Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen: Ein Beitrag zur Grundlagenforschung der Daseinsanalyse [1 ed.] 9783428496792, 9783428096794

Die Habilitationsschrift von Holger Helting gliedert sich in drei Hauptteile: Der erste Teil enthält die Analyse sämtlic

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Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen: Ein Beitrag zur Grundlagenforschung der Daseinsanalyse [1 ed.]
 9783428496792, 9783428096794

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HOLGER HELTING

Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen

Philosophische Schriften Band30

Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen Ein Beitrag zur Grundlagenforschung der Daseinsanalyse

Von

Holger Helting

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Helting, Holger: Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen : ein Beitrag zur Grundlagenforschung der Daseinsanalyse I von Holger Helting. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Philosophische Schriften ; Bd. 30) Zugl.: Wien, Univ., HabiL-Sehr., 1998 ISBN 3-428-09679-7

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany

© 1999 Duncker &

ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-09679-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld zugeeignet

Vorwort Das vorliegende Werk wurde als erster Teil im Rahmen eines mehrjährigen Projektes verfaßt und als Habilitationsschrift im Fach Philosophie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Klagenfurt eingereicht. Es werden in dieser Arbeit erstmals sämtliche Auslegungen Heideggers zu Hölderlins Dichtung des Heiligen monographisch untersucht, und so kann das Werk als ein eigenständiger Beitrag zur philosophischen Heidegger-Forschung gelesen werden. Darüber hinaus liegt aber das Hauptanliegen der hier veröffentlichten Arbeit darin, auf philosophischem Wege einen Beitrag zur Grundlagenforschung der therapeutischen Daseinsanalyse zu erbringen. Im hier vorliegenden ersten Teil des Projektes ging es vor allem darum, Psychotherapeuten die Lektüre der schwer verständlichen Heidegger-Texte zu erleichtern. Große Mühe wurde darauf verwendet, die grundlegenden Gedanken Heideggers aus seinen Hauptwerken bei den Einzelinterpretationen nicht einfach vorauszusetzen, sondern sie schrittweise am passenden Ort miteinzubringen und darzulegen. All die Verständnishilfen, die in diesem Werk zu geben versucht werden, sollen aber nicht darüberhinwegtäuschen, daß die Aneignung von Heideggers Gedanken unmöglich ohne ernsthafte Bemühung um Nachvollzug seitens d~s Lesers geschehen kann. Das Werk erschöpft sich also nicht nur in der Auslegung von HeideggerTexten, sondern bietet neben der Besprechung von Sekundärliteratur zu diesem Thema (im 2. Hauptschritt) im abschließenden 3. Hauptschritt auch einige Hinweise, wie mit Hilfe von Heideggers späterem Denken der Grundansatz der daseinsanalytischen Therapie noch tiefer verstanden werden kann. Solch eine ereignisgeschichtliche Grundlegung der Daseinsanalyse kann hier nur ansatzweise vollzogen werden. Die weitere Ausarbeitung dieses Grundansatzes wird im 2. Teil des Projektes vollzogen werden und soll als separates Buch mit dem Titel "Einführung in die philosophischen Dimensionen der Daseinsanalyse" veröffentlicht werden. Für die Ermöglichung der konkreten Durchführung des Projekts sei Herrn Prof. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Universität Freiburg) herzlich gedankt, der mir in Freiburg einen Studienplatz einräumte und zahlreiche Gelegenheiten für das wissenschaftliche Gespräch gab. Ebenso herzlicher Dank gilt dem Vorstand des Österreichischen Daseinsanalytischen Instituts für die Be-

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Vorwort

ftirwortung des Projektes, sowie auch Herrn Prof. Gion Condrau vom Schweizer Daseinsanalytischen Institut. Dankbar bin ich auch Herrn Prof. Bernhard Casper (Universität Freiburg) für seine Anregung zur Erarbeitung des geschichtlichen Überblicks im dritten Hauptteil. Für die Hilfe bei Fragen aus dem Bereich der klassischen Philologie gebührt der Dank Herrn Doz. Dr. Chlodwig Werba und Herrn Dr. Paul Lorenz (beide Universität Wien), sowie Herrn Doz. Dr. H.C. Günther (Universität Freiburg). Für Fragen bezüglich des älteren germanischen Sprachkreises stand mir Herr Dr. Mittermüller (Universität Freiburg) dankenswerterweise bereitwillig zur Verfügung. Für die sorgf::iltige, umsichtige und mitdenkende Hilfe bei der Korrekturlesung bin ich Herrn cand. phil. Ino Augsberg zu großem Dank verpflichtet; in diesem Zusammenhang möchte ich mich auch bei Frau Dr. Paola-Ludovica Coriando für ihre Bemerkungen zum Abschnitt über den Zeit-Raum bedanken. Frau Peper-Ludwig (Rechenzentrum, Universität Freiburg) und Herrn Wojchiekowski (Verifone, San Francisco) verdanke ich, daß auch die -zahlreichen computertechnischen Probleme, die bei der Entstehung dieses Buches auftraten, bewältigt werden konnten. Für die Finanzierung des ersten Projektjahres bedanke ich mich bei dem Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Holger Helting

Inhaltsverzeichnis Allgemeine Einleitung .................................................................................................. 21 Einleitung zum ersten Hauptteil ................... oo .....................................

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,23

1. Kapitel: Heideggers Aufweis des bezughaften Grundzugs des "Heiligen" in seiner ersten Hölderlin-Vorlesung "»Germanien« und »Der Rhein«"(l934135) .... 32 00

§ I. Vorbereitende Zusammenfassung der Grundzüge von Heideggers Auslegung des Wesens der Stimmung in Sein und Zeit und »Germanien«oooooooooooo.oooo oooooooo .... oo33 I. Erster Exkurs: Die Befindlichkeitsanalyse in Sein und Zeit oo ........ oo ...... oo .......... 33 a) Zum ersten Wesenscharakter der Befindlichkeit: Geworfenheil und Abkehr ........................................................................................................34 b) Zum zweiten Wesenscharakter der Befindlichkeit: Erschlossenheil und Intentionalität .............................................................................................. 36 c) Zum dritten Wesenscharakter der Befindlichkeit: Angewiesenheit ........ oooo39 li. Überblickshafte Einleitung in die Wesensmerkmale der Grundstimmung im § 8 aus GA 39 ........ ooooo... oooo ....... oo .................... oooo ....... oo .......................................41 § 2. Heideggers Auslegung des "Heiligen" innerhalb der Untersuchung der Grund44 stimmung der "heiligen Trauer" ....... oo ......... I. Zweiter Exkurs: Grundzüge der phänomenologischen Methode Heideggers .. 45 a) Die Definitionen von "Phänomenologie" .............. oooooO·oooooooo .... oo ...... oo .. oo oooo46 b) Aufweis einer "Notwendigkeit" der Phänomenologie ,47 c) Aufweis der drei Grundstücke der phänomenologischen Methode .. 48 II. Auslegung des Heiligen als des Uneigennützigen ...... oo .. oooooo ........ oo .................... 50 a) Das Heilige und die Neustiftung eines Gottesverhältnisses .. oooo ............ oooo .. 55 a) Die Einrückung in die Erde ...... oo .................... oo .. oo .......................... oooo57 ß) Die Entrückung zu den Göttern oO OOOOOO ................. oo.oo ........................ oo.59 III. Zusammenfassung des in der Grundstimmung der "heiligen Trauer" eröffneten Bereiches ..... oo·.................. oo ........................................................ 61 § 3. Der Vorblick auf das Heilige in der Auslegung der Rhein-Hyrnne .. oo .. oo .............. oo.64 00 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 0 0 0 0 0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kapitel: Heideggers Auslegungen der Grundzüge des Heiligen in dem Vortrag .,.,,68 »Wie wenn am Feiertage... « (1939) ...... 0 0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 0 0 0 , . , . 0 0 , . 00

§ 4. Auslegung eines ursprünglichen Naturverständnisses als Vorbereitung für die

Auslegung des Heiligen .......................................................................................... 69

I0

Inhaltsverzeichnis I.

Ersteinblick in das Verhältnis des Wortes "Natur" zu Hölderlins Wort des "Heiligen" ........................................................................................................69 a) Dritter Exkurs (I. Teil): Kurze Zwischenbetrachtung zum methodologischen Wandel zwischen Sein und Zeit und dem Ereignis-Denken ..... 70 b) Dritter Exkurs (2. Teil): Das aus dem "Zuspiel" verstandene Wort "Natur" ..................................................................................................... 73 II. Zur Auslegung des Wortes "Natur" in dem Vortrag »Wie wenn am Feiertage ...«: Der Nachklang des griechischen oots- Verständnisses ..................... 76 a) Vierter Exkurs: Heideggers Interpretation des Lichtes im Unterschied zu Platons Sonnengleichnis ...................................................................... 80 111. Der Übergang vom Leitwort "Natur" zum Grundwort des "Heiligen" ............ 84 a) Der Bezug der wohlverstandenen Natur zu Hölderlins Wort des Heiligen (3. Strophe, Zeilen 1-2) ............................................................. 84 b) Fünfter Exkurs: Einführung in Heideggers Auslegung der Sprache (als Vorblick aufden ereigneten Entwurf) ............................................... 91 a) Grundzüge von Heideggers Sprachverständnis in Sein und Zeit (Verstehen- Auslegung- Aussage - Sprache) .................................. 91 aa) Verstehen ................................................................................... 91 ßß) Auslegung .................................................................................93 yy) Aussage ..................................................................................... 94 88) Sprache ...................................................................................... 95 ß) Grundzüge des Sprachverständnisses Heideggers in GA 39........... 100 y) Ein Grundzug des Sprachverständnisses Heideggers in den Beiträgen ........................................................................................ I 03 c) Das Heilige als ent-sprechender Name ftir das ursprüngliche Naturphänomen (3. Strophe, Z. 1-2) ...................................................... 104 § 5. Die Auslegung der Grundzüge des Heiligen (interpretiert in bezugaufden ereignenden Zuwurf) ............................................................................................. 109 I. Anzeige der dem Heiligen eigentümlichen Zeitlichkeit (3. Strophe, Zeilen 3-5) ................................................................................................................ 109 II. Der Bezug des Heiligen zu den Göttern (3. Strophe, Zeile 4) ....................... 111 III. Erster Verweis auf das Heilige als das ursprüngliche "Chaos" (3. Strophe, Zeilen 6-7) ..................................................................................................... 112 IV. Das Heilige als das Erwachen der allerschaffenden Begeisterung (3. Strophe, Zeilen 8-9) .................................................................................. 113 V. Der Wesenszug des "Geistes" im Heiligen: Die einigende Einheit (Zur Vertiefung des Verständnisses der Begeisterung) .......................................... 115 VI. Die gegliederten Bezirke des Bereiches des Heiligen .................................... 118 a) Sechster Exkurs (I. Teil): Das zwiefache Streitgeschehen in der Kunstwerkabhandlung ............................................................................ 120 a) Der Urstreit ..................................................................................... 122 ß) Der Welt-Erde-Streit ....................................................................... 124

Inhaltsverzeichnis

II

b) Sechster Exkurs (2. Teil): Die "Bergung" in den Beiträgen ................... l27 VII. Die gegliederten Bereiche des Heiligen im Lichte des Exkurses ................... 130 VIII. Das Mittelbare, die Mittelbarkeil (das Unmittelbare) und das feste Gesetz (3. Strophe, Z. 7) .......................................................................................... 131 IX. Das Heilige als das Chaos (3. Strophe, Z. 7) ................................................ 135 X. Das Heilige und das Hei1 ............................................................................... 139 XI. Das Heilige als das "Entsetzliche" ................................................................. 141 § 6. Die Auslegung des Verhältnisses des Heiligen zu den Dichtem (interpretiert in bezug auf den ereigneten Entwurf) ....................................................................... 142 I. Die Zugehörigkeit des Dichters zum Heiligen und der daraus notwendig werdende Weltbezug der Dichter (4. Strophe, Z. 1-4, 5-6) ............................ 143 li. Erläuterung des "Neu-Anhebens" des Heiligen: Das Allebendige (4. Strophe, Z. 7-9) ........................................................................................ 147 III. Das Verhältnis der vom Heiligen angesprochenen Dichter zum Volk

(5 . Strophe, z. 1-6) ........................................................................................ 151 IV. Das "Still-Enden in der Seele der Dichter" (5 . Strophe, Z. 7-8) .................... 157 a) "Der Dichter" gegenüber "den Dichtern" ............................................... 159 b) Siebenter Exkurs: "Die Zu-Künftigen" im Ereignis-Denken ................. 160 V. Die Möglichkeit des Glückensund Verunglückens im Entsprechen (6. Strophe, Z. 1-5) ........................................................................................ 163 a) Die Möglichkeit der Verunglückung im Entsprechen in bezug auf das Heilige (I): Der mißverstandene Bezug zu den Göttern ......................... 165 b) Die Möglichkeit des Glückens (I): Der vom Gott befeuerte Gesang, der dem Heiligen treu bleibt ................................................................... 169 c) Die Möglichkeit des Verunglückens im Entsprechen (2): Das SemeleGeschick (die Gier nach Gotthaftem) (6. Strophe, Z. 6-9) ..................... 171 d) Die Möglichkeit des Glückens im Entsprechen (2): Das gemilderte (Gott-befeuerte) Darreichen des Heiligen (7. Strophe, Z. 1-4).............. 172 e) Die äußerste Gefahr ftir die Dichter (7. Strophe, Z. 5-9) ........................ 175 § 7. Die Schlußstrophe des Gedichtes (abschließende Sammlung des ereigneten Entwurfes in den ereignenden Zuwurf) ("8. Strophe", Z. 1-3) .............................. 180 I. Zum Übergang von der 7. zur "8. Strophe" ................................................... 181 li. Das ewige Herz- die Innigkeit- und die äußerste Gefahr ftir das Heilige ("8. Strophe", Z. 3) ........................................................................................ 184 III. Das Leiden ("8. Strophe", Z. 2-3) .................................................................. 187 IV. Das Sagen des Heiligen als "des Festbleibenden im Leiden" als Aufgabe des Dichters ................................................................................................... 191 a) Achter Exkurs: Die Auslegung des "Stiftens" des Heiligen mit Hinblick auf die Kunstwerkabhandlung ................................................. l92 § 8. Rückblick auf das ganze Gedicht: Wannwest das "Jetzt" des Gedichtes? (Vorblick auf das geschichtliche Kommen des Heiligen) ..................................... 193 I. Das Rufen des Heiligen als Bergungsweise seiner Ankunft .......................... 197

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Inhaltsverzeichnis

a) Die notwendige Nüchternheit im Sagen vom Heiligen .............................. 199 § 9. Neunter Exkurs: Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit.........................201 I. Die Auslegung von Raum und Zeit in Sein und Zeit ..................................... 201 a) Das Existenzial des "Sein-bei" und seine Entfaltung in der Weltlichkeitsanalyse von Sein und Zei/. ................................................. 203 b) Die Analyse des Raumphänomens in Sein und Zeit ............................... 207 c) Die Sorge als vorläufige Wesensbestimmung des Daseins im ersten Abschnitt von Sein und Zeit ................................................................... 210 Der zweite Abschnitt von Sein und Zeit: Ursprüngliche Zeitlichkeit des Menschen und die davon abgeleitete Räumlichkeit ......................... 211 a) Die Fundierung des Raumes in der Zeitlichkeit .............................. 213 e) Der geplante dritte Abschnitt von Sein und Zeit und die ekstatischhorizontale Zeit ...................................................................................... 214 Il. Klärung des Übergangscharakters der Zeit-und-Raum-Analyse von Sein und Zeit im Hinblick auf den Zeit-Raum der Beiträge ..................................216 111. Der Zeit-Raum im Ereignis-Denken .............................................................. 219 a) Der Ab-grund: die zögernde Versagung des Grundes ............................ 220 b) Das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen, das Ereignis, der Urgrund d)

c)

d) e)

und der Abgrund .................................................................................... 224 Die Ab-gründigkeit des Ab-grundes. Erste Wesensbestimmung der Leere ....................................................................................................... 227 a) Ausführlichere Wesensbestimmungen der Leere ............................ 230 Der Bezug zum Gott ...............................................................................233 Ursprüngliche Räumlichkeit und Zeitlichkeit als Entfaltung der ursprünglichen Leere ..............................................................................235 a) Das Wesen der Zeitlichkeit der ab-gründigen Zeitigung: Die Entrückung gedacht aus dem Sichversagen ....................................239 ß) Das Wesen der Räumlichkeit der ab-gründigen Räumung: Die

Berückung gedacht aus dem Zögem ............................................... 242 Das Wesen des Zeit-Raums (Einheit und Geschiednis) ......................... 244 Der Zeit-Raum als Wink des Ereignisses ............................................... 247 Zusammenfassung des Bezugs des Abgrundes zu Raum und Zeit und der Bezug dieser untereinander ..............................................................249 § I 0. Das Heilige und der Zeit-Raum ...........................................................................253 I. Die Bedeutung der Zeit-Raum-Analyse für die Feiertag-Hymne ................. 253 Il. Rückblick auf die Auslegung des Heiligen in Heideggers »Germanien«Vorlesung im Lichte des Ereignis-Denkens ................................................. 257 f) g) h)

3. Kapitel: Heideggers Auslegungen zum Geschichtlich-werden des Heiligen (/): Seine Vorlesung "Hölderlins Hymne »Andenken«" (1941142) ............................... 259 § II. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung des "Heiligen" im Gedicht "Andenken" ................................................ .......................................................... 260

Inhaltsverzeichnis I. II.

