erfahrungen widmet sich Flanders Dunbar. Dabei offenbart sie eine für ihre Zeit sehr liberale Einstellung auch zu vorehelichen sexuellen Kontakten. Ein Punkt, in dem die ansonsten fortschrittlich denkende Flanders Dunbar, sich allerdings für Kritik angreifbar macht, sind ihre Ausführungen zur Homosexualität. Viele Teenager würden homosexuelle Erfahrungen machen, wegen ihrer Vorteile: Es gibt keine Sorgen bezüglich der Verantwortung für Schwangerschaft oder Heirat und Familiengründung. Es gibt keine legalen Probleme, wenn jemand entscheidet, seinen Mitbewohner zu verlassen.369
Manche Mädchen würden eine tiefe emotionale Verbundenheit mit einem anderen Mädchen weniger ängstigend empfinden und Jungen häufig vor sich und anderen rationale Gründe für das Präferieren eines gleichgeschlechtlichen Partners betonen. Für viele ist Homosexualität »mehr akzeptiert als Masturbation«.370 Viele Bücher über Teenager empfehlen Eltern, ihre Kinder vor Homosexualität zu schützen und warnen sie vor dem Bösen. Aber es gibt keinen Grund für das Geschrei. Es sind nur die ungeliebten Kinder, ängstlich in Bezug auf Heirat und belastet mit einem Gefühl nicht gut genug zu sein, die sich auf solche Beziehungen einlassen.371
Die ansonsten fortschrittlich denkende Wissenschaftlerin zeigt hier einige Defizite hinsichtlich des Verständnisses von Homosexualität. Doch bedenken wir 367 368 369 370 371
Dunbar, 1962b, S.33. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.238. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.254. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.255. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.225. Originalzitat aus dem Englischen.
Seele und Körper des Teenagers
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den soziokulturellen Hintergrund der Zeit. Sie betrachtete diese Frage in einem historischen Kontext, in dem Homosexualität als Sünde, illegale Handlung oder Krankheit angesehen wurde. Die American Psychiatric Association strich erst im Jahr 1973 Homosexualität aus dem Krankheitskatalog. Bezüglich der Gesundheit der Teenager bemerkt sie, dass Teenager, die physisch oder emotional aufgewühlt sind, häufig ein gutes Ziel für Infektionen seien.372 Um die Erkrankungen der Teenager zu verstehen, oder um Prävention zu betreiben, ist es wichtig die Ursache des Stresses zu verstehen. Ein möglicher Hinweis wird bereits durch die Reaktion des Teenagers auf die Erkrankung gegeben. Starke Schmerzen werden üblicherweise verlacht oder ignoriert, es sei denn sie erfüllen einen Zweck oder die Überreaktion ist eine frühere Gewohnheit, gelernt durch elterliche Überfürsorge.373
Häufiger als körperlicher Schmerz tritt in diesen sensiblen Jahren jedoch emotionaler Schmerz auf. Wenn es niemanden gibt, mit dem darüber gesprochen werden kann, erfolgt entweder der Rückzug in eine Fantasiewelt oder ein Ausagieren. Beim Ausagieren kann es leicht zu Unfällen kommen, durch die noch nicht vollständig erworbene Kontrolle über die eigene Bewegung und die umgebende Welt.374 Im Teenageralter passieren nach Flanders Dunbar besonders häufig Unfälle, die sowohl die Person selbst, als auch Freunde mit einschließen können. Nach der Autorin sind sieben von zehn Todesfällen in dieser Altersklasse auf Unfälle, Suizide oder Homizide zurückzuführen.375 Es wäre günstig, wenn jeder wüsste, dass man sich bei Müdigkeit oder unter Stress besonders vorsichtig verhalten sollte, um Unfälle zu vermeiden. Besonders häufig treten bei Menschen in dieser Lebensphase auch Schuldgefühle auf. Über die Schuldgefühle bei Masturbation äußert sie: Es scheint für Menschen einfacher zu sein, eine Sache auszusuchen und ihr die Schuld für alles zu geben.376
Sie verweist weiter auf das häufige Vorliegen von Schuldgefühlen bei Teenagern und dass der Versuch die Schuld auf jemanden anderen abzuwälzen, lediglich zeigt, wie sehr sie sich schuldig fühlen. Sie streift auch das Thema der Essstörungen. Übermäßig besitzergreifende und erdrückende Eltern würden Angst und Ärger in einem Kind auslösen, was 372 373 374 375 376
Dunbar, 1962b, S.46. Dunbar, 1962b, S.47. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.48. Dunbar, 1962b, S.55. Dunbar, 1962b, S.55. Originalzitat aus dem Englischen.
