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German Pages 288 Year 2019
Katharina Brichetti, Franz Mechsner Heilsame Architektur
Architekturen | Band 48
Katharina Brichetti (Dr.-Ing. habil.) ist Architektin und Bauhistorikerin und lehrt als Privatdozentin an der Technischen Universität Berlin. Seit 2011 forscht und veröffentlicht sie zu den Themen Raumerleben und Heilsame Architektur. Zu ihren Publikationen zählen Das Gedächtnis der Stadt, 2006, Die Paradoxie des postmodernen Historismus, 2009, Berlins neue Mitte, 2011, Synästhesie: Leib-Raum-Architektur, 2014 (mit Franz Mechsner). Franz Mechsner (Dr. hum. biol.) war bis Juli 2012 Hochschullehrer für Psychologie an der Northumbria University Newcastle (UK). Er hat in internationalen Fachzeitschriften (Nature, Journal of Experimental Psychology u.a.) zu den Themen menschliche Handlung und szenisches Erleben publiziert und verfügt über langjährige Erfahrung im Magazinjournalismus (GEO, GEO-Wissen, FAZ-Magazin, SZ-Magazin, ZEIT-Wissen u.a.). Als Wissenschaftler und Autor ist er mehrfach preisgekrönt.
Katharina Brichetti, Franz Mechsner
Heilsame Architektur Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Bruce Damonte, San Francisco, 2014 Korrektorat: Katharina Kotschurin Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4503-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4503-7 https://doi.org/10.14361/9783839445037 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt 1. Was ist heilsame und heilende Architektur? | 9 Stress, ein Kernproblem der Gestaltung | 12 Zum Auf bau des Buches | 16
2. Bauen erholsamer Orte: Inspiration durch sakrale Architektur | 19 Verführung zur Stille, Präsenz und Kontemplation | 23 Ganzheitliche Integration der Sinne | 28 Sakrale Anmutungen als Inspiration für Profanbauten und Rückzugsorte | 29
3. Leiblich-räumliche Wahrnehmung als Grundlage für heilsames Design | 33 Eine neue Ästhetik als Anmutungslehre? | 36 Leiblich-Räumliches Spüren | 38 Atmosphären und Stimmungen – Gernot Böhme | 39 Atmosphären definieren unsere Gefühle | 41 Der Schlüssel zu einem neuen Ästhetikverständnis: »Embodied Mind« | 46 Affordanz: Wozu regt uns die Umwelt an? | 48 Kommunikative Resonanz mit der Umwelt: Wir leben in Szenen | 50 Interview mit Prof. Gernot Böhme (Anthropologie und Leibphilosophie) | 51
4. Stimulierung über synästhetische leibliche Resonanzen | 55 Erleben von Sinnhaftigkeit | 56 Synästhesie in der Domäne der Sinne | 57 Leiblich-räumliches Spüren als Fundament des Erlebens | 59 Imaginative Aspekte eines bedeutungshaltigen leiblich-räumlichen Erlebens | 60 Interview mit Prof. Jürgen Hasse (Phänomenologische Raumforschung) | 63
5. »Embodied Mind«: Verkörpertes Wahrnehmen, Denken und Handeln | 67 Räumliche Metaphern als Ausdruck von Emotionen, Gesundheit und Krankheit | 68 Mit dem Körpersinn Räume leiblich erfahren | 75 Räumliche Orientierung | 78 Energetische Wahrnehmung | 78 Dynamische Raumwahrnehmung | 82 Erleben ist synästhetisch und impliziert leiblich-räumliches Spüren | 84
6. Gegen Stadtstress hilft Grün | 87 Ästhetische Aufwertung durch Natur | 88 Leistungsfähiger und stressresistenter mit Stadtgrün | 89 Wie Stadtgrün unsere Psyche heilt | 90 Soziale Gesundheit durch Natur | 92 Mit Stadtgrün die Umweltbelastungen reduzieren | 93 Kulturlandschaften im Zuge der Energiewende bewahren | 95 Interview mit Heinz Hubert Menne (Stadt- und Landschaftsplaner) | 96
7. Zukunftstrend: Biophile Architektur | 101 Die Kategorien des Biophilen Designs | 103 Natur im Raum: Visuelle Verbindung zur Natur | 104 Nicht-visuelle Verbindung zur Natur über den Geruch | 110 Die beruhigende Wirkung von Naturgeräuschen | 112 Unregelmäßige sinnliche Reize | 114 Dynamische Lichtgestaltung zur Verbesserung von Schlaf und Stimmungen | 114 Naturanalogien: Materialien mit Ortsbezug und Patina | 117 Natur des Raumes: Rückzugsort, Weitsicht und Geheimnis | 119 Mit biophilem Design Stress auflösen | 120 Interview mit Prof. Günther Vogt (Freiraumplanung) | 121
8. »Big Five«: Fünf architektonische Bedingungen von Stress und Wohlbefinden | 123 »Big Five«: gesundheitsrelevante Erlebens-Dimensionen von Architektur | 124 Stimulierung als synästhetisches ganzheitliches Erleben | 125 Affordanz: Raumgestaltung als Einladung | 129 Kohärenz: Orientierung ist ein grundlegendes Bedürfnis | 132 Kontrolle: die Bedeutung von Selbstbestimmung und Sicherheit | 133 Erholung: Reduzierung von Müdigkeit und Stress | 135 Bewertung eines Gebäudes anhand der »Big Five« | 138
Interview mit Prof. Christoph Mäckler und Prof. Wolfgang Sonne (Stadtbaukunst) | 139
9. Feng-Shui zwischen Esoterik und Inspiration | 145 Räumlich-leibliche Stimmungen – der Chi-Energiefluss | 145 Räume der Mitte herstellen zwischen Aktivität und Ruhe | 148 Mit Belastungen umgehen | 148
10. Gesundheitsbauten: Wie Räume heilen helfen | 153 »Healing Architecture« | 154 Maria-Fareri-Kinderklinik | 155 Evidenzbasiertes Design | 162 Klinikum Aachen: Zukunftsbau oder missglücktes Monstrum? | 164 Krankenhausflure | 166 Vidar-Klinik | 168 Krankenhaus-Design für das Empfinden | 171 Interkulturell sensibles Krankenhaus | 173 Patientenzimmer | 173 Auf dem Weg zum Patientenzimmer der Zukunft | 179 Beispieldesign für einen Chemotherapie-Behandlungsraum | 182 Mitwirkung der Beteiligten | 184 Humanere Intensivstation | 188 Demenzsensibles Krankenhaus | 191 Maggie’s Centres | 194 Kunst im Krankenhaus | 199 Therapeutischer Garten | 206 Mit Licht den Krankenhausaufenthalt bei Depression verkürzen | 212 Raumerleben bei Krebspatienten | 213 Heilsame Gestaltung von Gesundheitsbauten in Deutschland | 215 Interview mit Thomas Willemeit (Architekturbüro Graft, »Healing Architecture«) | 215
11. Unterstützung von Kranken durch »Spiritual Care« | 219 Spiritualität fördert körperliche, geistige und seelische Heilung | 222 Kerndimensionen spiritueller Bedürfnisse | 223 Raumdesign kann Spiritualität und »Spiritual Care« begünstigen | 224 Erstes Modellprojekt für »Spiritual Care«: Sukhavati in Bad Saarow | 230 Interview mit Prof. Eckhard Frick (»Spiritual Care«) | 232
12. Checkliste: Design als Therapie | 235 13. Wenn Stadt zur sozialen Gesundheitsfrage wird | 241 Psychische Erkrankungen nehmen durch Luftverschmutzung zu | 241 Multiple Belastungen und der Einfluss auf die Lebenserwartung | 242 Ergebnis: Soziale Umweltgerechtigkeit Berlin | 243 Strategien zur Verbesserung von Stadträumen | 244 Reduktion von Belastungen durch Grünzonen | 245 Planung von Ruhezonen und kühlenden Orten in stark belasteten Gebieten | 248 Aktivierung neuer Flächenpotenziale durch Lokalisierung von »Nicht-Orten« | 249 Planung mit Konzepten eines »Active Designs« | 251 Förderung der Entwicklung neuer Architekturtypologien | 251 Fazit | 253 Interview mit Dr.-Ing. Heinz-Josef Klimeczek (Soziale Umweltgerechtigkeit) | 254
14. Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen | 259 Anhang | 265 Literatur | 265 Abbildungsnachweise | 282
1. Was ist heilsame und heilende Architektur? Es gibt Umgebungen, die so etwas wie Glück vermitteln. Ein Gefühl der Entspannung und Freude setzt ein, wenn wir nach Hause kommen. Mit der wohltuenden Weite, Ruhe und heiteren Atmosphäre der Räume treten wir in Resonanz. Vor allem der informelle Wintergarten mit dem Blick in den Garten gibt uns das Gefühl von Erholung in Verbindung mit Natur. Unser vielleicht leiblich gestresstes Befinden, hervorgerufen durch das hektische Stadtleben in Berlin, löst sich in dieser Atmosphäre auf. Unser Erleben ist hier sofort von Ruhe, Konzentration und Kommunikation bestimmt. Gleichwohl gibt es Wohnungen und vor allem Stadträume, die einen Menschen – wie schon Heinrich Zille sagte – gleichsam wie mit einer Axt erschlagen können. Dabei denken wir nicht nur an den Brutalismus der 1960er, nicht nur an monotone Hochhaussiedlungen der 1970er und 1980er Jahre, nicht nur an unsanierte Plattenbauten mit ihrer heruntergekommenen schmuddelig-stickigen Atmosphäre. Erstaunt stellen wir fest, dass auch als erstklassige Architektur geplante zeitgenössische Bauten uns ermüden oder stressen können: Bauten wie im neuen Frankfurter Europaviertel, Bauten wie am Berliner Hauptbahnhof und am Alexanderplatz. Gemeinsam ist diesen Gebäuden: Sie laden nicht ein, sie verführen nicht, sie versperren sich durch ihre geschlossenen und abweisenden Rasterwände und schwarzen Fenster. Der vernachlässigte Raum davor ohne schattenspendende Begrünung sieht meist ebenso trostlos wie unwirtlich aus. Noch schlimmer wirken solche Gebäude und Räume, wenn sie lärmumtost sind, extreme sommerliche Hitze alles aufheizt und dem nicht zu entkommen ist. Mit stoischem Willen versuchen wir immer wieder, solch stressigen Umgebungen Widerstand zu leisten – immer wieder erfolglos. Genauso erfolglos versuchte ich (Katharina Brichetti) vor Jahren, den Aufenthalt in einer lieblos gestalteten Klinik in Brandenburg stoisch zu ertragen, und verdränge nach Möglichkeit diese trostlose Zeit in dem Vierbettzimmer, wo ich weder aufstehen noch nach draußen durfte, obwohl ich eigentlich fit genug war. Stattdessen denke ich lieber an ein Krankenhaus in Berlin, in dem ich mich in meinem schönen Einzelzimmer wohlfühlte. Sobald ich einigermaßen aufstehen konnte, ging ich auf die begrünte Dachterrasse und sonnte mich
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mit meinen Verbänden auf einem Liegestuhl mit Blick über Berlin. Schon wenige Stunden nach der OP atmete ich unter freiem Himmel auf und begann gleich, mich zu erholen. In dieser Umgebung fühlte ich mich wertgeschätzt und unterstützt. Andere Menschen teilen solche Empfindungen und Erlebnisse weitgehend oder können sie zumindest gut nachvollziehen. Dies zeigt, dass diese Stimmungen nicht nur individuell und persönlich sind, sondern dass Gebäude und Räume mit bestimmten Atmosphären auf verschiedene Menschen durchaus ähnlich wirken können. Wenn wir uns die Atmosphären von Räumen bewusst machen, wird deutlich, wie sehr die Wirkung von Architektur in unser Befinden eingreift, uns persönlich berührt und uns einen Zugang zur Welt erschließt. Wie lässt sich erklären, dass manche Räume einem gut tun, andere nicht? In Räumen, in denen wir »willkommen«, »harmonisch«, »entspannt« sind, fühlen wir uns wohl. Auch mit anderen Menschen kommunizieren zu können, mit denen man sich verbunden fühlt, ist Teil der angenehmen Atmosphäre, wie auch sich konzentriert beschäftigen zu können und eine gewisse Freiheit und Privatheit zu haben. Gemeinsam ist diesen Räumen, dass man sich dort gerne aufhält. Menschen erkennen die »Alles-stimmt«-Orte intuitiv. Man spürt sofort, wenn eine Treppe sich bequem begehen lässt, der Arbeitsplatz Konzentration und kreativen Flow fördert oder ob man sich in seinem Quartier zum Flanieren und Kommunizieren eingeladen fühlt. Doch es scheint schwer, aus diesem intuitiven Gefühl des Wohlbefindens ein klares Verständnis der dafür maßgebenden Gründe abzuleiten. Daher gelingt es Architekten nicht immer, Räume entsprechend den Bedürfnissen angemessen zu gestalten. Viele dieser Bedürfnisse betreffen Kleinigkeiten, wie die Stufen, welche die Wohnung als Schwelle zum Privaten abgrenzen, das große Fenster mit dem besonderen Ausblick und schönem Lichteinfall auf die honigfarbenen Holzdielen, die in ihrer Gesamtheit zur Wohnatmosphäre beitragen. Ein freundliches Plätzchen zu bauen oder vielleicht auch nur einzurichten, an dem man es sich gut gehen lassen kann, sich wohl fühlt, sich erholen und von einer Krankheit genesen kann, erfordert einen gewissen Aufwand, Mühe und Liebe, aber keineswegs außergewöhnliche Gaben. Heilsame Architektur muss nichts Großartiges sein. Wer ein wohnliches Haus planen und errichten möchte, benötigt die Arbeit und Beratung von Fachleuten, aber keinen Stararchitekten. Ein bescheidenes Häuschen kann Heimat und Geborgenheit bedeuten und ausstrahlen. Um eine Wohnung liebevoll zu gestalten, braucht man weder einen Innenarchitekten noch besonders teure Dinge, sondern vor allem ein Bewusstsein darüber, was nötig und stimmig ist, ein Empfinden für Schönheit und wohltuende Atmosphäre, eine gewisse Phantasie und Kreativität. Wintergarten und Veranda können mit wenigen Mitteln selbst gebaut werden und dennoch alles haben, was heilsame Architektur, wie wir sie in diesem Buch verstehen, ausmacht.
1. Was ist heilsame und heilende Architektur?
Wohlbehagen in den Räumen, in denen wir uns aufhalten oder die wir besuchen, ist nicht unerheblich für unser Leben und unsere Lebensfreude. Ob wir uns in unseren Räumen wohlfühlen, kann einen entscheidenden Einfluss auf das leibliche und seelische Befinden haben. Negative Gefühle, die man in bestimmten Räumen hat, können Warnungen sein. Sie sagen uns beispielsweise, dass wir ohne richtige Rückendeckung sitzen und sich jemand von hinten nähern kann oder sie zeigen einfach schlechte Gestaltung an und erzeugen so Stress. Wie sehr Architektur krank machen kann, ist in vielen Berichten und Studien belegt. Einer der ersten, der beschrieb, wie tosender Lärm, Verkehr, allüberall drängende Menschen, monotone Stadtbilder und schlechte Gestaltung krank und depressiv machen können, war der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seinem Bestseller der 1960er Jahre Die Unwirtlichkeit unserer Städte 1. Ein Städtebau, der funktionalen, technischen und profitorientierten Gesichtspunkten alles andere unterordnete, hatte begonnen, Lebensqualität und Gesundheit in vielerorts kaum mehr tolerierbarem, erschreckendem Ausmaß zu bedrohen. Aufrüttelnd wirkte Mitscherlichs These, dass die Leitwörter der Moderne »Licht, Luft, Sonne« sowie die automobilgerechte und nach Funktionen getrennte Stadt keineswegs zu einer Gesundung der Stadt führten, sondern eher das Gegenteil bewirkten. In den 1980er Jahren machte der Begriff des »Sick-Building-Syndroms« die Runde. Bauschadstoffe, Schimmel, Klimaanlagen, Verkehrslärm und Luftverschmutzung durch Feinstaub waren nur einige der krankmachenden Faktoren. Parallel dazu entwickelte sich die Baubiologie- und Ökologiebewegung. Der unmittelbare Bezug zwischen Gestaltung und Krankheit wurde immer deutlicher herausgearbeitet. Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, gibt es eine gesellschaftliche Diskussion, in deren Mittelpunkt der Begriff der Salutogenese steht, die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit. Gesundheit wird von der Weltgesundheitsorganisation als ein Zustand definiert, der sich nicht mehr allein durch die bloße Abwesenheit von Krankheit auszeichnet 2 . In der Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation wird der Einfluss physischer, psychischer und sozialer Faktoren auf die Gesundheit betont. Zum Begriff Gesundheit gehört das völlige körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden. Statt nur vom »Sick-Building-Syndrom« ist nun auch die Rede von »Healing Architecture«, »Healing City«, »Urban Health«, »Environmental Design Research« und »Active Design«. Das so genannte »Active Design« soll beispielsweise zu mehr Bewegung anregen. Dies scheint unter anderem in den USA ein großes Bedürfnis zu sein, wo über zwei Drittel der Bevölkerung übergewichtig sind und häufig unter Folgeerkrankungen, wie etwa Rückenschmerzen, leiden. 1 | Mitscherlich (1965). 2 | WHO (2014).
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Schon 1984 wurde in Toronto die Healthy-Cities-Bewegung ins Leben gerufen, um mit dieser Initiative Gesundheitsbewusstsein zu vermitteln und Gesundheit auch in der Stadtentwicklung als Ziel zu fördern.
S tress , ein K ernproblem der G estaltung Die Frage lautet nicht mehr nur: Was macht uns krank? Sondern auch und vor allem: Was macht uns gesund? Was brauchen wir, damit wir uns in unserer Umgebung körperlich, seelisch und sozial wohl befinden? Wie lassen sich urbane Lebenswelten entwickeln, erhalten und verbessern, die ein lebenswertes, erfülltes und sinnvolles Dasein ermöglichen? Wie lassen sich im Besonderen die zunehmenden Ansprüche einlösen, alternden, kranken oder behinderten Menschen ein weitestgehend selbstständiges, selbstbestimmtes und sozial integriertes Leben zu erlauben? Wie kann man die insbesondere in Städten verbreiteten chronischen Krankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes, Depressionen und Stress reduzieren? Städter leiden öfter an psychischen Erkrankungen als Landbewohner. »Angsterkrankungen und Depressionen kommen bei Menschen, die in der Stadt leben, etwa 30 bis 40 Prozent häufiger vor«, sagt Andreas Meyer-Lindenberg vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit an der Universität Mannheim.3 Schizophrenie, so ein Ergebnis einer Untersuchung des Institutes, trete bei Menschen, die in der Stadt aufgewachsen sind, sogar dreimal so häufig auf wie bei Menschen, die auf dem Land leben. Meyer-Lindenberg zufolge gilt das auf der ganzen Welt. »Je größer die Stadt, in der man aufgewachsen ist, desto höher ist das Schizophrenie-Risiko als Erwachsener«, sagt auch der Psychiater Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik in Berlin und Stressforscher an der Charité.4 Metropolenstress kann krank machen. Ständige Stadtreize verursachen Stress, auch wenn die Betroffenen es manchmal nicht zu spüren glauben. Der wirtschaftliche Schaden, der durch stressbedingte Krankheiten und den damit verbundenen Produktionsverlusten entsteht, könnte reduziert werden. In seinem Buch Stress and the City fordert Adli, Menschen über den besten Umgang mit Stress in der Stadt aufzuklären und das Thema Stress bei der Stadtplanung zu berücksichtigen.5 Tatsächlich belegen Studien, dass wir uns immer gestresster und angespannter fühlen, obgleich wir immer mehr Freizeit haben. Eine gestaltete Umwelt, die Stress erzeugt, ist in besonderer Weise schädlich, da die gestaltete Umwelt langfristigen Einfluss ausübt, dem wir uns nicht entziehen können. Kurzfristiger Stress kann uns besonders leistungs3 | Bülow (2015). 4 | Adli (2017), 134. 5 | Adli (2017).
1. Was ist heilsame und heilende Architektur?
fähig machen und hat keinerlei krankmachende Auswirkungen. Anhaltender Stress kann Leib und Seele ernsthaft schaden. Das Immunsystem leidet, das Risiko für Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems steigt und die Wahrscheinlichkeit für psychische Erkrankungen wächst. Zudem schadet chronischer Stress dem Gehirn und »verschlechtert auf Dauer die geistige Leistungsfähigkeit«.6 Gesundheitsrelevante Belastungen in der Stadt sind vielfältig: Schlechte architektonische Gestaltung und eine zu große Dichte in Städten können das Stressempfinden erheblich beeinflussen. Umweltbelastungen wie Lärm und Feinstaub können zu Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen führen. Hinzu kommen die anstehenden Klimaveränderungen, die jetzt schon thermische Belastungen mit sich bringen. Auch unsere Lebensweise im Informationszeitalter verstärkt das Stressempfinden. Seit den 1990er Jahren erleben wir eine neue, massive Beschleunigung unseres Alltags, ausgelöst durch das Internet und die Digitalisierung zahlloser Prozesse – in Kommunikation, Produktion, Transport. Wir können uns den Schnelligkeit fordernden und schnelllebigen Technologien, die Kennzeichen unserer Zeit sind, nicht entziehen. Infolge der Globalisierung sind Tendenzen, wie temporale Innovationsverdichtungen und stark gesunkene Halbwertzeiten vielen Wissens, aufgetreten. Nicht nur die Informationstechnologien sind vom Beschleunigungsrausch und gleichzeitiger Fragilität betroffen, auch die Lebensweise der Menschen wird davon erfasst. Der Lebenstakt in den Metropolen ist heute viel schneller als vormals. Ein Indiz: Eine Studie von 2011 des englischen Psychologieprofessors Richard Wiseman zeigte, dass Fußgänger um 20 bis 30 Prozent schneller gingen als noch 1990.7 Tatsächlich scheint die Gehgeschwindigkeit von Fußgängern ein guter Maßstab für den Lebensrhythmus einer Stadt zu sein. Menschen, die in Städten mit hoher Gehgeschwindigkeit leben, helfen gemäß einer Studie von 1994 ihren Mitmenschen weniger und leiden eher an Herzerkrankungen.8 Aber nicht nur die Gehgeschwindigkeit hat sich verändert, sogar die Geschwindigkeit von Politiker-Reden hat sich beschleunigt. Der durchschnittliche Politiker sprach 1995 »50 % schneller als seine Vorgänger Mitte der 1940er Jahre«.9 Beim Konsumverhalten zeigt sich die Beschleunigung durch Fastfood, einen schnelleren Grundschlag in der Popmusik, raschere Schnittsequenzen bei Videoclips und Werbespots, sofortige und ständige Erreichbarkeit über Handy und Internet und schnellere Interaktionen bei Computerspielen. In Fernsehen und Rundfunk ist die Verkürzung der Nachrichten Ausdruck von 6 | Ebd., 57. 7 | Wisemann (2011). 8 | Ebd. 9 | Eriksen (2005), 107.
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Beschleunigung. Und so stellt sich die Frage: Welche gestalterischen Elemente ermöglichen es uns in unserer schnelllebigen, ja, ruhelosen und reizüberfluteten Zeit einen Ausgleich zu schaffen? Die Einflüsse der Stadt auf Gesundheit und Lebensqualität sind vielfältig und vieldimensional. Noch in den 1980er Jahren gab es zur Wirkungsästhetik kaum psychologische Erkenntnisse. In Architektur- und Planungsdiskursen wurde über die Wechselwirkung von Räumen und menschlichem Fühlen, Denken und Handeln kaum nachgedacht. Die Architekturpsychologie als Ableger der Umweltpsychologie steckte noch in den Kinderschuhen. Wer sich damals dafür interessierte, wie man sein Zuhause harmonischer gestalten könne, fand kaum Hinweise. Mangels Konkurrenz traf daher die chinesische Feng-Shui-Lehre, vermischt mit westlichen New-Age-Ideen, zu Beginn der 1990er Jahre auf offene Ohren. Spitze Ecken wurden durch runde ersetzt – sogar Pflanzen mit spitzen Blättern landeten im Hausflur. Inzwischen haben sich die empirischen Forschungen im Bereich der Umweltpsychologie vervielfacht. Zunehmend wird erkannt und anerkannt: Physische, psychische und soziale Gesundheit werden von Städtebau, Architektur und Innenarchitektur entscheidend beeinflusst. Tausende Studien belegen nun, dass bestimmte Umgebungen, bestimmte Gestaltungsweisen dem Menschen gut tun, Stress verringern und damit auch Heilungsprozesse fördern und beschleunigen können. Bei der Bewertung unserer gestalteten Umwelt, die unser Befinden bestimmt, werden beispielsweise Stresslevel, Blutdruck, Herzschlag, Krankheitsrate, Arbeitsproduktivität, Schmerzmitteleinnahme gemessen, so dass nun auch Messdaten den Zusammenhang von guter Gestaltung und Wohlbefinden bestätigen. Die Erkenntnis, dass die Gesundung eines Menschen stark mit seinem Wohlbefinden zusammenhängt, ist besonders wichtig für die Gestaltung von Gesundheitsbauten. Heute spielt das Wissen um eine angenehme Atmosphäre und Stimmung beim Heilungsprozess von Patienten eine maßgebliche Rolle. Erkenntnisse von Psychologie und Neurowissenschaften bilden die Grundlage, »auf denen die Auswirkungen von Emotionen auf Krankheit in Betracht zu ziehen sind«.10 Wegbereiter für das Konzept der »Healing Architecture« war eine 1984 im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichte Studie des Architekturprofessors Roger Ulrich.11 Er verglich zwei Gruppen von Patienten, die im Krankenhaus nach identischen Operationen (Gallenblasen-OP) durch ihre Zimmerfenster entweder auf einen Park mit Bäumen oder auf die Betonmauer des Nachbargebäudes sehen konnten. Patienten, die auf den Park sehen konnten, benötigten im Mittel deutlich weniger Schmerzmittel, litten seltener an Depressionen und konnten im Schnitt einen Tag früher nach Hause entlassen 10 | Sternberg (2011), 240. 11 | Ulrich (1984).
1. Was ist heilsame und heilende Architektur?
werden als die Patienten der Vergleichsgruppe. In der Folgezeit erschienen zahlreiche weitere Studien, die sich mit ähnlichen Fragestellungen befasst haben. Seitdem wurde immer wieder gezeigt, dass angenehme Gestaltung in der Gesundheitspflege heilsam wirkt, stärkt, entspannt, Bequemlichkeit bietet und das Wohlbefinden steigert.12 Daher ist eine gute Krankenhaus-Gestaltung kein Luxus, sondern wesentlich für Patienten, um die emotionale Verfassung zu unterstützen, die Stimmung zu heben und die Heilung zu fördern. In Ländern wie den USA und England boomt das Thema bereits. Krankenhäuser werden zunehmend nach Prinzipien von »Healing Architecture« gestaltet, um Stress, ein Kernproblem in der Gesundheitspflege, einzuschränken.13 Auch in Deutschland beginnen Gesundheitseinrichtungen, sich mehr und mehr auf »Healing Design« einzulassen, um den neuen Ansprüchen gerecht zu werden, auch um im Zuge der Privatisierungen konkurrenzfähig zu bleiben. Chronischer Stress hat viele schädliche Auswirkungen und kann Heilungsprozesse verhindern. Bei Stressreaktionen werden Hormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol verstärkt gebildet, was wiederum den Blutdruck steigen lässt, die Herzfrequenz beschleunigt und die Blutgerinnung aktiviert. Außerdem verzögert Stress die Wundheilung, »schwächt die Fähigkeit des Organismus, Antikörper zu bilden«, »hemmt die Kraft des Immunsystems, Infektionen auf viele andere Weisen zu bekämpfen«. 14 Daher ist es wichtig, die Quellen von Stress im Krankenhausumfeld zu verstehen und zu verringern. Neben der Reduktion von negativen Empfindungen wie Stress und Unruhe ist es auch wichtig, positive Emotionen zu fördern. Aus physiologischer Sicht »wird sowohl das Stärken des Positiven als auch das Reduzieren des Negativen letztendlich die Gesundheit verbessern«. 15 Der Ausdruck »Care by Design« kennzeichnet eine Umgebung, die das Wohlbefinden des Patienten sowie der Mitarbeiter unterstützt. Viele neue Krankenhäuser greifen solche Ideen auf und ähneln Erholungszentren mit Hotelcharakter. Aber nicht nur für Krankenhäuser ist es heute sinnvoll sich mit dem Wissen zu beschäftigen, wie gebauter Raum Stimmungen und physiologische Reaktionen beeinflussen kann. Das Thema Architektur und Gesundheit ist generell ein wichtiges Thema, das bei allen Gebäudearten ernster genommen werden sollte. Für eine heilsame Gestaltung gebauter Umwelt ist es wichtig, stressfördernde und stressmindernde Faktoren zu kennen und zu verstehen.
12 | Huisman et al. (2012). 13 | Cama (2009), 6. 14 | Sternberg (2011), 83. 15 | Ebd., 197.
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Z um A ufbau des B uches Die Kapitel des Buches bilden eine durchdachte Sequenz, können aber auch einzeln für sich gelesen werden. Kapitel 1 bietet eine allgemeine Einführung in das Thema »Heilsame Architektur«. Unsere zentrale Frage ist: Wie wirkt sich Architektur auf unser Befinden aus? Wie kann Gestaltung heilsam und heilend wirken, beispielsweise unser Stressniveau reduzieren? Kapitel 2: Sakrale Architektur kann atmosphärisch besonders wirkungsmächtig und menschlich förderlich sein. Wir beschreiben und diskutieren sakrale Architektur und deren Prinzipien. Wir befragen sie als Inspirationsquelle für eine wohltuende Gestaltung, die Ruhe, Besinnung und Reflexion fördert. Kapitel 3: Um die für das Gesamterleben wesentlichen Gestaltungsprinzipien zu erfassen, sind zum einen wissenschaftliche Studien nützlich, zum anderen aber auch eine intuitive Auffassungsgabe und Phantasie, die sich aus eigenem Erleben sowie aus Ergebnissen der philosophischen Phänomenologie speist. Nicht zufällig sind es Philosophen, die eine Konjunktur des Affektiven eingeleitet haben und die durch ihre Untersuchungen zum Konzept der räumlichen »Atmosphäre« die Diskussionen um heilsame Architektur fundamental angeregt haben und anregen. Wesentlich hierbei: Zu einer vieldimensionalen sinnlichen Wahrnehmung gehört auch das körperliche Spüren. Die fundamentale Bedeutung der Körperwahrnehmung für das Erleben wurde bis vor kurzem unterschätzt oder gar ignoriert. Kapitel 4: Der Körpersinn ist nicht nur für das Empfinden des eigenen Körpers wesentlich, sondern auch für die Raumwahrnehmung. Unser Fühlen, Wahrnehmen und Denken dürfte viel stärker von unserem leiblich-räumlichen Erleben bestimmt sein, als uns das gewöhnlich bewusst ist. Leibliche Resonanzen wirken in architektonischen Innenräumen, Stadträumen und sogar in Landschaftsräumen gleichermaßen. Sie sind wesentlich mit verantwortlich dafür, dass Räume negative und positive Gefühle auslösen können. Ein weiteres, für das Verständnis der Wirkung von Design wichtiges Charakteristikum unseres Erlebens ist, dass Wahrnehmung, Denken und Tun genuin synästhetisch verfasst sind, sprich: Die Domänen und Modalitäten sind letztlich untrennbar. Auch hier bildet das leiblich-räumliche Spüren eine wesentliche Basis. Kapitel 5: Vertreter des Konzeptes »Embodied Mind« postulieren als leitende Idee, dass all unser Wahrnehmen, Denken und Tun auf elementaren Schemata leiblichen Erlebens beruht. Mit diesem Konzept lässt sich prinzipiell verste-
1. Was ist heilsame und heilende Architektur?
hen, wieso steinerne Gebilde wie eine Kathedrale geistige Inhalte verkörpern können. Kapitel 6 und 7: Mit der Einbeziehung von Natur und biophiler Architektur ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, eine angenehme und harmonische Umwelt zu schaffen und Stressoren einzudämmen. Kapitel 8: Es werden die grundlegenden Zusammenhänge zwischen körperlichem Erleben und Stress sowie Wohlbefinden dargestellt und anhand von Studien belegt. Das Wissen um diese Zusammenhänge und ihre Berücksichtigung ist wichtig bei der Gestaltung menschenfreundlicher Umgebungen. Kapitel 9: Wenn man die fernöstliche Lehre Feng-Shui zur Harmonisierung von Mensch und Umgebung von esoterischen Fragwürdigkeiten und kulturellen Spezifika befreit, lassen sich aus ihr wertvolle Inspirationen und solide, im leiblich-räumlichen Spüren verankerte Anleitungen für heilsame Architektur gewinnen. Kapitel 10: Vielen gestalterischen Faktoren, die bereits bei »normalen« Gebäudetypen wichtig sind, kommt bei Krankenhausbauten eine noch größere gesundheitliche Bedeutung zu: Kranke Menschen empfinden die Wirkung der Umgebung intensiver als gesunde. Auch kann angenehmes Design Heilung fördern. Vorgestellt werden Themen wie das Patientenzimmer der Zukunft, eine menschenfreundlichere Intensivstation, das demenzsensible Krankenhaus und der therapeutische Garten. Kapitel 11: »Spiritual Care«, eine neue Seelsorgekonzeption und wissenschaftliche Disziplin, versucht, Spiritualität und Religiosität als wesentliches Bedürfnis − auch kirchenferner bzw. nichtchristlicher − Patienten in Krankenhäusern und Palliativstationen aufzufassen und zu erforschen. Entsprechende Räume können Spiritualität und »Spiritual Care« auch gestalterisch unterstützen. Kapitel 12: Zum Thema Gesundheitsbauten stellen wir am Ende eine Checkliste »Design als Therapie« vor, die die unterschiedlichen Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Patienten konkret erfasst und zeigt, wie diese auch architektonisch umgesetzt werden können. Kapitel 13: Soziale Umweltgerechtigkeit ist ein wichtiges Thema, das wir am Beispiel der Stadt Berlin exemplarisch diskutieren. Anhand von Karten zur sozialen Umweltgerechtigkeit zeigt sich, wie gravierend die Belastungen in großen Bereichen Berlins sind und wie notwendig gestalterische Veränderungen sind. Hieraus ergeben sich auch Anregungen für andere Städte.
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Im gesamten Buch greifen wir auf interdisziplinäre Erkenntnisse zurück, fassen diese zusammen und vermitteln sie, um den Leser für die Gestaltung einer heilsamen, gesunden und nachhaltigen Architektur zu sensibilisieren. Bedauerlicherweise beziehen Architekten, Designer, Landschaftsarchitekten und Stadtplaner heute noch viel zu selten solche interdisziplinären Erkenntnisse ein. Interviews mit Spezialisten unterschiedlicher Fachgebiete (»Healing Architecture«, Phänomenologische Raumforschung, Architekturpsychologie, »Spiritual Care«, Biophile Gestaltung, »Therapeutic Garden«, Stadtbaukunst, »Urban Health«, soziale Umweltgerechtigkeit) ergänzen thematisch das Buch. Die meisten dieser Fachgebiete sind noch relativ jung und haben sich erst in den letzten Jahren etabliert. Hierin zeigt sich, dass auch in Deutschland die Bedeutung der Gestaltung für die Gesundheit wächst. Wir hoffen, dass der Leser nach der Lektüre des Buches die Einflüsse der Umgebung auf unser Befinden besser verstehen kann. Solches Wissen hilft beim Beurteilen von Architektur und Innendesign und erlaubt, Vorstellungen menschenfreundlicher Gebäude und Räume sowie entsprechende Entwürfe bewusster und kompetenter zu erarbeiten.
2. Bauen erholsamer Orte: Inspiration durch sakrale Architektur
Bild 1: Chartres: Wandelgang eines ehemaligen Klosters und heutigen Hotels. Klöster sind Räume der Atmosphären. Dieser Gang weist eine gestalterische Qualität auf, welche Kontemplation fördert.
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Je urbaner wir leben, umso mehr sind wir Umweltreizen wie Lärm, Dichte, Hitze ausgesetzt. Gleichzeitig verlieren wir den Kontakt zur Natur. Mit unübersehbaren Folgen: Arbeiten ohne Tageslicht, Mangel an Bewegung, Verlust der Konzentrationsfähigkeit, Entfernung von natürlichen Lebensrhythmen. Dagegen werden sakrale Bauten wie Klöster oder Kirchen zumeist als Orte der Ruhe und Kontemplation empfunden. Da Stress und Beschleunigung ein Signum unserer Zeit sind, können viele gestalterische Mittel sakraler Architektur auch für Alltagsbauten durchaus anregen und nutzbar gemacht werden. Denn je mehr die Welt beschleunigt, desto mehr sehnen sich die Menschen nach Entschleunigungs-Inszenierungen. So wundert es nicht, dass Klöster Auszeiten für stressgeplagte Menschen anbieten. Obgleich die Zahl der Ordensleute in Deutschland sinkt, steigen die Besucherzahlen. Seit einigen Jahren ist das »Kloster auf Zeit« voll im Trend.1 Mehr und mehr Ordensgemeinschaften öffnen ihre Pforten, um Menschen eine Zeit der Stille und Kontemplation zu ermöglichen. Auszeit vom Alltag. Entspannung und Ruhe, das versprechen auch viele Wellnesshotels. Doch um wirklich Abstand vom Getriebe der Welt zu finden, wählen zunehmend mehr Menschen das Kloster als Urlaubsort. Die besondere Atmosphäre, die in den von Ordensleuten geführten Häusern herrscht, der Wechsel von Stille und Gemeinschaft, von Gebet und Arbeit, all das kommt gehetzten Großstadtmenschen zugute. Klosterurlaub, das bedeutet Ruhe und Entspannung mit spirituellen Dimensionen, Befreiung von weltlicher Hast. Auch die auf das Notwendige reduzierte Gestaltung der Zimmer und das Fehlen alles Überflüssigen beruhen auf der mönchischen Idee, den Geist auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und Erleuchtung befreien zu wollen. Die reduzierte Gestaltung der Architektur und der Verzicht der Mönche auf Privateigentum bedeuten jedoch nicht, dass Mönche in ärmlichen Räumen leben. So gibt es im Testament des Franziskus von Assisi einen Unterschied zwischen einer ärmlichen Wohnung und der heiligen Armut.2 »Danach kann eine Wohnung ärmlich sein, wenn sie schlecht oder unzureichend ausgestattet ist. Ein Leben in heiliger Armut dagegen erfordert eine Art Ausstattung, welche die Erfahrung der Gegenwart des Numinosen ermöglicht. Eine Wohnung, die nur ärmlich ist, mag vieles in schlechter Qualität bieten, aber keinen Rahmen für die Entstehung göttlicher Atmosphären. Klöster sind aber reine Räume der Atmosphären.«3 Das heißt: Die Gestaltung muss auch in der größten Reduktion und Abkehr von der Bildlichkeit eine gestalterische Qualität aufweisen, um kontemplatives Innehalten zu ermöglichen. Ähnliches findet sich in der japanischen Tradition: Die Leere des Raumes, »gar die Erfahrung der In-Differenz«, der All-heit (die weder trennt noch unterscheidet), fördere »eine erhöhte 1 | Facius (2012). 2 | Hasse (2009), 10. 3 | Ebd., 103.
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Konzentration und kontemplative Aufmerksamkeit für das Wahrnehmbare«.4 Gerade die Einfachheit der Gestaltung kann auch das Gefühl verstärken, »weit weg vom Alltag zu sein«.5 Oft liegen Klöster abgelegen in einer schönen Landschaft. Das Eintauchen in die Natur bewirkt eine Erholung vom Alltag. Stress, Verspannungen und Verstimmungen können in dieser Umgebung abgebaut werden. Abgeschiedenheit und Ruhe der meisten Klöster wirken sich positiv auf die Lebensweise und die Einhaltung ihrer Regeln aus. Die lautliche Ruhe, die in dieser Abgeschiedenheit herrscht, geht über in »eine stimmungsmäßige Ruhe«.6
Bild 2: Der von Peter Kulka entworfene Neubau des Klosters »Das Haus der Stille« in Meschede wurde 2002 fertiggestellt. Das Gästehaus mit 20 asketisch eingerichteten Zellen dient als Rückzugsort für Mönche wie für zahlende Gäste.
Der Neubau des Klosters »Das Haus der Stille« in Meschede von Peter Kulka liegt etwas erhöht, so dass der Blick frei über die Stadt und die hügelige, bewaldete Landschaft schweifen kann. »Als Kloster auf Zeit sollte es dem Besucher Einblick in das Klosterleben gewähren, ihn zur Ruhe kommen lassen und ihm ein Ort sein, an dem er – fernab des Alltagsgetümmels – die Aufmerksamkeit auf die eigene Einkehr und spirituelle Suche lenken kann.«7 Die kleinen, einfachen Klosterzimmer laden zu Ruhe und Entspannung ein. Wesentlich dabei ist der schöne Ausblick in die Weite, der reine Erholung ist. Beim Blick in die Ferne können sich – und dies ist nicht unwichtig – auch unsere Augen entspannen. Wenn man stattdessen keinen Fernblick hat, können es die Augen fast »verlernen«, unterschiedliche Entfernungen schnell scharf zu stellen. Dadurch entsteht Sehstress. Hinzu kommt, dass wir beim Schauen, zum Beispiel auf Displays,
4 | Haepke (2013), 143. 5 | Flade (2008), 207. 6 | Hasse (2012), 70. 7 | Haepke (2013), 228.
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naturgemäß weniger blinzeln und dadurch die Hornhaut weniger mit Tränenflüssigkeit benetzen. Dies kann zu trockenen, überanstrengten Augen führen.
Bild 3: Die Zimmer im Kloster »Das Haus der Stille« in Meschede von Peter Kulka sind sehr reduziert. Die ruhige Gestaltung, auch die akustische Ruhe, überträgt sich in eine stimmungsmäßige Ruhe. Der Ausblick in die befreiende Weite der Natur entspannt. Licht und Natur mit ihren Rhythmen gewähren nicht nur das Erleben angeschauter Schönheit, sondern auch einen Zugang zum »Inneren«.
Eine Studie von Quellette, Kaplan und Kaplan (2005) untersuchte das Erholungserleben von Gästen in einem Kloster und bestätigte, dass die Befragten sich erholt fühlten, neue Tatkraft schöpften und wieder leistungsfähiger waren. Es gab drei wesentliche Motive, sich für einige Tage in ein Kloster zurück-
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zuziehen: ästhetische Motive, zur Ruhe kommen und weit weg sein.8 Ganz in diesem Sinne werben viele Klöster mit ihrer gastfreundlichen, inspirierenden und entspannenden Atmosphäre, um im Einklang mit Kultur und Natur den Weg zur eigenen Mitte aufzuspüren.
V erführung zur S tille , P r äsenz und K ontempl ation Sakrale Orte fördern durch die äußerliche Gestaltung die Entfaltung innerer meditativer Räume. Einen Transformationsprozess aus dem hektischen Alltag in die Stille schildert der französische Autor und Philosoph Alain de Botton, als er aus einem Schnellrestaurant kommend eine Kathedrale betritt: »Pietät und Stille dämpften den trivialen Lärm der äußeren Welt. Kinder wichen ihren Eltern nicht von der Seite und schauten sich mit ebenso ehrfurchtsvollen wie verwirrten Mienen um. Die Besucher flüsterten unwillkürlich, als wären sie in einem kollektiven Traum gefangen, aus dem sie nicht wieder auftauchen wollten. Die Anonymität der Straße war einer eigenartigen Intimität gewichen. Alles Ernsthafte in der menschlichen Natur schien in den Vordergrund gekehrt zu werden: Gedanken an Endliches und die Unendlichkeit, an Machtlosigkeit und Erhabenheit. […] Nach zehn Minuten in der Kathedrale wirkten eine Vielzahl von Ideen vernünftig, die draußen undenkbar gewesen wären. Unter dem Einfluss von Marmor und Mosaik, Dunkelheit und Weihrauch schien es durchaus möglich, dass Jesus, der Sohn Gottes, einst über den See Genezareth gewandelt war. […]«9 Wie können sakrale Räume uns in eine Stimmung versetzen, die gar eine Begegnung mit dem Transzendenten ermöglichen? Wie vermag Architektur in uns emotionale Texturen zu erzeugen wie Demut, Ruhe, Zentriertheit und Präsenz?
Lichtchoreographie Ein wirkmächtiger Aspekt sakraler Architektur ist die Lichtgestaltung. Die starke Lichtveränderung von draußen nach innen und die Lichtführung in einer Kathedrale wie der von Chartres verändern die Atmosphäre völlig. Kaum ins dunkle dämmrige Innere der Kathedrale eingetreten legt man alles Äußere und Alltägliche ab und tiefe Ernsthaftigkeit, Selbstwahrnehmung und Konzentration auf das Wesentliche bestimmen nun alle weiteren Gedanken. Das gedämpfte Licht, das auch als »heilige Dämmerung« bezeichnet wird, hat in kirchlichen Räumen etwas sehr Bergendes. Der Philosoph Gernot Böhme 8 | Quellette, Kaplan, Kaplan (2005). 9 | De Botton (2010), 109, 111.
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begründet es damit, dass die heilige Dämmerung im Kirchraum nicht »jenes gefährdende Moment des Sichverlierens in der Weite« der Natur hat.10 Durch farbiges Glas erscheint das Licht indirekt und grenzt den Raum aus der ungebrochenen Lichtfülle von außen ab. Das dämmrige Halbdunkel entspreche »in der Sprache der Töne […] dem […] Schweigen«.11
Bild 4: Kathedrale von Chartres, 1194-1260. Das blaue Licht berührt quasi zärtlich den steinernen Boden, der an dieser Stelle als Labyrinth gestaltet ist. Im Labyrinth sucht der Besucher im langsamen Gehen seinen Weg zur »Mitte«.
In der Kathedrale von Chartres leuchtet das blaue Licht durch Rosetten und Fenster auf eine besondere Weise. Auf den Farbstimulus Blau reagiert der 10 | Böhme (1995), 144. 11 | Otto (1924).
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Mensch biologisch, indem der Körper gleichsam wie in der Abenddämmerung, auch als blaue Abendstunde – französich l’heure bleue – bezeichnet, sich auf die Nachtruhe einstellt und dadurch zur Ruhe kommt. Diese biologische Reaktion findet völlig unabhängig von Assoziationen, ästhetischen Bewertungen oder kulturellen Bedeutungen auf rein physiologischer Ebene statt.12 Neben dieser biologischen Wirkung stellt das berühmte Chartres-Blau eine assoziative Verbindung zum Himmelblau her. Die runden Formen der Fenster verstärken das Gefühl der Unendlichkeit und Erhabenheit des Kosmos. Das Licht wird von außen eingefangen und wirkt wie vom Kosmos durchdrungen, so dass es einleuchtet, dass das diffuse Licht für das Licht Gottes steht. Die gesamte Architektur ist überirdischer Ausdruck des Menschen zu Gott. Überall erfüllt das diffuse Licht das Gebäude. Auch auf den Steinböden erscheint es als Lichtspiel. Es scheint den Boden förmlich zu streicheln und uns zur Stille, Kontemplation und Selbstfindung hinzuführen. Der Weg zu Gott wird durch eine Lichtchoreographie gestaltet: »Im christlichen Glauben steht Licht für Leben. Nicht nur für irdisches Leben, sondern für ein Leben nach dem Tode, für das ewige Leben der Erlösten. Auf ihrem Gang durch eine mittelalterliche Kirche durchschreiten Gläubige symbolisch diesen Weg. Durch das massiv gebaute, dunkle Westportal betreten sie das Gotteshaus, gehen den von hochgelegten Fenstern mäßig beleuchteten Mittelgang des Langhauses entlang auf den Altar im lichtdurchfluteten Chor zu.«13 Der Innenraum der Kathedrale ist auf den Altar ausgerichtet. Der Rhythmus von Säulen und tiefen Nischen kann hierbei ein fast hypnotisches Voranschreiten induzieren. Die Lichtstaffelung verstärkt die Bewegungsrichtung und den heiligen Weg, die »via sacra«.14
Choreographie der langsamen Bewegung Eingebettet in ein dämmriges magisches Licht und kraft der Akustik werden die Bewegungen langsamer. Man beginnt unwillkürlich zu flüstern. Vor allem das Abschreiten eines Labyrinths – bei dem man nichts anderes zu tun braucht, als sich auf den Pfad zu konzentrieren und im Rhythmus mit den Schritten zu atmen – kann die Atmung verlangsamen. »Alle Arten der gehenden Meditation verlangsamen regelmäßiges Atmen. Während ihr Atmen auf ein ruhiges Gleichmaß sinkt, verlangsamt sich auch Ihr Herzschlag entsprechend, und Ruhe kehrt ein. Genau dies bewirken alle Bewältigungstechniken wie Meditation, Yoga, Tai-Chi und Geh-Meditationen: Sie bringen Sie – fort von den Extremen des Stresses, welche die Leistung hemmen, und hin zu einem 12 | Rodeck et al. (1998), 18. 13 | Hasse (2014), 23. 14 | Lurker (1991), 113.
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Punkt, der für die gerade anliegende Aufgabe optional ist. Einer der Wege, auf dem Sie dies erreichen, ist das Atmen.«15 Das »äußere Bewegt-Werden« beeinflusst somit »das innere Bewegt-Sein«.16 Mit der architektonischen Gestaltung von langsamen Bewegungsabläufen mittels einer architektonischen Choreographie kann daher gezielt Entspannung erzeugt werden. Im Labyrinth versucht der Besucher, seinen Weg zur Mitte zu finden. Der Weg steht als Metapher für das Leben, vom Weltlichen zum Innersten bzw. auch zum Göttlichen.
Choreographie des Hinaufsteigens Schon von Weitem ist die Kathedrale von Chartres in der flachen Landschaft zu erkennen und vermittelt somit noch ungefähr den Eindruck, den sie schon im 13. Jahrhundert auf die Zeitgenossen machte, als solch ein Bauwerk wie ein überirdisch-göttliches Symbol in der profanen Umwelt stand. Zur architektonischen Choreographie gehören nicht nur die Lichtführung und verschiedene Bewegungsabläufe, sondern auch die Treppenführung. Zu Kirchen steigt man meist über eine breite Treppenanlage hinauf und der Altar ist dann wieder durch Stufen erhöht. Albert Gerhards, Professor für Liturgie, beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: »Wenn wir die Stufen hinaufsteigen, dann steigt nicht nur der Fuß, sondern unserer ganzes Sein. Auch geistig steigen wir. Und wir tun es mit Bedacht, dann ahnen wir ein Emporsteigen zu jener Höhe, wo alles groß und vollendet steht: Das ist der Himmel, da drinnen wohnt Gott.«17 »Darum führen Stufen von der Straße zur Kirche, die sagen: Du gehst hinauf, zum Haus des Gebetes; näher zu Gott. Vom Schiff der Kirche wieder Stufen zum Chor; die sagen: Nun gehst du ins Allerheiligste ein. Und Stufen tragen zum Altar empor.«18 »Die Erfahrung, die ein bewusstes Hinaufsteigen einer Treppe vermitteln kann, gehört nämlich zu den elementaren Bestandteilen einer liturgischen Propädeutik.«19 Die lichte, ätherisch erscheinende Architektur ist in ihrer Ausrichtung nach oben in besonderer Weise ausgeprägt. Stufenweise, von unten nach oben aufsteigend, lösen sich die Steinwände auf, so dass im obersten Geschoss auch der kleinste Rest geschlossener Steinwand verschwunden ist und sich die Anmutung von Schwerelosigkeit und Leichtigkeit einstellt, gleichsam wie angesichts der Baumkronen eines Waldes. Möglich wurde diese erlebte Leichtigkeit durch die Ableitung der Gewölbeschübe mittels der Kreuzrippengewölbe nach außen und Verwendung von Stützen, so dass die schwere tragende Mauermas15 | Sternberg (2011), 118. 16 | Haepke (2013), 97. 17 | Gerhards (2011), 95. 18 | Ebd., 95. 19 | Ebd., 97.
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se ihre Funktion verlor. Das meiste an Wandflächen löst sich in ein leichtes Gitterwerk auf.20 Ein weiteres Merkmal, das die Architektur so leicht erscheinen lässt, ist das Prinzip der »schwebenden Geschosse«.21 Gotik-typische architektonische Gestaltungsmittel wie die Kreuzrippengewölbe, die schmalen Bündelpfeiler, das extreme Verhältnis von Breite zur Höhe, die Auflösung der Wände, die Strebepfeiler, die sich emporschwingenden Spitzbögen, die Fialen, das von oben hereinfallende Licht, lassen den Menschen wachsen.
Choreographie der Schwellen Sakrale Orte, Orte die zur Abkehr vom Alltäglichen und zur meditativen Besinnung einladen und anregen, sind normalerweise durch eine Absonderung des Bauwerkes von der Umgebung gekennzeichnet. Die Absonderung schafft einen heiligen Bezirk und vermittelt dem Besucher die besondere Bedeutung des Ortes. Die Absonderung kann durch verschiedene gestalterische Mittel erfolgen. Bei Kirchen und Kathedralen findet sich oft eine Erhöhung des Platzes durch die topographische Lage oder durch Treppenanlagen. Chartres liegt erhöht und von Weitem ist Chartres auf der Hügellage erkennbar. Hier kündigt sich durch die Lage von Chartres, zu der man pilgert, eine inszenatorische Überhöhung an. Auch Portale bilden als Schwellen, die man bewusst durchschreitet, ein choreographisches Gestaltungsmittel. Die Absonderung durch eine Schwelle ist aus gutem Grunde ein Wesensmerkmal sakraler Stätten und dient der räumlichen Hierarchisierung und der Verführung zur Stille. Ein weiteres Mittel der Choreographie ist die Lenkung mittels der Lichtführung. »Das Dämmrige steht als Situation auch in einer Kontrastbeziehung zum grellen weltlichen Leben. In seinem Halbdunkel kontrastiert es den Unterschied zwischen dem bergenden Gefühl des Drinnen im Raum der Kirche und dem a-religiösen Treiben im Draußen der Stadt«.22 Zudem wirkt im Dämmerlicht der Kirchen der Chorraum mit den leuchtenden Fenstern anziehend und steht im christlichen Glauben für den göttlichen Bereich. Der nun folgende Weg ist auf Transformation hin angelegt. Der Rhythmus des Durchschreitens des Weges kann innere Sammlung und Stille fördern.23 Die Architekturhistorikerin Nadine Haepke hat in ihrer Publikation Sakrale Inszenierungen in der zeitgenössischen Architektur insgesamt vier Merkmale für sakrale Orte ausgemacht:
20 | Sedlmayr (2001), 56. 21 | Ebd., 64. 22 | Hasse (2014), 307. 23 | Haepke (2013), 148.
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1. »In einer Absonderung der Stätte«:24 (Genius Loci, Natur, Choreographie) 2. »In einer Außeralltäglichkeit der Repräsentation und Atmosphäre von besonderer Anmutungsqualität und Materialität«:25 Höhe, Mitte, Enge, Weite, Geschichte, Materialität – besonders festlich/besonders reduziert 3. »In einer Absonderung als Hegungsraum für die Praktiken des Kults und des Rituals zur Erhaltung und Respektierung des geweihten Areals«:26 Schwellen, Choreographie 4. »In einer zeitlichen Absonderung«: Rückzugsräume, Schwellen, Choreographie, Licht, Akustik, Stille27 Diese Gestaltungsmerkmale sakraler Architektur wirken besonders intensiv und machen Räume zu besonderen Orten der Stille, Selbstwahrnehmung und Präsenz. Als »kontemplative Sinnorte« bringen sie die menschliche »Vergänglichkeit« zum Ausdruck.28
G anzheitliche I ntegr ation der S inne Wie sich das Erleben und Verstehen von Architektur leiblich auswirkt, zeigt sich besonders eindrücklich an sakraler Architektur. Viele Kathedralen und Kirchen schaffen über die in ihnen herrschenden Atmosphären außeralltägliche sakrale Orte. Beispielsweise gilt der Weihrauch, der in Kirchen verwendet wird, als ein Zeichen der Gegenwart Gottes bzw. des Heiligen Geistes. Durch das Verdampfen auf glühender Kohle entstehen duftende Rauchwolken. Indem Weihrauch verbrannt wird und den Raum erfüllt, wird er zum sinnlichen Zeichen für das hinaufsteigende Gebet und den religiösen Sinngehalt. In vielen Religionen hat der Weihrauch einen festen Platz im religiösen Ritual und gilt als wichtige Hilfe auf dem Weg zum Seelenheil. Jetzt haben Biologen festgestellt, dass das brennende Pflanzenharz tatsächlich direkt auf das Gehirn wirkt. So könne »das Incensol im Weihrauch das euphorische Gefühl« verstärken, »das in religiösen Zeremonien auftrete, weil es milde Gefühle und leichte Wärme stimuliere«.29 Zugleich könne der Rauch auch Angstzustände und Depressionen mildern.30
24 | Ebd., 61. 25 | Ebd. 26 | Ebd. 27 | Ebd. 28 | Ebd. 29 | Scinexx (2008). 30 | Ebd.
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Neben dem umhüllenden Weihrauch (Geruch) die gedämpfte Beleuchtung – die »heilige Dämmerung« – zur meditativen und sakralen Stimmung in Kirchen, mit Kerzenschein und von oben durch farbige Fenster hereinfallendes Licht (Sehen). Zu solcher Stimmung trägt ebenso die Ruhe bei (Akustik), eine Atmosphäre von besonderer Materialität (haptisch-visuell-propriozeptive Synästhetik) und die szenische Ausrichtung der Säulensequenz zum Altar (visuell-propriozeptive Synästhetik). Die Choreographie der Wege mit unterschiedenen Schwellenbereichen die zeitliche Absonderung an. Verlangsamende Treppen oder Wegeführungen beeinflussen das innere Erleben, ähnlich wie bei Gehmeditationen. All diese quasi-physikalischen Gegebenheiten verschmelzen mit der religiösen Gestimmtheit und dem Kosmos religiösen Wissens zum ganzheitlich integrierten leiblich-räumlichen Erleben und Gestalten etwa von Andacht, Gebet oder kirchlichem Ritual. Die verschiedenen synästhetischen Anmutungen begünstigen Entspannung, innere Besinnung, Kontemplation und Selbstbegegnung. In herausgehobenen Augenblicken kann das Erleben sich gar der leiblich-räumlich gespürten Gegenwart Gottes öffnen. Das leiblich-räumliche Erleben, obwohl im Körperlich-Dinglichen verankert, geht über das rein Körperlich-Dingliche weit hinaus. Nicht nur unmittelbar Sensorisches, auch geistiger Gehalt kann leiblich-räumlich gespürt werden. Ohne diese Möglichkeit wäre kaum verständlich, warum Architektur nicht nur Zeichen oder metaphorisches Abbild von Nichtdinglichem sein kann, sondern im Zusammenhang gestalthafter Erfahrung Sinnhaftigkeit und kulturelle Bedeutung unmittelbar verkörpern und leiblich-räumlich erlebbar machen kann.
S akr ale A nmutungen als I nspir ation für P rofanbauten und R ückzugsorte Sakrale Anmutungen finden sich heute immer mehr auch in profanen Gebäuden wie Gesundheits- und Wellnesseinrichtungen, in Räumen der Kunst (z.B. Museen), in Bauten der Mahnmal-Kultur und selbst in Verkaufsräumen. Sakrale Anmutungen werden gezielt in diesen Bereichen eingesetzt, um eine rituelle Distanz zum Alltag zu evozieren, um Erbauung, Besinnung, Erhebung und Andacht zu provozieren.
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Bild 5: Die Therme Vals von Peter Zumthor wurde 1996 eröffnet. Die Felsentherme entschleunigt den Schritt mit langsamen Treppen. Die Felsentreppe bremst den Besucher, da jede Stufe eine Länge von 1,50 m hat und man die Stufen nicht mit einem Schritt nehmen kann. Die äußere langsame Bewegung wirkt auf unser Inneres.
Ein Beispiel eines sakral anmutenden entspannenden Interiors ist Peter Zumthors Therme Vals. Der Besucher der Therme wird systematisch zur Entspannung eingeladen: Gestalterische Mittel sind etwa der Blick in Natur, die sehr breiten flachen Stufen, die eine entschleunigte, langsame und bedachtsame Bewegung nach sich ziehen, die unterschiedlichen Schwellen und eine Choreographie, welche die jeweiligen Bereiche der Einstimmung, Verwandlung, Reinigung und Wasser, Ruhe und Erholungsbereich als Sequenz gestaltet.31 Typisch für sakrale Inszenierungen sind Wege-Konzepte, welche die Besucher »in Raumsequenzen sukzessiv vom Alltag weg-führen«.32 »So wird der Besucher nach und nach eingestimmt und offen gemacht für die Verführungen der Sinnes-Räume, die Rituale des Badens und die Erscheinungsweisen des Lichts.«33 Hierbei helfen Schwellen, Übergänge zwischen den Bereichen zu schaffen. 31 | Haepke (2013), 270. 32 | Ebd., 315. 33 | Ebd., 281.
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Auch Peter Zumthors Kunstmuseum »Kolumba« (2003-2007) in Köln weist viele sakrale Merkmale auf wie eine wechselvolle Spannung aus Licht und Schatten, Transparenz und Geschlossenheit. Warm wirkende Lehmputzwände und Fußböden aus geschliffenem Beton erzeugen eine reduzierte, konzentrierte und elegante Atmosphäre des Museums des Erzbistums Köln. Einige Räume sind in ein Dämmerlicht getaucht, in dem Wände und Objekte ineinander verfließen.
Rückzugsräume und Ruhe-Oasen Warum also sollen Architekten sich nicht von sakraler Architektur inspirieren lassen, um eine entschleunigte Umwelt zu gestalten, die dem »Kernproblem« Stress entgegenwirkt? Normalerweise sind Räume der Stille bestimmten Orten vorbehalten wie Friedhöfen, sakralen Bauten, Bibliotheken und Wellnessbereichen. Warum aber sollen wir nicht Rückzugsorte, wie Orte der Stille, auch in unsere Alltagswelt integrieren? Hektische Menschen, Verkehrslärm, aufdringliche Reklame – das moderne Stadtleben ist nicht unbedingt geeignet, sich vom stressigen Arbeitsalltag zu erholen. Um abschalten und entspannen zu können, sind Rückzugsorte nötig, die einen Gegenpol zum beschleunigten Lebensgefühl in den verdichteten Städten bilden. Heilsame leibliche Empfindungen werden gefördert durch eine Architektur, die es vermag das Tempo zu drosseln, Ruhe zu erzeugen, eine Verbindung zur Natur herzustellen, gelichtete und großzügige atmende Räume zu gestalten und auf das würdige Altern der Materialien zu achten. Alltägliche Gebäude wie Schulen, Bürokomplexe, Wohnbauten könnten Zonen bewusst einplanen, die verstärkt wertvolle Refugien abseits unserer schnelllebigen und reizüberfluteten Zeit integrieren. Unterschiedliche Formen der Intimitätshierarchien können die Rückzugsorte einleiten. Orte zum Zurückziehen können Orte sein, die separiert sind vom Hauptstrom der Aktivitäten und möglichst abgeschirmt von schädlichen und stressenden Umwelteinflüssen wie Lärm, Hitze, Dichte. Geeignet sind freie Räume, Dachterrassen, Innenhöfe, Veranden, auch öffentliche Räume. An solchen Orten können Menschen sich körperlich und geistig erholen, Stress und Gereiztheit reduzieren und sich besser konzentrieren. Unsere Städte von morgen sollten Gesundheit und Wohlbefinden verstärkt fördern und entwickeln. Möglichkeiten zum Rückzug sind für die Gesundheit von großer Bedeutung. An Rückzugsorten können wir entspannen, fühlen uns geborgen, vertraut und sicher. Entspannung stärkt die Abwehrkräfte. Ein regelmäßiger Atemrhythmus fördert klare Gedanken. Manchmal sind jedoch die räumlichen Gegebenheiten sehr begrenzt, so dass Ruheoasen auf kleinsten Bereichen geschaffen werden müssen, wie beispielsweise in Einzimmerwohnungen, Seniorenheimen oder im Gesund-
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heitswesen in Behandlungs- und Patientenzimmern. Besonders für kranke und geschwächte Menschen sind geschützte Rückzugsräume lebensnotwendig. Einfache Räume oder wenigstens Nischen der Privatheit und Intimität zu schaffen, ist nicht besonders schwierig, eher vom Willen und Einsatz als von den Mitteln abhängig: Stühle mit hoher Rückenlehne und Armlehnen und ein Blick in Fluchtrichtung vermitteln schon ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit und brauchen kaum Platz. Auch ein hohes Betthaupt kann einem Kranken »Rückendeckung« geben. Ein Wechsel im Bodenbelag kann ebenso Grenzen, Schwellen und imaginäre Raumzonen schaffen. Das Licht kann Lichtinseln bilden und Bereiche trennen. Rückzugsräume werden vor allem in den sich nachverdichtenden Städten immer wichtiger. Wo uns Natur, Stille und Rückzugsräume fehlen, nehmen psychische und physische Erkrankungen zu.
3. Leiblich-räumliche Wahrnehmung als Grundlage für heilsames Design
Bild 6: Gewinner des ZWP (Zahnarzt Wirtschaft Praxis Magazin) Designpreises 2017: Zahnarztpraxis Dr. Sabine Ripka & Kollegen, Stuttgart, Wartebereich. Eine heitere und ansprechende Atmosphäre kann dazu beitragen, dass wir in einer Arztpraxis entspannen und Vertrauen aufbauen. Gestaltung: Architekturbüro 12.43; Foto: Christina Kratzenberg.
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Wenn Architekten und Stadtplaner Inspiration im sinnlichen Erlebnis suchen und auf den humanen Wert sowie auf das schöpferische Potenzial von kultivierter Wahrnehmung und leiblich-räumlich inspirierter poetischer Phantasie vertrauen, hoffen sie selbstredend auf korrespondierende Resonanzen, ein über die Empfindung vermitteltes Verstehen im Erleben der Bewohner, Benutzer und Besucher. Gebauter Raum vermag über die reine Funktion hinaus wirkmächtig Daseinsempfinden zu formen sowie Bedeutung und Sinnhaftigkeit zu stiften.1 Doch nach welchen Gesetzmäßigkeiten geschieht eine solch erstaunliche Verschmelzung von Stein und Geist? Lässt sich plausibel erklären, wie und warum ein gebauter Raum eine bestimmte psychische Wirkung hervorruft? Man betritt einen Raum – und fühlt sich wohl. Oder genau das Gegenteil ist der Fall: Man möchte sofort wieder die Tür nehmen, um den Ort schnellstmöglich zu verlassen. Ein wesentlicher Grund ist, dass wir leiblich auf Räume reagieren. Wir gehen von der Erkenntnis aus, dass unser Körper unser Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Tun viel stärker beeinflusst als bisher angenommen. Diese Verkörperung von Geistigem erleben wir ständig. Oft wird sie uns aber nur dann wirklich bewusst, wenn sie stark ausgeprägt ist. In den meisten Fällen wirkt die Atmosphäre gestalteter Umwelt unbewusst. Bei der Aufgabe, räumliches Wissen zu vermitteln, möchten wir uns auf das leiblich-räumliche Erleben beziehen. Theoretiker des »Embodied Mind«-Ansatzes entwickelten in den letzten Jahren die aufsehenerregende These, dass unser Wahrnehmen, Denken und Handeln fundamental auf unserer körperlichen Existenz beruht und aus dieser erwächst. »Embodied Mind« heißt der neue Zauberausdruck, den sich diese Bewegung auf die Fahnen geschrieben hat. Da er sich nur schlecht und unbeholfen übersetzen lässt, etwa als »verkörperter Geist«, möchten wir »Embodied Mind« weiter in der englischen Form gebrauchen. Wesentlich dabei ist das körperliche Fühlen, dessen Bedeutung für das räumliche und zeitliche Erleben bis vor kurzem unterschätzt oder gar ignoriert wurde. Gerade in der Architektur gilt es, das leiblich-räumliche Erleben als ästhetisches Kriterium wieder zu integrieren. Bisher wurde oft die visuelle Wahrnehmung von Architektur zumeist einseitig überbetont. Doch betrachten wir die Welt nicht nur als distanzierte Beobachter, sondern erleben sie vieldimensional leiblich mit allen Sinnen. Obgleich wir wissen, dass wir mit vielen Sinnen unsere Umgebung wahrnehmen, wirken viele sensorische Einflüsse auf den visuell präkonditionierten Betrachter erst einmal eher im Unbewussten. Besonders die körperliche Wahrnehmung ist sehr wirkmächtig und vielschichtig. Der Körper speichert leibliche Erfahrungen wie ein Gedächtnis, ohne dass wir es immer in Worte fassen könnten. So kann man oft nicht sagen, 1 | Bachelard (1960); Böhme (2006); de Botton (2010); Fromm (2009); Hasse (2003, 2012); Hauser (2011); Meisenheimer (2004).
3. Leiblich-räumliche Wahrnehmung als Grundlage für heilsames Design
wo sich bestimmte Buchstaben auf der Tastatur des Computers befinden, dennoch finden die Finger die richtigen Tasten. Viele sprachliche Beispiele dokumentieren Wechselbeziehungen zwischen der körperlichen Welt und der abstrakten geistigen Welt wie: Wahrnehmungen machen einen »Eindruck«, werden »begriffen«, »erfahren« oder »fassbar«, dann »verinnerlicht« oder »gespeichert« und können anschließend in Form von Erinnerungen wieder auftreten oder vorgestellt werden.2 Weitere körperliche Referenzen sind: »man nimmt eine Haltung ein, hat eine Einstellung oder stellt sich.« Es gibt auch bildhafte und akustische Metaphern wie: »Jetzt sehe ich, was Du meinst« oder »das klingt vernünftig«.3 Diese Beispiele dokumentieren, dass es »keine scharfe Trennung zwischen körperlicher Welt und abstrakter geistiger Welt gibt«.4 Während das unhinterfragte Primat der visuellen Wahrnehmung nach außen gerichtet ist und eher Distanz bedeutet, erreichen die anderen Sinne uns vieldimensional und erlauben ein empathisches und synästhetisches Begreifen und Ergreifen der Welt, das uns zugleich auch mit der Welt verbindet. Die eigentliche Aufgabe der Architektur ist es daher, uns auch als leibliche Wesen zu unterstützen, das heißt die Begegnung mit der Welt durch alle Sinne zu fördern. Um das Ineinander von Stein und Geist zu verstehen, werden die leiblich-räumlichen Mechanismen untersucht, mit denen wir auf unsere Umwelt reagieren. Die Untersuchung ist daher nicht nur phänomenologisch ausgerichtet, sondern bezieht auch Erkenntnisse der kognitiven Psychologie und Neurowissenschaften mit ein. Das Verstehen von Architektur und Stadt hat viele Aspekte. Dabei könnte das leiblich fundierte szenische Spüren die Matrix für eine Art von Verständnis darstellen, die mit wichtigen anthropologischen Dimensionen verbunden ist, einem basalen Erfahrungssystem, in dem sich unser Bedürfnis nach erfüllender, leiblich-geistiger Lebensform und Lebensgestaltung äußert, die genuin menschliche Sehnsucht und Fähigkeit, Kulturelles, Geschichtliches und Persönliches auch dinglich-räumlich zu verankern. Dieses Erfahrungssystem besser zu begreifen, hilft auch, die Möglichkeiten und Effekte jener erstaunlichen Verschmelzung von Stein und Geist besser zu begreifen, auf die Libeskind vertraut, wenn er von Gebäuden vor allem wünscht, »dass jedes von ihnen die Gedanken und Gefühle von Menschen erfasst und wiedergibt. Wenn sie gut und richtig entworfen sind, besitzen diese scheinbar harten und unbeweglichen Konstruktionen die Kraft, Menschen zu erleuchten und sogar zu heilen.«5 2 | Restat (1991), 313. 3 | Ebd., 314. 4 | Ebd., 314. 5 | Liebeskind (2006), 311.
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E ine neue Ä sthe tik als A nmutungslehre ? Architekten und Städtebauer erkennen und beachten nun zunehmend die Bedeutung einer vieldimensionalen sinnlichen Wahrnehmung und überhaupt von sinnerfülltem Erleben und Handeln für das menschliche Befinden. Architektur trägt wesentlich dazu bei, wie wir unser »In-der-Welt-sein« (Heidegger) erfahren. Unser »In-der-Welt-sein« umfasst mehr als Funktionieren und Nützlichsein. Doch was ist dieses »Mehr«? Wie ist es verbunden mit der Bedeutung und mit vielleicht neuen Perspektiven von Architektur für unser Leben? Wie es aussieht, sind Architektur und Städtebau dabei, anthropologisch zu werden: Die Suche nach Antworten, was dies oft so sträflich vernachlässigte »mehr« denn nun sei, stimuliert ein immer ausgreifenderes und umfassenderes Nachdenken und Nachfühlen zum Problem »Was ist der Mensch?«, zur Frage, was für uns wesentlich ist, was uns gut tut und was dies für unser Erleben in der gestalteten und zu gestaltenden Welt, für Planen und Bauen bedeuten könnte. Die Frage nach dem ganzen Menschen eröffnet immer neue Probleme, Erkenntnisse und Ausblicke. Indem die Bedeutung der existenziellen Dimensionen des Menschseins für Architektur und Stadtgestaltung zunehmend geachtet und anerkannt wird, erweitern sich stetig die geistigen Horizonte und mit diesen die praktischen Ansprüche und kreativen Herausforderungen. Wird die enge Welt des Nützlichkeitsdenkens transzendiert durch die Erkenntnis, dass der Mensch hin und wieder auch etwas ästhetisch Anspruchsvolles und Anregendes sehen möchte, so wird die visuell dominierte Ästhetik wiederum gesprengt durch die Einsicht, dass distanziertes Betrachten dem Menschen nicht genügt und dass die anderen Sinne wie Hören, Fühlen und Riechen für ein volles Eintauchen in die Welt vital sind. Und die Betonung des umfassenden sinnlichen Erlebens findet wiederum ihre Erweiterung in der Feststellung, dass schon sinnliche Intelligenz weit mehr ist als passives Wahrnehmen und dass zum sinnvoll empfundenen Dasein Wesentlich die erfüllende geistige und praktische Eigenaktivität gehört. Die stetige, anthropologisch motivierte Erkenntnisbewegung, die sich auf diese Weise selbst antreibt, kehrt – gewissermaßen in einer aufsteigenden Spirale – zu ihren Themen immer wieder zurück, um ihnen auf immer neue Weise umfassender und subtiler gerecht zu werden. So ergeben sich etwa für das Thema »Wahrnehmung« neue Einsichten, wenn wir bedenken, dass Menschen primär aktive und nicht passive Wesen sind. Wir erleben den Raum nicht mehr als statisch. Die lebendige, vieldimensionale leibliche Bezogenheit von Mensch und Umwelt gewinnt immer mehr unsere Aufmerksamkeit.6 Inspiration dafür kommt wesentlich aus den Ansätzen zum »Embodied Mind«, die sich in den letzten Jahren als leib- und lebensraumorientierte Wen6 | Hauser (2011), 192.