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Der Gruß- Die Erhebung des Anderen in sein Wesen ................................ 260 Die Feiertage als Vorbereitung des Festes- das Offenwerden flir das Heilige ......................................................................................................... 266 III. Das "Brautfest" -die Begegnung von Mensch mit Göttlichem ................... 276 a) Zehnter Exkurs: Die Entgegnung: Das denkerische Wort flir das Aufeinandertreffen von Mensch und Gott (Götter) ..............................276 b) "Das Brautfest": Untersuchung des dichterischen Wortes für das Aufeinandertreffen von Menschen und Götter ..................................... 282 § 12. Die Wesensbestimmung des Heiligen in "Andenken" ......................................... 285 I. Die Wesensbestimmung des Heiligen als das Festliche des Festes (Brautfestes) ................................................................................................. 286 a) Das Festliche als die ursprünglichste Stimmung .................................. 289 II. Das Heilige und das Fest im Sinne des Übergangs, des Schicksals und der Weile ...................................................................................................... 290 a) Der Übergang- das freigebende Wesensgönnen der Aufeinanderbezogenen ............................................................................................. 291 b) Das Schicksal - das ursprünglich freigebende Gewähren von bezugsverbunden-eigenständigem Sein ................................................ 295 c) Die Weile des Schicksals- ein ursprüngliches Ewigkeitsverständnis ..301 § 13. Das geschichtliche Gefüge des Festes ..................................................................306 I. Das südliche Frankreich und der verborgene Bezug zum Griechenland ......306 II. Das Eigene und das Vaterländische. Abwehr von Mißdeutungen und Hinweis auf sein Wesen ............................................................................... 309 III. Die Suche und Gründung des Eigenen im Heimischen (auf Grund der Zwiesprache mit dem Anderen) ...................................................................312 a) Das gewesene Fest und seine notwendige Hilfe im Aufbruch zum Finden des Eigenen ............................ :................................................. 312 b) Der Aufbruch in die Erlernung des freien Gebrauches des Eigenen und der notwendige Bezug zum Dunkel des Anderen ......................... .3 14 c) Der freie Gebrauch des Eigenen durch den Bezug zum dunklen Anderen als dem Heiligen in Trunkenheit und Nüchternheit zumal ....318 § 14. Das "Gespräch unter Freunden" als wesentlicher Zug in der Vorbereitung der "Darstellung" des Heiligen im Fest ......................................................................321 I. Elfter Exkurs: Die Mitseinsanalyse in Sein und Zeit .................................. .322 a) Der Ansatz der Frage nach dem Wer(§ 25) ........................................ .323 b) Das Mitsein mit Mitdaseienden als existenziales Konstituens des Daseins(§ 26) ....................................................................................... 324 c) Die Frage nach dem alltäglichen Wer im Miteinandersein (§ 27) ........334 d) Die Verfallensanalyse als Vertiefung der Gedanken zur "Uneigentlichkeit" (der Grundzug von den§§ 35-38) ..........................................338 li. Der ausgezeichnete Sinn des Gespräches im Gedicht "Andenken" als das Gespräch zwischen Menschen und Göttern, welches durch das (im Sinne

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Inhaltsverzeichnis eines echten Mitseins geführte) zwischenmenschliche Gespräch vorbereitet wird .....................................................................................................341 111. Die einsame, doch andenkende Vorbereitung auf das zwischenmenschlich-vorbereitende Gespräch mit den Göttern ..............................................346 a) Die Scheu vor der Quelle ..................................................................... 348 b) Der Hinweis auf die Quelle im Anderen: Die Unabdingbarkeit der Fahrt in die Fremde .............................................................................. 350 IV. Das ganze Gefüge der Vorbereitung des Brautfestes ................................... 351 V. Die Abschlußstrophe von "Andenken": Aufbruch in die Heirnkehr ........... .353

4. Kapitel: Heideggers Auslegungen zum Geschichtlich-werden des Heiligen (!!): Die Vorlesung »Der lster« (1942) und die Gedenkschrift »Andenken« (1943) ....... 359 § 15. Heideggers Vorlesung ))Der lster« ....................................................................... 360 I. Heideggers erste Hinweise auf den Bezug der lster-Hyrnne zum Heiligen . 361 II. Das Wesen des Stromes- das Geschichtlichwerden des Heiligen ...............363 111. Das notwendige Gespräch mit dem Eigenen des Anderen (Fremden): Das Heimischwerden im ersten Standlied von Sophokles' "Antigone" ....... 367 IV. Die Notwendigkeit des Anderen für das Eigene und die Gefahr im Gespräch mit dem Anderen: Heideggers Auslegung des Fragmentes: ))nemlich zu Hauß ist der Geist/ nicht im Anfang...« ...................................377 a) Die Notwendigkeit des jeweils Anderen im Bezug zwischen "Geist" b) V.

und "Mensch" ....................................................................................... 379 Die Gefahr im Gespräch (zwischen Menschen auf dem Weg in das

jeweils Eigene) ..................................................................................... 383 Heideggers Auslegung der lster-Hyrnne: Das Heilige als das ZuDichtende ..................................................................................................... 385 a) Das "dichterische Wesen" der Ströme ................................................. .386 a) Der wesentliche Platz des Anderen (Fremden) in der Ortschaft

des Eigenen .................................................................................. 387 b) Der Dichter des Dichterischen als Halbgott ......................................... 389 VI. Die Notwendigkeit des Dichters im Nennen des Heiligen und der Götter ...391 VII. Zur Wesensdifferenz des Isters und des Rheines .........................................396 VIII. Heideggers Schlußbemerkung in der lster-Vorlesung ................................ 398 § 16. Heideggers Gedenkschrift ))Andenken« ..............................................................400 I. Heideggers Thematisierung des Heiligen in bezug auf das Brautfest Die Aufgabe der Vermittlung für die Dichter und Anzeige einer Gefahr hierbei .......................................................................................................... 402 a) Zwölfter Exkurs: "Der letzte Gott" in den Beiträgen ........................... 405 a) Die Verweigerung und der Vorbeigang des letzten Gottes ............. 407 ß) Das Bedürfen des letzten Gottes und das Gebrauchtwerden des Daseins .........................................................................................409

Inhaltsverzeichnis

15

y) Der Wink des letzten Gottes in der Seinsverlassenheit und die

II.

daseinsmäßige Freiheit zum Grund ..............................................411 Die Gefahr der "Verschmelzungsgier" für den Dichter bzw.: Die notwendig zu bewahrende Differenz im vom Heiligen (für das Fest) eröffneten

Bereich ......................................................................................................... 415 III. Weitere Erläuterungen zum Heiligen in der Gedenkschrift ......................... 418

5. Kapitel: Heideggers Auslegungen zur Verweigerung des Geschichtlichwerdens des Heiligen (durch den "Fehl Gottes'~: Der Vortrag »Heimkunft/ An die Verwandten« (1943) sowie die Eingangsbemerkungen im Vortrag »Wozu Dichter?« (1946) .....................................................................................................426 § 17. »Heimkunft! An die Verwandten« ....................................................................... 426 I. Die nur scheinbar Heimischen und der heimkehrende Dichter ................... .427 li. Das Freudige als die Grundstimmung bei der Heimkehr ............................ .429 III. Die Engel des Freudigen als Boten "der" Heiteren (des Heiligen) ............... 432 a) Die Engel des "Hauses" und des "Jahres" (Raum und Zeit ("Licht")) .. 433 b) Das Heilige erläutert durch das einzigartige Wesen "der Heiteren": Klarheit, Hoheit, Frohheit ....................................................................436 c) Der (vorläufige) Name des "hohen Boten" der Heiteren: Der Äther ....438 IV. Der Bezug des Dichters zur "Heiteren" und ihren Boten (unter besonderer Berücksichtigung des Gottesbezugs) ......................................... 439 a) Das "Entgegenkommen" der Dichter....................................................440 b) Das Wesen der Götter als das Engelhafte ............................................. 441 c) Der Grundgedanke von der notwendigen Wanderung in die Fremde, um in das Eigene heimkehren zu können ............................................. 443 d) Heimkunft des Dichters: Das freudige Sagen von der Nähe des Ursprungs und der zumal zu bewahrende geheimnisvolle Zug ............ 444 e) Das Geschichtlichwerden des Heiligen durch das Nennen des Gottes und die hierzu notwendige freudige Grundstimmung ..........................448 f) Der "Fehl Gottes" und seine positive Bedeutung .................................450 V. Die Sorge des Dichters und die Sorge »der anderen« .................................. 453 VI. Heideggers Vorbemerkung zur Wiederholung dieser Rede ......................... 456 § 18. Das Heilige und die Gottesthematik in »Wozu Dichter?« ...................................458 I. Der "Fehl Gottes" -die Erfahrung unserer geschichtlichen Epoche ........... .459 II. Die Spur zum Göttlichen ............................................................................. 463 a) Das Gefüge vom Heiligen, der Gottheit und des Gottes ...................... .465 III. Die Spur zur Spur des Heiligen: Das Heillose als solches erfahren .............468

6. Kapitel: Heideggers Hinweise zum Bezug Mensch-Gott (im Hinblick aufdas Heilige): Der Vortrag » ... dichterisch wohnet der Mensch ... « (1951) ...................... 470

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Inhaltsverzeichnis

§ 19. ÜberblickshafteT Einblick in einige Grundgedanken und Grundworte Heideggers in den 50er Jahren und ihre Bedeutsamkeit ftir das Verständnis des hier untersuchten Vortrages ........................................................................... 470 I. Dreizehnter Exkurs: Grundgedanken von Heideggers Vortrag "Bauen Wohnen Denken" (Das Schonen des Gevierts) ........................................... .471 II. Das "Wohnen" im Vortrag " ...dichterisch wohnet der Mensch ... " .............. .475 111. Vierzehnter Exkurs: Heideggers ereignishartes Sprachdenken in den 50er Jahren (in den Grundzügen erläutert anhand des Aufsatzes "Die Sprache")477 a) Die Innigkeit von Geviert und Ding .................................................... .477 b) Das Geläut der Stille ............................................................................ .479 IV. Hölderlins Wort vom "dichterisch wohnenden" Menschen im Lichte der Exkurse ........................................................................................................ 482 § 20. Die Auslegung der Verse 24-38 von »In lieblicher Bläue blühet...«: Das Wesen des "dichterisch wohnenden" Menschen und sein Bezug zum Göttlic)Jen (interpretiert im Lichte der Dimension des Heiligen) ................................485 I. Die Dimension (der Zeit-Raum des Heiligen) und der in ihr eröffnete Bezug der Sterblichen zu den Göttern ........................................................ .485 II. Fünfzehnter Exkurs: Das Sterblichsein in Sein und Zeit: Vorlaufen zum Tode ............................................................................................................. 488 111. Das Sterblichsein der Sterblichen im Vortrag" ...dichterisch wohnet der Mensch ... " im Lichte des Exkurses (unter weiterer Zu-Hilfe-Nahme des Vortrages "Das Ding") ................................................................................. 496 IV. Das "dichterische Wohnen" der Sterblichen als die Maß-Nahme und der in dieser waltende Bezug zum (unbekannten) Gott ..................................... 499 a) Das Wesen des Maßes: Was ist Gott? .................................................. 501 V. Rückblick auf das in diesem Vortrag erhellte Wesen des "dichterisch wohnenden" Menschen und Ausblick in ein vordenkend-andenkendes Wohnen ........................................................................................................ 506

7. Kapitel: Heideggers Gedanken zum möglichen Kommen des "großen Anfangs" des Heiligen in dem Vortrag »Hölderlins Erde und Himmel« (1959) .....................509 § 21. Auslegung drei er Sachverhalte als Vorbereitung ftir die Interpretation des Gedichtentwurfes »Griechenland« ....................................................................... 51 0 I. Der erste Sachverhalt: Das Vertrauterwerden Hölderlins mit dem eigentlichen Wesen der Griechen: Das Athletische, die Reflexionskraft, die Zärtlichkeit ............................................................................................. 510 II. Der zweite Sachverhalt: Hölderlins Erfahrung seines Ortes in bezug auf das Heilige und dessen Entfaltungen ........................................................... 512 III. Der dritte Sachverhalt: Hölderlins Bemerkung zum Höchsten der Kunst als dem Erscheinenlassen des Unsichtbaren ................................................ 514 IV. Die drei Sachverhalte als Anzeige eines "reicheren Verhältnisses", in das Himmel und Erde gehören (Vorblick aufdas Geviert) ................................ 515

Inhaltsverzeichnis

17

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland« ........................................ 517 I. Das "Geviert" im Gedichtentwurf "Griechenland": Die Stimmen des Geschicks ..................................................................................................... 517 Das Geschick des Gevierts. Das Kommen des großen Anfangs .................. 526 a) Das Kommen des "großen Anfangs" zum "Geringen". Vorbereitende Überlegungen zum Geschichtlichwerden des Heiligen ........................ 527 III. Das Geschichtlichwerden des Heiligen. Der große Anfang des Geschicks und sein Bezug zur gegenwärtigen geschichtlichen Epoche ........................ 532 a) Der große Anfang und das Seinsgeschick des gegenwärtigen tech-

li.

b) c)

nischen Zeitalters .................................................................................. 533 Die Bedeutung des Abendlandes in der Vorbereitung des Kommens des großen Anfangs (d.h. des Heiligen) ............................................... 535 Die für die europäische Wesenstindung zu erfahrende Not (die

Gefahr) ................................................................................................. 538 a) Sechzehnter Exkurs: Grundzüge von Heideggers Interpretation des Wesens der modernen Technik im Aufsatz "Die Frage nach der Technik" .. ............................................................................... 539 d) Der stille Zuspruch des Heiligen in unserem Zeitalter der modernen Technik (das Rettende) ......................................................................... 544 § 23. Ausblick auf das Zukunftsweisende des dichterischen Entwurfs des Kommens des großen Anfangs (des Heiligen) ...................................................................... 547

8. Kapitel: Heideggers Hinweise zur Vorbereitung des Geschichtlichwerdens des Heiligen durch das Hören auf Hölderlins Dichtung: Das » Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten« (1963) sowie der Vortrag »Das Gedicht« (1968) ........ 554 §24. Die Hinweise zum Heiligen im »Vorwort« von Heideggers Hölderlin-Lesung .. 554 I. Das Grundwort des Heiligen ........................................................................ 555 li. Die drei Leitworte für das Hören der gelesenen Hölderlin-Gedichte ........... 559 § 25 . Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag ))Das Gedicht« ......................... 562 I. Der Beruf des Dichters als das Nennen des Göttlichen (aus dem Heiligen) und die zwiefach genötigte Bestimmung seines Wesens ............. 562 a) Die Herkunft der Nötigung des dichterischen "Fem-sein-JassenMüssens" sowie des "Still-(dunkel)-nennen-Müssens" der Götter: das Heilige ("Das Heiliggenötigtsein") .......................................... ...... 564 b) Das stille (dunkle) Nennen der Götter als Nahe-sein-Lassen des Femen in seiner Feme (zum vorbereitenden Kommenlassen der Geschichte des Heiligen) ...................................................................... 567 II. Das Eigentümliche des Gedichts: Das reine Sicheinlassen auf das Gebrauchtsein (von den Göttern), umwillen des Geschichtlichwerdenlassens des Heiligen (im Geviert) ................................................................ 572

2 Helling

18

Inhaltsverzeichnis

9. Kapitel: Herkunft und Zukunft der gegenwärtigen VerWeigerung des Geschichte-prägenden Waltens des Heiligen: Eine Interpretation von Heideggers spätem "Gedicht": »Der Fehl Heiliger Namen« (1973) ....................... 577 § 26. Die Auslegung des Gedichtes .............................................................................. 578 I. Titel und Einleitung: Die Frage nach dem Sinn des Gespräches von den Dichtem mit den »anderen« (den Denkenden) ............................................ 578 II. Die Not des Dichters: Der Feh1 .................................................................... 580 III. Heideggers Auslegung des "Fehls heiliger Namen" aus seiner Herkunft: Der Vorenthalt des Heiligen ........................................................................ 581 IV. Die Frage nach dem Zugang zur ursprünglicheren Erfahrung des Fehls V.

(Weg und Methode) ..................................................................................... 584 Die (Not der) Seinsvergessenheit als (der denkerische Hinweis auf) die

Herkunft des Fehls ....................................................................................... 588 a) Die Schwierigkeit im Aufspüren der Not der Seinsvergessenheit Das Unwegsame der Methoden ............................................................ 592 VI. Die Not(-)wendigkeit des Wegcharakters des Denkens als Vorbereitung flir die Erfahrung des Fehls in seinem Bezug zum Heiligen ........................ 593

Einleitung zum zweiten Hauptteil ............................................................................. 596 I 0. Kapitel: Besprechungen von Sekundärliteratur aus den 50er-80er Jahren ........... 599 § 27. Beda Allemann: Hölderlin und Heidegger (1954) ............................................... 599 § 28. Bemhard Weite: Die Gottesfrage im Denken Heideggers (1965) ........................ 604 § 29. Joan Stambaugh: The Question of God in Heidegger's Thought ( 1979) ............. 611 § 30. Robert Ga11: Beyond Theism And Atheism: Heidegger's Significance For Religious Thinking ( 1987) ................................................................................... 615

II. Kapitel: Besprechung von Sekundärliteratur aus den 90er Jahren ........................ 627 § 31 . Der Sammelband: Aufder Spur des Heiligen (1991) ........................................... 627 I. Emil Kettering: "NÄHE als Raum der Erfahrung des Heiligen. Eine topologische Besinnung" ............................................................................. 627 II. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann: "Die Gottesfrage im seinsgeschichtlichen Denken" ...................................................................... 630 111. Fran'Yois Fedier: "Die Spur des Heiligen" .................................................... 634 IV. Alfred Jäger: "Das Erscheinen Gottes in der Spätphilosophie Martin Heideggers" ................................................................................................. 636 V. Richard Schaeffler: "Der 'Gruß des Heiligen' und die 'Frömmigkeit des Denkens"' .....................................................................................................637 VI. Alois Halder: "Heidegger und Levinas- einer in der Frage des anderen" ...642 § 32. Stephanie Bohlen: Die Übermacht des Seins (1993) ........................................... 643 § 33. Iris Buchheim: Wegbereitung in die Kunstlosigkeit (1994) ................................ 651

Inhaltsverzeichnis

19

Einleitung zum dritten Hauptteil .............................................................................. 657 12. Kapitel: Traditionelle Verständnisweisen des Wortes vom "Heiligen" im Vergleich mit Heideggers Denken des "Heiligen" .................................................. 658

§ 33. Heideggers Denken des Heiligen im Vergleich mit dem biblischen Verständnis des Heiligen sowie dem Gottesverständnis bei Thomas von Aquin ............... 659 § 34. Heideggers Denken des Heiligen im Vergleich mit dem Verständnis des Wortes vom "Heiligen" während der letzten Jahrhunderte .................................. 666 I. Das "Heilige" in der deutschen Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts im Vergleich mit Heidegger......................................................................... 666 II. Das "Heilige" in der Religionswissenschaft (vor allem des 19. Jahrhunderts) im Vergleich mit Heidegger .................................................. 669 111. Das "Heilige" bei RudolfOtto im Vergleich mit Heidegger........................ 671 IV. Das Verständnis des "Heiligen" im College de Sociologie im Vergleich mit Heidegger ..............................................................................................673 V. Das Verständnis des "Heiligen" bei Habermas im Vergleich mit Heidegger..................................................................................................... 675

13. Kapitel: Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen und dessen Relevanz bei einer Grundlegung der Daseinsanalyse aufdem Boden des Ereignis-Denkens ................................................................................................... 678 § 35. Die Zusammenfassung von Heideggers Hölderlin-Auslegungen zum Heiligen anhand einer Interpretation einer Stelle im »Humanismusbrief« ......................... 678 § 36. Zum Kommenlassen des Phänomens des Heiligen: Gedanken zu einer Grundlegung der daseinsanalytischen Therapie auf dem Boden des EreignisDenkens ...............................................................................................................683 I. Grundzüge des Wesens des Menschen ........................................................ 685 II. Der wesentliche Grundzug der therapeutischen Situation ........................... 690 III. Der formal-anzeigende Beitrag zur Grundlagenforschung der Daseinsanalyse: Das therapeutische "Lassen" als eine Weise des Austrags des heilsamen, sein-lassenden Grundzugs des Ereignisses ................................ 693 Ausblick .......................................................................................................................696

Bibliographie ............................................................................................................... 699 Personenregister ......................................................................................................... 705 Sachregister .................................................................................................................707

2•

Allgemeine Einleitung Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, im Grundansatz zu zeigen, wie das seinem Sinn nach im folgenden reich zu entfaltende Phänomen des "Heiligen" im intimen Bezug zum Heilungsprozeß in der psychotherapeutischen Situation steht und wie dieser Bezug grundlegend mit Hilfe von Heideggers EreignisDenken verstehbar gemacht werden kann. Der Weg, der zu diesem Ziel fiihren soll, durchläuft drei Hauptabschnitte: Der erste Hauptteil widmet sich in chronologischer Reihenfolge der Untersuchung von Heidegger-Primärtexten; hier werden seine Vorlesungen, Vorträge und Aufsätze untersucht, in denen Wesentliches zum Phänomen des Heiligen erarbeitet wird. Der zweite Hauptteil behandelt die Sekundärliteratur. Forschungsergebnisse aus fiinf Jahrzehnten und Thesen zu dieser Thematik, die im Hinblick auf unterschiedliche Ioteressensschwerpunkte erarbeitet wurden, werden hier gesammelt wiedergegeben und im Lichte unserer im ersten Hauptteil vollzogenen Analyse kritisch reflektiert. Hauptaufgabe des dritten Hauptteils ist es schließlich anzuzeigen, inwiefern die erarbeiteten Grundzüge von Heideggers Denken fiir das Kommenlassen des Phänomens des Heiligen innerhalb der daseinsanalytischen Psychotherapie fruchtbar gemacht werden können. Jedem dieser Hauptteile wird eine eigene Einleitung vorangeschickt, denen wir hier nicht vorgreifen wollen. Der Zweck dieser allgemeinen Einleitungsworte besteht lediglich darin, deutlich zu umgrenzen, was von dieser Arbeit erwartet werden darf- und was nicht. Im letzteren Sinne muß gleich zu Anfang klargestellt werden, daß hier kein Beitrag zur rein philologischen HölderlinForschung geleistet wird. Es geht hier auch nicht darum, Hölderlins "Intention" in bezug auf seine Gedichte zu rekonstruieren, und es wird kein Vergleich von Heideggers Interpretation mit solchen Forschungsergebnissen angestrebt. Der Titel dieser Arbeit "Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen" könnte nahelegen, daß es im folgenden einzig darum gehen soll, nicht Hölderlins, sondern Heideggers "Intention" in seinen Interpretationen derbehandelten Gedichte darzulegen. Aber auch dies trifft dem oben Gesagten zufolge streng genommen nicht das in den Vorblick genommene Ziel dieser Arbeit. Letztendlich zur Sprache gebracht werden sollen nicht Intentionen, sondern das Phänomen selbst - mit anderen Worten: Es geht hier nicht um Doxographie, sondern um phänomenologische Forschung im strengen Sinne des Wor-