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Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
zu übermäßigem Essen führen kann. Durch die erdrückende Haltung der Eltern wird es dem Kind unmöglich gemacht ein Gefühl für das eigene Ich zu entwickeln. Er erinnert möglicherweise die kannibalistische Sprache seiner Eltern in seinen ersten Lebensjahren: Du gehörst mir. Du bist so süß, ich könnte Dich fressen.377
Wie schon bei den Prä-Teenagern berichtet sie, dass bei medizinischer Hilfe kein Medikament den zwischenmenschlichen Kontakt ersetzen kann. Der Arzt wendet Techniken an, schient Gliedmaßen, aber die Natur vollbringt die Heilung. »Die menschliche Natur heilt nur durch Kommunikation. Niemand wird in kompletter Isolation je gesund werden«.378 Zusammenfassend sagt sie über das Aufwachsen mit einem Teenager : Eltern können niemals perfekt sein, egal wie sehr sie es versuchen. Es ist besser, wenn die Kinder verstehen, dass, wenn die Eltern unangemessen reagieren, es ist, weil sie selbst Probleme haben und nicht, weil die Kinder wertlos sind.379
6.4
Flanders Dunbar als Wissenschaftlerin und Mutter
Bei der Lektüre von Flanders Dunbars drei Werken über Kinder und Jugendliche fällt das zeitliche Zusammentreffen mit der Entwicklung der eigenen Tochter ins Auge. Flanders Dunbar war eine Wissenschaftlerin, die alle Vorgänge um sich herum mit einem naturwissenschaftlichen Interesse beobachtete. Sie bringt zahlreiche Fallbeispiele ihrer Patienten, die positive oder negative Erlebnisse berichten und bringt diese in einen Zusammenhang mit der späteren Entwicklung. Flanders Dunbars Tochter Marcia Dobson hält die Erziehung durch ihre Mutter für sehr gelungenen und freiheitlich.380 Ob Flanders Dunbar selbst eine solche Erziehung erfahren hat, ist bei einer Mutter, die als »streng, ernst und puritanisch«381 beschrieben wurde und einem Vater, der sie bereits vor dem Frühstück Mathematikaufgaben lösen ließ, fraglich. Es gibt ein Fallbeispiel im Kapitel über Gehorsam im Werk Seele und Körper des Kindes in dem eine Interaktion zwischen der siebenjährigen Marcia und ihrer Mutter beschrieben wird. Dem biographisch kundigen Leser sticht die Namens- und alterliche Übereinstimmung mit Flanders Dunbars kleiner Tochter ins Auge. 377 378 379 380 381
Dunbar, 1962b, S.59. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.79. Originalzitat aus dem Englischen. Dunbar, 1962b, S.257. Originalzitat aus dem Englischen. Persönliches Gespräch mit Marcia Dobson am 02. 06. 2010. Hart, 1996, S.49. Originalzitat aus dem Englischen.