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de in Kognitionswissenschaft und Philosophie entwickelt haben und mit Namen wie George Lakoff und Mark Johnson verbunden sind. Im Rahmen dieser neuen Ästhetik, in der es darum geht, die Verwurzelung menschlichen Befindens und Empfindens in Leib, Lebenswelt und Aktion prinzipiell – also nicht nur in ihren künstlerischen Dimensionen – zu verstehen, lässt sich dann auch beispielsweise behandeln, was zur empfundenen Lebensqualität beiträgt. Auf den ersten Blick mag man vermuten, dass ein solches Vorhaben nur in einer weiteren leichtfertigen Ausdehnung, Verwässerung und Vagheit des ohnehin kaum noch für die Erforschung präziser Probleme brauchbaren Begriffes der Ästhetik enden kann. Wir hoffen, in diesem Buch zeigen zu können, dass das Gegenteil der Fall ist: Die angedeutete Neukonzeption von Ästhetik bedeutet eine produktive Neufokussierung, Präzisierung und Schärfung des theoretischen Instrumentariums. Die sich andeutende neue Ästhetik ergibt sich bemerkenswerterweise nicht aus dem Bemühen, Konzepte traditioneller Ästhetik auszuweiten und umzuarbeiten, so dass sie auf neue Bereiche anwendbar werden. Sie erwächst stattdessen aus Problemen, die traditionell keineswegs als von ästhetischer Art aufgefasst wurden. »Wie kann Gesprochenes für uns Bedeutung haben?«, lautet etwa die Ausgangsfrage von George Lakoff und Mark Johnson. Diese Frage ist im Rahmen einer traditionellen kognitiven Psychologie, die den Basismechanismus des menschlichen Geistes in der Manipulation von abstrakten Zeichen sieht, nicht befriedigend zu beantworten. Generell und grundsätzlich wissen wir: Bedeutungsvoll ist, was uns ergreift, berührt, uns etwas angeht, was uns interessiert und was unser Lebensgefühl beeinflusst. Um sich der Frage zu nähern, wie Gesprochenes so etwas tun kann, sollte man Lakoff und Johnson zufolge zunächst prinzipiell fragen: Auf welche Weise und wieso kann uns überhaupt etwas ergreifen, berühren und interessieren? Lakoff, Johnson und andere Protagonisten des »Embodied Mind«-Ansatzes geben folgende Antwort: Es sind Grundschemata der leiblichen Befindlichkeit und leiblichen Aktion in der Umwelt, die unser Lebensgefühl umfassend bestimmen. In seinem für unser Thema wegweisenden Buch The Meaning of the Body Aesthetics of Human Understanding 7 (2007) entwickelt Johnson die These, dass die leiblich-räumlich gespürte Bedeutung von Befindlichkeits- und Aktionsschemata als fundamental ästhetische (sprich: von erlebten Anmutungen bestimmte) Verfassung unseres Daseins zu interpretieren ist – jedenfalls all jener Dimensionen des Daseins, die uns etwas angehen, uns berühren und beeinflussen. Lakoff und Johnson betonten zunächst vor allem, dass diese Grundschemata die Bedeutung von Gesprochenem bis in die scheinbar abstraktesten Bereiche – etwa die Mathematik – hinein fundieren und Sprache so im leiblichen Erleben verankern. 7 | Lakoff, Johnson (2007).
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Doch lassen sich die angedeuteten Überlegungen prinzipiell auf alles erweitern, was unser Erleben beeinflusst, somit auch auf alle uns etwas angehenden, uns berührenden und interessierenden Dimensionen des Daseins in der Stadt.
L eiblich - r äumliches S püren Ästhetik in diesem Verständnis bedeutet die Rehabilitierung und das theoretische Ernstnehmen eines leiblich-sinnlich fundierten Erkenntnisvermögens, das sich kaum von einer erkenntnis-fundierten Sinnlichkeit unterscheiden lässt. Es bedeutet also nicht nur eine Kunstlehre, nicht nur eine Theorie des Schönen und Hässlichen, sondern eine allgemeine fundamentale Anmutungslehre, die sich auf Wahrnehmung, Erleben, Erkennen und auch Handeln erstreckt. Ästhetische Dimensionen unserer Erkenntnis- und Formungskraft zielen dem neuen Ansatz zufolge weit über das hinaus, was wir vage mit dem Wort »Geschmacksurteil« zu bezeichnen pflegen. Bemerkenswerterweise nimmt die ästhetische Theorie damit ihr ursprüngliches Programm wieder auf oder knüpft jedenfalls daran an: Alexander Baumgarten, der in der Zeit der Aufklärung eine theoretische Ästhetik begründete, betrachtete sie als eine Theorie der sinnlich vermittelten Erkenntnis, die er damals als Gegensatz und Ergänzung zur rationalen Erkenntnis verstand. Die Einengung auf die Kunst erfolgte später. Der Psychologie-Pionier Theodor Lipps (1851-1914) sprach von Einfühlung, um damit unser ästhetisches Empfinden zu klären. Oft wird der griechische Begriff »Aisthesis« mit »Wahrnehmung« übersetzt (aisthēsis bedeutet im Altgriechischen: sinnliche Wahrnehmung, Empfindung). Der deutsche Philosoph Gernot Böhme erinnert daran, dass Wahrnehmung im Sinne dieses Begriffs weit mehr bedeutet als distanziertes gleichgültiges Erkennen: »Aisthesis meint die sinnlich-affektive Teilnahme an den Dingen.« 8 Es geht uns hier um eine Ästhetik, welche einer derart verstandenen Bedeutung des Begriffs »Aisthesis« gerecht wird. Um die sinnlich-affektive Teilnahme des Menschen mittels seines Körpers zu betonen, unterscheiden Phänomenologen zwischen materiellem »Körper« und gefühltem »Leib«. Mit dem Begriff »Leib« wird auf die Selbstwahrnehmung und erlebte »Selbsterfahrung« verwiesen, während der Begriff »Körper« die »Fremderfahrung« – im Blick der Anatomen, Physiologen und Mediziner – dokumentieren soll.
8 | Böhme (1995), 51.
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A tmosphären und S timmungen – G ernot B öhme Wie könnte nun die Fundierung einer neuen Ästhetik im leiblich-sinnlichen Erleben in einer Umwelt aussehen? Bedeutende Ansätze dazu finden sich in den Überlegungen des deutschen Philosophen Hermann Schmitz und, im Anschluss an ihn, Gernot Böhme. So untersucht Böhme, ausgehend von einer Konzeption von »Dasein als spürbare Anwesenheit« die »Beziehung von Umgebungsqualitäten und Befindlichkeiten« und fragt, wie eine solche Beziehung sich im Erleben gestaltet. Gedanken von Hermann Schmitz aufgreifend, entwickelt und erläutert Böhme die These, dass die Beziehung von Mensch und Welt wesentlich in den so genannten »Atmosphären« erlebt werde. Atmosphären im Sinne von Schmitz und Böhme sind affektive Tönungen, die Leib und Raum, Subjekt und Objekt, Mensch und Welt umgreifen und so die Grunderfahrung von deren Zusammengehörigkeit und Einheit vermitteln. So kann eine »bange Atmosphäre« einen Raum erfüllen und affektiv charakterisieren, vielleicht den neu Eintretenden »anstecken«. Auch ein Phänomen wie die Dämmerung ist wesentlich eine das Erleben prägende atmosphärische Stimmung im Raum. In einer gotischen Kathedrale herrscht eine typische Atmosphäre und so fort. Hermann Schmitz und Gernot Böhme gelangen jenseits des üblichen Dualismus von Körper und Seele, Subjekt und Objekt zu Einsichten über den Leib in der Welt als zentralen Gegenstand. Hermann Schmitz entwickelt eine Leibphilosophie, deren Leibkonzept er so erläutert: »Wenn ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen oder tierischen Körper, den man besichtigen oder betasten kann, sondern an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein ›Sinnesorgan‹ wie Auge oder Hand zu verfügen.«9 Gernot Böhme fordert im Sinne des Spürens des eigenen Leibes eine Renaissance der sinnlichen Wahrnehmung, eine (Wieder-)Entdeckung des Atmosphärischen als eine elementare Dimension der Ästhetik. Es sind die verschiedenen Atmosphären, die akustische Atmosphäre, die Atmosphäre des Lichts, die der Farbe und der Materialien, die unsere Sinnlichkeit in einer Umgebung ansprechen. Atmosphären sind für Böhme die erste und entscheidende Wirklichkeit für die Ästhetik, da sie im Erleben als räumliche Träger von Stimmungen fungieren. Das Atmosphärische stelle etwa das wirklich Wesentliche einer Stadt dar, da sie ästhetische Reaktionen zu unterstützen vermöge und damit Empfinden und Verhalten der Menschen beeinflusse, so dass sie sich beispielsweise in einem Ort heimisch und mit ihm verbunden fühlen.
9 | Schmitz (1990), 115.
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»Atmosphären, wie man sie in Umgebungen, aber auch an Dingen oder an Menschen empfindet«, sind nach Böhme »das zentrale Thema der Ästhetik«.10 Der Raum bildet bei Böhme für den Menschen eine Art subjektive Resonanz, die das Individuum mit seinen Stimmungen und Befindlichkeiten in den Mittelpunkt rückt. Verbunden ist damit eine gewisse Subjektivierung und Psychologisierung der Ästhetik, die jedoch nicht missverstanden werden darf: Atmosphären – etwa in einer Kathedrale – werden von verschiedenen Menschen oft sehr ähnlich erlebt und haben somit auch etwas quasi Objektives, etwas den Dingen und Räumen gewissermaßen Anhaftendes. Böhme umreißt, was er für die Vorzüge des »Atmosphären«-Ansatzes gegenüber der traditionellen Ästhetik hält: »Was damit überwunden ist, wurde benannt: die Selbstbeschränkung der Ästhetik auf das Urteil und den rationalen Diskurs, die Verpönung von Sinnlichkeit und affektiver Teilhabe, die Verdrängung des Leibes, die Einschränkung des Interesses auf die Kunst und das Kunstwerk, die Dominanz der Semiotik und die Präponderanz der Sprache. Was zu gewinnen ist, zeichnet sich ab: die Rekonstruktion eines vollständigen Wahrnehmungsbegriffs, die Wiederentdeckung leiblicher Anwesenheit.«11 Böhme fordert die Kultivierung einer »ästhetischen Arbeit«, bei der es jenseits der sachlich-nützlichen Produktion darum geht, »durch Arbeit am Gegenstand Atmosphären zu machen. Diese Art von Arbeit finden wir überall. Es gehören dazu: Design, Stadtmarketing, Werbung, die Herstellung von Musikatmosphären (akustische Möblierung), die Innenarchitektur – und dann natürlich der ganze Bereich der eigentlichen Kunst.«12 Tatsächlich beschäftigen sich Designer und Marktforscher eingehend mit dem Thema der sinnlichen Anmutung von Produkten zur kommerziellen Verkaufssteigerung. Konzerne investieren Millionen in die sinnliche Anmutung ihrer Produkte, da sie um die Macht der unbewussten Manipulation mittels der Sinne wissen. Designer aller Couleur wie Akustik-, Geruchs-, Farbdesigner beschäftigen sich mit der Kunst der heimlichen Verführung durch die Sinne. Zum Beispiel wird in Kaufhäusern gerne Hintergrundmusik gespielt, nicht nur um störende Geräusche oder auch eine unerwünschte, als bedrückend empfundene Stille zu übertönen. »Versuche haben gezeigt, dass beispielsweise edlere Tropfen vor allem bei klassischer Musik gekauft werden und sich auch noble Automarken am besten mit Vivaldi und Co. verkaufen«.13 Da verwundert es nicht, dass allein deutsche Warenhäuser »geschätzte 100 Millionen Euro« jährlich für die
10 | Böhme (1995), 16. 11 | Ebd., 177f. 12 | Ebd., 35. 13 | Venator (2007).
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»richtige« Berieselung ausgeben.14 Ebenso werden von Kaufhäusern und Restaurants wohlige Düfte wie Vanille eingesetzt, um unsere Emotionen zu steuern und uns zum Kaufen anzuregen. Inzwischen wurde sogar ein »Corporate Smell« von der international anerkannten Geruchsdesignerin Sissel Tolaas für eine Schweizer Hotelkette entwickelt. Der »Corporate Smell« soll bewirken, dass der Kunde immer wieder kommt.
A tmosphären definieren unsere G efühle Es sind nicht ideale Proportionsverhältnisse wie der Goldene Schnitt und nicht der metrische, euklidische Raum, die den Menschen rühren. Es ist der Ort mit seinen Beziehungen und seiner Atmosphäre, der alle Sinne anspricht. Es ist die akustische Atmosphäre, die Atmosphäre des Lichts, der Farbe und der Materialien mit ihren sinnlichen Qualitäten, die zum Anfassen, Anfühlen animieren. Da Atmosphären unsere Stimmungen beeinflussen können, geht eine starke Macht von ihnen aus. Meisterlich in der perfekten Inszenierung und Herstellung von Atmosphären im negativen Sinne war der deutsche Nationalsozialismus, der die zentralen Metaphern der Macht wie Schwere, Höhe und Monotonie verwendete, um die Volksmassen zu manipulieren. Auch Klangund Lichtatmosphären gehörten zum gestalterischen Repertoire. Der Architekturkritiker Dieter Bartezko bezeichnete diese Architektur daher auch als Stimmungsarchitektur.15 Architekten können als Atmosphärendesigner auch gezielt positive Atmosphären entwerfen, welche die Stimmungen der Menschen in unterschiedlicher Weise unterstützen und verändern: Menschen beruhigen, positive Gedanken fördern, Angst auflösen, Hoffnung, Vertrauen, Sicherheit und Freude vermitteln, wie es zum Beispiel in einem Krankenhaus notwendig wäre und in deren Folge Patienten weniger Schmerzmittel nehmen und schneller genesen. Ein Hospiz lässt dem Patienten Raum für die spirituelle Dimension des Lebens. Eine Kinderzahnarztpraxis kann als abenteuerliche Unterwasserwelt gestaltet sein, um die neugierigen Kinder so von der Angst vor dem Bohrer abzulenken. In der Psychiatrie kann die Qualität der Atmosphäre einen direkten Einfluss auf einen besseren Genesungsverlauf der Patienten haben. Die entspannte, vertrauensfördernde, familiäre, ruhige und Geborgenheit vermittelnde Atmosphäre in der psychiatrischen Station Soteria (altgriechisch soteria = Heilung, Wohl, Bewahrung Rettung) an der Berliner Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus (Bild 7) bewirkt zum Beispiel, dass die Patienten sich schneller erholen und weniger Psychopharmaka neh14 | Ebd. 15 | Bartezko (1985).
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men müssen. Die wohnliche Atmosphäre mit Holzböden, Holzmöbeln, farbig gestrichenen Wänden, gemütlichen Sitzmöbeln und Wintergarten, gleicht eher einer Patienten-WG als einer üblichen psychiatrischen Station. Patienten und Mitarbeiter begegnen sich in therapeutischer Gemeinschaft auf Augenhöhe und gestalten gemeinsam den Tagesablauf, wie auch das gemeinsame Kochen und Essen. In der großzügigen Wohnküche finden »zwanglose Gespräche jenseits der klassischen Visiten-Situation einer psychiatrischen Station« statt.16 Die schlichten Patientenzimmer, der helle Wintergarten sowie weitere Areale bieten genügend Rückzugsräume. Die wertschätzende und nicht stigmatisierende Atmosphäre, die wenig an sterile, alltagsferne und teilweise beängstigende psychiatrische Krankenhausmilieus erinnert, hat zur Folge, dass Patienten sich frühzeitig und freiwillig bei ersten Anzeichen einer Psychose in die Klinik begeben und nicht erst zwangsweise eingewiesen werden müssen.17 Hier im Bereich der Gesundheitsbauten können Atmosphären als Therapeutikum wirken. Atmosphären können allgemein für das Befinden hilfreich und heilsam sein. Eine geeignet gestaltete und geführte Schule fördert die Konzentration und Ruhe und lässt gleichzeitig viel Raum für Bewegung und soziale Aktivitäten. In einem Bürogebäude sollte eine produktive, kreative, stressmindernde und teamorientierte Atmosphäre herrschen. Ein Mahnmal lässt eine Darstellung einer durchaus schmerzlichen Erfahrung als schwere Atmosphäre zu. Dadurch, dass jede künstlerische Bewältigung von Erinnerungskultur ungefragt und ungewollt einen Versöhnungsanteil durch Verarbeitung und nicht Verdrängung enthält, trägt diese Architektur in sich einen heilsamen Aspekt, da es bedeutet, das erlittene Leid nicht zu vergessen, sondern zu verarbeiten. So ist es nicht verwunderlich, wenn Daniel Libeskind meint: »Die am neutralsten gehaltene Architektur ist oft auch die aggressivste.«18 Um eine angemessene Atmosphäre gestalten zu können, versucht Libeskind beim Planen zunächst nachzuspüren, was er am jeweiligen Ort empfindet. Wie fühlt sich ein Ort an, an dem Menschen gestorben sind, wie am Ground Zero nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York? Das ist auch das, was den Menschen nach Libeskind berührt: »Bei Gebäuden, die uns bewegen, wurde mit Sorgfalt gebaut. Dabei geht es gar nicht darum, ob uns ein Gebäude ein gutes Gefühl verschafft oder nicht. Es geht darum, im Innersten bewegt zu werden. Das bedeutet das Wort Emotion. Wir spüren ein Gefühl der Intensität, der Leidenschaft und der Auseinandersetzung, das uns tief bewegt.«19
16 | Voss, Danzinger (2017), 899. 17 | Interview mit Martin Voss. 18 | Liebeskind (2017). 19 | Ebd.
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Bild 7: Der Flur in der Soteria, einer psychiatrischen Station in der Universitätsklinik der Berliner Charité im St. Hedwig-Krankenhaus. Sie wurde vom Architekten Jason Danziger umgestaltet. Hier zielt alles darauf ab, ein Milieu zu schaffen, das stressfrei, ruhig und möglichst reizarm ist. Atmosphäre wirkt hier als Therapeutikum.
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Warum kann aber Architektur uns so stark emotional bewegen? Diese Frage stellte sich Heinrich Wölfflin, Kunstwissenschaftler und Architekturtheoretiker, in seiner Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur von 1886. Seine Grundfrage lautete: »Wie ist es möglich, dass architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können?«20 Seine Antwort lautete: weil »wir selbst einen Körper besitzen«, vermögen wir auch die körperlichen Formen als charakteristisch wahrzunehmen und zu erspüren.21 Die Erfahrung der Architektur liege daher immer auch in der »Selbsterfahrung« begründet. Unser Körper macht eine Reihe von Erfahrungen mit Schwere, Kontraktion und Kraft und kann dann vermöge dieser gesammelten Erfahrungen Architektur nachempfinden.22 Wölffin vermutet, ähnlich wie Schmarsow, dass es so etwas wie »Muskelgefühle« beim Erleben einer Form geben muss, obgleich diese erst im darauf folgenden Jahrhundert später entdeckt und mit dem Begriff Propriozeption bezeichnet wurden.23 Die erlebte Stimmung drückt sich daher auch nicht nur in »den Spannungen der Gesichtsmuskeln oder den Bewegungen der Extremitäten aus, sondern erstreckt sich auf den ganzen Organismus«.24 Unser Körper reagiere unmittelbar auf die Architektur, insofern wir bei großzügigen weiten Hallen »tief und voll« atmen, »als wäre unsere Brust so weit wie die Hallen«.25 Wir spüren bei »kräftigen Säulen« förmlich die Kraftverteilung und reagieren auf Asymmetrie mit »körperlichen Schmerz«.26 Wir erleben die Schwere der Gebäude, indem wir unsere eigene körperlich erlebte Schwere auf diese übertragen, so dass menschlicher und architektonischer Körper sich gleichen. So können sehr schwerfällige Gebäude in uns Schwermut und eine gedrückte Stimmung erzeugen. Wölfflin erklärt dies damit, dass beim Menschen der körperliche Zustand der Schwere mit einer »Verminderung der Lebenskraft« verbunden ist und das Blut langsamer und der Atem unregelmäßiger wird.27 Wölfflin folgert, dass »Psychisches und Körperliches parallel« gehen.28 In seiner baugeschichtlichen Untersuchung Renaissance und Barock, erstmals 1888 erschienen, kommt bereits seine Methode zur Anwendung, über sinnliches Erleben ins Wesen der Architektur einzudringen.
20 | Wölfflin (1186), I Vorrede. 21 | Wölfflin (1186), 4. 22 | Wölfflin (1186), 4. 23 | Ebd., 4. 24 | Ebd., 8. 25 | Ebd., 4. 26 | Ebd., 8. 27 | Ebd., 15. 28 | Ebd., 12.
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Theoretische Vorstellungen, dass unser Wahrnehmen auf unserer leiblichen Existenz in einer Umwelt beruhen könnte, traten also erst zum Ende des 19. Jahrhunderts, in der Phase des Historismus, auf. Heinrich Wölfflin und August Schmarsow untersuchten leibbezogene Ansätze in Architektur und Kunst und berücksichtigten dabei erstmals neuere Erkenntnisse der sich herausbildenden Psychologie und Physiologie. August Schmarsow vertrat Gedanken dieser Art in seiner 1893 gehaltenen (1894 veröffentlichten) Antrittsvorlesung an der Leipziger Universität über »Das Wesen der architektonischen Schöpfung«. Schmarsow betrachtete die Architektur, die er als »Raumgestalterin« bezeichnete, vor allem auf der Grundlage »unserer psychischen Anlage«.29 Architektur als Raumgestalterin zu betrachten, implizierte bei ihm eine neue leibliche Erfahrung des Spürens. Schmarsows Ansatzpunkt war der aufrecht stehende Leib, der aufgrund seiner Axialität schon immer einen Raum ausbilde und zwar »nach oben und nach unten, vorn und hinten, links und rechts«.30 Mit dem »Bau unseres ganzen Körpers«, den »Muskelgefühlen« können wir eine »räumliche Anschauungsform« gewinnen.31 Als wichtigste Ausdehnung für das Raumgebilde erschien Schmarsow die Richtung unserer freien Bewegung. Die Bewegung im Raum, die sich in Begriffen wie »Ausdehnung, Erstreckung und Richtung« ausdrücke, könne die Muskelgefühle anzeigen, auch wenn der Mensch nur stillsteht und »die Maße absieht«.32 Den Begriff der Bewegung bezeichnete daher die Architekturhistorikern Bettina Köhler als den entscheidenden »Passus«, insofern Schmarsow die Bewegung nicht nur als körperliche ansah, sondern die Bewegung als eigenes Gefühl auf die ruhende Raumform übertrug.33 Mit diesem psychologischen Ansatz war schon die Grundlage geschaffen worden, dass zwischen dem betrachtenden Subjekt mit einem menschlichen Leib und dem architektonischen Gebilde eine unmittelbare Verbindung bestehe.34 Fünf Jahrzehnte später erklärte der Psychologe James J. Gibson, diese Verbindung bestehe dadurch, dass unsere Wahrnehmung mit unseren eigenen Aktionsmöglichkeiten verknüpft sei. Wenn wir also eine räumliche Weite vor Augen haben, erkennen wir anhand unseres Leibes den Zeitbedarf und die Schwierigkeit, dorthin zu gelangen. Dies beinhaltet, dass unser Raumerleben durch Erfahrungen mit Bewegung geprägt ist.
29 | Schmarsow (1894). 30 | Ebd. 31 | Ebd. 32 | Ebd. 33 | Köhler (1998), 38. 34 | Ebd.
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D er S chlüssel zu einem neuen Ä sthe tikverständnis : »E mbodied M ind « Seit den 1980er Jahren mehren sich die Stimmen, die vermuten, dass in unserem alltäglichen Dasein, als in der Welt agierenden körperlichen Wesen, auch der Schlüssel zum Verständnis unserer höchsten geistigen Leistungen zu finden sei. Menschliche Geistestätigkeit sei, so das Credo der Protagonisten der »Embodied Mind«-Bewegung, in unserer körperlichen Existenz verankert, sei fundamental und genuin leiblich geprägte Aktivität. Der Geist wird nicht mehr als vom Körper getrennt, sondern als ursprünglich leiblich verstanden, oder anders herum: Der Körper wird als geistbegabter Leib verstanden. Auch abstrakteste Denkprozesse und Denkgebäude sind in diesem Verständnis keineswegs so objektiv, zeitlos und universell wie es in der traditionellen Philosophie und Wissenschaft oft schien, sondern dadurch gekennzeichnet, geformt, ja bestimmt, dass wir einen spezifisch gearteten Leib haben, mit dem wir uns in spezifisch gearteten Umwelten bewegen. Denken ist also nicht auf unsere leiblich-räumlich erlebte Realität aufgeklebt, sondern erwächst aus ihr und gestaltet sie. George Lakoff und Mark Johnson haben seit den 1980er Jahren – im Anschluss an ältere Vorstellungen, vor allem von William James und John Dewey – Theorien entwickelt, die erklären sollen, über welche Prozesse der Mensch nicht nur mit seiner körperlichen Tätigkeit, sondern auch mit seiner scheinbar »höheren« mentalen Tätigkeit im Leiblich-Räumlichen verankert ist. Lakoff und Johnson postulieren: Wir gewinnen grundlegende generalisierbare Wahrnehmungs- und Aktionsschemata aus unserem Umgang mit der Umwelt. Diese Wahrnehmungs- und Aktionsschemata sind so geartet, dass sie in einem zweiten Schritt nicht nur das konkrete, sondern »metaphorisch« auch das abstrakte Erleben strukturieren können. Beispielsweise lernen wir im direkten Umgang mit der Welt, was ein Behälter ist und wie er funktioniert. Zum Behälter gehört, dass ein Gegenstand »im« Behälter sein kann oder draußen, dass er hinein und hinaus gelangen kann und so fort. Nun sagen wir aber auch, dass wir etwa den Namen eines Kollegen »im Gedächtnis« haben oder dass er »unserem Gedächtnis entfallen« ist, und so fort. Unsere Erinnerungsfähigkeit ist per se kein Gegenstand und beinhaltet per se keinen Behälter, doch machen wir sie Lakoff und Johnson zufolge metaphorisch dazu – und lassen dann unser Denken über »das Gedächtnis« von der metaphorischen »Projektion« des »Behälter-Schemas« strukturieren. Das menschliche »konzeptuelle System« baut sich also Lakoff und Johnson zufolge zweistufig auf. Grundlegend sind die »nichtmetaphorischen Konzepte«, welche gleichsam unmittelbar aus unseren elementaren Erfahrungen mit der Welt erwachsen und von diesen her definiert und beglaubigt sind. Sie cha-
3. Leiblich-räumliche Wahrnehmung als Grundlage für heilsames Design
rakterisieren die erste, direkt in der Welt verankerte Stufe unseres konzeptuellen Systems. Für Lakoff und Johnson ist dabei wichtig: Obwohl wir annehmen müssen, dass die materielle Welt auch unabhängig von uns existiert, sind die Konzepte, mit denen wir sie fassen, keineswegs unabhängig von uns, sondern stets auf uns Menschen als körperliche Wesen bezogen. So sind die Raumrichtungen »oben« und »unten« für uns wesentlich mit der Richtung der Erdenschwere verbunden. Für Wesen, die als Kugeln im Weltall schweben, könnte es diese Orientierungsdimension nicht geben. Wichtig in unserem Zusammenhang ist dabei: Die leiblich-räumlichen konzeptuellen Schemata der beschriebenen Art stellen nicht ein affektunabhängiges gedanklich-zeichenhaftes Wissen dar, sondern wirken unmittelbar als leiblich spürbare Anmutungen. Beispiel Behälter-Schema: In einem Behälter zu sein, fühlt sich auf eine bestimmte charakteristische Weise an. Je nach Größe des Behälters kann das Umschlossensein beengend wirken oder ein Weitegefühl vermitteln, je nach Situation kann es als Schutz oder Gefängnis erlebt werden. Auch jemand oder etwas anderes in einem Behälter zu sehen oder zu wissen, fühlt sich auf eine bestimmte Weise an, wobei auch Resonanz und Einfühlung eine Rolle spielen können: In den experimentellen Kognitions- und Neurowissenschaften verdichten sich die Hinweise, dass wir andere Dinge, Organismen und Personen »einfühlend« wahrnehmen können, indem wir auf unser eigenes Daseinsgefühl als Objekt, Organismus und Person zurückgreifen. Die unmittelbar leiblich-räumlichen konzeptuellen Schemata sind somit Gegenstand der von uns gesuchten neuen Ästhetik als allgemeiner Anmutungslehre. »Metaphorische Konzepte« charakterisieren die zweite Stufe unseres konzeptuellen Systems. Hier finden wir die Schemata der Welterfahrung wieder, doch auf Bereiche übertragen, aus denen sie nicht erwachsen sind und aus denen sie nicht von selbst erwachsen würden. So überträgt die Redewendung »ein zerbrechliches Ego« das physikalische Konzept der Zerbrechlichkeit, das aus unserer dinglichen Welterfahrung stammt, auf die menschliche Psyche. »Eine tiefe Seele« wird erst über die räumlich verankerte Metapher »tief« – denn ursprünglich und als solcher kommt der geistig und empfindend verfassten Form unseres Anwesendseins in der Welt (wenn wir die Seele hier einmal so definieren) in keinem Sinne »Tiefe« zu. Bezeichnenderweise lässt sich sowohl sagen: »Sie denkt tief« als auch »Ihr Denken greift nach den Sternen« – es sind eben unterschiedliche Metaphernsysteme, in denen die Bewunderung für die Denkerin jeweils ausgedrückt wird. Wichtig in unserem Zusammenhang ist: Auch die metaphorischen Konzepte sind Lakoff und Johnson zufolge leiblich-räumlich verankert. Die (sei es als Wahrnehmung, sei es als Phantasie) empfundene räumliche Dimension »Tiefe« findet sich also sowohl in der »Seelentiefe« als auch etwa in der Tiefe eines Sees, so dass die beiden Konzepte aufgrund dieser gemeinsamen
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Dimension in Resonanz treten können und so beispielsweise das Sprichwort »Stille Wasser sind tief« auf einen Menschen angewandt ohne weitere Erklärungen verständlich wird. Auch metaphorische Konzepte wirken somit über leiblich-räumliche Anmutungen und sind deshalb Gegenstand der von uns gesuchten neuen Ästhetik als allgemeiner Theorie der Anmutung, ebenso wie die Resonanz von metaphorischen und unmittelbar leiblich-räumlichen Konzepten, welche die Anmutung von Umgebungen und damit von Stadt und Architektur wesentlich mitbestimmen dürften.
A ffordanz : W ozu regt uns die U mwelt an ? Weitere ästhetische Fragen stehen im Zusammenhang mit dem Beginn der Architekturpsychologie, die sich um 1965 als eigenständiges Fachgebiet entwickelte. In den folgenden Jahrzehnten entstand eine Reihe von Publikationen zum Thema Ästhetik, die auch Erkenntnisse psychologischer Wissenschaft mit einbezog. Verstehen wir Ästhetik tendenziell als allgemeine Anmutungslehre, dann sind aber auch Konzepte interessant, die ursprünglich keineswegs als ästhetische Konzepte gemeint waren, etwa die Theorie umweltlicher »Aufforderungen« (Affordances) des US-amerikanischen Psychologen James J. Gibson.35 Die Grundidee dieser Theorie ist, dass wir Gegenstände und Umwelteigenschaften nicht als neutral und gleichgültig wahrnehmen, sondern im Lichte von für uns bedeutsamen Handlungs- und Ereignismöglichkeiten, die sie uns gewissermaßen durch ihre Gegenwart anbieten. So nehmen wir den festen Boden als Angebot und als eine Möglichkeit wahr, uns zu tragen, darauf zu sitzen, zu stehen oder zu laufen. Gibson drückte dies so aus, dass der Stuhl zum Sitzen »auffordert«, die Tür zum Hindurchgehen, die Treppe zum Hinaufsteigen, der Abgrund zum Hineinfallen. Dinge oder Teile des Raumes können förmlich »sagen«: »benutze mich!« oder »vermeide mich!« So fordert eine breite Treppe auf, hinauf zu schreiten, ein schönes Material, es zumindest mit den Augen zu betasten. Ein interessanter Stadtraum fordert Fußgänger zum Flanieren, Verweilen und Entdecken auf.36 Ein Weg erscheint schon optisch weiter, wenn man schwer beladen ist.37 Ebenso erscheinen Berge nach einem anstrengenden Langstreckenlauf steiler als in ausgeruhtem Zustand. Naiv betrachten wir die Steilheit als eine sachliche Eigenschaft des Berges, die unabhängig von uns existiert. Es ist deshalb nach unserem obigen Definitionsvorschlag durchaus eine Wahrnehmung. Erst durch Nachdenken und Experimentieren bemerken wir, wie stark diese Wahrnehmung mit unseren 35 | Gibson (1982). 36 | Richter (2009), 300. 37 | Proffitt et al. (2003).
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eigenen Aktionsmöglichkeiten verknüpft ist. Schon im simplen »Sehen« der Entfernung zu einem Ziel oder eines Hindernisses erleben wir unmittelbar den Zeitbedarf und die Schwierigkeit, dorthin zu gelangen. Handlungen, Handlungsabsichten und Handlungsmöglichkeiten bestimmen elementar die Wahrnehmung und damit auch Erleben und Beheimatungspotenzial des gelebten Raumes von Architektur und Stadt.38 Die wahrgenommenen »Aufforderungen« sind dabei auf unsere menschlichen Eigenschaften und Möglichkeiten, etwa die unseres Leibes, bezogen: Eine Treppe würde uns nicht zum Hinaufsteigen »auffordern«, wenn wir winzig wären wie Ameisen. Eine solche erlebte »Aufforderung« etwa durch einen Stuhl, der zum Sitzen einlädt, ist gewiss eine affektiv getönte, leiblich-sinnlich erfahrene Anmutung des Stuhles, vielleicht eine im Raum gespürte Beziehung zwischen meinem Leib, der sitzen möchte, und dem Stuhl, der zum Sitzen auffordert. Die Abhängigkeit der Wahrnehmung von unseren eigenen Zuständen und Bedürfnissen bedeutet nicht unbedingt, dass hier »Subjektivität« im Sinne von Verfälschung der objektiven Realität ins Spiel kommt. Im Gegenteil: Die Berücksichtigung unserer eigenen Aktionsmöglichkeiten bei der Wahrnehmung der Welt erzählt uns in der Regel Wichtiges und Wahres. Unsere Aktion in der Welt ist tatsächlich der wichtigste und zuverlässigste Test, dass eine Wahrnehmung keine »Falschmeldung« ist. Gibsons Theorie lässt sich durchaus als »Embodied Mind«-Ansatz im oben angedeuteten Sinne charakterisieren, da der erlebende Mensch in seiner erlebten Umwelt und die Einheit beider ihr Thema ist, mit Betonung des leiblich-sinnlichen Spürens. Dinglich wahrgenommene Aufforderungen lassen sich weder als rein »geistig« noch als rein »körperlich« charakterisieren – es mutet künstlich an, die erlebte Anmutung in solche Komponenten zu unterteilen. Gibson arbeitete ein weiteres Charakteristikum unserer Wahrnehmung heraus, das im Rahmen eines »Embodied-Mind«-Ansatzes wichtig ist, nämlich dass unsere Wahrnehmung nicht nur auf unsere leiblichen Aktionsmöglichkeiten bezogen ist, sondern keineswegs nur passiv geschieht, sondern durch leibliche Aktion erzeugt wird. Schon ein Bild betrachten wir, indem wir es mit den Augen abtasten, dabei vielleicht den Kopf bewegen, weiter weg und näher heran treten. Um eine Statue gehen wir herum und befühlen sie vielleicht auch, das Sehen ergänzend und unterstützend. Das Sehen ist Gibson zufolge sehr unzureichend charakterisiert, wenn, wie so oft üblich, das Auge wie eine still stehende Kamera dargestellt wird, die passiv die Lichtstrahlen empfängt. Sehen ist Gibson zufolge ein aktiver Prozess, der die Bewegung des ganzen Körpers als ein dem Sehen dienendes »Wahrnehmungssystem« erfor38 | Gibson (1966, 1979); Hoffmann (2009); Mechsner (2012); Prinz (1997); Ströker (2011); Hasse (2003); Meisenheimer (2004).
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dern kann. Für das Verständnis der Dreidimensionalität und der körperlichen Wahrnehmung sind Gibson zufolge vor allem ein Grundorientierungssystem und das haptische System entscheidend, das taktile und kinästhetische Wahrnehmung umfasst.
K ommunik ative R esonanz mit der U mwelt : W ir leben in S zenen Bild 8: Die flachen Stufen der Treppenspindel im Berliner Ausstellungsbau des Deutschen Historischen Museums vom chinesischen Stararchitekten Pei fordern zu einer langsamen, entschleunigten Bewegung auf. Dem Besucher ergibt sich nicht nur ein reizvoller Blick auf die Architektur von Peis Museumsbau, sondern auch auf die Umgebung mit der Neuen Wache und dem anliegenden Zeughaus.
Wie erleben wir Architektur und Stadt? Schon visuelles Betrachten bedeutet, wie eben gesagt, weit mehr als passives »Augen auf, Bilder rein«. Wenn wir ein Haus oder eine Stadt anschauen, gehen wir neugierig herum, bewegen Körper, Kopf und Augen, nehmen dabei eine sich auf bauende Gesamtgestalt wahr, in der etwa auch gerade nicht betrachtete Zimmer oder Gebäude ihren Ort haben. Wahrnehmung schließt Aktivität und Bewegung ein.39 Dabei ist der Wahrnehmende immer selbst in die wahrgenommene Welt einbezogen, etwa wenn die Perspektive gleichzeitig die beschaute Szenerie und den eigenen sich darin verändernden Ort anzeigt. Oder wenn eine Bank dem Ermüdeten förmlich »Sitz auf mir!« zuruft. Nicht nur die so genannten Sinnesorgane, sondern der Körper als Ganzes vermittelt die meisten unserer Wahrnehmungen. Einerseits werden viele Wahrnehmungen etwa eines Gemäldes, einer Statue, eines Hauses erst durch Aktivität möglich. Man könnte einwenden, weder ein Gemälde, noch eine Statue, noch ein Haus oder Zimmer würden als Ganzes wahrgenommen werden – unmittelbar erfassen können wir schließlich jeweils nur das Fragment, das wir gerade berühren oder mit dem Auge fixieren. Das 39 | Gibson (1966, 1979).
3. Leiblich-räumliche Wahrnehmung als Grundlage für heilsames Design
entspricht jedoch nur bedingt unserem Erleben: Während wir den Blick über ein Gemälde schweifen lassen, können wir durchaus empfinden, dass wir es als Ganzes betrachten. Die Statue existiert für uns keineswegs nur dort, wo gerade die Hände sind. Wir können empfinden, dass wir in einem Zimmer sind, umschlossen von den Wänden – obwohl wir diese niemals genau gleichzeitig direkt betrachten oder betasten können. Und das Zimmer können wir als Teil des ganzen Hauses erleben.
I ntervie w mit P rof. G ernot B öhme (A nthropologie und L eibphilosophie) Mit Ihren Büchern Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik (1995, erweiterte Neuausgabe 2017) sowie Architektur und Atmosphäre (2006) haben Sie wesentliche Beiträge zu einer Neuorientierung der Ästhetik geleistet. Wie sind Sie zum Thema Leib und Atmosphäre gekommen? G. Böhme: Als meine Tochter Anja 1966 geboren wurde, habe ich angefangen, mich mit dem Thema Leib als Erfahrung der eigenen Natur zu beschäftigen. Und hierbei bin ich auf die Leibphilosophie von Hermann Schmitz gestoßen. Das Thema Atmosphäre ergab sich Ende der 1970er Jahre in meiner Arbeitsgruppe »Soziale Naturwissenschaft«. Sie kritisierte die Ökologie als reine Naturwissenschaft, die im 20. Jahrhundert wegen der Umweltprobleme entwickelt wurde. Doch die menschliche Umwelt ist keine reine Naturtatsache. Deshalb forderten wir, in die Ökologie sozialwissenschaftliche Begriffe aufzunehmen. Ein zentraler Punkt war die ästhetische Betrachtung der Umwelt. Wie fühlt sich ein Mensch in der Umwelt? Der Begriff der Atmosphäre wurde eingeführt zur Vermittlung zwischen objektiven Umwelteigenschaften und dem Befinden eines Menschen in dieser Umwelt. Beispielsweise beschwerten sich in einem Stadtteil Darmstadts die Bürger: »Merck stinkt!« Es war keine Toxizität in der Luft festzustellen. Dennoch: Das Befinden der Bürger in diesem Stadtteil war beeinträchtigt! Was bedeutet Ihnen das Thema Leib und Atmosphäre? Sehr viel: es geht darum, gut Mensch zu sein,40 nicht nur schlecht und recht. Gewöhnlich verstehen wir unter der Herrschaft der Naturwissenschaft unsere Natur als Körper, d.h. als Organismus oder Maschine. Leib ist dagegen unsere Natur, wie sie uns im leiblichen Spüren, also quasi von innen gegeben ist. Das zu realisieren ist von großer Bedeutung, weil wir nur so »recht eigentlich« Mensch sind. Das leibliche Spüren ist auch für die Erfahrung von Architektur entscheidend, weil wir darin die Atmosphäre erfahren, die Werke der Architek40 | Böhme (2016).
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tur ausstrahlen. Das ist insbesondere für das Projekt einer »heilsamen Architektur« wichtig: Sie berücksichtigt, wie die Räume, in denen wir uns befinden, unser Befinden beeinflussen. Das Bewusstsein für diese Notwendigkeiten wächst, zusammen mit dem Willen, in Architektur und Design die »Unwirtlichkeit unserer Städte« (A. Mitscherlich) zu überwinden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als am Klinikum Großhadern – eine typische Monsterklinik – eine neue Kinderklinik gebaut werden sollte, wurde ich als Berater eingeladen. Daraufhin habe ich mir verschiedene Kliniken und speziell ihre Kinderabteilungen angeschaut. Sehr positiv fielen mir das Alice-Hospital in Darmstadt auf sowie zwei anthroposophisch ausgerichtete Kliniken, die Filderklinik bei Stuttgart und die Universitätsklinik Witten-Herdecke. Diese Kliniken unterscheiden sich vom Üblichen bereits in der architektonischen Struktur sowie in der Farbgebung, die in Kliniken meistens weiß ist. Die Kinderklinik des Alice-Hospitals hat nicht diese monotonen langen Krankenhausflure, sondern eine zentral symmetrische Anordnung der Krankenzimmer um ein freundlich gestaltetes Areal herum, eine Art Marktplatz, der auch zum Aufenthalt und Spielen der Kinder einlädt. Am Alice-Hospital, Darmstadt, hilft ein eigens dafür angestellter psychologisch-sozialer Berater bei der Gestaltung der Krankenzimmer. So können sich Patienten beispielsweise Lampen oder Bilder aussuchen, um sich ihr Patientenzimmer wohnlicher zu gestalten. Gerade Licht spielt ja in der Atmosphäre eines Raumes eine entscheidende Rolle. Ein konventionelles Patientenzimmer lässt sich mit einer Kategorie von Foucault durchaus als »Heterotopie« bezeichnen, als Ort, an dem sich Menschen aufhalten, ohne ihn zu »ihrem« Ort machen zu können. Mit der persönlichen Gestaltung, wie der Auswahl von Lampen und Bildern, kann der Patient sich seinen Raum besser aneignen. Inzwischen gibt es auch immer mehr Betten aus dem warm wirkenden Material Holz und nicht mehr aus dem kalt und abweisend anmutenden Edelstahl mit plastik-weißen Wandflächen. Diese und andere Mittel werden mehr und mehr eingesetzt, um Kliniken freundlicher und menschlicher zu gestalten. Wurden die wichtigsten Aussagen in Ihrem Buch beachtet? Der praktische Aspekt der Theorie wurde wahrgenommen. Aber auch der kritische Aspekt, der ökonomische und politische, wurde beachtet: Atmosphären können absichtlich eingesetzt werden, um Menschen zu manipulieren, etwa um die Kauffreudigkeit in Malls anzuregen. Durch atmosphärische Inszenierungen wird gezielt versucht, den Konsum zu steuern. Sicherlich ein kritisch zu sehender Aspekt. Auch entsprechenden ästhetischen Inszenierungen im politischen Bereich sind kritisch zu betrachten. So haben die Nationalsozialisten bestens verstanden, mittels überwältigender Atmosphären Massen zu mobilisieren. Insgesamt wurden die wichtigsten Aussagen meines Buches beachtet.
3. Leiblich-räumliche Wahrnehmung als Grundlage für heilsames Design
Was wären im Gegenzug positive Atmosphären? Da gibt es viel. Ich betrachte etwa Atmosphären als positiv, die beispielsweise zur Andacht, Erhebung und Erbauung in kirchlichen Räumen anregen. Wo sehen Sie Möglichkeiten weiterzudenken? Ich denke, dass die Theorie nicht mehr weiter ausgebaut zu werden braucht. Es geht jetzt um die Anwendungsbereiche. Gesundheitsfördernde Architektur wäre beispielsweise ein solches Anwendungsfeld. Die Re-Urbanisierung der Stadt wäre ein weiterer lohnender und wichtiger Bereich. Wie lassen sich urbane Atmosphären herstellen, in denen sich man gerne aufhält? Wie kann der öffentliche Raum – etwa durch Neugestaltung unwirtlicher Plätze – wiedergewonnen werden? Wie lässt sich eine gelungene urbane Mischung der Stadtfunktionen herstellen? Werden nun die Empfindungen und leiblichen Bedürfnisse in der Gestaltung ernster genommen? Das Thema »Architektur und Atmosphäre« sehe ich als einen neuen Trend im Rahmen einer »Re-Humanisierung von Architektur«. Es gibt ein neues Ernstnehmen menschlicher Empfindungen und ein Bemühen, in dessen Mittelpunkt der Benutzer mit seinem Erleben steht. Gleichzeitig ist dieser Trend auch als eine Abkehr von der großen Tradition, etwa des Bauhauses, zu werten, die eher technische und funktionale Belange beachtete. Aus dieser Kritik hatte sich schon die Postmoderne entwickelt. Nun stehen endlich die Nutzer selbst mit ihrer Bewertung und Wahrnehmung von Architektur im Fokus. Damit verändern sich die Kriterien für Architektur und die Hauptfrage ist: Für wen baue ich? Wie soll der Benutzer im und mit dem Gebauten leben? Mit meiner Arbeit fühle ich mich dieser Entwicklung zu einer humanistischen Architektur verpflichtet.
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4. Stimulierung über synästhetische leibliche Resonanzen Bild 9: Holocaust-Turm im Jüdischen Museum. Anschaulich wird mit dem dekonstruktivistischen Formenvokabular der Schrägen, Brüche und Abweichungen die Instabilität der Jüdischen Geschichte metaphorisch in leiblichräumliche Anmutungen übersetzt. Erinnern – gedenken – versöhnen. Heute ist NS-, kriegs- und diktaturbezogene Erinnerungskultur allgegenwärtig und eine heilsame Verarbeitung des erlittenen Leides.
Jüdisches Museum Berlin. Die »Achse des Holocaust«, ein leicht ansteigender, sich verengender Gang aus dem Untergeschoss, endet an einer schwarzen Stahltür. Durch diese tritt der Besucher in den »Holocaust-Turm«, einen düster-kalten, hoch aufragenden Betonschacht. Nur ganz oben durch einen schmalen Deckenschlitz dringt gleißendes Tageslicht. Das metallisch krachende Schließgeräusch der Stahltür verebbt in Echos. Beklommenheit hemmt die Schritte in der hohlräumig widerhallenden Stille und Kälte, drückt den Atem zaghafter, stoppt ihn fast. Assoziationen wie Hungerbunker und Gaskammer stellen sich ein. Weit entfernt, fast jenseitig wirkt das gedämpft vernehmbare, unbestimmt an- und abschwellende Rauschen des Berliner Verkehrs. Umschlossen von den nackten Betonwänden, isoliert, auf sich selbst zurückgeworfen, beginnt man sich zunehmend als fröstelnden, verletzlichen und ausgesetzten Leib zu spüren.
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Daniel Libeskind, der Architekt des Jüdischen Museums, hat den Holocaust-Turm mit der ausdrücklichen Absicht geplant, dass sich bei den Besuchern etwas wie das das obige Erleben einstellt.1 Der Turm ist einer von mehreren so genannten »Voids«. Libeskind hat diese senkrecht den Museumsbau durchstoßenden Hohlkörper aus Beton bewusst als verstörende und befremdende, den Zusammenhang des Gebäudes unterbrechende Strukturen eingefügt: Die »Voids« sollen das Vakuum, das durch die Vernichtung jüdischer Menschen und jüdischer Kultur entstanden ist, in sicht- und spürbarer Symbolik als bedrängende und beängstigende Leere vergegenwärtigen. Der Holocaust-Turm durchdringt als einziger dieser »Voids« nicht die Stockwerke des Museums, sondern steht außerhalb. Er ist nur unterirdisch durch den oben erwähnten, sich verengenden Tunnel zugänglich. Warum eine derart aufwendig auf das sinnliche Spüren und Erleben zielende architektonische Bemühung? Wenn Gedenken nichts weiter als Denken wäre, dann würde eine mit Worten an die Shoah erinnernde Tafel alles Nötige leisten. Wissen allein ist allerdings in Gefahr, abstrakt zu bleiben; erst menschliche Berührung durch das Geschehene ermöglicht, das Gedenken wirkungsmächtig in den personalen Kräften zu verankern und auf diese Weise lebendig und fruchtbar zu machen.
E rleben von S innhaf tigkeit Doch wie kann sinnliches Erleben überhaupt solche gedanklich aufgeladene Wirkungsmacht entfalten? Oder umgekehrt gefragt: Wie kann Gedankliches sinnliche Wirkungsmacht entfalten? Die Antwort ist alles andere als offensichtlich, wenn man von der in den Kognitionswissenschaften immer noch einflussreichen Theorie ausgeht, dass Denken und Verstehen wesentlich über regelgeleitete Manipulation von Symbolen geschehe und somit in einem von der repräsentierten Wahrnehmungsbasis separierten abstrakten mentalen Medium.2 Dieses in den 1950er Jahren im Rahmen der so genannten »Kognitiven Revolution« am Beispiel des Computers entwickelte Modell des Mentalen wurde seit den 1980er Jahren durch die Theorie des »Konnektionismus« aufgeweicht, der gemäß die wesentlichen mentalen Abläufe »subsymbolisch« in einem vernetzten System prozessiert werden, das eine starke Ähnlichkeit mit den neuronalen Netzen des Gehirns aufweist.3 An die Seite solcher abstrakten Netzwerk-Modelle des Geistes tritt heute allmählich eine integrativ-gestalthaft ausgerichtete Theorie, welche die Struk1 | Dorner (2006). 2 | Gardner (1989); Fodor (1975). 3 | Pospeschill (2004).
4. Stimulierung über synästhetische leibliche Resonanzen
tur und Dynamik des tatsächlichen Erlebens als Weise der Präsenz des Menschen in der Welt wieder in den Blick nimmt.4 Dies bedeutet unter anderem eine Annäherung an philosophisch-phänomenologisches Gedankengut, das im Zuge dieser Erneuerung der Psychologie auch zunehmend aufgegriffen wird. Es ist klar, dass es eine geist- und gefühlsfreie Wahrnehmung, ein unbearbeitetes und ungestaltetes Chaos von sensorischem Einstrom als Vorstufe des Erkennens und Denkens im Erleben nicht gibt, höchstens als künstliche theoretische Idee. Wahrnehmungen und ihre Aspekte sind durchtränkt von Kontext, Erwartungen, Absichten, sind konstruktives Ergebnis der Suche des Gehirns nach sinnvollen Interpretationen und Zusammenhängen. Erlebnisse sind somit genuin synästhetisch, insofern sich darin stets ein Zusammenwirken mehrerer mentaler Domänen wie Sensorik, Kognition, Handlung und Emotion ausmachen lässt. Diese Domänen sind jedoch, wie gesagt, nicht wirklich voneinander isolierbar. Jedes Erlebnis ist eine unteilbar integrierte ganzheitliche Gestalt. Eine solche Gestalt ist zwar analytisch gliederbar, so dass sich beispielsweise perzeptuelle, gedankliche, psychomotorische und emotionale Aspekte benennen lassen. Doch diese Aspekte sind keine »Komponenten«, die auch für sich, außerhalb des Ganzen mit den gleichen Charakteristika existieren könnten. Synästhesie im Erleben ist immer unhintergehbar gestalthaft und somit »integrativ«, nie »summativ«.5
S ynästhesie in der D omäne der S inne Um Erleben als »synästhetisch« zu charakterisieren, haben wir den Ausdruck in einer bewusst weiten Bedeutung verwendet, um damit mentale Domänen und Aspekte beliebiger Art in das »Zusammenwirken« einbeziehen zu können. Doch auch wenn wir den Fokus auf den Bereich der ursprünglichen Bedeutung von »Synästhesie« legen, nämlich auf die Sinne, zeigt sich: Erlebnisse sind bereits in dieser Hinsicht synästhetisch, nämlich regelmäßig durch das »Zusammenwirken« mehrerer Sinnesmodalitäten gekennzeichnet, selbst wenn uns das nicht immer unmittelbar deutlich ist. Maurice Merleau-Ponty zufolge erfordert jede (!) Wahrnehmung eine synästhetische Integration mehrerer Sinne.6
4 | Gallagher, Zahavi (2012). 5 | Brichetti, Mechsner (2013); Sammelband Synästhetik: Brichetti et al. (2013). 6 | Merleau-Ponty (1966), zitiert in: Brichetti, Mechsner (2013).
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Bild 10: Museum of Modern Art (MoMA) in Warschau von Christian Kerez. Der Raumakustiker Jürgen Strauss hatte die Aufgabe, die Huge Hall in Warschau bei Einhaltung der polizeilichen Vorschriften, nicht nur visuell, sondern auch akustisch groß erscheinen zu lassen. Denn der Raumeindruck von Größe wird auch durch Akustik erzeugt.
Synästhetische Wirkung von Klängen Ein interessantes Beispiel, wie in Räumen auch über die Akustik Größe synästhetisch erlebbar wird, ist das Museum für moderne Kunst in Warschau. In Zusammenarbeit mit dem Architekten Christian Kerez entwickelte der Raumakustiker Jürgen Strauss für das in Planung befindliche Museum für moderne Kunst in Warschau die akustische Gestaltung. Durch die Größe hatte das Museum eine kathedralenartige Akustik mit einer Nachhallzeit von etwa zehn Sekunden und vermittelte deshalb ein kirchenähnliches akustisches Erlebnis. Allerdings ließen feuerpolizeiliche Vorschriften ein solches Klangerlebnis nicht zu, da die Sprache im Brandfall bei einer Durchsage klar und deutlich zu verstehen sein sollte. Der Architekt beauftragte daher den Raumakustiker Jürgen Strauss, das Problem zu lösen. Diesem gelang es, den Raum akustisch derart zu gestalten, dass einerseits Sprachdurchsagen möglich und so die feuerpolizeilichen Vorschriften gewährleistet sind, andererseits aber auch die hallenartige Raumakustik erhalten blieb und so die Huge Hall nicht nur visuell, sondern auch akustisch groß erscheint.
Synästhetische Wirkung von Farben Auch Farben können uns synästhetisch beeinflussen. Farben können uns aktivieren, beunruhigen, aber auch entspannen. Gelb und Orange haben eine wärmende Wirkung, Blau kann in zu warmen Räumen einen kühlenden Effekt
4. Stimulierung über synästhetische leibliche Resonanzen
zeitigen. Hellblau kann einen modrigen Geruch kompensieren. Und ein sandgelb gestrichener Raum kann Feuchtigkeit kompensieren. Auch die energetische Wahrnehmung von Gebäuden oder Räumen wird beeinflusst, helle Farben lassen den Raum leichter erscheinen, dunkle Farben machen den Raum kleiner. Durch die synästhetische Wirkung von Farben lässt sich mit Farben auch nachträglich viel verändern. Farben können sogar Bewegungssuggestionen oder auch Töne assoziieren. Carlo Carrà, Maler und Mitbegründer des italienischen Futurismus, schrieb daher: Eine dynamische Malerei der Töne, Geräusche und Gerüche verlange kräftige Farben wie »ein Knallrooooottttt, das schreit«, »ein Grüüüüünnnnn, das kreischt«, »das Gelb, das nie explosiv genug ist.« 7 In der amerikanischen Krankenhausarchitektur hat sich als neuer Trend einer »Healing Architecture« eine knallige Farbgestaltung etabliert. Übersehen wird dabei, dass Farben tatsächlich synästhetisch laut wirken können und damit schnell zur Reizüberlastung beitragen können. Besser ist es daher, kräftige Farben nur sehr zurückhaltend einzusetzen. Allerdings hängt das Erleben von Farben auch mit der jeweiligen Persönlichkeit zusammen.
L eiblich - r äumliches S püren als F undament des E rlebens Das lang ignorierte oder zumindest wenig beachtete leibliche Spüren dürfte eine fundamentale Rolle bei allem Wahrnehmen und Erleben spielen. Nicht nur könnte es durchaus sein, dass die Einheit der Wahrnehmung sich letztlich über den Körpersinn herstellt. Erlebnisse könnten umso intensiver empfunden werden, je intensiver der Körpersinn daran mitwirkt. Im Holocaust-Turm werden leibliche Empfindungen auf deutlich spürbare, ja drastische Weise ausgelöst. Zunächst steht der Mensch hier nicht einem betrachteten Kunstobjekt gegenüber, sondern wird von ihm umgeben, was mit einem gesteigerten leiblichen Empfinden des Einbezogenseins in die Situation einhergeht. Darüber hinaus wird der Mensch, da er sich als eingeschlossen und ausgeliefert wahrnimmt, in besonderer Weise auf den eigenen Leib verwiesen. Das Erlebnis des Eingeschlossenseins wird allerdings nicht nur am Leib gespürt, sondern ist ein integriertes leiblich-räumliches und damit szenisches Ganzes: Zusammen mit dem als »umschlossen« wahrgenommenen Leib wird die Mauer im Raum als »umschließend« empfunden. Umschließendes und Umschlossenes können zwar als gliedernde Elemente oder Aspekte der Szene identifiziert werden, lassen sich jedoch nicht voneinander trennen. Leib und Mauer sind als komplementäre Pole unauflöslich aufeinander bezogen: Die Wahrnehmung des Umschließenden kommt ohne Umschlossenes nicht aus und umgekehrt. Dabei wird die Mauer nicht nur visuell betrachtet. Zum Leib7 | Carrà (1913), in: Apollonio (1972), 155.
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gefühl des Umschlossenseins gehört ein mitempfundenes Umschließendes. »Spüren« ist somit nicht auf den Leib selbst beschränkt: Das Erlebnis einer Szene ist durchdrungen von »leiblich-räumlichem« Spüren (!). Überhaupt scheint das Körpergefühl für das Raumerleben eine wichtige Rolle zu spielen. Entwicklungspsychologen sind sich weitgehend darüber einig, dass ein Kind die dreidimensionale Struktur des Raumes ohne Körpererfahrungen und Eigenbewegung nicht ursprünglich erlernen kann. Es bedürfe »der im Lauf der Zeit von der Schwerkraft und von Empfindungen des eigenen Körpers vermittelten Erfahrungen, um eine echte visuelle Wahrnehmung zu entwickeln«.8 Die scheinbar so deutlich visuell vermittelte dreidimensionale Wahrnehmung ist ohne Kinästhetik nicht möglich. Sehen und Betrachten erfordern leibliche Ausrichtung und zumindest Augenbewegung; wie gesagt: ein Haus besichtigt man, indem man sich darin bewegt. Leib-Erleben wirkt auf vielfältige Weise im Raum. So »sieht« man einer Eisenkugel bereits auf Entfernung ihr Gewicht an, Türen ihre Schwer- oder Leichtgängigkeit. Hier liegt die Hantierungserfahrung mit Materialien zugrunde, so dass entsprechende leibliche Resonanzen synästhetisch angeregt werden können. Die Wahrnehmung umweltlicher »Aufforderungen« – etwa eines Baumstumpfes als willkommener »Sitzgelegenheit« – impliziert komplementäre leibliche Wahrnehmungen und Antizipationen.
I maginative A spek te eines bedeutungshaltigen leiblich - r äumlichen E rlebens Um den oben beschriebenen Turm einfühlend als Holocaust-Gedenkraum zu erleben, muss ich allerdings vorbereitet und eingestimmt sein von dem Wissen, dass er so gemeint ist, von dem Wissen um Verfolgung und Völkermord im Nationalsozialismus, vom Wissen um Gefängnisse, Hungerbunker, Gaskammern. Ich muss bereit und eingestellt sein, mich der Erfahrung des Turminneren in diesem Sinne bewusst und aufmerksam für eine Weile auszusetzen und auf mich wirken zu lassen. Das rein materielle Wahrnehmungsangebot, sogar die von Libeskind wohl bewusst angestrebten leiblichen Resonanzen mit der materiellen Umgebung (wie Frieren, sich im Betonschacht ungemütlich fühlen) reichen keineswegs aus für ein Eintauchen in die Szene als einfühlendes ästhetisch-emotional gedenkendes Erlebnis. Dafür ist eine Aufladung der Szene und ihrer materiellen Anker (einschließlich des eigenen Körpers und Leibes) mit Abwesendem und Vergangenem wesentlich, die eigene empathische Einfühlungsbereitschaft und ebenso die Wahl jener leiblichen Resonanzen, die dazu passen. An einem heißen Sommertag mag ich etwa die Kühle 8 | Lugmair (2006).
4. Stimulierung über synästhetische leibliche Resonanzen
im Turm durchaus spontan als willkommene Erfrischung wahrnehmen, kann sie im Kontext des Gedenkens dann aber doch empathisch als Kälte, der ich schutzlos ausgesetzt bin, nachempfinden. Man erfährt beim Erleben des Holocaust-Turmes also nicht ein von den materiellen Gegebenheiten notwendig und automatisch induziertes Körpergefühl, dem man gleichsam in einem zweiten Schritt erst Bedeutung verleiht, sondern stellt sich aktiv, einverständlich und willentlich so ein, dass man möglichst realistisch, intensiv und ergriffen eine Szene erlebt, die dem Gedenken entspricht. Sinneswahrnehmungen enthalten stets Deutungen, doch sollte betont werden, dass beim einfühlend-gedenkenden Erleben des Holocaust-Turmes keineswegs aus möglichen realistischen Deutungen ausgewählt wird. Das scheinbar so unmittelbare Erlebnis beruht in seinen wesentlichen Aspekten nicht auf Deutungen, sondern auf Umdeutungen, denn es ist eben keine reale Situation, sondern ein Phantasiespiel. Die Wahrnehmungen in diesem Phantasiespiel sind zwar materiell verankert, in ihren essentiellen Erlebnisqualitäten aber fiktiv. Es sind »Als-ob«-Qualitäten. Wenn etwa im identifizierenden Eintauchen in eine Holocaust-Szene (oder überhaupt eine Szene des aussichtslosen Gefangenseins) das metallen dröhnende Schließgeräusch der Stahltür in schreckhaftem, vielleicht gar grausig-entsetztem Zusammenzucken als »endgültiges Zuschlagen« erlebt wird, dann geschieht das nur, weil man sich freiwillig und aktiv auf das einfühlende Phantasiespiel einlässt, weil man diese brutale Situation einfühlend erleben möchte. Doch man möchte sie eben nur als Illusion und symbolisch erleben, also in vieler Hinsicht realistisch und leiblich betroffen, doch niemals real, denn dies bedeutete, die Situation selbst zu erleben, selbst bedroht zu sein. Deshalb ist das mitlaufende Hintergrundwissen unabdingbar, dass der Betonschacht ja nicht wirklich ein Hungerbunker ist, der letzte Aufenthaltsort vor der Ermordung oder dergleichen, dass der Aufenthalt hier bald vorüber sein wird und dass die Tür keineswegs endgültig hinter einem zugeschlagen ist, sondern stets offen bleibt, damit man hinaus gehen kann, wann immer man möchte. Eine solche Gleichzeitigkeit von sensorisch verankerter intensiver Erfahrung und dem stets präsenten Wissen, dass das Erlebte nicht real ist, mag paradox und in sich selbst widersprüchlich erscheinen. Sie charakterisiert jedoch viele Aspekte menschlicher Kultur. Man muss nur an Kinderspiel und Theater erinnern. Beim Lesen sind die wesentlichen Erlebnisse nicht einmal sensorisch verankert, sondern vollständig imaginär – und trotzdem leiblich-gespürt und szenisch: Die Buchstaben auf Papier induzieren lebhafte Vorstellungen, etwa von sprechenden und handelnden Menschen sowie einem einbettenden materiellen und geistigen Kosmos. Dabei verbleibt der Leser nicht nur neutraler Zuschauer, sondern wird – besonders bei »spannender«, »mitreißender« Lektüre – in die Szene eintauchend selbst zum Teilnehmer, manchmal eindrücklich und leiblich fühlbar.
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Auch Architektur und überhaupt gebauter und gestalteter Raum sind durchdrungen von Bedeutung, die nicht nur auf Abwesendes und Imaginatives vielfältiger Art verweist, sondern dieses intensiv in das leiblich-szenische Erlebnis hinein schmilzt, ohne damit den Charakter des Abwesenden und Imaginativen aufzuheben. Die Erfahrung eines perzeptuell induzierten und multisensorisch leiblich-szenisch gestützten Wirklichen-Unwirklichen wird schon seit geraumer Zeit an dem in dieser Hinsicht besonders augenfälligen Beispiel des Kinos untersucht. Medienwissenschaftler betonen dabei die »Somatik der Filmerfahrung«9 und damit die »Relevanz des Körpers für die Filmrezeption«.10 Durch filmische Tricks kann die visuell induzierte körperlich-szenische Erfahrung auf besondere Weise synästhetisch intensiviert werden, etwa derart, dass der Zuschauer sich körperlich-spürend als bewegt erfahren kann. Die leiblich-räumliche Erfahrung ist dabei offensichtlich visuell induziert, doch in ihrer gespürten Unmittelbarkeit nicht nur genuin multimodal, sondern ebenso genuin ganzheitlich, indem eine nicht lediglich assoziative oder summative, sondern integrative Einheit der Sinne ein völlig neues Erlebnis hervorbringt, nämlich sich selbst mitten durch die filmische Situation zu bewegen – obwohl man tatsächlich in einiger Entfernung zur Leinwand auf seinem Stuhl verharrt. Imaginär erlebte Bewegung und tatsächliches Stillsitzen widersprechen sich dabei nicht. Bemerkenswerterweise wird die Bewegung dabei nicht nur quasi-physisch erlebt, sondern stets als Handlung und Erfahrung im inhaltlichen Kontext, etwa dass man sich im Raumschiff als Mitglied der Armee der Guten durch die Leere des Weltalls zum fernen Planeten X bewegt, dabei von herannahenden feindlichen Raumschiffen bedroht wird und so fort. Dass wir eine imaginäre bedeutungsvolle Szene in leiblicher Ergriffenheit und Betroffenheit bis hin zum bangen Erwarten des Feindes, zum Schrecken und Zusammenzucken bei seiner Ankunft intensiv als wirklich und unwirklich zugleich erleben und gestalten können, ist keineswegs eine Besonderheit spezieller Situationen, sondern alltäglich. Diese Art von Wahrnehmung und Handlung kennzeichnet uns Menschen als Wesen, deren Welterfahrung und -gestaltung stets kulturell geprägt sind, in ihren Bezügen weit ausgreifend in Raum und Zeit, in Imaginäres und Geistiges. Dass Architektur sinnhaltig sein kann, beruht auf solchen Charakteristika der kulturellen Natur des Menschen.
9 | Curtis, Voss (2008), 2. 10 | Ebd., 12.
4. Stimulierung über synästhetische leibliche Resonanzen
I ntervie w mit P rof. J ürgen H asse (P hänomenologische R aumforschung) Sie beschäftigen sich als Stadtforscher damit, wie Räume Menschen beeinflussen können. In Ihren Büchern beschreiben Sie spezifische, detailliert wahrgenommene Atmosphären und untersuchen, wie das Erleben räumlicher Umgebungen unterschiedliche Gefühlsqualitäten erzeugen kann. Was fasziniert Sie als Raumforscher an der Phänomenologie? J. Hasse: Die Phänomenologie ist eine Methode, Subjektivität zu erfassen und ihre Bedeutung im tagtäglichen Leben wie in den gesellschaftlichen Systemen verständlich zu machen. Emotionale Erlebnisdimensionen unseres Tuns und Daseins kommen ebenso in den Blick wie die Bedeutung der Gefühle in der lebendigen Verwurzelung in Atmosphären. Schon in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule haben Fragen der Sinnlichkeit (etwa bei Adorno) unter dem Aspekt der kulturindustriellen Instrumentalisierung eine zentrale Rolle gespielt. Anfang der 1990er Jahre konstituierte sich die Humangeographie als eine Art Raumsoziologie, die sich an kognitivistisch-rationalistisch ausgerichteten Handlungstheorien orientierte. Für mich war dieses reduktionistische Menschenbild theoretisch unattraktiv. Nach meiner Auffassung sollte sich die Humangeographie auch lebensweltlichen Fragen, insbesondere Mensch-Mitwelt-Beziehungen zuwenden, die nicht (nur) durch rationales Handeln bestimmt sind. Mein Anliegen war es, die vom intelligiblen Subjekt ausgehende handlungstheoretische Geographie, die keine bis wenig Rücksicht auf die menschlichen Gefühle nahm, durch geisteswissenschaftliche Ansätze zu ergänzen, in deren Mitte das in gelebten Situationen wurzelnde Individuum steht. Hermann Schmitz, dessen Schriften ich 1993 kennengelernt habe, hat mich zu einer grundsätzlichen Änderung meines Wissenschaftsverständnisses gebracht. Es gab zur selben Zeit eine Reihe von produktiven Bezügen zur Postmodernismus-Debatte, die Ende der 1980er Jahre boomte. Man konnte auf diesem Hintergrund schnell erkennen, dass es eine sozialwissenschaftliche Schnittstelle gab, auf der sich phänomenologische Forschungen und kritische Gesellschaftstheorien wechselseitig bereichern konnten. Wolfgang Welsch hatte in der Philosophie Fragen zur Ästhetik wieder prominent gemacht und die Idee von Vernunft als transversalem Vermögen11 gestärkt. Unter anderem hat er in seinen Werken zur Aktualität des Ästhetischen12 und Ästhetik im Widerstreit13 auf wichtige Wirkungszusammenhänge zwischen Oberflächen- und 11 | Welsch (1996a). 12 | Welsch (1993); s.a. Welsch (1996b, 2011). 13 | Welsch, Pries (1991).
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Tiefenästhetisierung hingewiesen. Implizit bedeutete dies auch eine viel stärkere Reflexion der mächtigen Rolle von Gefühlen in Gesellschaft, Ökonomie und Politik, als das seinerzeit in den Sozialwissenschaften üblich war. Arbeiten Sie mit einer bestimmten Methode der Phänomenologie? Ich arbeite hauptsächlich mit der von dem Philosophen Hermann Schmitz umfangreich entwickelten Methode der Neuen Phänomenologie. Ältere Werke zur Phänomenologie (etwa von Edmund Husserl oder Maurice Merleau-Ponty) sind oft nur bedingt mit diesem Denken kompatibel. Seit etwa zehn Jahren setze ich mich (stärker als das Philosophen selbst tun) mit der Nutzung der Phänomenologie für eine Reflexion spezifischer Kalküle der Instrumentalisierung von Gefühlen, leiblichen Regungen sowie sinnlichem (Er-)Leben zur Steigerung der Effizienz vornehmlich politischer und ökonomischer Interessen auseinander. Bei der Erforschung von Räumen geht es Ihnen nicht nur um die distanzierenden Sinne, sondern auch um die leibliche Wahrnehmung. Wie kann das subjektive leibliche Erleben auch Eingang in konkrete Planungsprozesse finden? Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Das von Hermann Senf entworfene und 1928 auf dem Frankfurter Hauptfriedhof eingeweihte Krieger-Ehrenmal zum Gedächtnis der Gefallenen kann nur als eine subtil, aber höchst kompetent konzipierte Architektur der Gefühle verstanden werden. Die starke Basaltwand einer Rotunde wird von einem Wassergraben umfriedend gesäumt, so dass innerhalb des heterotopen Friedhofsraumes ein »epiheterotopes« Gebilde entstanden ist. Die zum Himmel hin offene Rotunde ist nicht nur symbolisch programmiert; sie bewirkt (komplementär zu ihrer Symbolik) viel mehr noch ein klanglich-hallendes Resonanzerleben, das den atmosphärisch eindrucksmächtigen Raum als eine numinose Insel innerhalb der Sonderwelt des Friedhofs spürbar macht. Letztlich zeigt das Beispiel nur, in welcher Weise sich Architekten, die sich in ihrem Metier vieldimensionaler Raumgestaltung kompetent bewegen können, diffiziler Prozesse »leiblicher Kommunikation« sehr bewusst sind. Sie verfügen über spezielles Erlebnis- und Bewirkungswissen, das sie in die Lage versetzt, rational planend und handelnd (im handlungstheoretischen Sinne) nicht nur materielle Bauten zu errichten, sondern auch atmosphärisch immersive Räume zu erzeugen. Das heißt zugleich: Die wissenschaftliche Reflexion von Gefühlen, die sich z.B. mit dem alltäglichen Stadterleben verbinden, kann von einer phänomenologischen Fundierung erheblich profitieren. An diesem Beispiel wird deutlich, wie viel Architekten, Designer, Stadtplaner von der phänomenologischen Raumforschung lernen können. Wäre es nicht sinnvoll, dass dieses Wissen in jeder Architekturfakultät gelehrt wird?
4. Stimulierung über synästhetische leibliche Resonanzen
Das Selbstverständnis gut ausgebildeter (und gebildeter) Architekten verdankt sich wesentlich dem Bewusstsein, dass Bauaufgaben nicht allein in der Errichtung von Wänden gelöst werden können. Architektur verlangt (in allen ihren Bereichen) die ästhetische Gestaltung und diese setzt Sensibilität für Atmosphären, Gespür für leibliche Kommunikation und Handlungswissen zur Stimmung von Räumen voraus. So finden sich in großen Architektur-Fakultäten Lehrstühle, an denen auch (wenn nicht sogar als zentrale Aufgabe) die Vermittlung von phänomenologischem Wissen für die gelingende Entwurfsarbeit gelehrt wird. Sie haben nicht nur durch Ihre Lehre und Ihre Bücher das phänomenologische Wissen über unser Erleben in unterschiedlichen Umgebungen erweitert, sondern es sogar auch geschafft, dieses Wissen über das subjektive leibliche Erleben erfolgreich in Gerichtsurteile über Windparks einfließen zu lassen. Wie kam es dazu? Generell ist die Kommunikation über die Erlebniswirkungen von Windparks schwierig und ideologisch gestimmt. Ich setze mich seit Beginn der Erschließung von (zunächst vornehmlich norddeutschen) Landschaften durch Windkraftanlagen mit den damit zusammenhängenden Folgen für das Raumerleben auseinander. Mein 1999 erschienenes Buch Bildstörung. Windenergie und Landschaftsästhetik14 geht theoretisch wie empirisch (Delphi-Befragung) diesem ästhetischen und zugleich aisthetischen Problemfeld im Detail nach. Die Phänomenologie eröffnet Zugänge zum tieferen Verstehen sinnlicher (nicht-rationaler) Beziehungen, insbesondere zu technischen Umweltveränderungen. Indem Landschaften – im Übrigen wie urbane Räume – Menschen in eine Stimmung versetzten können, verändert das Gebaute auch das Lebensgefühl in Gegenden (insbesondere durch Licht und Schatten, aber wesentlich auch durch Bewegungen, deren Unruhe sich in das eigenleibliche Befinden überträgt). Aufgrund meiner Arbeiten zur Erlebniswirkung von Windkraftanlagen bin ich mehrmals als Gutachter in Gerichtsverfahren über die Zulässigkeit von Anlagen tätig geworden. Ein Rechtsstreit endete mit einem OVG-Urteil, das den Abbau mehrerer Windkraftanlagen anordnete. Insgesamt sind solche Prozesse hoch komplex und es lassen sich keine einfachen Kausalschlüsse über den Einfluss einzelner Argumente auf eine gerichtliche Entscheidung ziehen. Auch für Bürgerinitiativen, die sich gegen die von Windparks ausgehenden Immissionen gewehrt haben, konnte ich mit phänomenologischen Argumenten zur wirkungsvollen Darlegung und Beschreibung von Interessen beitragen.
14 | Hasse (1999).