22

Allgemeine Einleitung

tes. Freilich gibt es ein Phänomen, d.h. ein Sich-Zeigendes, nicht ohne ein vernehmendes Wesen, dem es sich zeigen kann und welches auf ureigene Weise dem Phänomen ent-spricht, d.h., es stiftend ins Wort hebt bzw. in seiner Tragweite auslegt; daher kann natürlich auch das hier thematische Phänomen nicht unabhängig von der Weise seines Gewahrtwerdens behandelt werden. Deswegen folgt die kommende Darlegung im ganzen ersten Hauptteil Heideggers Interpretation von Hölderlins Dichtung. Gerade weil wir uns hier sogar sehr genau, mitunter Satz fiir Satz, Heideggers Auslegungen widmen werden, muß, um Mißverständnisse zu vermeiden, gleich zu Anfang daraufhingewiesen werden, daß das bleibende Ziel dieser Untersuchungen im Phänomen selbst liegt und nicht in einer Rekonstruktion von Intentionen; 1 unbestritten bleibt hier natürlich, daß es durchaus sinnvoll sein kann, Auslegungsversuche bestimmter Personen akribisch zu studieren, solange dabei nicht das Phänomen selbst zugunsten von rein historisch-kritischer Forschung aus den Augen verloren wird, sondern die Untersuchung dadurch in je immer größerer Offenheit dem Phänomen entgegenzugehen sucht. Der hauptsächlich "Werk-" bzw. "Heideggerirnmanente" Charakter dieser Arbeit zielt aber nicht auf eine Verabsolutierung einer bestimmten Interpretation ab2, sondern Heideggers Interpretation wird hier sehr genau gefolgt, um einem Phänomen näherzukommen, das uns alle auf verschiedene Weise und verschiedenen Ebenen anspricht und dem es auf jeweils einzigartige Weise zu entsprechen gilt. Solches Entsprechen erfordert jedoch gediegene Vorbereitung, und hierbei kann - bei entsprechender Offenheit des Lesers - ein Mitdenken auf Heideggers Interpretationsweg von wesentlicher Hilfe sein.

1 Dies entspricht durchaus auch dem Anliegen von Heidegger selbst, der die Betonung im Denken stets auf das Zu-Denkende legt und das Gedachte in bezug auf dieses würdigt. Bereits bei Heraklit finden wir den Gedanken angedeutet, daß es letztendlich nicht um das Nachsagen von Meinungen bestimmter Personen geht, sondern um das sich immer reinere Öffnen ftir den Sinn des Sichzusprechenden (und um den lebendigen Bezug zu ihm) (DK B 50): "ouK EIJ.oii, ciA.AO. Toü A.Oyov ciKoooavTaS' Ü!J.oA.oyE'iv aOov ECJTLV Ev TT>Germanien« und »Der Rhein«"(1934/35) Bereits in der ersten Vorlesung Heideggers über Hölderlin begegnet uns eine kurze Thematisierung des Phänomens des "Heiligen", und zwar am ausdrücklichsten innerhalb seiner Auslegung des Gedichts ))Germanien«. In diesem Gedicht nennt Hölderlin gleich in der ersten Strophe das Herz, das die Epoche zwischen den entflohenen alten Göttern und der Ankunft einer neuen, andrängenden Dimension des Göttlichen erharrend auszustehen hat, das "Heiligtrauernde": Nicht sie, die Seeligen, die erschienen sind, Die.Götterbilder in dem alten Lande, Sie darf ich ja nicht rufen mehr, wenn aber Ihr heimatlichen Wasser! jezt mit euch Des Herzens Liebe klagt, was will es anders Das Heiligtrauemde? Denn voll Erwartung liegt Das Land und als in heissen Tagen Herabgesenkt, umschattet heut Ihr Sehnenden! uns ahnungsvoll ein Himrnel... 1 Die heilige Trauer interpretiert Heidegger als die Grundstimmung, aus der dieses Gedicht spricht. Heideggers erste systematische Auslegung des Phänomens des Heiligen fmdet sich also innerhalb der Analyse einer Grundstimmung. Wie in der Einleitung gesagt wurde, soll in dieser Arbeit kein Beitrag zur philologischen Hölderlin-Forschung geleistet werden. Daher werden auch die Zitate der Hölderlin-Gedichte und -Gedanken in dieser Arbeit nicht aus der neuesten kritischen (Frankfurter) Ausgabe zitiert, sondern allesamt in deljenigen Textfassung wiedergegeben, wie sie in dem jeweiligen Heidegger-Band vorliegen. Die erste Strophe der Germanien-Hymne zitiert Heidegger in GA 39 (Hölderlins Hymnen >>Germanien« und >>Der Rhein«: Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1980) auf S. I 0. Der von Heidegger oft in Klammem hinzugefügte Stellenverweis bezieht sich in dieser Vorlesung auf die von Norbert v. Hellingrath besorgte Ausgabe in der zweiten Auflage von 1923. 1

§ I. Heideggers Auslegung des Wesens der Stimmung

33

Um dieser Interpretation sachgerecht folgen zu können, ist es daher unabdingbar, sich - zumindestens in den Grundzügen - zu vergegenwärtigen, was Heidegger unter "Stimmung" und insbesondere "Grundstimmung" versteht. Dazu wird es erforderlich, zunächst die grundlegenden Strukturen der in Sein und Zeit vorfmdlichen Interpretation der Befmdlichkeit zu untersuchen. In einem zweiten, vorbereitenden Schritt müssen Heideggers Gedanken zur "Grundstirnmung", die er in der Hölderlin Vorlesung selbst entwickelt, ansatzweise dargelegt werden. Erst nachdem auf diese Weise der Zusammenhang geklärt worden ist, innerhalb dessen Heidegger das Phänomen des "Heiligen" interpretiert, werden wir genügend vorbereitet sein, die Analyse des Heiligen in ihrer Tragweite zu verstehen.

§ 1. Vorbereitende Zusammenfassung der Grundzüge von Heideggers Auslegung des Wesens der Stimmung in Sein und Zeit und »Germanien« I. Erster Exkurs: Die Befindlichkeitsanalyse in Sein und Zeit2

In Sein und Zeit vollzieht sich eine grundlegende Neubestimmung des menschlichen Seins. Die Weise, wie der Mensch weltoffen existiert, wird durch den Terminus "ln-der-Welt-sein" gefaßt. Durch diesen Terminus allein wird schon deutlich, daß sich diese Interpretation radikal gegen eine cartesianische Interpretation des Menschen als eines weltlosen Subjekts absetzt. Die spezifischen Weisen, wie der Mensch "in" der Welt ist, werden in Sein und Zeit als Existenzialien bezeichnet und interpretiert. Die Befmdlichkeit ist eine solche Weise, in der und durch die der Mensch weltoffen existieren kann. In dem § 29 wird die Befmdlichkeit durch drei ontologische Wesenscharaktere näherhin bestimmt. Sie lauten: 1. Die Befindlichkeit erschließt das Dasein in seiner Geworfenheil und zunächst und zumeist in der Weise der ausweichenden Abkehr.3

' Weitere einfUhrende Gedanken zu und Überblicke bezüglich Heideggers Wesensbestimmung der Stimmung finden sich auch bei von Herrmann Subjekt und Dasein. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 2)985: S. 66-75: ders. Heideggers Philosophie der Kunst. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 2)994: S. 73ff, ll3ff, 363ff. Siehe auch: Klaus Held: "Grundbestimmung und Zeitkritik bei Heidegger". In: Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Bd, I: Philosophie und Politik (Hg. D. Papenfuss, 0 . Pöggeler), Frankfurt a.M. 1991: S. 31-56. 3 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1986: S. 136. 3 Helting

34

I. Kap.: »Germanien« und »Der Rhein«

2. Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf .. allererst möglich.•

3. In der Befindlichkeit liegt existenzial eine erschließende Angewiesenheil auf Welt, aus der her Angehendes begegnen kann. 5

a) Zum ersten Wesenscharakter der Befindlichkeit: Geworfenheil und Abkehr

Zur Erläuterung des ersten Wesenscharakters sind zwei Überlegungen notwendig. Die erste betrifft den Sinn der "Geworfenheit" überhaupt, die zweite das Faktum, daß das Dasein sich zunächst und zumeist von dieser Geworfenheit ausweichend abkehrt. 1. Das Wort "Geworfenheit" nennt für Heidegger das: "Daß es [das Dasein] ist" bzw. "Daß es ist und zu sein hat" 6 • Dieses "daß es ist" ist natürlich nicht so zu verstehen, als ob das Dasein bloß ein vorhandenes Seiendes unter anderem wäre, denn die ganze bisherige Interpretation in Sein und Zeit hat bereits aufgewiesen, daß das existierende Dasein eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit der Konstatierung von vorhandenem Seienden ist und daher nicht selber als ein solches kategorial gefaßt werden kann. Dieses "daß es ist" der Geworfenheit des Daseins (diese "Faktizität") bezeichnet daher ein wesensmäßig anderes Phänomen als vorhandenes (oder zuhandenes) Seiendes. Weiter geht aus diesem Terminus klar hervor, daß das Dasein nicht etwa selber Ursache seines eigenen In-der-Welt-seins wäre, sondern daß durch die Befmdlichkeit dem Dasein erschlossen wird, daß es "zu sein hat", d.h. sein In-der-Weltsein nicht Sache seiner freien Willensentscheidung ist; vielmehr befmdet sich das Dasein immer schon in einer Welt, welches Befinden es nicht gewählt hat.

Das "...und zu sein hat" weist auch darauf hin, daß das Dasein sich selber "überantwortet" ist. 7 Wenn es möglich ist, von "Sein-müssen" zu sprechen, ist vorausgesetzt, daß demjenigen Seienden, das "sein muß", seine Weise zu sein nicht gleichgültig ist. Ein Stuhl ist, "hat aber nicht zu sein." Dem Dasein geht es in seinem Existieren um sein Sein; dieses ist ihm nicht gleichgültig, es sorgt sich um sein Sein. Der Sinn der Un-gleichgültigkeit besteht darin, daß dem Dasein sein Sein überantwortet ist (d.h., daß es sich sorgen kann und muß). Wie • Sein und Zeit, S. 5 Sein und Zeit, S. 6 Sein und Zeit, S. 7 Sein und Zeit, S.

137. 137f. 135. 135.

§ I. Heideggers Auslegung des Wesens der Stimmung

35

diese überantwortete Geworfenheit von Heidegger phänomenologisch erschlossen wird, soll nun kurz dargelegt werden. Es ist ein phänomenaler Tatbestand, daß das Dasein immer schon "einfach" in einer gewissen Stimmung "da" ist, wobei dieser Seinscharakter in seinem "Woher" und "Wohin" verhüllt bleibt. Auch wenn diese Stimmungen zumeist nur wechselhaft und flüchtig sind, bekräftigt dieses Wechseln der Stimmungen lediglich, daß das Dasein immer schon irgendwie ge-stimmt "da" ist. In dieser Gestirnmmtheit ist das Dasein vor sein Da-sein "in" einer gewissen Stimmung gebracht, und darin leuchtet das "daß es ist" der Geworfenheit auf. Wenn "auffällige" Stimmungen ausbleiben und das Dasein längere Zeit desinteressiert (=ungestimmt) "dahinexistiert", dann kann es leicht dazu kommen, daß dem Dasein sein Da-sein überdrüßig wird, und die daraus entstehende Verstimmung sich als "Last" des Daseins offenbart. Dieser Lastcharakter des Da-seins läßt sich ferner aus der Verhüllung des "Woher" und "Wohin" der Stimmungen erhellen. Ein anderes Wort fiir "ohne Woher" ist "grundlos", und fiir "ohne Wohin": "ziellos." Im Sinne eines solchen grund- und ziellosen Existierens kann Heidegger von dieser Last schreiben, daß man zwar zu sein hat, aber: "Warum, weiß man nicht. "8 Im Offenbarwerden der "Last", d.h. darin, daß dem Dasein wesensmäßig sein Sein nicht gleichgültig ist, bekundet sich die Besorgnis des Daseins um seine Faktizität; hierin liegt der phänomenale Aufweis dessen, was im Terminus "Überantwortung" gedacht ist: Dem Dasein ist seine Existenzweise so überantwortet, daß es sein Sein auf irgendeine Weise zu verantworten hat. Eine Interesselosigkeit an seinem Dasein kann also nur als ein Privationsphänomen verstanden werden. 2. Zumeist kehrt sich das Dasein von dem eigentlichen Geworfenheitscharakter seines Da-seins ab. Als ein Beispiel, wie die Stimmung die durch den Lastcharakter einmal offenbar gewordene Geworfenheit des Daseins durch "Abkehr" erschließt, nennt Heidegger die "gehobene Stimmung. "9 Damit eine Stimmung als "gehoben" gelten kann, muß sie sich von etwas Grundlegendem abheben und verweist somit auf indirektem Wege auf die "Last" des Existierens. Um sich von etwas abkehren zu können, muß das, wovon man sich abkehrt, implizit miterschlossen sein, ohne daß dieses Miterschlossene dazu eigens auffällig sein muß. So ist der Lastcharakter zwar in der gehobenen Stimmung grundlegend miterschlossen, aber nur in der Weise der entschiedensten Abkehr von ihr: "Zumeist kehrt sie [die Stimmung] sich nicht an den in ihr offenbaren Lastcharakter des Daseins, am wenigsten als Enthobensein in der ge-

8 9

3*

Sein und Zeit, S. 134. Sein und Zeit, S. 134.

36

I. Kap.: >>Gennanien« und »Der Rhein«

hobenen Stimmung. "10 Alle Stimmungen, in denen das Dasein sich um sein "daß es ist" nicht sorgt, erbringen sowohl den "Beweis" dailir, daß dem Dasein sein geworfenes Sein in der Welt überantwortet ist, d.h., daß es sich zu ihm verhalten muß, als auch dailir, daß es zunächst und zumeist sich um diese Überantwortung nicht ausdrücklich kümmert, sondern sich vielmehr von ihr abzukehren sucht (ein Phänomen, das Heidegger in Sein und Zeit im Rahmen der Analyse des "Verfallens" (§38) tiefergehend untersucht).

b) Zum zweiten Wesenscharakter der Befindlichkeit: Ersch/ossenheit und Intentionalität

Um die Radikalität des Gedankens, daß Stimmungen das ln-der-Welt-sein als ganzes erschließen, gebührend würdigen zu können, muß zunächst das traditionelle Modell der "Geilihle" skizziert werden, von dem Heideggers Befmdlichkeitsanalyse sich abhebt. In einem zweiten Schritt wird es möglich sein aufzuzeigen, wie grundlegend die als Existenzial gefaßte Stimmung sich von dem traditionellen Geilihlsmodell unterscheidet. 1. In dem traditionellen Modell werden die Geilihle als etwas grundsätzlich "Innerliches", d.h. dem Subjekt Inhärentes, angesehen. Die Grundvoraussetzung, die dem neuzeitlichen Gefiihlsmodell zugrunde liegt, besteht in folgender These: Das Subjekt macht sich "innerliche" (geistige) Abbildungen bzw. Vorstellungen von den "äußerlichen" Objekten. Diese äußerlichen Gegenstände haben verschiedene Eigenschaften, von denen sich das Subjekt innerliche Repräsentationen bzw. Abbilder machen kann. Innerhalb eines solchen Modells muß die Frage entstehen, inwiefern die inneren Repräsentationen mit den äußeren Objekten übereinstimmen können. Den Geilihlen kommt innerhalb solch eines Modells natürlich so gut wie keine "objektive Realität" zu; als klassischer Vertreter ilir solch eine Auffassung kann der britische Empiriker John Locke gelten. In seinem Essay Concerning Human Understanding unterscheidet Locke zwischen "primary" und "secondary qualities", wobei ilir ihn "primary qualities," wie z.B. Ausdehnung und Gestalt, tatsächlich in den Objekten vorhanden sind und durch Wahrnehmung wahrheitsgetreu innerlich repräsentiert werden. Die "secondary qualities" hingegen, wie z.B. Farbe und Geruch, versucht er dahingehend zu interpretieren, daß sie nur so etwas wie ungenaue oder "verschwommene" Wahrnehmungen unterschiedlicher Bewegungen von subtilen "primary qualities" sind. Locke, der sich häufig in seinen Argumentatio10

Sein und Zeit, S. 135.

§ I. Heideggers Auslegung des Wesens der Stimmung

37

nen auf den "common sense" beruft, hebt hier ausdrücklich seine Theorie bezüglich des "ontologischen Status" der "secondary qualities" von der Auffassung des "common sense" ab, welche diesen im allgemeinen auch eine eigene Realität in den Objekten zuschreibt. Im Zuge der Abhebung seiner Theorie von der Auffassung des "common sense" kommt er beiläufig in einem Satz auf die Gefiihle zu sprechen: "That these ideas of sickness and pain are not in the manna, but effects of its operations on us, and are nowhere when we feel them not: this also everyone readily agrees to." 11 Darin, daß die Gefiihle etwas "rein Innerliches" sind und ihnen keinerlei "objektiver Sachbezug" zukommt, erblickt er so eine Selbstverständlichkeit, daß dieser Gedanke keine weitere Erläuterung erfahrt. An eine solche Tradition, gemäß der die Gefiihle Phänomene sind, die lediglich Reflexionen auf die inneren Repräsentationen begleiten, denkt Heidegger, wenn er schreibt, daß Gefiihle als eine Art "dritte Klasse" neben dem Wissen und Wollen zu "Begleitphänomenen" herabsinken. 12 2. Heidegger unterläuft in seiner Interpretation der Stimmungen die traditionelle Grundvoraussetzung des gefuhllosen Wahrnehmens von "reinen Objekten" dadurch, daß er aufzeigt, daß das durch die Befmdlichkeit erschlossene "Da" ein jegliches "Wahrnehmen von" und "Sichrichten auf" Objekte allererst ermöglicht. Denn das intentionale "Gerichtetsein auf ein Objekt", das gemäß des traditionellen Modells den Stimmungen höchstens im Sinne eines "fundierten Aktes", d.h. nie unmittelbar und primär, zukommt, erweist sich als nur möglich innerhalb einer Erschlossenheit von Welt überhaupt. Um dieses "überhaupt" zu verstehen, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf das Gesamtgefuge des ersten Abschnittes von Sein und Zeit zu werfen. Wenn Heidegger sagt, daß die Befindlichkeit das In-der-Welt-sein im ganzen je schon erschlossen hat, dann ist mit der Erschlossenheit schon auf diejenige Offenheit des Menschen verwiesen, die Heidegger im § 44b die ursprüngliche Wahrheit nennen wird. Diese Wahrheit deckt sich nicht mit der Offenbarkeit des Seienden oder dessen adäquaten Erfassung durch den Intellekt, sondern ermöglicht vielmehr erst die Entdeckbarkeit von Seiendem, indem sie eine Offenheit erschließt, in die Seiendes allererst anwesen und so entdeckt werden kann. Die Befmdlichkeit ist ein wesentliches Moment dieser Erschlossenheit bzw. ursprünglichen Wahrheit (neben dem "Verstehen" und dem "Sein-bei", die allesamt durch die Rede ursprünglich gegliedert sind13) . Die in der Befmdlichkeit eröffnete Welt ist folglich immer als ein wesentliches Moment des Geschehens der ursprünglichen Wahrheit zu denken. Die Befindlichkeit zeichnet sich in 11 John Locke, An essay concerning human understanding Book Il, Chapter VIII, 18. London: Everyman's Library, 1990: S. 61. 12 Sein und Zeit, S. 139. 13 Vgl. die kurze Darlegung dieser Strukturen im 2. Kapitel, 5. Exkurs, 88.