Zeitgeschichtlicher Hintergrund
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Marcia, sieben Jahre alt, übte gemeinsam mit einer Klassenkameradin ein Duett. Diese schlug vor : »Wir schleichen uns raus und kaufen uns Süßigkeiten am Zeitungsstand.« Marcia sagte: »Ok, ich frage Mummy«. Daraufhin entgegnete die Freundin: »Frag nicht deine Mummy, wir schleichen uns raus.« Und Marcia entgegnete: »Mummy sagt immer ja, es sei denn, sie hat einen guten Grund«.382
6.5
Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Um Flanders Dunbars Ansichten über Kinder und Jugendliche und deren Entwicklungsförderung richtig einordnen zu können, ist es lohnend, die Entwicklungen über Kindeserziehung in den USA in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu betrachten. Die Wahrnehmung der Rolle der Kinder erfuhr bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts einen großen Wandel. Nach Schonell nahmen die Erwachsenen in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Regelfall den besonderen Entwicklungsstand und die Notwendigkeit eines Schutzes der Kinder durch gesunde Wohnsituationen noch nicht wahr. Zudem herrschte lange ein erstaunliches Unwissen über individuelle Unterschiede zwischen Kindern in Hinblick auf Intelligenz, Temperament, Talent und Auffassungsgabe. Außerdem hatten Kinder zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum Rechte. Dazu war ein starker religiöser Einschlag prägend. Erziehung hatte vorwiegend strafende Elemente und Gehorsam basierte auf Furcht. Die Vorstellung von richtig und falsch war absolut.383 Im Jahr 1914 war das in den USA am häufigsten verkaufte Werk über Kindererziehung ein Pamphlet mit dem Titel Die Pflege von Babies384 welches die Bürger für 25 Cents erwerben konnte. Dort schrieb die Verfasserin, eine Mrs. Max West: Angewohnheiten sind das Ergebnis von wiederholten Handlungen. Einem richtig trainierten Baby ist es nicht gestattet, schlechte Angewohnheiten zu erlernen. (…) Die Regel, dass Eltern nicht mit ihren Kindern spielen sollen mag hart erscheinen, ist aber zweifellos eine sichere.385
Die in diesem Zitat benannte Sicherheit bezog sich auf einen Schutz vor »Nervosität« und Aufregung des Babys, welche mit Spielhandlungen assoziiert waren. Von diesen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts gab es bis Mitte des 20 Jahrhunderts weit reichende Veränderungen. Das erste Werk von Flanders Dunbar, Seele und Körper des Kindes wurde im Jahre 1949 veröffentlicht. Versetzen wir 382 383 384 385
Dunbar, 1949, S.130. Originalzitat aus dem Englischen. Schonell, 1954. Bremner, 1971. Originaltitel aus dem Englischen. Bremner, 1971, S.31 Originalzitat aus dem Englischen.
134
Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters
uns also gedanklich in die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1949. Harry S. Truman war Präsident und im kalten Krieg erhitzten sich langsam die Gemüter. Bereits ab 1944 war im Nachkriegsamerika mit der florierenden Wirtschaft auch der »Baby-Boom« eingetreten, der sich insbesondere in den folgenden drei Dekaden bemerkbar machte. Beispielsweise gab es im Jahre 1944 lediglich 5,5 Millionen Kinder, die eingeschult wurden. In den Jahren 1946 – 1956 stieg die Einschulungsrate um 37 % aufgrund des Baby-Booms an.386 Grundsätzlich lässt sich keine typische Erziehungsweise der Mütter und Väter in den USA der 1960er Jahre benennen, da Erziehungsfragen häufig von den unterschiedlichen kulturellen, religiösen und sozialen Hintergründen der individuellen Familien abhängig war. Dennoch lassen sich verschiedene Grundbewegungen identifizieren. So rückte im Vergleich zum späten 19. Jahrhundert die individuelle Förderung der Kinder in den Mittelpunkt, wobei die Erziehungsmethoden variierten, jedoch die autoritäre Erziehung als erfolgversprechend galt. Auch die Ansichten über Sexualität und diesbezügliche Wissensvermittlung erlebte ab der Mitte des 20. Jahrhundert eine Wandlung. Abhängig von unterschiedlichen Autoren wird der Beginn der sexuellen Revolution in Amerika auf etwa 1960 datiert.387 In dieser Zeit erfolgte der Aufstieg des Feminismus und der homosexuellen Freiheitsbewegung, die den Fokus der nationalen Aufmerksamkeit auf verschiedene Fragestellungen bezüglich der Sexualität richteten. Darüber hinaus wollte diese Bewegung die Akzeptanz von sexuellen Kontakten vor der Ehe erreichen und sexuellen Liberalismus vorantreiben.388 Damit einhergehend musste sich der Staat mit der Wissensvermittlung dieser Inhalte an die Jugend beschäftigen. Diesbezüglich wurde 1964 das Sex Information and Education Council of the United States (SIECUS)389 gegründet. Es verfolgte das Ziel, den Jugendlichen Informationen über Sexualität zur Verfügung zu stellen. Bis dato wurde in den Schulen nur über Hygiene gelehrt. Die Prämisse des SIECUS war es, Sexualität als integralen Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit anzusehen, anstatt nur als physische Aktivität. Dieser liberale Ansatz war zu dieser Zeit scharfer Kritik ausgesetzt. Gerade ab 1960 traten die Politiker der rechts stehenden politischen Bewegung als aggressive Opponenten dieses neuen Programms auf und verteufelten es als Gefahr für die Kinder. Ironischerweise gipfelte diese Auseinandersetzung in der Entwicklung eigener konkurrierender Sexual-Aufklärungsprogramme, die alternativ zu dem SIECUS angeboten wurden. Somit präsentierte der religiös geprägte rechte 386 387 388 389
Bremner, 1971. D’emilio, 1989. D’emilio, 1989. Irvine, 2002, S.108.