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5. »Embodied Mind«: Verkörpertes Wahrnehmen, Denken und Handeln
Es kann kaum genug betont werden: Rein sensorische »Komponenten« der Wahrnehmung gibt es nicht im Erleben. Wahrnehmungen sind von »Geistigem« fundamental durchdrungen und bestimmt. Schon ein scheinbar einfacher wahrgenommener Gegenstand wird wahrgenommen »als etwas« (entsprechend einer Kategorisierung), in einer Funktion oder Rolle (entsprechend einem Zweck und einer gedanklichen Vorwegnahme), als zu einer wahrgenommenen Stimmung beitragend oder sie störend (entsprechend einer Beurteilung), als angenehm oder unangenehm (entsprechend einer Emotion) usw. Konsequenterweise muss man wohl sagen: Auch der scheinbar schlichteste mentale Zustand oder Prozess kann alle Arten von mentalen Vermögen umfassen, in verschiedener Betonung in einem integrierten Erleben. Mentale Zustände entsprechen stets einer vollständigen sinnvollen Szene, in der auch das wahrnehmende Individuum mit seinen momentanen Interessen selbst vorkommt. Dies gilt auch in den frühesten Stadien der mentalen Entwicklung, wo das Kind sich selbst und die umgebende Welt erst entdeckt, in polarer Bezogenheit von eigenem Leib und Welt. Jede erlebte Szene ist schon als basales leiblich-räumliches Erleben bedeutungsvoll von inneren Bezügen (u.a. Interessen) strukturiert und hat dadurch »geistige« Aspekte. Dann ist es allerdings nicht prinzipiell verwunderlich, dass leiblich-räumliches Erleben in entwickelter und kultivierter Form auch komplexeste geistig-emotionale Gehalte als strukturell-prozessuale Aspekte in sich tragen kann. In diesem neuen Verständnis wird die menschliche Existenz als genuin körperlich und geistig zugleich begriffen, als emotional und rational, als individuell und sozial, als subjektiv und eingebettet in physische sowie soziale Umwelt. Es sind solche generellen Überlegungen und leitenden Ideen, die dem bereits eingeführten »Embodied Mind«-Projekt von Lakoff und Johnson zugrunde liegen. Sie postulieren: Wir gewinnen grundlegende generalisierte Wahrnehmungs- und Aktionsschemata aus unserem Umgang mit der Umwelt. In
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ihrem Buch Metaphors we live by (1980)1 belegen Lakoff und Johnson, wie sehr unsere Alltagssprache von Metaphern wimmelt, welche mit solchen konzeptuellen Systemen verbunden sind. Wenn wir etwa von einer »schweren Aufgabe«, einem »Theoriegebäude« oder von »Überzeugungskraft« reden, dann bedeuten all diese Metaphern Lakoff und Johnson zufolge nicht nur abstrakte, geistige Vergleiche mit dem Physischen, sondern sie sind den Autoren zufolge tatsächlich leiblich-räumlich verankert und werden leiblich-räumlich empfunden. In den folgenden Beispielen soll anhand von »Metaphern der Orientierung« gezeigt werden, wie stark die körperliche Orientierung auch als leiblich-räumliche Verankerung metaphorischer Konzepte das Leben beeinflusst – in so unterschiedlichen Bereichen wie Glück, Gesundheit, beruflichem und sozialem Status, Kontrolle und anderen.2
R äumliche M e taphern als A usdruck von E motionen , G esundheit und K r ankheit Erhebende und aufrichtende Räume – frei und offen Mithilfe von so genannten Orientierungsmetaphern, bezogen auf oben, unten, rechts und links etc., konzipieren und ordnen Menschen Lakoff und Johnson zufolge viele wichtige Erfahrungsdimensionen. Dies wird anhand folgender Ausdrücke deutlich: Seine Laune stieg, als er sie sah. Seine Bemerkung hat mich runtergezogen. Sie fühlt sich heute obenauf. Sie schwebt über den Wolken. Hochstimmung auf dem Fest. Wir fühlen uns oben. Wir greifen nach den Sternen. Es beflügelt einen. Ein erhebendes Gefühl ergriff ihn. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Solche Ausdrücke lassen sich begreifen als Anwendungsbeispiele der allgemeinen Orientierungsmetapher »glücklich ist oben – unglücklich unten«. Auch Gesundheit und Leben konzipieren wir mit Hilfe räumlich verankerter Metaphern der Orientierung: Sie sind mit einer Orientierung nach oben behaftet, Krankheit und Tod dagegen abwärts gerichtet: Er ist in Top-Form.3 Sich obenauf fühlen. Man fällt in eine »tiefe« Depression und ist am Boden zerstört. Die Krankheit drückt mich nieder. Den Boden unter den Füßen verlieren. Es zieht mich runter. Er sank in ein Koma.4 Oder auch jemanden wieder seelisch aufrichten. Er bricht zusammen. Sein Lebenswille oder Gesundheitszustand
1 | Lakoff, Johnson (1980). 2 | Vgl. Lakoff, Johnson (1980), 5. 3 | Ebd., 15. 4 | Ebd., 15.
5. »Embodied Mind«: Verkörper tes Wahrnehmen, Denken und Handeln
sinkt. Ich fühle mich bedrückt oder bin in niedergedrückter Stimmung. Den Kopf hängen lassen. Geknickt sein. Sich vor Angst zusammenkauern. Auf eine extreme Weise zeigt folgendes Beispiel, wie Krankheit und Verzweiflung mit der Orientierungslosigkeit verbildlicht werden kann: Die junge krebskranke Frau sagt: »Ich bin in ein tiefes schwarzes Loch gefallen«.5 Hier erscheint der Lebensraum schwarz, dunkel, tief und bedrohlich. »Ihre Schilderung ist weit mehr als eine Metapher. Sie gleicht einer echten Wahrnehmung.«6 Selbst die menschliche Persönlichkeit scheint von räumlichen Metaphern geprägt zu sein, wenn wir von einem »aufrechtem Charakter« oder »einem schrägen Vogel« sprechen. Eine Orientierungsmetapher bedeutet also nicht den Vergleich einer Einzelheit mit einer anderen Einzelheit, sondern organisiert ein ganzes System von Konzepten in konsistent zusammenhängender Weise. Im Rahmen des erwähnten konzeptuellen Systems sagen wir: »Gerhard ist in eine Depression gefallen.« Dass Gerhard zu einer Depression aufsteigt, passt nicht in dieses konzeptuelle System. Ähnlich wie Glück-Unglück können wir auch gesellschaftlichen Status mithilfe einer Orientierungsmetapher konzipieren: »erfolgreich ist oben – erfolglos ist unten«. Nicht zufällig liegt die Chefetage in der Regel über den anderen Stockwerken. Gerda ist die Karriereleiter schon weit hinaufgestiegen. Hochmut kommt vor dem Fall. Er strebt mit Macht nach oben. Bei der Kombination der Bereiche Erfolg-Misserfolg und Glück-Unglück siegt hier gewissermaßen die Metapher »erfolgreich ist oben« über »unglücklich ist unten«. Bild 11: Bewältigungstechniken wie Meditation, Yoga, Tai-Chi und Geh-Meditationen arbeiten mit bewussten Körperhaltungen, die den Menschen körperlich und seelisch zugleich gut tun. Architektur wirkt in ähnlicher Form positiv oder negativ, je nachdem, ob Architektur uns aufrichten, zentrieren und durchatmen lassen kann oder ob wir in drückende, einengende, gespannte Stimmungen versetzt werden.
Eine physische Erklärung könnte nach George Lakoff und Mark Johnson darin liegen, dass traurige und depressive Menschen eine krumme und schlechte 5 | Vollmer, Koppen (2010), 13. 6 | Ebd.
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Haltung haben, den Kopf hängen lassen und in sich zusammensinken, während glückliche und positiv gestimmte Menschen eine »aufrechte Haltung« haben und vielleicht gar »himmelhoch jauchzend« die Arme hochrecken.7 Umgekehrt prägt eine typische Körperhaltung auch die inneren Einstellungen und Werte eines Menschen. Wer sich durch nach vorn gekrümmte Schultern ständig kleiner macht, als er eigentlich ist, kann dadurch negative Gedankengänge oder sogar eine dauerhaft betrübte Stimmungslage fördern. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Körper und psychischer Verfassung, die aufs Engste vernetzt und gekoppelt sind. Die aufgerichtete oder zusammengesunkene Körperhaltung drückt Glück oder Unglück aus, ist Teil der jeweiligen Emotion. Hierzu gibt es ein Experiment von Riskinch und Gotay darüber, wie sehr die körperliche Haltung die Stimmung beeinflussen kann: Versuchspersonen mussten acht Minuten in einer gekrümmten Haltung sitzen und danach Aufgaben lösen. Schon nach acht Minuten waren die Versuchspersonen bereits in einer negativen Stimmungslage. Bei dem anschließenden Lösen von Aufgaben waren sie schnell frustriert, unkonzentriert und gestresst. Nur durch eine »gekrümmte Körperhaltung« konnten binnen einer sehr kurzen Zeit psychische Stimmungen wie »Depression, Aufgeben und Mutlosigkeit« aktiviert werden.8 Die Oben-Unten-Orientierung spielt auch in der Architektur eine wichtige Rolle. Aufragende Gebäude können den Blick nach oben lenken und auch die Körperhaltung mittels Resonanz aufrichten. Hohe Gebäude bzw. Türme haben meist eine dementsprechende positiv besetzte Symbolik. In gotischen Kirchen ist die Ausrichtung nach oben in besonderer Weise ausgeprägt. Die gesamte Architektursprache vermittelt eine Aufwärtsbewegung, die sich auch auf den Menschen überträgt. Gotik-typische architektonische Gestaltungsmittel wie Kreuzrippengewölbe, schmale Bündelpfeiler, das extreme Verhältnis von Breite zur Höhe (Kölner Dom, 1:3,8), die Auflösung der Wände, Strebepfeiler, sich emporschwingende Spitzbögen, Fialen, das von oben hereinfallende Licht, lassen den Menschen wachsen. Durch all diese stilistischen Mittel wirkt der schon ungewöhnlich hohe Kirchenraum noch höher. Im weltlichen Bereich finden sich hohe Türme in Form von Obelisken, Siegessäulen, Fernsehtürmen und Banktowers. Auch Kuppeln bilden Höhendominanten und zugleich auch Gelenke im Stadtraum. Gründerzeitbauten mit hohen Decken sind sehr beliebt und gefragt. Viele Menschen haben das Gefühl, nur in hohen Räumen »frei atmen« zu können, weswegen höhere Heizkosten bedenkenlos in Kauf genommen werden. Das Gegenteil vom frei atmen ist das Gefühl, dass einem die »Decke auf dem Kopf fällt«. Tatsächlich belegen nun Studien, dass womöglich hohe Decken geistige 7 | Lakoff, Johnson (1980), 15. 8 | Storch, in: Storch et al. (2006), 47.
5. »Embodied Mind«: Verkörper tes Wahrnehmen, Denken und Handeln
Höhenflüge erleichtern. Menschen kommen jedenfalls eher auf freiheitliche Ideen – dies bewiesen Joan Meyers-Levy und Rui Zhu von der University of Minnesota in Minneapolis. Ihre Versuchspersonen sollten in einem rund zweieinhalb oder drei Meter hohen Raum durch Umstellung von Buchstaben neue Begriffe – Anagramme – bilden. In den drei Vorgaben steckten die Worte liberated (befreit), unlimited (unbegrenzt) und emancipated (gleichberechtigt). Tatsächlich knobelten die Probanden in den höheren Zimmern diese schneller aus. Verglichen mit den Personen im niedrigen Zimmer kreuzten sie auf einem Fragebogen außerdem öfter an, dass sie sich »frei und offen fühlen.«9 Entsprechend stehen Wohnräume mit hohen Decken auf den Spitzenplätzen der Wohnwünsche.
Nach unten oder schief gerichtete Orientierung Architektur wirkt manchmal auch über die gegenteilige Orientierung nach unten, die metaphorisch mit Niederlage, Depression, Krankheit und gar Tod verbunden sein kann. So legte der französische Revolutionsarchitekt Boullée die Eingänge seiner Grabmal-Pyramiden sehr tief, um sie wie »versunken« und die Architektur wie »begraben« erscheinen zu lassen. Folglich leben die Toten in der Unterwelt und die verstorbenen Heiligen oder Reliquien der Märtyrer finden in den Katakomben ihre Ruhe. Die ägyptischen Pyramiden vereinen beide Orientierungen, die nach oben und die nach unten. Dem toten König, der in der unterirdischen Grabkammer liegt, wird der Aufstieg zum Himmel durch die hohe Pyramide ermöglicht. Neben den Toten und den Reliquien befinden sich in der unteren Welt die Geheimnisse der Mächtigen. Die etymologische Bedeutung des Wortes Keller, nämlich aus dem Lateinischen celare »verstecken, geheim halten«, verweist auf das Verborgene in der unteren Welt. Konspirative Sitzungen und Verschwörungen stellen wir uns tendenziell in dunklen Keller vor. Es scheint, dass bei den »Herrschaftsmechanismen« auch die Repressionen und Unterwerfungen existieren, die nach Möglichkeit im »Verborgenen« praktiziert werden.10 So dienten Bunker nicht nur zum Schutz der Mächtigen (Hitlers Reichskanzleibunker, Ceaușescus Hauptquartier und die Bunker der obersten Stasi-Chefs), sondern ganze Rüstungsproduktionen von Flugzeugen, Bomben, Raketen, Hydrierwerken wurden unterirdisch angelegt.
9 | Meyers-Levy, Zhu (2007). 10 | Zimmermann (1992), 215.
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Bild 12: In der niederländischen Botschaft in Berlin von Rem Koolhaas finden sich einige Wahrnehmungsirritationen, wie z.B. die durchsichtige Fußboden-platte aus Glas, so dass über abstrakte gestalterische Mittel neue symbolhafte Kontexte entstehen.
Mit der Orientierung nach unten spielt der Dekonstruktivist Koolhaas, indem er in seiner niederländischen Botschaft für den Boden eines Außenganges durchsichtige Glasplatten verwendet. Der Blick nimmt den Boden als instabil wahr, während der Tast- und Gleichgewichtssinn den Boden als fest und eben erfährt. So gerät beim Betreten und gleichzeitigem Schauen auf den Boden das Gleichgewicht ins Wanken. Durch die Dissonanz beider Wahrnehmungssysteme, des Visuellen und des Körpersinnes, kommt es zu einer kurzfristigen Irritation. Schaut man jedoch nicht auf den Boden, kann man problemlos auf dem Glas laufen. Die Irritation der propriozeptiven Sinne durch ein scheinbar nicht zu erwartendes Konstruktionssystem sind raffinierte Tricks, um Komplexität und somit Spannung zu erzeugen. Beim Aufrichten wird einem plötzlich schockartig klar, dass man auf ein Gebäude des Nationalsozialismus schaut. Mit diesem visuellen Kniff macht Rem Koolhaas auf den negativen Teil deutscher Geschichte aufmerksam. Er verwendet eine dekonstruktivistische Formensprache mit ihren Irritationen, Brüchen und Abweichungen, um auf die Brüche der Berliner Geschichte wie der nationalsozialistischen Vergangenheit, der DDR-Moderne mit dem Fernsehturm gezielt zu verweisen. Die Dekonstruktion von Architektur erfolgt wie auch bei Libeskind, um die Instabilität der Architektur bewusst in den Blick zu nehmen. Architekten wie Libeskind oder Rem Koolhaas generieren über abstrakte gestalterische Mittel neue symbolhafte Kontexte. Die Oben-und-unten-Orientierungen gehören zu den elementaren Erfahrungen, in denen die Polarität menschlicher Existenz zum Ausdruck kommt. Das Gefühl für Gleichgewicht und Vertikalität ist in unserem Körper gespeichert und wir übertragen das Gleichgewicht automatisch auf Baukörper.
5. »Embodied Mind«: Verkörper tes Wahrnehmen, Denken und Handeln
Bild 13 (links): Garten des Exils im Jüdischen Museum. Bild 14 (rechts): HolocaustDenkmal. Gemeinsam ist beiden Orten, dass der Boden durch seine gekippten Ebenen und Pflastersteine als abfallendes Gelände bewusst »unwegsam« gestaltet ist. Durch diese Verwerfungen und ungewohnte Geometrie entstehen beim Besucher Irritation und Unsicherheit der Orientierung.
Die schiefe Ebene Durch das architektonische Mittel der schiefen Ebene, die sich stets auf die natürliche Hauptdimension der Senkrechten und Waagerechten bezieht, kann das Gleichgewicht empfindlich gestört werden. Die schiefe Ebene weicht so von unserem gewohnten horizontalen Raumerleben ab, räumliche Metaphern wie: »Das Gespräch ist schief gelaufen; er ist auf die schiefe Bahn geraten; jemanden schief ansehen« weisen auf von der gewohnten Normalität Abweichendes. Wird die Vertikalität etwa beim Berliner Jüdischen Museum von Daniel Libeskind mit schiefen Ebenen verlassen, stellt sich ein unangenehmes Gefühl ein. Der Besucher erlebt nicht nur visuell die schiefen Ebenen, sondern spürt sie physisch beim Begehen. Hier ist beabsichtigt, dass die Erinnerung an den Holocaust gleichsam in das Erleben eingeschmolzen wird, als körperlich-metaphorische Resonanz von Ängsten, Verlusten und Orientierungslosigkeit der jüdischen Vergangenheit. Das Mittel der schiefen Ebene wurde zum charakteristischen Element einer neuen Mahnmal-Typologie. Auch der Boden des Berliner Mahnmals für die ermordeten Juden Europas von Peter Eisenman ist als abfallendes Gelände durch seine verkippten Ebenen und Pflastersteine bewusst »unwegsam« gestaltet, und die vertikalen Stelen irritieren, indem sie leicht aus dem Lot gerückt sind.
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Sich öffnende und atmende Räume – Orientierung nach vorne Mit der Vorwärtsbewegung werden visionäre Tatkraft, Mut, Fortschritt und Erfolg assoziiert.11 Man sagt auch, nach neuen Perspektiven Auschau halten, während das Rückwärts-Gewandte eher negative Deutungen im Sinne von fortschrittfeindlich, unmodern, altbacken enthält. Orientierung nach vorn kann Aktivität und Zielstrebigkeit bedeuten oder auch die Erwartung von etwas, das »dort vorn« erscheinen wird. Wir mögen großzügig geschnittene Räume, die einen weiten Blick auf andere Räume freigeben. Diese Weite nehmen wir leiblich wahr. Sie beeinflusst spürbar unsere Stimmung. So reagieren wir entspannt auf weite schöne Ausblicke. Neben der physischen und damit auch psychischen Entspannung ist mit Weite auch die geistig-kreative und physische Entfaltung verbunden, die in der Enge eher blockiert wird. Auch Helligkeit des Raumes steigert Höhe, Weite und Ausdehnung. Der helle Raum ermöglicht gute Orientierung, Übersicht und Abstand. Deshalb eröffnet der weite Raum »Spielräume der Bewegung und des Lebens insgesamt« und wird so zum »sozialen Raum«.12
Innen- und Außenorientierung, Kohärenz Eine weitere wichtige leiblich-räumlich verankerte konzeptuelle Metapher ist die des Behälters oder »Containers«. Gebäude sind Container. Es fühlt sich anders an, darin zu sein, als davor zu sein und vielleicht hinein zu wollen, wobei die Tür als bewegliche Blockade des Weges zwischen Außen und Innen wirkt. Wir haben aber auch die Angewohnheit, in den erlebten Raum eine Innen- oder Außen-Orientierung einzubeziehen. So sagen wir: »Er ist außerhalb der Sichtweite« oder »Das Schiff ist in Sicht.«13 Diese Metaphern zeigen, dass wir uns im Raum Grenzen für die eigene Orientierung setzen. Zu unserem Wohlbefinden scheint beizutragen, wenn vorgegebene Grenzen und Raumgliederungen menschlich angemessen gestaltet sind. In städtebaulichen Räumen spielen Raumgliederungen eine wesentliche Rolle. Immer wieder wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte von verschiedenen Autoren, etwa Rudolf Arnheim, Charles Moore, Kevin Lynch, auf die Bedeutung der städtebaulichen Orientierung für das Wohlbefinden der Bewohner hingewiesen. Es ist leichter sich zu orientieren, wenn die Eindrücke gut gegliedert werden können, was eher bei Plätzen mit menschlichen Maßen möglich zu sein scheint. Wird dieses Bedürfnis nach Sicherheit gestört, kommt es zu Stresssituationen. Peter F. Smith legt nahe, »daß die Maße der alten italieni11 | Isanski, West (2010), 4. 12 | Hasse (2005), 185. 13 | Lakoff, Johnson (1989), 30.
5. »Embodied Mind«: Verkörper tes Wahrnehmen, Denken und Handeln
schen Plätze von der Entfernung bestimmt sind, in der man ein Gesicht noch erkennen kann«. Dies ist eine grundlegend biologische Bestimmungsgröße, die vom Bedürfnis nach Sicherheit und von der Sehkraft des Gehirns gemeinsam festgelegt wurde«.14 Baumassen in alten Städten definieren Räume für den Menschen, während die Objekt-Fixiertheit der Moderne dies verhinderte. Menschlichem Bestreben entspricht es, Eindrücke in einen übergeordneten Rahmen eingliedern zu können. Der Mensch empfinde dann das Gefühl einer kohärenten Umwelt in einem in sich stimmigen Stadtbild. Das Gegenteil wäre erlebte Zusammenhanglosigkeit, die in zersiedelten Stadtlandschaften Unbehagen erzeugt.
M it dem K örpersinn R äume leiblich erfahren Überhaupt scheint das Körpergefühl für das Raumerleben eine wichtige Rolle zu spielen. Die scheinbar so deutlich visuell vermittelte dreidimensionale Wahrnehmung ist ohne Kinästhetik nicht möglich. Sehen und Betrachten erfordern leibliche Ausrichtung und zumindest Augenbewegung; um es zu wiederholen: ein Haus besichtigt man, indem man sich darin umherbewegt. Leiberleben wirkt auf vielfältige Weise im Raum. Leiblich-räumliches Spüren ist wohl generell vom Körpersinn durchdrungen, auch wenn dieser dabei von anderen Sinnen oder geistigen Gehalten angeregt wird. Eine wesentliche Rolle des Körpersinns für die Eigenwahrnehmung ist dabei am leichtesten zu erkennen und zu akzeptieren. Der Körpersinn ermöglicht es erst, den eigenen Körper, auch ohne hinzuschauen, wahrzunehmen, indem er die eigene Bewegung und Lage im Raum spürt. Der Körpersinn heißt daher Propriozeption (lat. von proprius »eigen« und recipere »aufnehmen«).15 Diese Bezeichnung ist allerdings irreführend. Denn nicht nur unseren eigenen Körper erfühlt dieser sechste Sinn: Mit ihm spüren wir beispielsweise auch, wie der Sessel, auf dem wir sitzen, geformt ist. Wir können schätzen, wie viel noch in der Milchtüte ist, wenn wir sie bloß anheben und etwas schwenken – wobei wir die Milch, mittels des Körpersinns, außerhalb unserer selbst in ihrem Behälter spüren. Der Psychologe und Kognitionswissenschaftler Jan Restat arbeitete – für manche überraschend – eindrucksvoll heraus, wie umfassend wir über den Körpersinn nicht nur uns selbst, sondern auch die Umwelt wahrnehmen und zwar räumliche, energetische und dynamische Aspekte.16 Alle drei Eigenschaften wirken bei der Wahrnehmung von Architektur mit.17 Der Körpersinn 14 | Smith (1981), 137. 15 | Vgl. Mechsner, Smetacek (2008). 16 | Restat (1999), 16. 17 | Ebd.
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ermöglicht beispielsweise das Wahrnehmen der Verteilung von Gewichten und widerständigen Massen, wobei er visuell angeregt wird. Bemerkenswert ist die synästhetische Verbindung des Körpersinnes mit anderen Sinnen. So können wir die Schwere einer Eisenkugel förmlich »sehen«, weil wir mit Eisen schon einmal hantiert haben, und eine elegante Terrassentür kann schon von weitem leichtgängig aussehen.18 Dabei spielt das Gedächtnis eine wichtige Rolle. Wie fühlt es sich an, eine Tür zu öffnen? Viele Male muss ein Kind zugreifen. Doch wenn es genug Erfahrungen gesammelt hat, »sieht« es einer Tür von Weitem an, wie schwer- oder leichtgängig sie ist. Hier liegt die Hantierungserfahrung mit Materialien zugrunde, so dass entsprechende leibliche Resonanzen synästhetisch angeregt werden können. Die Wahrnehmung umweltlicher »Aufforderungen« – etwa einer Bank als willkommene »Sitzgelegenheit« – impliziert komplementäre leibliche Wahrnehmungen und Antizipationen.19 So wird das gespeicherte Wissen des Körpers auch auf Architektur übertragen, etwa wenn bei der Wahrnehmung eines Gebäudes den Elementen »verschiedene Gewichte« beigemessen werden.20 Auch Empfindsamkeit für Haptisches kann visuell angesprochen werden, etwa beim Anblick einer schönen Mauer, die man förmlich zu betasten meint.21 Das Wissen des Körpers über Gewicht, widerständige Massen und Balance wird von Gebäuden und Gebautem systematisch und automatisch angeregt und aktiviert.22 Wesentlich also für räumliches Erleben ist körperliches Spüren. Dennoch betrachteten die Klassiker es nicht einmal als eigenen Sinn – in der Aufzählung der fünf Sinne durch Aristoteles kam es beispielsweise nicht vor. Erleben wir, grundiert vom leiblich-räumlichen Spüren, mit all unseren Sinnen körperlich und mental eine positive Resonanz im Raum, so fühlen wir uns wohl und sicher. Gleichgewichtssinn und Körperempfindung sind für die Raumerfahrung elementar. So selbstverständlich der Gleichgewichtssinn ist, so wenig Beachtung findet er. »Das liegt wohl nicht nur daran, dass die Gleichgewichtsorgane dem Blick verborgen sind. Dieser Sinn wird auch deshalb meist ignoriert, weil er anders als etwa Hören und Sehen gewissermaßen in der Wechselwirkung der Sinne untereinander und der Koordination mit aktiver Bewegung aufgeht.«23 Der Körpersinn ermöglicht es erst, den eigenen Körper wahrzunehmen, indem er die eigene Bewegung und Lage im Raum spürt. Nur selten wird uns bewusst, mit welcher Macht der Körpersinn unser Leben regiert. 18 | Mechsner, Smetacek (2008). 19 | Vgl. Brichetti, Mechsner (2013). 20 | Smith (1981), 21. 21 | Pallasmaa (2005); Rasmussen (1980). 22 | Smith (1981), 21. 23 | Schönhammer (2009), in: Schönhammer, 11.
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Ohne Körpersinn könnten wir weder geschmeidig gehen noch Fahrrad fahren, weder Sport treiben, leichtfüßig tanzen, noch im Dunkeln hantieren. Dieser Sinn informiert uns über Masseverteilung, Schwerpunkt und Balance, darüber, welche Wirkung welche Kräfte auf Bewegungen zeitigen. Anders als beim Riechen oder Hören hat der Körpersinn kein spezifisches Organ. Wir nehmen den Körper und seine Haltung mit mehreren Teilsinnen wahr: Mit dem Tastgefühl und dem Gleichgewichtssinn, vor allem aber mit so genannten Tiefensensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken.24 Geht der Körpersinn verloren, so kann man sich kaum noch koordiniert bewegen ohne hinzuschauen. Durch eine Grippe wurde Ian Watermans Körpersinn unwiederbringlich zerstört.25 Eine Autoimmunreaktion hatte sämtliche Sinnesnerven aus Muskeln, Sehnen und Haut unterhalb seines Genicks vernichtet, Nervenbahnen, mit deren Hilfe das Gehirn Haltung und Bewegung wahrnimmt. Vom Nacken abwärts spürt Waterman seinen Körper nicht mehr. Obwohl seine motorischen, die Muskeln ansteuernden Nerven intakt geblieben waren, konnte er nach Genesung von der desaströsen Grippe die einfachsten Bewegungen nicht mehr ausführen. Er fuchtelte nur unkoordiniert mit dem Armen herum, wenn er beispielsweise nach einem Buch greifen wollte. Inzwischen hat Waterman durch mühsames und langwieriges Training wieder gelernt zu laufen, allerdings auf völlig neue Weise, denn ohne Körpersinn muss er seine Bewegungen kontinuierlich mit den Augen überwachen. So kann er schlurfend und breitbeinig mit steif gehaltenen Beinen langsam vorwärts schreiten. Immer wieder muss er stehen bleiben, an sich herunter schauen. Dann macht er erneut ein paar Schritte, bevor er wieder auf Beine und Körper blickt. Ginge das Licht aus, der kräftige Zweimetermann würde zu Boden fallen und hilflos liegen bleiben. Mithilfe des Körpersinns können wir uns auch komplexe räumliche Gegebenheiten und zurückgelegte Wege allein aufgrund kinästhetischer Wahrnehmungen merken. »Das Spüren von Körperbewegungen führt also zu relevantem räumlichem Wissen.«26 Der finnische Architekt und Architekturtheoretiker Juhani Pallasmaa hält die »Propriozeption«, den unbewussten Körper-Rhythmus, für ebenso »wichtig im architektonischen Design wie in der Musik oder eine hervorragende Leistung im Sport«.27 In der zunehmenden Beachtung und Hochschätzung des Körpersinnes vollzieht sich eine fundamentale Umwertung. Lange wurde das körperliche Spüren ignoriert oder als prinzipiell wenig erheblich für die Weltwahrnehmung eingeschätzt, während sich jetzt gar herausstellt, dass er vielleicht das 24 | Mechsner (2008). 25 | Cole, Waterman (1995). Vgl. auch Mechsner et al. (2007). 26 | Restat (1999), 324. 27 | Pallasmaa (2003), 81.
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Fundament nicht nur der Eigenwahrnehmung, sondern aller Weltwahrnehmung und Erfahrung ist. Eine weitere fundamentale Umwertung vollzieht sich in dem zunehmenden Bewusstsein, dass nicht Distanz zu den Dingen unter dem Primat der angeblich intellektnäheren »höheren« Sinne, sondern gerade die gespürte Nähe zu ihnen nicht nur intensiveres und dichteres Erleben, sondern auch verfeinerte Erkenntnis und ästhetische Sensitivität vermitteln kann.28
R äumliche O rientierung Mit dem Körpersinn verspüren wir räumliche Gegebenheiten wie eine schräge Rampe, die Form des Stuhles, auf dem wir sitzen, die Enge oder Weite von Räumen. In einer spitzwinkligen Innenecke können wir Enge leiblich erleben, »während der kleine runde Innenraum eines Erkertürmchens in seiner den Körper der Menschen umschließenden Form eher ein Gefühl der Weite hervorruft«.29 Interessanterweise muss es nicht »die körperliche Bewegung ins Offene sein, die den Expansionsdrang befriedigt, schon der freie und nicht von fensterlosen Wänden aufgehaltene Blick erlaubt ein leibliches Ausgreifen in den Raum«.30 Wir erleben die Weite des Ausblicks. Dadurch weitet sich die Enge des eigenen Raumes und erhöht die Lebensqualität. Auch das Empfinden des Gleichgewichts, der Vertikalität, ist in unserem Körper gespeichert und wir übertragen automatisch das Gleichgewicht auf Baukörper.
E nerge tische W ahrnehmung Bild 15: Die Berliner Philharmonie von Hans Scharoun wurde 1960 bis 1963 erbaut. Die glatt verputzten weißen Oberflächen, fehlende Sockel, Fensterumrahmungen und horizontale Fensterbänder vermitteln Leichtigkeit und erinnern an die Promenadendecks großer Dampfschiffe.
28 | Vgl. Montero (2006). 29 | Hasse (2012), 102. 30 | Ebd., 102.
5. »Embodied Mind«: Verkörper tes Wahrnehmen, Denken und Handeln
Bild 16: Die weiße Marmorverkleidung des Taj-Mahals und die Wasserlandschaft reflektieren das Licht und lassen das Mausoleum ätherisch und leicht erscheinen. Die Fassade ist mit abstrakten geometrischen Mustern in Form von Blumenornamenten und kalligraphischen Inschriften verziert. Die Einarbeitung dieser Muster mit wertvollen Steinen verstärkt bei näherer Begehung die empfundene Leichtigkeit des Baus.
In der Wahrnehmung von Architektur spielen auch Gewicht und Gewichtsverteilung eine wesentliche Rolle. Mit Gebäudeteilen verbinden sich Gewichtsassoziationen, die das Gehirn möglichst ausgewogen einzuordnen sucht. Die Wahrnehmung von Gewicht kann durch weiche und harte Formen geschwächt oder verstärkt werden. So empfindet man eine glatte Mauer als leicht, auch wenn »ihre Errichtung vielleicht mehr Anstrengung gekostet hat und sie in Wirklichkeit mehr Gewicht hat«.31 Wie oben erläutert, ist die Wahrnehmung von Schwere und Gleichgewicht hauptsächlich durch den Körpersinn vermittelt oder von ihm abgeleitet. In Resonanz mit solch leiblich-räumlicher Fundierung beziehen sich viele sprachliche Metaphern auf Gewichte wie beispielsweise bei der Rede von »leichten« und »schweren« Aufgaben, von »ausgewogener« Einkommensverteilung. Für den Betrachter erscheint es immer als angenehmer, wenn in der Wahrnehmung das Gewicht des Gebäudes im unteren Bereich des Gebäudes aufgefangen wird. Wird jedoch ein über synästhetische Anregung des Körpersinnes als schwer wahrgenommenes Gewicht im unteren Bereich durch zu dünne 31 | Rasmussen (1980), 23.
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Säulen, oder auch gar keine Säulen, für die Wahrnehmung nicht genügend aufgefangen, können beim Betrachter unangenehme Gefühle wie Beklemmung oder Angst entstehen. Bei manchen Hochhaus-Unterführungen stellt sich ein äußerst unangenehmes Gefühl ein, wenn die tragenden Stützen zu unausgewogen proportioniert sind, so dass sie zu dünn wirken. Man weiß, dass die Unterführung genügend stabil ist, um sie zu durchqueren, doch andererseits nimmt der visuell angeregte Körpersinn Schwere wahr. Infolgedessen versucht man, diese Unterführungen so schnell wie möglich zu durchqueren oder nach Möglichkeit zu vermeiden.
Bild 17: Treppenhaus eines Palazzo in Genua, ca. 14. Jahrhundert: Nach oben verjüngt sich der Schaft der Säulen, nach unten ist er leicht geschwollen, so dass sie in besonderer Weise dynamisch erscheinen.
Unsere Fähigkeit, energetische Wirkung wahrzunehmen, ist auch einer der Gründe dafür, dass »klassische Säulen Sockel und Kapitelle haben«.32 Diese abschließenden Formen »blockieren die weitere Ausdehnung der Säule nach
32 | Arnheim (1980), 50.
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oben und unten«.33 Die Schwellung der Säulen zeigt scheinbar an, wie sich das Gewicht verteilt. Eindrücke von Schwere und Leichtigkeit können auch über Oberflächenstrukturen erzeugt werden. In Venedig findet man viele Gebäude, deren Fassaden durch ornamentale Strukturen derart aufgelöst sind, dass sie gleichsam gewichtslos wie Gewebe wirken. Dagegen wurde in repräsentativen Bauten autoritärer Systeme die Ausgewogenheit klassizistischer Architektur gerne zugunsten einer wahrgenommenen Gewichtsverstärkung und Gewichtsverlagerung verändert. So wurde in nationalsozialistischer Repräsentationsarchitektur das bodenbesetzende Massige betont, um die Bedeutung symbolhaft zu steigern. Die Schwere vermittelte die Besetzung des Bodens und dokumentierte damit die repräsentative Macht und Stärke des Herrschaftssystems. Für die damalige Reichshauptstadt wurde daher zum Bau des Berliner Olympia-Glockenturms der Naturstein Nagelfluh verbaut, Hitlers Lieblingsstein, der besonders hart und martialisch wirkt (Bild 18).
Bild 18: Der Berliner Glockenturm am Olympiastadium aus der nationalsozialistischen Zeit wurde 1934 mit dem Naturstein Nagelfluh erbaut. Hitlers Lieblingsstein wirkt brachial und martialisch.
Es sind jedoch nicht nur die Formen und Materialien, die über das Visuelle auf den Körpersinn wirken. Synästhetisch beeinflussen auch Farben, Lichtund Wasserreflexe die energetische Wahrnehmung von Gebäuden. So wurden Grabmonumente von Architekten wie Boullée, Kreis, Tamms, oft sehr dunkel gehalten, um die bleierne Trauer zu betonen. Leichte und helle, reflektierende Materialien erzeugen dagegen eine eher heitere Stimmung wie beim Taj-Mahal in Delhi (Bild 16) oder der Philharmonie in Berlin (Bild 15).
33 | Ebd., 50.
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D ynamische R aumwahrnehmung In sehr unterschiedlichen Stilrichtungen wie Barock, Futurismus, Moderne und Dekonstruktivismus finden sich Eigenschaften, die als »dynamisch« wahrgenommen und empfunden werden. Dabei ist bemerkenswert, dass wir in manchen statischen Formen Bewegung als Gestaltqualität sehen.34 Im Barock rufen die konvex-konkaven, ovalen und ellipsoiden geschwungenen Formen den Eindruck von Kraft und Impetus hervor. Während die geometrischen Bauten und Fassaden der Renaissance eher ausgewogene Ruhe und Abgeschlossenheit ausstrahlen, nehmen die Barockfassaden uns gleichsam in den Schwung ihrer gebogenen Fassaden mit. Auch Gartenlandschaften und Stadträume wurden szenisch und oft mit geschwungenen Bewegungsrichtungen angelegt. In der Spanischen Treppe in Rom »haben wir gleichsam eine Versteinerung der tanzenden Bewegung des galanten Jahrhunderts«.35 Architekten der Zweiten Moderne vermögen heute mittels der Digitalisierung der Architektur eine hochkomplexe dynamische Architektursprache zu generieren, wie beispielsweise die sich wölbenden Gebäudeteile des Guggenheim-Museums in Bilbao (1993) von Frank O. Gehry. Motive der Bewegung und Beschleunigung finden sich auch in der BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au (Bild 19) und Zaha Hadids Phaeno Science Center in Wolfsburg (Bild 20). Schräg nach vorn drängende Wandscheiben und Terrassen, schwingende Ebenen, Fahrbahnen und Lichtbänder vermitteln ein Bild von Dynamik. Diese Architektur der Zweiten Moderne ist der Ausdruck der Beschleunigung technischer Entwicklungen. Hochkomplexe und intelligente Fassadenkonstruktionen, die Dynamik assoziieren, dokumentieren die heutigen schnelllebigen Wandlungsprozesse. Eine weitere sehr dynamische Bewegungsassoziation geht von der »schneidenden« Ecke aus, die sich scheinbar ihren Weg bahnt. »Insbesondere in der Baukunst der Renaissance war der Diamantquader ein sich bewegungssuggestiv anbietendes Medium der Beeindruckung. […] Der Stein ist in eine pyramidenartige Form geschnitten, so dass die Spitze in den Außenraum ragt.«36 Diese Gestaltung des Spitzen vermittle durch die leibliche Wirkung ein Gefühl »des Getroffenwerdens«.37 »Ein Haus, das den Passanten in einer so zurückweisenden und aggressiven Herrschaftsgeste anspricht, vermittelt im atmosphärischen Umfeld seiner Architektur ein Programm der symbolischen Unterwerfung«, aber auch ein Gefühl der Wehrhaftigheit und Autorität.38 34 | Mechsner (2003). 35 | Rasmussen (1980), 138. 36 | Hasse (2012), 106f. 37 | Ebd., 106. 38 | Ebd., 106f.
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Bild 19: Die BMW-Welt von Wolf D. Prix (Architekturbüro Coop Himmelb(l)au) in München wurde von 2003-2007 erbaut. Motive der Bewegung wie die konkaven und konvexen Flächen durchziehen die BMW-Welt. Auch die Beleuchtung ist für den Eindruck gebauter Geschwindigkeit entscheidend.
Bild 20: Zaha Hadids Phaeno Science Center in Wolfsburg ist ein Meisterwerk des Technikrausches und des Lichts.
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Heilsame Architektur Bild 21: 2011 wurde das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden nach einem von dem Architekten Daniel Libeskind geplanten umfassenden Umbau wiedereröffnet. Krieg und Militär werden assoziativ und metaphorisch evoziert. Die dynamische Gewalt des scharfen spitzen Keils ist leiblich spürbar. Das kalte Material aus Metalllamellen verstärkt die schneidende Wirkung.
Ein weiteres Beispiel einer schneidenden Ecke ist der Erweiterungsbau des Militärmuseums von Daniel Libeskind in Dresden. Durch das bewegungsassozierende scharfe Eindringen der Spitze in den harmonisch proportionierten Altbau ist die dynamische Gewalt leiblich zu spüren. Das kalte Material aus Metalllamellen verstärkt die schneidende Wirkung. Synästhetische Charaktere werden hier gezielt mit »Militär« und »Krieg« symbolisch aufgeladen. »In der Ästhetik ihrer Architektur weckt die Ecke die unmittelbare Aufmerksamkeit, um die Reflexion über den Sinn von (militärisch vollstreckter) Gewalt zu provozieren«.39
E rleben ist synästhe tisch und impliziert leiblich - r äumliches S püren Erleben und damit auch Erleben von Architektur ist umfassend synästhetisch:40 Erleben enthält sensorische, gedankliche, emotionale und Handlungsaspekte. Erleben ist unauflösbar szenisch, gestalthaft integriert und ganzheitlich. Unser Existenzgefühl und Daseinserleben, auch unsere Emotionen und unser Berührtwerden von der Welt, scheinen sich dabei wesentlich aus dem Körpersinn zu speisen, der nicht nur unsere Eigenwahrnehmung, sondern die Gesamtszene in der Wahrnehmungsform leiblich-räumlichen Spürens durchdringt. Der Körpersinn wird dabei durchaus nicht immer unmittelbar, sondern oft auch indirekt über andere Sinne und ebenso durch geistige Gehalte und auch Situationen angeregt. Ein sehr enger und kleiner Raum mit niedriger Decke kann als beengend und drückend wahrgenommen werden, gleichzeitig kann er beschützend und bergend wirken. Hier wird deutlich, dass ein leiblich erlebtes Gefühl nicht nur unmittelbar die räumlichen Verhältnisse darstellt, sondern auch mit Bedeutungen, Situationen und eigenen Stimmungen verbunden ist. Manchmal werden in 39 | Ebd., 106f. 40 | Brichetti et al. (2013).
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der Architektur auch sensorische Irritationen bewusst eingesetzt. Besonders durch das Zusammenspiel von visuellen und propriozeptiven Sinnen können sich instruktive Wahrnehmungsirritationen ergeben. Solche finden sich bei sehr unterschiedlichen Baustilen. Eines der wohl berühmtesten Beispiele von Wahrnehmungsirritation ist Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp, Notre Dame du Haut. Obgleich der Baukörper massig und stabil wirkt, scheinen die Mauern und das Dach keine Verbindung miteinander zu haben. Ein Lichtband lässt das Dach über dem Innenraum schweben. Das Erlebnis solchen Schwebens im Licht birgt nicht nur beim religiös Eingestimmten eine schwer zu beschreibende, doch deutliche spirituelle Dimension. Auch eher negativ assoziierte Wahrnehmungsirritationen wie schiefe Ebenen, finden sich häufig bei den Dekonstruktivisten, da sie bewusst bestimmte Kategorien auf brechen und neu ordnen. Ungewohnte räumliche Situationen wie enger werdende Korridore, ungewöhnliche Größenverhältnisse, schräge Böden, keine rechtwinkligen Wände mehr, ungewohnte Stufenmaße brechen die Gewohnheit der Nutzer auf. Kunstvoll werden Stabilisierungs- und Orientierungsprobleme inszeniert. Genutzt werden diese Irritationen, um Disharmonien zu erzeugen, die Brüche und Mängel offenlegen. Eine erlebbare Architektur, die das leiblich-räumliche Spüren auf eine vielschichtige synästhetische Weise induziert und fördert, verstärkt das Gefühl des Daseins und des Involviertseins in der materiell-sozial-kulturellen Welt. Synästhetisch können so gut wie alle Aspekte des Mentalen in das leiblich-räumliche Spüren eingeschmolzen und damit zu Aspekten des empfundenen Erlebens werden. Distanziertes Betrachten und Bedenken dürfen nicht gleichsam selbstverständlich und a priori als »höchste« Form des Verstehens gelten. Gerade die im leiblich-räumlichen Spüren empfundene Nähe zu den Dingen vermittelt oft nicht nur ein intensiveres und dichteres Erleben, sondern auch verfeinerte Erkenntnis und ästhetische Sensitivität. Die Achtsamkeit für die Vielfalt der Aspekte, welche das Erleben in integrativer Synästhesie gestalten, ist vielleicht schon ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Architektur, die den Menschen leiblich-räumlich-sinnhaft ergreift und berührt und dadurch unser »In-der-Welt-sein« vieldimensional intensiviert.
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6. Gegen Stadtstress hilft Grün
Bild 22: Hotel Greulich, Freiraumgestaltung Günther Vogt: Ein Birkenwald auf der Autogarage. Grün ist nicht nur ästhetisch angenehm, sondern auch lebenswichtig für die Gesundheit. Grün kann Mehrfachbelastungen wie Hitze, Lärm und Luftverschmutzung abfedern und vermindern. Daher ist eine grüne Freiraumgestaltung im Zuge des Klimawandels eine politische Notwendigkeit und nicht mehr nur eine ästhetische Frage.
Von jeher ist der Mensch bestrebt mit der Natur im Einklang zu sein. Die Natur beruhigt und fördert die Gesundheit. Schon im Zuge der Industrialisierung mit den immer dichter werdenden Städten ging der Bezug zur Natur verloren, so dass in dieser Zeit die Idee der Gartenstadt geboren wurde. Der britische Stadtplaner Ebenezer Howard versuchte in seinem Buch To-morrow: A Peaceful Path to a Real Reform1 (1898), das 1902 unter dem Titel der Neuauflage Garden Cities of To-morrow 2 erschien, die Missstände der industriellen Großstadt durch die Integration von Natur bzw. Garten zu lösen.3 Die Idee der Gartenstadt mit sauberer Luft, sauberen, hellen Häusern mit Gärten und Parks und keinem dunklen Rauch schien einem Paradies gleich und beeinflusste fast ein Jahrhundert lang die Stadtplanungen. Heute sind die Städte im Zuge des Klimawandels vor neue Herausforderungen gestellt: aufkommende extreme Hitze, aber auch Kälteperioden, Starkregen, Hochwasser und Stürme. Das heißt, die Städte werden immer nasser, heißer und stürmischer. Hinzu 1 | Howard (1898). 2 | Howard (1902). 3 | Sammelband zum Konzept der Gartenstadt: Will, Lindner (2012).
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kommen die Verdichtung von Städten, Lärm und Luftbelastungen. Wie schon früher Grün zur Gesundheitsressource in den immer dichter werden Industriestädten wurde, so gilt auch heute: Grün macht Städte gesünder und lebenswerter. 2015 wurde in Toronto (Kanada) eine Studie zur Wirkung von Bäumen auf die Gesundheit abgeschlossen. Mittels hochauflösender Satellitenbilder wurden die Bäume erfasst und mit den Gesundheitsdaten der Stadtbewohner abgeglichen. Das Ergebnis: Je mehr Bäume in einem Viertel wuchsen, desto weniger chronische Erkrankungen, wie beispielsweise Herz-Kreislauferkrankungen, Bluthochdruck oder Diabetes, traten dort auf.4 Wir leben nicht nur gesünder mit Natur, sondern sind auch glücklicher, was eine britische Studie von Mac Kerron und Mourato 2013 bestätigte. Mit den technischen Entwicklungen des Smartphones wurde eine Studie angelegt. Mehr als 20.000 britische Bürger nahmen an diesem »Mappiness-Projekt« (iPhone-App) teil, das die Teilnehmer bat, das Ausmaß ihres Glücks an verschiedenen Orten anzuzeigen. Das Ergebnis bestätigte, dass die Teilnehmer glücklicher waren, wenn sie sich in der Natur aufhielten.5 Erklären lassen sich diese Ergebnisse damit, dass Natur einen umfassend positiven Einfluss auf unser Leben hat: Und zwar wirkt sich Natur auf ästhetische, physische, psychische, soziale, produktive und ökologische Faktoren aus, die wir nun im Folgenden beleuchten.
Ä sthe tische A uf wertung durch N atur Die Natur trägt wesentlich zur ästhetischen Aufwertung bei. Die Vielfalt der Natur, ihre Gerüche, Farben, Licht und Schattenspiel vermag unsere taktilen, visuellen, akustischen und olfaktorischen Sinne in einer umfassend synästhetischen Weise zu stimulieren, die uns gleichzeitig anregt und beruhigt. Die komplexe Schönheit der Natur liegt auch darin begründet, dass überall in der Natur sich verzweigende selbstähnliche Muster vorkommen, die sich in kleinerem Maßstab als so genannte Fraktale wiederholen. Fraktale Strukturen finden wir in Bergzügen und Küstenlinien, in Bäumen und Felsen, in Blattadern und in den Zellen des menschlichen Körpers.6 Nach empirischen Studien wird Natur gegenüber gebauten Umwelten bevorzugt. Gebaute Umwelten, die Bäume, Pflanzen und Grün enthalten, werden gegenüber solchen ohne Vegetation vorgezogen.7 Eine wesentliche Ursache des ästhetischen Reizes von Bäumen ist, dass sie Monotonie und Massigkeit verringern und zugleich die Komplexität erhöhen können. »Dies geschieht nach Wohlwill (1983) dadurch, dass na4 | Kardan et al. (2015). 5 | Mackerron, Mourato (2013). 6 | Stern (2011), 45. 7 | Kaplan, Kaplan (1989), Pigram (1993), vgl. Flade (2008), 49f.
6. Gegen Stadtstress hilf t Grün
türliche Oberflächen und Texturen unregelmäßig sind, dass einfache rechteckige Formen in der Natur nicht vorkommen und, dass natürliche Elemente in ständiger Veränderung begriffen sind.« 8 »Dafür spricht auch das Ergebnis von Stamps (2000), dass Bäume vor dem Haus den Eindruck von Massigkeit verringern, so dass sich Menschen weniger bedrückt fühlen.«9 »Dass die Verdeckung durchaus recht massiv sein kann, hat Ikemi gezeigt (2005). Studentischen Versuchspersonen wurden Bilder mit von Bäumen verdeckten Häusern vorgelegt. Häuser, bei denen beide Ecken hinter Bäumen lagen, wirkten geheimnisvoller, und sie wurden meistens bevorzugt.«10 Verdeckungen durch Bäume, die unvorhergesehen neue Blickbeziehungen eröffnen, steigern daher die Stimulierung und erhöhen somit die Attraktivität der Stadt. Unabhängig davon ist die Natur ein Symbol für Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit statt Künstlichkeit.
L eistungsfähiger und stressresistenter mit S tadtgrün Grünanlagen bieten neben dem ästhetischen Wert auch eine große Gesundheitsressource, da die Natur positive physische Auswirkungen auf den Körper hat. Die Stresserholungstheorie des amerikanischen Architekturprofessors Roger Ulrich verwies vor allem auf die positiven körperlichen Effekte, die ein Aufenthalt in der Natur hat. In einer Studie berichten Roger Ulrich und seine Mitarbeiter: Allein das Wahrnehmen schöner Landschaften sowie Tageslicht und frische Luft bewirken eine Senkung von Puls und Blutdruck. Stresshormone wie Kortisol werden abgebaut und Verspannungen der Muskulatur gelöst.11 Zudem helfe die Natur, geistige Erschöpfung zu verarbeiten, wodurch wir wieder geistig aufnahmefähig und frisch werden. Ein Gang durch die Natur ist in seiner stressentlastenden und mental entspannenden Funktion kaum zu übertreffen. Aber nicht nur ein Aufenthalt in der Natur, sondern schon ein Blick aus dem Fenster hat diesen positiven Effekt, wie die genannte Studie belegen konnte. Hier wurde die Wirkung natürlicher Landschaftsräume im Vergleich zu städtischen Räumen untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass sich die Studiengruppe, die natürliche Landschaften betrachtete, »schneller vom Stress erholen konnte und niedrigere physiologische Erregungswerte aufwies«.12 Es zeigt sich, dass die schnellere Erholung auch zu höherer Produktivität in der Arbeitsleistung führt. Somit hat der Bezug zur Natur zudem öko8 | Wohlwill (1983); vgl. Flade (2008), 50. 9 | Stamps (2005); vgl. Flade (2008), 51. 10 | Ikemi (2005); vgl. Flade (2008), 119. 11 | Ulrich et al. (1991). 12 | Ebd.
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nomische Vorteile. In einer Studie wurde herausgefunden, dass Mitarbeiter in Call-Centern sechs bis zwölf Prozent schneller Anrufe bearbeiten konnten, wenn sie einen Fensterblick ins Grüne hatten, als Mitarbeiter, die keine solche Aussicht hatten.13 Nicht umsonst sind die kreativen Brutstätten, wie etwa von Apple Park in Silicon Valley oder das Google-Quartier in Tel Aviv, mit grandiosen Ausblicken mit grünen Baum-Oasen und Parks drinnen wie draußen gestaltet. Hier weiß man: Um entspannter und kreativer arbeiten zu können, wirken biophiles Design und viel Natur sehr unterstützend. In der Ruhe der Natur liegt eine weitere Gesundheitsressource. Städtische Umgebungen zeichnen sich durch Lärm und Unruhe aus, welche sich in vielfältiger Weise negativ auf die Gesundheit auswirken. Belegt ist beispielsweise der enge Zusammenhang von Lärm und Schlafstörungen, ebenso steigt das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall.14 »Diese Reaktion wird übrigens auch ausgelöst, wenn wir den Lärm gar nicht bewusst wahrnehmen, etwa im Schlaf.«15 Die Natur als Ort der Ruhe kann besonders hier der Erholung dienen.
W ie S tadtgrün unsere P syche heilt Das Psychologenpaar Rachel und Stephen Kaplan stellte bereits in den 1980er Jahren fest, dass sich durch den direkten Kontakt mit der Natur unsere Konzentrations- und Leistungsfähigkeit regenerieren. Der Grund: In der Natur wird eine abschweifende, mühe- und absichtslose Art der Aufmerksamkeit angeregt, die im Kontrast zur gezielten Aufmerksamkeit steht. Normalerweise richten wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas wie auf das Schreiben am Computer, auf das Lesen oder Lernen oder Besuchen eines Museums. Unsere gerichtete Aufmerksamkeitsspanne ist jedoch begrenzt, da es sehr anstrengend ist, sie dauerhaft aufrecht zu erhalten. Eine andere Form der Aufmerksamkeit ist die Faszination, wie beispielsweise ein Lagerfeuer, das man stundenlang betrachten kann, ohne zu ermüden. Sie lädt uns mit Energie auf. Wir fokussieren auf natürliche Weise das Objekt wie beispielsweise das Flackern eines Lagerfeuers. Andere Eindrücke werden dabei ausgeblendet oder abgeschwächt. »Dadurch bekommen wir Abstand von Problemen, Konflikten oder störenden Einflüssen aus dem Alltag, wozu auch der turbulente und stressige Trubel der Großstadt gehören kann.«16 Das heißt, in einer Umgebung, die eine starke
13 | Heschong Mahone Group (2003). 14 | Abraham et al. (2007). 15 | Adli (2017), 81. 16 | Arvay (2018), 124f.
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Faszination ausübt, kann sich die zielgerichtete Aufmerksamkeit nach Kaplan ausruhen.17 Ermüden unsere Gehirne aufgrund von zu viel gerichteter Aufmerksamkeit, kann die Natur die verbrauchte Aufmerksamkeitskapazität wiederherstellen. Das heißt, die Natur reaktiviert erschöpfte mentale Ressourcen und wir können dann wieder aufmerksam sein. Mit dieser Aufmerksamkeitstheorie lässt sich auch erklären, dass bereits fünf Minuten körperliche Aktivität im Grünen »Stimmung und Selbstwertgefühl« deutlich verbessert.18 So können bei Menschen, die eine von ihnen als angenehm empfundene Landschaft betrachten, negative Gefühle und Gedanken, die durch Stress entstanden sind, durch positive Empfindungen ersetzt werden.19 Nach einer Studie englischer Forscher ist eine Steigerung des Selbstwerts durch Naturerfahrung besonders hoch »bei jüngeren Leuten und psychisch angegriffenen Menschen«.20 Gehetzte Menschen sollten regelmäßig an die frische Luft gehen. Auch bei der Behandlung psychischer Störungen (Neurosen, Depression, Angst, Sucht, psychosomatische Erkrankungen) kann die Natur einen Beitrag leisten. Wissenschaftler der University of Washington in Seattle verglichen eineiige Zwillingspaare miteinander, von denen jeweils einer in der Nähe eines Parks lebte und der andere nicht. Sie untersuchten insgesamt über 4300 Teilnehmer und stellten fest, dass die Depressionsrate sank, wenn eine Grünfläche in der Nähe war.21 Umgekehrt besagt eine niederländische Studie nach Peen u.a. von 2010: Stadtmenschen haben ein »39 Prozent erhöhtes Risiko, an Depression« zu erkranken, als Landbewohner. Bei einer Angststörung beträgt die erhöhte Wahrscheinlichkeit »21 Prozent«.22 Umso bedeutsamer ist es, dass der Aufenthalt in der Natur die Depressionsrate sinken lässt. In Deutschland bietet seit 2008 der Landschaftsgestalter Olfert Dorka in Freudenstadt eine dreijährige Ausbildung zum Landschaftstherapeuten an, die er auf seinen langjährigen Reisen in die unterschiedlichsten Landschaften in Russland entwickelte. Die angebotene, zertifizierte Ausbildung Landschaftstherapeut/-in legt besonderen Wert auf die stärkende und harmonisierende Wirkung von Landschaftsbegegnungen. Die vermittelten Kenntnisse und Methoden festigen die eigene Beziehung zur Natur. Sie erweitern die persönlichen und beruflichen Handlungsmöglichkeiten im Sinne einer ganz-
17 | Kaplan, Kaplan (1989). 18 | Barton, Pretty (2010). 19 | Abraham et al. (2007). 20 | Neuenschwander (2010). 21 | Cohen-Cline et al. (2015); vgl. Adli (2017), 214. 22 | Peen et al. (2010); vgl. Adli (2017), 203.
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heitlichen Betrachtung von Wohlbefinden und Gesundheit. Darüber hinaus festigen sie achtsames Tun und Sein und führen zu einer inneren Balance.23 Die Natur als Therapieform ist keine neuzeitliche Entdeckung, schon die griechischen Heilungs- und Gesundheitstempel des Asklepios lagen meist in schönen Landschaften und nutzten die allumfassenden Qualitäten der Natur.
S oziale G esundheit durch N atur Grün trägt nicht nur zur physischen Gesundheit durch gute Luft und Bewegung bei. Stadtgrün hat auch einen Einfluss auf unser Sozialverhalten, wenn Menschen regelmäßig in Parks spazieren gehen und Bekannte treffen. Grünflächen sind als Begegnungsraum wichtig und fördern soziale Kontakte.24 Aus diesen Gründen ganzheitlicher Gesundheit wurde von den beiden Stadtplanern Robert Nähr und Henning Sanftleben in Hamburg das Projekt »heilende Stadt« initiiert. Parkpflege und unterschiedliche Bewegungsangebote sollen die Naturverbindung, Gemeinschaftsbildung und bürgerschaftliches Engagement ermöglichen und dabei Achtsamkeit, Körpererfahrung und seelische Stärke fördern. In England, dem Geburtsland der Green Gyms, kam der Trend bereits in den 1990er Jahren auf, um die Gesundheit der britischen Bevölkerung zu verbessern. Es waren Akademiker unterschiedlicher Disziplinen, die Leute in Ballungszentren erreichen wollten, auch solche, die normalerweise kein Fitnessstudio betreten würden. Die Stadtbewohner sollten ohne Schwellenängste ihren Stress abbauen und ihre Gesundheit und Fitness verbessern. Mittlerweile gibt es dort in beinahe jedem Park solche Gruppen.25 Ein weiterer faszinierender Effekt von Parks ist, dass der Einfluss sozialer Benachteiligung auf die psychische Gesundheit durch die Nähe zu einem Stadtpark positiv moduliert werden kann.26 Es hängt wohl auch damit zusammen, dass mit einem dichteren Baumkronenbestand das soziale Leben zwischen den Menschen intensiver wird und die gegenseitige Unterstützung zwischen ihnen wächst.27 Eine Erklärung liegt auf der Hand: Ein reicher Baumbestand verwandelt Straßen und Gehwege in eine angenehmere und einladende Umgebung und die Menschen fühlen sich wohler und verhalten sich deshalb friedlicher. »Passanten und Nachbarn verbringen automatisch mehr Zeit draußen mit anderen, begegnen sich häufiger, kommen leichter miteinander ins Gespräch.«28 Eine 23 | Interview mit Olfert Dorka. 24 | Sullivan et al. (2004). 25 | Maeck (2013). 26 | Mitchell et al. (2015). 27 | Holtan et al. (2015). 28 | Adli (2017), 216.
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weitere Studie mit erstaunlichen Ergebnissen von Troy, Grove, O’Neil-Dune (2012) fand heraus, dass es eine Beziehung zwischen Baumabdeckung und Verbrechen in den Wohnvierteln gebe. Eine nur zehnprozentige Erhöhung der Baumbedeckung führe zu einer 11,8 Prozent Abnahme der Kriminalitätsrate.29 Erklären lässt sich das Ergebnis damit, dass Stress, Frustration und Gereiztheit, die zu Aggressionen führen, durch eine grüne Umgebung gemindert oder gar abgebaut werden können. In sozialen Brennpunkten und bei Konflikten kann Grün dazu beitragen, diese zu befrieden.
M it S tadtgrün die U mweltbel astungen reduzieren Klimaer wärmung Heute ist das Thema Grün in der Stadt aktueller denn je. Neben den beschriebenen gesundheitlichen Aspekten spielen auch ganz neue Aspekte, die Klimaveränderung und die damit ansteigenden Temperaturen in den Städten, eine Rolle: Die Städte explodieren, immer mehr Flächen werden zersiedelt. Asphalt, Beton und Stein absorbieren die Sonnenenergie und heizen auf. Sie speichern die Wärme und geben diese an ihre Umwelt ab. Das heißt: Je mehr Flächen wir versiegeln, desto stärker werden Städte zu Wärmeinseln. In ihnen steigen die Temperaturen »im Vergleich zum nichtstädtischen Umland um bis zu 10 Grad«.30 Im Hitzesommer 2003 kam es in Deutschland, insbesondere im Süden (Baden-Württemberg und Bayern), sogar vermehrt zu Gesundheitsschädigungen und Sterbefällen. In Europa sind während dieses Sommers »etwa 55.000 Menschen, davon ca. 35.000 allein im August, in der Hitzewelle gestorben«.31 Grünflächen können erheblich dazu beitragen, die Temperatur an heißen Tagen zu senken. Bäume sind als Schattenspender für das Haus, insbesondere an der Südseite der Häuser, eine effektive und natürliche Maßnahme gegen hohe Temperaturen im Gebäude. Jedoch sollte darauf geachtet werden, dass zur Beschattung eher Laub als Nadelbäume genommen werden, da im Winter die Helligkeit eingeschränkt würde und die Energiebilanz ungünstig wäre. Auf öffentlichen Wegen und Plätzen sorgen Bäume für Schattierungen und verringern das Aufheizen von versiegelten Flächen, sie sorgen für Wasserspeicherung und kontrollierte Verdunstung. Auf diese Weise steigt nicht nur die Luftfeuchtigkeit, sondern auch das Wohlbefinden der Menschen. Bäume verringern außerdem die Windgeschwindigkeit, erzeugen Sauerstoff und wir29 | Troy et al. (2012). 30 | Endlicher, Kress (2008). 31 | Jendritzky (2007).
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ken darüber hinaus in vielfältiger Weise positiv auf das Stadtklima. Das Gleiche gilt für Dachgärten. Die Pflanzen mildern die Temperaturen ab, indem sie Sonnenlicht absorbieren, Schatten werfen und Verdunstungskälte erzeugen. Das Grün auf dem Dach speichere zudem Regenwasser und verzögere das Absickern. Bepflanzte Dächer könnten dadurch einen erheblichen Beitrag dazu leisten, die Abwasserkanäle bei den immer häufiger auftretenden Starkregenereignissen zu entlasten.
Feinstaub Ein weiteres Problem der Städte ist der Verkehr und die damit entstehende Luftverschmutzung. In Deutschland starben nach Daten vom Deutschen Umweltamt zwischen 2007 und 2015 im Mittel jährlich etwa 44.900 Menschen vorzeitig durch Feinstaub.32 Angesichts der Problematik fordern Politiker, Architekten und Gesundheitswissenschaftler, dass die Städte wieder grüner werden müssen. Neben Fahrverboten, Auflagen für neue Filter bei Fahrzeugen und Heizungssystemen, welche die Belastung der Stadtluft an der Quelle senken sollen, sind auch Konzepte in der Debatte, Feinstäube und andere Schadstoffe nachträglich aus der Luft zu filtern. Bäume haben dabei eine herausragende Bedeutung, da sie diesen gefährlichen Feinstaub der Stadt entziehen können, der für »Lungenerkrankungen, Asthma, Allergien und Entzündungen im Bereich von Hals, Nase und Ohren« verantwortlich ist.33 Birken filtern »mit ihren zahlreichen, dicht wachsenden kleinen Blättern und den herabhängenden, rauen Kätzchen, in denen sich die Samen befinden, besonders viel Staub«.34 »Auch Eschen, Ulmen, Magnolien und die immergrüne Stechpalme gelten als wahre Feinstaubschlucker.«35 »In Oslo, Paris und versuchsweise in Stuttgart wurden vertikale Moosgärten entlang von Autobahnen und stark befahrenen Straßen errichtet, um der Luft Feinstaub und Abgase zu entziehen.«36 Das heißt, je dichter eine Stadt mit Bäumen bepflanzt ist, desto besser ist der Schutz vor den Feinstaubbelastungen.
Stickoxide In Städten ist die Belastung durch Stickoxide generell sehr hoch, insbesondere in Vierteln mit hohem Verkehrsaufkommen. Stickoxide reizen die Atemwege, schädigen die Bronchien und begünstigen die Entstehung von Asthma. Auch 32 | Umweltbundesamt (2017). 33 | Arvay (2018), 193. 34 | Ebd., 193. 35 | Ebd., 193. 36 | Ebd., 251.
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hier gilt: Bäume nehmen Stickoxide auf und filtern die Luft.37 Insbesondere laubtragende Gehölze sind in der Lage, Schadstoffe aufzunehmen oder Partikel auf ihrer Oberfläche anzulagern.38
K ulturl andschaf ten im Z uge der E nergie wende be wahren Im Zuge einer sinnvollen und notwendigen Politik der Energiewende werden in Deutschland zurzeit flächendeckend Windfarmen gebaut. Manche Windräder werden doppelt so hoch sein wie der Kölner Dom. Zurzeit findet die größte Industrialisierung von Kulturlandschaften und Naturräumen statt, die es je gab. Bei der Planung werden denkmalpflegerische, ästhetische Argumente und Argumente des menschlichen Befindens häufig übergangen. Umso erstaunlicher war, dass das sensitive subjektive Erleben auch Eingang in Planungsprozesse fand, wie es Jürgen Hasse am Beispiel von zwei Gerichtsurteilen zu Windparks beschreibt. Normalerweise haben bei der Planung von Windparks die Eigentümer der betroffenen Grundstücke Gelegenheit, eine Stellungnahme zu geben. Wenn aber ein Betroffener Einspruch erhebt, werden meistens nur die gängigen »baurechtlichen und immissionstechnischen Normen« überprüft wie Bauabstände sowie Grenzwerte für Geräuschemissionen und die zulässige Dauer für Schattenwurf.39 Über die gängigen immissionstechnischen Werte hinaus wird normalerweise subjektiv-leibliches Empfinden nicht berücksichtigt, obgleich Betroffene, die in geringem Abstand von Windkraftanlagen leben, von »Herzbeschwerden, Atemnot, Schlafstörungen, Nervosität, Kopfschmerzen und psychosomatischen Erkrankungen« berichteten.40 Nun heißt es in einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes (VGH) München, eine Anlage habe aus der Nähe eine optisch »erdrückende Wirkung«.41 So gehe von den Schattenwürfen der Windparks »eine bedrängende Wirkung auf den Betroffenen« aus und die Bewegungen der Rotoren ziehen »den Blick zwanghaft« auf sich, was zu leiblichem Unwohlsein führen könne.42 Ebenso können »die sich drehenden Rotorblätter einer Windkraftanlage aufgrund ihrer immensen Größe stark beunruhigend wirken«.43 Jürgen Hasse hält solche Urteile für beachtlich, da sie zeigen, dass subjektive Wahrneh-
37 | Kraft et al. (2005). 38 | Bruse (2003). 39 | Hasse (2005), 377. 40 | Ebd., 385. 41 | Hasse (1999), 79; Urteil des VGH München vom 23.11.1990 (1 B 89.0131). 42 | Hasse (2005), 382. 43 | Hasse (1999), 79; Beschluss des VGH Oldenburg (4B 1266/98).
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mungen und damit einhergehende Befindlichkeiten von der Rechtsprechung zunehmend ernst genommen werden.44 Die Bedeutung leiblich-szenischen Erlebens für Daseinsempfinden und Daseinsqualität wird auch in der Architektur und Architekturtheorie zunehmend anerkannt. Umso wichtiger ist es, diese für unser Leben so elementare Fähigkeit zu sensitivem sinnlichem Erleben und kreativem Imaginieren im Architekturstudium zu fördern. Es gibt immer Planungen, die nach ihrer Realisierung auf Widerstand treffen. Eine der vielen Möglichkeiten dem entgegenzuwirken, ist die Bürger frühzeitig mit an den Planungsprozessen zu beteiligen. Eine weitere Möglichkeit besteht auch darin, die Antizipierbarkeit sinnlichen Erlebens zu fördern, um emotionale Auswirkungen besser vorherzusagen. Je differenzierter die Fähigkeit zu vieldimensionaler Wahrnehmung und sinnlicher Imagination entwickelt wird, desto adäquater lassen sich Architektur-Themen darstellen, vermitteln und diskutieren.
I ntervie w mit H einz H ubert M enne (S tadt- und L andschaf tspl aner) Sie haben seit 1990 für die Ortserneuerung in der Gemeinde Wiesenburg und für andere Kommunen als Stadt- und Landschaftsplaner im Fläming gearbeitet und sich dabei sehr für die Erhaltung und Verbesserung der Kulturlandschaft engagiert. 2010 hat Wiesenburg dann den Bundeswettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft« gewonnen. Was war Ihnen bei ihrer Arbeit wichtig? H.H. Menne: Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, den Grünanteil in den Orten zu erhöhen. Dies nutzt gleichermaßen dem Mikroklima wie dem Ortsbild. Mindestens ebenso wichtig war mir die Entwicklung in den landwirtschaftlich genutzten Außenbereichen: Die Chance, die weitgehend ausgeräumten Flächen zu einer gut strukturierten Kulturlandschaft mit artenreichen Lebensräumen umzubauen, ist mein Anliegen. Ein positives Beispiel ist für mich die »Ornamented Farm«. Bereits im England des 18. Jahrhunderts entstand dieses Prinzip der Landnutzung, das produktive Landwirtschaft und ästhetische Gestaltung der gesamten Landschaft verbinden wollte. Diese Gedanken greifen auch Lenné (»Aufschmückung der Feldflur«) und dessen Schüler Gustav Meyer auf. Viele Gutsbesitzer des 19. Jahrhunderts setzten diese Ideen um, auch hier in der Region lassen sich noch Reste davon auffinden. Ein besonders gelungenes aktuelles Beispiel einer »Ornamented Farm« in unserer Region ist das Gut Schmerwitz. Ein ehemaliges volkseigenes Gut (VEG) der DDR wurde seit der Wende 1990 konsequent auf biologische Landwirtschaft umgestellt und 44 | Hasse (2005), 382.
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dabei die Feldflur »aufgeschmückt«: Vier Prozent der Betriebsfläche von insgesamt ca. 1500 Hektar wurden für die Anlage von Hecken, Feldgehölzinseln, Streuobstwiesen und andere Biotope genutzt. Bei deren Anordnung nach ökologischen und ästhetischen Gesichtspunkten wurden auch betriebliche Anforderungen beachtet. Trotz geringerer Anbaufläche wurden die Erträge deutlich gesteigert. 2016 haben Sie die Initiative »Wandel gestalten« gegründet. Diese versucht die Aufmerksamkeit auf die Erhaltung und Weiterentwicklung der Kulturlandschaft zu lenken, die durch eine industrielle Wirtschaftsweise sehr gefährdet ist. Kulturlandschaften werden immer mehr durch neue Eigentümerstrukturen, Großflächenwirtschaft, durch Monokulturen, Windkraftanlagen und Photovoltaikanlagen überfremdet. Den wenigsten Menschen sind die Ausmaße und Folgen dieser neuen Form von Landnutzung bewusst. Was ist Ihr Anliegen? Was sind die Ziele? Wir machen mit unserer Initiative darauf aufmerksam, dass die derzeitige Energiewende epochale Veränderungen in der Umwelt erzeugt. Es findet gerade die größte Industrialisierung des Naturraums statt. Ähnlich gravierende Veränderungen gab es auch zu Zeiten der Industrialisierung. Als negative Folgen werden Kulturlandschaften zerstört, ohne Chance die Energiewende besser, das heißt ästhetischer und ökologischer, zu gestalten. Windkraftanlagen, Photovoltaikanlagen und die massive Förderung des Biomasseanbaus (z.B. Mais) zur Erzeugung erneuerbarer Energien richten desaströse Schäden an. Die Kulturlandschaft hat eine überragende emotionale Bedeutung für ihre Bewohner: Sie trägt wesentlich zu deren Wohlbefinden und zur Erholung bei, ist Bestandteil von »Heimat«, in ihr lässt sich Geschichte ablesen. Die riesigen Agrarbetriebe sind mit ihrer industriellen Wirtschaftsweise als Zerstörer von Biodiversität und Ästhetik abzulehnen. Pestizide (Glyphosat) und Gülle schädigen Biotope und Böden, finden sich im Grundwasser wieder. Negative Auswirkungen sind zu befürchten. Gab es einen Anlass für die Gründung des Vereins? Es gab mehrere Gründe für die Initiative: Da war einerseits die Erkenntnis, dass sich die Kulturlandschaft wegen der genannten Tendenzen in einem tief gehenden Wandel befindet. Zum anderen bestand die Erwartung, dass dieser Wandel zu einer nachhaltig ertragreichen, ökologisch vielfältigen und schönen Landschaft führen sollte. Es gab ferner den berechtigten Anspruch, diesen Prozess der Wandlung mitzugestalten. Anlass für die Gründung der Initiative war die Erarbeitung eines Flächennutzungsplans für die Gemeinde Wiesenburg, der großen Einfluss auf die künftige Nutzung und Gestaltung der Kulturlandschaft haben wird. Diesen Planungsprozess wollte die Initiative kritisch und konstruktiv begleiten und vorhandenes Wissen und Erfahrung einbringen.