38

I. Kap.: ))Germanien« und ))Der Rhein«

diesem Geschehen dadurch aus, daß durch sie das Dasein sich in einem Bezug zum Ganzen der Welt befmdet, der verstehensmäßig niemals eingeholt werden kann. Der Mensch, der das "Seiende im Ganzen" nie theoretisch begreifen kann, ist als befmdlicher dennoch auf dieses so bezogen, daß eine Rede vom "Seiendem im Ganzen" keine bloße "Einbildung" 14 ist. Das "Seiende im Ganzen" zeigt sich in der Befmdlichkeit und kann daher ausgelegt - wenn auch niemals verstandesmäßig vollkommen begriffen - werden. Wenn aber erstens die Wahrheit im Sinne eines transzendentalen Horizontes gefaßt wird, d.h. als einer, der das Seiende immer schon "überstiegen" hat und dadurch den horizontalen Bereich eröffnet, in dem Seiendes allererst erscheinen kann, und zweitens, Intentionalität aber Seiendes, auf das es bezogen sein kann, immer schon voraussetzt, dann wird einsichtig, daß die Intentionalität nicht zureicht, das Erscheinen von Seiendem überhaupt zu fassen. Zum Wesen des Menschen gehört zwar unableugbar die Intentionalität, aber diese wurzelt letztendlich immer in der Erschlossenheit, Transzendenz bzw. Wahrheit, in die der Mensch als existierender "geworfen" ist. In den Worten von Heideggers bekannter Vorlesung über die Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Jahre 1928 heißt das: "Transzendenz, Transzendieren, gehört zum Wesen des Seienden, das (auf ihr als Grund) als intentionales existiert, d.h. das in der Weise des Sichaufhaltens bei Vorhandenem existiert." 15 Wenn nun die Befmdlichkeit ein wesentliches Moment dessen ist, daß sich Transzendenz, d.h. ursprüngliche Wahrheit, überhaupt erschließt, dann ist es unmöglich, sie innerhalb des Horizontes der Intentionalität als eine bloße "Begleit-Erscheinung" einer "objektiven" (bzw. als einem "fundierten Akt" einer "intentionalfundierenden" reinen) Dingwahrnehmung zu begreifen. Der phänomenologische Aufweis in Sein und Zeit dafür, daß Gefühle primär nicht auf "neutrale Objekte" gerichtet sind, sondern den Horizont für ein "Sichauf-etwas-richten" ursprünglich erschließen, erfolgt durch den Verweis auf die Verstimmung. Wenn ein Dasein grob verstimmt ist, wird es von dieser Stimmung "überfallen". An diesem Phänomen zeigt sich: "Sie [die Stimmung] kommt weder von ))Außen« noch von ))Innen«, sondern steigt als Weise des Inder-Welt-seins aus diesem selbst auf."16 Es zeigt sich also, daß das Phänomen selber nicht den geringsten Hinweis darauf gibt, daß es sich hierbei um ein "reflektierendes Erfassen des ))Inneren«" handelt, sondern es zeigt sich, daß die 14 Vgl. Wegmarken, (Einzelausgabe, 2. Auflage) Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1978: S. 109. 15 GA 24 (Grundprobleme der Phänomenologie. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1989): s. 91. 16 Sein und Zeit, S. 136.

§ I. Heideggers Auslegung des Wesens der Stimmung

39

ganze Welt in einer Verstimmung als trostlos oder bedrohend oder wie auch immer anwest. In dem Phänomen, daß die Welt als ganze in dieser Weise anwest, bekundet sich, daß die Stimmung die Welt ursprunglieh erschließt und nicht primär aus einem Bezug zu in der Welt entdeckten Objekten resultiert, der dann "ontologisch nachträglich" eine Stimmung im Subjekt hervorruft.

Im Zuge der zweiten ontologischen Wesensbestimmung der Befmdlichkeit wird weiter betont, daß durch die Befmdlichkeit gleichursprunglieh mit dem geworfenen Da-sein (Existenz) und der Welt auch das Mit-sein erschlossen wird. Hier ist zunächst im Sinne der "Geworfenheit" wieder hervorzuheben, daß das ursprungliehe Phänomen der Wahrheit bzw. Erschlossenheit nicht etwa mit einem vereinzelten Dasein schlechthin identisch ist, sondern daß das Dasein, Mitdaseiende und Welt in die Wahrheit gehören. Die Wahrheit "gehört" also nicht dem Dasein17, sondern dieses sowie (auf andere Weise) die (Mit-) Welt sind in ihr zusammengehörig. Dadurch, daß im 4. Kapitel von Sein und Zeit aufgewiesen wurde, daß das Dasein ontologisch durch seinen offenen Bezug zum Mitmenschen konstituiert ist, d.h. ohne diesen in seinem Wesen überhaupt nicht verständlich ist, ist es auch nicht überraschend, daß die Stimmungen in Heideggers Analyse nicht etwas primär "Privates" sein können. Die Stimmungsmöglichkeiten, in denen das Dasein sich befmdet, sind vorgegeben durch die mitmenschliche Welt. Heidegger verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß es auch aus diesem Grund nicht verwundem sollte, daß bei Aristoteles das Pathos nicht etwa in De Anima, sondern in der Rethorik abgehandelt wird; das Phänomen von ganzen Menschengruppen, die sich in einer gewissen Stimmung befmden und die es umzustimmen bzw. einzustimmen gilt, ist ja der gewöhnliche Ausgangsort für einen Redner.

c) Zum dritten Wesenscharakter der Befindlichkeit: Angewiesenheit

Der erste Wesenscharakter hob hervor, daß das Dasein immer schon in eine Welt geworfen ist und ihm damit überantwortet ist, sich auf irgendeine Weise zu ihr zu verhalten. Der zweite Wesenscharakter legte dar, daß dem Dasein die

In diesem Sinne heißt es bei von Herrmann: "Nicht umfaßt das Selbst die Erschlossenheil von Welt und Seinsweisen, sondern die selbsthafte Erschlossenheil ist umschlossen von der Erschlossenheit, in die das Selbst versetzt ist. Das Selbst ist nur Selbst dank dieser Erschlossenheit, in der es sich in der Weise der existenzial-selbsthaften Erschlossenheit findet - findet in den Erschlossenheitsweisen der Stimmungen, der Befindlichkeit." Heideggers Philosophie der Kunst, S. 74. 17

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I. Kap.: ))Germanien« und ))Der Rhein«

Welt auf solch eine Weise überantwortet ist, daß es immer schon alles Seiende transzendiert, d.h. in dem Erschlossenheitsbereich der Wahrheit existiert, der Seiendes anwesen läßt und intentionales Verhalten zu ihm dadurch ermöglicht. Der dritte Wesenscharakter erhellt nun, daß die Befindlichkeit das Dasein so erschließt, daß dieses auf Welt angewiesen ist, weil es sich aus der durch die Befindlichkeit erschlossenen Welt angehen läßt. D.h., daß das Dasein, obwohl es wesentlich teilhat am "Überhaupt-erscheinen-Können" von Seiendem, dieses nicht "aus sich heraus" setzt, sondern auf es angewiesen bleibt, d.h., in der offenen Begegnung von ihm auf mannigfaltige Weisen angesprochen wird, und das Dasein sich um es auf mannigfaltige Weisen sorgt. Bereits während der Weltlichkeitsanalyse in Sein und Zeit (§ 18) wird das Phänomen der Angewiesenheit angesprochen: "Dasein ist als solches je dieses, mit seinem Sein ist wesenhaft schon ein Zusammenhang von Zuhandenern entdeckt - Dasein hat sich, sofern es ist, je schon auf eine begegnende »Welt« angewiesen, zu seinem Sein gehört wesenhaft diese Angewiesenheit." 18 Dieses Angegangenwerden von einem immer schon anwesenden "Zusammenhang von Zuhandenem" wird durch den dritten Wesenscharakter der Befindlichkeit tiefer begründet. Dasein findet sich immer schon in seiner Angewiesenheit auf Seiendes vor, weil es wesenhaft in eine Welt geworfen ist, die es durch die Befindlichkeit in ihrer Ganzheit so erschließt, daß aus ihr gestimmtes Seiendes anwesen kann, welches das Dasein angeht, d.h. in Anspruch nimmt. Das Interesse innerhalb der Erläuterung dieses Wesenscharakters liegt nicht darin aufzuzeigen, wie dem Dasein Seiendes auf verschiedene Weise angehend begegnet, sondern in der Betonung des Grundzuges, "daß" Seiendes dem Dasein überhaupt von sich her begegnet und nicht etwa durch fundierende Akte des Daseins gesetzt wird. Das Dasein kann angegangen werden, weil sich etwas in dem durch seine Befindlichkeit erschlossenen Welthorizont von sich selbst her zeigen kann. Auf die Erschlossenheit dieses Welthorizontes ist nun das Dasein angewiesen, weil es offen für das sich aus diesem zeigende, gestimmte Seiende existiert und nur dasjenige verstehend entwerfen kann, was ihm sich hier also zeigt. Daher ist diese Angewiesenheit ein Existenzial des Daseins und darfnicht als ein "Mangel" oder "Defekt" (also privativ) verstanden werden; sie ist vielmehr als eine ursprüngliche Weise zu verstehen, in der der Mensch sich vom Begegnenden ansprechen läßt.

18

Sein und Zeit, S. 87.

§ I. Heideggers Auslegung des Wesens der Stimmung

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II. Überblickshafte Einleitung in die Wesensmerkmale der Grundstimmung im § 8 aus GA 3919

Heidegger betont bereits zu Beginn des achten Paragraphen der »Germanien«-Vorlesung scharf, daß "Grundstimmung" in einem ausgezeichneten Sinne zu verstehen sei und nicht mit einer geläufigen Vorstellung von "Gefühl" zu verwechseln ist: "Mit Grundstimmung meinen wir aber nicht eine verschwebende Gefiihlsbetontheit, die das Sagen nur begleitet, sondern die Grundstimmung eröffnet die Welt, die im dichterischen Sagen das Gepräge des Seyns empfangt." 20 Auf der Grundlage der bereits erläuterten Wesensbestimmung der Befindlichkeit aus Sein und Zeit bietet dieser Satz keine großen Verständnisschwierigkeiten. In Sein und Zeit wurde ja im Zuge der zweiten ontologischen Wesensbestimmung erhellt, daß die Befmdlichkeit die Welt allererst eröffnet und so nie als ledigliehe "Begleiterscheinung"21 eines Dinges oder eines Sagens sachgemäß gefaßt werden kann. Weiter erfahren wir aus diesem Satz, daß im dichterischen Sagen die Grundstimmung vielmehr eigens mit ins Wort geprägt wird, "das Gepräge des Seins empfangt." Das "Dichten" wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt während der Vorlesung bestimmt: "Wir bestimmten das Dichten in Anlehnung an die Grundbedeutung des WOrtstammes als ein Sagen in der Art des weisenden O.ffenbarmachens." 22 Die Grundstimmung wird durch das dichterische Wort eigens als solche offenbargemacht und so gewissermaßen "geprägt". Die Grundstimmung wiederum wird im dichterischen Wort offenbar als eine, die "das Seiende im Ganzen anders und in einer wesentlichen Weise" eröffnet. 23 Zu einer Grundstimmung gehört also nicht nur das Eröffnen der Welt überhaupt; dies geschieht in gewisser Weise in jeglicher Stimmung. In der Grundstimmung wird das Seiende im Ganzen vielmehr wesentlich eröffnet. Im Lichte der ersten ontologischen Wesensbestimmung aus Sein und Zeit läßt sich das "wesentlich" so verstehen, daß in der Grundstimmung das Dasein auf solch 19 Auslegungen des Phänomens der Grundstimmung mit Bezug auf GA 39 finden sich auch bei: Susanne Ziegler, Heidegger, Hölderlin und die 'A.üjBEta. Berlin: Duncker & Humblot, 1991: S. 57-64. Stefanie Bohlen, Die Übermacht des Seins. Berlin: Duncker & Humblot, 1993: S. 223ff. Iris Buchheim, Wegbereitung in die Kunstlosigkeit. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994: S. 93ff. 20 GA 39: S. 79. 21 Auch in einem späteren Rückblick auf die Wesenstücke der Grundstimmung betont Heidegger: "Stimmung, und zumal Grundstimmung, sei kein bloßes Gefühl, keine Begleiterscheinung des seelischen Lebens." GA 39: S. 139. 22 GA 39: S. 31. 23 GA 39: S. 82.

I. Kap.: »Germanien« und »Der Rhein«

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eine Weise vor seine eigene Geworfenheit gebracht wird, daß es nicht mehr in "ausweichender Abkehr" von ihr existieren kann, sondern sein Sein in bezug auf das Seiende im Ganzen wahrnehmen muß. Es erfahrt sich hineinversetzt in die gestimmte Welt als ganze.2• Weiter kann hier schon vorblickend angedeutet werden, daß in der Grundstimmung im Dasein die Erfahrung durchbricht, "daß es mit der vereinzelten Ichheit, die sich zuerst allem gegenüberstellt, um es nur als Gegenstand von seinen Gnaden zu nehmen und seine Erlebnisse einzufiihlen, nichts ist. "25 Es ist nicht so, daß etwa die Dinge von der "Gnade" einer menschlichen Einfiihlung gestimmt werden würden, sondern das Dasein erfahrt sich hineinversetzt in eine Welt, die es immer schon gestimmt angeht und es in gewisse Stimmungen bringen kann. Hierin bekundet sich der dritte ontologische Wesenscharakter der Befmdlichkeit aus Sein und Zeit: die Angewiesenheit auf Welt. Dieser Wesenscharakter wird allerdings, wie sich noch genauer zeigen soll, in dieser Vorlesung eine vertiefend-umfassendere Interpretation erfahren. Von besonderer Wichtigkeit fiir die folgende Untersuchung der Grundstirnmung der "heiligen Trauer" ist Heideggers Unterscheidung der drei wesentlichen Momente des Stimmungsphänomens überhaupt: "Zur Stimmung gehört einmal Jenes, was stimmt, das Stimmende... , sodann Jenes, das in der Stimmung gestimmt ist, und schließlich das gestimmte und stimmende wechselweise Bezogensein beider aufeinander. "26 Das Verhängnisvolle an dieser Kennzeichnung ist, daß sie nahe legen könnte, es gäbe zunächst zwei vorhandene Dinge, die dann nachträglich aufeinander bezogen werden. Um diesem Mißverständnis vorzubeugen, hebt Heidegger im nächsten Satz gleich hervor: Dabei ist zu beachten, daß nicht zuerst ein Objekt und ein Subjekt vorhanden sind und daß sich dann eine Stimmung zwischen beide zwängt und zwischen Subjekt und Objekt hin- und hergeht, sondern die Stimmung und ihr Hinauf- und Hinabkommen ist das Ursprüngliche und nimmt erst je in ihrer Weise das Objekt in die Stimmung und macht das Subjekt zum Gestimmten. 27

Durch diese Charakterisierung ist zwar verdeutlicht, daß die Stimmung den Bezug anfanglieh stiftet und "Subjekt" und "Objekt" aus diesem Bezug verstanden werden müssen und so nie ursprünglich "alleine" bzw. "an sich" vorSpäter spricht Heidegger auch von der "Ausgesetztheit inmitten des offenbaren Seienden im Ganzen, eine Ausgesetztheit, die das Dasein zu übernehmen hat." GA 39: S. 141. 25 GA 39: S. 88f. 26 GA 39: S. 82f. 27 GA 39: S. 83. 24

§ I. Heideggers Auslegung des Wesens der Stimmung

43

kommen, aber problematisch bleibt die ungeklärte Seinsweise dessen, was hier mit "Subjekt" und "Objekt" gemeint ist. Deswegen fährt Heidegger fort: "Tiefer gedacht aber reicht das gemeinhin vorgestellte Subjekt-Objekt-Verhältnis hier überhaupt nicht zu, um das Wesen der Stimmung zu begreifen. "28 Denn dieses Verhältnis wurde nicht phänomenologisch gewonnen, sondern "angesetzt in Rücksicht auf die vorstellende Beziehung zwischen beiden." 29 Wie wir bereits gesehen haben, erweist sich das vorstellende Denken, das von einer abstrakten "Ichheit" ausgeht, als unhaltbar, wenn es darum geht, das ursprüngliche Wesen der Grundstimmung zu erhellen. Zu einem späteren Zeitpunkt der Vorlesung sagt Heidegger im Zuge eines Rückblicks auf die Grundstimmung: "Erst aufgrundeines gewissen Niederhaltensund Abdrängens der Stimmung, aufgrund eines versuchten scheinbaren Vergessens derselben kommt es zu dem, was wir das bloße Vorstellen von Dingen und Gegenständen nennen. "30 Die in Sein und Zeit im Zuge der ersten Wesensbestimmung der Befindlichkeit als wesensmäßig herausgestellte "Abkehr" von der Stimmungshaft erschlossenen Geworfenheit erweist sich somit als mitverantwortlich dafür, daß der vorstellende Zugang zu dem Ding zum primären wird und den eigentlichen ontologischen Charakter der Stimmung verdeckt. Innerhalb des vorstellenden Denkens bleibt die Stimmung immer nur ein "Anhängsel."3 ' Heidegger charakterisiert das uns in seinen Grundzügen bereits bekannte neuzeitliche Gefühlsmodell folgendermaßen: Da nun das Erkennen und das Wollen als subjektive Vorgänge mindestens immer noch auf Objekte bezogen sind und mit solchen zu tun haben, den Stimmungen aber auch dieser Bezug auf Objekte meist fehlt, so sind sie natürlich das rein »Subjektive«. Da die Stimmungen dort - im »ich« - sind, müssen sie auch dort entstanden, d.h. wieder durch andere leiblich-seelische Zustände verursacht sein. »Stimmungen« sind ins Subjekt verlegt, und dieses Subjekt legt sie wieder aus sich in die Objekte mit Hilfe der sogenannten Einflihlung.32

Demgegenüber faßt Heidegger das phänomenologisch erarbeitete Gedankengut bezüglich der Stimmungen so zusammen: "Nicht sind die Stimmungen in das Subjekt oder in die Objekte gelegt, sondern wir sind, in eins mit dem Seienden, in Stimmungen ver-setzt. Die Stimmungen sind das durchgreifend umfangende Mächtige, die in eins über uns und die Dinge kommen. "33 Zu untersuchen ist

GA 39: S. 83. GA 39: S. 83. 30 GA 39: S. 140. 31 Vgl. GA 39: S. 83 . 32 GA 39: S. 89. 33 GA 39: S. 89. 28

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I. Kap.: »Gennanien« und »Der Rhein«

jetzt, wie die Stimmung der "heiligen Trauer" "über uns und die Dinge" kommt und auf welche ausgezeichnete Weise sie uns somit für das Seiende im ganzen offen werden läßt.