Zeitgeschichtlicher Hintergrund
135
Flügel paradoxerweise eigene Sex-Experten. Statt Verhütung wurde Keuschheit und Moral gepredigt.390 Unter der Betrachtung der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge wird deutlich, wie fortschrittlich und liberal Flanders Dunbars Konzept einer gesunden Entwicklung von Kindern- und Jugendlichen war. Die empathische Grundhaltung, sich in die Kinder und Jugendlichen einzufühlen und der Aufruf zum Perspektivwechsel waren sehr moderne Ideen. Auch in Fragen der Sexualität war sie ihrer Zeit weit voraus und sorgte für aufklärende Worte bezüglich nichtehelicher Sexualität und entkräftete Vorurteile über die Schädlichkeit der Masturbation.
390 Irvine, 2002, S. 108 – 109.
7 Abschließende Betrachtung
In diesem Werk geht es um die Vorstellung der Medizinerin, Psychoanalytikerin und Philosophin Helen Flanders Dunbar, sowie um einen kritischen Überblick ausgewählter Theorien ihres wissenschaftlichen Werkes. Es wurden die Theorien der Unfallneigung, die Persönlichkeitsprofile und die Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters vertiefend betrachtet. Der Fragestellung der vorliegenden Arbeit lag einerseits die Überlegung zugrunde, welche die für ihre Zeit neuen Gedanken und neuen Herangehensweisen an das Thema Psychosomatik entstanden und andererseits die Bedeutung dieser Theorien für die Wissenschaft der Psychosomatik im 21. Jahrhundert. Im Kapitel über die Biographie von Helen Flanders Dunbar wurde ihr bemerkenswert produktiver Lebensweg aufgezeigt, der ersten Aufschluss über ihr persönliches Interesse an den Fragestellungen der Psychosomatik gab. Man sieht eine privilegiert aufgewachsene Frau vor sich, die mit Wissensdurst und durch Entschlossenheit nicht nur drei Studienfächer gleichzeitig absolvierte, sondern ihr Leben lang wissenschaftlichen Fragestellungen nachging. Dadurch gelang es ihr, die noch junge Wissenschaft der Psychosomatik mit der ersten großflächig angelegten psychosomatischen Studie zu untermauern. Durch die Gründung der Zeitschrift Psychosomatic Medicine gab sie dieser Wissenschaft ein Sprachrohr und legte einen Grundstein für die Psychosomatik als ernstzunehmende Fachdisziplin. Dass dieses Engagement nicht immer einfach war, wurde bei der Betrachtung ihres Lebenslaufes deutlich. Ihr Privatleben litt unter dem beträchtlichen beruflichen Arbeitspensum und sie traf auf Kritik und Ablehnung in der wissenschaftlichen Welt. So wurden sie und ihre Mitarbeiter bei ihrer Arbeit in Krankenhäusern als »Hexendoktoren«391 betitelt. Ebenfalls ist zu bedenken, dass es in der Geburtsstunde der Psychosomatik und den USA der 40er Jahre als weibliche Wissenschaftlerin mit neuen Ideen kein leichtes Unterfangen war, sich in einer – von männlichen Fachleuten dominierten – Welt einen Namen zu 391 Powell, 1974, S. 271. Originalzitat aus dem Englischen.