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Politiker, Verwaltung und ansässige Bewohner verschließen sich oft diesem wichtigen Thema der technisch überfremdeten Industrialisierung von Kulturlandschaften. Können Sie sich das erklären? Landschaft wird weithin als reiner Produktionsfaktor betrachtet. Der Gedanke, Landschaft auch als eine Kulturlandschaft zu schätzen und zu pflegen, wurde in der DDR seit den 1950er Jahren eliminiert. Nach der flächendeckenden Bodenreform und anschließender Kollektivierung wurde nach der Devise der »Sozialistischen Intensivierung« (1967) die Land- und Forstwirtschaft der DDR strikt auf Ertragsmaximierung durch Industrialisierung ausgerichtet. Das ging einher mit einer tiefgreifenden Umgestaltung der Kulturlandschaft, der Bildung großer, durchorganisierter Betriebseinheiten und rigorosem Einsatz von Agrochemikalien. Anliegen des Naturschutzes konnten sich dem gegenüber kaum mehr durchsetzen, und der uralte Zusammenhang zwischen Dorf und Landschaft lockerte sich. Diese ökonomisch-materialistische Einstellung zu Natur und Landschaft wurde als verbindliche Parteilinie zentralistisch durchgesetzt. Nach der Wende blieb diese Einstellung zur Natur oft erhalten. Ackerland wurde oft privatisiert und systematisch von Großinvestoren wie z.B. der Lindhorst Gruppe aufgekauft. Das Ergebnis ist eine nie dagewesene Form der Landnutzung durch Betriebe von landwirtschaftsfremden Kapitalgesellschaften mit kurzfristigen Gewinnerwartungen, mit minimierter Anbaupalette und technisch optimierten Betriebsabläufen. Zu befürchten ist, dass dieser Art von Landnutzung die anderen wichtigen Aspekte der Kulturlandschaft zum Opfer fallen. Man kann vermuten, dass diese starke wirtschaftliche Position auch entsprechenden politischen Einfluss sichert. Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Kulturlandschaften sind eine lebensnotwendige Ressource, mit der sensibler umgegangen werden muss. Uns ist wichtig, dass Projekte für erneuerbare Energien ästhetisch und ökologisch besser in die Kulturlandschaften integriert werden. Das heißt: Windräder dürfen nicht in Naturparks aufgestellt werden und Photovoltaikanlagen sollten nur auf Konversionsflächen installiert werden und nicht sichtbar sein. Die Bewirtschaftung der Flächen für nachwachsende Rohstoffe sollte schonend sein, um die Bodenfruchtbarkeit langfristig zu erhalten. Landwirtschaftliche Flächen, die größer sind als zehn Hektar, müssen mit Feldhecken und Feldgehölzen bepflanzt werden. Das hat nicht nur ästhetische Gründe, sondern ist – insbesondere angesichts des Klimawandels – auch ökonomisch sinnvoll. Flurgehölze vermindern die Winderosion und schützen die Bodenfeuchtigkeit. Sie sind auch wichtige Biotope, die für die Biodiversität wichtig sind. Um die Landschaft auch ästhetisch zu gestalten, ist es notwendig, dass störende Objekte (Biogasanlagen, landschaftliche Gebäude, Photovoltaikanlagen) eingegrünt werden. Die Kulturlandschaften müssen weiterhin
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mit Alleen, Spazier-, Wander- und Fahrradwegen, Aussichtspunkten erschlossen werden, um ihre Schönheit zu genießen. Vor allem wünsche ich mir mehr Transparenz bei Entscheidern und Verwaltungen, mehr Engagement und Zivilcourage bei den betroffenen Menschen.
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7. Zukunftstrend: Biophile Architektur
Bild 23 und 24: REHAB ist eine Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie in Basel. Sie wurde vom Schweizer Architekturbüro Herzog und de Meuron entworfen und 2002 fertiggestellt. Die zehn verschiedenen Innenhöfe sind alle unterschiedlich gestaltet und haben einen hohen Wiedererkennungseffekt, wie oben z.B. das Birkenwäldchen, und dienen damit auch als Orientierungshilfe in der Klinik. Gleichzeitig zeigen sich in den Innenhöfen die Jahreszeiten und temporalen Veränderungen.
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Bild 25: Das Krankenhaus San Carlos Center in Palo Alto in Kalifornien, USA, vom Architekturbüro NBBJ entworfen, wurde 2014 eröffnet. Im San Carlos Center wurden viele typische Gestaltungsmittel biophilen Designs umgesetzt, die den Aufenthalt zum positiven synästhetischen Erlebnis machen: der Blick in die Natur, der Garten mit duftenden Kräutern, die Auflösung von Innen- und Außenraum, viele natürliche Baumaterialien wie Naturstein und Holzfußböden, der natürliche und dynamische Lichteinfall, der Dach-Sonnenschutz, der mit dem Schattenwurf natürliche Analogien zu Blättern bildet. Die natürlichen Baumaterialien wie Natursteine, Ziegel oder Kalkstein verhelfen auch zu einem angenehmen Raumklima, da sie im Sommer kühl bleiben und zudem widerstandsfähig sind. Auch die Fassadenfarbe wirkt sich auf die Temperaturen im Hausinneren aus: Helle Farben reflektieren das Sonnenlicht stärker als dunklere Farbtöne, so dass sich das Gebäude weniger stark aufheizt.
Der Begriff Biophilie wurde erstmals 1964 von dem Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm in seinem Buch The Heart of Man1 verwendet und Mitte der 80er Jahre durch den Soziobiologen Edward O. Wilson bekannt gemacht.2 Biophilie bedeutet Liebe zum Leben und allem Lebendigen und unser Bedürfnis nach Berührung mit der Natur. Mittels des innovativen Konzeptes der biophilen Gestaltung können Verbindungen zur Natur hergestellt werden, um beispielsweise den urbanen Stressfaktoren entgegenzuwirken. Diese Beziehung zur Natur ist so wichtig, da wir in städtischen Umgebungen voller Tech1 | Fromm (1964). 2 | Wilson (1984)
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nologie und industrieller Architektur immer mehr die Beziehung zur Natur und zu natürlichen Abläufen des Lebens verlieren. Besonders in Krankenhäusern spielen funktionale und technische Abläufe eine einseitige Rolle und wirken dadurch sehr steril. Durch die einseitig technisch orientierte Gestaltung gibt es keine Verbindungen zur Natur mehr, die gerade bei Gesundheitsbauten Stress abbauen und Heilungsprozesse beschleunigen können. »Biophilic Design« ist ein ganzheitliches Konzept. Das heißt: Bei der biophilen Gestaltung geht es um mehr, als grüne Parks zu fordern, einige Grünpflanzen im Büro zu platzieren und für ausreichend Tageslicht zu sorgen. In diesem Geiste haben die Berater des Nachhaltigkeitsbüros Terrapin Bright Green ein umfangreiches Programm für eine erfolgreiche biophile Gestaltung entwickelt, die eine Beziehung zwischen Natur und Gesundheit herstellt.3
D ie K ategorien des B iophilen D esigns Biophiles Design kann in drei Kategorien eingeteilt werden: Natur im Raum, natürliche Analogien und die natürliche Umgebung selbst.4 Aus den zahlreichen Erkenntnissen jahrelanger Forschung wurde ein einheitliches Konzept entwickelt. Die erste Kategorie Natur im Raum bezeichnet die direkte, physische und flüchtige Präsenz der Natur in Form von Vegetation, Wasser, Tieren, Wind, Geräuschen, Gerüchen und anderen natürlichen Elementen. Natur im Raum umfasst verschiedene Aspekte und Themen: Dazu zählen visuelle und nicht-visuelle Verbindungen zur Natur (z.B. Fenster mit Grünblick bzw. Geräusche, Gerüche, haptische oder geschmackliche Reize), unregelmäßige sinnliche Reize, Variabilität der Temperatur-Luftverhältnisse und das Auftreten von Wasser, dynamische und diffuse Beleuchtung (wechselnde Licht- und Schattenintensitäten) und die Verbindung zu natürlichen Systemen (Bild 26).5 Die zweite Kategorie ist die Naturanalogie und bezeichnet die organische, nicht lebendige und indirekte Verbindung zur Natur durch Materialien (wie naturbelassene Werkstoffe und Elemente, Oberflächen mit Maserung), Materialien mit Ortsbezug, natürliche Farben, biomorphe Formen und Muster, die in der Natur vorkommen und unsere menschliche Verbindung zur Natur stärken. Diese Analogien können sich in der Einrichtung, in den Ornamenten und Textilien wiederfinden und sind ein Verweis auf ein Naturelement in seinem ursprünglichen Zustand. Auch die Gestaltung von Komplexität und Ordnung ist ein weiteres Element biophilen Designs. Sie verbindet gehaltvolle 3 | Browing et al. (2014). 4 | Ebd., 9ff. 5 | Ebd.
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sensorische Informationen, die sich auf räumliche Hierarchien aus der Natur beziehen. Komplexität wird durch das Vorkommen von Details und Variabilität ermöglicht. Eine abgestimmte Balance aus Komplexität und Ordnung sorgt für erhöhtes Wohlbefinden. Beispielsweise finden sich in der Natur fraktale Strukturen, geschwungene oder geometrische Figuren, die in jedem Maßstab die gleichen Muster aufweisen. Kommen sie in der Natur vor, verfügen sie über eine visuelle Komplexität, die vom Auge automatisch als Ordnung und Form betrachtet wird. In gotischen Kathedralen finden sich fraktale Muster oder auch in den modernen Bauten des spanischen Architekten Santiago Calatrava wie dem Ostbahnhof in Lissabon, dem Gare do Oriente. Hierzu gehören auch Muster und Formen, die abstrakt an unregelmäßige Wellenstrukturen, Sand oder Holzmaserungen erinnern. Diese Formen beruhigen die Sinne, ohne jedoch bewusst als natürlich oder naturanalog wahrgenommen zu werden. Die dritte Kategorie Natur des Raumes beschäftigt sich mit den verschiedenen räumlichen Konfigurationen, die in der Natur zu finden sind. Sie bezieht sich auf das Urbedürfnis des Menschen, über die unmittelbaren Dinge hinaussehen zu wollen, aber auch auf versteckte Blicke, auf die Auseinandersetzung mit geringfügigen Gefahren und dem Unbekannten. Die Natur des Raumes umfasst biophile Muster wie Aussicht, Rückzug, Geheimnis und Risiko/Gefahr.6
N atur im R aum : V isuelle V erbindung zur N atur Grundsätzlich sollte bei jeder Planung der Blick auf Elemente der Natur und Kontakt mit Natur, auf lebendige Systeme wie Pflanzen, Tiere, Erde, Wasser und Gestein hergestellt werden. In dichten Innenstädten kann der Bezug zur Natur über Hof- oder Fassadenbegrünungen, Lichthöfe, Blumenbeete und grüne Dächer hergestellt werden. Auch in Büros sind »grüne Umgebungen und Bäume, auf die man während des Arbeitens blicken kann«, ein Gewinn, wie eine Studie von Hartig et al. 2003 zeigt.7 »Stress, der infolge einer anstrengenden Aufgabe entstanden war, wurde schneller abgebaut, wenn die betreffenden Personen in einem Raum saßen, von dem aus sie auf Bäume blicken konnten. Bei denjenigen, denen solche Ausblicke nicht vergönnt waren, dauerte der Stressabbau erheblich länger.«8 Eine direkte und physische Präsenz von Natur im Raum kann durch Pflanzen, Wasser, Tiere, Düfte, Geräusche und andere natürlichen Elemente hergestellt werden, wie auch mit Topfpflanzen, Blumenbeeten, Vogelgezwitscher, Schmetterlingsgärten, Wasserfontänen, begrünten Wänden oder begrünten Dächern. Aber auch Verbindungen zur Natur künstli6 | Ebd., 10. 7 | Flade (2008), 163. 8 | Ebd.
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cher Art in Innenräumen zeigen ihre Wirkung: beispielsweise Aquarien, grün bepflanzte Innenwände oder Bilder oder Videos von Naturszenen. Am Beispiel des Pilot-Intensivzimmers am Campus Virchow-Klinikum in Berlin zeigt sich, dass sogar ein komplett künstlich geschaffener Decken-Screen mit sich verändernden stochastischen, also nicht regelmäßigen, Blätterbewegungen Schmerzen zu lindern vermag und zur physiologischen Entspannung beitragen kann (siehe Kapitel 10, humanere Intensivstation).
Bild 26: Die Berater des Nachhaltigkeitsbüros Terrapin Bright Green haben ein Programm mit 14 verschiedenen Elementen für eine erfolgreiche biophile Gestaltung entwickelt, die eine Beziehung zwischen Natur und Gesundheit herstellen.
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Bild 27: In der stark befahrenen Glogauer Straße in Berlin steht ein 200 qm großer vertikaler Garten. Der Garten wurde von der Berliner Architektin Sarah Rivière in die Fassade eines neuen Wohngebäudes integriert, das 2016 fertiggestellt wurde.
Vertikale Gärten Wenn durch die bauliche Dichte nicht genügend Raum für Grünanlagen vorhanden ist, gibt es verschiedene Möglichkeiten, Natur trotzdem zu integrieren. Der französische Botaniker und Gartenarchitekt Patrick Blanc hat ein System der vertikalen Gärten entwickelt, das es ermöglicht, Pflanzen auf kleinsten
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Räumen mit wenig Erde wachsen zu lassen. Blanc studierte auf seinen Reisen die Flora tropischer Regenwälder. Im Dschungel wuchsen Pflanzen auf senkrechten Felswänden und hielten sich an Bäumen fest, um dort zu wachsen.9 Blancs substratlose Konstruktion ist so schlicht wie erfolgreich. An der Wand, die begrünt werden soll, wird ein Metallgerüst angebracht. Daran werden Hartschaumplatten montiert, die wiederum mit Vlies bespannt werden. Das zweilagige Vlies dient den Pflanzen als Wurzelraum. Außerdem leitet der Stoff aus Synthetikfasern das Wasser und den Flüssigdünger, die aus einem Rohr am oberen Ende der Wand herauströpfeln, gleichmäßig an die Pflanzen weiter. Auch in Deutschland eignet sich eine erstaunlich große Anzahl von Pflanzenarten für die senkrechten Stadtgärten: kleine winterharte Sträucher, Stauden, Farne, Gräser und Moose, darunter auch viele bekannte Arten, die sonst beispielsweise im herkömmlichen Beet in unseren Gärten wachsen. Besonders effektiv als Luftfilter sind Moose. Sie filtern Feinstaub außergewöhnlich gut: »Ein 3,5 Quadratmeter messender Quader bestückt mit Moosen« kann mit seiner kleinen Fläche so viele Schadstoffe binden und aus Kohlendioxid Sauerstoff generieren »wie 275 herkömmliche Bäume«.10 Erste Beispiele für vertikale Gärten in Deutschland gibt es bereits: Die Berliner Galerie Lafayette schmückt ein 70 Quadratmeter großer vertikaler Garten des Botanikers Blanc. Auch an der stark befahrenen Glogauer Straße in Berlin steht seit 2016 eine etwa 200 Quadratmeter große begrünte Fassade, die von der Architektin Sarah Rivière in einen Neubau integriert wurde. Von der Architektin wurden dabei die Anschlüsse zwischen Fenster und Balkon einerseits und der »Living Wall« andrerseits so entworfen, dass die Begrünung bis zu den Fensterkanten und den Kanten der Balkontüren an der Fassade führt. Damit bietet das Projekt den Bewohnern die Möglichkeit, mit einem Schritt vom Wohnzimmer auf den Balkon gleichsam mitten in einem vertikalen Garten über der Straße zu stehen. Bei diesem Bauvorhaben verlangte die Baubehörde von den Investoren die Zusicherung, dass die begrünte Wand langfristig in Stand gehalten wird. Wie bei jedem Garten ist auch hier eine regelmäßige Wartung erforderlich. Die Pflanzen werden mit einem im Keller befindlichen Bewässerungssystem gewässert, das gewartet werden muss. Zweimal im Jahr kommt eine lokale Gartenfirma mit einem »Cherry Picker«, um zu üppig gewachsene Pflanzen zurückzuschneiden oder, falls nötig, zu ersetzen.11
9 | Arvay (2018). 10 | Haimann (2017), 46. 11 | Interview mit Sarah Rivière.
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Heilsame Architektur Bild 28: Vertikaler Garten bei einem Neubau in der Glogauer Straße in Berlin. Die begrünte Fassade wurde auf Grundlage der Planung des Architekturbüros Sarah Rivière durch den Gärtner Stefan Brandhorst (Firma Vertiko GmbH, Buchenbach) errichtet. Der vertikale Garten kostete als Neubau-Planungsprojekt bei einer Größe von 200 qm 675 Euro je qm. Die Wartungs- und Pflegekosten liegen bei 6500 Euro im Jahr.
Bild 29: Vertikaler Garten an einem Gebäude aus den 1960er Jahren in Mannheim, Q 7. Die alte Fassade wurde nicht nur aus ästhetischen und akustischen Gründen begrünt, sondern auch aus wärmeschutztechnischen. Statt Wärmedämmverbundsystemen wurde eine Pflanzenwand als Dämmung eingesetzt. Auf mineralische Steinwollplatten mit einer Dicke von 15 cm wurden ca. 25 verschiedene Pflanzen gesetzt. Im Winter hält die neue Pflanzenwand die Wärme und im Sommer kühlt die Pflanzenwand das lokale Mikroklima, so dass sich die Innenräume bis zu 4.5 Grad weniger aufheizen. Hier beliefen sich die Kosten auf 1400-2000 Euro pro qm, je nach Schwierigkeitsgrad der Bewässerungstechnik. Planung und Ausführung: Firma Hydroflora GmbH, Kai-Uwe Funk, Neu-Isenburg.
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Fassadenbegrünungen mit Kletterpflanzen Eine sehr einfache und bewährte Methode ohne großen Aufwand ist die Fassadenbegrünung kahler Hauswände und Straßenmauern mit Kletterpflanzen wie Efeu. Begrünte Fassaden wirken wie natürliche Klimaanlagen. Zugleich ist diese nachträgliche Einkleidung von Häusern mit Kletter- bzw. Rankpflanzen auch eine pflegeleichte und kostengünstige Form des Wind- und Wärmeschutzes, da diese Pflanzen Nährstoffe direkt aus dem Boden ziehen. Der Pflanzenwissenschaftler Clemens Arvay empfiehlt für die Bepflanzung von Hauswänden: Neben Efeu eignen sich auch andere »winterharte Kletterpflanzen wie die Hausweinrebe, wilder Wein, Hopfen, Kletterrose, Brombeere, Clematis, Blauregen, Goldregen, Trompetenblume und sogar Pfirsich und Aprikose, wenn sie an Spalieren hochgeleitet werden. Niedrige Mauren und Gebäude können durch Säulenobstbäume gesäumt werden, die im Abstand von etwa einem halben Meter zum Mauerwerk gepflanzt werden. Diese Bäume werden drei bis vier Meter hoch, bleiben aber schmal und nehmen nicht viel Platz in Anspruch.«12 Bei Neubauten wäre es eine interessante und sinnvolle Aufgabe, Kletterkonstruktionen und schattige Überdachungen gleich mit in den Entwurf zu integrieren, auch um angenehme beschattete Außenplätze für die Hitzeperioden zu gestalten.
Stauden statt kahle Rasenflächen In Zeiten von Klimawandel und gehäuftem Auftreten von Starkregen sind durchlässige Böden wichtig, um das Wasser zu halten. Dementsprechend sollten Freiflächen begrünt und Wege nach Möglichkeit aus versickerungsfähigem Bodenbelag gestaltet werden. Begrünung statt Versiegelung heißt nicht unbedingt das Anlegen von bloßen Rasenflächen. Ausgedehnte kahle Bodenflächen sind eher zu vermeiden, da diese stark austrocknen und dann kein Regenwasser mehr aufnehmen können. »Bepflanzte Böden sind durchlässiger, bei Stauden ist dieser Effekt besonders hoch.«13
12 | Arvay (2018), 251f. 13 | Difu (2017), 29.
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N icht- visuelle V erbindung zur N atur über den G eruch
Bild 30 und 31: In der Berliner Zahnarztpraxis KU64 (Architekturbüro Graft) werden Gerüche gegen Angst eingesetzt: Der Geruch eines Kaminfeuers sowie Kaffeegeruch aus einer regelmäßig laufenden Kaffeemaschine beruhigen und verdecken die medizinischen Gerüche der Zahnarztpraxis.
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Außer dem Sehen können auch andere Wahrnehmungsmodalitäten wie Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken einen positiven Bezug zur Natur herstellen, da die menschliche Gesundheit stark von der sensorischen Variabilität der natürlichen Umgebung beeinflusst wird. So können nicht-visuelle Verbindungen in der gebauten Umgebung für eine deutlich bessere Entspannung und Zufriedenheit sorgen. Gerade mit Gerüchen kann eine positive Verbindung zur Natur hergestellt werden. Der Geruch ist beim Menschen ein wenig entwickelter Sinn im Vergleich zu anderen Säugetieren. Gleichwohl ist der Geruch beim Menschen einer der unmittelbarsten Sinne.14 Unmittelbar ergreift uns etwa der sinnliche Geruch beim Obst- und Gemüsehändler, der erdige Geruch nach einem frischen Regen oder der Frühlingsduft blühender Bäume. Duftende grüne Wände in Innenräumen oder duftende blühende Gärten können diesen positiven Bezug zur Natur herstellen. Auch zur Beruhigung kann Duft eingesetzt werden: Um den Patienten in der Berliner Zahnarztpraxis KU64 die Angst zu nehmen, überdecken der Geruch eines Kaminfeuers und der Kaffeeduft einer regelmäßig laufenden Kaffeemaschine die medizinischen Gerüche der Zahnarztpraxis. Auch wurden ganze Wände bepflanzt, um den typischen Zahnarztgeruch zu vertreiben. Der Übergang zur Wellness ist fließend: So wurde im KU64 auch über die Gestaltung eine entspannte Wohlfühlatmosphäre mit Liegeflächen mit iPads und weiten Ausblicken geschaffen, die eher an eine Wellnessumgebung als an Behandlungsräumlichkeiten erinnert. Über den Behandlungsstühlen sind Flachbildschirme montiert, auf denen während der Behandlung der jeweilige Lieblingsfilm gezeigt wird. Das kam gut an sowohl bei Patienten als auch bei Mitarbeitern und sorgte für ständig steigende Patientenzahlen. Häufig wird der Geruch bei der Gestaltung völlig vernachlässigt und unterschätzt, obgleich Geruch und Geschmack uns in unmittelbarer Nähe ergreifen und deshalb auch »als leibnahe Sinne« bezeichnet werden.15 Gerüche prägen wirkmächtig das Erleben von Architektur und Stadt. Denn Geruch geht sofort ins Gehirn. Die Vernachlässigung von Gerüchen lässt sich vielleicht damit erklären, dass die Geschichte des Geruchs eher eine Geschichte der Beseitigung von Gerüchen, also der Hygiene, gewesen ist. Vor allem im Zuge des zivilisatorischen und industriellen Aufschwungs des 18. und 19. Jahrhunderts mit beleitendem enormem Anstieg der Bevölkerung versuchte man aus hygienischen Gründen Gerüche und Gestank zu domestizieren.
14 | Mechsner (1987). 15 | Bischoff (2003), 45.
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D ie beruhigende W irkung von N aturger äuschen Schon das Hören vieler natürlicher Geräusche fördert die physiologische und psychische Erholung. Eine Verbindung zur Natur kann auch über die Akustik hergestellt werden. So kann das Wasserrauschen einer Fontäne oder eines Brunnens beruhigend wirken und manchmal unruhige Geräuschkulissen von Passanten und Verkehr übertönen. Nicht nur der hohe ästhetische Wert von Wasser ist bereichernd, sondern Wassergeräusche können fesseln oder anregen. So hat das leise Plätschern von Brunnenwasser eine beruhigende und entspannende Wirkung. Brunnen werden daher nicht nur aus optischen Gründen oder zur Kühlung im Sommer angelegt. Auch das Meeresrauschen kann sehr beruhigend wirkend. Vielleicht hat dies damit zu tun, »dass der entspannte Atemrhythmus überraschende Ähnlichkeit mit dem Rhythmus der Wellen hat, die – auch wenn sie niemals regelmäßig sind – durchschnittlich in einem Abstand von acht Sekunden an den Strand schlagen«.16 Bild 32: Springbrunnen auf der Piazza De Ferrari in Genua. Das Wasserrauschen einer Fontäne oder eines Brunnens kann beruhigend wirken und unruhige Geräuschkulissen von Passanten und Verkehr übertönen. Zusätzlich senken offene Wasserstellen wie ein Gartenteich oder Brunnen bei Hitze die Temperatur.
Naturtöne gegen Lärm Ebenso kann der Gesang von Vögeln Innenstädte aufwerten. Beispielsweise gibt es mitten im Berliner City Quartier »Neues Kranzler Eck« ein Areal mit Volieren, Bäumen und Pflanzen. Im hektischen und lauten Berlin wird dieser fast kontemplative Ort von Touristen und Mitarbeitern umliegender Büros gut angenommen. Besser als jegliche Volieren sind Bäume, auf denen sich die Vögel niederlassen. Schon auf kleinen Bauminseln lassen sich die Vögel nieder und erzeugen mit ihrem Gezwitscher eine angenehme Atmosphäre und lassen den Verkehrslärm in den Hintergrund treten. 16 | Schafer (2010), 369.
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Um zu entspannen, ist die Abwesenheit oder mindestens Reduktion bestimmter akustischer Phänomene, vor allem von Verkehrslärm und Maschinengeräuschen, notwendig. Stille ist Bedingung für Entspannung und Erholung. Einen wahrscheinlichen Faktor, warum verkehrslaute Städte akustisch so unangenehm klingen, benannte der kanadische Komponist und Klangforscher Raymond Murray Schafer. Typisch für vorindustrielle Lautsphären sei ein »Hi-Fi-Soundscape«, in der es vor allem Naturgeräusche gibt. Geräusche überlappen sich wenig, sind deutlich zu hören, und es gibt eine akustische Perspektive mit Vordergrund und Hintergrund, so dass man in der Lage ist, auch tiefer in die Ferne zu hören.17 Typisch für postindustrielle Lautsphären sei dagegen ein »Lo-Fi-Soundscape«18, die mit Maschinengeräuschen und Verkehrslärm gesättigt ist. Leise Geräusche wie das Knacken eines Astes werden nicht mehr wahrgenommen und das Weithören verkümmert, so dass man im akustischen Sinne in der Stadt ein wenig erblindet. Beim Erleben von Architektur und Stadt sind Geräusche als Stimmung prägende Faktoren wesentlich. Jedes Haus, jede Stadt hat einen eigenen Klang. An so unterschiedlichen Geräuschen wie dem Nachhall der Autos, den Vogelklängen, den Kirchenglocken, den Muezzinrufen, dem Echo der Schritte und der Geräuschkulisse sich unterhaltender Fußgänger lässt sich beispielsweise erkennen, ob man sich in einer mediterranen oder eher nordeuropäischen Stadt befindet. Der Klang einer Stadt gleicht einer Symphonie, einem Zusammenspiel unterschiedlichster Klangschichten. Wer der Akustik seines Wohnortes einmal bewusst nachspürt, merkt schnell, wie eindeutig die den Menschen umgebenden Geräusche sind, auch wenn wir sie zumeist nicht bewusst wahrnehmen. Durch das Echo können wir mit geschlossenen Augen wahrnehmen, wo sich Öffnungen in Räumen befinden, ob die Räume leer oder eingerichtet sind. Eine karg eingerichtete Wohnung wird anders klingen als eine, in der sich viele Stoffe und Möbel befinden. Auch Stadträume klingen unterschiedlich. Wenn die Gebäude weit auseinander stehen, kann man dies akustisch wahrnehmen und zwar dadurch, dass »bei weiten, offenen Räumen« kein Sound zurückhallt.19 Genau wie in Innenräumen die Materialien der Wände den Klang bestimmen, so wirken die Fassadenoberflächen der Gebäude als Klangspiegel. Je nach Härte der Oberflächen reflektieren die Fassaden die Klänge und bilden ein Echolabyrinth. Ebenfalls bestimmt die Ausrichtung der Baukörper zueinander »die Art der Echos und damit die Halleigenschaften dieser öffentlichen Räume«.20 Einleuchtend vergleicht der Klangforscher Andres Bosshard den Hochraum zwischen Ge17 | Schafer (2010), 91. 18 | Ebd. 19 | Pallasmaa (2005), 51. 20 | Bosshard (2009), 175.
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bäuden (z.B. einen Platz) mit einer Mundstellung, die zur Artikulation ansetzt. »Alle Klänge vor Ort werden durch diese Mundstellung geformt, und wir hören, wie die Stadt zu uns spricht.«21 Seit Raymond Murray Schafers Klassiker Die Ordnung der Klänge 22 beschäftigen sich immer mehr Stadtplaner und Klangkünstler mit der auditiven Architektur. Die auditive Architektur will den Klang gebauter Umgebung ins Bewusstsein rücken, um dann Klanglandschaften für Stadträume gestalten zu können. In diesem unerschlossenen Bereich geht es noch im Wesentlichen um Grundlagenforschung. Der Klang der Städte kann entscheidend zum Wohlbefinden beitragen, und dabei geht es nicht nur um die Reduzierung von Lärm, den Dezibelwert. Es geht auch um den Charakter der Sounds, ob wir noch eine natürliche Umgebung hören können wie Wasser- und Windrauschen, die Vögel und die Grillen im Sommer. Naturgeräusche in unvorhersehbaren Intervallen wie Wasserrauschen, Vogelgezwitscher, Windgeräusche können auch künstlich erzeugt werden, um mechanische Stadtgeräusche zu übertönen.
U nregelmässige sinnliche R eize Unregelmäßige sinnliche Reize können nicht präzise vorhergesagt werden wie etwa zufällige Wolkenbewegungen, Luftbrisen, im Wind raschelnde Blätter, wogendes Gras, plätscherndes Wasser, plötzliche Bewegungen von Tieren oder Naturgeräusche, die in unvorhersehbaren Intervallen vorgespielt werden. Unvorhersehbare Reize wirken oft anregend und interessant und wirken sich auf die physiologische Erholung aus.23
D ynamische L ichtgestaltung zur V erbesserung von S chl af und S timmungen Licht beeinflusst uns Menschen auf vielfältige Weise. Lichtverhältnisse können krank, aber auch gesund machen. Sie können die Laune heben oder Depressionen verstärken – nicht umsonst spricht man vom Winterblues. Daher ist natürliches Licht elementar im Wohnumfeld. Die Wirkung des Lichtes und der Farben scheint sehr mit existenziellen Bedingtheiten verknüpft zu sein wie dem lebensnotwendigen wärmenden Sonnenlicht und dem wachsenden Naturgrün als Ernährungsressource. Beim Wohnen werden wir von den jährlichen und täglichen Rhythmen des einstrahlenden Sonnenlichtes seelisch 21 | Ebd. 22 | Schafer (2010). 23 | Browing et al. (2014), 28, 29.
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und leiblich eingebunden. Klassische Gesundheitslehren wie indisches Ayurveda oder Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) betonen die Bedeutung von jahres- und tageszeitlichen Biorhythmen für das menschliche Leben und Wohlbefinden. So lehrt die Traditionelle Chinesische Medizin, dass die Organe zu unterschiedlichen Tageszeiten ihre jeweils höchste Aktivität haben, mit weit reichenden Folgen für das Befinden und das, was uns zu verschiedenen Tageszeiten angemessen ist und gut tut.
Biorhythmen berücksichtigen zur Verbesserung des Schlafes Unsere körperliche und seelische Aktivität wird von einem neuronal und biochemisch vernetzten System innerer Uhren geregelt, deren übergeordneter Taktgeber sich tief im Gehirn befindet und unter anderem über die Augen von den Rhythmen des Tageslichtes synchronisiert wird. Erst im Jahre 2002 gelang die aufregende Entdeckung, dass sich im Augenhintergrund spezielle Fotorezeptoren befinden, die nicht dem Sehen dienen. Ihre Signale beeinflussen stattdessen den im Gehirn sitzenden Taktgeber für die inneren Uhren und synchronisieren so das innere Geschehen mit dem Tag-Nacht-Zyklus. Die inneren Uhren betreffen und beeinflussen so gut wie alle Regulations- und Organfunktionen in komplex aufeinander und auf den Tagesablauf bezogener und abgestimmter Weise. Jeder kennt das wiederkehrende Muster im Auf und Ab von Wachheit und Leistungsbereitschaft im Laufe des Tages. Solche Tagesrhythmen beruhen auf biologischen Prozessen und können wie diese von äußeren Bedingungen beeinflusst werden. Beispielhaft sind hier etwa die genetisch festgelegten, jedoch über Licht und Dunkelheit feingestellten gegenläufigen Zyklen der Hormone Cortisol und Melatonin. Vereinfacht gesagt unterstützt Cortisol energetisierende und stimulierende Prozesse, während wir unter dem Einfluss von Melatonin müde werden und der Organismus auf Sparflamme und Erholung schaltet. Der Melatoninspiegel steigt in der Dunkelheit, während Licht über die genannten besonderen Fotorezeptoren des Auges und den Taktgeber im Gehirn die Produktion des Müdigkeitshormons hemmt. Das Müdigkeits- und Schlafhormon Melatonin ist somit vor allem in der Nacht aktiv und wird vom Morgenlicht gehemmt. Ab etwa drei Uhr morgens schüttet die Nebennierenrinde kräftig Cortisol aus, das den Körper auf den Tag einstellt. Das Morgenlicht hemmt die Produktion von Melatonin und stimuliert zusätzlich die Aktivität des Stimmungsaufhellers und Motivators Serotonin. Während der Cortisol-Level im Laufe des Tages abnimmt, bleibt Serotonin bis zum Abend stark. Für unsere allgemeine Wachheit ist also das Hormon Melatonin von entscheidender Bedeutung. Ist der Melatoninspiegel im Blut hoch, sind wir müde und schlafbereit. Der Melatoninspiegel sollte somit möglichst niedrig sein, wenn es gilt, wach, aufmerksam und aktiv zu sein. Die Melatoninproduktion steht nun
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unter dem starken Einfluss von Helligkeit und Dunkelheit. Deshalb ist die Dynamik der Lichtverhältnisse entscheidend für das leiblich-seelische Geschehen im Körper und somit für Gesundheit und Wohlbefinden. In vielen Büros und Betrieben wird kaltes Licht gezielt eingesetzt, damit die Mitarbeiter nicht müde werden. Wer den ganzen Tag bis in den Abend hinein unter dem kalten Neon-Licht lebt, stört seinen natürlichen Rhythmus. Das künstliche Licht hebt den Unterschied zwischen den Tageszeiten auf. Das Ergebnis sind Schlafstörungen.24 »In vielen Großstädten der Welt ist die Nacht mittlerweile taghell. Die Ursache: Lichtverschmutzung, Straßenlaternen, grelle Schaufenster und Leuchtreklamen.«25 Von Natur aus ist der Mensch darauf gepolt, im Hellen wach und fit zu sein. Nach einer Phase der Dämmerung setzt dann im Dunkeln die Müdigkeit ein. Wird der Biorhythmus gestört, kann es zu »Erschöpfung, gedrückter Stimmung und Depression« führen.26 Viele Menschen unterschätzen den Einfluss, den künstliches Licht auf die biologische Uhr hat.
Biologische Lichtplanung Nicht nur Helligkeit und Farbe als solche beeinflussen uns, sondern auch die Lichtverteilung im Raum. So können Wohnräume und Büros durch geschickte Lichtgestaltung hoch oder niedrig, kalt oder warm, langweilig oder interessant erscheinen und so unser Erleben formen. Lichtplanung kann den Blick lenken, kann Stimmungen und Atmosphären schaffen, kann auf das körperliche Befinden der Menschen wirken. Je nachdem, was in einem Raum vorzugsweise geschehen soll, lässt sich über eine geeignete Verteilung von Licht und angepassten Farben beispielsweise eine aktivierende oder beruhigende Atmosphäre fördern. Farbiges Licht kann die Ausschüttung stimmungsaufhellender Substanzen im Organismus anregen. Manche Räume sind heute als regelrechte »Farbtempel« gestaltet, mit vielfältig wohltuenden Wirkungen. Die Kunst und die Wissenschaft, Lichtstimmungen herbeizuführen, nahmen kürzlich ihre neueste Wendung im Konzept dynamischer Lichtgestaltung. Die Grundidee hier ist, das von draußen einfallende Licht tagsüber zu nutzen, diesem jedoch computergesteuert künstliches Licht variabler Helligkeit und Farbzusammensetzung so beizumischen, dass ein über den Tag hin biologisch optimaler Verlauf der Lichtstimmung erreicht wird. Beleuchtungssysteme, die im Laufe des Tages unseren zirkadianen Rhythmus künstlich nachahmen, können uns helfen, in unserem natürlichen Biorhythmus zu bleiben und verhindern Müdigkeit, Schlaflosigkeit und Verstimmungen.
24 | Adli (2018), 193. 25 | Ebd., 193. 26 | Ebd., 258.
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N atur analogien : M aterialien mit O rtsbezug und Patina Tasten und erlebte Räumlichkeit sind eng miteinander verknüpft, besonders das Erlebnis von Oberflächen und materiellen Strukturen. Einen schönen Stein berührt man sehr gerne. Andere Materialien wie beispielsweise eine Glasscheibe oder ein Metallblech animieren weniger, sie zu berühren. Taktilität hat vor allem mit hautfreundlichen Naturmaterialien zu tun. Architektur engagiert den Tastsinn, und zwar nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar, nämlich über das Auge, das uns auch über taktile Qualitäten informiert und darüber, dass wir etwa weiche oder harte Oberflächen gleichsam berühren können. Man tastet anstatt mit der Hand mit dem Auge, wobei die Modalitäten des Sehens und Tastens sich synästhetisch mischen und integrieren – so dass der Augensinn gleichsam zum Träger des Tastsinnes wird.
Bild 33: In der Klinik REHAB in Basel wurden nicht nur Ausblicke auf zehn verschiedene begrünte Innenhöfe hergestellt, sondern es wurde auch viel mit dem »warmen« Baumaterial Holz gestaltet, das eine erholsame und beruhigende Wirkung hat. Auch in den hellen Patientenzimmern wurde Holz als Fußboden und als Decke verwendet. Vom damaligen Klinikchef Dr. Mader wurde ausdrücklich gewünscht, dass der neue Klinikbau Wärme und Geborgenheit ausstrahlen sollte. Menschen in Krankenhäusern befinden sich oft in körperlicher und seelischer Disharmonie, umso wichtiger ist eine Gestaltung einer heilsamen und harmonischen Umgebung.
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Bild 34: In der Basler Klinik REHAB haben alle Therapiebereiche einen direkten Zugang zum Garten, so dass die Therapien auch in die Natur verlegt werden oder Patienten in den Pausen in die Natur gehen können. Die vor Regen geschützten Terrassen sind Rückzugsräume, bieten aber gleichzeitig einen schönen Ausblick. Lichtplanung ist entscheidend für die Gesundheit: Die Patientenzimmer sind alle sehr hell und haben Fenster bis zum Boden und Lichtkuppeln. Durch die Holzlamellen bilden sich unterschiedlich intensive Lichtund Schattenverhältnisse und erzeugen so eine dynamische Beleuchtung. Zusätzlich gibt es innerhalb des großzügig angelegten Gartens seit einigen Jahren einen speziellen »Therapiegarten« mit Tieren, mit deren Hilfe Wachkomapatienten therapiert werden. Das Fühlen der Natur, insbesondere bei Tiertherapien, hat eine beruhigende Wirkung auf die Patienten.
Wir wissen aus körperlicher Erinnerung, wie sich Materialien anfühlen, und erkennen sofort deren leichte, weiche, oder schwere Eigenschaften. Viele Gebäude mit Betonfassaden wirken monoton und langweilig, wenn nicht durch die Schalung und zusätzliche Stoffe besondere Oberflächen erzeugt wurden. Heutige Baustoffe wie Glas, synthetische Materialien und emaillierte Metalle können oft nicht mehr in Würde altern. Vor allem die beinah beliebig formbaren Kunststoffe gelten als Materialien »ohne Eigenschaften«. Räume mit Plastikvorhängen, fleckigen Teppichfliesen oder abgelaufenem brüchigen Laminat verstärken durch das Unvermögen, schön zu altern, den Eindruck von Schäbigkeit und Lieblosigkeit. Natürlich tradierte Materialien wie Stein, Ziegel, Reet, Lehmwände und Holz, Bronze, aber auch voroxidierte Stahlplatten und Kupferbleche erzählen ihre Geschichte in ästhetisch ansprechender Weise. Es ist eine sinnliche und befriedigende Erfahrung, am Prozess des Alterns die
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Kontinuität der Zeit wahrzunehmen. Die Patina alternder Materialien verbindet uns mit den natürlichen Prozessen der Zeit. Eine weitere Verbindung zum Ort entsteht, wenn lokale Materialien verwendet werden.
N atur des R aumes : R ückzugsort, W eitsicht und G eheimnis Biophiles Design versucht auch dem instinktiven Bedürfnis nach z.B. Rückzug (Refuge) oder Weitsicht (Prospect) gerecht zu werden. Die Prospect-Refuge-Theorie geht davon aus, dass wir ein angeborenes Bedürfnis nach Aussicht bzw. Übersicht haben: Wir können beobachten, ohne von anderen gesehen zu werden. Rückzugsorte schützen vor Umwelteinflüssen oder vor dem Hauptstrom der Aktivitäten, sie bieten Schutz von oben und von der Seite und lassen dennoch eine Sicht auf die Welt herum bestehen. Auch Orte können eine besondere visuelle Ruhe ausstrahlen. In solchen Orten können sich Körper und Geist wieder erholen. Stress und Gereiztheit werden eingeschränkt und die Konzentrationsfähigkeit gefördert. Gedämpfte Farben und Licht in Innenräumen können synästhetisch wirken. Private Rückzugsräume können beispielsweise einige der negativen Auswirkungen von Wohn-Crowding und Lärm puffern.27 Rückzugsorte können sehr unterschiedlich gestaltet sein. Gebäude oder Räume können etwas abseits liegen wie bei sakralen Orten, Schwellen können den Rückzug einleiten. Rückzugsorte können eigens eingerichtete Ruheräume sein, aber auch kleine Nischen, Ecken, Erker, geschützte Balkone sein. Rückzugsorte können vielfältig gestaltet sein: von der Veranda bis hin zu einem bequemen Stuhl mit hoher Rückenlehne. In Stadträumen können diese von Vordächern, Arkaden und ausladenden baldachinartigen Bäumen, Dachgärten, ruhigen Innenhöfen oder Pavillons gebildet werden. Besonders entspannend sind Außen- bzw. Zwischenräume, die bei den immer wärmer werdenden Sommertagen unterschiedlich geschützte Raumzonen ermöglichen. Solche gestalterischen Design-Elemente lassen Besinnung, Erholung und Kontemplation zu und können damit den menschlichen Geist erheben und die Heilung fördern. Die Architektur sollte daher Gelegenheiten für ruhige Rückzugsorte vorsehen, wo man alleine sein und sich von einer Reizüberflutung oder täglichen Routinen erholen kann. Gerade entschleunigte Ruheorte können dem »Kernproblem« Stress entgegenwirken und das rasende Tempo unserer Zeit drosseln.
27 | Wachs, Gruen (1982).
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Überblicken der Umgebung Eine ungehinderte Sicht, die uns ein Überblicken unserer Umgebung ermöglicht, ist ein angeborenes, in der Evolutionsgeschichte wohl überlebenswichtiges Bedürfnis. Das Muster lässt sich beispielsweise durch die Integration von Balkonen, übergroßen Fenstern, Zwischenetagen, offenen Räumen, die Räume mit unverstellten Aussichten erschaffen, umsetzen. Ein weiter Ausblick auf Natur fördert die Erholung, und der Stress kann schneller abgebaut werden als ohne Ausblick auf die Natur.28
Geheimnis er weckt das Interesse und den Erkundungsdrang Eine teilweise versteckte Sicht wirkt reizvoll und animiert zur weiteren Erkundung der Umgebung. Solche Situationen finden sich in engen unübersichtlichen Gassen, in Straßenzügen mit Bäumen, die Blickrichtungen verdecken, in Labyrinthen oder Irrgärten, auch in gewundenen Wegen, die Abzweigungen aufweisen sowie in Geräuschen, Gerüchen oder Bewegungen unbekannter Herkunft.
M it biophilem D esign S tress auflösen Biophiles Design kann Stress reduzieren, Kreativität und Klarheit des Denkens steigern, unser Wohlbefinden verbessern und Heilung beschleunigen. Somit gibt es so gut wie keinen Bereich in der Architektur, in dem »Biophilic Design« nicht sinnvoll und notwendig wäre. In Schulen können Kinder konzentrierter arbeiten, in Büros kann produktiver gearbeitet werden, im Wohnbereich der Mensch sich schneller regenerieren. In der Healthcare-Industrie hat Biophiles Design sogar eine heilsame Wirkung: • • • •
wirkt stark angstlösend bei Angstpatienten verkürzt die gefühlte Zeit in Wartezimmern erheblich reduziert postoperative Genesungszeiten lindert Schmerzen.
28 | Hartig et al. (2003).
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I ntervie w mit P rof. G ünther V ogt (F reir aumpl anung) Herr Professor Vogt, Sie haben an zahlreichen Projekten in ganz Europa gearbeitet, auch in Zusammenarbeit mit renommierten Architekten wie Herzog & de Meuron, Peter Zumthor und Norman Foster. Was mich an Ihrer Arbeit bewegt und interessiert, ist, dass Sie sehr natürliche Landschaften auf bisher ungewöhnlichen Arealen in Städten völlig neu erschaffen haben. Beispielsweise planen Sie Wälder auf Dachgaragen und nun in London einen riesigen Park auf einer Kiesgrube, die gleichzeitig unterirdisch abgebaut wird. Mit Ihren Projekten gestalten Sie sehr natürliche Erholungsräume, die als Gesundheitsressource in den dichter werdenden Städten notwendig sind. Dokumentiert Ihre Arbeit auch einen gesellschaftlichen Wandel? G. Vogt: In den 1980er Jahren war das Thema Ökologie präsent, heute ist die Gesundheit das Thema überhaupt. Damit stehen wir vor einer wesentlichen Wende. Die Frage ist heute: Wie können wir mit Freiräumen zur Gesundheit bzw. Gesundheitsprävention beitragen. Der Freiraum ist die wichtigste Ressource der Stadt. Die Grünräume sind nicht nur ein nützlicher Freiraum zur Erholung für die Bevölkerung, sie beeinflussen auch das Stadtklima. Die Urbanisierung und die immer dichter werdenden Städte fordern eine neue Definition von Natürlichkeit. Der Boden, auf dem ein Park steht, kann dann auch eine Tiefgarage oder eben eine Kiesgrube sein. In London planen wir eigentlich einen Park auf einem Betondach einer riesigen Infrastrukturlandschaft. Unter der Oberfläche wird während 25 bis 30 Jahren Kies für die Betonproduktion in der Londoner Innenstadt abgebaut und auf dem Dach entsteht parallel dazu ein Park, der während der Abbauarbeiten bereits benutzbar ist. Dieser gesellschaftlicher Wandel nach natürlichen Freiräumen entspricht auch dem Bedürfnis der Bevölkerung: In Zürich wurden nach neuen Bauvorhaben immer regelmäßig Bürgerbefragungen durchgeführt. Fast immer wird kritisiert, dass zu wenig Grünflächen eingeplant wurden. Sie unterrichten an der ETH Zürich Architekturstudenten. Was ist Ihnen wichtig, in der Lehre den Studenten zu vermitteln? Wir leben in einer sehr bildlastigen Zeit. Architekten sind von dieser Bildlastigkeit sehr geprägt. Wenn Architekten Begrünungen planen, dann planen Architekten es vor allem vor einen ästhetischen Hintergrund. Ich versuche daher, bei Architekturstudenten durch Exkursionen ins Feld und Seminarreisen einen realen Bezug zur Natur herzustellen. Auf den Seminarreisen ist das Sichtbarmachen von unsichtbaren Prozessen ein wichtiges Thema. Die Landschaftsräume sind letztlich alle das Resultat menschlicher Eingriffe und Prozesse. Stattdessen sehen Architekten gerne nur das ästhetische Bild der Natur, aber nicht deren ökologische oder gesundheitliche Notwendigkeit. In Zürich wurden zum Beispiel die Dachbegrünungen vorgeschrieben. Diese Dachbegrünungen führten dazu, dass das die Temperatur in den Hitzeperioden sank.
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Es muss auf den Klimawandel reagiert werden. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich gut an den Aletschgletscher. Als ich vor einem Monat das letztemal dort war, stellte ich fest, dass ein großer Teil davon weggeschmolzen ist. In dieser kurzen Zeitspanne meines Lebens verändert sich aufgrund des Klimawandels die Landschaft. Das heißt: Architekten und Landschaftsarchitekten haben bei der Planung eine Verantwortung für einen öffentlichen Raum. Wie lässt sich erklären, dass der ökologische und gesundheitliche Aspekt der Freiraumplanung noch so wenig wahrgenommen wird? Vor zehn Jahren war auch in Berlin auf der stadtplanerischen Ebene der Klimawandel noch kein Thema, mit dem man sich beschäftigen wollte. Erst jetzt werden wir uns allmählich der Notwendigkeit bewusst. Allerdings nicht in allen Ländern. Zum Beispiel gibt es in Amerika noch kein wirkliches Verständnis für Nachhaltigkeit. Überall laufen beispielsweise Klimaanlagen, so dass ich in den Räumen friere. Müsste man dann nicht dringend in allen Städten mehr Verordnungen erlassen, die Dach- und Fassadenbegrünungen fördern? Nein, ich halte es nicht für gut, es von oben zu verordnen. Ich bevorzuge eher einen demokratischen Wandel, ein stärkeres Bewusstsein seitens der Architekten, der Bauherrn und der Bevölkerung bei Bürgerbeteiligungen für einen veränderten Umgang mit mehr Stadtgrün. Haben Architekten und Landschaftsplaner denn das politische Bewusstsein, um etwas zu verändern? Bei jungen Kollegen, die bei uns im Büro zu arbeiten anfangen, vermisse ich sehr oft politisches Interesse und Engagement. Es ist mir wichtig, dass Architekten ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass die Arbeit des Architekten in der Gesellschaft auch eine politische Relevanz hat, und dass es sich dabei nicht um Privaträume handelt, sondern um Stadt, um öffentliche Räume. Und damit verbunden möchte ich die Idee der Öffentlichkeit, des »common ground«, stärken – sie ist in der Architektur, aber vor allem in der Disziplin der Landschaftsarchitektur, sehr wichtig. Die Verantwortung für einen öffentlichen Raum, für einen politischen Raum wahrzunehmen, erachte ich in der heutigen Zeit als zentral.
8. »Big Five«: Fünf architektonische Bedingungen von Stress und Wohlbefinden Bild 35: Intercity-Hotel gegenüber dem Berliner Hauptbahnhof: Abweisende gesichtslose und monotone Fassaden, fehlende Geschäfte und kein Grün lassen den Passanten schnell ermüden. Je härter und lebloser unsere Umgebung, desto müder und angespannter werden wir. Diese glatten Raster-Bauten sind die neuen Bausünden unserer Zeit. Diese Gebäude ignorieren unser leibliches Erleben.
Räume sind sressfrei, wenn sie so gestaltet sind, dass wir darin ungestört den Dingen nachgehen können, für die sie bestimmt sind. Das heißt, in einem Bürotrakt sollte man konzentriert arbeiten können, in den eigenen vier Wänden entspannt wohnen können. Wird unsere Umgebung unseren Bedürfnissen nicht gerecht, schlägt sie auf die Stimmung. Da wir mehr als 90 Prozent unseres Lebens in Gebäuden verbringen, ist die räumliche Gestaltung entscheidend für unsere Lebensqualität und Gesundheit.
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»B ig F ive «: gesundheitsrele vante E rlebens -D imensionen von A rchitek tur Wie sehr die ästhetische Gestaltung zum Wohlbefinden oder auch Stresserleben beitragen kann, belegten der Psychologe Gary W. Evans und seine Kollegin Janetta Mitchell McCoy von der Cornell University in Ithaca (USA) 1998 mit ihrer Publikation When Buildings don’t work. The Role of Architecture in Human Health.1 Die beiden Psychologen stellten fünf Dimensionen von Architektur zusammen, die für Erleben, Wohlbefinden und Gesundheit fundamental sind.2 Die fünf basalen Dimensionen oder »Big Five« sind die folgenden: 1. Stimulierung: Werden Sinne, Aktivität und Geist positiv, interessant und erfreulich angeregt? 2. Affordanz: Lädt das Gebaute zu Kommunikation und lebensfreundlicher Aktivität ein oder eher zu gleichgültigem, vielleicht gar destruktivem Verhalten? Sind die funktionell bedeutenden Elemente erkennbar und bequem nutzbar? Sind die Einladungen klar und sinnvoll? 3. Kohärenz: Fügt sich das Gebaute in Umwelt und Kontext? Trägt es in seiner Eigenart zum Kontext bei oder ist es stilistisch widersinnig, evtl. beliebig? 4. Kontrolle: Erlaubt das Gebaute dem Individuum, die Umwelt aktiv so zu gestalten, einzurichten und zu nutzen, dass er sich wohl fühlt? Kann man je nach Bedürfnis kommunizieren oder sich zurückziehen? 5. Erholung: Unterstützt oder behindert die Umwelt den Menschen dabei, zur Ruhe zu kommen und Stress abzubauen? Diese fünf leiblich-räumlich erfahrenen architektonischen Dimensionen haben jeweils eine Spannweite zwischen Positivem und Negativem, mit entsprechend positivem oder negativem Einfluss auf Erleben, Wohlbefinden und Gesundheit. Im Folgenden erläutern wir die »Big Five« im Detail, mit ergänzenden Befunden und Überlegungen zum leiblich-räumlichen Erleben. Elemente heilsamer Architektur (z.B. biophile Gestaltung) wirken auf der positiven Seite der »Big Five«. Wie sich zeigt, lässt sich die Zusammenstellung der »Big Five« als Checkliste für unser Befinden in einer Umwelt und für die Erlebenswirkung von Architektur nutzen. Für jede Dimension der »Big Five« lässt sich fragen, welche Elemente und Aspekte der Architektur zu ihr beitragen und ob ihre Wirkung 1 | Evans, McCoy (1998). 2 | Ebd.
8. »Big Five«: Fünf architektonische Bedingungen von Stress und Wohlbefinden
positiv oder negativ ist. Anhand dieser Kriterien können wir jedwede Umwelt beurteilen wie Wohn- und Arbeitsräume, Gebäude-Fassaden, Stadtteile, Plätze oder Parks. Wir können unsere Lebensbereiche überprüfen und nach unseren Möglichkeiten zur Verbesserung beitragen.
1. S timulierung als synästhe tisches ganzheitliches E rleben Das Ausmaß der Stimulation gibt an, wie intensiv wir die Umgebung erleben. »Intensität, Vielfalt, Komplexität, Geheimnis und unser Verständnis der Umwelt und der menschlichen Neuheit« sind nur einige der Designqualitäten, die entscheiden, ob wir die Atmosphäre als stimulierend empfinden.3 Die meisten Menschen mögen ein mittleres moderates Anregungsniveau, also einen Zustand, in dem wir uns weder zu angespannt noch zu gelangweilt fühlen. Wichtig erscheint, dass wir eine Situation gut überblicken können, da sich dieses schnelle Einordnen für den Menschen als gut bzw. das Überleben fördernd erwies und in unser Erbgut als Vorliebe programmiert ist. Auch unsere Vorliebe für Harmonie könnte evolutionär programmiert sein, im Zusammenhang vielleicht mit unserem Sinn für körperliches Gleichgewicht. So bevorzugen wir eine Tendenz zur Harmonisierung. Zum Beispiel ist Symmetrie in Gesicht und Körperbau ein bevorzugtes Merkmal, vielleicht, da diese durch die sexuelle Selektion ein Indikator für Gesundheit ist. Harmonie ist eine direkte Folge der Evolution, da diese symbolhaft für das Leben und Überleben stehen und unser Gehirn Unsicherheit und Zweideutigkeit als Schutz vor Ungewohntem ablehnt. Denn der Verlust von Gleichgewicht ist meistens mit Krankheit oder einem gefährlichen Zustand verbunden.
Sensorische Reizüberflutung Aber nicht nur eine übermäßig komplexe Gestaltung kann zu Überstimulierung führen. Auch sensorische Reize wie laute Geräusche, sehr helles oder flackerndes Licht, üble Gerüche, leuchtende Farben, hohe Dichte oder geringe interpersonelle Distanzen – von der jeweiligen Kultur abhängig − können Reizüberflutung und somit Stress auslösen. Steht einzelnen Bewohnern nicht genügend Freiraum zur Verfügung, fühlen Bewohner sich sozial beengt, kann es schnell zur Reizüberflutung wie durch einen zu hohen Lärmpegel kommen. Ich (KB) denke hier an ein Beispiel aus der Praxis: In einer Jugendeinrichtung mit Wohngruppen mit psychosozialer Problematik kam es übermäßig häufig zu Konflikten und Beschädigungen. Die Bewohner beschrieben ihre Wohnsituation als gestört, unruhig und unsicher. Nachdem ich mir die Ein3 | Ebd.
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richtung angeschaut hatte, ergab sich, dass die extreme Reizüberflutung einer der wesentlichen Stressauslöser war. Mehrere Funktionsbereiche lagen zu dicht nebeneinander und waren nicht räumlich getrennt, so dass es kaum möglich war, sich zu unterhalten. Die Bewohner waren einer ständigen Reizüberflutung durch Lärm ausgesetzt, was dazu führte, dass sich in dieser Einrichtung ständige Konflikte entwickelten. Aber auch die grelle Farbgestaltung wirkte unruhig und laut. Die Futuristen wussten schon, dass Farben auch »laut« sein können und synästhetisch wirken. Eine Studie belegt nun, dass Farben entspannend oder aufregend sein können. »Patricia Valdez und Albert Mehrabian von der University of California in Los Angeles führten 1994 ein überzeugendes Experiment zur emotionsauslösenden Wirkung von Farben durch. Sie testeten insgesamt zehn verschiedene Wellenlängen, wobei sie jeweils Helligkeit und Sättigungsgrad variierten. Über einen breiten Bereich galt: je heller der Farbton, desto wohler fühlten sich die Probanden. Mit zunehmender Intensität und Dunkelheit einer Farbe wuchs dagegen die Anspannung. Und: Erstaunlicherweise sorgten nicht rote, sondern gelbgrüne Wellenlängen für die meiste Aufregung beim Betrachter.«4
Auswirkungen von Lärm Wenn Lärm sich nicht abstellen lässt, führt er nicht nur zum akustischen, sondern auch zum sozialen Stress. Zu den subjektiven Reaktionen auf Lärm gehören: sich belästigt fühlen, Unzufriedenheit, Gereiztheit, Störungen in der Kommunikation und der Aufmerksamkeit, kognitive Störungen bei Kindern im Schulalter sowie Schlafstörungen.5 Wenn die Lärmbelastung tagsüber dauerhaft oberhalb 65 db (A) (Mittelungspegel außen) liegt, ist mit einem erhöhten Risiko für verschiedene Stadien von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu rechnen.6
Mangelnde Stimulierung, Monotonie Eine zu einfach gestaltete Umwelt wie in monotonen Hochhaussiedlungen mit glatten uniformen Fassaden kann ebenso zu Langeweile führen wie auch zu einem Verlust an Intimität, Nähe und Identifikation. Gerade modernistische Stadtkonzepte mit ihrer reduzierten und funktionalen Sprache beschränken die Stadt auf sanitäre, soziale oder verkehrstechnische Probleme. Bei der heutigen global vereinheitlichten Architektur besteht wieder eine solche Gefahr von Entsinnlichung und mangelnder Stimulation. Die Tendenz zur Entsinnlichung dokumentiert sich durch eine anonyme Architektur als Abbild von Finanztransaktionen, durch immer größere Bauvolumina, globalisierte gesichtslose Konsumtempel und Bürogebäude in Form silberner Abstraktionsäs4 | Gaschler (2008), 20; Originalarbeit: Valdez, Mehrabian (1994). 5 | Babisch (2004); Giering (2010). 6 | Babisch (2004); Sörensen et al. (2011).
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thetik. Zu den immer schnelllebigeren Planungen gehören auch der modische Materialeinsatz und die gleichzeitige Wegwerfmentalität. Durch den häufigen Einsatz von Glas, synthetischen Materialien und emaillierten Metallen gehen entscheidende räumliche Qualitäten verloren wie z.B. das – tatsächliche oder vorgestellte – Tasten und damit ein wichtiger Aspekt erlebter Räumlichkeit. Zudem sollte beim Entwurf von Gebäuden auch das Wohl der Tiere berücksichtigt werden. Architekten beachten häufig bei Glasfassaden nicht, dass mehr und mehr Vögel sterben, weil sie mit voller Wucht gegen Glasfassaden fliegen. »Es sind wohl über 100 Millionen pro Jahr, die durch den Aufprall mit Glasfassaden sterben.« 7 »Wirksame Lösungen sind beliebige Muster oder Aufkleber, die die Glasscheiben für Vögel sichtbar machen.«8 Immer mehr Gebäude mit dekorativen Verkleidungen aus extrem dünnem vor die Wärmedämmung gehängten Natursteinmaterial finden sich im Stadtbild. Oberflächendesign und innere Funktionsweise bilden vielfach keine Einheit mehr. Viele moderne Baumaterialien, die nur unschön altern können, beruhen auf der unökologischen Wegwerfmentalität. Beispielhaft hierfür sind die heute massenhaft verwendeten Polystyrol-Wärmedämmverbundsysteme, die nachträglich an Außenfassaden angebracht werden. Die schnelle Verrottung durch Algen sowie die Beschädigung durch Spechte, die Löcher in die Fassaden klopfen, bewirkt, dass die Materialien kaum eine Generation halten und dann als Sondermüll entsorgt werden müssen, was eine ökologische Katastrophe bedeutet. Dieses Beispiel dokumentiert, wie sehr Nachhaltigkeit und Ökologie auch etwas mit einer überlegt ästhetischen Gestaltung zu tun haben und die Lebensqualität fördern können. Solche aller Sinnlichkeit beraubte Bauweise bezeichnet der finnische Architekturtheoretiker Juhani Pallasmaa als »nihilistische Architektur«, in der, infolge der verarmten Wahrnehmung, auch kollektive Bedeutungszusammenhänge nicht mehr lesbar seien.9 Pallasmaa interpretiert »die Unmenschlichkeit zeitgenössischer Architektur« als Konsequenz einer »Vernachlässigung des Körpers und der Sinne«.10 Die glatten uniformen Oberflächen der Häuser lassen die Sinne abstumpfen, wie auch die Uniformität der Architektur einen Verlust an Intimität, Nähe und Identifikation verursachen kann.
7 | Nabu (2018). 8 | Ebd. 9 | Pallasmaa (2003), 66. 10 | Pallasmaa (2005), 17.
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Reizarme und schlechte Gestaltung kann Vandalismus provozieren Seither belegen nun viele Studien, wie eine als »reizarm und häßlich« wahrgenommene Umgebung aggressives Verhalten und Beschädigungen begünstigen kann.11 Gebäude, die billig, achtlos und rein funktional gebaut wurden, erzeugen den Eindruck, man müsse dann auch nicht pfleglich mit ihnen umgehen. Zum Beispiel »zeigt die Beobachtung, dass Vandalismus in Schulen häufiger auftritt, wenn diese lieb- und einfallslos gestaltet sind«.12 Die Empfehlung liegt auf der Hand: Öffentliche Umwelten und Einrichtungen sollten ein mittleres Komplexitätsniveau und damit auch das passende Reizvolumen besitzen.«13 Hierzu möchten wir eine kleine Anekdote von Dr. Martin Voss, dem Leiter der psychiatrischen Station Soteria in Berlin, erzählen. Diese Krankenhausstation hat eine sehr schöne, wertschätzende und nicht stigmatisierende Atmosphäre (siehe auch Bild 7: Soteria, Atmosphäre als Therapeutikum). Dr. Voss hatte einen neuen Patienten aufgenommen, in dessen Akte stand, dass er zuletzt mit Pudding um sich herum geschmissen hätte. Scherzhaft sagte Dr. Voss zu dem Patienten: »Hier im Soteria dürfen sie nicht Pudding an die Wand schmeißen«. Der Patient antwortete prompt: »Nein, hier ist es viel zu schön«.
Ordnung und gleichzeitige Komplexität Nicht nur bei Fassaden, auch bei Straßenzügen wird eine gewisse Ordnung bei gleichzeitiger Komplexität bevorzugt. Eine Studie von Stamps 199414 beschäftigte sich mit der Beurteilung von Straßenzügen. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Gebäude bevorzugt werden, »die sich in den bestehenden Kontext einfügen«, sowohl in ihrem Maßstab als auch in ihrem Charakter.15 Das heißt wir bevorzugen eine gewisse Komplexität bei einer gleichzeitigen Ordnung, also weder zu viel monotone Ordnung noch zu viel chaotische Komplexität. Auch das Verhalten (Aufforderungscharakter) passt sich der Umgebung an. In einer vielschichtigen komplexen Umgebung wird man eher zum Flanieren angeregt, als in einer monotonen einförmigen Gegend, die zudem von Brüchen gekennzeichnet ist. Daher tragen vielfältige Geschäfte in den Erdgeschossetagen wesentlich zum urbanen Flair mit bei. Besonders idyllisch erscheint ein Stadtbild, das eine komplexe Vielfalt (viele Aha-Effekte) in der Einheit ermöglicht, wie viele gut erhaltene historische Stadtkerne. Europäische Stadtkerne bieten einen als angenehm empfundenen Wechsel zwischen Anregung und Beruhigung. Neben der komplexen Vielfalt historischer Altstadtkerne ist ein weiteres positives Kennzeichen die Dauerhaftigkeit und Kontinuität, welche die Ge11 | Kube, Schuster (1985); vgl. Flade (2008), 116. 12 | Klockhaus, Habermann-Morbey (1984), 16. 13 | Flade (2008), 116f. 14 | Stamps (1994). 15 | Richter (2009), 105.
8. »Big Five«: Fünf architektonische Bedingungen von Stress und Wohlbefinden
bäude symbolisieren und so einen annehmbaren Aspekt des Alterns deutlich machen. So kann Architektur mit zunehmendem Alter reizvoller werden. Ein altes Gebäude mag nach rein ästhetischen Begriffen vielleicht relativ mittelmäßig sein. Aber wenn es alt genug ist, kann es durch die entspannende Kraft seiner Alterssymbolik und durch seine Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis Beruhigungsgefühle auslösen, die einer ästhetischen Reaktion sehr nahe kommen. Als Ergebnis davon findet man alte Häuser schön, die das Glück hatten zu überdauern. »Wenn sich jedoch innere ästhetische Qualität mit dem Alter verbindet, wird durch dieses symbolische Element eine kräftige Verstärkung erreicht«, wie bei der Kathedrale von Chartres.16 Sie stellt eine vollkommene Synthese von Alter und Schönheit dar. Das Erleben gestalteter Umwelt bedeutet immer auch synästhetisches Erleben von Atmosphäre. Es sind die verschiedenen Atmosphären, die akustische Atmosphäre, die Atmosphäre des Lichts, die der Farbe und der Materialien, die unsere Sinnlichkeit in einer Umgebung ansprechen und die zur Stimulierung beitragen. Das Atmosphärische ist wesentlich für die Wirkung etwa einer Stadt auf das Erleben, da es umfassende ästhetische Reaktionen zu unterstützen vermag und damit das Empfinden und Verhalten der Menschen fundamental beeinflussen kann.
2. A ffordanz : R aumgestaltung als E inl adung Ein weiterer Faktor, der unser Befinden maßgeblich bestimmt, ist die so genannte Affordanz, also »Angebote« oder »Aufforderungen« der Umwelt. Die Affordanz sagt aus, zu welchen Reaktionen und Handlungen die Umwelt uns animiert. Fühlen wir uns beispielsweise in einem Raum zu Kommunikation und Aktivität eingeladen oder verspüren wir eher eine abweisende und sterile Atmosphäre? Die Grundidee hierbei ist: Wir nehmen Gegenstände und Umwelteigenschaften nicht als neutral und gleichgültig wahr, sondern im Lichte von Handlungs- und für uns wichtigen Ereignismöglichkeiten, die sie uns gewissermaßen durch ihre Gegenwart anbieten (vgl. Kapitel Affordanz: wozu regt uns die Umwelt an?). Der Psychologe Gibson drückte dies so aus, dass eine Bank dem Ermüdeten förmlich »sitz auf mir!« zuruft. Architektur enthält viele solche »Aufforderungen«,17 die implizit Antizipationen von Handlungen – wie das Hinsetzen auf eine Bank − beinhalten.18 Hierzu gehört auch, dass eine wohnliche Atmosphäre mit bequemen und schönen Möbeln in Gesundheitsbauten, Seniorenheimen und Arztpraxen das 16 | Smith (1981), 167. 17 | Gibson (1966, 1979). 18 | Hoffmann (2009); ; Mechsner (2012).
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Wohlbefinden fördert und die Menschen zur Entspannung bewegt. So kann ein Sessel, der etwas höher ist als üblich, auf ältere Menschen besonders einladend wirken, da sie keine Angst mehr haben müssen, aus einem zu tiefen Sessel nicht mehr hochzukommen. Eine begrünte Straße mit Bänken wird ebenso von älteren Menschen eher als Einladung betrachtet, hier spazieren zu gehen, als eine Straße ohne Bänke. Schlechte Affordanzeigenschaften und Fehlinformationen lassen den Benutzer im Unklaren, wie etwas im Raum funktioniert, wie beispielsweise Türen, bei denen nicht sofort ersichtlich ist, ob sie nach außen oder innen aufschwingen. Eine isolierte Stufe im Raum, die man nicht erwartet, ist nicht affordanzgerecht und wird immer wieder für Stolperunfälle sorgen.19 Oder auch Gebäude, bei denen nicht ersichtlich ist, wo sich die Eingangstür befindet und der Besucher lange suchen muss.
Affordanzeigenschaften fördern soziale Aneignung Besonders unangenehm wirken verlassene Orte, deren Kennzeichen eigentlich lebendige soziale Aktivitäten sind, die jedoch nicht oder nicht mehr funktionieren, etwa Kinderspielplätze aus überdesigntem poliertem Stahl. Die Leere und auch Stille zeigen auf, dass hier etwas nicht stimmig ist. Der Phänomenologe Jürgen Hasse spricht von öden Orten. »Öde sind von Menschen verlassene Orte.«20 Das Ausbleiben von Lebendigkeit an urbanen Orten lässt eine Atmosphäre der Verlorenheit und oft eine beklemmende Stille entstehen. Hochhausareale mit halböffentlichen Plätzen, die als verkommene Restflächen bleiben, strahlen meist eine solch unangenehme Atmosphäre der Öde und des Unlebendigen aus. Grünflächen oder Spielplätze wirken nicht durch ihr bloßes Vorhandensein, sondern erst durch ihre konkrete Aneignung und Nutzung und können erst so ihre Zwecke wie Entspannung, Erholung und Gesundheitsförderung erfüllen. Affordanzgerechte Gestaltung ist daher immer ein Zeichen von Lebensqualität.
Schlechte Affordanzeigenschaften führen zur Frustration und Verärgerung Tatsächlich belegen auch hier Studien, dass sehr schlechte Affordanzeigenschaften dazu führen, dass die Menschen sich frustriert, verärgert und sogar hoffnungslos oder feindselig fühlen.21 Schlechte Affordanz kann auch Verwahrlosung und Zerstörung begünstigen. Ein einziges kaputtes Fenster kann schon zu weiterer Zerstörung einladen (Broken-Windows-Theorie), und ein angehäufter Sperrmüllhaufen vervielfacht sich. Wenn Verantwortliche auf Zerstörungen nicht schnell genug reagieren, kann die Vernachlässigung bin19 | Norman (1989). 20 | Hasse (2017), 166. 21 | Norman (1989), 88.
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nen kürzester Zeit weitere negative Folgewirkungen mit sich bringen.22 Soziale Kommunikation oder auch soziale Distanz können über die Gestaltung gelenkt werden. Stühle um einen runden Tisch fördern die Kommunikation und sind in der Familie oder in der Mensa sinnvoll. In einer Bibliothek sollten die Stühle und Tische eher konzentrierte Einzelarbeit fördern. Schon »in den 70er Jahren konnten Braun und Valins eindrucksvoll in verschiedenen Untersuchungen den Einfluss der Wohngestaltung auf soziale Faktoren nachweisen«.23 Studenten, die auf linearen Korridoren in Einzelzimmern wohnten, zeigten im Vergleich zu Studenten in familienähnlich zentral angelegten Suiten nach wenigen Wochen ein deutlich verschiedenes Sozialverhalten: Bei den Korridor-Anwohnern war nicht nur ausgeprägtes Stresserleben zu beobachten, sie waren auch »sozial defensiv, interaktionsscheu und misstrauisch«.24
Großzügige Einladungen baulich gestalten – insbesondere im öffentlichen Raum Raumgestaltung als Einladung bedeutet auch, mit der Ästhetik des Großzügigen zu spielen. Viele Details und Aspekte wie hochwertige Materialien, einladende Eingänge, schöne Türgriffe, individuelles Design, eine großzügige und atmende Raumgestaltung machen die Qualität der Räume aus. Großzügige Raumqualitäten drücken zugleich auch eine Wertschätzung für den Nutzer aus. Gute Gestaltung bildet ab, wer wir sind und was uns gebührt. Gutes Design ist damit auch schon Ausdruck einer Wertschätzung und der Würde des Menschen. Schon 1964 dokumentierte Wolf Jobst Siedler sehr eindrücklich den mangelnden Einladungscharakter moderner Architektur in seinem Buch Die gemordete Stadt25. Mit seinen Vergleichen von Photographien moderner Bauten mit denen früherer Bauten, wie z.B. aus dem Historismus, zeigte er die Sprachlosigkeit und Unleserlichkeit moderner Bauten auf, die zu dem Gefühl beitragen können, in der eigenen Stadt nicht willkommen zu sein, hier keine Heimat zu haben. Heute, ein halbes Jahrhundert später, arbeiten Christoph Mäckler und Wolfgang Sonne vom Dortmunder Institut für Stadtbaukunst mit ähnlichen Methoden der Gegenüberstellung von positiven und negativen Stadträumen. Sie zeigen beispielsweise die Abstandsflächen heutiger Wohnblocks, die weder öffentlich noch privat sind. Diese Flächen bilden meist leere ungenutzte Brachflächen ohne jegliche Funktion und wirken damit als antiurbane Räume. Arkadengänge ohne Geschäftszeilen mit leeren abweisenden Wandflächen erzeugen wiederum leere Räume. Das heißt, um urbane Räume 22 | Adli (2017), 159. 23 | Baum, Valins (1977); vgl. Richter (2009), 58. 24 | Ebd. 25 | Siedler et al. (1964).
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zu schaffen, benötigen wir Fassaden, die sich zur Straße öffnen, repräsentative Hauseingänge, Läden, Geschäfte, Fenster. Das Dortmunder Institut für Stadtbaukunst hat eine Reihe von Publikationen herausgegeben, die sich damit beschäftigen, wie man überhaupt wieder Fassaden, Hauseingänge, Eckgebäude, bestimmte Haustypen und Plätze herstellt. Mäckler und Sonne gehen auch davon aus, dass das Wissen um bestimmte Typologien den heutigen Städtebau bereichern kann. Nur wenn Fassaden sich dem Stadtraum zuwenden, sind Stadträume urban und lebenswert. Stadträume bilden eine wichtige Ressource der Stadt. Umso dramatischer ist diese Situation, wenn Architekten und Landschaftsplaner sich dem Stadtraum verweigern. In diesem Sinne fordert der Landschaftsarchitekt Günter Vogt, dass wir »wieder eine neue Haltung zur Stadt entwickeln, zum öffentlichen Raum«.26 »Die Verantwortung für einen öffentlichen Raum, für einen politischen Raum, wahrzunehmen«, erachtet Vogt in der heutigen Zeit als zentral.27
3. K ohärenz : O rientierung ist ein grundlegendes B edürfnis Kohärenz bedeutet den Zusammenhalt des Ganzen. »Der Eindruck ist kohärent, wenn die einzelnen Teile miteinander zusammenhängen und ein gemeinsames Ganzes ergeben.«28 »Desorientierung, Desorganisation und Mehrdeutigkeit« verhindern die Kohärenz von Räumen.29 In kohärenten Stadtteilen weisen beispielsweise wiederkehrende Elemente auf, die ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Dadurch findet man sich zurecht, und die Orientierung ist gegeben. Das Gegenteil ist die Zusammenhanglosigkeit von zersiedelten Landschaften. Immer wieder ignorieren Architekten und Stadtplaner die Relevanz der architektonischen Kohärenz der Stadt. Wird die Kohärenz in der städtebaulichen Planung missachtet, kann es geschehen, dass man sich in diesen ohne Zusammenhang wechselnden und unterbrochenen Umgebungen nicht zurechtfindet. Hierdurch fühlt man sich gestresst und unwohl – eine Erkenntnis, die Kevin Lynch bereits in den 60er Jahren mit seinen morphologischen Untersuchungen in seinem Buch The Image of the City (1968)30 gewonnen hatte. Die Einprägsamkeit und Lesbarkeit einer Stadt sei entscheidend für das Wohlbefinden. Dabei sind Städte und Stadtareale mit historischer Struktur und Physiognomie den meisten Menschen angenehmer als moderne Städte, die oft als 26 | Vogt et al. (2015), 61. 27 | Ebd., 100. 28 | Flade (2008), 114. 29 | Evans, McCoy (1998), 87. 30 | Lynch (1968).