§ 2. Heideggers Auslegung des "Heiligen" innerhalb der Untersuchung der Grundstimmung der "heiligen Trauer" Die vorangegangene Untersuchung des Wesens der Grundstinunung bietet uns nunmehr einen sachgerechten Boden, auf dem wir uns Heideggers Auslegung des Heiligen innerhalb der Grundstimmung der "heiligen Trauer" zuwenden können. Im Lichte des Gesagten wird es nicht mehr notwendig sein, während der Analyse darauf hinzuweisen, daß es ein vollkommenes Mißverständnis wäre zu glauben, Heidegger behandle das "Heilige" als ein "bloßes Gefühl". Vielmehr soll sich erweisen, wie das Heilige in einer Grundstimmung Welt eröffnet, d.h. wie sich der Bezug des Daseins zum Seienden im ganzen bekundet, solange seine Weltoffenheit vom Heiligen rein durchstinunt ist. Nachdem Heidegger, wie oben dargelegt wurde, die drei Wesensmomente der Stimmung als das "Stimmende", das "Gestimmte" und das "wechselseitige Bezogensein" unterschieden hat, betont er nun: "Die ganze Grundstinunung als solche ist heilig in den genannten drei Hinsichten."34 Aber die Erläuterung der Grundstimmung der heiligen Trauer gemäß diesen drei Hinsichten kann nicht vollzogen werden, bis eine Antwort auf die sich nun aufdrängende Frage gefunden wurde: "Aber was heißt heilig?" 35 Erst aus der Auslegung des Phänomens des Heiligen kann sich erweisen, inwiefern das Heilige in den drei herausgearbeiteten Wesensstrukturen der Grundstinunung waltet. Heidegger betont eigens, daß das Heilige ein Grundwort in Hölderlins Dichtung ist und jedesmal aus dem Wesensbereich der jeweiligen Grundstirnmung gesprochen ist: "Hölderlin gebraucht diese Nennung oft und immer wesentlich aus der Reichweite der jeweiligen Grundstimmung seiner Dichtung. "36 Um einen ersten Einblick in die Reichweite des aus den verschiedenen Grundstimmungen genannten "Heiligen" in Hölderlins Dichtung zu gewinnen, greift Heidegger folgende Verse aus dem Gesamtwerk heraus37 : Und trunken von Küssen/ Tunkt ihr das Haupt/ Ins heilignüchterne Wasser. (Hälfte des Lebens, IV, 60, V. 5ff.) GA 39: S. 83. GA 39: S. 83. 36 GA 39: S. 83. 37 GA 39: S. 83f. 34

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§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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Denn so wollte die heilge Natur. .. (Bruchstück 3, IV, 238) Süss ists zu irren/ In heiliger Wildnis (Bruchstück 18, Tinian, IV, 250) 0 nenne Tochter du der heiligen Erd'! (Gerrnanien, V. 97) Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort. (Wie wenn am Feiertage ... , IV, I 5 I, V. 20) Und es wurzelt vielesbereitend heilige Wildniss (Die Titanen, IV, 208, V. 22)

Im folgenden legt Heidegger sein Augenmerk ganz auf diejenige W esensbestimmung des Heiligen, welche die in dem Gedicht »Germanien« genannte Grundstimmung der "heiligen Trauer" erhellen soll. Als Weg, sich dieser W esensbestimmung zu nähern, wählt Heidegger aber nicht eine Auslegung der soeben zitierten dichterischen Verse, sondern er zitiert und interpretiert eine theoretische Abhandlung Hölderlins, die den Titel trägt: "Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes". Vorwegnehmend faßt er den Grundgedanken so zusammen: "Das Heilige nennt Hölderlin das »Uneigennützige«." 31 Bevor er sich aber diesem positiven Aufweis zuwenden kann, fährt er zunächst damit fort, mögliche Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen. Um Klarheit über den methodischen Ort in Heideggers Analysen zu gewinnen, soll eine kurze Rekapitulation der wesentlichen Momente der phänomenologischen Methode gegeben werden, um auf ihrem Boden die kommenden Auslegungen Heideggers auch in ihrer methodischen Schrittfolge verstehen zu können. I. Zweiter Exkurs: Grundzüge der phänomenologischen

Methode Heideggers3•

Um einen kurzen, systematischen Überblick in die phänomenologische Methode zu erhalten, wenden wir uns denjenigen Analysen Heideggers in Sein und Zeit und in seiner Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie zu, die Rechenschaft über die phänomenologische Vorgangsweise abgeben. Dieser Überblick läßt sich in drei kurze Gedankenschritte gliedern: a. Zuerst soll Heideggers "Nominal-" und "Realdefmition" des Wortes "Phänomenologie" geklärt werden. b. Die Notwendigkeit einer Phänomenologie soll sich dadurch erhellen, daß gezeigt wird, daß die philosophisch interessanten Phänomene zunächst GA 39: S. 84. Eine ausführlichere Darlegung der folgenden Gedanken, findet sich in dem ersten Teil meiner (unveröffentlichten) Magister-Arbeit: Studien und Quellenforschung zu Heidegger im Hinblick auf eine Durchdenkung des Verhältnisses zwischen Heidegger, Sokrates und Platon (Wien, 1994). Für eine weitere Darlegung vgl. vor allem: von Herrmann Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husser/. Frankfurt: Vittorio Klosterrnann, 2 !988; ders. Weg und Methode. Vittorio Klostermann, 1990. 38

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1. Kap.: »Germanien« und »Der Rhein«

sich gerade nicht zeigen und daher erst aufdeckungsbedürftig sind. c. Nachdem die Aufgabe und Notwendigkeit der Phänomenologie einsichtig gemacht worden sind, folgt der Aufweis der Strukturen der phänomenologischen Methode selbst.

a) Die Definitionen von "Phänomenologie" In Sein und Zeit expliziert Heidegger das Wort "Phänomenologie" folgendermaßen: Es besagt "d.rroatvEa8m Ta alVOf..I.Eva", d.h.: "Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen. "40 Dieser W ortdefmition nach stimmt Heideggers Charakterisierung der Phänomenologie mit der durch Husserl bekanntgewordenen Maxime "Zu den Sachen selbst" überein. Allerdings gibt uns diese Defmition keinen Hinweis auf den "Gegenstand" ihrer Forschung. Sie besagt lediglich, nunmehr negativ formuliert, daß alles an den Phänomenen Nichtausweisbare von der Deskription der Phänomene ferngehalten werden soll. 41 Es stellt sich hier also jetzt die Frage, was denn das ist, das die Phänomenologie sehen lassen soll. Dem vulgären Phänomenbegriff nach besagt "Phänomen": das sich zeigende Seiende. Demnach müßte die Phänomenologie alles Seiende erforschen. Die Erforschung des Seienden ist aber nach Heidegger gerade nicht die Aufgabe der Philosophie, sondern die Aufgabe der Fachwissenschaften: Die Methode der Ontologie, d.h. der Philosophie überhaupt, ist insofern ausgezeichnet, als sie mit keiner Methode irgendeiner anderen Wissenschaft, die alle als positive Wissenschaften vom Seienden handeln, etwas gemein hat.42

Um eine Sachdefmition des Wortes "Phänomenologie" zu erhalten, bedarf es nun einer Klärung dessen, was denn der Phänomenologie im ausgezeichneten Sinne als "Phänomen" gilt. Dieser ausgezeichnete Sinn von "Phänomen" ist, entgegen der gewöhnlichen Bedeutung, nicht das sich zunächst am allerdeutlichsten Zeigende (das "Aufdringlichste"), sondern das, was sich zunächst nicht zeigt: Das Sein des Seienden. Das Sein des Seienden ist zwar zunächst verborgen, aber gehört "wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, ... , so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht. "43 Terminologisch fixiert Hei-

Sein und Zeit, S. 34. Vgl. Sein und Zeit, S. 35. 42 GA 24: S. 26. 43 Sein und Zeit, S. 35. 40 41

§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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degger den phänomenologischen Begriff von "Phänomen" folgendermaßen: "...Phänomen meint als das Sichzeigende das Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikation und Derivate ..... b) Aufweis einer "Notwendigkeit" der Phänomenologie

Nach dieser Überlegung ist es uns jetzt auch möglich geworden einzusehen, weshalb es der Phänomenologie bedarf: Weil das ausgezeichnete Phänomen nicht wie Seiendes "herumliegt" und sich nicht "der Naivität eines zufälligen, >>Unmittelbaren« und unbedachten »Schauens«"•s entdeckt, bedarf es einer methodischen Ent-bergung des verborgenen Phänomens (d.h. des Seins). Obwohl das Sein sich also zu Gunsten der Aufdringlichkeit des Seienden entzieht, ist das Sein nichts "hinter" den Phänomenen. Es ist lediglich so, daß das Anwesen (Sein) des Seienden auf verschiedenste Weise der Aufmerksamkeit verborgen ist. Heidegger unterscheidet in Sein und Zeit insgesamt vier Weisen der Verdecktheit der Phänomene (d.h. des Seins). Die beiden Hauptweisen sind: a. Unentdecktheit und b. Verschüttetheit. Über den Bestand eines unentdeckten Phänomens "gibt es weder Kenntnis noch Unkenntnis. "46 Das bedeutet, daß ein bestimmtes Seiendes entweder noch nie auf sein Sein hin thematisiert worden ist, oder gar, daß das Seiende noch nicht einmal bekannt ist, dessen Sein fragwürdig werden könnte. Ein Phänomen ist verschüttet, wenn es zuvor einmal entdeckt war, aber wieder der Verdeckung verfiel. Diese Verdeckung kann einerseits total sein, oder andererseits kann das in der Verdeckung Verdeckte als Schein noch sichtbar sein. Diesen Schein, die Verstellung, hält Heidegger für die häufigste und gefährlichste Art der Verdeckung. Die Verstellung täuscht scheinbares, ontologisch jedoch unfundiertes (bzw. nicht mehr fundiertes) Wissen vor. Es gehört allerdings zu einem jeden ursprünglichen ontologischen Satz auch notwendig"' die Möglichkeit der Verstellung, und zwar dadurch, daß er als mitgeteilte Aussage zu einer leeren Phrase ohne Erfahrungsausweis entarten kann. Rückblickend wurde also jetzt die Phänomenologie als das Sehenlassen des Seins von ihm selbst her gekennzeichnet, so zwar, daß dieses Sehenlassen das Zu-Sehende aus seiner Verborgenheit herausarbeiten muß. Die Phänomenologie ist also die Methode des Sehenlassens der zunächst verborgenen Weise des Anwesens des Seienden. Bevor diese Methode genauer untersucht wird, sollten .. Sein und Zeit, S. 35. 45 Sein und Zeit, S. 37. 46 Sein und Zeit, S. 36. 47 Vgl. Sein und Zeit, S. 36.

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noch zwei weitere Begriffsbestimmungen, die Heidegger unternimmt, erwähnt werden: "Phänomenal" ist das, "was in der Begegnisart des Phänomens gegeben und explizierbar ist" 48 , also die Seinsstruktur des Seienden (die formalen Bestimmungen des "Wie" seines Anwesens). "Phänomenologisch" ist das, "was zur Art der Aufweisung und Explikation gehört und was die in dieser Forschung geforderte Begrifflichkeit ausmacht. "••

c) Aufweis der drei Grundstücke der phänomenologischen Methode Mit anderen Worten bezeichnet "phänomenologisch" die Vorgangsweise, also die Methode des Freitegens des "Phänomens" (d.h. des Seins des Seienden). Diese Methode konstituiert sich aus drei Schritten. In Sein und Zeit heißen diese: Ausgang, Zugang und Durchgang. 50 Die entsprechenden Termini in den Grundproblemen lauten: Reduktion, Konstruktion und Destruktion.51 Der erste dieser Schritte ist uns der Sache nach aus den obigen Ausfiihrungen bereits bekannt. Der Ausgang, oder die Reduktion, besagt die "Rückführung des untersuchenden Blicks vom naiv erfaßten Seienden zum Sein". 52 Die Reduktion bezeichnet also den der Philosophie gegenüber den Fachwissenschaften eigentümlichen "Schritt zurück" vom Seienden zu seinem Sein. Obwohl die Reduktion einen zentralen Unterschied zwischen Philosophie und den Fachwissenschaften trifft, ist sie nicht das zentrale Grundstück der phänomenologischen Methode. 53 Denn der Kern der Phänomenologie ist das positive Sichhinbringen zum Sein selbsu• Der zweite Schritt der phänomenologischen Methode ist eben dieser positive "Zugang" zum Sein, oder, wie es in den Grundproblemen heißt, die "Konstruktion". Die Konstruktion entwirft die Struktur des Seins (die Weise des Anwesens). In Sein und Zeit heißt es: "der methodische Sinn der phänomenologischen Deskription ist Auslegung."55 Das Sein des Seienden ist aber kein "bloßes Konstrukt" oder "nur" eine "Sache der Auslegung" (im relativistischen Sinne). Das Sein des Seienden wird in der Phänomenologie vielmehr aus-ein-

48 Sein und Zeit, S. 37. •• Sein und Zeit, S. 37. 50 Sein und Zeit, S. 36. 51 GA 24: S. 29, 30, 31. 52 GA 24: S. 29. 53 GA 24: S. 29. 54 Vgl. GA 24: S. 29. 55 Sein und Zeit, S. 37.

§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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ander gelegt und dann kon-struiert (zusammen-gefügt). Das heißt, es werden zuerst die verschiedenen Momente des Gesamtphänomens voneinander abgehoben (aus "einem" (Gesamtphänomen) werden viele "andere" (Teilaspekte) hervorgehoben), um dann letztendlich in ihrer Einheit tiefer (differenzierter) zusammen gesehen werden zu können (das Aus-ein-ander-Geworfene wird aus dem Entwurf wieder (tiefer) zusammengefügt, (natürlich ohne die Differenzierungen dabei zu verwischen)). Durch die Differenzierung der einzelnen Seinsstrukturen gewinnt die diese einigende Einheit (die Zusamrnenziehung) gewissermaßen an Reichtum und Sinn. Die Richtlinien für das Aus-legen des Seins kommen aus dem Anspruch selbst, den das Sein stellt. Auch das Zusammenfassen wird nicht mechanisch nach irgendeinem Muster vorgenommen, sondern geschieht durch das jeweilige Betrachten dessen, was sich als das Zusammenhaltende im Ausgelegten zeigt. Die Ursprünglichkeit der Auslegung läßt sich nur aus dem eigenen Nachvollzug der Auslegung erweisen: "Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im Ergreifen ihrer als Möglichkeit. "56 Die phänomenologische Methode ist also keine Technik, deren Endziele und Kriterien zur Bewertung der Endergebnisse bekannt wären: "Sobald sie das wird, ist sie von ihrem eigenen Wesen abgefallen." 57 Die konkrete Vorgangsweise ist also nicht statisch, sondern ändert sich bei der Betrachtung verschiedener Phänomene. Die Betrachtung selber birgt immer neue Möglichkeiten der Vertiefung und Weiterführung. Die Seinsbetrachtung nimmt von einem Seienden ihren Ausgang. Die "Auslegungsweisen des Seienden selbst [sind] in verschiedenen geschichtlichen Lagen verschieden. "58 Dies bedeutet, daß eine ursprüngliche Konstruktion die geschichtlich unhinterfragten Begriffe erst auf ihren Ursprung hin freilegen muß. Diesen Schritt der "Reinigung" der Begriffe59 bezeichnet Heidegger in Sein und Zeit als "Durchgang" und in den Grundproblemen als "Destruktion". Einen Begriff "destruieren" heißt nicht, die Tradition zu "zertrümmern", sondern sie in gewisser Weise tiefer zu verstehen als sie sich selbst; denn im Freilegen der verschiedenen epochalen Grunderfahrungen, die der Werdegeschichte des jeweiligen Begriffes zugrunde liegen, wird die Tradition in ihrem Wesen, d.h. auch in ihrer Herkunft, verstanden: Konstruktion der Philosophie ist notwendig Destruktion, d.h. ein im historischen Rückgang auf die Tradition vollzogener Abbau des Überlieferten, was keine NegatiSein und Zeit, S. 38. GA 24: S. 29. SI GA 24: s. 30. 59 Oder mit den Worten Heideggers: "kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind." GA 24: S. 31. 56 57

4 Helling

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I. Kap.: >>Gennanien« und »Der Rhein«

on und Verurteilung der Tradition zur Nichtigkeit, sondern umgekehrt gerade positive Aneignung ihrer bedeutet.60

Es ist auch relativ leicht einzusehen, daß diese drei Momente der phänomenologischen Methode zwar einzeln charakterisiert werden können, in ihrer Anwendung hingegen gleichursprünglich zusammen präsent sind. Der Schritt des Freitegens des Seienden hinsichtlich seines Seins (Reduktion) trägt jeden Moment der ganzen Konstruktion. Diesen Schritt während der Konstruktion zu vergessen, würde bedeuten, daß das Sein verdinglicht werden würde. Anders ausgedrückt, würde eine ontologische Untersuchung, die diesen Schritt während ihrer Untersuchung nicht mehr gegenwärtig hat, sich in eine ontische Untersuchung wandeln, d.h., sie würde anfangen, ein Seiendes durch seiende Ursachen zu erklären; dadurch würde sie aufhören, eine philosophische Untersuchung zu sein. Die Konstruktion wiederum verlangt eine vorausgehende Destruktion, um nicht auf völlig unergründetem_Boden zu konstruieren. Der Sinn der Destruktion besteht im Freilegen der Quellen für eine neue Konstruktion. Aber auch die Destruktion ist nie endgültig abgeschlossen. Im Laufe der Konstruktion zeigt sich die Notwendigkeit für weitere Destruktionen. II. Auslegung des Heiligen als des Uneigennützigen Im Lichte der vorangegangenen methodologischen Klärung ist leicht erkenntlich, daß Heidegger im Abwehren von mißverständlichen Konnotationen des Wortes "uneigennützig" methodisch sich innerhalb der "phänomenologischen Destruktion" bewegt, die den Boden flir ein ursprünglicheres Verstehen, d.h. die "Konstruktion", vorbereiten soll, im Zuge derer die durch die "Reduktion" fragwürdig gewordene Seinsweise des Uneigennützigen freigelegt werden wird. Das zu überwindende geläufige Begriffspaar, das zunächst destruiert werden soll, ist das von "Eigennützigkeit" und "Gemeinnützigkeit". Innerhalb dieses Begriffspaares könnte es scheinen, als ob Hölderlin, indem er das Heilige das Uneigennützige nennt, das Heilige mit dem Gemeinnützigen identifizieren wolle; demgegenüber hält Heidegger fest: "Das Uneigennützige ist hier nicht bloß jenes, was den Eigennutz zugunsten des Gemeinnutzens darangibt... ."•• Das "bloß" läßt bereits vermuten, daß der Gemeinnutz im Vergleich zu dem von Hölderlin genannten "Uneigennützigen" immer noch im Wesensbereich eines "Nutzens" zu denken ist, dem das ursprünglich Uneigennützige als ganzem eine Absage erteilt. Heidegger fährt auch in der Tat fort: "... sondern jene Uneigennützigkeit, die auch noch dem Gemeinnutz seine Ei60

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GA 24: S. 31 . GA 39: S. 84.