138
Abschließende Betrachtung
machen. Ihr Lebenslauf lässt die Vermutung zu, dass Flanders Dunbar in der letzten Dekade ihres Lebens unter einem Burnout gelitten hat. Wie viele Tätige im Medizinalsystem, die dafür besonders vulnerabel sind, betrieb sie ein »Overcommitment«392 in der Betreuung ihrer Patienten, dass heißt eine zu hohe Verausgabungsbereitschaft. Ihr Lebenslauf lässt zudem darauf schließen, dass sie mit einer gehörigen Portion Idealismus und dem Zwang sich zu beweisen ihren Beruf ausübte. Mit der Zeit folgte immer mehr die Vernachlässigung eigener Bedürfnisse und sie begann schließlich, die schwindende Energie durch Zynismus und Alkoholabusus zu bekämpfen. Auch der überraschende Unfalltod durch Ertrinken in ihrem 57. Lebensjahr wirft Fragen auf, die auch 50 Jahre später noch nicht abschließend geklärt werden können. Uns bleibt allenfalls, die durch ihren frühen Tod noch ungeschriebenen Bücher zu bedauern. In der historischen Einordnung wurde herausgearbeitet, dass Flanders Dunbar unter den Pionieren der Psychosomatik einen wichtigen Platz einnimmt. Sie war eine der wenigen Frauen, die in diesem Gebiet forschten. Sie entwickelte im anglo-amerikanischen Raum die Psychosomatik entscheidend weiter, während der Faschismus und der Zweite Weltkrieg die Wissenschaft in Europa lähmte. Obwohl sie Psychoanalytikerin war, eine gute Ausbildung genossen und eine Lehranalyse bei Helene Deutsch abgeschlossen hatte, stand ihre Herangehensweise an die Psychosomatik nicht in der Tradition der Konversionsstörungen. Ihr Forschungsansatz ging in psychobiologischer Tradition von Gleichzeitigkeitskorrelationen aus, dem gleichzeitigen Auftreten von seelischen und körperlichen Aspekten, die sie statistisch nachzuweisen suchte. Im Kapitel über die Unfallneigung wird das von Flanders Dunbar neu identifizierte Phänomen beschrieben, welches sie durch Zufall bei einer großflächigen psychosomatischen Forschung in öffentlichen Krankenhäusern in New York entdeckte. Die gewählte Kontrollgruppe der Knochenbruchpatienten entpuppte sich als auffällig in verschiedenen Lebensbereichen. Dieser überraschende Fund weckte ihre Neugier. Sie untersuchte diese Personengruppe genauer und erarbeitete auf dieser Basis einen Persönlichkeitstypus, die so genannte Unfallpersönlichkeit. Diese zeichnet sich durch übereinstimmende Eigenschaften aus, beispielsweise Entschlussfreudigkeit, Schnelllebigkeit und einen gewissen Leichtsinn, häufig einhergehend mit einem zumeist unbewussten Konflikt mit Autoritäten. Diese damit assoziierte, aber oft nicht gelebte Aggressivität bricht dann aus und entlädt sich in einem Unfall. Zudem zeigte Flanders Dunbar Aspekte der Arbeitssicherheit und insbesondere der Unfallprävention auf, die für Arbeitgeber und Versicherungen dieser Personengruppe besonderes Interesse zeigten. Weiterhin beschäftigte sie sich mit therapeutischen Implikationen. Das Phänomen Unfallneigung wurde von anderen Autoren 392 Menschik-Bendele, 2011, S.12, in Ratheiser, Menschik-Bendele, Krainz & Burger.