8. »Big Five«: Fünf architektonische Bedingungen von Stress und Wohlbefinden
gesichtslos empfunden werden und in denen man sich darin verloren und anonym vorkommt. Zur Eingliederung von Eindrücken gehören auch die Maßstäblichkeit von Plätzen, die Helligkeit von Räumen und die Fluchtmöglichkeit in Gebäuden. Wird dieses Bedürfnis nach Sicherheit gestört, kommt es zu Stresssituationen. Peter Smith legt nahe, »dass die Maße der alten italienischen Plätze von der Entfernung bestimmt sind, in der man ein Gesicht noch erkennen kann. Dies ist eine grundlegende Bestimmungsgröße, die vom Bedürfnis nach Sicherheit und von der Sehkraft des Gehirns gemeinsam festgelegt wurde.«31 Eine gute Orientierung ist auch innerhalb von Gebäuden wichtig. Finden sich die Benutzer in Gebäuden nicht zurecht, entsteht Stress. Eine Beschilderung oder auch Farbakzente können eine unterstützende Funktion als Notbehelf haben, sind aber in sehr desorientierenden Räumen unbrauchbar.
4. K ontrolle : die B edeutung von S elbstbestimmung und S icherheit Bei der Dimension Kontrolle geht es um die Möglichkeit, die Umgebung selbst flexibel zu verändern. Kann man etwa im Hotel oder im Büro nicht mehr selbst das Fenster öffnen, um Temperatur, Luftzufuhr und Belichtung durch das Fenster zu bestimmen, wird man sich sehr kontrolliert und eingeengt fühlen. Schon das Nicht-selbst-bestimmen führt zu erhöhten Stresswerten.32 Wie unangenehm und stressig es sein kann, ein Fenster nicht öffnen zu können, kann ich (KB) aus eigener Erfahrung bestätigen. Als ich einmal in einem Berliner Hotel morgens noch an einem Vortrag arbeiten wollte und mir die Zimmerluft als sehr stickig erschien, ich aber die Fenster nicht öffnen konnte, ging ich zur Rezeption mit der Bitte, mir doch die Fenster zu öffnen. Trotz der Bitte kam niemand, um das Problem zu lösen. Am Ende verstärkte sich mein unwohles Gefühl, in stickiger Luft arbeiten zu müssen. Dasselbe gilt, wenn es keine Möglichkeiten gibt, sich zurückzuziehen, sei es im Büro oder in der eigenen Wohnung.
Kontrollverlust erzeugt sozialen Stress Soziale Dichte in Großstädten mit mangelnden Rückzugsmöglichkeiten erzeugt sozialen Stress. Auch wenn menschlicher Lärm in die eigene Wohnung eindringt, uns dort stört, sich aber nicht abstellen lässt, wird Lärm nicht nur zum akustischen, sondern auch zum sozialen Stress. Denn »Privatheit« oder soziale Interaktion nach eigenem Geschmack gestalten zu können, trägt stark zum Kontrollgefühl bei. Großraumbüros lassen diese eigenen Kontrollmöglichkeiten 31 | Smith (1981), 137. 32 | Evans, McCoy (1998), 88.
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nicht zu. Zur territorialen Kontrolle gehört auch, einen guten Überblick über den Raum zu haben, dabei aber selbst geschützt zu sein, etwa in einer Nische oder mit einer Wand im Rücken, oder vom Schreibtisch aus eine gute Sicht in den Raum und auf ankommende Besucher zu haben. Dieses Bestreben kann man in Restaurants beobachten. »Die Gäste bevorzugen Plätze, an denen sie sich mit dem Rücken zur Wand setzen und Ausblick auf den ganzen Raum haben. Tische, die sich frei in der Mitte des Raumes befinden, werden zuletzt besetzt.«33 Zu große Fensterfronten zur Straße können, trotz des Bedürfnisses nach Licht und einem schönen Ausblick, für die Nutzer allzu öffentlich und somit unangenehm sein, wenn etwa Nachbarn oder Passanten einem beim Essen zuschauen können. Gerade im Schlafbereich ist es wichtig, dass man sich im Bett beispielsweise durch eine Wand an der Kopfseite geschützt fühlt und einen Blick auf die Tür hat. Einige Regeln der Feng-Shui-Lehre beruhen darauf, dass wir uns im Rücken gerne geschützt fühlen, was auf ein ureigenes leibliches Bedürfnis nach territorialer Kontrolle zurückzuführen ist. Eine weitere Feng-Shui-Regel, die ebenfalls mit leiblicher Kontrolle zusammenhängt, betrifft die richtige Mischung aus räumlichen Intimitätshierarchien: Wir benötigen Zimmer, in denen wir völlig ungestört sein können, wie das Schlafzimmer, aber auch Räume, die den zwanglosen Austausch mit den Mitbewohnern fördern, und schließlich auch solche, in denen man sich nach außen hin öffnet.
Dunkle Ecken, die Angst machen Besonders unsicher und gestresst fühlen sich viele Menschen in schlecht beleuchteten Gegenden, wie z.B. in dunklen Tiefgaragen, Unterführungen, Parkhäusern, Hafen- und Bahnhofsarealen. An diesen Angstorten hat man den Eindruck, die Umgebung nicht überblicken zu können, nicht unter Kontrolle zu haben. »Insbesondere das Genre des Krimis nutzt den von der Identitätslosigkeit der Parkhäuser ausgehenden sterilen Ortscharakter gern und oft als atmosphärischen Rahmen von Gewaltdarstellungen.«34 Auch Parkhäuser erzeugen unangenehme Gefühle und Stress, schon allein wegen der dunklen Atmosphäre, der niedrigen, drückenden Decken, des Mangels an räumlicher Identität; vor allem sind es Orte ohne »Vitalqualitäten«, wie sie ansonsten Rathäuser, Geschäfte oder Bibliotheken aufweisen.35 Insbesondere ältere Parkhäuser »aus der Zeit der 1960er bis [19]80er werden überwiegend negativ und problemsensibel erlebt«.36 Auch enge tunnelartige Flure können ähnlich wie die typischen Unterführungen Angst einflößen und Unsicherheit auslösen. Wir spüren die Bedrohung leiblich und haben zugleich den Eindruck, ihr nicht ausweichen zu können. 33 | Hellbrück, Fischer (1999); vgl. Flade (2008), 153. 34 | Hasse (2007), 59. 35 | Ebd. 36 | Ebd., 65.
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Öffentliche Unordnung erzeugt Unsicherheitsgefühle Unsicherheitsgefühle entstehen auch durch Anzeichen öffentlicher Unordnung wie verwahrloste, leerstehende und heruntergekommene Gebäude, Schmutz und Müll, besprühte Hauswände, verfallende Außenfassaden und eingeschlagene Fensterscheiben. Aber auch eine deutliche soziale Problematik, wie die stete Präsenz von Betrunkenen oder eine Drogenszene, sind Zeichen einer nicht funktionierenden Umwelt.37 Verwahrloste Umwelten senden die Botschaft aus, dass es niemanden gibt, der sich für die Erhaltung verantwortlich fühlt. Solche eigentlich zu pflegenden Umwelten wirken aufgegeben, sich selbst überlassen und ohne Kontrolle durch andere.38
5. E rholung : R eduzierung von M üdigkeit und S tress Architektur und Design lassen sich gezielt einsetzen, um therapeutisch zu wirken. Während schlecht gebaute und vernachlässigte Umwelt Stress erzeugen kann, werden mit geeigneter menschenfreundlicher Gestaltung Stress und kognitive Müdigkeit abgeschwächt und eingeschränkt. Erholsame Designelemente laden zu Entspannung und Rückzug ein und stellen oft direkt oder indirekt einen Bezug zur Natur her.39 Biophile Gestaltung trägt wesentlich zur Erholung bei.
Aussicht Verschiedene gestalterische Mittel für erholsames Design haben wir schon vorgestellt: die Naturumgebung, der Blick in die Natur, offene Weite und die Aussicht. Wenn in dicht besiedelten Städten schöne Ausblicke aufgrund dichter Bebauung nicht vorhanden sind, gibt es einfache Möglichkeiten, Stadträume bzw. Innenhöfe biophiler zu gestalten: Fassaden, Balkone und Fensterbänke können begrünt werden. »Ein Blick auf eine mit Pflanzen bewachsene Hauswand mag zwar nicht an das Ideal des Baumblicks heranreichen, ist aber noch besser als die Aussicht auf nackte Beton- und Ziegelmauern.«40
Anordnung der Räume: Intimitätshierarchien Die Anordnung der Räume hat großen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Wir benötigen eine angemessene und wohltuende Anordnung räumlicher Intimitätshierarchien: Wir brauchen Zimmer, in denen wir völlig ungestört sein kön37 | Flade (2008), 151; Perkins et al. (1993). 38 | Perkins et al.(1993). 39 | Evans, McCoy (1998), 91. 40 | Arvay (2018).
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nen, wie das Schlafzimmer, das Bad, aber auch Räume wie das Wohnzimmer, die den zwanglosen Austausch mit den Mitbewohnern fördern, und schließlich auch solche, in denen man sich nach außen hin öffnet. Eine Wohnung hat normalerweise unterschiedliche Privatheitsgradienten. Das bedeutet, dass mit fortschreitender Entfernung vom Eingangsbereich die Privatheit in der Wohnung wächst.41 Die Privatsphäre ermöglicht es, sich zu regenerieren und den nötigen Abstand zu Ereignissen zu gewinnen, um diese zu verarbeiten. Die unterschiedlichen räumlichen Intimitätshierarchien für soziale Aktivität, aber auch für privaten Rückzug sind entscheidend, um sowohl die soziale Dichte als auch den sozialen Stress in Städten zu mindern.
Rückzugsorte Besonders erholsam sind auch die Rückzugsorte, Orte, die völlig oder doch weitgehend frei sind von negativen Umwelteinflüssen (Lärm, Hitze, Dichte) und entfernt vom Hauptstrom der Aktivitäten. Die Einrichtung von Rückzugsorten ist auch eines der 14 gestalterischen Elemente der biophilen Architektur. Insbesondere in dichten Städten sind Rückzugsorte wichtig, da sie einige der negativen Auswirkungen von Wohn-Crowding und Lärm puffern.42
Unwillkürliche Aufmerksamkeit und Faszination Sehr fokussierte oder forcierte Aufmerksamkeit kann auf die Dauer geistige Ermüdung verursachen. Gerade bei der Computerarbeit oder beim ständigen Schauen auf das Smartphone ermüden die Augen schnell durch den fixierten Blick. Infolgedessen können müde, trockene und brennende Augen, Unkonzentriertheit, Verspannung und Kopfschmerzen auftreten. Die Wiederherstellung oder Erneuerung der kognitiven Fähigkeiten wird durch mehrere Arten von Design-Eigenschaften gefördert. Unwillkürliche Aufmerksamkeit oder Faszination erleichtern die Erholung von geistiger Erschöpfung.43 Faszination kann gestaltet werden durch Fensterausblicke, brennende Feuerplätze, verschiedene Displays wie ein Aquarium und sich bewegendes Wasser. Notfalls kann auch eine künstliche Naturgestaltung wirken: Beispielsweise können in Geschäften im dunklen, tageslichtlosen U-Bahnhof bereich Natur-Lichtbilder die Atmosphäre erheblich angenehmer machen.
41 | Flade (2006), 23. 42 | Wachs, Gruen (1982). 43 | Kaplan, Kaplan (1989).
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In- und Outdoor-Begrünung Direkte Berührung mit Natur sowie Ausblicke in die Natur lassen uns erholen.44 Es gibt so viele gute Gründe, Natur um sich herum zu haben: Wir leben gesünder und sind glücklicher, stressresistenter, produktiver und kreativer. Kein Wunder, dass wir uns dann auch entspannter und zu Hause fühlen, wenn wir uns in einer grünen Umgebung befinden. All das zeigt, wie wichtig es ist, Städte immer grüner werden zu lassen. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Gärten, Parks, grüne Dachterrassen, begrünte Innenhöfe, vertikale Gärten, Fassadenbegrünungen mit Kletterpflanzen wie Efeu (siehe auch: Zukunftstrend: Biophile Architektur, Vertikale Gärten). Mittels biophilem Design kann auf mannigfache Weise eine Verbindung zur Natur hergestellt werden. Zur Erholung können allerdings auch viele Annehmlichkeiten wie Bänke, Wasserbrunnen helfen. Auch Kunstwerke, die zum Beispiel Landschaften darstellen, Kamine, Naturvideos und Aquarien können eine erholsame Wirkung ausstrahlen. In Kindergärten, Schulen, Gesundheitsbauten zeigt sich überdies ein therapeutischer Effekt. In Büros kann effektiver und produktiver gearbeitet werden. Die Gestaltung von grünen Freiräumen hat jedoch nicht nur stressreduzierende und ästhetische Bedeutung, sie ist im Zuge des Klimawandels zur Notwendigkeit geworden.
Helle Räume mit viel Tageslicht tun der Psyche gut Am Tage benötigen wir möglichst viel natürliches und helles Tageslicht. Etliche Studien zeigen, dass helle Räume mit viel Morgenlicht sich positiv auf die Psyche auswirken, da das Morgenlicht die Produktion von Melatonin hemmt und die Aktivität des Stimmungsaufhellers und Motivators Serotonin stimuliert. Unterschiedliche Tageslichtsituationen in Großraumbüros wurden miteinander verglichen, da sich hier nur ein Teil der Plätze in unmittelbarer Nähe zum Fenster befindet. »2007 etwa befragten Forscher von der Gazi University in Ankara rund 100 Angestellte in zwei Großraumbüros. Wer weiter weg vom Fenster saß, äußerste sich deutlicher unzufriedener und schätzte die räumlichen Gegebenheiten insgesamt als schlechter ein.«45 Die meisten Menschen verbringen einen Großteil des Tages in Gebäuden mit künstlichem Licht. Das führt im Herbst und Winter – wenn nur wenig Tageslicht getankt werden kann – oft zu Müdigkeit und Konzentrationsmangel. Dabei erhöht das optimale Ausnutzen des Tageslichts die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz. Kunstlicht ist außerdem immer gleichmäßig. Tageslicht dagegen wirkt durch die verschiedenen Helligkeitsstufen unterschiedlich stimulierend. Zur Erholung gehört auch die richtige Beleuchtung am Abend. Die Belichtung mit künstlichem Kaltlicht ist ungemütlich und auch zu einseitig, da es in 44 | Ulrich (1993); Hartig, Evans (1993); Kaplan, Kaplan (1989). 45 | Gaschler (2008), 82.
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den Abendstunden die Produktion des Schlafhormons Melatonin stoppt und damit zu Einschlafschwierigkeiten führt. Warme Lampen mit gelben Lichtanteilen sollten zumindest abends eine gemütlichere Atmosphäre schaffen und beruhigen.
Sichtbares urbanes Leben und gelungene Freiräume Urbanes lebendiges Leben trägt zu Wohlbefinden und Erholung in Städten bei. Belebte Restaurants, Cafés, begrünte und verkehrsberuhigte Räume sind sowohl für passive wie aktive Erholung von wesentlicher Bedeutung.
B e wertung eines G ebäudes anhand der »B ig F ive « Wie bereits oben gesagt, eignen sich die Kategorien der »Big Five« als gut zu handhabende Checkliste, mit der sich Umwelten auf ihre Menschen- und Lebensfreundlichkeit überprüfen lassen und damit auf ihr krank machendes Stresspotenzial beziehungsweise ihre Fähigkeit, Stress reduzierend und damit wohltuend oder gar heilsam zu wirken. Wir zeigen dies kurz und skizzenhaft am Beispiel des Bürohauses Meandris in Frankfurt.
Bild 36: Bürohaus Meandris in der Europa-Allee in Frankfurt a.M.
• Minimale Stimulierung: Die dunkel und monoton erscheinende Rasterfassade hat wenig stimulierende Eigenschaften. Auch die Fußgängerzone und der Platz wirken monoton und öde. Der gläserne Bau verweigert durch Spiegelung jegliche Auskunft. Dieser glatte Rasterbau ignoriert völlig das leibliche Erleben.
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• Schlechte Affordanz: Einladende Eingänge und Zuwege fehlen. Durch die fehlenden Sitzplätze, Geschäfte und Erholungszonen besitzt der Stadtraum keine urbane Lebensqualität. • Keine Kohärenz: Städtebaulich fügt sich das Gebäude zwar in eine Blockbebauung, aber dieses Gebäude könnte überall stehen und weist keine identitätstiftenden oder charakteristischen Merkmale des Ortes auf. Die glatten und monotonen Glasfassaden lassen nicht erkennen, wo sich die Eingänge der Häuser befinden. Orientierung fällt hier schwer. • Keine Kontrolle: Aufgrund des Fotos kann weder eine positive noch negative Aussage zur Kontrolle gemacht werden. • Keine Erholung: In der unmittelbaren Umgebung sind keine erholsamen Grünflächen, Rückzugsmöglichkeiten oder urbane Straßencafés zu sehen.
I ntervie w mit P rof. C hristoph M äckler und P rof. W olfgang S onne (S tadtbaukunst) Das Deutsche Institut für Stadtbaukunst, das Sie 2007 gegründet haben, hat heute einen wesentlichen Einfluss auf die städtebaulichen und politischen Debatten. Warum haben Sie »Stadtbaukunst« im Namen Ihres Institutes? W. Sonne: Wir haben nicht die üblichen Begriffe wie Städtebau oder Stadtentwicklung gewählt, bei denen jeder alles oder nichts verstehen kann. Wir haben den Begriff Stadtbaukunst gewählt, weil dieser Begriff etwas markanter ist. Beim Begriff der Kunst ist für jeden offensichtlich, dass es in der Stadt auch um Gestaltung geht, und das ist auch unser zentrales Anliegen. Aber das andere Entscheidende ist, dass die Gestaltung nicht unabhängig von den anderen Aufgaben der Stadt zu betrachten ist, also von all den anderen Disziplinen, die daran beteiligt sein müssen und von all den praktischen Dingen, die eine Stadt leisten muss, wie den politischen, den ökonomischen, den gesellschaftlichen, den technischen, den verkehrstechnischen und kulturellen Aspekten usw. Uns ist wichtig, dass Stadtbaukunst den Fokus auf die Gestalt der Stadt und ihrer öffentlichen Räume legt, aber nicht in dem Sinne, dass das Gestalterische die verrückte geniale Idee eines Architekten ist, sondern dass sie in enger Beziehung zu diesen vielfältigen Aufgaben steht. Diese Verbindung des Gestalterischen zu den vielfältigen Aufgaben der Stadt ist das Wichtige. Und da ist Stadtbaukunst ein erfolgversprechendes Konzept aus dem frühen 20. Jahrhundert. Warum ist Ihnen diese Verbindung von Gestaltung und unterschiedlichsten Disziplinen so wichtig? C. Mäckler: Vielleicht müssen wir den Ausgangspunkt dazu sehen. Wir haben ja die Situation, dass viele unterschiedliche Professionen über Stadtplanung
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reden. Und das Spannende hierbei ist, dass meist über Stadtplanung geredet wird und nicht über Städtebau. Das heißt, der Architekturpart fällt völlig heraus. Wir kümmern uns um soziologische und verkehrstechnische Fragen und um Bürgerbeteiligung und Bebauungspläne. Wir machen alle möglichen Studien zur Demoskopie oder ich weiß nicht was. Aber es gibt keine Institution, die sich auch um den Architekturpart kümmert. Ich denke, auch das hat vielleicht dazu geführt, dass das Deutsche Institut für Stadtbaukunst derart schnell ins Laufen gekommen ist, weil unser Institut sich eben mit dem Städtebau auseinandersetzt. Wenn Sie 100 Jahre zurückschauen, dann finden Sie Städtebauer wie Cornelius Gurlitt, Camillo Sitte, Josef Stübben, die über Städtebau geschrieben haben. Und diese sind nicht nur theoretische Bücher. Es sind klare exakte Anweisungen, wie Stadt zu bauen ist. Alle diese Leute sind Architekten gewesen. Den Beruf des Planers gab es früher nicht. Wir gehen jetzt aber nicht daher und sagen, alle Planer und alle Soziologen, die ausgebildet wurden, wollen wir nicht mehr haben, und nun übernehmen alles die Architekten, sondern wir versuchen, mit dem Institut die verschiedenen Professionen wieder zusammenzubringen. Wie versuchen Sie, diese unterschiedlichen Disziplinen zusammenzubringen? W. Sonne: Wir machen Forschung, wir machen Lehre, wir veranstalten Konferenzen, wir publizieren. Die zentrale Veranstaltung, mit der wir regelmäßig in der Öffentlichkeit stehen, ist die jährliche Düsseldorfer Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt. Wir versuchen, die verschiedenen Disziplinen wieder zusammenzubringen. Zur Konferenz der Lebensfähigkeit und Schönheit der Stadt laden wir die Vertreter unterschiedlicher Disziplinen ein, wie Architekten, Stadtplaner, Verkehrsplaner, Kunsthistoriker und Soziologen. Wir versuchen, nicht nur bestimmte Zünfte von Planern einzuladen, sondern auch Leute des öffentlichen Kulturlebens, also laden wir auch Schriftsteller, Musiker und Schauspieler ein. Wir versuchen klar zu machen, dass Stadtbaukunst und Stadtentwicklung nicht nur ein Thema für irgendwelche Fachleute, sondern auch für die Öffentlichkeit von Interesse ist. Außerdem laden wir Politiker, Kommunalvertreter und Planungsdezernenten oder auch Wirtschaftsvertreter und die Wohnungswirtschaft ein. Regelmäßig wird dabei über das Thema Stadtbaukunst in allen großen Feuilletons berichtet wie in der Welt, der FAZ, der Süddeutschen Zeitung. Das heißt, Städtebau wird unter dem Blickpunkt Stadtbaukunst zu einem breiten öffentlichen Kulturthema. C. Mäckler: Eines unserer Projekte ist eine Ausstellung, in der wir Plätze in Deutschland von 1950 und heute vorstellen. Dazu haben wir aus Archivmaterial alte Fotos von verschiedenen Städten herausgesucht und diese Stadträume heute mit gleicher Perspektive wieder photographiert, um sie zu vergleichen. Diese Ausstellung haben wir in 28 deutschen Städten gezeigt, mit unglaub-
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licher Resonanz. Die Leute waren einfach entsetzt zu sehen, dass die Zerstörungen der Stadt nicht nur im Krieg stattgefunden haben, sondern eben auch nach dem Krieg. Mit dieser Ausstellung haben wir Aufklärungsarbeit geleistet. Sie haben zehn Themen und Thesen zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt auf dem Düsseldorfer Kongress aufgestellt. Gibt es bei diesem zehn Thesen Prioritäten? Themen, die heute geradezu brennen? W. Sonne: Es wären keine zehn Punkte, wenn sie nicht alle wichtig wären. Dennoch würde ich sagen, dass das Entscheidende ist, dass all diese verschiedenen Aspekte, die in einer Stadt bestehen, letztlich so zusammenkommen, dass die Aufgaben so gelöst werden, dass ein wirklich guter und urbaner Lebensraum entsteht. Wir könnten auch sagen, dass eine schöne Stadt daraus entsteht, dass gute ansprechende Stadträume herauskommen, gute Straßen, Plätze, Häuser, die Sie über Generationen gerne nutzen und anschauen. Warum ist dies so wichtig? Weil es nicht um eine kurzfristige Augenbefriedigung geht, sondern weil das Gebaute langfristig das Bleibende ist. Das ist das Erbe, das wir produzieren, und dies kann nicht das Beiprodukt eines ökonomischen Prozesses sein, nach dem Motto: nach zehn Jahren kann das Produkt abgeschrieben werden, egal, ob es noch hält oder nicht. Sondern dies muss etwas sein, was als ein langfristig gedachtes kulturelles Produkt gut und schön ist. Dies ist die Hauptsache. Um einen Punkt aus unseren zehn Punkten zu nennen, der heute wieder sehr aktuell ist: Die Politik fordert wieder günstige Mieten. Günstiger Wohnraum ist eine Notwendigkeit, aber es dürfen nicht die Fehler der Wohnraumproduktion der 1960er Jahre mit ihren monofunktionalen Großsiedlungen wiederholt werden. Auch heute ist es für einen Politiker wunderbar einfach, nach vier Jahren sagen zu können, ich habe so und so viel Quadratmeter Wohnraum geschaffen. Stattdessen sagen wir: nicht monofunktional, sondern gemischt funktional, nicht einfach autonome Strukturen ins Grüne zu setzen, sondern wieder gute Stadtquartiere zu schaffen. Nicht nur ausschließlich für eine soziale Gruppe planen, sondern Quartiere und Häuser, die soziale Mischung erlauben. Am besten macht man heute kein Wohnungsbauprogramm mehr, sondern ein Städtebauprogramm. Wohnen ist nicht einfach nur wohnen, sondern ist Leben in der Stadt. Millionen Hausbesitzer sind aufgefordert, Energie zu sparen, gleichzeitig beklagen Sie, Herr Sonne, die Unverantwortlichkeit der gängigen Wärmedämmverbundsysteme? Warum? W. Sonne: Es sind vor allem drei Punkte, bei denen die jetzige Praxis, Fassaden mit Wärmedämmverbundsystemen zu verkleiden, nicht funktioniert. Das eine ist der ökologische Aspekt, die Nicht-Dauerhaftigkeit, da Wärmedämmverbundsysteme nach ein paar Jahren Sondermüll bedeuten. Das zweite ist
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ein architektonisches Problem: Wo das Haus am stabilsten sein sollte, nämlich außen, da können nun Spechte die Fassade kaputt machen: Das ist eine völlig unbefriedigende Lösung. Der dritte Punkt ist: Es gibt einfach wertvolle Stadtbilder, die kulturhistorisch bedeutsam sind für die Identität der Stadt und für die Identifikation der Bewohner. Bei diesen kulturhistorisch bedeutsamen Fassaden können sie nicht mit der Dämmung über die Fassaden gehen. Das sind die drei Punkte, bei denen die Wärmedämmverbundsysteme schlichtweg nicht funktionieren. Es ist wie bei allen Dingen, die im Städtebau zu Problemen führen. In den 1950er und 1960er Jahren hat man gedacht, man bekommt die Stadtprobleme gelöst, wenn man für den Autoverkehr Autotrassen und Stadtautobahnen anlegt. Die Folgeprobleme hat keiner bedacht. Und mit dem Wärmedämmverbundsystem haben wir genau dieselbe Situation. Sie haben ein Problem: den Klimawandel und sie haben die scheinbar einfache Lösung Wärmdämmverbundsystem. Hiergegen die Vernunft einzusetzen, die sagt, die Sache ist komplizierter, das hört erst einmal keiner gern. Sie leisten auch große Auf klärungsarbeit, um die katastrophalen Auswirkungen der Polystyrol-Wärmedämmverbundsysteme aufzudecken. Wie gehen Sie weiter vor? C. Mäckler: Auch zum Thema der Wärmedämmverbundsysteme haben wir mit unserem Institut eine Menge an Aufklärungsarbeit geleistet. Ganz generell forschen wir mit verschiedenen Institutionen, auch mit dem Bund übrigens. Mittels konkreter Bauvorhaben erforschen wir, wie man mit Ersatzmaterialien Wärmedämmverbundsysteme, die ökologisch eine Katastrophe sind, austauschen kann. Sehr viel Resonanz haben wir in Deutschland gehabt. Es ist uns gelungen, eine ganz grundsätzliche Diskussion zu entfachen. Prinzipiell erwarten wir Ersatzstoffe auf dem Markt, die ökologisch vertretbar und vor allem dauerhaft sind. Beispielsweise Ziegel, die mit Blähton so porös versetzt sind, dass sie die gleichen Wärmedämmwerte erzeugen wie die auf Erdöl basierte Wärmedämmung »Polystyrol«. Und ich würde noch weitergehen wollen und fordern, dass der Gesetzgeber Wärmedämmverbundsysteme verbieten sollte, da sie später als Sondermüll entsorgt werden müssen. Aber wir müssen auch über Altbauten sprechen. Die Bundesrepublik hat einen unglaublichen Baubestand an Wohnungen aus den 1950er Jahren und 1970er Jahren und diese müssen alle ertüchtigt werden. Eine Möglichkeit ist die Herstellung einer Vormauerschale. Diese wäre etwas Dauerhaftes. Damit können die Gebäude dann weitere hundert Jahre stehen, ohne dass sie Probleme haben. Welche weiteren stadtpolitischen und positiven Entwicklungen haben Sie mit Ihrem Institut Stadtbaukunst angestoßen? C. Mäckler: Einer unserer Erfolge ist, dass viele Planungsdezernenten auf die Düsseldorfer Konferenz und zu unseren Tagungen kommen. Obwohl sie alle in ihren Kommunen enorm eingespannt sind, kommen sie, um bei unseren
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Veranstaltungen miteinander über Städtebau zu diskutieren. Sie kommen, weil sie sehen, dass etwas im Umbruch ist. Die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber dem Städtebau, den wir in den letzten 50 Jahren betrieben haben, ist nicht mehr da. Es gibt viele Städte, die auf uns aufmerksam werden und beispielsweise wieder beginnen, Parzellenteilungen vorzunehmen oder alte Stadtgrenzen zu suchen. Für mich ist es hochinteressant zu sehen, dass wir eindeutig Anregungen geben und zwar nicht nur durch unsere Forschung, sondern auch durch Politik. Mit unseren Ausstellungen, Konferenzen und Vortragsreihen versuchen wir, politisch aktiv zu sein, und haben uns dabei schon gut Gehör verschafft.
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9. Feng-Shui zwischen Esoterik und Inspiration Die chinesische Feng-Shui-Lehre ist seit Anfang der 1990er Jahre auch in Europa populär geworden. In Deutschland gibt es inzwischen kaum noch eine größere Stadt, in der man sich nicht zum Feng-Shui-Berater ausbilden lassen kann. Im Westen ist Feng-Shui vor allem im Bereich der Wohnungseinrichtung populär geworden, um − meistens nachträglich − Wohnräume zu harmonisieren, obgleich sich die Prinzipien des Feng-Shui auch beim Hausbau, der Landschaftsgestaltung und der städtebaulichen Planung anwenden lassen. Feng-Shui erklärt, warum manche Standorte zum Wohnen besser geeignet sind als andere und mit welchen Mitteln wir auf unser Umfeld Einfluss nehmen können. Die in China übliche Praxis, Feng-Shui bereits bei der Planung von Bauobjekten zu berücksichtigen, findet im Westen nur vereinzelt Anwendung. Das im Westen praktizierte Neo-Feng-Shui-System hat seinen Ursprung in der von Lin Yun 1986 in Kalifornien gegründeten »Church of Black (Hat) Sect Tantric Buddhism«.1 Was macht Feng-Shui so beliebt? Gibt es Hinweise oder gar wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit von Feng-Shui?
R äumlich - leibliche S timmungen – der C hi -E nergiefluss Das Besondere am Feng-Shui ist das ganzheitliche Denken, das nicht zwischen Körper und Geist trennt – im Gegensatz zum üblichen abendländischen Denken. Äußerlich und räumlich leiblich wahrgenommene Stimmungen und Atmosphären werden als Chi-Energiefluss wie selbstverständlich in die gestalterischen Planungen mit einbezogen. Es können unterschiedlichste Atmosphären sein wie starker Wind, Hitze oder aber auch eine vielbefahrene Straße, die einen Einfluss haben können. Damit nimmt die umgebene Atmosphäre einen wesentlichen Stellenwert bei der Planung ein. Chi ist in unserer westlichen Philosophie ein unbekannter Begriff, taucht aber häufig in den östlichen Philosophien auf. Er bezeichnet eine positive Kraft, die uns vital macht und uns antreibt. In Japan nennt man diese Ur-Kraft Ki, in Korea Gi und in Indien 1 | Wikipedia (2018).
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Prāna. Wir empfinden diese Energie beispielsweise, wenn wir von Menschen mit positivem Charisma angezogen werden, wir sprechen dann von attraktiven Menschen (trahere = anziehen). Häuser empfinden wir als anziehend und attraktiv, die das vitalisierende Chi besitzen. Ein wesentliches Ziel von FengShui liegt in der Schaffung von Lebenswelten, in denen das Chi ungehindert und ruhig dahinfließt. Wird nämlich der Fluss des Chi gefördert, steigt auch das persönliche Wohlbefinden. Räume, die nach Feng-Shui gestaltet sind, sollen eine positive Atmosphäre ausstrahlen und ihren Bewohnern ein Gefühl von Schutz, Geborgenheit und Stärke vermitteln. Freundliche Farben, viele Pflanzen und Brunnen, natürliche Materialien helfen dabei. Genauso wie es ein positives Chi gibt, so gibt es aber auch das schwächende und schädigende Chi, das Shi Chi. So hat eine Straße mit schnellem und lautem Autoverkehr auf die Bewohner das eher schädigende Shi Chi, genauso wie auch halböffentliche Räume oder Stadträume, die wie ausgestorben wirken, einen zu langsamen Energiefluss haben können. Typische Negativbeispiele im Feng-Shui sind Sitz-, Arbeits- und Ruhegelegenheiten, die im Rückenbereich nicht geschützt sind und wo man daher nicht wirklich zur Ruhe kommen kann. Im Feng-Shui geht es hauptsächlich darum, den freien Bewegungsfluss der Chi-Energie zu gewährleisten, damit diese nicht blockiert und aufgestaut wird oder aber auch zu schnell fließt und Unruhe bewirkt. Die Wirksamkeit des Chi lässt sich leicht mit unserer eigenen Leiblichkeit und Aktivität erklären. Unsere Gefühle in Bezug auf Räume hängen auch stark von eigenen Zuständen und Annahmen ab, was geschehen wird, wenn wir uns dort aufhalten. Ist es ein Raum zum Arbeiten oder Schlafen? Ist es ein Museum oder eine Einkaufsstraße, die wir nur für kurze Zeit besichtigen? Beispielsweise kann eine Kreuzung in der Innenstadt sehr unruhig sein, insbesondere wenn sich der Verkehr in beide Richtungen bewegt. Diese unruhige Energie scheint kein Problem zu sein, wenn wir uns hier nur kurz aufhalten und uns bewegen. Dieser Ort wäre für ein Wohnhaus absolut ungeeignet, »aber ideal für Geschäfte, die die übliche Laufkundschaft anziehen wollen«.2 Für sakrale Orte oder auch Ruheräume ist es entscheidend, dass die Räume durch Schwellen sowie Wegeführungen geschützt sind und zur Ruhe einladen. Auch die Form einer Straße kann das Chi beeinflussen. Kurvige Straßenführungen werden im Feng-Shui im Gegensatz zu monotonen langen Straßen in bestimmten Bereichen bevorzugt, da sie das Chi verlangsamen. Vor den geraden, vielbefahrenen Straßen ohne Kurven wird indessen gewarnt, da sich hier das Chi beschleunigen kann. »Lange Strecken mit dieser Chi-Führung können aggressiv machen und wirken monoton. Das anregende und abwechslungsreiche Chi aus der Landschaft können wir bei dieser rasenden Geschwin-
2 | Chuen (1996), 138.
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digkeit kaum nutzen. Gehetzt und ermüdet kommen wir am Ziel an.«3 Auch auf unterschiedliche Persönlichkeitstypen wird im Feng-Shui eingegangen. Damit lässt sich auch erklären, dass Räume nicht immer auf alle Menschen gleich wirken müssen. Wir reagieren auf die uns umgebenden Atmosphären mit Gefühlszuständen, die zugleich auch Signale für unsere Gesundheit sein können. Ebenso reagieren wir auf die Nutzungsmöglichkeiten, die die Räume uns bieten. Im vorherigen Kapitel wurde von den Aufforderungen gesprochen, die die Umwelt uns bietet. Im Feng-Shui wird stattdessen von unterschiedlichen Energien – dem Chi – gesprochen, die uns umgeben. Die Wirkung ist jedoch die gleiche, ob wir nun davon sprechen, dass der Eingang des Hauses ein gutes Chi hat, oder sagen, dass der Vorgarten mit der breiten großzügigen Treppe und dem attraktiven Hauseingang den Besucher freundlich willkommen heißt. Wir gehen davon aus, dass die Energie Chi ein kulturell geprägter Begriff der Chinesen ist, der allerdings im Wesentlichen auf den eigenen subjektiven Zuständen leiblicher Wahrnehmung beruht und in dieser Hinsicht auch für Angehörige westlicher Kulturen nachvollziehbar ist. Die Chinesen haben lediglich einen quasi-objektiven Begriff wie Chi gewählt, der – zumindest auf den ersten Blick − unabhängig von leiblicher subjektiver Wahrnehmung zu stehen scheint. Im Feng-Shui-Kontext wird die Art, in der räumliche Faktoren uns bestimmen, gerne als Chi-Fluss beschrieben. Man unterscheidet dabei zwischen dem Chi-Fluss einer Bewegungsachse und der Chi-Sammlung, einem Ruhebereich. Das heißt: Bei der Gestaltung von Räumen geht es beispielsweise darum, die richtige Mischung der verschiedenen Intimitätshierarchien zu erzeugen. Ein optimaler Raum verfügt über ein angemessenes Verhältnis zwischen Fluss und Sammlung von Chi. Entsteht auf einer Fläche ein Übermaß an ChiFluss, wird sie sehr unruhig. Verfügt sie über ein Übermaß an Chi-Sammlung, wird sie als sehr drückend wahrgenommen. Ein Ruhebereich sollte daher eine genügende Sammlung von Chi besitzen, das heißt beispielsweise, einen hinreichend geschützten ruhigen Rückzug bilden und somit einem ureigenen leiblichen Bedürfnis nach territorialer Kontrolle entsprechen. Mit unseren Begrifflichkeiten würden wir vielleicht – ohne uns allzuweit von den geäußerten Ideen zu entfernen – sagen, dass der Ruheraum die entsprechende Affordanz-, Kontroll- und Erholungsqualität besitzt, so dass wir uns entspannt zurückziehen können. Am behaglichsten fühlt es sich an, wenn man eine feste Wand im Rücken hat. Fällt der Blick dabei noch auf die Tür, fühlen wir uns sicher und geborgen, da wir mit dem Blick die Kontrolle über den Raum haben. Auch sollte der Raum nicht reizüberflutet sein, etwa mit zu grellen lauten Farben, die synästhetisch zur Aktivität anreizen. In den Fachbe3 | Messner (2012), 17.
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reichen Umweltpsychologie und Architekturpsychologie werden diese Regeln schon seit langem wissenschaftlich fundiert gelehrt.
R äume der M it te herstellen zwischen A k tivität und R uhe Ein weiterer wichtiger Grundsatz der chinesischen Philosophie ist der von Dualität und Polarität. Die Welt wird in Yin und Yang eingeteilt. Sie stehen für polar einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene Kräfte. Ein weit verbreitetes Symbol des Prinzips ist das Taijitu, in dem das weiße Yang (hell, hart, heiß, männlich, aktiv, Bewegung) und das schwarze Yin (dunkel, weich, kalt, weiblich, passiv, Ruhe) als gegenüberstehend dargestellt werden. Unsere Organe, unsere Lebensphasen, das gesamte Universum sind nach diesen zwei gegensätzlichen, sich aber ergänzenden Polen ausgerichtet. Je nach unseren Bedürfnissen benötigen wir im Wohnbereich verschiedene Zonen der Aktivität und der Ruhe. Da wir uns den jeweiligen Energiemustern der Raumumgebung anpassen, ist es wichtig, die richtige Balance für den jeweiligen Raum zu gestalten. Ein sakraler Ort besitzt eine Yin-Qualität und lädt damit zur Ruhe und inneren Besinnung ein. Eine urbane Geschäftsstraße dagegen lädt mit ihrer Yang-Energie zum Flanieren ein. Wenn aber Räume nicht die passenden Zonen für uns aufweisen, wirkt sich dies negativ aus. So sitzt man kaum ruhig und gemütlich in einer Sitzecke, die ungeschützt von vielen Durchgangstüren bestimmt ist. Genauso erscheint ein leerer, verlassener Ort, der als Ort mit Vital-Qualitäten, also als Yang-Ort gedacht war, öde und verloren. Für die unterschiedlichen Räume wird im Feng-Shui zumeist versucht, eine Mitte zwischen diese beiden Polaritäten zu erzeugen. Durch diese Balance kann größtmögliche Harmonie entstehen.4 Dabei werden unterschiedliche gestalterische Mittel verwendet wie Licht oder Beschattung, Wärme oder Kühle, laut oder leise, Farbe, Pflanzen und Skulpturen, um dann mit der synästhetischen Wechselwirkung einen Ausgleich zu schaffen.5 Daher steht die Wohnqualität auch gleichzeitig für Lebensqualität.
M it B el astungen umgehen Im Feng-Shui wird zwischen positivem und negativem Chi unterschieden. Das positive Chi fördert Gesundheit, unsere Energie und Lebensfreude. Negative, also schädliche Belastungen, werden mit einer Energie verbunden, die 4 | Interview mit Alfred Sutrich. 5 | Ebd.
9. Feng-Shui zwischen Esoterik und Inspiration
uns nicht gut tut, wie Stress, der durch schlechte Gestaltung hervorgerufen wird. Zu vermeiden sind Orte mit negativen Assoziationen, wie ein ehemaliges Schlachtfeld, Friedhöfe, Gefängnisse, Krankenhäuser und Polizeistationen.6
Räumliche Raumwahrnehmung – nach vorn Im Feng-Shui spielt die teleologische Ästhetik eine Rolle, insofern beispielsweise kurvige Straßenführungen in bestimmten Bereichen bevorzugt werden, da sie das Chi verlangsamen. Von geraden, vielbefahrenen Straßen ohne Kurven wird stattdessen gewarnt, da sie das Chi beschleunigen. »Lange Strecken mit dieser Chi-Führung können aggressiv machen und wirken monoton. Das anregende und abwechslungsreiche Chi aus der Landschaft können wir bei dieser rasenden Geschwindigkeit kaum nutzen. Gehetzt und ermüdet kommen wir am Ziel an.« 7
Energetische Raumwahrnehmung Auch im Feng-Shui spielt die Gewichtswahrnehmung eine Rolle. Vor Häusern auf Stützen oder Stelzen wird gewarnt, da sie das Gebäude energetisch schwächen. Für Geschäfte kann nach Feng-Shui die Lage auf Stützen oder Stelzen besonders ungünstig sein, da sie »den gesamten mehrstöckigen Gebäudekomplex schultern« müssen.8 Auch Unterführungen in unmittelbarer Nähe zum Haus sind zu meiden. Vielleicht wegen ihrer drückenden und unsicheren Gestaltung. Städtebaulich ungünstig eingebundene Häuser können selbst energetisch wie gedrückt wirken. Ebenso haben Balken, die sich mit zu geringem Abstand über dem Arbeitsplatz oder über dem Bett befinden, negative Wirkungen. Zu niedrige Decken unter 2,50 m sollten vermieden werden, da sie daraufhin deuten, dass man sich wie niedergedrückt fühlt.9
Dynamische Raumwahrnehmung – spitze Formen Wegen des bewegungsassoziierenden scharfen Eindringens von Spitzen wurde im Feng-Shui die Spitze auch als Giftpfeil bezeichnet. Alles, was nur annähend spitz und kantig ist, besonders wenn es der vorderen Haupteingangstür direkt gegenüberliegt, ist nach Feng-Shui »extrem schädlich« und sollte nach Möglichkeit vermieden werden.10 Zu den schädlichen Formen gehören spitze 6 | Too (2000), 326. 7 | Messner (2012), 17. 8 | Ebd., 23. 9 | Too (2000), 334. 10 | Ebd., 318.
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Häuserkanten, spitz auf Häuser zulaufende Straßen, Hochspannungsmasten, Windenergieanlagen, spitz zulaufende Straßeninseln und gar spitze Straßenschilder oder Laternen. Für den Innenbereich gilt gleiches, spitze Kanten sind im Wohnbereich ungünstig. Diese Formen werden esoterisch mit negativen Energien beschrieben, beruhen aber letztlich auf der eigenen Fähigkeit des Menschen mittels seines Körpersinns den Raum auch in seiner dynamischen Formgebung wahrzunehmen (vgl. Kapitel: Mit dem Körpersinn Räume leiblich erfahren). Dass diese spitzen Formen tatsächlich einen Einfluss auf unser Befinden haben, wurde erstmalig auch in der Rechtssprechung zur Planung von Windkraftanlagen ernst genommen. So gehe von den Schattenwürfen der Windparks »eine bedrängende Wirkung auf den Betroffenen« aus und die Bewegungen der Rotoren ziehen »den Blick zwanghaft« auf sich, was zu einem leiblichen Unwohlsein führen könne.11 Ebenso können »die sich drehenden Rotorblätter einer Windkraftanlage aufgrund ihrer immensen Größe stark beunruhigend wirken«.12 Es gibt im Feng-Shui unterschiedliche Möglichkeiten, mit solchen Stressoren umzugehen und sie abzuwenden. Mit neu geschaffenen Strukturen wie Hecken, Bäumen, Mauern, Hügeln und hellem kräftigem Licht kann negative Energie blockiert werden. Auch wird im Feng-Shui mit der stark synästhetischen Wirkung von Farben gearbeitet, um in der Umwelt Harmonie und Gleichgewicht herzustellen. So können beispielsweise schlechte Gerüche, Unruhe und Hitze mit Farben ausgeglichen werden. Viele Regeln der FengShui-Lehre lassen sich sehr gut über das leibliche-synästhetische Empfinden nachvollziehen und viele Studien belegen auch deren Wirkung. Im New-Ageoder Neo-Feng-Shui fließen auch Erkenntnisse aus der Farbtheorie, der Baubiologie, dem biophilen Design mit ein. Wir wollen und können in diesem Rahmen nicht die gesamte Lehre vorstellen und überprüfen. Uns erscheinen wesentliche Grundzüge der Feng-Shui-Lehre durchaus nachvollziehbar. Vieles lässt sich heute mit wissenschaftlichen Erkenntnissen erklären.
Der Standort Feng-Shui besteht heute aus einer Kombination zweier Schulen, dem Landschafts-Feng-Shui und dem Kompass-Feng-Shui. Das Landschafts-Feng-Shui beruht vor allem auf einer Standortanalyse. Wie der Name Feng-Shui »Wind, Wasser« schon sagt, ging es ursprünglich darum, den idealen Ort für die Toten, die Ahnen, in der Landschaft zu finden. Später wurde das Feng-Shui auch für die Wohnhäuser weiterentwickelt. Dabei soll Wind möglichst gemieden 11 | Ebd., 382. 12 | Hasse (1999), 79.
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werden, während Wasser erhalten werden soll. Der ideale Ort wird nach dem klassischen Feng-Shui mit Tiermetaphern umschrieben, die sich auf Erhebungen der Landschaft beziehen – dies sind die vier himmlischen Tiere. Die Tiermetaphern zeigen an, wie der Mensch sich wohlfühlen kann. Das Landschafts-Feng-Shui betrachtet das Haus wie einen menschlichen Leib, der die Umgebung wahrnimmt und fühlt. An einem beliebigen Aufenthaltsort ist es günstig, ein klares »Vorne« und »Hinten« zu erzeugen sowie ein »Rechts« und »Links«. Hinten suchen wir die Schildkröte, sie steht für eine geschützte Rückenposition. Die Schildkröte steht mit ihrem Panzer für Stabilität und vermittelt »Sicherheit und Langlebigkeit«.13 Vorne suchen wir den roten Vogel, den Phönix, dieser symbolisiert eine offene Fläche, die eine angenehme freie Sichtachse eröffnet. Links und rechts befinden sich Drache und Tiger, zwei seitliche Begrenzungen ähnlich einem Lehnstuhl, wobei die Drachenseite, die linke Seite, etwas höher liegen sollte.14 Steht das Haus in der freien Landschaft, können Hügel, Berge und Bäume die Begrenzungen darstellen. In Städten stellen die umgebenden Häuser diesen Kontext her. Im Feng-Shui ist es für städtebauliche und architektonische Planungen grundlegend, ein klares »Vorne« und »Hinten« zu erzeugen. Das Vorne soll möglichst einen schönen weiten Blick eröffnen und das Hinten eine geschützte Rückenposition bilden. Das Haus ist durch diese Positionierung kontextuell gut eingebunden und schafft zugleich auch eine gute Orientierungsmöglichkeit. Das heißt auch: Städteplanerisch müssen die Gebäude nach Feng-Shui gut eingebunden sein, ein alleinstehendes Hochhaus, das alles überragt, ist ebenso ungünstig wie ein Gebäude, das von rechts und links durch zu hohe Gebäude wie eingeklemmt wirkt. Das heißt, Gebäude können unterschiedlichen Druck durch die Größe ausüben, wobei die energetische Raumwahrnehmung eine Rolle spielt. Steht ein zu kleines Gebäude zwischen zwei sehr großen, wirkt es wie eingekeilt und die größeren Gebäude scheinen Druck auszuüben. Die Forderung, Gebäude gut kontextuell in den Stadtraum einzubinden, ist Grundlage jeder guten städtebaulichen Planung. Auch die Gestaltung der Häuser sollte sich dem Kontext, dem Chi, also dem Genius Loci anpassen. Mit der Zeit wurde die Formschule durch das Kompass-Feng-Shui, dem Bagua, abgelöst. Die Kompassschule betont den Einfluss der Himmelsrichtungen. »Anwender des modernen Taiwan praktizieren heute eine Kombination beider Schulen«, da man den Einfluss der Umgebung nicht außer Acht lassen kann.15
13 | Chuen (1996), 38. 14 | Too (2000), 48. 15 | Ebd., 17.
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Die fließende Grenze zum Aberglauben Da Feng-Shui kein geschützter Begriff ist, tummeln sich auf diesem Markt auch viele selbst ernannte Experten, die meinen, mittels der starken Symbolik und einer Neugestaltung alles harmonisieren zu können, von Partnerschaftssorgen, Kinderlosigkeit, großen Lebensveränderungen bis hin zu finanziellen Nöten. Aber auch zertifizierte Feng-Shui-Ausbildungsinstitute werben mit allumfassender Lebensberatung. Solche esoterischen Heilsversprechen, mit denen fast immer auf den Internetseiten geworben wird, grenzen eher an Geldmacherei und Scharlatanerie. Unter der Verwendung zahlreicher Hilfsmittel wie Windspielen, Kristallen, Zimmerbrunnen, Goldsteinen, farbigen Stoffen, Glücksbringern, Wasserpostern oder Düften soll der Fluss der Lebensenergie Qi in Wohnräumen regulierbar sein. Das Vokabular von Feng-Shui ist vielfach noch von den alten östlichen Texten und der chinesischen Symbolik geprägt, die mit vielen Glückssymbolen und Glücksgöttern arbeitet. Mit den Sinnbildern, Bildern und Stimuli, die sich in den Räumen befinden, sollen Wohlbefinden und positive Gedanken aktiviert werden, »die uns dabei helfen, persönliche Ziele und Wünsche zu erkennen«.16 Diese Symbolik ist für unseren westlich geprägten modernen Kulturkreis allerdings oft nicht mehr stimmig. Besonders dubios und bedenklich agieren Berater, die mit »magischem Angstdenken« nach dem Prinzip »tue dieses und jenes nicht, sonst bringt es Unglück« arbeiten. »Deshalb gibt es Menschen, die für zwei oder mehr Monatsmieten ihre komplette Wohnung nach Feng-Shui gestalten lassen und es anschließend nicht wagen, auch nur eine Blumenvase zu verrücken. Aus Angst vor Energieblockaden.«17 So ist es nicht verwunderlich ist, dass Feng-Shui zwar sehr populär ist, aber im Westen wissenschaftlich nicht wirklich anerkannt ist. Dennoch erschien es uns wichtig, trotz dieser Kritik zu zeigen, dass die 3500 Jahre alte chinesische Feng-Shui-Lehre wesentliche Elemente und Aspekte enthält, die über das synästhetische räumlich-leibliche Erleben und Empfinden nachvollziehbar und auch wirksam sind.
16 | Too (2000), 86. 17 | Oberhuber (2018).
10. Gesundheitsbauten: Wie Räume heilen helfen Kreative Gestaltung darf gern ein bisschen verrückt sein: eine der Attraktionen des Maria-Fareri-Kinderkrankenhauses in Valhalla bei New York ist eine in den Bau integrierte echte Lokomotive. Eine New Yorker Bahngesellschaft spendete dem Krankenhaus die 16 Meter lange, 100 Tonnen schwere FL-9-Diesellokomotive von 1957, vorbildlich restauriert. 30.000 Arbeitsstunden war das ungewöhnliche Geschenk dem Unternehmen und freiwilligen Helfern im Jahre 2000 wert, gekrönt von dem komplizierten Kraftakt, das auf Hochglanz gebrachte Ungetüm mit einem Spezialfahrzeug mehrere Kilometer weit zur damaligen Klinik-Baustelle zu transportieren und dort aufzustellen.
Bild 37: Gespendete Diesellok vor Maria-Fareri-Kinderklinik (Valhalla, New York, USA)
Die Zuwendung ist nur eine von vielen für das 2004 eröffnete Krankenhaus: Engagierte Mäzene und Hilfsbereite ermöglichten und gestalteten darin unter anderem Orte mit individuellem, für Kinder attraktivem Charakter, etwa »Sailing«, einen Spielbereich zum Thema »Schiff«, ein »Feuerwehrhaus« mit der Kabine eines echten Feuerwehrautos, ein von Baseballstars mitgestaltetes Baseballmuseum, ein Theater, ein Kunststudio für Kinder, ein Puppenmu-
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seum, ein riesiges Seewasseraquarium in der Lobby. Mehr als zehntausend Menschen engagierten und engagieren sich aktiv in der einen oder anderen Form für die Klinik.1
»H e aling A rchitecture « Die Amsterdamer Umweltpsychologin Fiona de Vos hat im Rahmen ihrer Doktorarbeit den Neubau drei Jahre lang wissenschaftlich begleitet 2 . Sie ist heute noch angetan davon, dass und wie der damals verantwortliche Klinikplaner Bruce Komiske, der Chefarzt Michael Gewitz, die Hauptstifter Brenda und John Fareri mit anderen sich intensiv um die freiwillige Hilfe lokaler Initiativen bei der Gestaltung bemühten: »Ich finde es wunderbar, wenn nicht nur Vertreter der direkt Betroffenen in die Planung eines Krankenhauses einbezogen werden, sondern auch Organisationen und Menschen aus der Kommune und der Umgebung sich für ein Krankenhaus einsetzen und sich an dessen Bau, Einrichtung und Alltag engagiert beteiligen. Patienten, Personal und Besucher empfinden die Klinik dann nicht als isolierende Anstalt, sondern dürfen sich mit der Außenwelt verbunden und von der Gemeinschaft unterstützt fühlen. Dies ist mindestens so wertvoll und wichtig wie ein ansprechendes Aussehen und sollte eigentlich regelmäßig ein zentraler Aspekt der Planung und des Lebens einer Klinik sein.«3 Fiona de Vos ist Pionierin einer stetig wachsenden internationalen Bewegung, die eine menschenfreundlichere Gestaltung von Gesundheitsbauten propagiert und vorantreibt, unter Leitworten wie »Healing Architecture«, »Healing Design« oder »Architecture for Health«. Moderne Gesundheitsbauten wurden und werden gewöhnlich vor allem an Technik und Effizienz orientiert geplant, gebaut und eingerichtet – ohne viel Aufmerksamkeit für das Empfinden und Befinden von Patienten, Personal und Besuchern. (Eine feinfühlige Analyse des Erlebens von Patienten in derartigen Bauten findet sich in dem lesenswerten, klugen und lebendig geschriebenen Buch Design als Therapie von Antje und Johan Monz von 20014, das leider etwas vergessen scheint, das wir jedoch wärmstens empfehlen.) Doch die betroffenen Menschen akzeptieren immer weniger die oft unerfreulichen, manchmal unzumutbaren äußeren Bedingungen: permanente Geräusche von medizinischen Geräten, lästige Unterhaltungen zum Teil wildfremder Leute, gestörte Nachtruhe, Hektik allenthalben, keine Privatsphäre, enervierendes Warten in neonerleuchteten 1 | Komiske (2005). 2 | De Vos (2006) 3 | Interview mit Fiona de Vos. 4 | Monz, Monz (2001).
10. Gesundheitsbauten: Wie Räume heilen helfen
seelenlosen Fluren, schrille Alarmtöne, schlechte Gerüche, lieblos funktional eingerichtete Krankenzimmer, in denen sich mitunter nicht mal die Fenster öffnen lassen. »Ein übliches Krankenhaus lässt sich durchaus mit einem Gefängnis vergleichen«, sagt Bruce Komiske, »man wird eingewiesen in einen beengten Raum mit Fremden, bekommt institutionelle Kleidung, ist abgeschottet, manchmal isoliert, quasi eingesperrt, bis ins Intimste überwacht und reglementiert, muss sich in ein strenges autoritäres System von Entpersönlichung und Disziplin fügen.«5 Die Überzeugung wächst: Das muss nicht sein, das lässt sich auch anders machen. Wissenschaftler erforschen immer umfassender und detaillierter die Wirkung von Räumen auf Befinden und Verhalten. Sie finden klare Belege, dass die Umgebung die Genesung massiv behindern oder auch fördern kann und fundieren so ein »Evidence-based design« von Gesundheitsbauten – Entwürfe, die solche Forschungsergebnisse beachten und integrieren. Architekten und Wissenschaftler, Innendesigner und Gesundheitsplaner arbeiten mit Patienten und Personal zusammen, um etwa attraktive, angenehme, gemäß nachweislich heilungsfördernden Kriterien gestaltete und gleichzeitig nach neuesten technischen Standards funktionierende Krankenhäuser, Patientenzimmer und Arztpraxen zu entwerfen. In Ländern wie den USA, England und den Niederlanden boomt das Thema bereits, in Deutschland entwickelt es sich.
M aria -F areri -K inderklinik Mit Etiketten wie »Healing Design« lässt sich trefflich werben und Geld verdienen. Letztlich ist es jedoch stets das genuin am menschlichen Wohlergehen interessierte Engagement, aus dem besonders eindrückliche und überzeugende Beispiele heilsamer Klinik-Architektur erwachsen, liebevoll und aufmerksam gestaltete Krankenhäuser mit wohltuender Atmosphäre, in denen der Patient das empathische Bemühen von Erbauern und Designern um sein Befinden und seine Heilung spürt. Dies Bemühen zu empfinden, dürfte oft den kleinen, aber bedeutenden Unterschied ausmachen, ob Patienten, Personal und Besucher nur zufrieden sind mit einem »gut gemachten« Krankenhaus oder sich berührt und gemeint fühlen und es lieben. Die Geschichte des erwähnten Maria-Fareri-Kinderkrankenhauses ist hier bemerkenswert und bewegend.6
5 | Vgl. Foucault (1973, 1976). 6 | Interview mit Bruce Komiske; vgl. Komiske (2005).
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Bild 38: Neue Maria-Fareri-Kinderklinik vor dem alten Hauptbau des Westchester Medical Center (Valhalla, New York, USA)
Das Maria-Fareri-Kinderkrankenhaus ist wohl die einzige Klinik in den USA, die nach einem Kind benannt ist. Maria Fareri war ein 13-jähriges Mädchen, die 1995 mit Fledermaustollwut auf der damaligen Kinderstation des renommierten Westchester Medical Center in Valhalla bei New York lag und nach wenigen Tagen an der seltenen unheilbaren Krankheit starb. Der tragische Tod ihres Kindes ist allerdings nur ein Aspekt des Traumas, das die Familie Fareri erfahren musste. Tief schockiert waren die Eltern Brenda und John Fareri sowie die drei Halbgeschwister auch von den äußeren Umständen des Geschehens, genauer von den kaum erträglichen, von ihnen als menschenunwürdig empfundenen räumlichen Bedingungen auf der Kinderstation. Die fachliche medizinische Betreuung an der renommierten Klinik betrachteten sie als exzellent. Doch waren die Fareris entsetzt über das beengte und überfüllte Ambiente, das kaum Platz ließ für Begegnung und Privatheit. Der Stationsflur diente als Abstellfläche für ein Chaos von Geräte- und Medikamentenwagen und überhaupt Gegenständen aller Art, durch das sich Besucher, Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger ihre Wege zu bahnen versuchten. Drangvolle Enge herrschte auch in dem Mehrbettzimmer, in dem die sterbenskranke Maria lag und litt, ein Durcheinander von Medizintechnik, ein geräuschvolles unruhiges Kommen und Gehen. Arztgespräche mit intimen sensitiven Inhalten fanden im Stehen statt, umgeben und mitgehört von fremden Menschen. Um ungestört weinen zu können, blieb als Zuflucht nur die Toilette. Bis hierhin ist dies eine alltägliche, nicht einmal besonders extreme Krankenhausgeschichte. So geht es leider nicht selten zu in den Heilanstalten dieser Welt. Bemerkenswert jedoch, ja einzigartig ist, wie die Familie diesen deprimierenden Tiefpunkt schließlich in positive Energie, Produktivität und Aktivität für die Gemeinschaft wendete: Brenda und John Fareri entschlossen sich, den kompletten Neubau einer separaten »familienzentrierten« Kinderklinik für das WMC zu ermöglichen. Fünf Millionen Dollar konnten sie selbst
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beisteuern, weitere finanzielle Mittel für den 150-Millionen-Dollar-Bau warben sie als Spenden und von anderen Quellen ein. Der renommierte Kinderkardiologe Michael Gewitz, damals Chefarzt der WMC Kinderstation und heute Chefarzt der Maria-Fareri-Kinderklinik, zeigte sich begeistert und engagierte sich als treibende Kraft, eine Klinik zu entwerfen, die kindlichen Patienten nicht nur keine Angst einjagt, sondern in der sie sich wohl fühlen, in der nicht erstickende Enge herrscht, sondern genügend Raum ist für alle Bedürfnisse und Notwendigkeiten, Platz für Besucher und wohltuende Arbeitsbedingungen für das Personal. Michael Gewitz: »Wir spürten ja alle die schwierigen Umstände und hätten sie gern geändert. Die Initiative und Energie der Fareris versetzte uns in Auf bruchstimmung und erfüllte uns mit riesigem Enthusiasmus. Wir mussten in vielen Hinsichten ganz von vorn anfangen. Wir mussten sogar den politischen Status des WMC ändern, da eine öffentliche Klinik private Spenden nicht selbst entgegennehmen darf.« Die Ziele waren ambitioniert: »Wir wollten eine Kinderklinik bauen, die einzigartig ist, als ausstrahlendes Beispiel einer heilenden Umgebung, als Botschaft, was möglich ist.« 7
Bild 39: Flur der Kinderstation im Westchester Medical Center
7 | Interview mit Michael Gewitz.
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Bild 40: Flur in der Maria-Fareri-Kinderklinik (Valhalla, New York, USA)
Leitideen der »familienzentrierten« Kinderklinik waren: • Kinder sollen auch im Krankenhaus so normal wie möglich leben: in sozialer Geborgenheit, lernen und sich verwirklichen können • Eltern und Besucher sind willkommen und Partner im Heilungsprozess • Schöne, zur Erholung, Gemeinschaft, Aktivität und Kreativität anregende Gestaltung soll wesentlich zur Genesung beitragen. Diese Leitlinien sind offenkundig in entschiedenem Gegensatz zu den schmerzlichen Erfahrungen der Fareris auf der WMC-Kinderstation formuliert. Der Neubau sollte allerdings nicht nur Situation und Erleben von Patienten und deren Besuchern verbessern, sondern auch die Arbeitsbedingungen der Angestellten. Um eine längere Geschichte kurz zu fassen: Nach der Überwindung großer finanzieller und vor allem nicht unerheblicher, manchmal entmutigender bürokratischer Hindernisse konnte die neue Maria-Fareri-Kinderklinik 2004 eröffnet werden. Die ganze Kinderstation des WMC zog mit Menschen und Maschinen in einem logistischen Kraftakt in den Neubau um.
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Bild 41: Spielbereich »Feuerwehr«, Maria-Fareri-Kinderklinik (Valhalla, New York, USA)
Als Antwort auf die bedrückende, ja verstörende Enge auf der bisherigen Kinderstation ist die neue Kinderklinik bewusst großzügig gestaltet. Insgesamt gibt es etwa fünfmal mehr Platz mit einladenden, allgemein zugänglichen Bereichen zum Verweilen. Für jeden der kindlichen Patienten ist ein großes ruhiges Einzelzimmer vorgesehen, möglichst mit schönem Ausblick, mit Bad, Tisch, Telefon, Fernseher sowie einem Ausziehsofa, wo die Eltern oder andere Besucher auch übernachten können. Wie bereits oben erwähnt, sorgten Mäzene und Helfer mit viel Engagement für attraktive, individuelle und teilweise außergewöhnliche Innenbereiche, etwa Spielflure zum Thema Schiff oder Feuerwehrhaus, ein Baseballmuseum, ein Theater, ein Kunststudio und vieles andere – weitgehend kostenlos. Das vielfältige Engagement für die Klinik trägt sich weiterhin fort. Organisationen, Unternehmen, Vereine und Einzelpersonen unterstützen die Klinik kontinuierlich mit Spenden, Mitwirkung bei der Gestaltung und Veranstaltungen. Beispielsweise lädt der Yachtclub, der die Station zum Thema Schiff eingerichtet hatte, kindliche Patienten jährlich zum Segeln ein. »Es macht mich sehr glücklich, dass die neue Klinik gar nicht aussieht und riecht wie eine Klinik«, sagt Michael Gewitz. »Und ich bin besonders glücklich, wenn auch die Leute das sagen.« 8
8 | Ebd.
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Studie zum Erleben in der Maria-Fareri-Kinderklinik Der Umzug bot nun die seltene – fast ideale – Gelegenheit, die Wirkung von Architektur und Design auf Personal und Patienten in einem systematischen Vorher-Nachher-Vergleich wissenschaftlich zu studieren.9 Denn im Neubau arbeitete im Wesentlichen das gleiche Personal mit der gleichen apparativen Ausstattung wie auf der ursprünglichen Kinderstation. Auch die Patientenpopulation (die Belegung mit kindlichen Patienten) war gleichartig. Unterschiedlich waren Architektur und Innendesign. Daraus folgt: Wenn sich zwischen WMC und der neuen Kinderklinik Unterschiede im Erleben und Befinden von Patienten und Personal finden, so sind diese plausibel auf Architektur und Innendesign zurückzuführen. Ungefähr drei Jahre, zwischen 2002 bis 2005, verbrachte Fiona de Vos im Rahmen ihrer Dissertation in »teilnehmender Beobachtung« und Gesprächen mit Patienten, Ärzten, Krankenschwestern, Besuchern und sonstigen Beteiligten, zunächst auf der ursprünglichen Kinderstation im WMC, dann während der Umzugsvorbereitungen und dem Umzug 2004 selbst, schließlich in der neuen Maria-Fareri-Kinderklinik. Sie begleitete Krankenschwestern in ihrem Tageslauf, saß ausdauernd in Patientenzimmern, auf dem Flur, im Wartebereich und füllte Kladden mit Notizen. Für eine quantitative Untersuchung konstruierte sie Fragebögen mit zahlenmäßigen Wertungen als Antwortmöglichkeiten (»Likert Skala«). Hier sind einige von den vielen Fragebogen-Items als Beispiele10: nie
selten
manchmal
oft
immer
Ich kann entscheiden, wer meinen Raum betritt
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Ich schlafe im Krankenhaus so gut wie zuhause
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Ich reguliere die Helligkeit im Raum
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Familienmitglieder schlafen bei mir
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Ich kann allein sein, wenn ich möchte
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Ich finde immer etwas Interessantes zu tun
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Im Raum ist genug Platz für meine Freunde
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9 | De Vos (2006). 10 | Fiona de Vos (2006), Übersetzung FM.
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(Wer also beispielsweise empfindet, im Krankenhaus häufig wie zuhause zu schlafen, kreuzt die »4« in der entsprechenden Zeile an.) Die Forscherin entwickelte drei Fragebögen, einen für Patienten, einen für Ärzte und Pflegepersonal, einen für Besucher. Die große Anzahl von Fragen gruppierte sie nach Themenbereichen, die sie für zentral hielt, gemäß einem von ihr erarbeiteten Modell zur »heilenden Umgebung«. Für Patienten und Eltern konzipierte sie folgende zentrale Dimensionen: • »Körperliche Grundbedürfnisse«: gutes Essen, Schlaf etc. • »Schutz und Sicherheit«: Der Ort ist gesichert; persönliche Dinge können eingeschlossen werden; die kindlichen Patienten werden im Auge behalten und betreut, fühlen sich geborgen und behütet • »Handlungsfreiheit und Kontrolle«: Unabhängigkeit, Spielraum, um über Privatsphäre, Umgebung (z.B. Licht an/aus, Fenster auf/zu, Fernseher an/ aus, Fernsehprogramm) etc. selbst zu bestimmen • »Soziale Unterstützung«: Besucherfreundliche Gestaltung, Familie und Freunde sind willkommen • »Alltagsverhalten«: Inwieweit ist normales Leben möglich? • »Ablenkung und Betätigung«: Unterhaltungsangebote, Abwechslung, Möglichkeiten, sich sinnvoll zu betätigen • »Normale Umgebung« ähnlich einem Zuhause: Umgebung sollte möglichst wenig »institutionell« wirken • »Gute Bedingungen für Betreuung durch Eltern und Personal«: Zusammenwirken von Personal und Eltern bei der Pflege und Fürsorge. Ein Vergleich der Patientenwertungen auf der alten Kinderstation des Westchester Medical Center (WMC) und im neuen Maria-Fareri-Kinderkrankenhaus (MFCH) ergab für das letztgenannte: • • • • • • •
Besserer Schlaf, weniger Lärmbelästigung (im MFCH) Mehr eigene Regie, was im Raum geschieht, wer ihn betritt Privatsphäre ist verbessert Mehr Raum und Zeit für Familie und Freunde Mehr Unterhaltungsangebote und Aktivitätsmöglichkeiten Zimmerqualität »wie zuhause« (WMC: »schlechter als zuhause«) MFCH ist insgesamt schöner, kindgerechter.
Als durchschnittliche Gesamtbewertung bekam die alte Kinderstation des WMC von den kindlichen Patienten die Note 3,37 auf einer Skala von 1=ungenügend bis 5=sehr gut. Das neue Maria-Fareri-Kinderkrankenhaus benoteten die Kinder im Durchschnitt mit einer 4,73. Das bedeutet eine Steigerung von
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1,36 Stufen, was bei 5 verfügbaren Noten einen ziemlichen Sprung nach oben bedeutet. Das generelle Fazit fällt also deutlich zugunsten des neuen Kinderkrankenhauses aus. Patienten, Personal und Besucher schrieben dem WMC eine »typische Krankenhausatmosphäre« zu – das MFCH empfanden sie als wohnlicher. Ebenso erlebten sie das MFCH als wesentlich familienfreundlicher. Patienten und Besucher fühlten sich wohler im MFCH, waren aktiver und mobiler. Das Personal berichtet gesteigerte Qualität von Leben und Arbeit im MFCH. Kritisch bemerkte das Personal allerdings: Das MFCH ist so groß, dass das Zusammenwirken der Abteilungen in manchen Aspekten behindert ist. Bestimmte tägliche Routinen sind erschwert gegenüber WMC. Insgesamt jedoch erlebten und bewerteten Patienten, Eltern und Personal das MFCH erheblich besser als das WMC. Herauszuheben ist dabei: Entscheidend für die Verbesserung waren Architektur und Design – denn alle anderen Bedingungen blieben weitgehend gleich.
E videnzbasiertes D esign Eine menschlichere Gestaltung von Gesundheitsbauten erhöht nicht nur das Wohlbefinden im Sinne einer längst fälligen Re-Humanisierung von Architektur, sondern trägt direkt und indirekt zur Genesung der Patienten bei. Der von Patienten immer stärker gewünschte »Wohlfühlfaktor« ist somit nicht einfach eine freundliche schmückende Beigabe zur Heilungsmaschine namens Krankenhaus, sondern hat nachgewiesenermaßen therapeutische Wirkungen. Die Wissenschaft hat längst erkannt: Das »Gesunden eines Menschen« hängt »stark mit seinem Wohlbefinden« zusammen.11 Wegweisend war die bereits besprochene Studie von Roger Ulrich, die 1984 im renommierten Wissenschaftsjournal Science erschien: Patienten, die nach einer Gallenoperation einen Ausblick durchs Fenster ins Grüne hatten, erbaten weniger Schmerzmittel, erfuhren weniger Komplikationen und genasen rascher als Patienten, die auf eine Mauer schauten.12 Ein seitdem anwachsender, mittlerweile umfangreicher Fundus von empirischen wissenschaftlichen Studien13 belegt insgesamt den Einfluss einer ganzen Palette von Design-Faktoren oder durch Design beeinflussbarer Faktoren auf Wohlbefinden und Genesung in Gesundheitseinrichtungen. In einem 11 | Nickl-Weller, Nickl (2013), 13. 12 | Ulrich (1984). 13 | Huisman et al. (2012) identifizierten 798 Studien; zurzeit (2018) sind es somit sicherlich weit über tausend.
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ausführlichen Überblick14 nennt das finnisch-australische Forscherduo Heidi Salonen und Lilia Morawska die Aspekte Sicherheit, Belüftung, Raumtemperatur, Geräusche, Raumschnitt und Innenarchitektur, Fenster (Tageslicht und Ausblick), Natur und Gärten, Beleuchtung, Farben, Bodenbeläge, Möbel und ihre Anordnung, Ergonomie, Wegfindung, Kunst und Musik. Auch indirekt können solche Faktoren heilsam oder schädlich wirken, indem sie beispielsweise Verhalten und Kommunikation von Patienten, Besuchern und Personal beeinflussen.
Beispielproblem: Lärmbelästigung im Krankenhaus Beispielproblem Akustik:15 Patienten klagen mit am häufigsten über Lärmbelästigung. Der durchschnittliche Lautstärkepegel in Krankenhäusern liegt weit über den Empfehlungen der Leitlinien, verhindert die dem Patienten so notwendige erholsame Ruhe, erhöht Blutdruck und Herzfrequenz, stört den Schlaf, das Beisammensein mit Besuchern sowie die Kommunikation mit Ärzten, Schwestern und Pflegern. Beim Personal trägt die permanente Geräuschkulisse zum Arbeitsstress und zu Fehlern bei. Die akustische Belästigung in Krankenhäusern hat vielfältige Ursachen, von Unterhaltungen über summende Geräte bis hin zu häufigen, oft fehlerhaften Alarmen. Gespräche können übrigens auch dann stören, wenn sie nicht laut sind. Forscher richten ihren Blick auch auf weniger offensichtliche und traditionell wenig beachtete Beiträge zum Geräuschpegel, etwa die Rolle der Materialien und Oberflächen: Durch das zunehmende Wissen um die Bedeutung der Hygiene in Krankenhäusern wurde deren Innengestaltung im letzten Jahrhundert immer karger und steriler. Architekten beseitigten »alle möglichen Elemente, die zur Ausbreitung von Infektionen beitragen konnten, darunter auch jede Art von Oberfläche, die Krankheitskeime bergen konnte«.16 Zwar führten die Hygiene-Erkenntnisse zu eindrucksvollen Rückgängen der Infektionshäufigkeiten, doch die blanken und »leicht zu reinigenden Oberflächen reflektieren und verstärken Geräusche«.17 Auch der immer größere Bedarf an Diagnose und diagnostischem Gerät bedeutete, dass die Krankenhäuser immer mehr Raum für Maschinen benötigen. Bei einem Schichtwechsel, bei dem schwere Geräte wie mobile Röntgengeräte umhergefahren werden, wurde im Jahre 2004 im St. Mary’s Hospital der Mayo-Klinik in der thoraxchirurgischen Normalpflegestation, ein Lärmpegel von 98 Dezibel – die »Lautstärke
14 | Salonen, Morawska (2013). 15 | Sternberg (2011); Salonen, Morawska (2013). 16 | Sternberg (2011), 229. 17 | Ebd., 236.