§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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gennützigkeit und das heißt V erendlichung nimmt, jene Uneigennützigkeit, die überhaupt nicht mehr im Bereich des Nutzens steht und daher auch nicht des Nutzlosen, was auch noch vom Nutzen her abgeschätzt wird. "62 Dadurch, daß das Uneigennützige gänzlich außerhalb des Begriffspaares "EigennutzGemeinnutz" steht, kann es auch nicht mehr als das "Nutzlose" angesehen werden; denn das "Nutzlose" erhält nur einen Sinn (und zwar einen privativen) innerhalb des Horizontes einer "Nutzhaftigkeit", sei diese nun eine des Eigennutzes oder Gemeinnutzes. Es ist eine nicht uninteressante Beobachtung, daß Heidegger den "Nutzcharakter" mit der "Verendlichung" in Zusammenhang bringt, indem er sagt, daß das Fortnehmen der der Gemeinnützigkeit eigenen Eigennützigkeit der Fortnahme seiner "Verendlichung" gleichkomme. Das scheint einerseits darauf hinzudeuten, daß der Mensch wesensmäßig in seiner Endlichkeit ein gewisses Maß der "Nutzhaftigkeit" in sich tragen muß, selbst wenn er ein "gemeinnütziges Leben" führt. Es deutet aber andererseits darauf hin, daß daher die Uneigennützigkeit im Sinne des Heiligen, das jeglicher Form des menschlichendlichen "Nutzens" bar ist, kein menschliches Gernächte sein kann; vielmehr ist das Erscheinen solcher Uneigennützigkeit etwas, das den Menschen überkommen bzw. ihm gegeben sein muß. Nachdem nun die Destruktion die Möglichkeit einer Auslegung des "Heiligen" im Sinne des geläufigen Verständnisses des Wortes "uneigennützig" verwehrt hat, kann die Frag-würdigkeit der folgenden Frage allererst brennend werden: "In welchem Sinne kann Hölderlin das Heilige als das Uneigennützige begreifen?"•' Zur Beantwortung dieser Frage zieht Heidegger die bereits erwähnte Abhandlung Hölderlins über die "Verfahrungsweise des poetischen Geistes" heran, da in ihr Hölderlin nicht nur sein Verständnis des Heiligen verdeutlicht, sondern sogar in Bezug zur Grundstimmung behandelt, "was in der Sprache seiner Zeit »Empfmdung« genannt wird." 64 Aus dieser Abhandlung, die Heidegger selber als "überaus schwierig"•s bezeichnet, gewinnt er die Wesensmomente des Heiligen, die sich gemäß den drei Momenten der Grundstimmung dreifach gliedern. Um die methodische Situation noch einmal zusammenzufassen, gewinnt Heidegger auf dem Ausgangsboden der phänomenologischen Reduktion, in der nach dem Sein des Heiligen gefragt wird und der GA 39: S. 84. GA 39: S. 84. 64 GA 39: S. 84. Hiennit möchte Heidegger natürlich nicht sagen, daß mit der Rede von "Empfindung" der phänomenologisch herausgearbeitete "ontologische Status" der Befindlichkeit theoretisch schon voll erfaßt ist. 65 GA 39: S. 84. 62

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in der phänomenologischen Destruktion geschehenen Abwehr der Verschüttung der Frage durch "gängige Antworten", in der phänomenologischen Konstruktion nun den Zugang zu den Wesensmomenten des Heiligen, und zwar zunächst über einen interpretierenden Nachvollzug des von Hölderlin im Hinblick auf dieses Phänomen Gesehenen und Gedachten. Bevor Heidegger eigens die "drei Seiten" des Heiligen bedenkt, erweitert er im Lichte des vorgetragenen Hölderlin-Textes den Ausgangssatz bezüglich des Heiligen als des Uneigennützigen so: "Das Heilige ist die vollendete, und das heißt nicht einseitige Uneigennützigkeit. "66 Zur unmittelbaren Erläuterung der "Uneigennützigkeit" fiigt Heidegger hinzu: "Einseitig kann die Uneigennützigkeit werden nach den Seiten, die ihrem wesensmäßigen Bau zugehören. "67 Die "Vollkommenheit" der "Uneigennützigkeit" soll in zwei Hinsichten erläutert werden: 1. Durch den positiven Aufweis, wie das Uneigennützige auf nichteinseitige Weise in bezug auf die drei Wesensmomente waltet. 2. Durch den Aufweis der "Verfallsfonnen" des Uneigennützigen, in denen eine Einseitigkeit in bezug auf die Wesenselemente waltet. 1. Der erste Grundstein des wesensmäßigen Baus des Heiligen betrifft den inneren Grund der Uneigennützigkeit. Bezüglich der vollkommenen Uneigennützigkeit gibt Heidegger folgendes an: "Sie hat einen solchen [inneren Grund] als eine Art des In-sich-ruhens, eine Weise der echten Selbständigkeit. "68 Der innere, d.h., der der Uneigennützigkeit wesensmäßige eigene ("stimmende") Grund wird also in dem "In-sich-ruhen" gefunden, das wiederum als eine Art der echten Selbständigkeit erläutert wird. Das Attribut "echt" könnte unter anderem dazu dienen, von vornherein die Meinung abzuwehren, daß das Heilige im geläufigen bzw. traditionellen Sinn von "selbständig" gefaßt werden könnte; d.h., es ist nicht im Sinne einer traditionellen Auffassung einer "causa sui" begreifbar, die in ihrer Selbständigkeit vollkommen bezuglos ist. Bereits durch den nächsten Grundstein wird diese Vermutung schon bestätigt werden, da dort der Bezug zu den Gegenständen eigens thematisiert wird. Das Heilige steht in einem Bezug, verliert aber dadurch nicht seine Selbständigkeit. Diese Selbständigkeit wird durch das "In-sich-ruhen" näher bestimmt. Die echte Selbständigkeit bewahrt in ihrem Bezug zu Anderem die "Ruhe"; sie verliert sich nicht, sondern bleibt in sich gesammelt. Es ist wichtig zu bemerken, daß diese Ruhe keine "statische Öde" ist, sondern im Sinne einer in sich gesammelten Regung zu denken ist. In dem Vortrag "Hölderlin und das Wesen

GA 39: S. 86. GA 39: S. 86. 68 GA 39: S. 86. 66 67

§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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der Dichtung", der eng mit dieser Vorlesung verbunden ist, sagt Heidegger ausdrücklich bezüglich des Phänomens der nicht nur scheinbaren, sondern ursprünglichen Ruhe (die hier in bezug auf die menschliche Teilhabe an ihr thematisiert wird): "In der Dichtung dagegen wird der Mensch gesammelt auf den Grund seines Daseins. Er kommt darin zur Ruhe; freilich nicht zur Scheinruhe der Untätigkeit und Gedankenleere, sondern zu jener unendlichen Ruhe, in der alle Kräfte und Bezüge regsam sind... "69• Diese Weise des gesammelten In-sichStehens, das im Bezug zu Anderem steht und sich dennoch nicht verliert, nennt die "echte Selbständigkeit" als der "innere Grund" des Heiligen. Der zweite Grundstein des wesensmäßigen Baus des Heiligen erläutert nun ausdrücklich das Verhältnis zu den "Gegenständen als solchen": "Sie ist diesen offen und hingegeben und stellt sich selbst dabei zurück. "70 Diese Wesenscharakterisierung beweist nun endgültig die Bezughaftigkeit der im ersten Grundstein genannten "echten Selbständigkeit". Gerade in dieser Selbständigkeit öffnet sich das Heilige den Gegenständen, ja gibt sich ihnen sogar hin. Diese Hingabe fordert wiederum, daß die in sich ruhende echte Selbständigkeit sich als solche gar nicht in den Vordergrund schiebt, sondern vielmehr "sich selbst dabei zurückstellt". Im Heiligen waltet daher einerseits ein Zug des Eröffnens, des Gebens, andererseits waltet ein Zug des Sich-zurück-Stellens, des Sichentziehens. Wie wir von dem ersten Grundstein wissen, verliert die Uneigennützigkeit im Geben nicht die Ruhe ihres inneren Grundes. Sie kann sich auch gar nicht davon beunruhigen lassen, wie ihr Geben von den Dingen an- bzw. aufgenommen wird, gerade weil es ihr nicht um einen eigenen Nutzen geht, der aus dem Geben "resultieren" sollte. Aufgrund der wesensmäßigen Uneigennützigkeit kann das Heilige geben, ohne dabei Eigenständigkeit zu verlieren; vielmehr wird der dritte Grundstein erhellen, daß das Heilige im Geben (d.h. im offenen Sichhingeben), zu dem wesensmäßig ein "Sich-zurück-stellen" bzw. "In-sich-ruhen" gehört, allererst zu seinem Wesen befreit wird. Der dritte Grundstein verdeutlicht die Beziehung als "Beziehung zwischen innerem Grund und Gegenstand". Dieses "Zwischen" ist es, "wodurch der innere Grund gefestigt und zugleich der Gegenstand gefordert und zu seiner eigenen Güte und seinem eigenen Wesen gesteigert und befreit wird. "71 Dieser Bezug ist also, wie wir bereits auch sahen, nichts Nachträgliches, sondern in und durch ihn kommen die beiden aufeinander bezogenen Wesenselemente in ihr eigenes Wesen. Dieses Eigenwesen ist wiederum nicht abgekapselt bzw. GA 4 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt: Vittorio Klosterrnann, 1981): S. 45. 70 GA 39: S. 86. 71 GA 39: S. 87. 69

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"monadisch" zu verstehen, sondern in ihrem Eigenwesen bleiben sie so aufeinander bezogen, daß sie sich gegenseitig in ihrer eigenen Güte bestärken. Das Ding empfängt die sich ihm hingebende Offenheit des Heiligen; durch dieses Sichhingeben-Dürfen wiederum kommt das Heilige zu seiner echten Selbständigkeit, die wesensmäßig den Bezug bejaht. 2. Nachdem die Vollendung des Heiligen positiv in seinem wesensmäßigen Bau aufgewiesen worden ist, wendet sich Heidegger der Möglichkeit der "einseitigen Uneigennützigkeit" zu, in der das Geschehen des vollendeten Heiligen nicht zugelassen wird. "Einseitig ist die Uneigennützigkeit mit Bezug auf 1, wenn sie sich zur Eigenmächtigkeit versteift." 72 Hier wird die "echte Selbständigkeit" ihres wesensmäßig sichhingebenden Bezugs zum Gegenstand beraubt und entartet so zur Eigenmächtigkeit, die sich selbst in den Vordergrund stellt und nicht mehr offen fiir das Andere ist. Weiters heißt es: "einseitig mit Bezug auf 2, wenn sie sich, im Gegenstand ganz aufgehend, selbst verliert. "73 Hier fehlt der Uneigennützigkeit das wesensmäßige Moment des Sich-selbstzurück-stellens im Geben, also das In-sich-ruhen im Geben. Dadurch verliert das Uneigennützige seine echte Selbständigkeit, und wird folglich von einer jeglichen Unruhe in den Gegenständen mitbeunruhigt In diesem Sinne "verliert" es sich selbst und kann nicht mehr in und mit seiner wesensmäßigen Ruhe sich in der Offenheit fiir die Dinge diesen hingeben. Die Einseitigkeit mit Bezug auf den dritten Grundstein besteht, "wenn sie nur zwischen ihrem inneren Grund und dem Gegenstand schwebt und leer bleibt, sich weder auf sich selbst versteift, fiir sich nichts will, noch sich im Gegenstand verliert, diesen auch nicht in die Sorge nimmt." 74 In dieser Einseitigkeit waltet die bedrohlichste Bezuglosigkeit. Der Bezug bleibt hier "leer" in der Schwebe. Der innere Grund versteift sich zwar nicht, will aber auch nichts "für sich", was nur heißen kann: läßt sein eigenes Wesen im Sinne der echten Selbständigkeit nicht zu. In solcher Einseitigkeit übergibt sich das Heilige nicht mehr in der wesensmäßig ruhigen Offenheit fiir die Dinge und geht somit seiner echten Selbständigkeit verlustig. Dies geschieht aber nicht mehr im Sinne des Sichverlierens an den Gegenstand, sondern in einer Art "desinteressierten Sorglosigkeit", die also nicht einmal mehr den "Willen zur Eigenmächtigkeit" als Grund des Desinteresses hat. Durch den Verlust des Bezugcharakters verwesen beide Wesenselemente des Gesamtgefiiges.

GA 39: S. 87. GA 39: S. 87. 74 GA 39: S. 87. 72

73

§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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Somit hat Heidegger die Uneigennützigkeit sowohl durch einen positiven Aufweis des "vollendeten Heiligen" als auch durch den Aufweis der möglichen Verfallsformen dargelegt. In einem zusammenfassenden Schlußsatz bringt er die Analyse des Heiligen wieder ausdrücklich in Verbindung mit der Stimmung: "Wo dagegen alle diese drei Seiten in der freien Überlegenheit der erfiillten Hingabe in der Stimmung gleichursprünglich lebendig sind, da geschieht die reine Un-eigennützigkeit, das Heilige. "75 Mit der "erfiillten Hingabe" ist hier das "lebendige", d.h. nicht einseitige Auf-einander-bezogensein gemeint, darin sich die drei Seiten gegenseitig "in freier Überlegenheit", d.h. aus dem eigenen ungezwungenen, von Zerstreuung an Unwesentliches unberührten76 Wesen heraus, fOrdern. Dieses gegenwendige Wesensgönnen ist gleichursprünglich, d.h. keines der drei Elemente läßt sich aus den anderen einfach ableiten. Daraus geht hervor, daß, obwohl der Bezug selbst in gewisser Weise ein Primat innehat, da aus ihm die beiden aufeinander bezogenen Momente allererst verständlich werden, dieser auch nicht absolut, d.h. ohne die gleichursprünglichen beiden Wesenselemente, sein könnte. Wenn dieses Geschehen in der Stimmung nun lebendig ist, d.h., im und als Eröffnen des Seienden im ganzen waltet (Welt eröffnet), dann geschieht das Heilige im Sinne der reinen Uneigennützigkeit. Durch den Gedankenstrich wird das "Un"-im Sinne der Absage an den ganzen Wesensbereich der Eigennützigkeit betont. Auch das Attribut "reine" hebt hervor, daß es sich nicht um eine Privation, sondern um einen lautere, in sich vollendete, eigene Wesensdimension handelt.

a) Das Heilige und die Neustiftung eines Gottesverhältnisses

Heidegger fahrt nun in der Vorlesung damit fort, diesen Gedanken anband der in Frage stehenden Grundstimmung der "heiligen Trauer" zu konkretisieren. In diesem Sinne heißt es im Text: Die Trauer verhärtet und versteinert sich nicht zur alles abweisenden Verzweiflung, sondern die alten Götter bleiben ihr zu lieb. Die Trauer verliert sich nicht im haltlosen Nur-Nachhängen den Entflohenen, sondern sie will nichts erbitten und erzwingen. Die Trauer verschwebt nicht ins Leere, weil sie gerade, wie sich zeigen wird, ein neues Gottesverhältnis stiftet. 77

Hier erfahren wir einerseits, daß die heilige Trauer "heilig" bleibt, weil sie sich "aus Liebe zu den alten Göttern" nicht vor diesen in eigenmächtiger Verzweif-

15

GA 39: S. 87.

76Vgl. GA 39: S. 82. 77 GA 39: S. 87.

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lung verschließt, "versteinert", sich nicht abwendet von einer jeglichen Möglichkeit einer Neubegegnung mit der Göttlichkeit, oder eine solche sogar vorderhand abweist; diese bleiben ihr "zu lieb". "Liebe" wird von Heidegger in dieser Vorlesung folgendermaßen erläutert: "Liebe ist nach alter Weisheit ein Wollen, nämlich wollen, daß das Geliebte sei, in seinem Sosein, das es ist, seinem Wesen standhalte."78 D.h., daß die heilige Trauer die Göttlichkeit der gewesenen Götter bewahren will, und dies durch eine gewisse "liebende" Offenheit ihnen gegenüber geschehen kann, die bereit ist, die Göttlichkeit in ihrem Sein zu bejahen. Diese Offenheit ist aber, um eine heilige zu bleiben, wiederum eine solche, die sich nicht gänzlich an die gewesenen Götter verliert, ihnen "nachhängt" und auch auf diese Weise eine Neubegegnung unmöglich machen würde, da eine solche einer "heiligen Grundhaltung" des Menschen bedarf, d.h. einer solchen, die nicht ihre geschehende Offenheit an eine geschehene Eröffnung zur Gänze verliert. Dadurch, daß der Mensch sich den alten Göttern weder gänzlich hingibt noch sie zur Gänze einfach abweist, könnte es zunächst den Anschein haben, als ob eine solche Beziehung "ins Leere verschweben" würde; aber in ihr, insofern sie eine heilige ist, eröffnet sich allererst der Bereich fiir eine Neubegegnung. Es gilt nun zu untersuchen, wie dieser Bereich, in dem eine Neubegegnung mit den Göttern möglich werden kann, von Heidegger gedacht wird und wie das "Heilige" diesen Bereich eröffnet und in ihm waltet. Die Weise, wie in der Stimmung ein solcher Begegnungsbereich sich eröffnet, denkt Heidegger in zwei Hinsichten: Erstens, rückt die Grundstimmung das Dasein in die Erde ein. Zweitens, entrückt sie das Dasein zu den Göttern: Die Stimmung stellt nicht etwas vor, sondern sie entrückt unser Dasein in den gestimmten Bezug zu den Göttern in ihrem So-und-so-sein. Sofern aber die Götter das geschichtliche Dasein und das Seiende im Ganzen durchherrschen, rückt uns die Stimmung aus der Entrückung zugleich eigens ein in die gewachsenen Bezüge zur Erde, Landschaft und Heimat. Die Grundstimmung ist demnach entrückend zu den Göttern und einrückend in die Erde zugleich.79

Die Entrückung zu den Göttern ist also im Vollzug nicht zu trennen von der gleichursprünglichen Einrückung in die Erde. Diese beiden Wesensmomente bilden den in sich geeinten Bereich der möglichen Neubegegnung mit den Göttern. Es gilt nun, diese Wesensmomente, zunächst unter thematischer Abblendung des jeweils anderen, zu erläutern, um einen Einblick in die konstitutiven Momente dieser wesentlichen (Viel-) Einheit zu gewinnen.

78 79

GA 39: S. 82. GA 39: S. 140.

§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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a) Die Einrückung in die Erde Die "Macht der Erde" zeigt sich in der wohlverstandenen "Heimat"; diese darfnicht "als der bloße Geburtsort, auch nicht [als] die vertraute Landschaft"Bo aufgefaßt werden. Vielmehr ist sie der Ort, an dem der Mensch sich "erst als zugehörig der Erde" Bt erfahrt; hier erfährt der Mensch: "diese Heimat hat es gar nicht erst nötig, daß Stimmungen in sie verlegt werden, weil sie gerade stimmt, und um so unmittelbarer und ständiger stimmt, als der Mensch in einer Grundstimmung dem Seienden von Grund aus offen steht. "B2 Je mehr sich also der Mensch von einer Grundstimmung in die Offenheit seines Wesens versetzen läßt, desto deutlicher zeigt sich, daß der Mensch nicht den Dingen gegenübersteht, sondern mitten in sie hineinversetzt ist und in seinen Stimmungen von diesen durchstimmt wird. Obwohl der Gedanke der Erde über das in Sein und Zeit gedachte Phänomen der Befmdlichkeit hinausgeht, kann hierin eine verwandelte bzw. weiterentwickelte, oder "tiefer begründete" Analyse desjenigen Phänomens gesehen werden, das in Sein und Zeit mit dem dritten ontologischen Wesenscharakter der "Angewiesenheit" erblickt wurde. Dieses Hineinversetztwerden des Menschen in seine Zugehörigkeit zur Erde, dieses Sichbekunden seiner Angewiesenheit ist aber kein Mangel, sondern fiihrt vielmehr zur Gewinnung des "Bodens", auf dessen Grund der Mensch eigentlich offen werden kann: "Diese Trauer ist kein hoffnungs- und zielloses Umherirren einer bodenlosen Stimmung, sondern diese Gestimmtheit faßt Boden im Land und stellt dieses erharrend unter den drohenden Himmel. "B3 Der fiir uns wichtige Aspekt in diesem Zitat ist das "Bodenfassen", das durch die Stimmung möglich wird, insofern sie den Menschen in die Erde hineinversetzt. Hierdurch irrt der Mensch nicht "ziellos" umher, sondern gewinnt gewissermaßen den Ort, an dem er den Göttern im Erharren seine wesensmäßige Offenheit widmen kann. Die erdhafte Angewiesenheit des Menschen kann nicht als "Kontingenzerscheinung" gefaßt werden, sondern ist vielmehr ein notwendiges Moment seiner "Eigen-ständigkeit", die ihm auf Grund der Erde, der er wesensmäßig zugehört, zuteil wird. Die Erde wird so zur "Bedingung" dafiir, daß der Mensch gestimmt in der Welt existieren und in ihr "schauen" kann: "Die bereite Erde ist Bedingung dafiir, daß jener zu schauen vermag und schauen will. In dem »mag« schwingt

GA 39: S. 88. GA 39: s. 88. 82 GA 39: S. 88. 83 GA 39: S. 93.