Abschließende Betrachtung
139
aufgenommen, als Vorläufer wäre beispielsweise Sigmund Freud und seine Theorie der unbewussten Fehlleistungen zu nennen. Weitere Autoren, die sich mit der Unfallneigung auseinander gesetzt haben, waren Karl Marbe, Alexandra Adler, Franz Alexander und Medard Boss. Ausgehend davon wurde der Versuch eines Strukturmodells der Unfallneigung entworfen, in welchem die benannten Aspekte mehrerer Autoren zusammenfließen und so die zugrunde liegenden Faktoren veranschaulicht werden sollen. Diese sind namentlich: Aggression, Krankheitsgewinn, Größenidee, »Pechvogel«, Unkonzentriertheit, Angst, Selbstbestrafung, Lustprinzip, Konflikt mit Autoritäten und Ambivalenz. Weiterführend wird in dem Kapitel die Frage nach der Aktualität dieses historischen Konzeptes gestellt und damit nach der Bedeutung der Theorie für die Psychosomatik des 21. Jahrhunderts. Die Unfallneigung ist ein Beispiel für eine nie vollständig widerlegte Theorie, die sich im wissenschaftlichen Feld jedoch auch nicht durchgesetzt hat. Nach der anfänglichen Begeisterung über die eingängige Theorie wurden mehrere Versuche der mathematisch-statistischen Überprüfung durchgeführt. Die niederländische Arbeitsgruppe um Visser veröffentlichte beispielsweise im Jahr 2007 eine Metaanalyse, die statistisch nachweisen konnte, dass Unfälle bei Menschen in nicht mit dem Zufall erklärbarer Häufung auftreten. Da das grundsätzlich interessante Phänomen der Unfallneigung jedoch im Alltag wenig Raum für therapeutische Interventionen bietet, hat das Interesse der Forschungsgemeinschaft nachgelassen. Das Entscheidende dieser heutzutage wenig beachteten Theorie der Unfallneigung für die Psychosomatik des 21. Jahrhunderts ist die zentrale Erkenntnis, dass sogar bei mit Unfällen assoziierten Verletzungen eine psychosomatische Sichtweise auf den betreffenden Menschen und eine lebensgeschichtliche Einordnung günstig sein kann. Eine grundlegende Herangehensweise an jegliche Erkrankungen im Sinne einer bio-psycho-sozialen Sichtweise ist im 21. Jahrhundert so aktuell wie noch nie. Im Kapitel über Flanders Dunbars umstrittenste Theorie wird der Entwurf ihrer acht psychosomatischen Persönlichkeitsprofile dargelegt. Sie führte die erste große psychosomatische Studie mit 1200 Patienten durch – ein Novum zu dieser Zeit. Auf Basis von differenzierter und ausführlicher Befragung, die man heutzutage beinahe als tiefenpsychologisches Gespräch bezeichnen könnte, entwickelte sie acht verschiedene Persönlichkeitsprofile. Sie betrachtete Patientengruppen mit Frakturen, koronarer Herzkrankheit, hypertensiver Herzkrankheit, Angina pectoris, rheumatischem Fieber und rheumatoider Arthritis, rheumatischer Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen und Diabetes mellitus und schreibt diesen Patientengruppen jeweils bestimmte seelisch-psychische Eigenschaften zu. Der dahinter stehende wissenschaftliche Gedanke war dabei insbesondere der praktische Nutzen dieser Theorie für eine präventive Medizin. Da Persönlichkeitsprofile die wissenschaftliche Welt schon seit der Antike beschäftigen, wurden stellvertretend die diesbezüglichen Theorien von Hippo-
140
Abschließende Betrachtung
krates, C. G. Jung, Fritz Riemann, Fritz Künkel, Harald Schultz-Hencke und Ernst Kretschmer vorgestellt. Zudem wurden die aktuellen Entwicklungen der modernen Persönlichkeitstypen A, B, C und D dargelegt. Die Persönlichkeitstypologien werden kritisch betrachtet und als ergänzender Begriff auf den Lebensstil im Adlerschen Sinne verwiesen. Die von Flanders Dunbars entwickelten Persönlichkeitstypen sind in der Psychosomatik des 21. Jahrhunderts zugunsten anderer Theorien in den Hintergrund gerückt. Heutzutage geht man davon aus, dass jeder Konflikt jedes Störungsbild bedingen kann und die einseitige Festlegung auf ein Persönlichkeitsprofil oder einen spezifischen