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eines Motorrades« – gemessen.18 Bereits ein chronischer Lärmpegel von 40 Dezibel in der Nacht lässt laut einer Studie des Umweltbundesamts (UBA) das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten deutlich ansteigen.19 Architektur und Design können – neben anderen Maßnahmen – erheblich zur Eindämmung von Lärm beitragen, etwa durch geräuschabsorbierende Materialien und Oberflächen, kurze Flure, Bevorzugung von Einzelzimmern. Studien zeigten: Lärmreduktion verbessert den Schlaf, verringert empfundene Schmerzen und den Gebrauch von Schmerzmedikamenten, mildert psychologischen und physiologischen Stress, verlangsamt Herzrate und Atemfrequenz, erhöht die Sauerstoffsättigung, geht einher mit weniger emotionaler Erschöpfung, weniger Kopfschmerzen, verbesserter Kommunikation zwischen Patienten und Besuchern. Die Sicherheit verbessert sich, da Ärzten und Pflegern weniger medizinische Fehler unterlaufen. Konfusion und Desorientierung bei Patienten nehmen ab, die Genesungszeit ist kürzer und es gibt weniger wiederholte Einweisungen.20 Bei Krankenhauspersonal führt Lärmreduktion in Gesundheitsbauten zu weniger Stress, Müdigkeit, emotionaler Erschöpfung, Burnout und medizinischen Fehlern. Es verbessern sich Zufriedenheit, Kommunikation, Effektivität und Produktivität.21
K linikum A achen : Z ukunf tsbau oder missglück tes M onstrum ? Schon der entfernte Anblick eines Krankenhauses kann einladend-freundlich oder beklemmend, gar als furchteinflößende Trutzburg wirken. »Wie außen, so innen« assoziiert der sich Nähernde unbewusst oder bewusst. Ein mittlerweile weithin als abschreckend empfundenes Beispiel fehlgeplanter Monstrosität ist das Universitätsklinikum Aachen, das in über zehnjähriger Bauzeit von 1971 bis 1985 als modellhafte Klinik der Zukunft errichtet wurde. Als Produkt der zeittypischen Technikbegeisterung, gleichsam als Äquivalent zur Mondlandung im Klinikbau, sollte die Klinik das Beste vom Besten in effektivster Form in sich vereinen: • größtes Klinik-Bauwerk in Europa • Maximalversorgung: alle medizinischen Disziplinen, modernste Geräte, fähigstes Personal, Forschung, Lehre 18 | Ebd., 228. 19 | Babisch (2004). 20 | Einzelnachweise in Salonen, Morawska (2013). 21 | Ebd.
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• Alles unter einem Dach: 1.600 Betten, 6.200 Mitarbeiter, 3.000 Studenten, täglich 4.000 Besucher bzw. ambulante Patienten • Architektur: »High-Tech-Funktionalismus« • Modulbauweise: Anbau, Umnutzung, Umbau möglich • Hochkomplexe Infrastruktur und Logistik • Flexibilität: »Jede Funktion soll jederzeit an jedem Ort möglich sein« • Farbkonzept im Innenbereich: dominierendes Grün mit Gelb • Kosten: geplant 300 Millionen; tatsächlich 1,2 Milliarden. Schon bald wurden ernste Probleme mit der Superklinik deutlich. So verschwendete die fehlkonstruierte Klimaanlage nicht nur gewaltige Mengen an Energie, sondern verursachte im Innenbereich Dauerschnupfen und trockene Schleimhäute. Patienten und Personal beklagten, dass sich die Fenster nicht öffnen ließen, dass viele Räume dunkel oder gar fensterlos waren, mit manchmal sehr beengten Arbeitsbedingungen. Nach wenigen Betriebsjahren war das Klinikum teilweise marode und umfassend renovierungsbedürftig. »Gigantisch, teuer, dunkel, schlecht belüftet …«, lautete 2006 das Urteil der Zeitschrift Spiegel in einem Artikel über den Zukunftsbau mit dem Titel »Krankes Haus«.22
Bild 42: Klinikum Aachen, Frontansicht (Architekten Weber & Brand)
22 | Brandt (2006).
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Bild 43: Klinikum Aachen, Eingangsbereich (Architekten Weber & Brand)
Eine 2004 begonnene tiefgreifende Sanierung nutzte die Raster- und Modulbauweise mit beweglichen Wänden, die als von Anfang an leitende Idee Flexibilität, An- und Umbauten und damit Anpassung an neue Aufgaben erlauben sollte. Der Pflegebereich wurde vollständig neu gestaltet. Anstatt eines einheitlich und vollständig überdachten gewaltigen Quaders gibt es jetzt aufwändig eingetiefte Lichthöfe mit Pflanzenkästen in den Etagen 7 bis 9. Damit fällt mehr Licht in mehr Räume und Dunkelzonen im Haus fallen weg. Die Zimmer sind größer, viele erstmals mit Fenster. Licht, Luft und Temperatur werden stärker auf natürliche Weise geregelt (über Fenster beispielsweise), so lässt sich mit wesentlich weniger Klimatechnik auskommen. Mit nunmehr dezentralen Pflegestützpunkten sind die Wege für das Personal und zum Teil auch für Patienten kürzer. Die Haustechnik ist umfassend überholt. Es gibt zusätzlich ein Gästehaus und eine neue Hubschrauberplattform.
K r ankenhausflure Nach Frontfassade und Eingangsbereich erreicht der Gast den Stationsflur eines Krankenhauses. Obgleich oft ohne besondere Aufmerksamkeit gestaltet, hat dieser einen prägenden Einfluss auf das Erleben des Klinikinneren und vermittelt die dem Bau zugrunde liegende Geisteshaltung. Wer kennt
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sie nicht, die endlos langen Krankenhauskorridore mit den rechts und links aufgereihten Türen zu den Patientenzimmern. Möglichst schnell durchquert der Besucher den monotonen Schlauch, auch nach wiederholten Aufenthalten immer wieder orientierungslos, unter anderem, weil die Türen alle gleich aussehen. Als »Durchgang« hat der Flur die Basisfunktion, den Weg zu den eigentlich zweckvollen Räumen wie Patienten- oder Behandlungszimmern zu ermöglichen. Flure sollten – dies ist die Nebenbedingung – im Notfall als Rettungs- und Fluchtwege geeignet sein und damit beispielsweise frei sein von »Brandlast« (»brennbare und beim Brand Rauch und/oder Wärme entwickelnde Dinge«). In solchen öden Tunneln spürt man förmlich das Lineal, mit dem der praktisch und ökonomisch gesinnte Architekt den Gang auf die einfachste und billigste Weise entworfen hat. Ein Krankenhausflur ist in aller Regel ein typischer »negativer Raum«, um einen wichtigen Begriff des Architekten und Architekturtheoretikers Christopher Alexander zu gebrauchen.23 Christopher Alexander verwendet den Term »negativer Raum« für den gern vernachlässigten Raum um den Gegenstand des eigentlichen Interesses herum oder zwischen solchen Gegenständen. Das Konzept »negativer Raum« ähnelt damit dem des »Hintergrundes« in der Gestaltpsychologie. In Architektur und Design gilt diesem Raum oft kein eigenes, zumindest kein primäres Interesse: Er wird phantasielos, nüchtern und gleichgültig als Raum ohne eigenen Wert gestaltet, wenn sich hier überhaupt von »gestalten« sprechen lässt. Hier hält man sich nur auf, wenn unbedingt nötig, hier fühlt man sich nicht wohl und möchte weg. Christopher Alexander kritisiert vehement die Tendenz, »negative« Zonen zwischen den »eigentlich« wichtigen Räumen ästhetisch zu vernachlässigen: Für Wahrnehmung und Empfinden sei der Hintergrund ebenso bedeutend wie das Hauptmotiv, der Weg so wichtig wie das Ziel, der Durchgang so wichtig wie der Zweckraum. Denn auch die Zwischenräume, Hintergründe und funktionalen Verbindungen beeinflussen uns und bestimmen unser Erleben und Daseinsgefühl — so können anonyme Krankenhauskorridore »letztlich depersonalisierend«24 wirken. Christopher Alexander wird nicht müde zu betonen: Ästhetisch sollte es keinerlei »negative Räume« geben. Den Umgebungen, Hintergründen, Zwischenräumen und Grenzräumen sollte ein Künstler oder Architekt sich mit genauso viel Aufmerksamkeit, gestalterischer Phantasie und Liebe zuwenden wie den »eigentlichen« Hauptsachen. Wie die Lobby einer Klinik sollten auch die Flure nicht einfach nur Durchgänge sein. Mit ihnen begrüßt das Krankenhaus Patienten, Besucher und Personal, verrät ohne Worte, ob man sich beim Entwerfen und Gestalten um ihr Wohlbefinden Gedanken gemacht hat. Flure definieren die ästhetische Atmo23 | Alexander et al. (1977). 24 | Astesani (2018).
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sphäre des jeweiligen Hauses und damit, ob die Menschen sich eingeladen oder abgewiesen, behaglich oder unbehaglich fühlen.
V idar -K linik Krankenhausflure können durchaus als phantasievolle, ästhetisch ansprechende »positive Räume« erfreuen, inspirieren und erquicken, um das schöne, leider veraltete Verb zu gebrauchen. Als instruktives Beispiel nennt das Architekten- und Forscherpaar Susanne Siepl-Coates und Gary Coates (beide lehren an der Kansas State University Manhattan, Kansas, USA) die schönen Flure der anthroposophisch orientierten Vidar-Klinik im schwedischen Järna. Die Vidar-Klinik ist als »heilsame Architektur« mit Fokus auf wohltuender, harmonischer Patientenerfahrung 20 Jahre lang mit großer Sorgfalt geplant und gebaut worden.25 Die Stationsflure strahlen dies aus: Die Flure sind wohnlich und freundlich, jedoch unterschiedlich gestaltet. Richtungswechsel, Vorsprünge und Nischen machen neugierig auf das jeweils noch Verdeckte. Ausgesuchte Materialien und nuanciert abgestufte Farben regen die Sinne subtil an. Durchdacht angeordnete Fenster sorgen für eine differenzierte Beleuchtung mit Naturlicht und ermöglichen Ausblicke nach draußen. Für den jeweiligen Flur spezifische Ausstattungen, etwa mit Holzböden, Blumen und Bildern, tragen zur individuellen Anmutung bei. Die Flure der Vidar-Klinik laden so als »positive Räume« zum Verweilen und Meditieren, zum Schlendern, Betrachten und Begegnen ein.
Bild 44: Stationsflur, Vidar-Klink (Järna, Schweden; Architekt: Erik Asmussen)
25 | Coates (1997); Coates, Siepl-Coates (1996).
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Der dänische Architekt Erik Asmussen (1913-1998) hat mit Freunden maßgeblich die Vidar-Klinik zusammen mit weiteren bemerkenswerten Gebäuden in Järna entworfen, errichtet und eingerichtet. Susanne Siepl-Coates und Gary Coates haben sich über acht Jahre hin intensiv mit Asmussen und seiner Architektur beschäftigt. »Wir waren sehr beeindruckt und berührt von der Ausdruckskraft der ungewöhnlichen Gebäude. Wir wollten diese visionäre und menschenfreundliche Bauweise genauer kennenlernen und bekannter machen.«26
Bild 45: Haupteingang der Vidar-Klinik (Järna, Schweden; Architekt: Erik Asmussen)
Asmussen verfolgte ein anthroposophisch inspiriertes Konzept von organisch heilsamer Architektur. Das Forscherpaar Coates stellt unter anderem folgende Charakteristika heraus27: • Die Einheit von Funktion und Form wird neu verstanden: Eine wichtige, wenn auch von technisch orientierten »Funktionalisten« wenig beachtete Funktion von Gebäuden ist, den Menschen als lebendiges, sich entwickelndes Wesen zu fördern. Hier sind »lebendige Formen« funktional; Gary Coates spricht gar von »spirituellem Funktionalismus«. • Ein Gebäude mit seiner Funktion bildet ein organisches Ganzes mit seiner Umgebung. • Aufmerksamkeit von Architekten und Designern auf jedes Detail fördert die lebendige, freundliche Anmutung eines Gebäudes oder Raumes. Viele Einzelheiten haben Asmussen und seine Kollegen aus ihrer Funktion her26 | Interview mit Susanne Siepl-Coates und Gary Coates. 27 | Coates (1997); Coates, Siepl-Coates (1996).
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aus entworfen. So sieht man den individuell, doch stets nach der Hand geformten Türklinken unmittelbar an, ob sie zum Drücken oder Ziehen sind. Das Aussehen mancher Lampen spiegelt die Funktion des Raumes usw. • Die Wandfarben sind oft durchscheinend: Ein mehrschichtiger Auftrag auf weißem Grund ergibt eine transparente, schwingend dreidimensionale »atmende« Anmutung. • Die Farbgebung ist subtil auf die Funktion abgestimmt. So gibt es in Patientenzimmern spezifische Farben für spezielle Krankheitsgruppen. • Formen drücken Kräfte der Natur, die Funktion des Elementes und Bedürfnisse des Menschen aus. Kaskadenbrunnen betonen den natürlichen Fluss und die Kräfte des Wassers. Kamine veranschaulichen die Bewegungen der aufsteigenden heißen Luft. Zu guter Letzt: »Architektur sollte mit allen Sinnen gleichzeitig erlebt werden. Warum nicht auch mit einem Sinn für Humor?«
Bild 46: Wandelgang, Vidar-Klinik (Järna, Schweden; Architekt: Erik Asmussen)
Gary Coates: »Die Prinzipien, auf denen Asmussens Architektur beruht, können auch in anderen Kontexten Anwendung finden. Sie eignen sich ganz allgemein als Basis für die Gestaltung von Umgebungen, die heilsam wirken und Heilung unterstützen sollen.«28 »Die emotionale Wirkung liegt oft im liebevollen Detail«, sagt Susanne Siepl-Coates. »So habe ich zuerst gar nicht bewusst bemerkt, dass sich der Haupteingang der Vidar-Klinik ganz leicht dem ankommenden Patienten oder Besucher zuwendet, nicht vollständig parallel zur Fassadenwand.«29 Das Kran28 | Interview mit Susanne Siepl-Coates und Gary Coates. 29 | Ebd.
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kenhaus ist so angelegt, dass es schon qua Architektur den Patienten in keiner Weise ängstigt oder de-personalisiert, sondern ihn durch die Stadien seiner Genesung begleiten und stärken kann. Ein neuer Patient, der vielleicht zunächst mit sich selbst beschäftigt und rückzugsbedürftig ist, soll in seinem Zimmer die nötige Geborgenheit finden. Die Patientenräume in unterschiedlichen Formen und Farben sollen dabei möglichst zum jeweiligen Individuum passen. In späteren Stadien der Heilung kann der Patient sich stufenweise der umgebenden Welt und den Menschen öffnen, kann interessant und kommunikativ gestaltete Flure aufsuchen, in Freiluft-Wandelgängen Luft, Licht und Naturblick genießen, kann in diversen Gärten entspannen, in Aufenthalts- und Essräumen anderen Patienten, Besuchern und Personal zwanglos begegnen, kann schließlich Veranstaltungen besuchen und vieles mehr.
K r ankenhaus -D esign für das E mpfinden Neuere Krankenhäuser, welche die Idee aufnehmen, dass die erlebte Atmosphäre den Heilungsprozess unterstützen kann, sollen oft wie Erholungszentren mit Hotelcharakter wirken. Während viele Kliniken dabei mit eher neutraler Allerweltsgestaltung auf Nummer Sicher gehen, präsentieren sich andere mit durchaus gewagten individuellen Designideen.30 Insbesondere halb-öffentliche Räume wie Lobby und Flure sind gern als hochwertige Interieurs gestaltet mit interessanten Gegenständen, Formen und Mustern, kräftigen Farben, Kunst, Bemalungen, Mosaiken, konkreten oder abstrakten Natur-Anmutungen. Zunehmend entdecken Designer den Charme regionaler Elemente und Assoziationen. In den Patientenräumen findet sich dagegen meist ein eher vorsichtiges Design. Kräftige Farben können hier übrigens auch Probleme bereiten, nicht nur wegen ihrer wenig kalkulierbaren, doch manchmal starken emotionalen Wirkung. So kann eine Wand in gesättigter Farbe die Hautfarbe so verändern, dass eine Beurteilung des Hautzustandes schwierig wird. Ebenso wichtig wie die Schaffung von Atmosphären, die das Wohlbefinden steigern, »sind die architektonischen Angebote für Informationsflüsse, soziale Interaktion, Bedeutung und Kommunikation. Zu einer ›Healing Architecture‹ gehören auch Zugänglichkeit und Benutzerfreundlichkeit von Technologien, die solche Aktivitäten ermöglichen, verbessern und erweitern.«31
30 | Bernhard (2018). 31 | Nickl-Weller, Nickl (2013), 256.
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Eine Gestaltung gemäß den Prinzipien einer »Healing Architecture« 1. 2. 3. 4.
fördert positive Gefühle mildert Stress verbessert den Schlaf reduziert negative Gedanken, Wut, Angst, Ärger, Reizbarkeit, Depression oder Traurigkeit 5. reduziert Blutdruck, Herzfrequenz, Muskelspannung 6. verändert die elektrische Aktivität des Gehirns im Sinne von Erholung 7. vermindert Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen (einschließlich Übelkeit) und chronische Schmerzen 8. führt zu weniger Schmerzmitteleinnahmen 9. verringert postoperative Komplikationen 10. bewahrt vor Stürzen 11. beugt Infektionen vor 12. reduziert Symptome von Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörung (ADHD) 13. verbessert Kognition, Kreativität, kritische Denkfähigkeiten 14. verkürzt Liegezeiten 15. verbessert die Privatsphäre 16. vermeidet Desorientierung 17. fördert die soziale Unterstützung. Das wachsende Bewusstsein, wie erheblich die Umgebung an Befinden, Gesundheit und Gesundung beteiligt ist, bringt es mit sich, dass im Lichte der entsprechenden Forschungsresultate diverse Leitlinien zur Gestaltung formuliert werden und Planer von medizinischen Einrichtungen die Resultate und Leitlinien zunehmend in Konzepten »evidenzbasierter Gesundheitsarchitektur« berücksichtigen. Viele Forschungsergebnisse sind intuitiv einleuchtend und man benötigt nicht unbedingt aufwändige Studien, um die Einsichten plausibel zu finden. Auch muss gesagt werden, dass manche Erkenntnisse und Forderungen der »Healing Architecture« nur im Kontrast zum funktionalen Krankenhausbau der jüngeren Vergangenheit durchaus neuartig sind. Gleichwohl bedeuten zentrale Konzepte ein »Revival«, eine Renaissance älterer Traditionen mit bereits langer Geschichte.32 So war es in der Vergangenheit immer wieder üblich, Häuser der Heilung in idyllischer Naturumgebung zu errichten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts warb Florence Nightingale für ihre Überzeugung, dass Patienten in einer Umgebung mit natürlichem Licht, frischer Luft, Sauberkeit und
32 | Theodore (2016).
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ordentlichen Sanitäranlagen schneller gesunden.33 Die Prinzipien von Florence Nightingale hatten großen Einfluss auf die Planung von Krankenhausbauten der Folgezeit und werden in einem »Revival« heute wieder zunehmend beachtet.34
I nterkulturell sensibles K r ankenhaus Hier nur angedeutet sei auch die im Gesundheitswesen zunehmend geforderte interkulturelle Sensitivität und Kompetenz.35 Immer mehr Patienten, Personal und Besucher kommen mit immer vielfältigeren kulturellen, ethnischen, nationalen und religiösen Hintergründen, die geachtet und berücksichtigt werden wollen. »Über 15 Millionen Menschen weisen in der Bundesrepublik einen Migrationshintergrund auf. Insbesondere die gesundheitliche Versorgung älterer Migrantinnen und Migranten wird durch bestehende sprachliche, kulturelle und institutionelle Zugangsbarrieren erschwert.«36 Die Vielfalt erlaubt keine Standardrezepte und erfordert dauernde interkulturelle Lernbereitschaft, Empathie und Toleranz. Wünschenswert sind entsprechende Beauftragte, Fortbildungen für Mitarbeiter in interkultureller Kompetenz, Einbeziehung von Migranten als Experten. Manche sinnvolle Angebote (wie Dolmetscherdienste) werden nicht erstattet und sind deshalb freiwillig. Multikulturelle Beiträge von Architektur und Design sind noch wenig bedacht. Mehrsprachige Texte, international verständliche Zeichen, interreligiöse Gebets- und Besinnungsräume sind hier mögliche Angebote, die sich sicherlich noch wesentlich erweitern lassen.
Patientenzimmer Patientenzimmer sind multifunktional. Für den Patienten selbst ist sein Zimmer ein Ort der Heilung, Schlaf-, Wohn- und Esszimmer. Für Klinikpersonal ist es ein Arbeitsraum, für Besucher ein Empfangszimmer, manchmal muss es auch für diese als Schlafzimmer oder Büro herhalten. Seit mehr als 70 Jahren hat sich das basale Design von Patientenzimmern kaum verändert. Doch jetzt kommen die Dinge in Bewegung mit vielen Experimenten und Versuchen, dem Patienten nicht nur optimale Versorgung, sondern auch Wohlfühlatmosphären zu bieten. Dazu gehört Wohnlichkeit, möglichst ein Fenster mit 33 | Salonen, Morawska (2013). 34 | Short et al. (2014). 35 | Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2015). 36 | Wesselmann (2018).
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Ausblick in die Natur, viel Raum – gern in »Zonen« – auch für Ärzte, Schwestern und Pfleger, aber auch für Angehörige und Besucher, ein Schlafsofa für Besucher sowie eventuell ein Tischchen, um am Computer zu arbeiten. Manche neuere Up-to-date-Patientenzimmer bieten dem kranken Gast die Möglichkeit, nicht nur sein Bett individuell zu verstellen und den Fernseher nach Wunsch zu bedienen, sondern auch Möglichkeiten, für das Essen Menü und Zeit zu wählen, Fenster individuell zu steuern, die Raumtemperatur zu wählen und das Licht zu regulieren – manchmal mit unterschiedlichen Beleuchtungsmöglichkeiten für verschiedene Lichtinszenierungen im Raum oder gar mit farbigen LED-Lichtspielen, wenn man Lust dazu hat. Solche Komfort-Elemente sind oft bewusst und explizit als von der Wissenschaft beglaubigtes »Evidence-based design« implementiert. In der Tat belegen Forschungsarbeiten, dass Faktoren wie Wohnlichkeit, Geborgenheit, Internet, Ausblick auf Natur, positive Ablenkungen und Besucherfreundlichkeit, segensreiche Wirkungen haben, von Wohlbefinden über Stressreduktion bis hin zu schnellerer Genesung mit weniger Schmerzen.37 Allerdings konnte die Bedeutung von Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten (»Kontrolle«) bisher nicht eindeutig belegt werden,38 obwohl auch dieser Faktor allgemein als sehr wichtig empfunden wird. Der Entwurf von Räumen für Patienten, Angehörige und Personal ist, so die Innenarchitektin Sylvia Leydecker, »ein schwieriger Balanceakt zwischen humanzentriertem Ansatz, der gewünschten angenehmen Atmosphäre, Prozessoptimierung, Hygiene, Wirtschaftlichkeit und Ökologie, zwischen emotionalen und funktionalen Bedürfnissen«.39 Wohltuendes Design bedeutet selbstredend eine Abkehr von einer sterilen, technikdominierten, ästhetisch kargen »Krankenhausatmosphäre«. Doch was kann an deren Stelle treten? Sylvia Leydecker: »Wer beispielsweise denkt, Patientenräume ließen sich problemlos wie Hotel- oder gar Wohnzimmer gestalten, der wird schnell eines Besseren belehrt.«40 So lässt sich mit Textilien wunderbar Wohnlichkeit gestalten, doch haben sie im Patientenzimmer aus hygienischen Gründen nur sehr bedingt Platz. Bezugsmaterialien sollten desinfektionsmittelbeständig und urindicht sein, was die Auswahl stark einschränkt. Kommunikativ um einen Tisch arrangierte Stühle passen nicht zur Notwendigkeit, im Notfall schnellstmöglich Geräte und Personal um das Bett versammeln zu können oder das Bett schnellstmöglich hinausschieben zu können. Die Liste der Einschränkungen ist lang. Sprich: Ansprechende De37 | Salonen, Morawska (2013); Huisman (2010); Andrade et al. (2017); Devlin et al. (2016). 38 | Andrade et al. (2017). 39 | Leydecker (2017a). 40 | Interview mit Sylvia Leydecker.
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signideen reichen nicht, Gestalter müssen sich mit klinikspezifischen Gegebenheiten, mit Vorschriften und Empfehlungen auskennen. Eine konservativ orientierte Krankenhausleitung kann die Verwirklichung interessanter Ideen verhindern, vom Kostendruck nicht zu reden. Doch lassen sich auch mit den genannten Einschränkungen behagliche und attraktive Krankenzimmer gestalten, in denen sich Patienten wohl und geborgen fühlen. Schon 2006 hat Sylvia Leydecker ein entsprechendes prototypisches »Patientenzimmer der Zukunft« entworfen und auf einer Konferenz als Mock-Up (begehbares Musterzimmer) vorgestellt.41 Dieses Zimmer, das damals als wegweisend und beispielgebend bewertet wurde, bot zum einen eine wohnliche Hotelatmosphäre mit weitgehend versteckter Technik, mit einem stimmigen Material- und Farbkonzept aus Holzoberflächen, Orange- und Creme-Tönen, dezenter Deckengraphik, einem großzügigen Bad mit designerisch mutigen Akzenten – einem kanariengelben Waschbecken beispielsweise. Sylvia Leydecker sagt: »Ein Bett in Orange statt vielleicht in Holzoptik und ein quietschgelbes Waschbecken aus Mineralwerkstoff – das klang für manche erstmal verrückt, aber das Modellzimmer kam dann sehr gut an.«42 Gleichzeitig entsprach das Zimmer den hygienischen, pflegerischen und sonstigen Erfordernissen. Die Problematik, dass traditionelle schöne Materialien oft nicht mit hygienischen und sonstigen Anforderungen vereinbar sind, wurden teilweise mithilfe neuer »smarter« Materialien gelöst, die eine angenehme hochwertige Ästhetik mit Hygiene und »Klinik-Brauchbarkeit« vereinen. »Die Möglichkeiten neuartiger Werkstoffe sind bei Planern und Designern noch viel zu wenig bekannt«, bemerkt Sylvia Leydecker. In ihrem »Patientenzimmer der Zukunft« finden sich »High-Tech-Materialien auf Basis von Nanotechnologie, wie etwa antibakterielle Lacke und Lichtschalter, luftreinigende Wandfarbe und Vorhänge, hydrophober und diffusionsoffener Wandbelag statt Wandfliesen, selbstreinigende Bodenfliesen und Easy-to-Clean-Oberflächen im Bad«.43 Sylvia Leydecker betont: »Für eine gute Innenarchitektur kommt es vor allem auf das Gesamtkonzept an.«44 Einzelaspekte wie Raum für Besucher, angenehme Farben, Kommunikationsmöglichkeiten, Blick ins Grüne, ein biologisch angepasstes Lichtdesign und andere »Komfortelemente« sind zwar wertvoll, ergeben aber noch nicht automatisch im Zusammenklang ein wohnliches und klinisch brauchbares Ganzes. Sylvia Leydecker sagt: »Auch das beste Musterzimmer ist keine Vorlage, die sich in jeder Klinik einfach 1:1 übernehmen lässt. Ich jedenfalls denke, ein 41 | Leydecker (2017b), 119. 42 | Interview mit Sylvia Leydecker. 43 | Leydecker (2017b), 119; siehe auch Leydecker (2017c). 44 | Interview mit Sylvia Leydecker.
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Patientenzimmer sollte nicht nur für die Abläufe in der Klinik maßgeschneidert sein, sondern auch beispielsweise zum Charakter der Gegend passen, wie überhaupt das ganze Haus.« Ein Krankenhaus auf dem Land und dessen Räume lassen sich mit »ländlichem« Touch gestalten, ein Krankenhaus in einer Kulturstadt kann dies in seiner Gestaltung und Einrichtung spiegeln. »Ein perfekt passendes Design von der Stange gibt es nicht und kann es nicht geben. Der Patient bemerkt mindestens unbewusst, ob er ein austauschbares Modul belegt oder in einem liebevoll und aufmerksam entworfenen und eingerichteten Raum liegt, der ihn als Person willkommen heißt. Das ergibt einen gewaltigen Unterschied in der empfundenen Atmosphäre.«45 In Zukunft müssen die Zimmer im Gefolge der Fallpauschalen (DRG) mehr daraufhin geplant werden, dass Patienten kürzer darin verweilen, solange sie im Akutstadium sind, und dass die Erholungsphase zuhause stattfindet. Eine harsche Randbedingung aller Versuche, den Patienten in möglichst jeder Beziehung optimal zu versorgen, ist der finanzielle Druck. Sylvia Leydecker: »Die Ökonomisierung der Abläufe schreitet ungehindert voran, indem der Patient möglichst effizient durch den Krankenhausbetrieb geschleust wird. Wie sonst sind die Bevorzugung gewinnbringender Patienten, das Phänomen gestiegener Operationszahlen oder verkürzter Verweildauer bei pauschalisierter Abrechnung zu erklären?«46 Sylvia Leydecker beklagt, dass ihre Planungsleistung und Expertise vor allem im Bereich der Privatpatienten und Zusatzleistungen gefragt sind. Doch auch hier wird oft nur insoweit etwas getan, als es den Krankenhäusern Geld bringt: »Problematisch ist: Die gemeinsame Empfehlung des Verbandes der Privaten Krankenversicherungen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft47 definiert ›Komfortelemente‹ der Patientenzimmerausstattung, die dem Krankenhaus von den Kassen vergütet werden. Viele Betreiber schauen deshalb im Wesentlichen, dass Patientenzimmer zwar möglichst viele abrechnungsrelevante Charakteristika aufweisen – aber das war’s dann. Atmosphäre fehlt dennoch oft.«48 Zusätzlich fatal ist, dass die genannte Empfehlung fordert: »Ein Komfortelement kann grundsätzlich nur dann in die Bewertung einfließen, wenn es sich bei diesem Komfortelement um andere als die allgemeinen Krankenhausleistungen handelt.«49 Sprich: Wenn ein Krankenhaus seine Regelleistungszimmer mit »Komfortelementen« ausstattet, darf es diese bei Wahlleistungen nicht mehr abrechnen. Normalzimmer entsprechend
45 | Ebd. 46 | Ebd. 47 | DKG/PKV (2002). 48 | Interview mit Sylvia Leydecker. 49 | DKG/PKV (2002).
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komfortabel zu gestalten, ist somit nicht nur unprofitabel, sondern wird auch noch finanziell bestraft.
Bild 47: Warteraum mit Blick in Gartenanlage, St. Anthony’s Medical Center Heart and Surgical Pavilion (St. Louis, Missouri, USA; Architekten: Austin Tao and Associates; Innenarchitekten: Spellman Brady & Co)
Sylvia Leydecker sagt: »Wenn ich beides in der Hand habe, bekomme ich es hin, dass sowohl das Regelleistungszimmer, dessen Gestaltungsqualität von der GKV nicht honoriert wird, dennoch zum Wohlfühlen ist, als auch die davon differenzierte Wahlleistung erlösorientiert abgerechnet werden kann.«50 Doch die Empfehlung wirkt sich selbstredend insgesamt so aus, dass über den Standard hinausgehende Investitionen in Normalzimmer gemeinhin als wenig lohnend empfunden werden.
Beispielthema: Kontrolle und Privatheit Schon bei gesunden Menschen sind Kontrolle und Privatheit entscheidend für Wohlbefinden und Stresserleben. In einer Wohnung benötigen wir – jedenfalls in der modernen abendländischen Kultur – unterschiedliche räumliche Intimitätshierarchien, um uns wohl zu fühlen. Das Schlafzimmer mit dem Bett ist ein Bereich, der von einer privaten und vertrauten Atmosphäre bestimmt 50 | Interview mit Sylvia Leydecker.
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ist. Bei kranken und geschwächten Menschen sind geschützte Rückzugsräume, Privatheit und Intimität noch wichtiger als bei gesunden. Doch gerade bei Menschen, die geschwächt ihre Zeit in Altersheimen oder im Krankenhaus verbringen müssen, ist der geschützte Rahmen oft weitgehend aufgelöst. Die Privatsphäre für einen Seniorenheimbewohner beginnt erst hinter seiner Zimmertür, für einen Krankenhauspatienten meistens erst in seinem Bett. In Heimzimmern sowie in Krankenzimmern ist Intimität gefährdet, da bei den kleinen Zimmern das Bett sofort zum »zentralen Blickfang« wird.51 Pfleger beziehungsweise Gesundheitspersonal haben jederzeit Zutritt. So schreibt Charlotte Uzarewicz, dass die »Heimbewohner qua Architektur der Scham« preisgegeben werden. Ähnliches erlebt man als Patient in vielen Kliniken: Verletzungen der Privatsphäre erlebt man hier täglich. Bettnachbarn bekommen heikle Details über die Erkrankung mit, sehen zu, wie der Pfleger die Bettpfanne bringt. Die Besucher des oder der Bettnachbarn muss man als Patient ertragen. Jederzeit kann die Tür aufgehen und eine Schwester hereinkommen, völlig egal, was man gerade macht. Im Krankenhaus spielt neben dem Bett als einzigem eigenen Platz auch noch eine Rolle, dass Patienten manchmal mehrere Tage komplett auf Unterwäsche verzichten und nur ein dünnes Hemd tragen müssen. Im Extremfall kann das Bedürfnis nach Kontrolle, Privatheit und Schutz verletzt werden, wenn Patienten in ausgesetzter Weise warten müssen, in lieblosen Arealen mit Durchgangsverkehr oder gar auf dem Flur, sei es zwischenzeitlich abgestellt im Rollbett oder auch auf dem Stuhl, eventuell noch im grünen Krankenhaus-Hemd. Ausgesetztes Warten löst enorme Stressreaktionen bei den Patienten aus. Warten ist generell nicht angenehm, findet dieses Warten aber irgendwo auf dem Gang statt, ist es höchst unangenehm. Obwohl dies jeder weiß, ist es weiterhin Standard in deutschen Krankenhäusern und auch weltweit. Eine große Anzahl von Studien und Leitlinien empfehlen, Einzelzimmer gegenüber Mehrbettzimmern zu bevorzugen.52 Zu den nachgewiesenen Vorteilen von Einzelzimmern gehören: • weniger Krankenhausinfektionen (nosokomiale Infekte) aufgrund stärkerer Isolation, effektiverer Reinigung, besserer Luftqualität und häufigerem Händewaschen • Lärmreduktion (weniger Geräusche von Mitpatienten, Besuchern und Personal) • bessere Möglichkeiten der Übersicht und Kontrolle (z.B. über Licht, Luft, Fernsehen, Besucher…) 51 | Uzarewicz (2016), 76. 52 | Salonen, Morawska (2013).
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• • • •
mehr Privatsphäre und empfundene Würde verbesserter Schlaf (wegen Lärmreduktion und mehr Privatsphäre) mehr Sicherheit (weniger medizinische Irrtümer und Stürze) verbesserte Kommunikation von Patient mit Personal und Besuchern sowie innerhalb des Personals • stärkere Einbindung und Unterstützung von Familie und Freunden und diverse andere Vorteile mehr. Als Nachteile werden genannt: • fehlende soziale und emotionale Unterstützung durch Zimmernachbarn • schlechtere Sichtbarkeit und Überwachungsmöglichkeiten der Patienten durch Personal. Die Vorteile überwiegen jedoch den meisten Studien und Autoren zufolge die Nachteile. Außerdem kann ein Zimmernachbar bekanntlich durchaus ziemlichen Stress verursachen, anstatt sozial und emotional zu unterstützen.
A uf dem W eg zum Patientenzimmer der Z ukunf t Viele Designideen und Forschungsarbeiten gelten dem komplexen Thema »Patientenzimmer der Zukunft« und der Entwicklung entsprechender Prototypen und Modelle. Immer neue innovative Materialien, Produkte und Technologien stehen zur Verfügung. Zahlreiche Aspekte gilt es hier zu erarbeiten und zu integrieren. Wie bereits gesagt, soll das Patientenzimmer zum einen ansprechendes Design, Ruhe und Wohlfühlatmosphäre bieten, dann aber auch eine Vielzahl technischer Hilfsmittel und Highlights beherbergen sowie den medizinischen und hygienischen Standards genügen. Sicherheit steht oben auf der Prioritätenliste zusammen mit Effizienz für das Personal. Das Zimmer soll Privatsphäre und Kontrolle ermöglichen. Bereits das Aufstellen eigener Bilder oder das selbstständige Bedienen von Heizung und Licht wirken sich positiv aus. Statt weißer Wände bestimmen immer mehr sanfte Farbtöne die Räume im Krankenhaus der Zukunft. Weiterhin soll das Patientenzimmer möglichst vielfältige Verbindungen zum normalen Leben ermöglichen, deutlich besucherfreundlicher sein als in der Vergangenheit üblich, barrierefrei, gleichzeitig höchsten hygienischen Ansprüchen genügen. Flexibilität ist Pflicht, in Antizipation möglichen technischen oder konzeptuellen Wandels. Und dies alles zu vertretbaren Kosten.
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Bild 48: Patientenzimmer mit Blick ins Grüne, Klinik Höhenried (Bernried)
Manchmal müssen Kompromisslösungen gefunden werden. Patientenbetten können wegen all ihrer nötigen Funktionen kaum wie Schlafzimmerbetten aussehen. Das Verbergen von Instrumenten, Medikamenten und Medizintechnik verträgt sich nicht immer damit, dass manche von diesen schnell und bequem erreichbar und einsetzbar sein sollten. Nicht selten wird die Aufgabe sein, vorhandene Bauten mit – nach heutigen Maßstäben heilsamer Architektur – inadäquaten Zimmern neu zu gestalten, eine per se kompromissbehaftete und komplizierte Angelegenheit, in deren Rahmen jedoch viele Verbesserungen möglich sind. So wurde das Bettenhaus Berlin Mitte der Charité 2014-2016 (620 Betten, 27.000 Quadratmeter Nutzfläche) umfassend unter der Leitidee saniert, »dass die Architektur den Patienten, den Besuchern und dem Personal gleichermaßen dient«.53 Die Krankenräume – mehrheitlich Ein- oder Zweibettzimmer – wurden mit dem zentralen Ziel einer möglichst offenen, freundlichen und hellen Anmutung neu gestaltet, teilweise mit bodentiefen Fenstern, um auch liegenden Patienten einen Ausblick auf das Berliner Panorama zu ermöglichen. Der ursprünglich atmosphärisch eher bedrückende eingeschossige Eingangsbereich konnte durch das Entfernen der Decke und das Einfügen großer Fensterflächen zu einer zweigeschossigen Eingangshalle mit mehr Tageslicht aufgewertet werden. Räumliche Neustrukturierungen und Neuorganisation der Abläufe er-
53 | Redaktion medAmbiente (2017).
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möglichten wesentlich kürzere Wege für Patienten und Personal im modernisierten Haus. Wie gut ein Patientenzimmer funktioniert, hängt nicht nur von ihm selbst, sondern auch von der übergreifenden Konstruktion und Organisation der Klinik ab. So setzen Klinikplaner, um die Entfernungen zu und von Patientenzimmern und überhaupt im Krankenhaus möglichst gering zu halten, mehr und mehr auf »Dezentralisation«:54 Statt endloser Flure mit einer Schwesternstation in der Mitte werden kleinere, verteilte Arbeitseinheiten bevorzugt, etwa mit zentral um eine Schwesternstation angeordneten Zimmern. Solche dezentralen Konzepte fördern als willkommener Zusatzeffekt auch die Vertrautheit von Patient und Pflegepersonal sowie innerhalb des Personals. In Zukunft könnten heute noch wesentliche Funktionen des Patientenzimmers in ihrer Bedeutung abnehmen, während neue hinzukommen. Beispielsweise gibt es mittlerweile Geräte zur Überwachung von Vitalparametern, die sich in einen Rucksack packen lassen, so dass der Patient damit umhergehen kann. Medizintechnische Apparate etwa für bildgebende Verfahren werden zunehmend mobiler. Die Anwendungen werden mehr und mehr im Patientenzimmer stattfinden, arbeitsaufwändige und unfallträchtige Patiententransporte können vermieden werden.
Bild 49: Patientenzimmer, Klinik Alpenpark (Bad Wiessee; Architektin: Frauke Rüterhenke)
54 | Silvis (2014).
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B eispieldesign für einen C hemother apie -B ehandlungsr aum Unverbrauchte Phantasie ist willkommen beim Erdenken von Lösungen für heilsame Räume. Ein Beispiel für Einfallsreichtum sind die Überlegungen der kanadischen Architektin Jennifer Lynda Huynh zur Gestaltung von Chemotherapie-Behandlungsräumen in ihrer Dissertation, die sie noch unter dem Namen Jennifer L. Beggs an der Universität Waterloo geschrieben hat.55 Ihr Ausgangspunkt: Die lieb- und trostlose Umgebung, in der Krebspatienten üblicherweise ihre Chemotherapie-Zyklen absolvieren, erzeugt bei den ohnehin schon verletzlichen, oft entkräfteten und psychisch schwer belasteten Patienten zusätzlichen Stress, welcher der Heilung entgegenarbeitet: Wie ließen sich Nebenfolgen von Chemotherapien verringern oder verhindern, indem Stress durch eine heilende Umgebung minimiert wird? Welche Arten von positiven Sinneserlebnissen könnten den Patienten wohltun? Eine der Ideen von Jennifer Huynh ist, auch Pflanzengerüche einzusetzen, etwa in einem »Scentcubator«: Unter dem Sitz dieses Behandlungssessels mit in sich geschlossener Form lassen sich nach Wunsch Pflanzen mit spezifischen wohltuenden Gerüchen auf einem Tablett in eine Kammer einschieben. Ein Röhrensystem der Rückenlehne saugt die Gerüche an und beduftet sanft die Luft um den Patienten, die seitlich wieder eingezogen und neu über die Kräuter geleitet wird. Die Pflanzen und Düfte werden gemäß den jeweils unterschiedlichen Bedürfnissen gezielt ausgewählt: etwa Jasmin zur Beruhigung, Rosmarin zur Belebung. Nach Wunsch kann der Patient einen Schirm, soweit er möchte, vor sich herunterziehen und mit Licht bespielen, dessen Farbe wiederum gezielt gemäß seinen Bedürfnissen eingestellt wird. In einem auf diesen Ideen auf bauenden alternativen Entwurf sind Lichtspender im Raum und die Duft-Pflanzen sichtbar in transparenten Säulen untergebracht, als »vertikale Gärten«, deren Anblick erfreut, insbesondere, wenn der Raum keine – eigentlich wünschenswerte – Aussicht auf Natur bietet. Die Naturdüfte werden durch Saug- und Filtervorrichtungen im jeweiligen Areal verteilt, gehalten und entsorgt. Verschiedene Raumzonen mit spezifischen Düften eignen sich für Patienten mit verschiedenen Bedürfnissen.
55 | Beggs (2015); Interview mit Jennifer Lynda Huynh (geb. Beggs).
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Bild 50: Behandlungsraum für Chemotherapie, Grand River Regional Cancer Center (Kitchener, Ontario, Kanada) 56
Bild 51: Von Jennifer Huynh (geb. Beggs) vorgeschlagener alternativer ChemotherapieBehandlungsraum mit vertikalen Gärten für das Grand River Regional Cancer Center 57
56 | Beggs (2015), 141. 57 | Ebd.
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M it wirkung der B e teiligten Bei der Gestaltung von Krankenhäusern ist »Patientenzentrierung« das Zauberwort, unter dem eine humanere Gesundheitsversorgung angestrebt wird. Um auf diesem Wege im Allgemeinen und für einzelne Gesundheitsinstitutionen voranzukommen, ist es selbstredend wichtig zu erfahren, wie Patienten ihren Krankenhausaufenthalt erleben. Eine bereits beschriebene Methode ist, Patienten mündlich zu interviewen oder mittels Fragebogen zu konsultieren. Doch auch auf eine andere Weise können Patienten ihre Erlebnisse, Empfindungen und Kommentare kundtun. So stellt eine auf kindliche Patienten zugeschnittene, in vielen Aspekten jedoch durchaus allgemein anwendbare profunde Broschüre58 der niederländischen Stiftung »Kind und Krankenhaus« eine beispielhafte Palette phantasievoller Methoden vor, zusammen mit detaillierten Anleitungen und Hinweisen, Fall- und Forschungsberichten dazu sowie daraus abgeleiteten Einschätzungen. Acht Methoden wurden in zehn niederländischen Krankenhäusern getestet und ihr praktischer Wert wurde überprüft, darunter beispielsweise »Fotostimme« (Kinder photographieren, was sie im und am Krankenhaus bewegt), »ein von Kindern geführter Rundgang« (Kinder führen durch die Kinderabteilung und kommentieren diese) oder »Sammelbox« (eine hübsch dekorierte Box enthält Zettel mit krankenhausbezogenen Bildern oder Aussagen, zu denen die Kinder ihre Assoziationen äußern). »Mitwirkung ist keine Methode, sondern ein Wert«, betonen die Autoren. »Als wichtiger Bestandteil der Mitwirkung ist anzuerkennen, dass Erfahrungswissen eine unverzichtbare Ergänzung des Wissens von Fachpersonen ist.« So zentral die viel beschworene »Patientenzentrierung« ist – auch Personal, Besucher und überhaupt alle Beteiligten möchten sich in und mit Gesundheitsbauten so wohl wie möglich fühlen. Da diese Beteiligten am besten wissen, was sie benötigen oder wünschen und was ihnen gut tut, sollten Vertreter aller wichtigen interessierten Gruppen von Anfang an fortlaufend in Planung und Gestaltung sowie Evaluationen einbezogen werden, ebenso wie Fachleute, die mit ihrer jeweiligen Expertise aus unterschiedlichen Perspektiven Ideen beisteuern können. Ein solches partizipatorisches Verfahren optimal zu orchestrieren und fruchtbar werden zu lassen, ist nicht einfach, doch wird das Verfahren seiner zahlreichen – auch ökonomischen – Vorteile wegen mehr und mehr zum Standard. Die Idee der Beteiligung und Mitwirkung lässt sich allerdings noch ausweiten, wie Fiona de Vos sagt: »Krankenhäuser können wesentlich intensiver mit Kommune und Gesellschaft verbunden sein, als wir das gewohnt sind.«59 58 | Dedding et al. (2012). 59 | Interview mit Fiona de Vos.
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Auf vielfältige Weise können Gesundheitsbauten sich öffnen, um sich mehr mit den Menschen der Umgebung zu verbinden, um die oft recht abgeschlossenen Institutionen zu sich stetig weiterentwickelnden Orten von Begegnung, Austausch und Kreativität werden zu lassen. (Der an der Harvard-Universität lehrendende Krankenhausplaner Wayne Ruga hat für derart gedeihende »blühende« Orte den Begriff »generative Räume« geprägt.60) Sehr inspirierend und der Nachahmung wert findet Fiona de Vos die bereits erwähnte Praxis des Krankenhausplaners Bruce Komiske, lokale gemeinnützige Vereine und Institutionen einzuladen, aktiv und verantwortlich zur Ausstattung und zum Leben eines Krankenhauses beizutragen, und zwar anhand ihrer jeweils eigenen Themen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist die unter führender Beteiligung von Bruce Komiske gebaute Ann & Robert H. Lurie Kinderklinik in Chicago:61 Jede der 23 Stationen, der Eingangsbereich, weitere Räume und Flure dieses neuen großen Krankenhauses wurden von einer renommierten Organisation aus der Stadt gestaltet, darunter das Shedd Aquarium, das Adler Planetarium, das Symphonie-Orchester Chicago, der Botanische Garten Chicago, das Museum für Kinder, das Historische Museum, das DuSable Museum für Afroamerikanische Geschichte, der Lincoln Park Zoo, das Art Institute of Chicago.
Bild 52: Ann & Robert H. Lurie-Kinderklinik in Chicago. Vom SheddAquarium gestiftete Walskulpturen in der Lobby 60 | Ruga (2014). 61 | Komiske (2013).
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Bild 53: Ann & Robert H. Lurie-Kinderklinik in Chicago. Vom Adler-Planetarium eingerichteter Stationsflur
Bild 54: Vom lokalen Zoo eingerichteter Stationsflur (Hasbro Children’s Hospital Providence)
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Bild 55: Raum mit MRT-Diagnosegerät (Ann & Robert H. Lurie-Kinderklinik in Chicago)
Innendesign und Ausstellungsobjekte künden allgegenwärtig vom kommunalen Engagement, spektakulär etwa lebensgroße Skulpturen von Walen an der Decke, Dinosaurierknochen, nachempfundene Unterwasserwelten, die Fahrerkabine eines Feuerwehrautos, aber auch Kunstwerke, Guckkästen und Ausstellungsstücke. Viele Organisationen bereichern das Leben im Krankenhaus zusätzlich durch Vorträge, Kurse und andere Aktivitäten. Solche Aktivitäten bringen durch den lokalen Bezug auch die ganz besondere Eigenart und Kultur des Ortes ins Krankenhaus, hier besondere Charakteristika und Highlights der Stadt Chicago. Vor der neuen Kinderklinik von Chattanooga, einem mit Eisenbahngeschichte verbundenen Ort, begrüßt eine echte historische Dampflok von 1891 den Besucher. Komiske: »Wenn Sie die Leute begeistern können mit der Idee, aus ihrer jeweiligen Identität heraus mit einem wertvollen Beitrag an etwas Segenbringendem und Tollem mitzuwirken, dann schaffen Sie eine emotional verankerte lebendige Verbindung und Integration von Krankenhaus und Kommune.«62 Fiona de Vos sagt bedauernd: »Leider lässt sich dieser wunderbare Gedanke in Europa nur schwer vermitteln. Bisher konnte ich jedenfalls in Holland noch keine Krankenhausadministration überzeugen, sich um kommunales Engagement solcher Art zu bemühen.«63 62 | Interview mit Bruce Komiske. 63 | Interview mit Fiona de Vos.
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H umanere I ntensivstation Intensivmedizin rettet Leben in einer vorher nicht möglichen Weise. Gleichwohl ist die Intensivstation zum Inbegriff einer oft als seelenlos, ja inhuman erlebten »Apparatemedizin« geworden. »Alptraum Intensivstation« überschrieb die Intensivpflegerin Marion Reiker ihre Facharbeit zur Frage: »Wie erleben die Patienten ihren Aufenthalt auf der Intensivstation und welche Eindrücke nehmen sie davon mit nach Hause? Wie verarbeiten sie diese schwierige Zeit am Rande des Lebens?«64 Als Untertitel fügte die Autorin hinzu: »Viele Patienten erleiden ein psychisches Trauma«. Besonders Langlieger (Aufenthalt auf der Intensivstation über eine Woche) empfinden die Situation auf der Intensivstation als markanten biographischen Einschnitt. Das Überleben hängt an Hightech-Maschinen, um die Patienten herum sind lauter Schläuche und Kabel. Manche liegen in künstlichem Koma, andere dämmern stark sediert vor sich hin, viele fühlen sich der Situation hilflos ausgeliefert. Ein Patient, den Marion Reiker interviewt hat, berichtet: »[…] ich habe sehr viel und sehr intensiv geträumt, teilweise auch sehr wirr … ich muss irgendwie Halluzinationen gehabt haben … Dann hatte ich noch das Gefühl, dass man mir meine Zähne angespitzt hat, wie die Zähne einer Raubkatze. So eine Unverschämtheit, das war ein grausames Gefühl! Ich wollte wissen, warum die das gemacht haben, aber keiner hat mich verstanden, ich war ja noch tracheotomiert … Auch jetzt träume ich manchmal noch, die Alpträume werden weniger … es war dauerhaft laut, so laut, dass man kaum schlafen konnte, eigentlich fast gar nicht. Ständig kam jemand ins Zimmer, nur dann nicht, wenn man wirklich jemanden brauchte …«65 Und weiter: »Selbst auf dem (Klo-)Stuhl steht man ständig unter Beobachtung, wie im Zoo! Man sitzt so ganz bloß da, dann kommt die Visite ins Zimmer, die nehmen da gar keine Rücksicht, ob es einem unangenehm ist… Manchmal wurde auch der Besuch reingelassen, wenn ich gerade auf dem Klostuhl saß oder gewaschen wurde… Man müsste bei so intimen Sachen besser abgeschirmt werden können, finde ich!…«66 Lässt sich eine Intensivstation menschlicher gestalten? Ein beachtenswertes deutsches Beispiel sind zwei Intensivzimmer-Prototypen der Berliner Charité in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Graft und den Mediendesignern von ART+COM nach den Prinzipien heilenden Designs. Die Anstöße und Pläne dafür reichen 15 Jahre zurück. Der Intensivmediziner Alawi Lütz war zusammen mit Claudia Spies, der damaligen und heutigen Chefärztin der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, von Anfang an an der Entwicklung und Erprobung maßgeblich beteiligt. Wie ent64 | Reiker (2007). 65 | Ebd., 7. 66 | Ebd., 9.
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stand die Idee zu diesem Projekt? »Wir suchten einen Ausweg aus einem der bedrängendsten Probleme der Intensivmedizin: Wie können wir dazu kommen, Patienten nicht mehr sedieren zu müssen?«67 Das Problem beschreibt ein Dilemma: Traditionell wurden und werden besonders schwer erkrankte oder verletzte Intensivpatienten routinemäßig stark sediert oder in künstliches Koma versetzt, gemäß dem Motto: Am besten der Patient bekommt nichts mit. Auch das Personal kann am Bewusstlosen problemloser arbeiten.
Bild 56: Pilot-Intensivzimmer am Campus Virchow-Klinikum in Berlin vom Architekturbüro Graft gestaltet. In Pilot-Intensivzimmern der Charité in Berlin steht nicht die Medizintechnik, sondern das Erleben und Empfinden von Patienten und Besuchern im Mittelpunkt.
»Wir wissen jedoch, dass Sedierung der Genesung nicht förderlich ist«,68 sagt Alawi Lütz. Studien zeigen: Sedierte Patienten haben ein erhöhtes Sterberisiko, müssen häufiger Delirien erleben und sind insgesamt desorientierter. Viele Patienten erleben Alpträume. Posttraumatische Belastungsstörungen sind nicht selten. Ein Drittel der Patienten leidet noch nach einem Jahr unter kognitiven Einschränkungen, die an beginnende Demenz erinnern. Die basale gute Absicht der Sedierung, den Patienten vor schrecklichen Erlebnissen abzuschirmen, funktioniert also nicht wirklich oder nur mit höchst unerwünschten Nebenwirkungen. Am besten sollte man somit auf Sedierung ganz verzichten, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Nur: Ohne Sedierung geraten 67 | Interview mit Alawi Lütz. 68 | Ebd.
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Patienten häufig in Angst und Panik, sind unruhig, schwerer zu behandeln, versuchen aus dem Bett zu springen und dergleichen. Ein kaum zu lösendes Dilemma, wie es aussieht. »Die Probleme wacher Patienten sind wesentlich durch die Umgebung verursacht«, sagt Lütz. »Das Ambiente der üblichen Intensivstation erzeugt Angst, wirkt zeitlich und räumlich desorientierend und bringt den natürlichen Rhythmus von Schlafen und Wachen durcheinander, alles mit gravierenden negativen Folgen. Vor ungefähr 15 Jahren begannen wir, uns zu fragen: Wäre es denn nicht möglich, die verantwortlichen Stressoren wegzunehmen oder zumindest in ihrer Wirkung einzudämmen?«69 Ein Vortrag brachte die Inspiration: Bei einem Gesundheitskongress referierte der Architekt Thomas Willemeit über eine von seinem Büro Graft entworfene Zahnarztpraxis, deren ungewöhnliches und phantasievolles Wohlfühl-Design dazu gedacht war, dem Patienten Ängste zu nehmen. Lütz: »Besonders beeindruckt waren wir, wie konsequent und einfühlsam Thomas Willemeit die Patientenperspektive einnahm und von dort aus den Entwurf erläuterte.« 70 Ausgehend von einem Treffen mit Willemeit, weiteren Interessierten und möglichen Kooperationspartnern starteten Kliniker und Architekten das im Laufe der Zeit immer umfänglicher werdende Projekt »Intensivstation der Zukunft« unter der leitenden Idee »Beruhigende Atmosphäre statt Beruhigungsmittel« 71. In dem Intensivzimmer-Pilotprojekt der Charité bemühten sich die Planer um eine möglichst wohnliche Gestaltung. Der Großteil der Apparate befindet sich hinter Wandverkleidungen versteckt, jedenfalls außerhalb der Sicht des Kranken. Technische Störgeräusche sind, so weit es geht, vermieden oder gedämpft. Außerdem gibt es einen Beobachtungsraum mit Sichtfenster zum Patientenzimmer. Monitore zur Überwachung des Gesundheitszustandes stehen in diesem separaten Raum. Medikamente werden zum Teil von hier aus elektronisch dosiert und verabreicht, und die Ärzte führen hier ihre Gespräche. Der Patient wird viel weniger gestört. Gespräche können unabhängig von der Lautstärke belästigen, doch auch die Lautstärke konnte zum Teil bis zur Hälfte reduziert werden. An der Decke befinden sich Lichtspiele, deren Lichtintensität und -temperatur sich individuell steuern lässt. Dadurch sollen der natürliche Schlaf-Wach-Rhythmus der Patienten unterstützt und Delirien reduziert werden.72 In der neuen Intensivstation geht im wörtlichen Sinne morgens über die Lichtsteuerung auf einem Decken-Stream die Sonne auf, während auf 69 | Ebd. 70 | Ebd. 71 | Ebd. 72 | Vgl. ebd.
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der normalen Intensivstation der Patient unter Neonlicht liegt. Die Tageszeiten werden simuliert und erzeugen mittags »über 20.000 Lux«, was etwa der Lichteinwirkung unter freiem Himmel an einem bewölkten Tag entspricht.73 Die hohe Lichtstärke ist nötig, um den hormonellen Tag-Nacht-Rhythmus und damit auch Wachen und Schlafen effektiv zu beeinflussen – ein zunächst erprobtes kommerzielles Gerät gab die nötige Lichtstärke nicht her und erwies sich deshalb als ungeeignet. Außerdem wird ein Blick durch ein Blätterdach gen Himmel nachempfunden – mit bewegten grünen Flecken und Schattierungen mit Durchblick auf blaues Licht. Je mehr Schmerzen der Patient empfindet, umso länger ist das »Blätterdach« zu sehen. Inspiration kam durch die bereits mehrfach in diesem Buch erwähnten wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass der Blick auf Bäume den Stresslevel der Patienten absenken kann und ermöglicht, dass weniger Schmerz- und Beruhigungsmedikamente verabreicht werden müssen.74 Insgesamt soll die Bespielung der Decke »den Patienten nach einer schweren Operation oder nach dem Aufwachen aus dem Koma helfen, sich wieder zu orientieren«.75 Und zwar zeitlich und räumlich. Die Intensivzimmer der neuen Art bieten Patienten und Angehörigen auch ein Höchstmaß an Privatsphäre. »Die gesamte Umgebung kann an die individuellen Bedürfnisse der Patienten angepasst werden und soll so helfen, den Genesungsprozess zu unterstützen.« 76 Begleitende Studien untersuchen: Sind Heilungsverlauf und Befinden gegenüber normalen Intensivzimmern verbessert? Ersten Ergebnissen zufolge treten im modifizierten Intensivzimmer substanziell weniger Delirien auf.77 Weiterhin erwartet werden beispielsweise kürzere Liegezeiten, weniger Bedarf an Schmerz- und Beruhigungsmitteln, weniger Angst- und Stressattacken.
D emenzsensibles K r ankenhaus Bereits heute ist die Hälfte der Krankenhauspatienten älter als 60 Jahre, wobei zwölf Prozent von diesen – als »Nebendiagnose« – an Demenz leiden. Beides wird in unserer alternden Gesellschaft zunehmen. Dies bedeutet: Krankenhäuser müssen sich wesentlich stärker als bisher auf alte Menschen und auf Menschen mit Demenz einstellen. Letzteres bedeutet eine größere Herausforderung und Umstellung: Demente Menschen angemessen zu verstehen, zu betreuen und zu behandeln, erfordert spezifische Kenntnisse, hochentwickelte 73 | Schmidt (2014). 74 | Ulrich (1984). 75 | Schmidt (2014). 76 | Charité (2016). 77 | Luetz et al. (2018).
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Empathiefähigkeit, vielleicht gar Weisheit, nicht zuletzt Geduld und zusätzliche Zeit. Demenz bedeutet fortschreitendes, immer dramatischeres Nachlassen der geistigen Fähigkeiten. Bei der häufigsten Demenz-Form, der Alzheimer-Krankheit, degenerieren schleichend, progressiv und bis heute unaufhaltsam über viele Jahre hin Nervenzellen im Gehirn. Zu den auffälligen Symptomen von Demenz gehören Gedächtnisstörungen, kognitive Schwierigkeiten aller Art, Verwirrung, schwankende Gefühlslagen. Mit Fortschreiten der Krankheit kann sich die Identität der Person mehr und mehr auflösen. Mit Demenz im Krankenhaus zu sein, kann zu erheblichen Problemen führen: • Störungen von Gedächtnis und Kommunikation beeinträchtigen Diagnose, Therapie und allgemeinen Umgang • Menschen mit Demenz finden sich im Krankenhaus oft nicht zurecht, laufen orientierungslos herum oder auch nach draußen • Menschen mit Demenz stürzen und verletzen sich besonders häufig • Schwer Demenzkranke sind häufig inkontinent, urinieren und koten tendenziell auch außerhalb der Toilette • Nicht selten sind Angstzustände, Aggressionen, nächtliche Unruhe und Aktivität, penetrantes Mäkeln und Nörgeln, auch Gefühlsausbrüche mit Schreien oder Weinen. Die Ursache der Probleme allein im Betroffenen zu sehen, ist allerdings verfehlt. Ob und wie die Symptome sich zeigen, hängt nicht unerheblich von der Umgebung des Kranken und der Weise ab, wie andere Menschen mit ihm umgehen.78 Der Demenz-Experte Huub Buijssen schreibt: »Demente Menschen fühlen sich in einer ruhigen und vertrauten Umgebung am wohlsten. Sie halten nichts von Lärm und Gedränge, außer wenn sie ihr Leben lang daran gewöhnt sind.« 79 Die Probleme dementer Menschen können sich im Krankenhaus beträchtlich verschärfen, weil sie aus ihren bekannten Lebensumständen gerissen, ungewohntem Stress ausgesetzt sind und das Personal ihnen nicht immer einfühlsam und angemessen begegnet. Viele Probleme ließen sich zumindest mildern, wenn Zustand und Bedürfnisse Demenzkranker sowohl im Allgemeinen als auch bei der individuellen Person besser verstanden und beachtet würden. So lässt sich starken oder gar panischen Ängsten mit größerer Wahrscheinlichkeit vorbeugen, wenn man sich die Mühe macht, die möglichen Gründe und Auslöser sorgfältig zu identifizieren und ihnen entgegenzuwirken. 78 | Buijssen (2013); Kitwood (2013). 79 | Buijssen (2013).
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Zur »Demenzfreundlichkeit« gehören vor allem soziale, menschliche Dimensionen. Es gilt, mit Wissen um Demenz und Verständnis für das Individuum den Kranken in wohltuender Begegnung soweit wie möglich im Leben zu halten und am Leben zu beteiligen. Statt als verrückt abgestempelt und als lästig angesehen zu werden, möchten Demente wie andere Menschen auch berührt, wertgeschätzt, einbezogen, geliebt und als Person geachtet werden. Um positive Beziehungen mit von Demenz Betroffenen auf bauen und erhalten zu können, sollten Bezugspersonen sich nicht nur medizinisches Wissen um die Krankheit aneignen, sondern auch die nötigen psychologischen Kompetenzen erwerben, die ihnen helfen, Demenz und demente Menschen besser zu begreifen und mit ihnen umzugehen. Für die allgemeine Information dazu existieren gute Bücher,80 auch Handreichungen von Institutionen und Behörden.81 In Krankenhäusern, die sich um Demenzsensibilität bemühen, finden gewöhnlich entsprechende Fortbildungsmaßnahmen für Ärzte, Pfleger und auch Angehörige statt, erfahrene Kollegen können helfen. Manche Kliniken haben spezielle geriatrische Stationen, deren Fachleute bei Bedarf auch anderen Abteilungen mit Rat und Tat aushelfen. Zur »Demenzfreundlichkeit« gehört außerdem eine den Kranken unterstützende physische Umgebung. So können Menschen mit Demenz sich besser orientieren, zurechtfinden und zuhause fühlen, wenn die Räumlichkeiten gestaltlich und farblich klar mit visuellen Kontrasten und deutlichen Wegmarken strukturiert sind, wenn Orte leicht wiedererkennbar sind, eventuell anhand fasslicher Symbole (ob ein Symbol gut verständlich ist, muss getestet werden!). Wichtige Objekte und Orte sollten sehr gut wahrnehmbar sein, beispielsweise große Uhren, große Schrift. Stress durch Lärm und Chaos ist soweit irgend möglich zu vermeiden. »Bei Patienten, die an Alzheimer erkrankt sind, ist die Tiefenwahrnehmung oft in Mitleidenschaft gezogen. Dies führt dazu, dass sie Linien auf dem Fußboden als Stufen, Vorsprünge oder Kanten wahrnehmen.«82 Geräumige Flure mit kontrastierenden Enden zur leichteren Orientierung, auffällige Wegmarken können Alzheimer-Patienten helfen, mit ihrer physischen Umgebung besser klarzukommen. Vertraute persönliche Dinge im Patientenzimmer verbinden mit dem gewohnten Leben. Einen guten Eindruck von den Design-Standards, die sich hier mittlerweile herausgebildet haben, gibt etwa die instruktiv bebilderte deutsche Webseite des von der Robert Bosch Stiftung geförderten Projektes »Das virtuelle Krankenhaus« des Dementia Services Development Centre (Stirling, UK).83 80 | Buijssen (2013); Kitwood (2013). 81 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2018); Gemeinnützige Gesellschaft für soziale Projekte (2012). 82 | Sternberg (2011), 260. 83 | DSDC (2018).
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Wünschenswert ist auch, dass demente Patienten, die gewöhnlich einen starken Bewegungsdrang haben, nach draußen können. Ideal ist ein geschützter erholsamer Park oder Garten, vielleicht gar mit der Einladung, sich (eventuell betreut) gärtnerisch zu betätigen. Dieser sollte allerdings »demenzfreundlich« und altersgerecht gestaltet sein:84 Beispielsweise sollte der Bewuchs ungiftig sein, da Demente manchmal Pflanzen essen. Auch hier sind gute Orientierungsmöglichkeiten unabdingbar. So lassen sich geschlossene Wege mit Geländer auf eine Weise anlegen, dass sie den Spaziergänger zum Startpunkt zurückführen, wie dies etwa im Garten des demenz-orientierten Gesundheitszentrums »The Logde« in Broadmead (Victoria, Kanada) verwirklicht ist.
Bild 57: Garten für Demenz-Zentrum »The Logde« in Broadmead (Victoria, Kanada)
M aggie ’s C entres Beispielhaft für heilsame Architektur im Gesundheitswesen sind in Großbritannien »so genannte Maggie Centres, benannt nach der Krebspatientin Maggie Keswick Jencks. Maggie[’s] Centres sind in Krankenhäuser integrierte Entspannungs- und Begegnungsräume, die Krebspatienten Stress, Ängste und Unsicherheiten bei der Bewältigung ihrer Krankheit nehmen sollen. Seit Mitte der [19]90er Jahre sind bereits mehr als 20 solcher Zentren an Krankenhäusern in Großbritannien entstanden.«85 Margaret »Maggie« Keswick Jencks war eine aus reichem Hause stammende Schriftstellerin, Künstlerin und Gartenarchitektin. Maggie und ihr Mann, der Architekturtheoretiker, Architekt und Gartenarchitekt Charles Jencks, wa84 | Graham-Cochrane (2013). 85 | Schmitt-Sausen (2017).
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ren ein berühmtes »Traumpaar« der Architektur- und Gartenarchitekturszene. Nachdem Maggies Brustkrebs zurückgekehrt war, erfuhr sie im Mai 1993 bei einem Arzttermin im Western General Hospital im schottischen Edinburgh ihre Prognose: Sie habe nur noch wenige Monate zu leben. Doch nicht nur der Schreck, die Angst und die Krankheit machten der damals 51-jährigen Frau zu schaffen, sondern auch, in welcher Umgebung sie ihre Diagnose verarbeiten musste. Da noch viele Patienten auf den Arzt warteten, komplimentierte dieser sie hinaus auf einen Stuhl im fensterlosen, neonerleuchteten Klinikflur, immerhin getröstet von ihrem Mann und ihren beiden Kindern, die sie begleiteten. Immer wieder musste Maggie in die Klinik zurückkehren zu Untersuchungen, Chemo- und Stammzelltherapie, immer wieder musste sie das öde, demoralisierende Umfeld ertragen. Angesichts der lieb- und trostlos als »Architektur-Aversions-Therapie«86 wirkenden Räumlichkeiten, auch voller Empathie für ihre Leidensgenossen, phantasierte die kreative Frau zusammen mit ihrem Mann ein direkt kontrastierendes seelisch aufbauendes und stärkendes Ambiente: einen liebevoll gestalteten freundlichen Ort zum Verweilen und Auftanken zwischen Diagnosen und Therapien, einen Ort mit natürlichem Licht und schönen Farben zum Durchatmen, Erholen und Meditieren, einen Ort für Gespräche ohne Zeitdruck mit Fachpersonal, zum entspannten Beisammensein mit Schicksalsgenossen, aber auch mit Verwandten und Freunden. Aus der bescheidenen Anfangsidee – ein Raum mit Fensterblick ins Grüne sollte es sein – entwickelte das Paar die Vision eines beispielhaften, auch architektonisch wohltuenden Zentrums, eines heilsamen Ortes, wo Krebspatienten mit ihren vielfältigen, massiven, manchmal überwältigenden Lebensproblemen weniger allein sind, wo sie Unterstützung vielfältiger Art finden, um Lebensmut und Lebensfreude zu nähren oder überhaupt erst wieder zu gewinnen. Die beiden überzeugten das Western General Hospital Edinburgh von dem Sinn eines solchen Cancer Caring Centre und planten das Haus auf dessen Grundstück, jedoch als unabhängige Ergänzung zur Klinik. Sie gewannen den Architekten Richard Murphy und mobilisierten die nötige finanzielle Unterstützung. Laura Lee, die für Maggies Chemotherapie zuständige Krankenschwester, trieb die Initiative maßgeblich mit voran (sie ist heute Geschäftsführerin der Zentren). Murphy bemühte sich vor allem, als Kontrast zum institutionellen Klinik-Ambiente eine Atmosphäre der Häuslichkeit, der Ruhe und des Wohlbefindens zu schaffen, architektonisch inspirierend, doch ohne Design-Extreme. Er nutzte ein altes Stallgebäude als Basis, um es in ein möglichst modernes, wohnliches Begegnungszentrum neu- und umzugestalten. Intime Plätze für den Rückzug waren ihm ebenso wichtig wie offene Räume mit viel natürlichem Licht, interessanten Materialien und Farben, auch einer gemeinsamen Küche sowie 86 | Jencks, Heathcote (2010), 12.
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einem schönen von Emma Keswick – einer Verwandten – gestalteten Garten, der schon beim Herüberkommen von der Klinik tröstet, beruhigt und im Sommer gewissermaßen die Innenräume des Hauses nach außen erweitert. Die Behandlung am Western General Hospital schenkte Maggie statt der prognostizierten wenigen Monate noch ungefähr zwei Lebensjahre. Noch am Tage vor ihrem Tod im Juli 1995 schaute sie Pläne des Cancer Caring Centre für »ihre« Klinik durch, dessen Eröffnung als »Maggie’s Centre« im Jahr darauf sie nicht mehr erleben durfte. Das Zentrum unterstützt heute jährlich 18.000 Besucher. Der Erfolg des Zentrums und der enthusiastische Zuspruch machten offensichtlich, welch großartige emotionale und soziale, manchmal in jedem Sinne lebensrettende Hilfe und Unterstützung ein solches Angebot für onkologische Patienten und ihre Angehörigen darstellt. Die Attraktivität und Ausstrahlungskraft des Zentrums sowie der leitenden Idee einer solchen »Architektur der Hoffnung« (Charles Jencks) inspirierten das sich erweiternde und verändernde Team, nun weitere Maggie’s Centres zu planen, stets als Ergänzung und in der Nähe zu Kliniken, die dies wünschten. Mit jeweils spezifischer, vom Architekten geprägter Ästhetik, jedoch mit der gleichen ungezwungenen, Entspannung, Geborgenheit und Miteinander fördernden Atmosphäre verdanken sich die Entwürfe vieler dieser Zentren gefeierten – oft mit den Jencks bekannten oder befreundeten – Architekten wie Richard Rogers, Rem Kohlhaas, Frank Gehry, Zaha Hadid, Norman Foster.
Bild 58: Maggie’s Centre Dundee (Architekt: Frank Gehry)
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Die meisten Häuser muten bereits von außen attraktiv und einladend an. Eine kontrovers diskutierte Ausnahme ist das von Zaha Hadid konzipierte Maggie’s Centre im schottischen Kirkcaldy. Äußerlich wirkt das Gebäude mit seiner schwarzen, keilförmig spitzen Dach-Ummantelung eher schroff und abweisend. Im bewussten Kontrast öffnet sich dem Eintretenden ein freundliches, weißes und helles Interieur mit sinnlich geschwungenen Wänden und einem erhebenden und belebenden Ausblick ins Grüne, ein Innenbereich, dessen Kompartimente Räume mit den wohltuenden »Maggie-Qualitäten« in einer »Intimitätshierarchie« definieren.87
Bild 59: Maggie’s Centre Inverness (Architekten: Page & Park)
87 | Jencks, Heathcote (2010).
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Bild 60: Maggie’s Centre Fife/Kirkcaldy (Architekt: Zaha Hadid)
Bild 61: Küche mit Gemeinschaftstisch in einem Maggie’s Centre
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»Einladend, risikofreudig, ästhetisch und spirituell« – so charakterisieren Charles Jencks und Edwin Heathcote die Anmutung und Ausstrahlung von Maggie’s Centres.88 Heute gibt es in Großbritannien und weltweit mehr als 20 Maggie’s Centres von jeweils sehr individuellem Zuschnitt zur praktischen, emotionalen und sozialen Unterstützung von Krebspatienten, ihren Angehörigen und Freunden. Ausgestattet sind die Häuser meist mit Gemeinschaftsarealen, Räumen für physikalische Therapie und für psychologische Beratung, Büros für Mitarbeiter, einer Bibliothek, einer Terrasse, einer Küche, einem auch von innen sichtbarem Garten. Es hat sich die Tradition entwickelt, die Häuser möglichst als bauliche Schmuckstücke zu entwerfen. Der Kern ist jedoch: Es sind belebende, erholsame, heilsame Orte mit besonderer Atmosphäre jenseits des Krankenhaus-Ambientes. Als zentral haben sich Küche und Küchentisch herausgestellt, mit ihrem auf besondere Weise Begegnung fördernden, entspannten und informellen Miteinander von Patienten, Besuchern und Angestellten. Könnte, was Charles Jencks »Kitchenism« nennt, nicht – so ungewohnt der Gedanke scheinen mag – auch für Kliniken und andere Gesundheitsbauten eine Inspiration sein? Maggie’s Centres sind gastfreundliche Orte, welche die Kranken als Personen einladen, weniger als Patienten. Es sind offene Orte mit Raum zum Sprechen, zum Atmen, zur Wiedergewinnung von Lebenskraft und Lebensfreude. Es sind inspirierende Orte mit Gelegenheiten, sich psychologisch, medizinisch und bezüglich Lebensumständen beraten zu lassen und auszutauschen, mit Kunstwerken und Kunstausübung, Büchern, Vorträgen, entspannender Bewegung wie Yoga oder Tai Chi, Garten und Gartenkunst. Auf eine Weise, wie es den Kliniken selbst kaum möglich ist, bieten sie unschätzbare Hilfe, das Untragbare zu tragen. Es ist zu hoffen, dass Maggie’s Centres beispielhaft wirken, dass nach diesem Modell mehr und mehr heilsame Häuser nicht nur für Krebspatienten, sondern auch für an anderen schweren Krankheiten Leidende über die Welt hin entstehen.