80

BI

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der Doppelsinn des Könnens und des Wollens. "84 Zunächst ist zu bemerken, daß dadurch, daß die Erde zur Bedingung der gestimmten Existenz des Menschen wird, nicht gesagt wird, daß sich die daseinsmäßig-gestimmte Offenheit auf das Erdhafte reduzieren ließe. Das Erscheinen der Erde als das ursprünglich Stimmende ist nach wie vor nur möglich auf Grund des befmdlichen Daseins, das in seiner wesensmäßig gestimmten Offenheit die Erde und die Zugehörigkeit des Menschen zu ihr allererst ursprünglich erschließt. Weiters gilt es zu sehen, daß die Erde das gestimmte Existieren des Menschen auf eine Weise bedingt, die den Menschen nicht, wie schon oft betont, zu einem "kontingenten" Moment ihrer selbst macht, sondern daß sie den Boden dafiir bietet, daß der Mensch auf ihr existieren kann, daß sie den Menschen ein eigenständiges Vermögen verleiht, also sein "Können" ermöglicht und sein freies "Wollen" nicht in Abrede stellt. Die Erde läßt es einerseits zu, der Ort zu werden, an dem sich die Sterblichen fiir eine Begegnung mit den Göttern bereiten, andererseits läßt sie es auch zu, durch eigensüchtiges Ausbeuten der menschlichen Willkür verschüttet zu werden. Hier entschwindet ihr potentieller Charakter, das Göttliche in sich aufnehmen zu können, gänzlich in den Hintergrund: "Die Erde wird dann bloße Stätte der Nutzung und Ausbeutung. "85 In diesem Sinne wird nun verständlich, wie uneigennützig die Erde den gestimmten Menschen "bedingt", wie uneigennützig sie den Menschen ihr zugehörig sein läßt: Sie schenkt ihm die Möglichkeit des Gründens eines Ortes fiir die Vorbereitung einer Begegnung bzw. Wiederbegegnung mit dem Göttlichen, aber sie gewährt ihm auch die Möglichkeit, in götterloser Weise die Erde auszubeuten. Wegen dieses Zuges der Uneigennützigkeit kann die Erde in ihrer Heiligkeit erscheinen, sofern ihr diese Weise zu erscheinen durch eine entsprechende Grundhaltung von Seiten des Menschen gewährt wird: "Wo sie [die Erde] dagegen in der Uneigennützigkeit des eigentlichen Daseins sich offenbart, ist sie heilig - heilige Erde. "86 Hieraus erhellt sich, daß das Heilige nicht etwa nur in der Grundstimmung des Menschen waltet, sondern es zeigt sich auch in dem durch die Grundstimmung des Menschen eröffneten Wesensbereich der Erde. Es ist somit naheliegend, daß das Heilige nicht nur irgendeinem "Teilbereich" der Erschlossenheit eigen ist, sondern gewissermaßen in allen Bereichen der (wahrheitsmäßigen) Erschlossenheit walten kann, insofern in diesen ein Zug der Uneigennützigkeit sich offenbart.

GA 39: S . I 04. GA 39: S. 105. 86 GA 39: S. 105. 84 85

§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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Zuletzt wird die Erde, insofern sie heilig ist, auch diejenige genannt, die den "Abgrund" trägt. Die Tragweite dieses Wortes wird sich erst gegen Ende des zweiten Kapitels erhellen. Es sei hier nur vorgemerkt, daß die Erde nicht mit dem Abgrund identifiziert wird, sondern diesen in gewisser, noch genauer zu klärenden Weise trägt. 87 Aber auch der Mensch hat an diesem Abgrund teil: "Der Mensch, der »dichterisch wohnet auf dieser Erde«, er und er allein ist auch dem Abgrund, den die Erde trägt, zugehörig. "sa Hieraus erfahren wir, daß der Mensch in ganz besonderer Weise in bezug auf den Abgrund zu denken ist und daß hierbei das dichterisch-stiftende Wort von vorzüglicher Bedeutsarnkeit ist89 ; terminologisch wird dieser besondere Bezug hier als "Zugehörigkeit" gefaßt. Obwohl der Abgrund zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unerläutert bleibt, deutet sich doch an, daß das Heilige in einem engen Zusammenhang mit dessen In-Erscheinung-Treten als Abgrund steht.

ß) Die Entrückung zu den Göttern

Nachdem in groben Zügen erhellt worden ist, inwiefern die Grundstimmung den Menschen in die Erde einrückt und wie sich hier das Heilige bekunden kann, muß die Untersuchung nun den zweiten Grundzug des einheitlichen Gesamtgeschehens in den Blick nehmen: Die Entrückung zu den Göttern. Das Dasein wird entrückt, insofern seine wesensmäßige Offenheit sich als eine solche erweist, die zu den gewesenen Göttern zurückreicht und in der erharrenden Bereitschaft in die Möglichkeit zukünftiger Neubegegnung mit dem Göttlichen eingelassen ist. Hiermit wird schon ersichtlich, daß die Entrückung eine genau zu untersuchende, eigentümliche Zeitlichkeit nennt. Diese beginnt sich zu erhellen, wenn beachtet wird, daß die "vergangenen Götter" Hölderlins von Heidegger als "gewesene" (bzw. gewesende) gedacht werden und damit im Bereich des "noch Wesenden" 90 bleiben. Gemäß der alltäglichen Bedeutung von "Vergangenheit" müßte eher das folgende angenommen werden: "Das Vergangene ist unabänderlich abgeschlossen, unwieder-

87 Im zweiten Kapitel wird sich durch eine Untersuchung der Beiträge erweisen, daß Heidegger die Erde hier schon im Sinne der "Bergung" denkt. 88 GA 39: S. 106. 89 Eigentlich zugehörig ist er dem Abgrund aber nur, sofern er "dichterisch" wohnt, d.h., wie sich erweisen soll, sofern er im nennenden Wort das Ereignis der sichlichtenden Verbergung offenbar macht und durch die erdhafte Verlautbarung ins Seiende birgt. 90 GA 39: S. I 07.

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bringlich; ... Das Vergangene liegt vor dem Tor zur Gegenwart und kann nie wieder in diese zurück und herein. "91 Hier zeigt sich deutlich das Phänomen der "vulgären Zeit", das Heidegger an vielen Stellen ausführlich analysiert."2 Diese Zeitlichkeit geht von dem gegenwärtig vorhandenen "Jetzt" aus, an dem gemessen das vergangene "Jetzt" und das zukünftige "Jetzt" "nicht mehr" bzw. "noch nicht" sind. Die ursprüngliche Zeit hingegen entrückt das Dasein in die ganze Spannweite seines Wesens, von wo aus gesagt werden muß: "Das Gewesene aber ist das noch Wesende, das wir in gewisser Weise selbst sind, indem wir es, es vor uns bringend, es bewahrend und nach vorne tragend oder auch es abstoßend oder vergessen wollend, in unser Da-sein hereinstehen lassen. "93 Hieraus wird deutlich, daß der Mensch wesensmäßig in die drei zeitlichen Bereiche bzw. Ekstasen entrückt ist und sich irgendwie zu diesem Wesen verhalten muß. In der Uneigentlichkeit, versucht er seiner eigenen Wesensspannweite ledig zu werden, sie abzustoßen oder sie verdrängend zu vergessen. In dieser Uneigentlichkeit waltet eine Einengung, ein Nicht-Zulassen des menscheneigenen Wesens: "Uneigentlich ist es immer, im Gegensatz zur Entrückung, ein in sich Zusammenhocken auf einem je wechselnden Heute. "94 In dem eigentlichen Verhalten zur Zeitlichkeit läßt der Mensch seine Wesensweite eigens zu. Heidegger erläutert dies in dem oben genannten Zitat durch: "vor uns bringen" des Gewesenen, "es bewahrend und nach vorne tragend" und "es in unser Da-sein hereinstehen lassen". Wie wir bereits sahen, wird das Gewesene in seinem Anspruch "vor uns gebracht", wenn wir uns vor den Göttern nicht eigenmächtig verschließen. Dadurch, daß wir ihnen gegenüber eine "heilige Offenheit" walten lassen, die sich nicht an die vergangeneo Götter verliert, werden sie gerade in ihrer Göttlichkeit bewahrt und dadurch "nach vorne getragen", so daß ihre Göttlichkeit aufuns wieder zukommen, d.h. zu-künftig sein kann. Der Boden, auf dem solch eine Ent-scheidung (nicht im Sinne eines setzenden Willensaktes, sondern im Sinne einer wesensmäßigen "Öffnung für etwas") fallen kann, ist, wie wir sahen, der Ort, der dem Menschen durch sein wesensmäßiges Eingelassensein in die Macht der Erde zukommt. In solchem Ort wurzelnd, der eine eigene Weite in sich birgt, kann sich der Mensch seiner geschichtlichen Wesensweite und d.h. seinem wesentlichen Entrücktsein in die ursprüngliche Zeit öffnen: "In diesem Nach-vorne-walten des Gewesenen in die Zukunft, die rückweisend das schon früher sich Berei-

GA 39: S. 108. Vgl. z.B. GA 24: §§ 19ff. 93 GA 39: S. I 08. 94 GA 39: S. 109. 91

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§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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tende als solches eröffnet, waltet das Zu-kommen und Noch-wesen (Zukunft und Gewesenheit) in einem: die ursprüngliche Zeit. "95 Aus dieser Zeitlichkeit erhält das "Vergehen-können" des Göttlichen einen gewandelten Sinn. Es heißt nicht mehr: "nichtig" geworden, "zugrundegegangen", sondern: "vorbeigehen, nicht bleiben, nicht ständig anwesend dastehen, d.h. der Sache nach: wesend als Gewesendes, anwesend in einem kommenden Andrang. "96 Mit anderen Worten: Das Vergehen der Götter im Sinne des "Vorbeigehens", d.h. des immer wieder, stets "neu" Ankommen-könnens des gewesenen Göttlichen, kann sich nur einem Dasein eröffnen, das seine eigene Wesensweite eigentlich zuläßt. Nur einem Dasein, das, getragen von der Macht der Erde, in seinem Andenken an die gewesenen Götter in der Grundstimmung der heiligen Trauer bereitwillig deren andrängende Zu-kunft erharrt, kann der Sinn eines "Vergehens" des Göttlichen aufgehen. Solch ein Vergehen ermöglicht einerseits die Entfaltung der gewesenen Erfahrung: "Das lange Gedenken und Behalten in der Erinnerung ist die Art, in der die Nähe der Götter sich gleichsam entfaltet. "97 Solche Entfaltung kann, andererseits, zu einer reineren Bereitschaft führen, die einen Raum für eine Neubegegnung mit dem Göttlichen schafft. Gerade auf diese Weise ist das Göttliche nie "bloß vergangen", sondern auf gewisse Weise "ewig". Den Sinn dieser Ewigkeit, "der dem alltäglichen Charakter der Zeiterfahrung als ungereimt erscheinen muß" 9", kann die uneigentliche Daseins weise, welche die eigene Wesensspannweite unterdrückt, niemals zulassen, da für sie die Wesensweite, die eine Begegnung mit dem Göttlichen ermöglicht, "nichtig" ist, im Sinne des "nicht-mehr Seienden" und "noch-nicht Seienden".

111. Zusammenfassung des in der Grundstimmung der "heiligen Trauer" eröffneten Bereiches

Die Einheit der Erschlossenheit bzw. Offenheit des Daseins, die durch die Stimmung dem Dasein eröffnet wird (ohne daß sie natürlich vom Dasein gesetzt werden würde), läßt sich nun nach den untersuchten zwei Hinsichten so zusammenfassen: Sie ist zeit-räumlich, wobei der Sinn dieser Bestimmung im Laufe der Arbeit sich immer deutlicher erhellen wird. In den Worten Heideggers: "Die Grundstimmung bestimmt unserem Dasein den ihm selbst offenbaGA 39: S. GA 39: S. 97 GA 39: S. 9 " GA 39: S. 95

96

I 09. II!. 111. II!.

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renOrtund die Zeit seines Seins (weder Ort räumlich noch Zeit zeitlich im gewöhnlichen Sinne)."99 Daß der Ort nicht "räumlich" zu denken sei, heißt hier, daß er nicht im Sinne eines im dreidimensionalen Raum vorkommenden Punktes vorzustellen ist. Vielmehr ist er der Boden, auf dem das Dasein von der Macht der Erde durchwaltet wird und in diesem Durchwalten gerade in die Möglichkeit seiner Wesensentfaltung eingerückt wird. Daß die Zeit nicht zeitlich zu denken ist, heißt natürlich hier, daß sie nicht an der "vulgären", chronologischen Zeit zu messen ist, sondern im Sinne der wesensmäßigen Entrükkung des Daseins in seine ekstatische Spannweite verstanden werden muß. Dies ist also der Bereich, den das Heilige in der Grundstimmung der Heiligen Trauer auf einzigartige Weise, nämlich auf rein uneigennützige Weise, eröffnet und in dem es auch im Begegnenden (wie wir in bezug auf die "heilige Erde" sahen) anwesen kann. Die uneigennützige Weise, in der dieser Bereich eröffnet wird, wurde durch die drei Hinsichten des "Sich-nicht-Versteifens", "Sich-nicht-Verlierens" und "Neubegegnungsbereich-Stiftend bzw. -Eröffnend" genannt. Die Uneigennützigkeit zeichnet sich hierbei durch ein Zulassen des jeweils Anderen aus, das nicht aus Eigennutz, sondern umwillen des Anderen geschieht (wobei der "Wille: daß der andere sei" von Heidegger, wie wir sahen, auch "Liebe" genannt wurde 100) . Aber gerade dadurch fördert sich alles in solch einer "heiligen Beziehung" Eingelassene gegenseitig. Heilig ist diese Förderung, in anderen Worten, da sie nicht auf Eigennutz basiert, sondern in Uneigennützigkeit "unintendiert", "ungewollt", gewissermaßen "gelassen" geschieht. Diese vom Heiligen durchwaltete Grundstimmung eröffnet also das Seiende im ganzen dem Dasein auf eine Weise, in der es sich in einem wechselwendigwesensgönnenden Bezug zu allem erfahren kann. "Dieses Beiwort »heilig« hebt die Stimmung hinweg über alle Zufalligkeit. ... " 101 In dieser Grundstimmung west das Dasein nicht nur nicht mehr in einer Abkehr von seiner Geworfenheit, sondern erfahrt diese auch ursprünglicher als (zu eigen gegebene) Möglichkeit, Sinn-stiftend an einem Ort existieren zu können und dadurch eine Bereitschaft zu pflegen, in der die Göttlichkeit der gewesenen Götter wieder in einer neuen Sinnhaftigkeit erscheinen kann. Auf gewisse, noch genauer zu klärenden Weise, "drängt sich" diese schon an und scheint auf die "Bereitschaft" des Daseins zu warten.

GA 39: S. 141. Vgl. GA 39: S. 82 und S. 94. 10 1 GA 39: S. 87.

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§ 2. Auslegung der Grundstimmung der "heiligen Trauer"

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Hier deutet sich an, daß sich die Erfahrung der "Geworfenheit" des Daseins

im Sinne eines "daß es ist und zu sein hat" wandelt, und zwar in die Richtung einer Einsicht, "daß ihm Sein über-eignet wird", d.h., daß es nicht primär sein

"muß", sondern sein "darf'. 102 Hierin bekundet sich, daß in dieser Vorlesung bereits wesentliche Schritte in Richtung des Ereignis-Denkens geleistet wurden, das sich, wie wir noch genauer untersuchen werden, unter anderem ja dadurch auszeichnet, daß die anonyme "Geworfenheit" aus Sein und Zeit in ihrer Herkunft aus dem Seyn erfahren wird, und diese Herkunft im Namen Ereignis genannt wird (wodurch das "geworfene Dasein" sich zum "ereigneten Dasein" wandelt). In dieser Vorlesung zeigt sich aber auch mit massiver Klarheit, daß, obwohl wesentliche Schritte in Richtung des Ereignis-Denkens hier bereits vollzogen wurden, die in Sein und Zeit gesehenen Phänomene nicht einfach "fallengelassen" oder gar "verworfen" werden, sondern in teilweise verwan102 Bezüglich des inneren Zusammenhangs von "müssen" und "dürfen" sind auch folgende wortgeschichtliche Begebenheiten nicht uninteressant: Das gotische "gamötan", das im germanischen Bereich unsere früheste Quelle flir den etymologischen Sinn des neuhochdeutschen Wortes "müssen" ist, hat zunächst einmal die konkrete Bedeutung von "Raum fassen/ haben" (es war also ein Vollverb und kein Hilfsverb). Es ist eines der Präterito-Präsentien, d.h., ursprünglich eine Vergangenheitsform (zu einer nicht überlieferten präsentischen Verbform), die eine Art resultative Präsensbedeutung angenommen hat. So wie "ich weiß" als "ich habe gesehen, daher weiß ich jetzt" zu verstehen ist, muß "ich habe Raum" ursprünglich als "mir ist eine Stätte zugemessen worden, daher habe ich Raum" verstanden werden. Dieses Wort übersetzt jedenfalls bei Wulfila das griechische xwpEtv. Bei Markus II, 2, wo es heißt, daß so viele Leute zusammenkamen, daß sie das Haus nicht mehr alle "fassen" konnte ("Kai. EU6Ews avv~xellaav iTOAAOl, WaTE llllKETl xwpEtV llllOE TQ iTpOs T~V Supav, Kai. EAclAEl auTots Tov A6yov"), steht als Übersetzung in der Wulfila-Bibel: "jah suns gaqemun managai, swaswe juthan ni garnostedun nih at daura, jah rodida im waurd", d.h. "... so daß sie schon nicht einmal mehr bis zur Tür »gemußten«", also keinen Platz mehr hatten. Dann hat dieses Wort aber auch die "pneumatische" Bedeutung "flir jemanden in seinem Herzen Raum haben". So heißt es bei Wulfila in der Übersetzung von li Kor. 7, 2 "xwp~aaTE iJildS" im Optativ: "gamöteima in izwis", "»müssen« wir bei euch", d.h. "mögen wir Raum finden/haben bei euch", im Sinne von "möge uns Raum gegeben sein in eurem Herzen", "mögen wir bei euch im Herzen wohnen dürfen" (Die Wulfila-Zitate sowie die Zitate aus der rekonstruierten griechischen Vorlage sind entnommen aus: Die Gotische Bibel. Hrsg. von Wilhelm Streitberg. Heidelberg: Winter, 3}950). Im Mittelalter hat es dann die Bedeutung von "dürfen" (zugemessener Frei-raum) und "müssen" (der als Pflicht zugemessene, zu verantwortende Raum). Auch die "Muße" (mhd. muoze) im Sinne der Frei-zeit kommt natürlich von diesem Wort. Erst in der Neuzeit geht die Bedeutung von "dürfen" im Wort "müssen" verloren (vereinzelte Ausläufer der alten Bedeutung finden sich aber noch bis zu Lessing).