Konflikt nicht alltagstauglich ist. Im Vordergrund steht in der Psychosomatik des 21. Jahrhunderts ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell. Dennoch erweist sich Flanders Dunbar mit ihrer differenzierten Forschung als wahre Psychosomatikerin. Im Kapitel über die Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters erfolgte die differenzierte Betrachtung ihrer drei Werke über Seele und Körper des Kindes, über das des Prä-Teenagers und das des Teenagers, welche parallel zu der Entwicklung ihrer eigenen Tochter Marcia erschienen sind. Diese drei Werke sind nicht zur Erziehung der Kinder gedacht, sondern zur Erziehung der Eltern. In ihnen beschreibt sie die normale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und schildert einfühlsam die Schwierigkeiten, mit denen sie sich auf dem Weg zum Erwachsenwerden konfrontiert sehen. Sie stellt differenziert die beginnenden körperlichen Veränderungen und den Beginn des sexuellen Bewusstseins dar und formuliert für ihre Zeit äußert fortschrittliche und liberale Einschätzungen zu Fragen von Eltern-Kind-Interaktionen, Entscheidungsfreiheit und Sexualität. Zu jedem Lebensabschnitt erläutert sie auch Erkrankungen der Kinder oder Teenager und die Reaktion der betroffenen Eltern und Kinder darauf. Auch die Unfallneigung wird in Hinblick auf jugendliche Betroffene ausgeführt. Psychosomatische Grundfragen beim Betrachten des Aufwachsens von Kindern, Prä-Teenagern und Teenagern werden mit einbezogen. Diese Arbeit soll dazu beitragen, die im deutschsprachigen Raum nahezu vergessene und unbekannte Wissenschaftlerin Helen Flanders Dunbar wieder in das Blickfeld zu rücken. Sie erweist sich als fortschrittlich denkende Medizinerin, Psychologin, Philosophin und Psychoanalytikerin, die die Fähigkeit besaß, außerhalb von vorgefertigten Meinungen und abgegrenzten Fachgebieten zu denken. Dadurch gelang es ihr, verschiedene Fachgebiete zusammenzubringen und bereits vor über 70 Jahren wissenschaftliche Theorien zu entwickeln und Beiträge zu leisten, die für die Psychosomatik des 21. Jahrhundert einige interessante Anregungen bereitstellen. Helen Flanders Dunbar erweist sich mit ihrer vielschichtigen Sichtweise demnach als wichtige Wegbereiterin und »Mutter« der Psychosomatik.
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Bildnachweise
Abbildung 1: Scan einer Unterschrift von Flanders Dunbar. Abbildung 2: Tabelle modifiziert nach Alexandra Adler (1941). Originaltabelle aus dem Englischen. Abbildung 3: Strukturmodell der Unfallneigung (Peetz, 2012). Abbildung 4: Modifiziert nach Rothschuh (1959) (Hippokrates, Übersetzung von Kapferer, 1934). Abbildung 5: Die vier Grundfunktionen nach C.G. Jung (modifiziert nach Fisseni, 1998).
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3:
»Acht Typen« nach C.G. Jung mit den zwei Einstellungen und vier Grundfunktionen (modifiziert nach Fisseni, 1998). Künkels vier Typen (modifiziert nach Künkel, 1944, S.65). Kretschmers Typologie (modifiziert nach Kretschmer, 1933, S.14.).
Dank
Die vorliegende Arbeit ist die geringfügig überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Jahr 2012 vom Institut für Psychologie der AlpenAdria Universität Klagenfurt angenommen wurde. Frau Professor Dr. MenschikBendele (Klagenfurt) danke ich herzlich für ihre liebenswürdige Unterstützung und Betreuung. Weiterhin danke ich Prof. Dr. Dr. Gerhard Danzer (Potsdam, Berlin, Neuruppin), der mit wichtigen Anregungen meine Begeisterung für das Fachgebiet der Psychosomatik entfacht und mit stetig fließenden weiteren Impulsen am Brennen gehalten hat. Darüber hinaus danke ich dem Potsdamer Dissertanten-Kolloquium für die stets anregende Diskussion und Unterstützung. Many thanks to Prof. Dr. Marcia Dobson who welcomed me into her home and shared with me her memories and many stories about her mother. Christina Peetz