K unst im K r ankenhaus »Es ist einfach schön, wenn die Wände ein bisschen dekoriert sind, und zu wissen, dass man sich Mühe gibt mit der Umgebung.« 89 Diese Bemerkung eines Patienten, sich mit Bildern an den Wänden über das rein medizinische hinaus beachtet und umsorgt zu fühlen, gibt vielleicht das wichtigste basale Empfinden gegenüber Kunst im Krankenhaus wieder, ein Empfinden, auf dem 88 | Jencks, Heathcote (2010), 7. 89 | Nielsen et al. (2017).
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alles weitere auf bauen kann. Kunst in einer Klinik – insbesondere hochwertige Kunst – scheint auch das Vertrauen in deren Ressourcen und die Qualität der Versorgung zu stärken. In einem dänischen Krankenhaus interviewten und beobachteten Stine Nielsen und ihre Mitarbeiter Patienten in Klinikräumen, die eine Woche lang ohne Wandschmuck gelassen und eine Woche mit Leihbildern aus einem nahe gelegenen Museum behängt wurden. Die Patienten sagten meist, dass ihnen die medizinische Qualität und Fürsorglichkeit des Personals wichtiger seien als das Design der Räume. Gleichwohl ließ sich sowohl an ihren Aussagen als auch an ihrem Verhalten ablesen, dass sie die Kunstwerke schätzten, würdigten und genossen. Als wichtige weitgehend verallgemeinerbare Befunde ergab sich: • Kunst erhöht die Wohnlichkeit des Klinikinterieurs, fördert das Wohlbefinden von Patienten und die Zufriedenheit mit ihrem Krankenhausaufenthalt: Mit Kunstwerken werden die Räume als weniger kalt und institutionell, als inspirierender und komfortabler empfunden • Patienten erleben Kunstwerke als existenziell unterstützend und als Verbindung zum Leben als individuelle, soziale und kulturelle Personen • Mit Kunstwerken strahlen die Räume mehr Ruhe und Klarheit aus in einer meditativen Atmosphäre von stillem Ernst • Kunstwerke bieten auf bauende Ablenkungen von Krankheit, Leid und Schmerz • Patienten haben oft Lieblingskunstwerke, die ihnen in besonderer Weise etwas bedeuten und die sie immer wieder anschauen • Als simpler, aber manchmal signifikanter Nebeneffekt erleichtern die wiedererkennbaren Werke die Orientierung im Haus. Ein todkranker Patient scheint ein Kunstwerk in seinem Zimmer, das bedeutungsvolle Erinnerungen in ihm weckte, als großen Trost empfunden zu haben, als existenziell und spirituell bereichernd. Sicherlich ist bedenkenswert, was Ernst Penzoldt in seinem 1937 erstmals erschienenen Buch Der dankbare Patient90 schrieb: »Bei der Wahl des Zimmerschmuckes sollte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß jemand in seinem Anblick sterben muß und daß es vielleicht das Letzte ist, was er mit irdischen Augen erblickt.« Die Ergebnisse dieser Studie stehen im Einklang mit anderen Untersuchungen, wie ein Review-Überblick von Louise Lankson und Ko-Autoren zeigt:91 Kunst im Krankenhaus erhöht Wohlbefinden und Zufriedenheit von Patienten, Besuchern und Personal. Kunstwerke mildern den Stress eines 90 | Penzoldt (1937). 91 | Lankston et al. (2010).
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Krankenhausaufenthaltes, was erwiesenermaßen zur Heilung beiträgt. Patienten lieben es, wenn sie selbst die Werke für ihr Zimmer aussuchen dürfen. Die Review weist allerdings darauf hin, dass die Studien nicht immer von ausreichend hoher Qualität sind, so dass weitere Studien insbesondere zu Details nötig sind. Welche Arten und Motive von Kunst für ein Krankenhaus geeignet und der Genesung förderlich sind, darüber gehen die Meinungen auseinander. Wenn Patienten gefragt werden, ziehen sie oft Landschaften und Naturszenen vor, während abstrakte Kunst regelmäßig auf den hinteren Plätzen landet. Blau und Grün als dominierende Farben werden tendenziell als beruhigend empfunden, grelles Rot und Gelb eher als zu aufregend oder unangenehm. Manches abstraktes Kunstwerk, das von Menschen in normalen Lebensumständen als interessant und herausfordernd empfunden wird, kann Gestresste durchaus ängstigen und erschrecken. Nicht gut von Patienten aufgenommen wurde eine Installation von abstrakten Metallskulpturen namens »Der Vogelgarten« im Hof des Duke Medical Center in Raleigh (North Carolina, USA). Krebspatienten reagierten ängstlich, negativ und ablehnend auf die scharfkantigen Figuren, mit Assoziationen wie »Schnäbel, die in mein Fleisch hacken…«, »Hände, die nach mir grapschen…«. Die Skulpturen mussten wieder entfernt werden.92
Bild 62a: Aus Bilderkacheln von Patienten zusammengesetztes Mosaik in der Ann & Robert H. Lurie-Kinderklinik Chicago (Projekt S.N.A.P. – Share, Nurture, Act, Preserve) 92 | Ulrich (1999); Cooper Marcus (2007).
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Bild 62b: Aus Bilderkacheln von Patienten zusammengesetztes Mosaik in der Ann & Robert H. Lurie-Kinderklinik Chicago (Projekt S.N.A.P. – Share, Nurture, Act, Preserve)
Wie es aussieht, sind manche Werke im Krankenhauskontext fehl am Platz, ganz unabhängig von ihrem vielleicht bedeutenden künstlerischen Niveau und Wert. Wer möchte schon als Patient etwa Edward Munchs berühmtes Gemälde »Der Schrei« im Raum haben? »Der Schrei« ist unzweifelhaft ein bedeutendes, ja herausragendes Werk zum Thema Leiden und Schmerz, doch die ihm innewohnende Verzweiflung ist sicherlich nicht auf bauend für einen Kranken, der Genesung und Lebensmut sucht. Vielleicht ist tendenziell richtig: Kunst im Krankenhaus sollte positiv und lebenbejahend sein, da auf diese Weise Wohlbefinden und Heilung gefördert werden. Doch heißt dies, dass nur freundlich neutrale Kunst, vielleicht gar naives, buntes, florales die Atmosphäre bestimmen sollte? Manche Krankenhäuser setzen auf derartiges: Fröhlich farbige Mosaike im Foyer, nette bis kindliche Wandmalereien in den Fluren, manchmal von Patienten selbst gestaltet, schaffen eine harmlos-heitere Atmosphäre. Dabei passt anspruchsvolle Kunst konzeptuell gut an einen Ort der Heilung und kann dort segensreich wirken. Kultur verbindet den Menschen – genuin ein Kulturwesen – mit seinen besten Ressourcen, regt emotional-geistige Beschäftigung mit bildenden und existenziellen Themen an. Sie kann somit durchaus eine ansonsten eher vernachlässigte, gleichwohl wichtige Dimension der Heilung oder wenigstens Heilsamkeit fördern.93 Die Aufgabe fordert allerdings Ressourcen und besonderes – auch gedankliches – Engagement. Beispielhaft in Deutschland ist seit 1998 das Robert-Bosch-Krankenhaus in Stutt-
93 | Smerling, Weiss (1986).
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gart mit der Teilzeitstelle einer Kunstbeauftragten, festen und wechselnden Ausstellungen zeitgenössischer Künstler. Zur Themenbreite findet sich folgendes Credo auf der Homepage: »Kunst im Krankenhaus verzichtet auf die Darstellung von Angst, Gewalt, Depression sowie Ausweg- und Perspektivlosigkeit. Trotzdem blendet sie die Auseinandersetzung mit Leid und Trauer nicht aus.«94 Die Kunsthistorikerin Isabel Grüner ist seit dem Jahre 2001 Kunstbeauftragte des Hauses. Sie sagt: »Kunst trägt dazu bei, dass Patienten, Besucher und Personal sich willkommen und wertgeschätzt fühlen. Patienten empfinden sich persönlich angesprochen, ernst genommen und bei ihrer Genesung unterstützt.«95 Das Krankenhaus zeigt wechselnde und permanente Ausstellungen, begleitet von Künstlergesprächen, Vernissagen, Führungen, Workshops und Vorträgen.96 Isabel Grüner erläutert: »Unser einmaliges Konzept ist, dass mit einem durch einen beschränkten Wettbewerb ausgesuchten künstlerischen Entwurf eine gesamte Station dauerhaft ausgestaltet wird. Der Künstler hängt dabei nicht einfach vorhandene Werke auf, sondern entwickelt im eingehenden Austausch mit mir, Krankenhausleitung, Ärzten, Pflegern und Patienten ein Gesamtkonzept und schafft dabei eigens auf den Ort abgestimmte Werke, die dauerhaft teilweise als Wandmalerei oder Relief mit der Architektur verbunden sind.«97 Die Stationen erhalten so ihr ganz eigenes individuelles wiedererkennbares Erscheinungsbild. »Durch die Vielfalt der künstlerischen Stile könnte das Resultat abwechslungsreicher nicht sein.«98 Je Patient gibt es übrigens ein Original im Krankenzimmer, so dass er oder sie sich ganz persönlich gemeint fühlen kann. Isabel Grüner stellt heraus: »Seit 2004 haben wir in Intensivzimmern und Aufwachräumen Deckenmalereien. Die Rückmeldungen bestätigen, dass Aufwach- und Intensivpatienten lieber unter solchen farbig gestalteten Decken liegen als etwa unter monotonem Weiß. Delirien treten dort nachweislich seltener auf.« 99
94 | Robert-Bosch-Krankenhaus (2018). 95 | Interview mit Isabel Grüner. 96 | Siehe auch Grüner (2019). 97 | Interview mit Isabel Grüner. 98 | Grüner (2007), 2. 99 | Interview mit Isabel Grüner.
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Bild 63: Farbige Deckengestaltung: Uwe Schäfer, Aufwachraum Ambulantes Operieren (Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart)
Bild 64: Bernhard Huber, Serie 33, 2007, Glasinstallation Station 5D (RobertBosch-Krankenhaus Stuttgart)
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Bild 65: Im Soteria, einer psychiatrischen Station in der Universitätsklinik der Berliner Charité im St. Hedwig-Krankenhaus, wurde bewusst auf eine figürliche Kunst verzichtet. Die abstrakten Bilder sollen ein ruhiges und reizarmes Milieu unterstützen.
Wesentlich ist den Initiatoren, qualitativ anspruchsvolle Kunst zu bieten, Kunst, die nicht nur gefällt, sondern auch berührt und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation anregt. Ein Balanceakt, denn Kunst im Krankenhaus ist eben nicht Kunst im Museum, sie soll herausfordern, aber nicht überfordern. In der Anfangszeit war es Isabel Grüner zufolge teilweise nicht einfach, Verantwortliche und Beteiligte davon zu überzeugen, dass – beispielsweise angesichts des finanziellen Drucks auf Krankenhäuser – die Investitionen für Kunst und gar eine Kunstbeauftragte sinnvoll sind. Die Rückmeldungen zeigen, dass sich dies geändert hat, dass Patienten und Besucher, Leitung und Personal die Kunst im Robert-Bosch-Krankenhaus im Wesentlichen nicht nur annehmen, sondern für sehr sinnvoll erachten und bisweilen begeistert aufnehmen. »Dass der Kunst hier eine eigene Stelle gewidmet ist, ist wertvoll und erlaubt einen Unterschied zu Krankenhäusern, die gleichsam nebenbei auch Kunst zeigen: Eine Kunstbeauftragte im Haus kennt die Klinik und ihre Ab-
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läufe, die Wünsche und Empfindsamkeiten von Patienten, Besuchern und Mitarbeitern. Aus unseren Erfahrungen und den Rückmeldungen können wir permanent lernen und unsere Konzepte weiterentwickeln. Empathie zusammen mit Erfahrung ist ein wichtiger Schlüssel.«100 Wie Menschen auf Kunstwerke im Ganzen und besonders im Detail reagieren, ist letztlich nicht vorhersehbar. Unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen können ganz unterschiedlich wahrnehmen und empfinden. So sagte eine Krankenschwester einer US-Klinik zu einem abstrakten Kunstwerk, das einem Konglomerat von Apfel-Kerngehäusen ähnelte: »Ich denke, das ist lustig und skurril. Ich hätte es gern bei mir zu Hause.« Zwei psychiatrische Patienten jedoch kommentierten: »Verkohlte Schädel. Fliegende Blutstropfen« sowie »Verwundete Menschen. Sie haben Schmerzen und schreien.«101 Kunst kann es nicht jedem recht machen und sollte es von ihrem Anspruch her auch gar nicht. Immer wieder muss deshalb bei Kunst im Krankenhaus abgewogen werden, wie die aus Freiheit und Offenheit erwachsenen Angebote von Kunst angemessen und im Sinne von Heilung und Heilsamkeit mit der Rücksichtname auf Verletzlichkeiten balanciert werden können. Wenn dies gelingt, kann anspruchsvolle Kunst im Krankenhaus »Wegzeichen, Inspirationsquelle und sinnlicher Ruhepol für Patienten, Mitarbeiter und Besucher des Hauses sein und den Blick auf die Welt durch die Augen der Künstler erweitern«.102
Ther apeutischer G arten Bereits im antiken Griechenland befanden sich von Kranken aufgesuchte Heil-Tempelanlagen, die dem Medizin-Gott Asklepios geweiht waren, in wunderschöner landschaftlicher Umgebung. Natur, spirituelle Besinnung, Kunst und Theater sollten hier heilsam zusammen wirken, wie es auch der griechische Arzt Hippokrates von Kos, der als Urvater der abendländischen Medizin gilt, empfahl. Die Vorstellung, dass Natur, Park und Garten gerade dem Kranken, Leidenden und Genesenden in besonderer Weise gut tun, spiegelt sich über die Jahrhunderte hin in der Anlage von Hospitälern und Krankenhäusern. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es weithin selbstverständlich, dass zu einem Krankenhaus ein Park oder Garten gehört, ausgeprägt beispielsweise in der damals favorisierten Pavillonbauweise, die durch begrünte Promenaden und Einbettung der Einzelgebäude in eine Parklandschaft gekennzeichnet war. 100 | Ebd. 101 | Ulrich (1999); Cooper Markus, Sachs (2014). 102 | Robert-Bosch-Krankenhaus (2018).
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Einen schönen Garten zu besuchen bedeutet – insbesondere als willkommener Kontrast zu einem stresserfüllten Klinikaufenthalt – leibliches und seelisches Aufatmen, Entspannung, Sich-berühren-lassen von der Stille und kultivierten Naturwelt, meditatives Eintauchen und Erholung. Marni Barnes (1994) sieht vier Stadien eines heilsamen Gartenerlebnisses: 1. 2. 3. 4.
Sich hinein begeben Erwachen der Sinne Zentrierung der Person Spirituelle Einstimmung
Bild 66: Olson Family Garden (St. Louis, Missouri, USA)
Erst im modernen funktionalistischen Krankenhausbau galten Gärten und Parks auf einmal als hübsche, jedoch für die Genesung von Patienten überflüssige Dekoration. Als notwendig und sinnvoll betrachtet wird heute eher ein großer Parkplatz, vielleicht noch eine kurz geschnittene Rasenfläche. »Die Idee, dass Gärten heilsam wirken können, ist niemals vollständig verloren gegangen«, betont Clare Cooper Marcus, eine bedeutende Pionierin der neuen Bewegung für Krankenhausgärten, »doch die moderne medizinische Welt verlangt nach Evidenz und wissenschaftlichem Beweis.«103 Die emeritierte 103 | Green (2017).
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Berkeley-Professorin für Architektur und Landschaftsarchitektur sieht folglich den Startpunkt ernsthafter neuerer Initiativen für therapeutische Gärten und Landschaften in der wegweisenden Forschungsarbeit von Roger Ulrich, der 1984 zeigte: Frisch operierte Patienten benötigten weniger Schmerzmedikamente, verlangten seltener nach Pflegepersonal und genasen rascher mit Fensterblick auf Bäume als mit Fensterblick auf eine Mauer. »Das war immerhin ein Beweis, den die medizinische Welt verstehen und akzeptieren konnte.« Angesichts zunehmender Evidenz ließen sich Naturnähe, Garten und Parks nicht mehr als hübsche Dekoration abtun, sondern mussten als zur Heilung beitragend anerkannt werden.104 In den USA entwickelte sich seit Mitte der 1990er Jahre zunächst eine engagierte Bewegung für die Einrichtung von Krankenhausgärten. Frühe, oft von Spenden und freiwilligem Engagement getragene Projekte erwuchsen oft daraus, dass Krankenhausangestellte sich mit der trostlosen Umgebung oder dem öden Innenhof ihrer Klinik nicht abfinden wollten. Ein schönes Beispiel ist der Stenzel Healing Garden des Good Samaritan Medical Center in Portland (Oregon, USA).105
Bild 67 und 68: Vorher: öder Klinikhof. Nachher: Stenzel Healing Garden (Good Samaritan Medical Center in Portland)
Die Klinikleitung wollte 1996 einen asphaltierten Parkplatz so umgestalten, dass von anspruchslosen Büschen gesäumte Betonwege Teile der Klinik miteinander verbinden. Eine Gruppe von Angestellten und Interessierten schlug erfolgreich vor, stattdessen einen heilenden Garten gemäß den Empfehlungen der amerikanischen gartentherapeutischen Gesellschaft (American Horticultural Therapy Association) einzurichten. Federführend beim Entwurf waren die Gartentherapeutin Teresia Hazen und der Landschaftsarchitekt Ron Mah, doch waren auch Ärzte, Schwestern und Pfleger sowie Patientenvertreter betei104 | Interview mit Clare Cooper Marcus; s.a. Cooper Marcus (2007). 105 | Interview mit Teresia Hazen; s.a. Cooper Marcus, Sachs (2014).
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ligt. Die benötigte Summe für die Einrichtung eines hochwertigen therapeutischen Gartens war mit 300.000 Dollar weit höher als die ursprünglich von der Klinikleitung für das Betonwege-Programm reservierten 14.000 Dollar. Sie wurde zunächst von der krankenhauseigenen Stiftung bereitgestellt, schließlich von Frank und Kathryn Stenzel gespendet – daher der Name. Das klinische Programm inspirierte das Design. So plädierten Klinik-Angestellte, die Patienten mit Gehschwierigkeiten betreuten, für entsprechend hilfreiche Weggestaltungen, Gartentherapeuten setzten sich für Möglichkeiten ein, dass Patienten selbst gärtnern konnten, und anderes. Aus den vereinten Bemühungen entstand schließlich ein vorbildlicher heilender Garten, den die American Horticultural Therapy Association 1998 mit einen bedeutenden Design-Preis würdigte. Nicht alles Grüne ergibt einen heilenden Garten, wie Clare Cooper Marcus herausstellt.106 Wenn etwa ein Krankenhausgarten für Gehbehinderte oder Rollstuhlfahrer schwer zugänglich ist oder die Wege nicht für solche Patienten geeignet sind – und dies kommt vor – so ist in der Planung etwas falsch gelaufen. Ein Garten oder Park sollte möglichst zusammen mit dem Gesamtkonzept einer Klinik entworfen werden, und immer sollten Pfleger, Therapeuten, Ärzte und Patientenvertreter die Anlage von Anfang an mitgestalten. Bei allen Krankenhausgärten sind folgende wichtige Punkte zu beachten: Zu integrieren, da unterstützend, heilsam, Stress reduzierend: • • • • • • • • •
Leichter Zugang, auch für Rollstühle gut befahrbar Anreize zum Zusammensitzen und zu gemeinsamen Aktivitäten Anreize, zu verweilen, zu betrachten, zu entdecken Anregungen für alle Sinne Lauschige, versteckte Plätzchen Möglichkeiten, allein zu sein Naturkontakt (Pflanzen, Wasser, Tiere, Naturgeräusche …) Möglichkeiten, Wege und Aktivitäten selbst zu wählen Separierte Areale, wo Personal ungestört für sich sein kann.
Zu vermeiden, da störend, krankmachend, Stress erzeugend: • • • •
Zuviel Beton und Stein Monotone Grasflächen Ambivalent interpretierbare Kunst Fehlender Schatten
106 | Interview mit Clare Cooper Marcus.
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• • • • • •
Technischer Lärm Überfüllte Orte, keine Möglichkeit, ungestört zu sein Ungeeignete Materialien (z.B. metallische Sitzgelegenheiten) Giftige Pflanzen Orte, an denen man sich unsicher fühlt Unübersichtlichkeit, Gefahr, sich zu verirren.
Zunehmend richten Krankenhäuser Gärten ein, bei denen sie auch auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten ihrer jeweils besonderen Klientel achten. Kinder erwarten und benötigen in einem heilenden Garten teilweise anderes als Erwachsene oder Ältere, Krebspatienten anderes als Herzpatienten oder Hüftoperierte, Klinikangestellte anderes als Patienten oder Besucher. So ist der Garten der Brandklinik des Legacy Emanuel Hospital in Portland (Oregon, USA) speziell für Brandverletzte geschaffen und gestaltet. Die Wege sind breit genug, so dass Patienten in Rollbetten herausgefahren werden können, um nach manchmal langer Intensivbehandlung wieder frische Luft und freie Natur genießen zu können. Vielfältige Pflanzen bieten Ablenkung von Schmerz und Behinderung durch Anregungen für die Sinne – zum Betrachten, zum Betasten, zum Riechen. Da Schatten für Brandverletzte unerlässlich ist, finden sich überdachte Plätze, wo Patienten mit Freunden entspannt sitzen können, wo sich aber auch diverse Therapien im Freien durchführen lassen. Für Physiotherapien gibt es auch noch speziell eingerichtete Areale. Wege unterschiedlicher Steigung und Textur erlauben ein dem Grade der Genesung angepasstes übendes Gehen. Der Garten einer Kinderklinik sollte zum einen spezifisch für kranke Kinder gestaltet sein, aber auch ein Ort sein für ihre gesunden Eltern, Geschwister und Freunde, für Klinikpersonal, ebenso für sorgenvolle und eventuell trauernde Eltern, Verwandte und Bekannte – nicht selten haben Benutzer recht unterschiedliche Ansprüche an den gleichen Garten. Der aufwändig angelegte Olson Family Garden auf dem Dach des Kinderkrankenhauses St. Louis (Missouri, USA) lädt abenteuerlustige Kinder zu vielfältigen Aktivitäten ein, etwa auf Steinen in einem Teich herumzuspringen, mit Fernglas die Umgebung zu erforschen, mit interaktiven Objekten, etwa auf Wasser sich drehenden Kugeln zu spielen oder »wilde« Ecken zu entdecken. Das Wasser in den Wasserlandschaften ist – wegen der Infektionsgefahr – durchfließend. Ein Gartentherapeut gestaltet unterschiedliche Programme für die kindlichen Patienten und ihre Geschwister.
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Bild 69 und 70: Klientenspezifische Gärten. Links: Olson Family Garden (St. Louis Missouri, USA). Rechts: Garten der Brandklinik Legacy Emanuel Hospital (Portland, Oregon, USA)
Ein Terrassengarten am Legacy Emanuel Medical Center (Portland, Oregon) bildet den Rahmen für mehrere parallel umfangreiche und aufwändige klinische Studien zur Frage »Wirkt der Aufenthalt im Garten heilsam und heilend auf Patienten, Personal und Besucher?« An diesen ist Roger Ulrich beteiligt, dessen Pionierstudie zur heilsamen Architektur107 bereits erwähnt wurde. Eine der Studien testete die Hypothese »Burnout von Krankenschwestern lässt stärker nach, wenn diese sechs Wochen lang täglich 20 Minuten im Garten Pause machen, als wenn sie diese Pausen im Pausenraum verbringen«. Die Hypothese konnte bestätigt werden.108 Eine zweite testet die Hypothese »Angehörige von Intensivpatienten empfinden weniger Stress, wenn sie im Garten statt im Warteraum der Intensivstation warten«. Eine dritte Studie untersucht, ob »der Garten die Zufriedenheit von Müttern nach der Entbindung und ihren Partnern steigert gegenüber einer Krankenhauserfahrung ohne Garten«. Diese Studie begegnete unerwarteten Hindernissen, die zunächst den Fortgang verzögerten, vor allem: Viele werdende Mütter fürchteten, der Kontrollgruppe ohne Gartenzugang zugewiesen zu werden und wollten deshalb an der Studie nicht teilnehmen. Eine erste Befragung zum Garten fiel sehr positiv aus.109 Ein inspirierender, zu Erleben und Aktivität einladender Garten kann auf vieldimensionale Weise gut tun: »Natur bietet Krankenhauspatienten kognitive, soziale und emotionale Anregungen, die insgesamt Heilung und Gesundheit fördern.«110 Grün ist mehr als Grün. In entsprechender Gestaltung verbindet es uns mit den Wurzeln und dem basalen Kontext unseres Daseins, der Natur. Natur 107 | Ulrich (1984). 108 | Cordoza et al. (2018). 109 | Ulrich, Perkins (2017). 110 | Interview mit Teresia Hazen.
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ist der Raum für Erfahrungen der Lebendigkeit. »Im Gewebe der Lebewesen kommt alles zum Ausdruck, was wir für die Entfaltung einer gesunden Identität wissen müssen«,111 schreibt der Berliner Biophilosoph Andreas Weber. Wir sind fühlender Teil eines Netzwerkes und Kreislaufes von Organismen. Im Garten öffnen wir uns für die gestaltete Natur und gehen in entspannende Resonanz mit Lebendigkeit, Schönheit und Geheimnis. Wir gehen in Resonanz mit dem stillen Wachstum der Pflanzen, erleben sie als sich frei entfaltend, gleichzeitig gestaltet, gepflegt und behütet. Wir öffnen uns für stärkende und heilsame Empfindungen der Fülle und Vielfalt des Lebens.
M it L icht den K r ankenhausaufenthalt bei D epression verkürzen Licht hat großen Einfluss auf die Länge des Krankenhausaufenthalts bei Patienten mit Depression. Zwei Forschergruppen, Beauchemin/Hays sowie Benedetti und seine Mitarbeiter, führten Studien an Depressions-Patienten auf Krankenstationen durch, auf denen die Hälfte der Zimmer hell und sonnig war, die andere Hälfte der Zimmer jedoch wenig Licht hatte. Beide Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Bei Patienten, denen die sonnigen Zimmer zugewiesen worden waren, verkürzten sich die Krankenhausaufenthalte »um 2,6 bzw. 3,7 Tage«.112 In einer weiteren Studie113 wurde künstliches Licht mit erhöhtem spektralem Blauanteil, der besonders zirkadian wirksam ist, auf das Befinden der Patienten untersucht. Man ging davon aus, dass Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen häufig Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus und der zirkadianen Synchronisation haben. Da ausreichende Lichtintensität ein wichtiger Faktor für eine gute Synchronisation ist, wurde nach dem Bezug neuer Räumlichkeiten der Klinik auch eine neue Beleuchtung mit erhöhtem spektralen Blauanteil, der besonders zirkadian wirksam ist, installiert. Die Autoren untersuchten retrospektiv die Verweildauer depressiver Patienten vor und nach dem Umzug. Nach dem Umzug hatte sich die Behandlungsdauer signifikant verkürzt. Diese Verkürzung der Verweildauer war unter Berücksichtigung des Alters nicht mehr signifikant, so dass sich statistisch gesehen durch die neuen Beleuchtungsbedingungen in den neun untersuchten Monaten nur ein Trend zu Verkürzung der Verweildauer fand.
111 | Weber (2014), 193. 112 | Beauchemin, Hays (1996); Benedetti et al. (2001). 113 | Staedt et al. (2009).
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Insgesamt ergibt es sich: Bei einer Gestaltung für Depressive oder Trauernde sollte man berücksichtigen, dass sie vor allem die Gelb-und Blautöne nicht mehr gut erkennen können sowie auch in der Wahrnehmung schwarz-weißer Kontraste beeinträchtigt sind. Zudem kann die stationäre Verweildauer wesentlich mit natürlichem Sonnenlicht wie auch künstlichem Licht verkürzt werden. Vor allem können sonnige Ost-Zimmer den Krankenhausaufenthalt verkürzen. Moderne Leuchtmittel mit erhöhtem spektralen Blauanteil, der besonders zirkadian wirksam ist, verkürzen ebenso die Verweildauer depressiver Patienten.
R aumerleben bei K rebspatienten Wie sehr eine Erkrankung unsere Wahrnehmung verändern kann, beschrieben die Psychologin Tanja Vollmer und die Architektin Gemma Koppen 2010 in ihrem Buch Die Erkrankung des Raumes.114 Vollmer, die mittlerweile Architekturpsychologie an der TU Berlin lehrt, hat die Wahrnehmung chronisch oder schwer kranker Menschen vielfach untersucht. In den Niederlanden hat sie beispielsweise im Auftrag des niederländischen Ministeriums für Wissenschaft und Bildung erfasst, wie Krankenhausarchitektur auf Krebspatienten wirkt. Für die Erhebung haben Vollmer und ihre Koautorin und Büropartnerin Gemma Koppen 500 Patienten und deren Angehörige bei ihren Krankenhausbesuchen begleitet und sie nach Wahrnehmung und Stressempfinden befragt.115 Die Untersuchungen zeigen: Wenn der Mensch durch Krebs schwer erkrankt, »erkrankt« auch der äußere Raum. Krebspatienten in der Psychoonkologie berichten über eine veränderte Wahrnehmung seit der Krebsdiagnose. So empfinden Krebspatienten stärker als gesunde Menschen Enge und Überfüllung als äußerst unangenehm. »Räume werden farbloser wahrgenommen als vor der Erkrankung, Einrichtungsgegenstände als bedrückend dunkel erlebt. Außenräume verlieren ihren Bekanntheitsgrad, Wohlfühlen und Orientieren sind auf einmal keine Selbstverständlichkeiten mehr.«116 Schon in Gesprächstherapien mit Krebspatienten war der Psychologin Vollmer aufgefallen, »dass Kranke ihre Empfindungen und Situationen meist mit räumlichen Metaphern beschreiben. Viele sprachen von räumlicher Enge, von tiefen, schwarzen Löchern, in die sie gefallen seien«, von einem »asymmetrisch« erlebten Körper oder einem Körper, der nicht mehr im Gleichgewicht ist.117 Auch erzählten die Patienten von »plötzlichen Verdunklungen 114 | Vollmer, Koppen (2010) 115 | Schmitt-Sausen (2017). 116 | Vollmer, Koppen (2010), 33f. 117 | Ebd., 13.
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und Verengungen ihrer Räume« sowie von dem Verlust von Ruhe- und Rückzugszonen innerhalb ihrer gebauten Umgebungen.118 Der Wohn- und Lebensraum, der eigentliche Schutzraum, wird nun als schwarz, dunkel, tief, eng, erdrückend, »beängstigend, laut und überfüllt« wahrgenommen und wird zur Bedrohung.119 Der Wunsch nach »Weite, Auf bruch, Licht, Aussicht, Stille und Entleerung« erwacht.120 Es ist sehr eindrücklich, wie stark Krankheit und Verzweiflung mit der Orientierung verknüpft sind. Die Schilderungen der Krebspatienten sind nicht nur metaphorisch. Sie gleichen »einer echten Wahrnehmung.«121 Es verwundert daher nicht, dass eine derart zum Negativen veränderte Raumwahrnehmung Patienten veranlassen konn, ihre Wohnräume neu zu gestalten – etwa mit neuen Farbanstrichen, baulichen Veränderungen, um einen größeren Lichteinfall zu ermöglichen, bis hin zu kompletten Veränderungen durch Umzug.122 Nicht nur bei Krebspatienten findet ein Verfremdungsprozess der leiblich-räumlichen Wahrnehmung statt, sondern auch beispielsweise bei Patienten mit Anorexia nervosa. Mädchen mit Magersucht empfinden, trotz eigentlich erschreckend niedrigen Zahlen auf der Waage, ihren Körper als überdimensioniert dick. Diesen Verfremdungsprozess in der leiblich-räumlichen Wahrnehmung, der zum einen eine plötzliche Umgestaltung der eigenen Umgebung bewirkt und zum anderen auf eine subjektiv erlebte Körperveränderung zurückzuführen ist, bezeichnen Vollmer und Koppen als Raumanthropodysmorphie. Mit diesem Begriff der Raumanthropodysmorphie stellen sie »den bisherigen Umgang mit allem Räumlichen und Raumschaffenden in Frage«.123 Der kranke Mensch mit seinem Leiden und seiner Verfremdung der Raumwahrnehmung muss dort abgeholt werden, wo er sich befindet. Und hier setzt heilsame Architektur ein: das Identitätsbild bei der »Verfremdung« sichtbar zu machen. Heilsame Architektur geht nicht von einer heilen Welt aus, sondern macht auch »Schatten« sichtbar.124 »Architektur wird zum zweiten Körper, wenn der eigene Körper nicht mehr den Schutz bietet, den wir als Menschen für unser verletzliches Inneres so sehr brauchen. Ein kranker Körper ist durchlässig bis zur Seele.«125 Um Studenten für die Krankheit und das Leiden zu sensibilisieren, ist Fühlen und Erleben ein wichtiger Bestandteil von Vollmers TU-Seminaren. Nur so, glaubt die Professorin, kann sie die Studen118 | Ebd., 116. 119 | Ebd. 120 | Ebd., 117. 121 | Ebd., 131. 122 | Ebd., 116. 123 | Ebd., 13. 124 | Interview mit Tanja Vollmer. 125 | Schmitt-Sausen (2017).
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ten dafür gewinnen, an Architektur im Gesundheitswesen »mit größerer Sensibilität heranzugehen als an andere Bauten«.126 Der allererste und wichtigste Schritt ist Vollmer zufolge, das Leiden zu verstehen, um dann eine heilsame Architektur entwerfen zu können.127 »Leiden«, so sagt Tanja Vollmer, »muss verstanden werden, um heilen zu können.«128
H eilsame G estaltung von G esundheitsbauten in D eutschl and Während das Thema heilsame und heilende Architektur für Gesundheitsbauten in Ländern wie den USA, Großbritannien oder den Niederlanden bereits boomt, stehen wir im deutschsprachigen Raum noch am Anfang, obgleich es durchaus vielversprechende Ansätze gibt. In Bezug auf Deutschland stellt Tanja Vollmer fest: »Es verändert sich gerade etwas.« In den Krankenhäusern steige der Wunsch, patienten- und personalorientiert zu arbeiten. Sie bemerke besonders eine diesbezügliche »zunehmende Offenheit der Ärzteschaft«. Immer häufiger kämen Mediziner auf sie zu, um etwas über die Möglichkeiten der psychologisch unterlegten Architektur zu erfahren.129 Mit Blick auf den konventionellen Krankenhausbau schreiben Charles Jencks und Edwin Heathcote: »Die Idee der medizinischen Maschine, das jeder Ästhetik beraubte hygienische Bauwerk haben es nicht geschafft, mit Sinn und Bedeutung in die Stadt zu wirken.«130 Nun gewinnt die Vision einer für Patienten heilsamen und gleichzeitig gemeinschaftlich verankerten »zivilen«131 Gesundheits-Architektur auch in Deutschland immer mehr an Leben und Ausstrahlung.
I ntervie w mit Thomas W illemeit (A rchitek turbüro G r af t, »H e aling A rchitecture «) Ihr Architekturbüro Graft hat an einer vielbeachteten Studie an der Berliner Charité mitgewirkt. In dieser Studie wurde untersucht, wie Raumatmosphären die Gesundheit beeinflussen können. Wie haben Sie versucht, die Wahrnehmung wissenschaftlich zu erfassen?
126 | Ebd. 127 | Interview mit Tanja Vollmer. 128 | Ebd. 129 | Schmitt-Sausen (2017). 130 | Jencks, Heathcote (2010), 7. 131 | Ebd.
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T. Willemeit: Normalerweise werden in Studien nur einzelne Aspekte der Wahrnehmung über einen längeren Zeitraum erforscht, wie beispielsweise in der berühmten Studie von Ulrich über den Blick des Patienten in die Natur oder auf eine Mauer. Das Besondere am Pilotprojekt der Berliner Charité war, dass hier mehrere Aspekte zugleich berücksichtigt werden konnten. Die Beweisbarkeit von mehreren unterschiedlichen Raumqualitäten in dieser Form zu untersuchen, war das bisher einzige Projekt weltweit. Wir haben versucht, alle Stressfaktoren aufzuzeigen, um diese dann zu vermindern. Wahrnehmung wissenschaftlich zu erfassen, ist sehr schwierig. Man braucht eine gewisse Vergleichbarkeit der Probanden und die ist meistens sehr schwer herzustellen. Bei dieser Studie hatten wir den Vorteil, dass wir bei allen Probanden von einer ähnlichen Ausgangssituation ausgehen konnten, nämlich der, dass durch die vergleichbare Liegesituation im Intensivbett mit konstantem Blick nach vorne und nach oben eine vergleichbare Wahrnehmungssituation besteht. Was konnte bisher in den Studien zur neuen Intensivstation nachgewiesen werden? Es wurde festgestellt, dass die Schmerzmitteleinnahme abgenommen hat. Und das hängt damit zusammen, dass der Patient auf der neuen Intensivstation wesenlich weniger belästigenden Reizen ausgesetzt wird. Normalerweise ist ein Patient auf der Intensivstation rund um die Uhr viel zu starkem Licht und Lärm ausgesetzt – egal, ob draußen gerade Tag oder Nacht ist. Wir haben die Intensivstation so gestaltet, dass in der Nacht völlige Ruhe herrscht und das Licht auch aus bleiben kann. Die Ärzte brauchen gar nicht mehr in das Intensivzimmer zu gehen und das Licht anzuschalten, sondern können von einem Nebenraum alle Daten des Patienten kontrollieren. Die Intensivstation strahlt nachts eine nächtliche Atmosphäre aus. Zusätzlich wurden Deckenleuchten installiert, deren Intensität und Frequenz sich so steuern lassen, dass ein annähernd natürlicher Tag-Nacht-Rhythmus entsteht. Der Patient kann im Schlaf zur Ruhe kommen. Denn nach operativen Eingriffen fehlen den Patienten die erholsamen REM-Schlaf-Phasen. Wie sind Sie bei dem Projekt zur Intensivstation vorgegangen? Wir haben die Perspektive der Patienten eingenommen und versucht, uns in sie hineinzuversetzen. Früher stand nur die Technik im Vordergrund, nun wird auch auf die Bedürfnisse des Patienten eingegangen. Was nehmen Patienten überhaupt wahr, wenn sie auf der Intensivstation liegen? Was erleben sie? Als Erstes haben wir Renderings gemacht, die von der Perspektive der liegenden Patienten im Bett ausgehen. Meistens schauen die Patienten auf der Intensivstation an die Decke. Bei der Krankenhausgestaltung wird normalerweise nicht die Perspektive der Patienten berücksichtigt. Die Design-Strategie beruht im Ansatz auf Einfühlung, auf Empathie. Daraus entsteht dann letztlich auch das Gefühl, dass man respektvoller empfangen wird.
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Ihre Projekte haben zudem immer noch so etwas wie einen Wow-Effekt. Ist das auch bei den Gesundheitsbauten absichtlich geplant? Medizinische Einrichtungen sind meistens mit einer bestimmten Typologie und auch bestimmten Vorstellungen verbunden, wie einer kalten sterilen Atmosphäre, einem Verlust von Kontrolle, einer Abhängigkeit und einer Grundangst. Man geht schon mit der Erwartung in ein Krankenhaus, dass man dort ein technisches, rein funktionales, fast laborartiges Gebäude betritt. Der Trick ist nun, mit dieser schon fast vorgegebenen Erwartungshaltung einer pragmatischen und funktionalen Architektur im Krankenhausumfeld zu brechen. Zusätzlich integrieren wir in die Planung neuere wissenschaftliche Erkenntnisse über Licht, Lärm etc. Wenn wir die Erwartungshaltung brechen und stattdessen Räume mit angenehmer Leichtigkeit und spielerischer Ausstrahlung bauen, entstehen Entspannung, Wohlbefinden und auch Neugierde. Interessanterweise spielen Ihr Hotel Q und Ihre Zahnarztpraxis KU64 schon mit diesem Trick der Erwartungshaltung. Gibt es hier noch weitere Zusammenhänge der Intensivstation mit anderen Projekten im Gesundheitsbereich? Nach unserer Projekthistorie kann man die vorherigen Projekte unmittelbar als Vorbereitung für das Projekt Intensivstation sehen. Wir haben an verschiedenen Projekten für Hotel-, Spa- und Wellness-Betreiber gearbeitet. Hoteliers sind sehr sensibel, was die Wünsche der Gäste betrifft. Wenn Gäste sich nicht wohl fühlen, kommen sie nicht wieder. In diesem Bereich haben wir gelernt, uns in die Perspektive der Gäste zu begeben. Bei den Gesundheitsbauten lassen wir uns dann auf die Perspektive des Patienten ein. Ein weiteres Projekt von Ihnen ist das Elternwohnhaus der McDonald’s Kinderhilfe-Stiftung auf dem Gelände der Kinderklinik Sankt Augustin. Was war Ihnen bei diesem Neubau wichtig? Der Neubau Ronald McDonald ist für Eltern gedacht, deren Kinder eine schwere Krankheit haben. Die Eltern können in diesem Haus unbegrenzt wohnen. Hier können sie sich vom anstrengenden Krankenhausalltag erholen und gleichzeitig immer in der Nähe ihres Kindes sein. In diesem Haus wird man nicht komplett versorgt, sondern die Eltern sollen sich auch um ihren Alltag kümmern und kochen. Über das Kochen fangen die Eltern Gespräche an und tauschen sich aus. Begegnungen finden über das gemeinsame Kochen und Essen statt. Die Kommunikation, die über das Essen entsteht, ist ein wesentlicher psychologischer Effekt. Daher ist das Herz des Hauses der offene Küchenbereich mit einer langen Tafel im Zentrum, die zum Reden einlädt. Wie sind sie auf das Thema Architektur und Gesundheit gekommen? New Orleans wurde 2005 in vielen Bereichen komplett überschwemmt und die Wassermassen rissen zahlreiche Häuser fort. Die Stadt war damals von
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Deichen umgeben, die dann aber brachen. Besonders in den ärmeren Vierteln brachen die Deiche wie in Lower Ninth Ward an der östlichen Peripherie. In wenigen Augenblicken wurde der dichtbesiedelte, fast ausschließlich von Schwarzen bewohnte Arbeiterstadtteil zur Wüste. Als Architekten haben wir einen Schock bekommen. Für uns war eindeutig: Wir haben einen Klimawandel und müssen diesen berücksichtigen. Oberstes Ziel ist, dass wir in einer gesunden Umgebung leben und uns auch mit Themen wie der CO2-Einsparung und den nachwachsenden Rohstoffen beschäftigen. Die Suche nach einer gesunden Umgebung ist ebenso entscheidend wie die Verwendung von gesunden Baustoffen, die Energieeinsparung. Der Begriff der Nachhaltigkeit ist wesentlich mit dem gesunden Bauen verbunden. Was ist Ihnen bei der Raumgestaltung wichtig? Für uns ist die holistische, ganzheitliche Perspektive entscheidend. Alle verschiedenen Aspekte einer gesunden Architekturgestaltung müssen betrachtet werden. Hierzu gehören Wahrnehmungsfragen, Energiefragen, konstruktive Themen, Nachhaltigkeit, Baustoffe, Lebenszyklen. In unserem Büro haben wir einen holistischen Blick auf die Architektur mit dem Nutzer im Mittelpunkt. Wir bauen für die Menschen und damit keine autonomen Kunstwerke. Das ist dann auch die Qualität der Architektur, dass sie keine abstrakte Figur ist Was wäre Ihnen noch ein Anliegen für die Zukunft? Das Thema Architektur und Gesundheit sollte nicht nur als spezieller Bereich bei Krankenhausbauten berücksichtigt werden, sondern als ein generell wichtiges Thema bei allen Gebäudearten. Architektur und Gesundheit sollte sich als ein Grundthema des Bauwesens etablieren.
11. Unterstützung von Kranken durch »Spiritual Care«
Bild 71 und 72: Sukhavati in Bad Saarow ist das erste buddhistische Zentrum für »Spiritual Care« in Deutschland – ein Haus des Lebens und der Gemeinschaft, ein Ort der Stille und inneren Einkehr. Das Zentrum bietet Raum für die Frage nach dem Sinn des Lebens und der geistigen Dimension unseres Daseins. Durch den freien Blick aller Patientenzimmer des Sukhavati auf den Scharmützelsee und zum Himmel entsteht das Gefühl von Weite und Offenheit. Durch Landschaften und Wasser kann ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Kosmos entstehen.
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Insbesondere im Bereich der Palliativmedizin setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der Bedarf an Spiritualität und Fürsorge neben der medizinischen, sozialen und psychologischen Dimension eine vierte Säule des angemessenen Handelns darstellt. Heilung in umfassendem Sinne ist weit mehr als ein biologischer Prozess, da sie den ganzen Menschen betrifft. Neben der körperlichen Gesundung gehören zur Genesung psychische, soziale und auch spirituelle Aspekte. Noch immer behandeln Mediziner den Kranken weithin und im Wesentlichen als zu reparierende biologische Maschine. Doch kommt in jüngerer Zeit zunehmend in den Blick, wie stark Heilung auch das Erleben des Leidenden, seine Gedanken und Empfindungen betrifft und von diesen abhängt, im Einklang mit der WHO-Definition von Gesundheit als »Zustand des vollständigen körperlichen, sozialen und geistigen Wohlergehens, nicht nur des Fehlens von Krankheit oder Gebrechen«.1 In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich daher eine neue wissenschaftliche Disziplin entwickelt, »Spiritual Care«, an der Grenze zwischen Medizin, Theologie und Krankenhausseelsorge. Schwerstkranke Patienten sollen im Sinne von »Spiritual Care« ganzheitlich betreut werden. Zur ganzheitlichen Behandlung gehört frühzeitiges Erkennen, Vermeiden und Lindern von Schmerzen sowie anderen körperlichen Belastungen, sowie ebenso zentral die Berücksichtigung von Anliegen psychosozialer und spiritueller Art. Deshalb gehört die Erforschung und theoretische Reflexion über Spiritualität in den medizinischen Kontext und erobert sich seit einigen Jahren auch Platz in medizinischen Ausbildungsgängen. Seit den 1990er Jahren hatte sich gezeigt, dass sich der Begriff der Spiritualität »längst nicht mehr mit Religiosität« deckt, aber auch nicht von ihr zu trennen ist.2 Heute hat sich »die Bindung an Kirchen und andere religiöse Institutionen« in unserer pluralistischen, multikulturellen und globalisierten Welt gelockert.3 Spiritualität ist ein zeitgemäßer Begriff, der sich an der »subjektiven Erfahrung und Intuition« des einzelnen orientiert.4 Dementsprechend ist »Spiritual Care« ganzheitlich und individuell ausgerichtet. Sie ist »die Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben in einem umfassenden Verständnis«.5 Eckhard Frick und Traugott Roser waren seit 2010 europaweit die ersten Professoren für die neue medizinische Disziplin »Spiritual Care« an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Aufgabe dieses neuen Fachgebietes war es, die spirituellen Bedürfnisse von schwerstkranken Patienten und ihren Familien, aber beispielsweise auch der sie betreuenden Ärzte und 1 | WHO (2014). 2 | Grom (2011), 12. 3 | Ebd. 4 | Ebd., 13. 5 | Roser (2009), 88.
11. Unterstüt zung von Kranken durch »Spiritual Care«
Pflegekräfte zu thematisieren. Nach Fricks These hat die Spiritualität nichts mehr mit kirchlicher Trägerschaft von Krankenhäusern oder mit Krankenhausseelsorge im engeren Sinn zu tun, jedenfalls nicht in erster Linie. Vielmehr geht es Eckhard Frick um die »Grenze des Wiss- und Machbaren, an die Ärzte, Pflegepersonal und Patienten immer wieder geraten«.6 Im Angesicht einer schweren Krankheit und des bevorstehenden Todes, stellen sich neue Sinnfragen. Was ist im Angesicht des Todes das wirklich Wesentliche? Was bleibt am Ende des Lebens übrig? Was ist unser Sinn oder was ist unsere Ausrichtung? Wie setzt jemand, dessen Leben durch eine schwere Krankheit bald zu Ende gehen wird, Prioritäten? Was heißt es, hinsichtlich des eigenen Lebens über die eigene Endlichkeit hinauszublicken? »In einem erweiterten Sinn kann Heilung nämlich auch dann noch geschehen, wenn die Mittel der ärztlichen Kunst ausgeschöpft sind und es in erster Linie um die Versöhnung mit der Begrenztheit des endlichen Lebens (healing) geht.« 7 Heil werden versteht man nicht »im Sinn einer idealen Stärke, Schönheit und Gesundheit, sondern im Sinn des Annehmens von Begrenzungen und auch bleibenden Wunden.8 »Zwar ist die Wiederherstellung der Gesundheit (to cure) nicht mehr möglich und der Tod absehbar, wohl aber bleibt die seelische und spirituelle Heilung (to heal) bis zum Lebensende möglich.«9 Im Bereich der Palliativmedizin geht es weit mehr als nur um eine angenehme Wohlfühlatmosphäre für Patienten. Gerade in der Krankheit können seelische Bedürfnisse existenziell werden, die in Komfort und erlebter Wohligkeit keineswegs ihre Erfüllung finden: etwa die Suche nach dem Sinn des Leidens, des eigenen Lebens und des Ganzen, die Sehnsucht nach seelisch-geistiger Erfüllung und innerem Wachstum, der tiefe Wunsch, sich mit der Situation und der Endlichkeit des Lebens zu versöhnen, mehr Weisheit, Achtsamkeit, Mitgefühl, Liebesfähigkeit zu entwickeln, das Ego loslassen zu können. »Spiritual Care« nimmt diese im weitesten Sinne spirituellen Bedürfnisse und Sehnsüchte ernst als für den Menschen und gerade für den Kranken bedeutsame Dimension des Lebens. Diese existenzielle Dimension ist der körperlichen Dimension letztlich übergeordnet. »Spiritual Care« kann noch seelisch heilend wirken, wenn die Hoffnung auf körperliche Heilung aufgegeben werden muss. Wir möchten Ihnen gestalterische Möglichkeiten, die zur spirituellen Dimension der Heilung und zum spirituellen Wohlergehen beitragen, die auch über die bloße Wohlfühlatmosphäre hinausgehen, im Folgenden vorstellen. Bei Projekten mit dem Anspruch von »Healing Architecture« oder »Healing 6 | Frick (2007), 27. 7 | Ebd., 20. 8 | Ebd., 74. 9 | Ebd., 76.
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Design« geht es oft zunächst und grundlegend darum, den Menschen etwas zu bieten, etwa die besagte Atmosphäre eines Hotels oder Wellness-Zentrums. Spirituelle Bedürfnisse sind nun aber gerade keine Konsumbedürfnisse. Die spirituellen Dimensionen des Lebens bedeuten wesentlich Sorge um und für sich selbst, Sorge um und für den Mitmenschen und das Leben insgesamt, aktive seelische Entwicklung und innerer Einsatz also. Sie beruhen auf Haltung und Einstellung, auf einem inneren Appell, auf der Entschlossenheit, auf diesem Weg der Seele fortzuschreiten. So lassen sich eine schöne Umgebung, menschliche Liebe und Zuwendung einerseits passiv als Beiträge zum Wohlbefinden konsumieren, andererseits aber auch aktiv, etwa als Anlass zu Dankbarkeit, und damit als spirituelle Anregung, erleben. Gespräche, Rituale, das Erleben von Schönheit, Zuwendung und Liebe können hier hilfreich wirken und den kranken Menschen unterstützen. Doch Architektur und Design? Zunächst: Eine aufmerksam und liebevoll gestaltete Umgebung wird als solche auch wahrgenommen. Sie kann beispielsweise mit Dankbarkeit und dem Empfinden, in einem Größeren aufgehoben und geborgen zu sein – also spirituell – beantwortet werden. Sodann: Die menschliche Überzeugung, dass Architektur und Design Spiritualität anregen und unterstützen können, manifestiert sich seit Tausenden von Jahren über die ganze Welt hin in äußerlich und innerlich eindrucksvollen und berührenden Bauten sakraler Architektur, in Andachtsplätzen, Kirchen, Tempeln und Klöstern. Wäre es nicht naheliegend, hier nach Anregungen zu suchen, wie Räume sich so gestalten lassen, dass sie spirituelle Bedürfnisse und »Spiritual Care« unterstützen? Es ist die zentrale These dieses Kapitels, dass dies möglich ist. Es ist Allgemeingut, dass Heilung verschiedene Aspekte hat und auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Es ist dabei nicht erstaunlich, dass der Begriff der Heilung durchaus nicht eindeutig definiert ist. Je nach den unterschiedlichen Fachgebieten gibt es bei der Definition von Heilung Unterschiede: So wird die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit in der Psychotherapie mit dem Heilungsprozess gleichgestellt. Selbst innerhalb eines Faches können sich Ärzte durchaus in ihren Vorstellungen unterscheiden, was Gesundheit und Heilung bedeuten.
S piritualität fördert körperliche , geistige und seelische H eilung Auch die spirituelle Ebene kann für den Prozess der Heilung entscheidend sein und ist eine wesentliche und zeitlose Dimension des Menschseins. Spiritualität kann Lebensqualität und Wohlbefinden verbessern, weshalb sie etwa
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im onkologischen Kontext berücksichtigt werden sollte.10 Darüber hinaus können Menschen seelisch geheilt werden, selbst wenn sie körperlich nicht geheilt sind. Zum Beispiel können Menschen mit einer chronischen Krankheit lernen, trotz ihres Zustandes in Frieden zu kommen. So umfasst die ganzheitliche Heilung neben der physischen Genesung auch psychische und spirituelle Gesichtspunkte. Neben der medizinischen, sozialen und psychologischen Dimension der angemessenen Sorge für den Kranken stellt der Bedarf an Spiritualität und entsprechender Fürsorge eine vierte wichtige Dimension dar.
K erndimensionen spiritueller B edürfnisse Spiritualität gilt in den Gesundheitswissenschaften als weit gefasster Begriff: »Spiritual Care benötigen nicht nur religiöse Menschen. Auch Patienten, die einen religiösen Glauben verneinen oder die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft ablehnen, stellen sich die Frage nach dem ›Warum‹, nach dem Sinn von Krankheit und Sterben. Sie haben das Recht auf unsere Begleitung, auch dann, wenn sie nicht mit dem Seelsorger sprechen möchten. Deshalb muss Spiritual Care interreligiös und überkonfessionell offen sein, um der Vielfalt spiritueller Orientierungen bei Patienten, aber auch bei den Gesundheitsberufen zu entsprechen.«11 Ein solcher über Religiosität hinausgehender, aber diese einschließender Begriff der Spiritualität bietet auch die Chance, für alle Menschen unabhängig von der Religionszugehörigkeit offen zu sein, selbst für nicht gläubige Menschen, die sich aber mit existenziellen Sinnfragen beschäftigen. Die in der Literatur beschriebenen spirituellen Bedürfnisse lassen sich in vier miteinander verbundene Kerndimensionen differenzieren: 1. 2. 3. 4.
Verbundenheit (Liebe, Zugehörigkeit, Partnerkommunikation) Friede (innerer Friede, Hoffnung, Ausgeglichenheit, Vergebung) Sinn/Bedeutung (Lebenssinn, Selbstverwirklichung) und Transzendenz (spirituelle Ressourcen, Beziehung zu Gott/dem Heiligen/ Numinosen, Beten).12
10 | Bruns et al. (2007). 11 | Boothe, Frick (2007), 142. 12 | Büssing et al. (2012).
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R aumdesign k ann S piritualität und »S piritual C are « begünstigen Ist es möglich, gestalterisch Atmosphären zu erzeugen, die diese vier Kerndimensionen spiritueller Bedürfnisse unterstützen? Und wenn ja, wie? Wie kann man Spiritualität fördernde räumliche Elemente und Aspekte auch in zumeist sehr funktional gestaltete Gesundheitsbauten integrieren, um Atmosphären zu erzeugen, die gar eine Begegnung mit dem Transzendenten ermöglichen können und die uns offen und empfänglich machen für Sinnfragen und das Wesentliche? Wie vermag Architektur emotionale Werte wie Verbundenheit, Friede, Präsenz und Transzendenz in uns zu fördern? Orte und Räume können durch ihre Atmosphäre zu Stille, Präsenz, Kontemplation, Friede und Selbstfindung einladen und dadurch Spiritualität fördern. Um solche Orte zu schaffen, gilt es, sich bewusst zu machen, welche gestalterischen Elemente und Charakteristika solche Atmosphären begünstigen. Wichtige Quellen der Inspiration sind: • Theoretische und praktische Ansätze der »Healing Architecture« • Erkenntnisse, wie Patienten ihre Umwelt erleben • Gestaltungscharakteristika sakraler Architektur.
Atmosphäre der Verbundenheit und Liebe Auf der menschlichen Ebene ist für einen Patienten kaum etwas so wichtig und wohltuend wie einfühlende Anteilnahme und Zuwendung von Ärzten, Pflegern und vielleicht Mitpatienten, die Gemeinschaft mit Angehörigen und Freunden. Besonders heilsam ist Verbundenheit und Liebe in ihren spirituellen Formen. Der übliche Krankenhausalltag lädt zu solch heilsamer Verbundenheit und Liebe leider kaum ein, was bereits mit den ungünstigen räumlichen Bedingungen beginnt. Statt unwirtlicher, rein funktionaler Räume, sollte es einladende Bereiche geben, in denen sich Patienten und Besucher aufhalten. Vor allem ist es wichtig, dass Besucher Raum und Gelegenheit haben, zu arbeiten, zu duschen, Wäsche zu waschen, zu kochen. Langzeitbesuchern sollte ein eigenes Haus mit Appartements zur Verfügung stehen. Solche Errungenschaften einer heilsamen und heilenden Architektur schaffen somit Grundvoraussetzungen, dass Patienten, Mitarbeiter, Angehörige und Besucher sich in der schwierigen Umgebung Krankenhaus willkommen und wohl fühlen, dass Verbundenheit und Liebe sich besser entfalten können. Besonders in der letzten Phase des Sterbens ist die kontinuierliche Anwesenheit, das Dasein der Angehörigen für den Patienten hilfreich.
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Atmosphäre des Friedens und der Ruhe Ein spezieller Genius Loci oder eine schöne Lage in der Natur können wesentlich sein, um einen besonderen Ort zu schaffen. Zur spirituellen Dimension gehört das »intensive Erleben der Schönheit bzw. der Heiligkeit der Natur«.13 Dazu gehören lichte und helle Zimmer, die einen weiten Blick in die Natur ermöglichen, wie auch die Möglichkeit in der Naturumgebung spazieren gehen zu können. Ganz wesentlich dabei ist der schöne Ausblick in die Weite (siehe Kap. 5, Absatz »Räumliche Metaphern als Ausdruck von Emotionen, Gesundheit und Krankheit: Sich öffnende und atmende Räume«). Diese Weite nehmen wir leiblich wahr. Sie beeinflusst deutlich unsere Stimmung. Ebenso reagieren wir entspannt auf weite schöne Ausblicke. Auch die Helligkeit des Raumes bedingt Höhe, Weite und Ausdehnung. Der helle Raum ermöglicht gute Orientierbarkeit, Übersicht und Abstand. Zudem belegen Studien, dass bei Patienten, die zu Traurigkeit und Depression neigen, »Natur und Licht die Stimmung aufhellen und die Depressionsrate senken«.14 Eine neuere Studie von Vollmer & Koppen belegt, dass schwerstkranke Menschen besonders empfindlich auf Geruch, Möglichkeit und Grad von Privatheit und Weitsicht reagieren.15 Patienten empfinden ihre Intimsphäre oft als nicht mehr ausreichend privat, als eingeengt und von unangenehmen Gerüchen durchdrungen. Der Ausblick in die Weite der Natur wird zur Notwendigkeit, der Enge des erkrankten Körpers zu entkommen. Die Weite der Natur wird einverleibt, um aus der Beengtheit des schwer erkrankten Leibes auszubrechen. Allzu häufig sind Ausblick in die Natur oder Spazierengehen im Grünen in Krankenhäusern nicht möglich. Bei der Planung sollte bereits die Lage des Ortes eine Rolle spielen. Wenn umgebende Natur und Grün nicht ausreichend vorhanden sind, sollte dies landschaftsplanerisch korrigiert werden. Heute ist es möglich, auch auf kleinen Arealen grüne Oasen wie begrünte Innenhöfe, begrünte Dachterrassen oder vertikale Gärten zu erschaffen. Licht und Natur mit ihren Rhythmen vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung bieten nicht nur das Erleben angeschauter Schönheit, sondern auch einen Zugang zu innerem Frieden, zu Ruhe und Ausgeglichenheit. Entscheidend ist aber auch die Vermeidung von Stress durch schlechte Gestaltung, da die Wirkung der Umgebung von kranken Menschen intensiver als von gesunden wahrgenommen wird. Je weniger wir uns in unserem Körper wohlfühlen, umso empfindlicher und verletzlicher reagieren wir auf unangenehme sensorische Reize wie laute Geräusche, sehr helles oder flackerndes 13 | Grom (2011), 15. 14 | Cohen-Cline et al. (2015). 15 | Vollmer, Koppen (2018), 220.
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Licht, schlechte Gerüche, leuchtende Farben, hohe Dichte. Neben einer Überstimulierung durch Reize kann auch monotone und lieblose Gestaltung Stress erzeugen. Ziehen wir die oben besprochenen »Big Five« genannten erlebensund gesundheitsrelevanten architektonischen Dimensionen zur Beurteilung heran, so ergibt sich: Noch immer sind viele Gesundheitsbauten charakterisiert durch 5. schlechte Affordanz (z.B. lange, abweisende Korridore) 6. mangelhafte Kohärenz (z.B. unwohnliche Räume, verwirrende Unübersichtlichkeit, schlechte Orientierung) 7. Überstimulierung (z.B. störenden Lärm) 8. Kontrollverlust (z.B. geringe interpersonelle Distanzen) 9. Erholungsfeindlichkeit (z.B. sind umliegende Flächen sind oft vollständig asphaltiert, wirken unwirtlich und öde). Eine solche Umgebung erzeugt Stress, schädigt nachweisbar Leib und Seele und verzögert Heilungsprozesse. Dieser Stress kommt zu den vielen belastenden Momenten hinzu, mit denen chronisch und schwer Kranke konfrontiert sind, als da sind: schwierige Arzt-Patienten-Gespräche, anstrengende Untersuchungen, Wartezeiten, körperliches Unwohlsein, Daseinsängste und Schmerzen. So kann ein lautes, verwirrendes Krankenhauszimmer bewirken, dass der Patient sich nicht nur besorgt, traurig oder hilflos fühlt, sondern dass auch sein Blutdruck, seine Herzfrequenz sowie seine Muskelspannung in die Höhe schnellen. Ist man erkrankt, intensiviert sich das Stresserleben. Umso wichtiger ist also die Gestaltung einer angenehmen Atmosphäre und Stimmung, die Genesung fördert.
Atmosphäre für Sinnsuche und Präsenz Sinnsuche, Selbstakzeptanz und Selbstentfaltung werden gefördert durch Räume der Ruhe und Stille, da diese stimmungsmäßige Ruhe und innere Stille begünstigen. In Krankenzimmern, die von vielen Reizen überflutet sind, wie Hektik des Personals, lauten Geräuschen, unruhiger Gestaltung, schlechten Gerüchen und gegebenenfalls noch Straßenlärm, ist es schwerer möglich, sich auf spirituelle Stimmung und Gedanken einzulassen. Hochwertig gestaltete Räume, die eine reizmäßig reduzierte und warme Atmosphäre aufweisen, laden eher zu Selbstbesinnung und Ruhe ein. Eine eher schlichte Gestaltung der Zimmer und das Fehlen von Überflüssigem können heilsam wirken, wenn sie auf der mönchischen Vorstellung und Haltung beruhen, den Geist auf dem Weg der geistigen Erleuchtung und Selbsterkenntnis befreien zu wollen. Einer der elementarsten Beiträge zur Atmosphäre ist die Lichtgestaltung. Licht erfüllt atmosphärisch den ganzen Raum. Es gibt viele emotionale Ent-
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sprechungen von Licht und Gefühlen. Wir erfreuen uns am belebenden heiteren Morgenlicht und am weichen warmen Abendlicht, während graue trübe Lichtverhältnisse eher unsere Stimmung drücken. Viele unsere Befindlichkeiten werden mit Lichtmetaphern beschrieben wie Strahlen, helle oder dunkle Stimmung. In Krankenhäusern erzeugt das starke, künstliche, grelle Licht mit starken Blauanteilen eine kalte und sterile Atmosphäre. Warmes indirektes Licht, aber auch möglichst viel natürliches Licht tragen zum Wohlbefinden bei. Das natürliche Licht und die Dunkelheit regulieren die gegenläufigen Zyklen der Hormone Cortisol und Melatonin. Grob gesprochen unterstützt Cortisol energetisierende und stimulierende Prozesse, während wir unter dem Einfluss von Melatonin müde werden und der Organismus auf Sparflamme und Erholung schaltet. In vielen Krankenhäusern wird kaltes Licht gezielt eingesetzt, damit die Mitarbeiter nicht müde werden. Wer den ganzen Tag bis in den Abend hinein unter dem kalten Neonlicht lebt, stört seinen eigenen natürlichen Rhythmus. Von Natur aus ist der Mensch darauf gepolt, im Hellen wach und fit zu sein. Nach einer Phase der Dämmerung setzt dann im Dunkeln die Müdigkeit ein. Viele Menschen unterschätzen den negativen Einfluss, den künstliches Licht auf die biologische Uhr hat.
Atmosphäre der Transzendenz Weitere Dimensionen von Spiritualität sind Achtsamkeit und andere meditative Erfahrungen. Hierzu bedarf es Räume, die zur inneren Einkehr einladen. Eine reduzierte Gestaltung und Abkehr von Bildlichkeit bei hoher gestalterischer Qualität können diese Atmosphäre des kontemplativen Innehaltens und der Gegenwärtigkeit erzeugen. Auch die Atmosphäre einer »heiligen Dämmerung« kann dazu beitragen, das Äußere und Alltägliche abzulegen, so dass tiefe Ernsthaftigkeit, Selbstwahrnehmung und Konzentration auf das Wesentliche die weiteren Gedanken bestimmen. Das gedämpfte Licht der »heiligen Dämmerung« hat in kirchlichen Räumen etwas ausgesprochen Bergendes. Auch farbiges Glas kann dazu beitragen. Entsprechende Fensterflächen erzeugen eine wechselvolle Spannung aus Licht und Schatten, Transparenz und Geschlossenheit. Die Absonderung eines Mediationsraumes durch einen Schwellenbereich und verlangsamende Wegeführungen tragen zur sakralen Atmosphäre wesentlich bei. Typisch für sakrale Inszenierungen ist, dass sie Wege-Konzepten unterliegen, die die Besucher »in Raumsequenzen sukzessive vom Alltag wegführen«.16 Im Sinne eines multi-sensorischen Erlebens kann ein umhüllender Geruch, gedämpftes, von oben hereinfallendes Licht, Kerzenschein (Sehen), Ruhe (Akustik), besondere Materialität (taktil-visuell-propriozeptive Synästhe16 | Haepke (2013), 315.
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tik), die Raumhöhe (visuell-propriozeptive Synästhetik) sowie die szenische Ausrichtung (visuell-propriozeptive Synästhetik), zur meditativen und sakralen Stimmung beitragen. Wie wichtig Schwellen sein können, zeigt sich angesichts ihrer Abwesenheit am Holocaust-Mahnmal von Peter Eisenman. Kritiker beklagen immer wieder den pietätlosen Umgang mit dem Denkmal. Viele Touristen nutzen das Mahnmal als willkommene Gelegenheit für ein Picknick, für einen Kaffee oder zum Sonnenbaden. Kinder spielen Fangen oder Verstecken und man hört ihr helles Lachen.
Bild 73: Das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas, kurz Holocaust-Mahnmal genannt, wurde von dem amerikanischen Architekten Peter Eisenman entworfen und 2005 eröffnet.
Sakrale Orte, Orte die zur meditativen Besinnung einladen, sind normalerweise durch eine Absonderung des Bauwerkes von der Umgebung gekennzeichnet. Die Absonderung schafft einen heiligen Bezirk und vermittelt dem Besucher die besondere Bedeutung des Ortes. Im Komplex des Jüdischen Museums befinden sich solche den Ort angemessen strukturierende Schwellen. Im Holocaust-Mahnmal fehlen sie vollständig. Das Jüdische Museum ist von vielen unterschiedlichen Schwellen durchzogen. Es beginnt damit, dass der Besucher des Jüdischen Museums in das alte barocke Gebäude eintritt, dann erst über eine sehr schmale einläufige Treppe das Tageslicht nach und nach hinter sich lässt und in das Untergeschoss des Jüdischen Museums gelangt. Im Gegensatz zum Jüdischen Museum ist das Holocaust-Mahnmal von allen Straßenseiten frei zugänglich. Der Besucher wird nicht darauf eingestimmt, dass er einen besonderen Ort des Gedenkens betritt. Die offene Zugänglich-
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keit müsste nicht eingeschränkt werden, aber eindeutige Schwellen könnten den Besucher auf den Ort einstimmen. Diese Schwellen könnten durch einen Zaun, Eingangsbereiche und durch Bodenveränderungen erzeugt werden. An diesem Beispiel wird besonders deutlich: ein Meditationsraum oder Raum der Stille sollte einen Schwellenbereich besitzen. Ein sinnvoller und wichtiger Ansatz bei der Gestaltung von Gesundheitsbauten ist es, den Blickwinkel des Patienten einzunehmen. Früher stand nur die Technik im Vordergrund, nun wird auch auf die Bedürfnisse des Patienten eingegangen. Worauf schaut der Patient, wenn er im Bett liegt? Worauf ist der Blick des Patienten gerichtet, wenn er ein schwieriges Gespräch mit dem Arzt führt? Neuere Studien deuten zunehmend darauf hin, dass Kranke ihre Welt anders wahrnehmen als Gesunde. Wie oben bereits erwähnt, zeigte Tanja Vollmer beispielhaft, dass Krebskranke auch den äußeren Raum als »erkrankt« empfinden können. Krebspatienten in der Psychoonkologie berichten über eine veränderte Wahrnehmung seit der Krebsdiagnose: »Räume werden farbloser wahrgenommen als vor der Erkrankung, Einrichtungsgegenstände als bedrückend dunkel erlebt. Außenräume verlieren ihren Bekanntheitsgrad, Wohlfühlen und Orientieren sind auf einmal keine Selbstverständlichkeiten mehr.«17 Vollmer beschrieb, dass Krebspatienten den Wunsch nach »Weite, Aufbruch, Licht, Aussicht, Stille und Entleerung« haben.18 Tatsächlich entspricht die gestalterische Umsetzung von Weite, Natur, Aussicht, Licht und Stille auch den Wünschen sterbenskranker Krebspatienten. Heilsame leibliche Empfindungen generieren sich durch eine Architektur, die es vermag, das Tempo zu drosseln, Ruhe zu erzeugen, eine Verbindung zur Natur herzustellen, gelichtete und großzügige, atmende Räume zu gestalten und auf das würdige Altern der Materialien zu achten. Mit einer heilsamen Architektur ist vor allem der Ansatz verbunden, eine möglichst stressarme und erholsame Umgebung für den Patienten zu schaffen. Spirituelle Anmutungen können gezielt eingesetzt werden, um eine rituelle Distanz zum Alltag zu evozieren, welche Erbauung und Besinnung, Erhebung und Andacht provozieren. Die räumliche Gestaltung kann dem Patienten ermöglichen, sich aus den funktional und technisch kontrollierten Abläufen, die ihn kontrollieren, für sich selber wieder ein Stück Lebensqualität und Selbstbestimmung zu gewinnen. Die gestaltete Umgebung bildet für den Menschen einen emotionalen Resonanzraum, der das Individuum mit seinen Stimmungen und Befindlichkeiten in den Mittelpunkt stellt. Gerade im »Spiritual Care«-Bereich und im Umgang mit Schwerstkranken können Gefühle wie innerer Friede, Hoffnung, Ausgeglichenheit, Vergebung,
17 | Vollmer, Koppen (2010), 33f. 18 | Ebd., 117.
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Lebenssinn, Selbstverwirklichung durch die Gestaltung unterstützt werden und die extreme Daseinskonfrontation mit dem Tode lindern. Architektur kann Rahmenbedingungen für Spiritualität und »Spiritual Care« schaffen. Doch ist dies eben nur eine förderliche Voraussetzung. Wenn Patienten nicht entsprechend eingestellt sind, wenn keine geeignete Betreuung im Sinne von »Spiritual Care« stattfindet, hilft auch die beste und schönste Umgebung nicht.
E rstes M odellprojek t für »S piritual C are «: S ukhavati in B ad S a arow
Bild 74: Im Sukhavati in Bad Saarow gibt es nicht die typische Krankenhausatmosphäre. Ein bestimmendes Material ist das Eichenholz, das im Sukhavati verwendet wurde, so dass eine schöne warme angenehme Atmosphäre entstanden ist.
In der Nähe von Berlin in Bad Saarow ist das erste Modellprojekt für »Spiritual Care« in Deutschland entstanden, das auch gestalterisch die Idee des »Spiritual Care« umzusetzen versucht. Hier im buddhistischen Zentrum Sukhavati werden Menschen begleitet, die sich in Zeiten der Krise, der Krankheit, im Alter oder am Lebensende befinden. (sukha [sanskrit] = Freude, Glückseligkeit) Neben der Krankenwohngemeinschaft gibt es auch eine Fortbildungsakademie und eine spirituelle Wohn- und Lebensgemeinschaft. Diese Durchmischung von Leben und Sterben ist bewusst gewollt. Neben der medizinischen Versorgung sollen Mitgefühl und die Weisheit der buddhistischen Lehren
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in dem Wohnprojekt und Zentrum für spirituelle Begleitung praktisch angewandt werden. Zugleich finden hier in der Akademie für »Spiritual Care« auch Fortbildungen in »Spiritual Care« statt. Die Inspiration für das Zentrum bilden die Lehren und die Vision von Sogyal Rinpoche, Autor des spirituellen Klassikers Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben19 und einer der bekanntesten buddhistischen Lehrer unserer Zeit. Die Lehren des tibetischen Buddhismus legen eine weite, allumfassende Sicht von Leben und Tod dar, die auf Jahrhunderten der philosophischen Auseinandersetzung, der Kontemplation und meditativen Erfahrung beruht. Das Zentrum hat sich zum Ziel gesetzt, die essenziellen Lehren dieser Weisheitstradition über das Leben und Sterben in die Praxis umzusetzen, um dadurch so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Unabhängig von der Weltanschauung oder Glaubensrichtung ist das »ein Haus für alle, ohne Einschränkungen religiöser Art«.20 Nach Stiftungs-Chef Heinz Siepmann ist die »Mehrzahl der Patienten nicht buddhistisch«.21 Auch das Folgende ist im Sukavati ungewöhnlich, so Heinz Siepmann: »Normalerweise liegen Kassenpatienten durchschnittlich 22 Tage auf der Palliativstation, wenn diese länger bleiben, werden die Patienten wieder nach Hause geschickt.«22 Im Sukhavati können sich die Patienten einmieten und der ambulante Pflegedienst kommt zu den Patienten. Angehörige oder Freunde können ein Zustellbett in das Patientenzimmer stellen lassen oder sich ein eigenes Gästezimmer anmieten. Wenn die Patienten sterben, werden sie nicht gleich abtransportiert, Angehörige haben noch zwei bis drei Tage Zeit, sich von dem Verstorbenen zu verabschieden.23 Auch gestalterisch wurden wesentliche Aspekte, die Krebspatienten als Wunsch äußerten, wie »Weite, Auf bruch, Licht, Aussicht, Stille und Leere«24, bedacht und einbezogen. Ein wesentliches Merkmal des Sukhavati ist der besondere Ort am Scharmützelsee. Alle Patientenzimmer haben einen Blick auf den See und in die Natur und sind somit gleichwertig. »Es gibt keine Räume in B-Lage.«25 Alle Zimmer auf der Palliativstation haben überdies einen direkten Zugang zur erholsamen Natur. Eine typische Krankenhausatmosphäre gibt es hier nicht. Alle Fußböden und Fensterrahmen sind aus Eichenholz. Die Wände sind mit Rotkalk verputzt, so dass eine warme und angenehme Atmosphäre entstanden ist.
19 | Rinpoche (2004). 20 | Interview mit Heinz Siepmann. 21 | Ebd. 22 | Ebd. 23 | Ebd. 24 | Vollmer, Koppen (2010), 117. 25 | Interview mit Heinz Siepmann.
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Die Unterstützung der psychosozialen und spirituellen Bedürfnisse chronisch Kranker durch die Begleitung von Ärzten, Therapeuten und Pflegern ist für die Verbesserung der Lebensqualität der Patienten entscheidend. Dieser ganzheitliche Ansatz berücksichtigt neben der medizinischen Behandlung eine integrale Sichtweise auf den Menschen. Die räumlichen Atmosphären können viel dazu beitragen, dass die Patienten sich leichter auf ihre spirituellen Bedürfnisse einlassen.
I ntervie w mit P rof. E ckhard F rick (»S piritual C are «) Sie wurden 2010 als Professor für »Spiritual Care« in München berufen. Wie sind Sie zu diesem völlig neuen Fachgebiet »Spiritual Care« gekommen? E. Frick: Ich habe mich erst relativ spät mit dem Thema beschäftigt, erst nach meiner Habilitation wurde es zu meinem zentralen Forschungsinteresse. An der LMU München habe ich an einem Arbeitskreis Spiritualität und Medizin mitgewirkt. Es ist dann die Publikation Spiritualität und Medizin, gemeinsame Sorge für den kranken Menschen gemeinsam mit Traugott Roser entstanden.26 In dieser Zeit wurde ich dann Professor für »Spiritual Care« an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Diese Professur »Spiritual Care« war ein Teilgebiet innerhalb der Palliativmedizin. Dieser gesamte Bereich »Spiritual Care« wurde früher eher tabuisiert. »Spiritual Care« findet nun zunehmend Interesse, z.B. in der Allgemeinmedizin und in der Psychosomatik, wo unsere Forschungsstelle jetzt angesiedelt ist.27 Welche historischen Wurzeln hat der Begriff Spiritualität? Der Begriff »Spiritual Care« ist heute durch die wachsende spirituelle Pluralisierung in westeuropäischen Ländern sehr weit gefasst. Historisch betrachtet findet sich der Begriff Spiritualität schon in der Antike und später in der französischen und angelsächsischen Traditionslinie. Spiritualität verweist auf das lateinische Wortfeld spiritus, spirit(u)alis. Im frühen Christentum bedeutete Spiritualität ein geisterfülltes und gottzentriertes Leben. Im 17. Jahrhundert kommt in Frankreich die neuzeitliche Rede von spiritualité auf, aber eher als eine mystische Strömung. Der Begriff ist verbunden mit zwei bedeutenden Protagonisten: der spirituellen Autorin Jeanne-Marie Guyon und dem hochadligen Weltpriester Fénelon. Auch in England bezeichnet Spiritualität eine sich auf innere Erfahrung berufende freigeistige Haltung gegenüber religiösen Fragen. Im 20. Jahrhundert sind sowohl verschiedene parallel laufende Entwicklungslinien zu beobachten, in denen die christliche Prägung oft verblass26 | Frick, Roser (2011). 27 | Technische Universität München (2018).
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te und durch hinduistische, buddhistische oder theosophische Bezüge ersetzt wurde. In England begann daher das Interesse für »Spiritual Care« schon in den 1970er Jahren, in Deutschland sehr viel später – erst in den 1990er Jahren. Warum ist Ihnen »Spiritual Care« so wichtig, dass Sie mit Professor Traugott Roser europaweit ein völlig neues Forschungs- und Studiengebiet erschlossen haben? Es geht mir um eine Sensibilisierung für die Spiritualität in vielen unterschiedlichen Berufen. Wir stellen mit Unterrichts- und Fortbildungsangeboten im Lehrgang »Spiritual Care« auch eine Brücke zur Wissenschaft her und bilden Studenten und Berufstätige aus verschiedenen Bereichen aus bzw. fort. Gegenwärtig beginnt ein auf internationaler und nationaler Ebene stattfindender Institutionalisierungsprozess mit neuen Forschungs- und Lehrinstitutionen. An der Hochschule für Philosophie München haben wir einen Modulstudiengang in »Spiritual Care« eingerichtet. Demnächst startet in der Virtuellen Hochschule Bayern auch unser fakultätsübergreifender Kurs »Spiritual Emergency Palliative Care«. Heute ist »Spiritual Care« auch schon ein interessantes Alleinstellungsmerkmal und kann Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sehr viel attraktiver machen. Der Studiengang »Spiritual Care« wendet sich an sehr unterschiedliche Berufsgruppen wie Pfleger, Ärzte, Verwaltung. Gibt es Berufsgruppen, die sich des Themas eher annehmen? Die Mediziner tun sich schwer mit dem Thema »Spiritual Care«, jedenfalls oft im ersten Kontakt. Die Medizin ist sehr naturwissenschaftlich orientiert. Alles wird durch Laborwerte und andere objektivierende Verfahren gemessen und ausgewertet. Es gibt außer dieser rein technischen Ebene aber auch eine andere Ebene. Ebenso ist für Verwaltungsangestellte das Thema »Spiritual Care« bedeutsam. Verwaltungsangestellte achten häufig nur auf wirtschaftliche Parameter. Auch sie zu sensibilisieren, halte ich für wichtig. Die Pflegenden nehmen das Thema »Spiritual Care« noch am leichtesten an. Das Pflegepersonal in einem Durchschnittskrankenhaus ist unterbesetzt und steht ständig unter Zeitdruck, außer vielleicht in der Palliativmedizin. Wie soll denn »Spiritual Care« hier zur Wirkung kommen, wenn das Pflegepersonal immer so unter Zeitdruck steht? Gerade bei dem Pflegepersonal besteht ein erhebliches Potenzial für »Spiritual Care« trotz der großen Arbeitslast. Nicht nur für die Patienten ist »Spiritual Care« bei Pflegenden eine Ressource, sondern auch für die Pflegenden selbst. Das Haupthindernis ist nicht der Zeitmangel, sondern mangelnde Kompetenz. Es braucht beispielsweise Unterbrechungsrituale, die vielleicht nur eine Minute dauern. Das heißt, zeitlich ist so ein Ritual der Achtsamkeit quantitativ nicht viel, aber qualitativ dennoch bedeutsam. Ein Beispiel für ein solches Ri-
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tual ist der Gong, der anstatt eines Tischgebetes zum Innehalten einlädt, wie es im Lassalle-Haus, einem Zentrum für interreligiöse Begegnung im schweizerischen Edlibach, praktiziert wird. Was bedeutet für Sie ein spiritueller Raum? Dieser Raum kann eine Begegnung zwischen Menschen zulassen, aber auch eine Offenheit zur Transzendenz. Zwischen Menschen kann eine Bezogenheit entstehen, aber auch ein Alleinsein in Gegenwart anderer. In einem Krankenhaus haben wir einen Raum, der relativ geschützt am Ende des Ganges liegt, als Sackgasse sozusagen. Hierhin kam eine Muslima und fragte, ob sie beten könne, und legte einen Teppich hin. Schon der Teppich mit der begrenzten Größe schafft als Symbol für die Muslima einen Raum. Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Wie ich schon sagte, eine höhere Sensibilität für »Spiritual Care«. Der Einbezug spiritueller Aspekte erweitert das Verständnis von Gesundheit und Lebensqualität wesentlich. Vor allem ist mir wichtig, dass »Spiritual Care« nicht nur auf einer individualistischen Idee beruht, sondern auch wesentlich in das Management hineingehört. Deshalb entwickeln wir auch Fortbildungsformate, die sich gezielt an Führungskräfte richten.
12. Checkliste: Design als Therapie Die folgende Checkliste zur Bewertung der Wirkung von gebauter Umwelt auf Erleben, Wohlbefinden und Gesundheit orientiert sich an Publikationen1, aus denen wir die Kriterien zusammengestellt sowie teilweise umformuliert und ergänzt haben. Wünsche, Bedürfnisse, Befinden
Psychische Folgen bei Nichterfüllung
Architektonische Maßnahmen
Stimulierung, Anregende schöne Atmosphäre sich wohlfühlen willkommen sein
Langeweile Abstumpfung Unwohlsein Achtlosigkeit Nichtwertschätzung Stress
Visuelle Ruhe durch klare Gestaltung und Ordnung, Verdeckung von zu viel Technik, symmetrische harmonische Gestaltung, harmonische ruhige Farbgestaltung Material: Positive synästhetische Erlebnisse schaffen durch biophile Gestaltung, Materialien mit Bezug zum Ort (natürliche Materialien wie z.B. Holz, natürliche Bezüge zur Natur) Stille, Ruhe: Naturgeräusche von draußen Licht: Tageslicht durch große Fenster, auch für alle Mitarbeiterräume, ein lichtdurchfluteter Raum ist Teil eines Genesungskonzeptes, angenehmes künstliches Licht, warmes Licht am Abend zirkadiane Beleuchtung, Außenlamellen Angenehmes Raumklima: natürliche Belüftung und Belichtung, klimagerechtes Bauen Standort des Gebäudes in der Natur oder künstliche Schaffung von grünen Innenhöfen, grünen Wänden oder begrünten Dachterrassen
1 | Monz & Monz (2001); Evans & McCoy (1998); Frick & Roser (2011) u.a.
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Heilsame Architektur De-Individualisierung Affordanz zu Privatheit, sozialer Stress Rückzug Möglichkeit, allein zu sein ungestörte Intimität eigenes Territorium (Selbstverwirklichung) unbeobachtet, ungestört sein (z.B. telefonieren, weinen)
Eine deutliche Kennzeichnung des Territoriums durch Schwellen wie Bodenbelagswechsel, andere Farben oder Raumhöhen, Torsymbole, so dass spürbar wird, wenn eine neue Zone betreten wird. Verschiedene Betthäupter, die mit persönlichen Accessoires, die eine Raum-im-Raum-Situation entstehen lassen können. Eine magnetische Schiefertafel bietet die Möglichkeit Notizen, Fotos oder Postkarten aufzuhängen Neutrale Wegeführung an Territorialplätzen vorbei, ohne diese zu kreuzen, z.B. wird bei einem typischen 2-Bett-Zimmer-Grundriss das Territorium des türseitig liegenden Patienten regelmäßig verletzt, daher nach Möglichkeit paraventartige Abgrenzungsmöglichkeit schaffen Leichten Zugang zu geschützten Ruhe-Oasen schaffen: Sessel mit hohem Rückenschutz, Geschützte Ruheoasen in der Natur, z.B. auf Dachterrassen, Veranda, Wintergarten, Pavillon, Arkaden, Gartenlaube und Gärten
Kohärenz, Orientierung sich zurechtfinden Identifikation
Orientierungslosigkeit Verlorenheitsgefühl Angst Ärger
Ablesbarkeit der Gebäudestruktur und der Ausgestaltung der Wege Spezifische Gestaltung verschiedener Räume/Geschosse: (Wiedererkennungseffekt) Je nach Funktion des Ortes Unterscheidung in Farbe und Material, Aufstellung von Objekten zur Markierung Charakteristische Markierung aller Punkte, an denen Wegeentscheidungen getroffen werden müssen Hierarchie von Wegen: Ausbildung von Übergangs- und Eingangssituationen
12. Checkliste: Design als Therapie Kontrolle von Umweltbedingungen
Apathie Resignation Stress
Raumtemperatur Lautstärke von Musik und TV
Selbstständige Kontrolle: Die baulichen Gegebenheiten sollen dem Patienten soweit wie möglich selbstständige Kontrolle von Umweltbedingen ermöglichen. Entscheidungsfreiheit, ob Ruhe, Musik oder TV gewünscht wird, wie das Bett aufgestellt, wie dekoriert wird, Bilder aufgehängt, persönliche Kleinodien aufgestellt werden Die Möbel sollten persönlich veränderbar und nicht fest eingebaut werden Regulierungsmöglichkeiten von akustischen, visuellen, olfaktorischen oder haptischen Reizen Beispiel: Klimatisierung, Heizung, Sonnenschutz, Fenster
Kognitive Kontrolle sich sicher fühlen
Unsicherheit
Alles im Blick haben: Tür im Sichtfeld, damit man weiß, wer den Raum betritt. Hierbei auch Gegenlicht beachten Rückenschutz durch Wand hohes Betthaupt, Raumtrenner Symmetrie, auch beim Schlafen geschieht nichts hinter meinem Rücken Klare Überschaubarkeit des Raumes
Affordanz Aktivität Ablenkung als Teil der Atmosphäre
Langeweile Tristesse
Medien: Zeitschriften, TV, Kino Aktivitätsangebote: Cafeteria, Restaurant, Spieltische, Spielbereiche für Kinder, Teeküche für alle, Tischtennisplatte, variabel zu nutzende Räume und Ausstattungen Aktivitätsangebote aus krankenhausfernen Metiers: Konzerte, Vorträge, Ausstellungen
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Heilsame Architektur Anerkannt, wichtig genommen werden Geliebt werden Verbundenheit
Selbstwertverlust Verletztheit
Flure: Statt unwirtlicher Flure gibt es einladende allgemein zugängliche Bereiche, wo Kinder und Besucher sich gern aufhalten Familiengerecht: Innen- und Außenbereiche sind mit Blick auf Kinder und Familien gestaltet Die Kinder haben große, ruhige, helle Einzelzimmer mit Fenster, Bad, Tisch, Telefon, TV, Ausziehsofa, auf denen Besucher auch die Nacht verbringen können Es gibt spezielle Gemeinschaftsareale für diverse Beschäftigungen für jeweils definierte Altersklassen Besucher, die länger bleiben, haben Raum und Gelegenheit, zu arbeiten, zu duschen, Wäsche zu waschen, zu kochen
Erholung sich erholen gesund werden
Ermattung Erschöpfung Schwächung Unwohlsein Unbehagen Missstimmung Stress Tristesse Kränker werden
Helle Räume mit Tageslicht und abends warme Lampen mit gelben Lichtanteilen Weite Ausblicke schaffen: Bodentiefe Fenster bzw. niedrige Brüstungshöhe ermöglichen bessere Blickbezüge. Enge des Raumes optisch erweitern. Der Ausblick in die Weite der Natur wird zur Notwendigkeit, um der Enge des erkrankten Körpers zu entweichen. Helle, angenehme sanfte Farben Rückzugsmöglichkeiten in die Natur: grüne Innenhöfe, Gärten, Dachgarten Indoor- und Outdoorbegrünung Therapiemöglichkeiten auch in der Natur
12. Checkliste: Design als Therapie Personalisierung, Territoriale Markierung
Hilflosigkeit Ausgeliefertsein
Klare Hierarchisierung und differenzierte Gestaltung der öffentlichen, halböffentlichen und privaten Zonen Ablesbarkeit ohne Beschriftungszwang Kommunikative, öffentliche Zonen: nutzbar als Ausstellungsraum Private Zonen: abgegrenzt individuell, Signale sollen Grenzüberschreitung verhindern
Verbundenheit durch das Da-Sein der Angehörigen
Angst Verlorenheitsgefühl
Langzeit-Besuchern steht ein hotelartiges Zimmer bzw. Mini-Apartment zur Verfügung oder ein eigenes Bett im Patientenzimmer
Ruhe, Frieden, Stille
Unruhe Nicht-zur-Ruhe-kommen
Die Lage des Gebäudes sollte in einer ruhigen Gegend mit Grün liegen. Wenn die städtebauliche Situation dies nicht zulässt, müssen auf kleinstem Raum Grünflächen geschaffen werden, etwa auf Dachterrassen, begrünten Innenhöfen und begrünten Fassaden Hochwertige, visuell ruhig gestaltete Räume, die eine reizmäßig reduzierte und warme Atmosphäre aufweisen
Hoffnung Transzendenz Sinn
Hoffnungslosigkeit Sinnlosigkeit
Das intensive Erleben der Schönheit bzw. der Heiligkeit der Natur ist eine Dimension von Spiritualität. Hierzu gehören lichte und helle Zimmer, die einen weiten Blick in die Natur ermöglichen, wie auch die Möglichkeit in der Naturumgebung spazieren zu gehen. Ein sakral anmutender Raum (ein Raum, der für alle Religionen offen) ist durch einen Schwellenbereich gekennzeichnet
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13. Wenn Stadt zur sozialen Gesundheitsfrage wird Stadtbewohner sind in besonderer Weise mit multiplen Umweltbelastungen wie Dichte, Lärm, Hektik, Hitze, Feinstaub und Anonymität konfrontiert. Ebenso ist eine mangelnde Grünversorgung in Städten negativ zu werten, auch wenn die Luftbelastungen nicht hoch sind, da begrünte Wege und Parks eine Möglichkeit zur Stressbewältigung darstellen. Eine Unterversorgung stellt sich daher als zusätzliche Belastung dar. Schlechte Gestaltung, soziale Problematik1 und Lichtverschmutzung verstärken die Belastungen. Sozialer Stress entsteht vor allem durch die Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und sozialer Isolation. Kann man diesem chronischen Stress in Städten nicht ausweichen, kann dieser krank machen. »Es kann zu Störungen des Herz-Kreislauf- und des Immunsystems führen, ebenso zu psychischen Erkrankungen wie der Depression.«2
P sychische E rkr ankungen nehmen durch L uf t verschmut zung zu Die Studienergebnisse zu den Auswirkungen von Luftverschmutzung sind alarmierend: Feinstaub aus Heizungen, der Industrie oder dem Verkehr kann nicht nur zu Erkrankungen der Atemwege wie Bronchitis und Asthma führen und das Herz-Kreislaufsystem schädigen, sondern auch das Nervensystem angreifen. »Gefährdet sind insbesondere die Gehirne von Kindern und Alten. Schon eine Studie der WHO von 2004 schätzte, dass in ihren europäischen Mitgliedstaaten jährlich bis zu 13.000 Todesfälle bei Kindern unter vier Jahren auf Feinstaub in der Außenluft zurückgehen.«3 So wurden an Tagen mit erhöhter Stickstoffoxid-, Staub- und Schwefeloxidbelastung erhöhte Einweisungen in Psychiatrien festgestellt. Schon bei einem geringen Anstieg der Luftverschmutzung sind vermehrt 1 | Perkins et al. (1993). 2 | Adli (2017), 51. 3 | Schuh (2009).
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und verstärkt psychische Krankheiten und Auffälligkeiten zu beobachten.4 Dies trifft insbesondere auf Stickstoffdioxid zu, das in der Regel auf Abgase im Straßenverkehr zurückzuführen ist. Diese Ergebnisse korrelieren mit den Ergebnissen von Andreas Meyer-Lindenberg vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit an der Universität Mannheim, dass Städter öfter, »etwa 30 bis 40 Prozent häufiger, an psychischen Erkrankungen leiden als Landbewohner.«5 Erklärt werden diese psychischen Erkrankungen und Depressionen in der modernen Psychoneuroimmunologie damit, dass Feinstaub im Gehirn Entzündungsvorgänge im Gehirn auslösen kann, die »zu neurologischen Erkrankungen führen«.6
M ultiple B el astungen und der E influss auf die L ebenserwartung So können diese vielfältigen Belastungen auch einen Einfluss auf die Lebenserwartung haben. Eine Untersuchung aus London konnte nachweisen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung entlang der U-Bahn-Strecken extrem unterschiedlich ausfallen kann. »Entlang der Central Line, die in west-östlicher Richtung die Stadt durchquert, beträgt der Unterschied zwischen der Station Oxford Circus und der im ärmeren Eastern London gelegenen Station Holborn 19 Jahre: In Oxford Circus werden die Menschen durchschnittlich 96 Jahre alt, in Holborn sind es nur 79 Jahre. Dabei ist die Entfernung zwischen den beiden Haltestellen nicht groß, dazwischen liegt gerade mal eine Station.«7 An diesem Beispiel zeigt sich, dass es eine ungleiche Verteilung von Gesundheitsrisiken gibt. Der Begriff »soziale Umweltgerechtigkeit« nimmt die komplexen Zusammenhänge zwischen sozialer Lage, Umweltqualität und Gesundheit in den Blick und versucht, sie integrierend zu betrachten. In den 1980er Jahren wurde der Begriff der »sozialen Umweltgerechtigkeit« in den USA entwickelt, der sich nun auch in Deutschland einen Weg in die Diskussion um die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Gesundheit bahnt. Es geht darum, räumlich lokalisierbare, oft in ingesamt unterprivilegierten Arealen konzentrierte gesundheitsrelevante Umweltbelastungen zu vermeiden oder zu vermindern und einen gerechten Zugang zu Umweltressourcen zu schaffen. Besondere Relevanz hat dies für sozial benachteiligte Gebiete im städtischen Raum, denn gerade dort sind die Bewohner stärker von Umweltbelastungen betroffen – durch Lärmbelastungen, Luftverschmutzung und fehlende attraktive Grünräume. 4 | Oudin et al. (2016). 5 | Bülow (2015). 6 | Schuh (2009). 7 | Cheshire (2012); Adli (2017), 212.
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Soziale Umweltgerechtigkeit in Berlin Berlin hat sich früh mit dem Thema Umweltgerechtigkeit befasst. 2009 startete das Modellvorhaben Umweltgerechtigkeit im Land Berlin. Unter der Leitung von Dr. Heinz-Josef Klimeczek wurde erstmals in Europa eine soziale Umweltkarte erstellt.8 Gesundheitsrelevante Kernindikatoren wie Lärm, Luftgüte, bioklimatische Belastung sowie Versorgung mit öffentlichem Grün wurden quartiersbezogen ausgewertet und dann mit Sozialdaten verbunden. Ergänzend wurden kleinräumige Analysen zu weiteren Themenfeldern wie Stadtstruktur, Wohnlage, Lichtverschmutzung u.a. in diesen Ansatz integriert.
Bild 75: Überblickskarte der Umweltbelastung in Berliner Quartieren (Dr.-Ing. H.-J. Klimeczek, Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Umwelt)
E rgebnis : S oziale U mweltgerechtigkeit B erlin Im Ergebnis liegt ein (quartiersbezogenes) Bild über die gesamtstädtische Situation vor, das die ungleiche Verteilung der Umweltbelastungen kleinräumig darstellt. Eine integrierte und ressortübergreifende Betrachtung sowie fachliche Einschätzung wird nun möglich. Die identifizierten, mehrfach belasteten Gebiete verdeutlichen, dass sich der größte Teil der hochbelasteten Planungsräume
8 | Klimeczek (2010).
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im Bereich der Innenstadt befindet. Gleichzeitig ist ein Großteil der Gebiete mit einer hohen sozialen Problemdichte von hohen Umweltbelastungen betroffen. Der Zusammenhang von niedrigem sozialen Status und erhöhten Mehrfachbelastungen konnte nachgewiesen werden. Hinzu kommen die anstehenden Klimaveränderungen, die bereits jetzt schon Hitzewellen, Stürme, Starkregen und Hochwasser mit sich bringen. Gebäudekörper und Straßen heizen sich in Hitzeperioden erheblich auf, so dass die thermischen Belastungen vor allem dicht bebaute Städte betreffen. Manchmal können die Städte bis zu zehn Grad wärmer sein als das nur dünn besiedelte und begrünte Umland. Für die schon vulnerablen Stadtteile im Innenstadtbereich Berlin stellt die Klimaveränderung eine zusätzliche Belastung dar, worauf nun dringend mit Nutzungsbeschränkungen und Nutzungsaufwertungen vorausplanend reagiert werden muss. Lärmschutz und Luftreinhaltung müssen verbessert werden. Vielfältige Maßnahmen und Kooperationen aus unterschiedlichen Fachressorts und Disziplinen werden notwendig sein, um die Lebensqualität zu steigern. Es stellt sich die Frage: Welche gestalterischen Planungen ermöglichen es, für die genannten Mehrfachbelastungen einen Ausgleich zu schaffen und zu einer besseren Stressverarbeitung beizutragen?
S tr ategien zur V erbesserung von S tadtr äumen Eine Konzentration mehrfachbelasteter Räume im Innenstadtbereich und im erweiterten Stadtbereich Berlins ist anhand der sozialraumbezogenen Umweltbelastungsanalyse deutlich geworden. Fatalerweise werden ein notwendiger Wohnungsneubau und Nachverdichtungen in diesen Bereichen zu einem noch weiteren Rückbau von Grün- und Brachflächen führen und die Umweltbelastungen in den schon ausgewiesenen vulnerablen Gebieten verschärfen. Es entsteht so ein Zielkonflikt, wenn man bei dem angedachten Grünflächenausgleich bleibt. Um dennoch sowohl Nachverdichtung als auch Begrünung im innerstädtischen Bereich zu erreichen, müssen neue Strategien entwickelt werden, die weniger quantitativ, sondern eher qualitativ ausgerichtet sind. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Gärten, Parks, grüne Dachterrassen, begrünte Innenhöfe und vertikale Gärten, verstärkte Gestaltung der Uferläufe. Mit biophilem Design kann auf vielfältige Weise eine Verbindung zur Natur hergestellt werden. Um neue qualitativ hochwertige Grünzonen zu schaffen, könnten Beiträge als Ausgleichszahlungen eingenommen und Förderprogramme entwickelt werden. In Hamburg wird zum Beispiel seit einigen Jahren das Programm Qualitätsoffensive Freiraum erfolgreich angewendet: Neue Wohnungsbauvorhaben werden immer mit einer Aufwertung von Freiräumen im Quartier kombiniert. Mit diesem Programm werden Restgrünflächen zu qualitativ besser nutzbaren Flächen und führen damit zu einem »grünen Mehrwert«
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für alle. Auch mit dem Programm Dachbegrünungsstrategie in Hamburg werden Neubauprojekte verpflichtet, ihre Dächer zu begrünen. Durch die extreme Verdichtung in Berlins Innenstadtbereich ist es sinnvoll, dass die Konzepte im Quartier abgestimmt werden, um die Planungen besser in den Quartierszusammenhang zu stellen.
R eduk tion von B el astungen durch G rünzonen • Grünzonen filtern Schadstoffe in der Luft, reduzieren Hitze und wirken gleichzeitig stressabbauend: Ein direkter Kontakt mit Natur sowie Ausblicke in die Natur wirken erholsam.9 • Indem Natur wesentlich zur ästhetischen Aufwertung beiträgt,10 mildert sie Stress, der durch schlechte Gestaltung entsteht. Eine wesentliche Ursache des ästhetischen Reizes von Bäumen ist, dass sie Monotonie und Massigkeit verringern, zugleich die Komplexität erhöhen und ein menschliches Maß in gebaute Umwelten bringen können.11 • Die Nähe zu einem Park kann den Einfluss von sozialer Benachteiligung auf die psychische Gesundheit abmildern.12 Soziale Benachteiligung ist nicht nur für die Betroffenen belastend, sondern auch für die unmittelbare Nachbarschaft. Denn »den deutlichsten Einfluss auf die psychische Gesundheit hatte die Armut in der unmittelbaren Nachbarschaft«.13 • Studien belegen den kognitiven Nutzen bei Jugendlichen, insbesondere bei benachteiligten Jugendlichen.14 Bei Jugendlichen, die Zeit in der Natur verbringen, verbessern sich auch die Symptome von ADHD (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung).15 Die Planung von Schulgärten gewinnt auch aus dieser Perspektive eine wesentliche Bedeutung. • Eine weitere Studie mit erstaunlichen Ergebnissen fand heraus, dass es eine Beziehung zwischen Baumabdeckung und Verbrechenshäufigkeit in den Nachbarschaften gebe. Eine Erhöhung der Baumbedeckung um nur zehn Prozent führe zu einer Abnahme der Kriminalitätsrate um 11,8 Prozent.16
9 | Hartig, Evans (1993); Kaplan, Kaplan (1989); Ulrich (1993). 10 | Sheets, Manzer (1991). 11 | Wohlwill (1993); Stamps (2000). 12 | Mitchell et al. (2015). 13 | Adli (2017), 255. 14 | Wells (2000). 15 | Roe, Aspinall (2011). 16 | Troy et al. (2012).
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• Grün reduziert die unterschiedlichsten Arten von Belastungen. Nicht nur Luftschadstoffe, Lärm und Hitzebelastungen werden reduziert, sogar die soziale Problematik kann verändert und verbessert werden. Da sich die hochbelasteten Planungsräume in Arealen mit hoher sozialer Problematik befinden, ist dieser positive Aspekt der Reduzierung von sozialer Problematik nicht unerheblich. Zusätzlich bewirkt es: Wir leben gesünder, sind glücklicher, stressresistenter, produktiver und kreativer. Kein Wunder, dass wir uns dann auch entspannter und zu Hause fühlen, wenn wir uns in einer grünen Umgebung befinden. All das zeigt, wie wichtig es ist, Städte grüner werden zu lassen.
Bild 76: Lageplan Alexanderplatz 201817 (umgezeichnet und modifiziert anhand Vorlage18)
Ein Beispiel: Der extrem belastete Alexanderplatz Das Areal um den Berliner Alexanderplatz ist mehrfach belastet. Hinzu kommen noch eine soziale Problematik und eine extrem hohe Kriminalitätsrate, die Zeichen einer nicht funktionierenden Umwelt sind. »Verwahrloste Umwelten senden die Botschaft aus, dass es niemanden gibt, der sich für die Erhaltung verantwortlich fühlt. Solche Umwelten wirken aufgegeben, sich selbst überlassen und ohne Kontrolle durch andere.«19 Um die hohe Dichte an kriminellen Delikten auf dem Alexanderplatz zu mindern, wurde dort Ende 2017 eine Polizeiwache mit 24-stündiger Beamtenpräsenz errichtet. 17 | Wernitz, Schmitz (2018), 26. 18 | Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (2010). 19 | Flade (2008), 151; vgl. Perkins et al. (1993).
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Eine Begrünung des Alexanderplatzes könnte dazu beitragen, die Mehrfachbelastungen zu reduzieren und die Lebensqualität an diesem Platz zu stärken. Trotz Nachverdichtung und geplanter Hochhausbebauung ist bisher weder eine Begrünung des Alexanderplatzes noch der Dächer der neu zu planenden Häuser vorgesehen. Abzusehen ist, dass die geplanten Hochhausbauten und weiteren Nachverdichtungen die negative Dynamik dieser vielfachen Mehrfachbelastungen in diesem Planungsgebiet weiter potenzieren werden.
Bild 77: Lageplan Alexanderplatz Entwurf zur urbaren Gestaltung 20
Sören Wernitz und Leonard Schmitz, Studenten meines (KB) Seminars Planen und Entwerfen für Wohlbefinden und Gesundheit, fassen ihre Hausarbeit zum Thema Berliner Alexanderplatz wie folgt zusammen: »Der Alexanderplatz ist mit 80×80 cm großen Steinplatten schachbrettartig ohne einen wirklichen Anfangs- und Endpunkt zugepflastert worden. Um dieses endlose Steinraster aufzubrechen, sollen grüne Schattenspendende Oasen mit Sitzgelegenheiten den großen Platz neu gliedern. An verschiedenen strategischen Punkten könnte man die Platten wegnehmen und mit höher gelegenen Quadern austauschen. Diese könnten dann bepflanzt oder sogar mit Bäumen bestückt werden, um den Platz attraktiver zu gestalten. Speziell zum Brunnen haben wir an einen fast schon eigenen Bereich gedacht, welcher einen zweiten durchbrochenen Ring um den Brunnen bildet, wo man sich trifft, aber auch einfach nur Platz nehmen und das Treiben um den Brunnen genießen kann. Zurzeit hat man nur im Vorbeigehen die Möglichkeit, auf den Brunnen zu sehen, denn man kann nur auf dem Rand sitzen und sieht über den Platz.«21 20 | Wernitz, Schmitz (2018), 26. 21 | Wernitz, Schmitz (2018): schriftliche Zusammenfassung für das vorliegende Buch.
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Bild 78: Baumring um den Brunnen (Entwurf) 22
Bild 79: Baumreihen um die Straßenbahntrasse (Entwurf) 23
P l anung von R uhe zonen und kühlenden O rten in stark bel aste ten G ebie ten Stadtraumgestaltung, Architektur und Design können gezielt eingesetzt werden, um innerstädtischen Mehrfachbelastungen entgegenzuwirken. Im innerstädtischen Bereich könnten kleine Areale wie Innenhöfe, Restflächen, Abstandsgrün, Schulhöfe, Privatgärten zu erholsamen und auch im Sommer 22 | Wernitz, Schmitz (2018), 29, 40. 23 | Ebd., 34, 41.
13. Wenn Stadt zur sozialen Gesundheitsfrage wird
kühlen Ruhezonen umgestaltet werden. Sie bilden Schutzräume gegen Überstimulierung und Überreizung. Während die gebaute Umwelt Stress erzeugen kann, reduziert diese Form der Gestaltung Stress und kognitive Müdigkeit. Erholsame Designelemente laden zum Rückzug ein und stellen oft einen Bezug zur Natur her.24 Private Rückzugsräume wie kleine Gärten, begrünte Dachterrassen und Innenhöfe ermöglichen, die Form der urbanen Dichte in Städten zu mindern. Gestalterische Mittel für erholsames Design sind die Naturumgebung, der Blick in die Natur, offene Weite, ein indirekter Bezug zur Natur über Brunnen, Geräusche und Materialien. Auch die gestalterische Absonderung von Gebäuden mittels Schwellen, welche Rückzugsräume einleiten sowie visuelle und akustische Ruhezonen bilden, lädt zur Erholung ein. In Stadträumen sollte es Gelegenheiten für ruhige Rückzugsorte geben, um allein zu sein und sich von Reizüberflutung oder täglichen Routinen zu erholen. Entschleunigte Ruheorte können dem »Kernproblem« Stress entgegenwirken und das erlebte schnelle Tempo unserer Zeit drosseln.
A k tivierung neuer F l ächenpotenziale durch L ok alisierung von »N icht -O rten « Das quantitative Vorhandensein von Grünanlagen oder Spielplätzen oder nur einfach großen Plätzen reicht nicht aus. Erreichbarkeit, Zugänglichkeit, Nutzungs- und Gestaltqualitäten sowie nicht zuletzt die erlebte Atmosphäre bestimmen die Freiraumqualität. Die Menschen müssen Grünanlagen annehmen und sich aneignen, damit diese ihre gesundheitsfördernde Wirkung entfalten können. Manche Plätze sind aber alles andere als einladend. Besonders unangenehm wirken verlassene Orte, »lost spaces«, deren Kennzeichen eigentlich vitale lebendige soziale Aktivitäten sind und die nun nicht mehr funktionieren, wie aufgegebene verwahrloste Kinderspielplätze, zubetonierte Schulhöfe oder Abstandsgrünflächen. Solche Leere in einem eigentlich urbanen Umfeld zeigt auf, dass hier etwas nicht stimmig ist. Hochhausareale mit halböffentlichen Plätzen, die als verkommene Restflächen – sogenannte negative Räume – verbleiben, strahlen meist genau diese unangenehme Atmosphäre der Öde, des Unlebendigen aus. Das heißt: Ein affordanzgerechter Platz sollte beispielsweise geschützte Sitzmöglichkeiten und erholsame Designelemente bieten. Nicht-Orte wie Garagen können begrünt werden, wie es der Landschaftsarchitekt Günther Vogt beim Hotel Greulich gemacht hat.25 In deutschen Kliniken gibt es leere nicht benutzbare Innenhöfe, die zu attraktiven Gärten umgestaltet werden könnten wie beispielsweise im Vivantes Kli24 | Evans, McCoy (1998), 91. 25 | Redaktion OEGZ (2006); s.a. Bild 22.
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nikum Neukölln. Ein weiteres Beispiel ist der Flak-Bunker in Hamburg. Der Bunker in der Feldstraße bekommt einen 1500 Quadratmeter großen DachPark. Die Lokalisierung von Nicht-Orten in Berlin und eine Aufwertung dieser Orte wäre eine wichtige verdienstvolle Aufgabe. Gute einladende Gestaltung ist immer ein Zeichen von Lebensqualität und gelungener Urbanität.
Bild 80: Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin mit trostlosem und nicht zugänglichem Innenhof. Ein Umbau des praktisch unbenutzbaren »negativen« Raumes zu einem attraktiven Innenhofgarten hätte für Besucher und Personal einen hohen Erholungswert und würde zur schnelleren Regeneration der Patienten beitragen.
13. Wenn Stadt zur sozialen Gesundheitsfrage wird
P l anung mit K onzep ten eines »A ctive D esigns « Unter dem Begriff »Active Design« werden Möglichkeiten angeboten, um Menschen im Alltag zu mehr Bewegung anzuregen und damit die Gesundheit zu fördern. Hierzu gehört, dass Wege als angenehm empfunden werden, damit sie benutzt werden. Es gibt zu viele Orte, die einen eher verleiten, das Auto oder öffentliche Verkehrsmittel zu nehmen, statt zu Fuß zu gehen oder Fahrrad zu fahren: lange laute verkehrsreiche Straßenzüge mit gleichförmiger Bauweise, Straßen, die in Sackgassen enden, fehlende Bürgersteige, ein Mangel an vitalen urbanen Plätzen. Stattdessen fördert eine angenehme Umgebung die Bewegung und Erholung: Der Ausbau von Radwegen, breite, abwechslungsreiche und begrünte Bürgersteige aktivieren Stadtbewohner zur Bewegung. Auch Annehmlichkeiten wie Bänke, Wasserbrunnen und Fahrradständer erhöhen die Zahl der Fußgänger. Je spannendere und interessantere Dinge zu sehen und zu tun sind, desto mehr Menschen gehen zu Fuß. Ansprechende historische Viertel mit vielen kleinen Geschäften haben eine hohe Attraktivität und regen zum Gehen an.
F örderung der E nt wicklung neuer A rchitek turt ypologien Da in Berlin auch weiterhin gebaut werden wird, ließen sich neue Gebäude-Typologien entwickeln, welche Mehrfachbelastungen wie Lärm, Hitze, Dichte, mangelndes Grün von vorherein reduzieren. Diese Bautypologien sollten vor allem über die Gestaltung Stressoren mindern und damit über die gängigen technischen Mittel der Schallschutzfenster und Wärmeisolation hinausgehen.
Kleinere Wohnungen, mehr Gemeinschaftsräume, mehr Grün Dichte wird in Wohnungsbauten unterschiedlich wahrgenommen. Schon bei gesunden Menschen sind Kontrolle und Privatheit entscheidend für Wohlbefinden und Stresserleben. Unterschiedliche räumliche Intimitätshierarchien für soziale Aktivität aber auch für privaten Rückzug sind entscheidend, um sowohl die Effekte sozialer Dichte als auch sozialer Stressoren abzufedern. Private Rückzugräume können beispielsweise einige der negativen Auswirkungen von Wohn-Crowding und Lärm puffern.26 Die Räume für den Rückzug und die der sozialen Begegnung sollten in Zukunft entschiedener gestaltet werden. Rückzugsräume können sich noch mehr als abgeschottete Ruhezonen verschließen, kommunikative Räume, wie beispielsweise Gemeinschaftskü26 | Wachs, Gruen (1982).
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chen oder Gemeinschaftsgärten, können sich noch mehr öffnen und einladen. Diese Gleichzeitigkeit von entschiedenem Rückzug aber auch sozialer Kommunikation kann vor allem dem Stadtstress entgegenwirken, der durch Dichte und gleichzeitige Isolation entsteht. Im Hunziker-Areal in Zürich wurde mit dieser Wohntypologie experimentiert. Es gibt Häuser ganz aus Holz oder ganz aus Beton, die Wohnungen sind zwischen 16 und 400 Quadratmeter groß. Das Prinzip: Die eigene Wohnung ist kleiner, die Häuser etwas höher gebaut, dafür gibt es mehr Gemeinschaftsflächen, die geteilt werden. Das entspricht auch unserer Gesellschaftsstruktur von immer mehr alleinlebenden Singles, die aber dennoch das Bedürfnis haben, nicht vollständig alleine zu leben. »Das Gemüse aus dem Gemeinschaftsgarten etwa kann mit einem Gemüseabo von jedem genutzt werden. Auf dem Areal gibt es buchbare Arbeitszimmer für Home Office und Gästezimmer für Besucher. Buchen kann man auch Fahrräder, Lastenfahrräder, E-Bikes und Elektroautos. Ein eigenes Auto zu besitzen, wird schwierig. Für 370 Wohnungen stehen gerade einmal 111 Parkfelder zur Verfügung, davon 23 für Besucher.«27
Auflösung von Drinnen und Draußen Auch könnten die Grenzen zwischen Innen- und Außenräumen sich tendenziell auflösen. Unbestritten für unsere Gesundheit ist das Sonnenlicht, das sich im Lauf des Tages verändert, sowie der Bezug zur Natur. So ist es wichtig, sich nicht von den natürlichen Abläufen abzuschirmen, sondern sie mit in die Architektur zu integrieren. Wir könnten viel mehr Bereiche unseres Lebens nach draußen verlagern. Schattige Arbeitsplätze könnten auf Dachterrassen oder in Gärten geschaffen werden. Schattige Überdachungen wie Loggien, berankte Pergolas, Arkadengänge sind einige Möglichkeiten, angenehme Plätze in Außenräumen zu schaffen.
Klimagerechtes Bauen Neben der Notwendigkeit von intensiven Grünplanungen, um den Klimaveränderungen entgegenzuwirken, kann auch die Gestaltung viel dazu beitragen, mit den neuen Hitzeperioden besser umzugehen. Zum Beispiel ist die Wahl der Baumaterialien ganz entscheidend für einen guten Schutz gegen Hitze an heißen Sommertagen, da sich die Außenfassaden und die Dächer stark aufheizen. Die Oberflächenmaterialität und Farbe beeinflussen Absorption und Reflexion der Wärmestrahlung. Beispielsweise erhitzen Stahl und Glas sich tagsüber extrem und geben dann wiederum die Wärme ins Innere ab.28 Da27 | Pfanner (2018). 28 | Difu (2017), 30.
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gegen sorgen natürliche Materialien wie Natursteine, Ziegel, Kalkstein oder Lehm für angenehmes Raumklima, da sie im Sommer kühl bleiben. Auch dunkle Materialien oder dunkle Farbanstriche sollten bei der Fassadengestaltung sowie Dachfarbauswahl generell vermieden werden, da sie die Wärmestrahlung absorbieren und die Gebäude sich schneller aufheizen. In jedem Fall ist ein außenliegender Sonnenschutz, der das Eindringen der Strahlung durch Fenster verhindert, dem weitaus weniger wirksamen innenliegenden vorzuziehen. Weitergehende Informationen und Anregungen finden sich in einem Praxisratgeber des Deutschen Institutes für Urbanistik.29
Bild 81: Linienstraße, Berlin. Die Erdgeschosszone verschließt sich dem Passanten. Auch die dunkle Farbe des Gebäudes ist ungünstig ausgewählt, da es sich dadurch schneller und stärker aufheizen wird. Heutige Bauten sollten sich auf den Klimawandel einstellen und die damit einhergehenden neuen Hitzeperioden berücksichtigen.
F a zit Gebiete mit Mehrfachbelastungen können durch gestalterische Maßnahmen qualitativ aufgewertet und entlastet werden. Grün- und Erholungszonen sind für die Entlastung Berlins und anderer Städte unabdingbar. Doch müssen auch 29 | Difu (2017).
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neue Strategien entwickelt werden, die weniger quantitativ, sondern eher qualitativ ausgerichtet sind. Die Lokalisierung und Aufwertung von Nicht-Orten und die Aktivierung neuer Flächenpotenziale sind Möglichkeiten, um mehr Freiraumqualitäten zu erzeugen. Hierzu gehört ein integriertes Verständnis von urbanen Freiräumen als wertvollen Erholungsarealen, Naturräumen, Bewegungsräumen und kommunikativen sozialen Räumen. Ebenso können mit der Entwicklung neuer Bautypologien Mehrfachbelastungen aus Lärm, Hitze, Dichte, mangelndem Grün usw. von vorherein reduziert werden. Hierbei kann das Wissen der Wirkungsästhetik, der Umweltpsychologie und der phänomenologischen Raumforschung um stressvermeidende und entstressende Faktoren Berücksichtigung finden: bei der Planung in den mehrfachbelasteten Planungsräumen im Flächennutzungsplan, bei der Bebauungsplanung bis hin zum konkreten Baugenehmigungsverfahren. Negative Folgen einer baulichen Benachteiligung lassen sich so schon im Vorfeld verhindern oder zumindest stark reduzieren.
I ntervie w mit D r .-I ng . H einz -J osef K limeczek (S oziale U mweltgerechtigkeit) Mit dem neuen Berliner Umweltgerechtigkeitsansatz von 2014/2015 wurde eine fundierte Grundlage für eine gesundheitsorientierte und ökologisch ausgerichtete Stadtentwicklungs- und Umweltplanung eingeleitet, um gesundheitsrelevante Umweltbelastungen zu mindern. Durch den integrierten und ressortübergreifenden Ansatz stellt sich das Konzept auch den neuen heutigen Herausforderungen wie beispielsweise dem Klimawandel. Konzept und Inhalte des neuen und einzigartigen Themenfeldes wurden von Ihnen maßgeblich entwickelt. Daher meine Frage: Wie ist das ungewöhnliche Projekt »Umweltgerechtigkeit im Land Berlin« entstanden? H.J. Klimeczek: Von der Ausbildung her bin ich Architekt und Stadtplaner und habe lange in sehr verschiedenen Bereichen der Stadtentwicklung und Umweltplanung auf der kommunalen wie auch auf der ministeriellen Ebene in unterschiedlichen Fachressorts gearbeitet. Hintergrund dieses Projektes war die Erkenntnis, dass in Deutschland der soziale Status mit darüber entscheidet, ob und in welchem Umfang Menschen durch schädliche Umwelteinwirkungen belastet sind und auch Zugang zu Umweltressourcen haben. Die ersten konzeptionellen Überlegungen entstanden in enger Kooperation mit einer befreundeten Umweltmedizinerin. Im Rahmen einer fachübergreifenden Diskussion kam die Frage auf, welche Möglichkeiten es gibt, mit den neu entwickelten Geographischen Informationssystemen (GIS) neue Datenebenen zu entwickeln, indem gesundheitsrelevante und umweltmedizinische Daten als Layer übereinandergelegt und miteinander verschnitten werden können.
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Gleichzeitig wurde die Frage diskutiert, ob diese Informationen aus den Bereichen Stadtentwicklung, Städtebau, Umwelt, Soziales und Gesundheit kleinräumig, d.h. auf der Quartiersebene (in Berlin auf der Ebene der 447 lebensweltlich orientierten Räume – LOR) bereitgestellt werden können. Mit der Zusammenstellung der Umweltdaten betraten wir fachlich-inhaltlich und auch methodisch Neuland. Vergleichbare Analysen lagen bisher auch im internationalen Bereich nicht vor. Vor diesem Hintergrund haben wir Leitfragen entwickelt, wie beispielsweise: Können teilräumliche Mehrfachbelastungen bilanziert und betroffene Quartiere identifiziert werden? Eine weitere wichtige Frage war: Wie können die Analysen und Ergebnisse so auf bereitet werden, dass sie Bestandteil der formellen und informellen Planungen werden können? Im Vordergrund stand also die Erarbeitung eines praxistauglichen Instrumentariums, um die gesundheitsrelevanten Umweltbelastungen durch Strategien und Maßnahmen zu reduzieren. Fangen wir bei der ersten Leitfrage an: Wie haben Sie angefangen, Mehrfachbelastungen zu diagnostizieren? Die zentrale Frage war: Sind Gebiete mit einer hohen sozialen Problematik gleichzeitig die Bereiche, in denen die höchsten Umweltbelastungen vorhanden sind, und lässt sich dies wissenschaftlich nachweisen? Auf der Grundlage der Strategischen Umweltprüfung (Schutzgut Mensch) haben wir Kernindikatoren mit Gesundheitsrelevanz zusammengestellt (Lärmbelastung, Luftbelastung, Bioklima sowie Versorgung mit öffentlichem Grün) und quartiersbezogen ausgewertet. Diese Daten haben wir bundesweit erstmalig mit Sozialdaten verbunden. Ergänzend zu diesen Kernindikatoren wurden weitere gesundheitsrelevante Daten in folgenden Bereichen ermittelt: Mortalitätsraten durch Atemwegserkrankungen, Lichtverschmutzung, thermische Belastung, Morbiditätsindex, Adipositas etc. Im Ergebnis stellten wir fest, dass vor allem die Gebiete in der hochverdichteten Berliner Innenstadt mehrfach belastet sind und vielfach gleichzeitig eine hohe soziale Problematik haben. Dieser neue Berliner Ansatz hat eine »Frühwarnfunktion« und kann fachlich erweitert bzw. durch andere Fachinformationen, wie beispielsweise aus dem Bereich Gesundheit, Immobilienwirtschaft, Verbraucherschutz etc. Über die Karten haben wir in einem weiteren Schritt ein Raster gelegt, so dass die Anzahl der Betroffenen in den Quartieren abgebildet werden kann. Die Karten mit den Mehrfachbelastungen stellen gleichzeitig auch die vulnerablen Stadtgebiete dar, die einer erhöhten Aufmerksamkeit bedürfen. Diese Gebiete sind z.T. bereits jetzt gesundheitsrelevant belastet, werden aber künftig zusätzlich durch den Klimawandel besonders betroffen sein. Dadurch wird sich die Situation in diesen Quartieren weiter verschlechtern. Hitzestress, Starkregenereignisse und Luftverschmutzung haben einen erheblichen Ein-
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fluss auf das menschliche Wohlbefinden und die Gesundheit. Die Auswirkungen von Ozon auf die Atemwegerkrankungen sind bekannt, ebenso die Auswirkungen von Hitzeperioden auf erhöhte Mortalitätsraten. Die zweite Leitfrage für Sie war: Wie lassen sich die gesammelten Daten für die Stadtentwicklung, Umweltplanung und auch für den Bereich Gesundheit nutzen? Wie plant man mit den neuen kleinräumigen Umweltanalysen? Können Sie ein Beispiel geben? Da die Quartiere mit umweltbezogenen Mehrfachbelastungen nun identifiziert sind, können die Bezirke und auch die einzelnen Senatsressorts gezielt Strategien und Maßnahmen einleiten. Der neue Berliner Umweltgerechtigkeitsansatz gibt somit einen neuen und präzisen Orientierungsrahmen für die planenden Fachverwaltungen in den Bereichen Stadtentwicklung, Umwelt, Gesundheit und Soziales vor, der z.B. bei der Bildung von gesundheitsund umweltpolitischen Prioritätssetzungen zusätzlich herangezogen werden. Gleichzeitig können Fördermittel, wie beispielsweise aus der Städtebauförderung, gezielter eingesetzt oder miteinander verbunden werden. Mit Blick auf die Stadtentwicklungs- und Umweltpolitik können Standortentscheidungen besser begründet werden. Gleichzeitig wird dem Gesundheitsbereich eine fundierte Arbeitsgrundlage bereitgestellt, um gezielt Strategien, Maßnahmen oder Projekte, z.B. im Bereich der Prävention, auf den Weg zu bringen oder einen Fachplan Gesundheit zu entwickeln. Aufgrund der Gesundheitsorientierung der einzelnen Themenfelder sind unterschiedliche Fachressorts berührt. Ihnen wird eine abgestimmte transparente Arbeitsgrundlage zur Verfügung gestellt. Wie kann das neue Themenfeld Umweltgerechtigkeit auch gesetzlich verankert bzw. auch schon in die Bauleitplanung integriert werden? Im Jahr 2016 fand in Berlin die Umweltministerkonferenz statt. Erstmalig wurde hier das gesundheitsrelevante Themenfeld Umweltgerechtigkeit länderübergreifend diskutiert. Die Berliner Umweltgerechtigkeitsanalysen wurden in diesem Rahmen als beispiel- und maßstabgebend herausgestellt. Im Ergebnis wurde der Bund gebeten, die Entwicklung des Themenfeldes Umweltgerechtigkeit zu unterstützen. Dies betrifft vor allem die Bereitstellung von Datengrundlagen, die methodische Weiterentwicklung und vor allem auch partizipative Ansätze. Mit Blick auf die Umsetzung sollte das Themenfeld künftig in Planungen und Förderprogrammen erfolgen. Dies kann für den Planungsbereich erhebliche Bedeutung bekommen. Zur Verbesserung der Umweltqualität können bereits heute im Flächennutzungsplan bestimmte Nutzungsbeschränkungen ausgewiesen werden, um schädigende Umwelteinwirkungen zu vermeiden, oder es können Grünflächen ausgewiesen werden, um einen besseren ökologischen Ausgleich zu schaffen. Gleiches gilt für die Bebauungsplanung.
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Im Bebauungsplan können verbindliche Aussagen zur Art der baulichen Nutzung, zu Schaffung von Grünflächen und Verkehrsflächen und zur Bepflanzung von Gebäuden und Straßenräumen gemacht werden. Um umfassend und wirksam ein hohes Maß an Umweltgerechtigkeit zu erzielen, sind jedoch grundlegende Veränderungen der Rahmenbedingungen für die handelnden Akteure erforderlich. Durch die Aufnahme von Umweltgerechtigkeitsaspekten in gesetzliche Vorschriften würde die Bedeutung dieses gesundheitsorientierten Ansatzes deutlich herausgestellt. Vor diesem Hintergrund hat die 86. und 87. Umweltministerkonferenz (UMK) den Bund gebeten, mit den Ländern konkrete Umsetzungsvorschläge zu erarbeiten. Wichtig war auch der vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit und vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung durchgeführte Kongress zum Thema »Umweltgerechtigkeit in der Sozialen Stadt« in Berlin. Auch wurde die soziale Umweltgerechtigkeit als Thema 2017 erstmalig im Bundestag behandelt. Auf die Berliner Analysen wurde ausdrücklich hingewiesen. Das heißt, wir sind auf gutem Wege, auch rechtlich verbindliche Planungsvorgaben für eine gesunde und sozial ausgeglichene Stadt zu entwickeln, um künftig gesundheitsrelevante Umweltbelastungen gezielt zu vermeiden bzw. zu mindern. Zum Abschluss noch eine Frage im Hinblick auf die zunehmende internationale Bedeutung des Berliner Umweltgerechtigkeitsansatzes. Gibt es bereits im internationalen Kontext Metropolenräume, die das Berliner Konzept übernehmen bzw. wesentliche Eckpunkte aufgreifen? Nach Auffassung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ist eine vergleichbare kleinräumig orientierte Umweltbelastungsanalyse nicht bekannt. Das Konzept wurde auf mehreren internationalen Fachkongressen (u.a. Internationaler Geographentag Wien 2014, 1. Klimakonferenz Mexico-City 2016, UN-Tourismus-Konferenz in Murcia 2017, Universitäten Ho-Chi-MinCity und Hanoi) vorgestellt. Das metropolenorientierte Konzept fand großes Interesse, vor allem im Hinblick auf den wissenschaftlichen Ansatz sowie die Übertragbarkeit auf andere Stadträume. Auch die niederländische Hauptstadt Amsterdam beabsichtigt, das Berliner Umweltgerechtigkeitskonzept als stadtentwicklungs-, umwelt- und gesundheitspolitischen Rahmen zu übernehmen und weiterzuentwickeln. Die weiteren Entwicklungen in Deutschland, wie auch international, müssen abgewartet werden.
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14. Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen Wir hoffen, dass jeder Leser aus diesem Buch Einsichten gewinnen kann, die für sein oder ihr Leben sinnvoll und wertvoll sind, auch unabhängig von Zwecken. Doch es gibt natürlich viele praktische Zwecke, bei denen Erkenntnisse und Ideen zum Thema »heilsame Architektur« hilfreich sein können, vom Auswählen und Gestalten eines eigenen Raumes oder Hauses, über kritische Mitsprache und Vorschläge, wie Erscheinungsbild und Anmutung eines Krankenhauses verbessert werden könnte oder auch das Stadtbild. Wir möchten zum Abschluss auf einen Bereich hinweisen, der uns am Herzen liegt: die Ausbildung von Studenten in den Fächern Design, Innenarchitektur, Architektur und Stadtplanung. Unser Plädoyer: Zum Entwurfsprozess und somit auch zur Ausbildung sollte ganz selbstverständlich die Wissenschaft und Kunst gehören, erkennen und verwirklichen zu können, was den späteren Nutzern, aber auch dem Umfeld wirklich gut tut. Unsere Vision: Eine humane Architektur für den Menschen ist Standard, nicht Ausnahme. Designer, Innenarchitekten, Architekten und Stadtplaner arbeiten durchgängig mit empathischer Aufmerksamkeit für ihre Klienten, mit Rücksicht auf weiter reichende Auswirkungen ihres Tuns. Sie verfügen über Einfühlungsvermögen und soziale Fähigkeiten sowie kreative Phantasie, Kenntnisse und Fähigkeiten, eine für alle Beteiligten und Betroffenen wohltuende und heilsame Gestaltung zu schaffen. Die dringliche »Re-Humanisierung« von Architektur erfordert, an Ausbildungsstätten Konzepte heilsamen Designs fest zu verankern und weiterzuentwickeln. Erfreulicherweise wächst das Bewusstsein, dass heilsames Design nicht nur als spezielle Ergänzung des herkömmlichen Studiums zu betrachten ist, sondern als fundamental notwendige Erweiterung. Dies bedeutet: Die Studierenden sollten explizit, umfänglich und qualifiziert die zentralen Aspekte menschenfreundlichen heilsamen Designs kennen und kreativ anwenden lernen. Wir haben in diesem Buch Aspekte dargelegt, die uns besonders wichtig und hilfreich erscheinen, wie:
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• Wissen und Gespür für eine wohnliche und menschenfreundliche Gestaltung von Innenräumen • Wissen und Gespür für eine ästhetische, wohltuende Gestaltung von Gebäuden • Wissen und Gespür für eine urbane, angenehme Stadtgestaltung • Wissen und Gespür für das enorme heilsame Potenzial von Natur und biophilem Design • Die Fähigkeit, sich in die Perspektive der Nutzer zu versetzen und von dieser aus zu planen und zu gestalten • Wissen, planerische und soziale Fähigkeiten, die späteren Nutzer kontinuierlich in Entwurfsprozesse einzubeziehen • Die Fähigkeit, Gebautes nicht nur funktionell, sondern auch mit Fokus auf Wohlbefinden zu evaluieren und die Ergebnisse für Verbesserungen zu nutzen. Abgesehen von partikularem Wissen ist für die Gesamtgestaltung eine Fähigkeit wesentlich, die sicherlich auf lernbaren und routiniert anwendbaren Fähigkeiten, aber auch auf geschulter Intuition beruht: einem feinen Empfinden für stimmige oder auch unstimmige Gesamtlösungen. Wenn gutes Bauen das Erzeugen von wohltuenden menschenfreundlichen Atmosphären bedeutet1, dann kommt im Planungsprozess dem erkundenden Vorausfühlen von Atmosphären und der entsprechenden poetischen Phantasie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Die notwendige Kombination von empathischem und ästhetischem Gespür, die gleichzeitig funktionale Erfordernisse berücksichtigt, ist nicht leicht zu erlernen. Selbst für einen erfahrenen Gestalter gibt es keine Erfolgsgarantie. Wie lässt sich dieses Gespür für Atmosphären und ihre Gestaltung schulen? Bisher gibt es noch kein Standard- oder Patentrezept. Der erlebende und der vorausspürende Sinn für Atmosphären hängen sicherlich eng zusammen, wobei sich didaktisch Ersteres als Basis für Letzteres nutzen lässt. Wie sich aus den Themen unseres Buches erschließen lässt, halten wir hier eine intensive Beschäftigung mit den Themen Atmosphäre, leiblich-räumliches Spüren, »Embodied Mind« und Phänomenologie für sehr hilfreich. Im Zusammenhang mit Letzterem finden wir beispielsweise die subtilen Analysen von Raumerfahrungen inspirierend, die Jürgen Hasse in seinen Büchern vorführt. Bei Planungsprojekten sollte alles an Lektüre und Erfahrung herangezogen werden, das über das Erleben von Nutzern Auskunft geben könnte. Etwa: Wer ein Gebäude im Rahmen eines Gesamtkonzeptes alterssensibel gestalten möchte, sollte zum einen ausreichend Literatur lesen, die zu Themen wie »Alter«, »Erleben im Alter« und »altersgerechtes Design« informiert. 1 | Vgl. Kap. 3; Interview mit Gernot Böhme.
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Zum anderen gilt es, in Interviews und gemeinsam mit alten Menschen sowie Bezugspersonen und Pflegern ein unmittelbareres, lebendigeres Wissen und Empfinden zu entwickeln, wie es ist, ein alter Mensch zu sein, und was alten Menschen an Design-Unterstützung gut tun kann. Die Perspektive des zukünftigen Nutzers einzunehmen, ist eine Aufgabe, die letztlich nie vollständig gelingen kann. Neugier, Phantasie und Kreativität können helfen, Offenheit für unkonventionelle Lösungen, auch Mut und eventuell »Verrücktheit«, beispielsweise in einem Seniorenheim eine Zeit in »teilnehmender Beobachtung« zu verbringen, sich mal einige Tage lang in ein Intensivbett zu legen, das Geschehen auf der Station mitzubekommen, sich mit Patienten auszutauschen. Design ist offensichtlich weit mehr als Design. Der Weg zu einer wirklich wohltuenden heilsamen Gestaltung lässt sich nur bedingt abkürzen und niemals routiniert abarbeiten. Die empathische Verbindung zu den Menschen, das Lernen über die Nutzer und von den Nutzern – das gehört schlicht ebenso dazu wie die Kultivierung und Entwicklung des leiblich-räumlichen Gespürs für eine gute stimmige Gestaltung im jeweils speziellen Fall. Wir teilen durchaus die Begeisterung für die Vereinfachung und die vielen neuen Möglichkeiten, die sich mit Computereinsatz und stetig verfeinerten Designprogrammen erzielen lassen. Dennoch betrachten wir die zunehmende Digitalisierung von Entwurfsprozessen mit gemischten Gefühlen: Die fiktiven virtuellen Scheinwelten der Computertechnologien können durch ihre einseitige visuelle Ausrichtung leicht zu einer Abwendung von den sonstigen fundamentalen Erfahrungsqualitäten von Architektur führen, zu einer Vernachlässigung von multisensorisch vermittelter leiblich-räumlicher Phantasie, zu einer Unterschätzung der Bedeutung der Mitwirkung aller Betroffenen, zu einer Verkümmerung der empathischen und Atmosphären vorausspürenden Fähigkeiten. Verschärft wird die Situation, wenn »die Computer immer mehr zu Designerwerkzeugen« in der Entwurfsphase bzw. in der konzeptionellen Prozessfindung werden.2 Als Folge des allzu bequemen oder allzu rechnerbegeisterten computerunterstützten Entwerfens sieht man manchen Gebäuden förmlich die Computer-Raster-Fassaden an, wie am Leipziger Platz in Berlin, in der neuen Umgebung am Berliner Hauptbahnhof und im Europa-Viertel in Frankfurt. Diese abweisend glatten unpersönlichen Raster-Bauten sind die neuen Bausünden unserer Zeit. Warum? Diese Bauten – wie auch immer gut gemeint und gemacht – ignorieren unser leibliches Erleben und fragen nicht in der von uns dargelegten Weise nach unserem Wohlbefinden. Schlechte, ungut berührende Gestaltung ist sicherlich häufig unter anderem darauf zurückzuführen, dass Planer das leiblich-räumliche Erleben der 2 | Nanda, Solovyona (2005), 153.
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Nutzer nicht angemessen antizipieren. Die Kunst, räumliche Qualitäten zu erspüren und vorauszuspüren, kann und sollte in der Ausbildung auf vielfache Weise gefördert und vermittelt werden. Zunächst scheint diese »Spürfähigkeit« und die Fähigkeit, diese in wohltuende Gestaltung umzusetzen, ein Privileg einiger weniger Begnadeter. Tatsächlich scheinen viele Architekten und auch Architekturstudenten wenig sensitiv für körperliche und räumliche Erfahrungen, können diese auch kaum vermitteln oder in Designprozesse einfließen lassen. Der Eindruck täuscht jedoch: So können Studenten mit letztlich recht einfachen Hilfestellungen lernen, für leiblich-räumliche Wahrnehmungen empfänglicher zu werden und diese sensitiv und vieldimensional zu beschreiben. Der erste Schritt ist, überhaupt anzuerkennen, dass es diese multidimensionalen leiblich-räumlichen Qualitäten gibt und diese weit über das hinausgehen, worauf wir uns im Allgemeinen verlassen. Körperlich-szenische Eindrücke sind objektiv und individuell zugleich – daher ist das Bemühen wichtig, dabei auch unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Eindrücke können sehr unterschiedlich perzeptuell analysiert werden – etwa als räumliche, energetische und dynamische Qualitäten. Erleben wir eine Sympathie mit guter Architektur, resoniert hier auch eine Vertrautheit mit unserem Körper. Es gilt, diese vielschichtigen synästhetischen Wahrnehmungsweisen aufzuzeigen und bewusst zu empfinden. Wie bereits gesagt, ist die selbstständige und freie Ausbildung der Wahrnehmungs- und Imaginationsfähigkeit nicht nur die künstlerische Stärke einzelner Hochbegabter, sondern kann und sollte im Architekturstudium generell gefördert werden. Leiblich-räumliches Erfahrungswissen lässt sich durch Exkursionen schulen, bei denen Gebäude auf ihre körperliche Erlebbarkeit erforscht und kritisch diskutiert werden. Wichtig dabei ist, dass die Architektur in Exkursionen auch leiblich-räumlich erlebt und erspürt wird, da das Erlernen und komplexe Verstehen von Räumen niemals durch einen alleinigen kognitiven Prozess unterrichtet oder entwickelt werden kann. Anknüpfend an die noch offene Frage, wie man vieldimensionale körperliche Wahrnehmungen von Architektur zwischen Lehrenden und Studenten vermitteln kann, habe ich (Katharina Brichetti) viele Seminare sowie Vorlesungen im Fachbereich Baugeschichte an der TU Berlin mit dem Titel »Architektur erleben und verstehen« gehalten. Der Titel sollte darauf verweisen, dass das Erleben durch leiblich-räumliche Wahrnehmung Verstehen und Denken erweitert. Dabei haben wir exemplarisch Gebäude verschiedener Stilrichtungen vom Barock bis hin zum Dekonstruktivismus untersucht. Die praktische Vorgehensweise sah wie folgt aus: Nach einer vorbereitenden Analyse multidimensionaler leiblich-räumlicher Qualitäten lässt sich weiter zur konkreten Klassifizierung, zum Erfassen inhaltlicher Bedeutungen, der Zuordnung von Stilen und möglichen Interpretationen übergehen. Die Wahrnehmung räum-
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licher Qualitäten ist in Bezug auf den geschichtlichen Kontext bzw. die Intention des Architekten zu betrachten. Die Wahrnehmung mit allen Sinnen und das Lernen mit allen Sinnen verkommen damit nicht zu einem »unbesinnten Lernen«, »wenn die pädagogischen Arrangements die Gefühle gleichsam bei sich lassen«.3 Nach Jürgen Hasse ist es entscheidend, dass »die Eindrücke und die von ihnen ausgehenden Empfindungen auch im Hinblick auf ihre subjektive wie gesellschaftliche Bedeutung und Erlebnisweise zu einem Sach-Thema des Lernens werden«, dann erst werden »Voraussetzungen für ein Lernen mit allen Sinnen geschaffen, das zugleich ein Lernen mit vollem Verstand wäre«. 4 »Der Weg erkennenden Entbergens führt durch die Sprache und das Denken. Dasselbe gilt für sinnliches Lernen. Es gelingt erst als sinnliche Erfahrung, die durch das Nadelöhr der Sprache geht.«5 Die sprachliche Umsetzung ist eine Folge des Gewahrwerdens und fördert dieses wiederum. Auch die in diesem Buch aufgeführten Checklisten (Kap. 8, 12) helfen beim Entwerfen. Am Ende der Seminare berichteten die Studenten immer wieder, dass sich ihre Wahrnehmungsweise von Architektur verändert habe, insofern sie nun Architektur und Stadt sensibler und vielschichtiger wahrnehmen würden. Wahrnehmung ist offensichtlich über intellektuelle Aufmerksamkeit in Verbindung mit leiblich-sinnlicher Achtsamkeit erlernbar. Bewusstes Erleben schafft erst den Resonanzraum für die Erkenntnis der vielschichtigen gestalterischen Möglichkeiten. Mit diesen Erkenntnissen ist dann die Frage, wie sich wohltuende und heilsame Umwelten wie Räume, Gebäude, Stadtareale oder Plätze und Parks entwerfen lassen, leichter zu beantworten. Die körperlich-szenische Erfahrung bewirkt mehr anteilnehmendes Erleben als intellektuelle Deutung. Die Sensibilisierung für unterschiedliche leiblich-szenische Erfahrungen vereinfacht es in der konkreten Planungspraxis, neue gestalterische Elemente zu entwickeln. Dies erleichtert den Entwerfern auch, sich auf neue Technologien einzulassen, dann aber in einer intelligenten und sensitiven Weise mit einer leiblichen Wahrnehmung. Wir denken hier zum Beispiel an das künstlich erzeugte Blätterdach auf dem Decken-Screen in der Pilot-Intensivstation der Berliner Charité, das einerseits den Biorhythmus der Patienten unterstützt und andererseits die Schmerzen reduziert. Gerade im Bereich biophiler Gestaltung bieten sich neue Potenziale zu therapeutischer Entwicklung. Entscheidend bleibt jedoch stets: Die Benutzer spüren, ob Designer sich aufmerksam und engagiert mit ihnen und ihren Bedürfnissen auseinandergesetzt haben, ob sie den Innenraum, das Gebäude oder das Areal empathisch und mit Liebe gestaltet haben. 3 | Hasse (2010), 54. 4 | Ebd., 54. 5 | Hasse (2005), 416.
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A bbildungsnachweise Brichetti, Katharina: 1, 7, 8, 9, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 20, 21, 32, 35, 36, 42, 43, 65, 73, 80 Broede, Felix: 72, 74 Coates, Gary J. & Siepl-Coates, Susanne: 44, 45, 46 Cooper Marcus, Clare: 47, 57, 66, 69, 70 Damonte, Bruce: 25 (auch verwendet als Titelbild) De Vos, Fiona: 37, 39 Erlanger Health System (mit freundlicher Genehmigung von Bruce Komiske): 52, 53, 54, 55 Funk, Uwe: 29
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Hazen, Teresia: 67, 68 Hein, Tobias (mit freundlicher Genehmigung von Thomas Willemeit): 31 Hiepler, Brunier (mit freundlicher Genehmigung von Thomas Willemeit): 30 Huynh geb. Beggs, Jennifer: 50, 51 Kerez, Christian (mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Strauss): 10 Klimeczek, Heinz-Jürgen: 75 Klinik Alpenpark: 49 Klinik Höhenried: 48 Kratzenberg, Christina: 6 Maggie’s Centres: 58, 59, 60, 61 Mechsner, Franz: 4, 19 Meisse, Maximilian: 71 Nelly, Leuthard: 23, 24, 33, 34 Projekt S.N.A.P. (Share, Nurture, Act, Preserve): 62a, b Rivière, Sarah: 27, 28 Robert Bosch Krankenhaus: 63, 64 (Fotograf: Marc Gilardone) Roth, Lukas (mit freundlicher Genehmigung von Peter Kulka): 2, 3 Salchow, Franziska: 26 (Tabellengestaltung) Spiluttini, Margherita (mit freundlicher Genehmigung des Architekturzentrums Wien): 5 Vogt, Günther: 22 Wernitz, Sören & Schmitz, Leonardo: 76, 77, 78, 79 Westchester Medical Center: 38, 40, 41 Willemeit, Thomas: 56
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Heilsame Architektur
W ir bedanken uns Für Inter views und Gespräche bei: Prof. Gernot Böhme, Anthropologie und Leibphilosophie, 7.2.2018. Prof. Gary J. Coates, Department of Architecture at Kansas State University (Manhattan, Kansas, USA), 11.9.2018. Prof. Clare Cooper Marcus, Professor Emerita, Departments of Architecture and Landscape Architecture at the University of California (Berkeley, Kalifornien, USA), 5.9.2018. Jason Danziger, Architekt vom Soteria in Berlin, 21.9.2018. Olfert Dorka, Landschaftstherapeut Freudenstadt, 28.11. 2014. Prof. Eckhard Frick, Spiritual Care, München, 8.11.2017. Dr. Michael Gewitz, Kardiologe und Chefarzt, Maria Fareri Children’s Hospital (Valhalla, New York, USA), 24.8.2018. Torsten Graefe, Fachamt Stadt- und Landschaftsplanung, Hamburg, 5.6.2018. Isabel Grüner, Kunsthistorikerin, Kunstbeauftragte am Robert-Bosch-Krankenhaus (Stuttgart), 8.9.2018. Prof. Jürgen Hasse, Phänomenologische Raumforschung (Frankfurt), 1.11.2017. Teresia Hazen, Gartentherapeutin und Gartendesignerin, Legacy Health (Portland, Oregon, USA), 12.8.2018. Jennifer Lynda Huynh (geb. Beggs), Architektin (Waterloo, Kanada), 24.8.2018. Dr.-Ing. H.-Josef Klimeczek, Soziale Umweltgerechtigkeit, Berlin, 15.12.2017. Bruce Komiske, Vice President, New Hospital Design and Construction, Erlanger Health System (Chattanooga, Tennessee, USA), 29.8.2018. Sylvia Leydecker, Innenarchitektin (Köln), 25.8.2018. Prof. Regula Lüscher (Baudirektorin Berlin), 30.9.2013. Dr. Alawi Lütz, Intensivmediziner, Charité, Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin (Berlin), Pilotprojekt Intensivstation, 12.7.2018. Prof. Christoph H. Mäckler, Architekt, Stadtplaner, Deutsches Institut für Stadtbaukunst, Dortmund, 8.11.2013. Heinz Hubert Menne, Stadt- und Landschaftsplanung, Beuth Hochschule Berlin, 31.7.2018. Sarah Rivière, Architektin (Berlin), 27.8.2018. Deborah Rubyan, CEO Project S.N.A.P. [Share, Nurture, Act, Preserve] (West Bloomfield Township, Michigan, USA), 23.8.2018. Frauke Rüterhenke, Architekturbüro München, 24.7.2018. Prof. Susanne Siepl-Coates, Professor, Department of Architecture at Kansas State University (Manhattan, Kansas, USA), 11.9.2018. Heinz Siepmann, Vorsitzender der Tertön Sogyal Stiftung für das Sukhavati, 1.11.2017.
Anhang
Alfred Sutrich, Feng Shui Akademie, 30.3.2018. Prof. Wolfgang Sonne, Deutsches Institut für Stadtbaukunst Dortmund, 8.11. 2013. Prof. Günter Vogt, Landschaftsplanung, Berlin, Zürich, London, 18.7.2018. Prof. Tanja C. Vollmer, Architekturpsychologie, TU Berlin, 20.7.2017. Fiona de Vos, Umweltpsychologin und Inhaberin Studio dVO Bewusster Bowen (Amsterdam), 6.4.2018. Dr. Martin Voss, Charité-Arzt Berlin, Soteria, St. Hedwig Krankenhaus, 21.9.2018. Thomas Willemeit, Architekturbüro Graft, Berlin, New York, 22.11.2017.
Für ein sorgfältiges Lektorat bei: Katharina Kotschurin, Lektorin (Bielefeld). Ferdinand Leopold, mehrfach preisgekrönter Übersetzer und Lektor (Hamburg).
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Architektur und Design Annette Geiger
Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 2018, 314 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4489-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4489-4
Andrea Rostásy, Tobias Sievers
Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente 2018, 456 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2517-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2517-6
Christoph Rodatz, Pierre Smolarski (Hg.)
Was ist Public Interest Design? Beiträge zur Gestaltung öffentlicher Interessen 2018, 412 S., kart., z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4576-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, I SBN 978-3-8394-4576-1
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Architektur und Design Gerrit Confurius
Architektur und Geistesgeschichte Der intellektuelle Ort der europäischen Baukunst 2017, 420 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3849-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3849-7
Eduard Heinrich Führ
Identitätspolitik »Architect Professor Cesar Pinnau« als Entwurf und Entwerfer 2016, 212 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3696-3 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3696-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 7, 2/2018) 2018, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4455-5 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4455-9
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