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I. Kap.: »Gennanien« und »Der Rhein«

delter, vertiefter Weise mitaufgenommen werden. Immer wieder stießen wir während der oben dargelegten Interpretation auf Gedanken, die mehr oder weniger direkt auf das Gedankengut von Sein und Zeit verwiesen. Selbst terminologisch schließt Heidegger auch in dieser Vorlesung an vielen Stellen an die Analysen von Sein und Zeit an. 103

§ 3. Der Vorblick auf das Heilige in der Auslegung der Rhein-Hymne Wie bereits angedeutet, kommt Heidegger in seiner Auslegung der RheinHymne rückblickend noch einmal auf die Grundstimmung der "heiligen Trauer" zu sprechen 104 • In dieser Stimmung wird ein Bezug zu den gewesen(d)en Göttem gestiftet und das Wiedererscheinen des Gotthaften dadurch vorbereitet. Solche Vorbereitung geschieht, indem sich das Dasein durch diese Grundstimmung einerseits zu den Göttern (in ihrer Gewesenheit) versetzen läßt, zumal sich aber nicht an das Gewesene verliert, sondern im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick auf der Erde "Fuß faßt" bzw. sich in die Erde "hineinversetzen" läßt, um dort die Aufgabe der "Erharrung" des kommenden Göttlichen zu übernehmen. In der Rhein-Hymne vollzieht sich nach Heideggers Interpretation ein gewichtiger Schritt in die Richtung einer Wesensentfaltung des Prozesses des Geschichtlichwerdens des Bezugs von Menschen und Göttern. Das Phänomen des Heiligen steht während dieser Untersuchung zwar schon im Vorblick, wird aber erst am Ende ausdrücklich thematisiert, indem sich Heidegger einer kurzen Auslegung der Hymne "Wie wenn am Feiertage ... " widmet. Zu einer weitaus umfangreicheren Auslegung dieser Hymne kommt Heidegger in einem späteren Vortrag, der den Titel dieser Hymne trägt; mit der Analyse dieses Vortrages werden wir uns ausfUhrlieh im nächsten Kapitel befassen. Zuvor soll aber noch (urnrißhaft) angezeigt werden, inwiefern bereits in der Auslegung der RheinHymne ein gewisser (wenn auch noch nicht in allen Hinsichten ursprünglich entfalteter) Vorblick auf das Heilige maßgebend ist und wie es sich hier vor allem im Bezug auf den Dichter zeigt. Zu dem Geschehen der Begegnung von Menschen und Göttern gehören wesensmäßig die Halbgötter, die den "Zwischenbereich" eröffnen und offen halten, in dem es zu solcher Begegnung kommen kann. Der "Rhein" erweist sich 103 Vgl. z.B . den Gebrauch des Terminus "Überantwortung" auf den Seiten 14lff (GA 39), wo Wesenscharaktere der Grund-stimmung zusammengefaßt werden. 104 GA 39: S. 18lf.

§ 3. Auslegung der Rhein-Hymne

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hier als einer dieser "Halbgötter", der in seinem Strömen für das Fruchtbarwerden dieses "Zwischen" sorgt: "Das Strömen vollends ist je ein schaffendes bauend, nährend, griindend. " 105 Der Rhein ist nicht etwa ein dichterisches Bild für einen Halbgott, sondern er trägt das stiftende Wesen der Halbgötter ins Seiende aus. 106 Er vereint in sich den Wesenszug des göttlich-himmlischen Ursprungs und den dunklen, zur Verbergung neigenden Wesenszug der Erde. Indem er diese Wesenszüge in sich vereint und sowohl das Lichte als auch das Verborgene ins Land trägt, eröffnet er dieses für das Wohnen der Menschen. Der Dichter wiederum muß ebenfalls als ein Schaffender, d.h. also als ein Stiftender, mit diesen Halbgöttern eng zusammengedacht werden: "Zu diesen Halbgöttern gehören die Schaffenden selbst, zu diesen die Dichter." 107 Er vermag im dichterischen Wort den Ursprung des Stromes zu dichten, d.h., ins Wort zu heben und den Menschen Kunde davon zu bereiten; diese Kunde wiederum verweist die Mitmenschen auf den Bereich des Göttlichen, den sie von sich aus "fliehen", weil sie das wesensmäßige Unheimliche des Ursprungsgeschehens "an sich" nicht aushalten und sich lieber an das absicherbare Seiende halten: "Die Sterblichen fliehen vor dem Ursprung, wollen ihn vergessen, weichen seiner Furchtbarkeit aus und halten sich nur an das, was entsprungen ist, ohne das Entsprungensein als solches zu bedenken." 108 Die Dichter aber hören auf das "unheimliche", d.h. vom Seienden her nie faßbare, Geschehen des Entspringens und vermitteln die Kunde vom Ursprung dichterisch den Mitmenschen. Durch das Vernehmbarmachen dieses Ursprungsgeschehens, an dem die Götter wesentlich mitbeteiligt sind, wird in einer geschichtlichen Epoche das Gotthafte "ins Seiende" gebracht, d.h. worthaft anrufbar. Dieses dichterische Stiften denkt Heidegger gegen Ende seiner Auslegung der Rhein-Hymne in bezugauf die Hymne "Wie wenn am Feiertage... ", dessen erste drei Strophen er zitiert und kurz auslegt. Der leitende Hinblick dieser Auslegung ist das in diesem Gedicht gedichtete Wesen der Dichter: Wir wollen dabei vor allem auf jenes Gedicht zurückkommen, das uns von Anfang an die Hinweise auf das Wesen des Dichters und der Dichtung geliehen hat, jenes Gedicht, das ohne Überschrift ist und beginnt: »Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn/ Ein Landmann geht«. 109

GA 39: S. 265 . Wie dieser Sachverhalt ereignisgeschichtlich im Sinne der "Bergung" zu verstehen ist, wird sich im Zuge dieser Arbeit noch wesentlich erhellen. 107 GA 39: S. 259. 108 GA 39: S. 200. 109 GA 39: S. 252. 105

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5 Helling

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I. Kap.: »Gennanien« und »Der Rhein«

Obwohl sich in der Auslegung dieses Gedichtes erweist, daß das dichterische Sagen dem Seyn selbst (der ursprünglich verstandenen "Natur" (und d.h. dem Heiligen)) entwächst, so findet sich bei Heidegger im Zuge der Interpretation dieser Hymne doch eine gewisse thematische Betonung, die eher das Sagen des Ursprungs als den Ursprung selbst hervorhebt. Natürlich bleibt solches Sagen immer auf den Ursprung bezogen: "Das Sagen der Dichtung entwächst dem Seyn, aber nur, damit es dieses Seyn in sich bewahre und so »von beiden zeuge« (V. 49), von den Göttern und den Menschen, als deren Mitte das Reinentsprungene, das Geheimnis, die Innigkeit, west. "110 Wie wir in Kürze sehen werden, legt Heidegger in seinem späteren, diese Hymne betreffenden Vortrag die thematische Betonung zunächst auf den Ursprung, interpretiert diesen ausdrücklich und ausfuhrlieh als das Heilige und denkt dann das dichterische Sagen von ihm her und auf es zu. Die beiden Verszeilen dieser Hymne, die direkt vom Heiligen sprechen und im späteren Vortrag zum interpretatorischen "Angelpunkt" ·dieses Gedichtes werden, zitiert Heidegger auch am Ende der "»Germanien« und »Der Rhein«"-Vorlesung noch einmal, nicht aber um zunächst das Heilige als das Heilige zu thematisieren, sondern um gleich den geschichtlichen Auftrag, den das Heilige an Germanien stellt, zu betonen. Die Verse lauten: "Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,/ Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort." 111 Den geschichtlichen Auftrag deutet Heidegger so an: "Jenes schwer zu tragende Glück ist dem Volke dieses Landes aufgetragen: ein Zwischen zu sein, eine Mitte, aus der und in der Geschichte gegründet wird. "112 Es geht also um das geschichtliche Offenhalten des Wesungsbereiches des "Zwischen", in dem der Ursprung nicht mehr geflohen wird, sondern in dem der Ursprung sich in der Begegnung von Göttern und Menschen auf der Erde ereignen kann. In den späteren Hölderlin-Auslegungen werden die verschiedenen Züge, die in dieser ersten Hölderlin-Vorlesung in bezug auf das Heilige anklingen, weiter entfaltet werden. Wie eben erwähnt, wird der spätere Vortrag "Wie wenn am Feiertage ... " markant das Gewicht auf eine Besinnung auf die Wesenszüge des Heiligen selbst legen, um das dichterische Sagen dann ausfiihrlicher aus diesem her und auf es zu zu denken; auch die Geschichtlichkeif des Heiligen wird aufgrund späterer Sesinnungen weitere Erläuterungen erfahren (vor allem in den späteren Vorlesungen über die Hymnen "Andenken" und "Der Ister"). Das Heilige wird zwar wie in dieser ersten Hölderlin-Vorlesung auch in seiner geschichtlichen Entfaltung durch die Begegnung von Menschen und Göttern gedacht werden, aus dem ein zukünftiges, ursprünglicheres Wohnen auf Erden GA 39: S. 256f. GA 39: S. 288. 11 2 GA 39: S. 289.

110 111

§ 3. Auslegung der Rhein-Hymne

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sich ereignen könnte, aber der Bezug zum Heiligen in diesem Geschehen wird eine namhafte Betonung erfahren und die Begegnung von Menschen und Göttern wird (sprachlich) einen "friedlicheren" Urcharakter annehmen. Zwar muß betont werden, daß die Rede von "Streit", "Kampf'', "Feind(-)seligkeit" und "Entmachtung", die in der Auslegung der Rhein-Hymne immer wieder auftaucht, nicht im Sinne der alltäglichen Bedeutungen dieser Worte von Heidegger verstanden wurde, sondern vom heraklitischen rroA.E~OS' her gedacht wurde als eine Aus-ein-ander-setzung, die das Wesenhafte hervorbringt und auch bewahrt113; aber der wesensgewährende, gunstdurchwaltete Zug dieses Geschehens (der letztendlich aus dem Freigabe-Charakter des Heiligen zu verstehen ist) wird in den späteren Texten sprachlich wesentlich deutlicher zum Vorschein gebracht werden. 114 Nach diesem ersten Überblick über die Grundgedanken, die sich in Heideggers erster Auslegung des Heiligen bei Hölderlin zeigen, wollen wir uns nun den Vertiefungen und erläuternden Wesensentfaltungen dieser Wesenszüge ausführlicher zuwenden.

113 Vgl. z.B. GA 39: S. 125: " ... der Kampf bewahrt und verwaltet auch und gerade das Seiende in seinem Wesensbestand." 114 Der Streit-Gedanke Heraklits wird später nicht einfach fallengelassen, aber er wird durch die ausfUhrliehen Gedanken zu Heraklits Rede von der LA.ta, also der Liebe, Gunst, die dem Lichtungs- und Verbergungsgeschehen innewohnt, (sprachlich) in ein anderes Licht gerückt. Die Möglichkeit des zersetzenden Streites wird in den späteren Vorlesungen immer deutlicher in bezugauf die Verunwesung bzw. die Mißachtung des ursprünglichen Gabecharakters des Entsprungenen gedacht, der aus dem (Iiebevoll)gewährenden Grundzug des Heiligen zu verstehen ist. Vgl. z.B. GA 52 (Andenken . Frankfurt: Vittorio Klostermann, 2!982): S. 100-103.

s•

2. Kapitel Heideggers Auslegungen der Grundzüge des Heiligen in dem Vortrag »Wie wenn am Feiertage...« (1939) Die erste großangelegte Auseinandersetzung mit Hölderlins Dichtung des Heiligen fmdet sich bei Heidegger in einem Vortrag, der den Titel des Gedichts "Wie wenn am Feiertage ... " trägt und der mehrere Male in den Jahren 19391940 von ihm gehalten und 1941 veröffentlicht wurde. In diesem Gedicht entdeckt Heidegger einen äußerst bedeutsamen Übergang in der Dichtung Hölderlins: Indem Hölderlin die Natur als "das Heilige" dichtet', bahnt sich ein neues Naturverständnis an, welches über das hinausgeht, was "Hölderlin selbst bis zu dieser Hymne noch im »Hyperion« und in den ersten Empedokles-Entwürfen mit dem Wort »Natur« sagt. .. "2 • Diesem sich anbahnenden neuen Naturverständnis gilt es jetzt schrittweise nachzudenken. Da sich hier die ersten großangelegten Gedanken Heideggers zum Phänomen des Heiligen fmden, wird eine sehr genaue Textinterpretation nötig, um einen gediegenen Boden zu gewinnen, auf dem Vertiefungen und Entfaltungen im späteren Denken Heideggers leichter erkennbar gemacht werden können. Wir beginnen unsere Auslegung an dem Punkt des Vortrages, wo die Überlegungen bezüglich eines ursprünglichen Naturverständnisses zur Auslegung von Hölderlins Wort vom "Heiligen" übergehen (§ 4). Das im Vortrag diesem Punkte vorhergegangene Gedankengut, welches sich in relativ groben Zügen dem Aufbau der beiden Anfangsstrophen des Gedichtes widmet, wird im Verlauf der weiteren Auslegung an den entsprechenden Stellen nachgetragen werden. Der zweite Hauptpunkt erarbeitet Heideggers Interpretationen der in Hölderlins Dichtung genannten mannigfaltigen Grundzüge des Heiligen. Anders gewendet, wird hier das im Wort "das Heilige" genannte Phänomen durch eine philosophische Auslegung der verschiedenen "Wesenszüge" des Heiligen entfaltet, die Hölderlin dichterisch ans Licht bringt(§ 5). Nachdem das Wesen des 1 Noch genauer müßte vielleicht gesagt werden: In diesem Gedicht weicht das bisherige Naturverständnis der neuen Ahnung vom "Heiligen" bzw. wird die 4>tX1lS' in ihre Wesensherkunft zurückgeborgen. 2 GA 4 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1981): s. 56.

§ 4. Vorbereitung ftir die Auslegung des Heiligen

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Heiligen in sorgfaltiger Analyse erhellt worden ist, kann in einem dritten Schritt Heideggers Auslegung des Bezugs des Heiligen zu den Dichtern aufgewiesen werden (§ 6). Während der Analyse der "Schlußstrophe" des Gedichtes wird das gesamte Ereignis-Geschehen noch einmal in den Blick genommen werden (§ 7}, wobei die Betonung hier auf dem Heiligen (im Sinne des Zuwurfs) liegt, aus dem die Dichter ihre Wesenswürde empfangen. Da Heidegger am Ende des Vortrages im Rückblick auf das ganze Gedicht (§ 8) einen unscheinbaren Hinweis auf ein Grundwort des Ereignis-Denkens gibt (indem er das Heilige in Zusammenhang mit dem Zeit-Raum bringt), gilt es in einem weiteren Unterabschnitt (§ 9), diesen Hinweis durch eine Analyse des entsprechenden Beiträge-Paragraphen zu erläutern, um abschließend im Lichte der Erläuterung diesen Hinweis (sowie das ereignishafte Gedankengut in der "Germanien"-Hymne) noch einmal rückblickend kurz zu untersuchen(§ 10).

§ 4. Auslegung eines ursprünglichen Naturverständnisses als Vorbereitung für die Auslegung des Heiligen I. Ersteinblick in das Verhältnis des Wortes "Natur" zu Hölderlins Wort des "Heiligen" Es bedarf zunächst der Klärung der Frage, wieso denn das Wort "Natur" überhaupt noch beibehalten werden kann, um auf das kommende Verständnis des Heiligen vorzudeuten. Als ersten Hinweis auf eine Antwort finden wir bei Heidegger folgendes: "Daß dies Wort »Natur« gleichwohl noch als ein Leitwort dieses Gedichtes zugelassen ist, verdankt es dem Nachschwingen einer Sagekraft, deren Ursprung weit zurückreicht." 3 Heidegger bezeichnet das Wort "Natur" hier als "Leitwort", also als ein Wort, das taugt, in den Grund einzuweisen ("zu geleiten"}, aber nicht selber schon den Grund nennt, d.h., kein Grundwort ist. Mit dem weitzurückreichenden Ursprung der Sagekraft meint Heidegger die Epoche des griechischen Denkens, in der das Wort Q>uaLS' geprägt wurde, dessen Übersetzung ins Lateinische (als "natura") wir unser heutiges deutsches Wort "Natur" verdanken. Aber die "Sagekraft" von Q>uaLS' übersteigt fiir Heidegger dasjenige, was in der Übersetzung "natura" bzw. "Natur" mitschwingt; dem von nasci abstammenden Wort "natura" im Sinne des "Geborenwerdens" ermangelt' die griechische Bedeutung von Q>uatS', Q>vELv: Wachstum.

GA4: S. 56. Es ist allerdings zu beachten, daß sich sprachgeschichtlich die Passivformen aus Medialformen entwickelten und daß daher die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes, 3

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

Was bei den Griechen "Wachstum" heißt, erläutert Heidegger zunächst durch eine negative Abwehr möglicher Mißverständnisse: "Nicht als die mengenmäßige Zunahme, auch nicht als »Entwicklung«, auch nicht als das Nacheinander eines »Werdens«."s "Wachstum" bedeutet also ursprünglich nicht meßbares bzw. quantiftzierbares "Größerwerden", sondern läßt sich innerhalb der Kategorie der Quantität überhaupt nicht fassen. Auch kann es nicht von einem vorher im Blick feststehenden Ziel her als "Entwicklung" in die Richtung eines solchen Zieles gefaßt werden. Letztendlich ist es aber auch nicht im Sinne eines ziellosen bloßen "Nacheinander" verschiedener, werdender "Wachstumsabschnitte" zu verstehen, das man zwar nicht mehr von einer Finalursache her betrachten kann, wohl aber in geregelte Kausalzusammenhänge bringen könnte. Das Wort ums- nennt anderes: "uaLs- ist das Hervorgehen und Aufgehen, das Sichöffnen, das aufgehend zugleich zurückgeht in den Hervorgang und so in dem sich verschließt, was je·einem Anwesenden die Anwesung gibt. "6 Mit diesem Gedanken des "sichverschließenden Aufgehens" verweist Heidegger unzweideutig auf das Fragment 123 des Heraklit, ohne es hier aber eigens beim Namen zu nennen. Bevor wir uns der Auslegung dieses Gedankens widmen können, ist eine kurze methodische Zwischenbetrachtung angebracht.

a) Dritter Exkurs (1 . Teil): Kurze Zwischenbetrachtung zum methodologischen Wandel zwischen Sein und Zeit und dem Ereignis-Denken

Die negative Abweisung von möglichen Mißverständnissen gleich zum Anfang des Gedankenganges erinnert unmittelbar an dasjenige "Grundstück" der phänomenologischen Methode, das wir als die "phänomenologische Destruktion" bzw. den "Durchgang" im Zuge des an der Methodologie orientierten Abschnittes des letzten Kapitels bereits aufgewiesen haben. Das Faktum, daß uns dieser Schritt auch während dieses späteren Vortrages begegnet, der schon ganz in das ereignisgeschichtliche Denken gehört, weist eindeutig darauf hin, daß das diesbezügliche Gedankengut aus Sein und Zeit im Zuge des Ereignisdenkens nicht einfach "aufgegeben" wird; allerdings erfährt es eine gewisse Verwandlung bzw. Vertiefung. So wird z.B. dem geschichtlichen Verweis auf das Heraklit-Fragment im ereignisgeschichtlichen Denken ein eigener methodischer Sinn bzw. systematischer Ort zuteil, der kein echtes Äquivalent im Denaus der sich der lateinische passive Ausdruck entwickelte, nicht als "geboren werden" aufgefaßt werden muß, sondern im Sinne von "entstehen" verstanden werden kann. 5 GA4: S. 56. 6 GA 4: S. 56.

§ 4. Vorbereitung für die Auslegung des Heiligen

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ken von Sein und Zeit hat. Um dies näher zu verstehen, gilt es nun, einen ersten, ganz umrißhaften Einblick in den Aufbau des Ereignis-Denkens zu skizzieren.' Dieser kann zunächst durch Abhebung von dem Grundansatz aus Sein und Zeit angedeutet werden. Das fundamental-ontologische bzw. transzendentalhorizontale Denken aus Sein und Zeit zeichnet sich dadurch aus, daß es die ontologische Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt durch eine Fundamentalontologie des Daseins begründen will; d.h., durch die Analytik des Wesens des Menschen (als das in einzigartiger Weise auf das Sein bezogene Wesen) soll sich derjenige Horizont erschließen, aus dem der Sinn von Sein überhaupt verständlich wird. Das Dasein ist zwar nicht dieser Horizont selber, jedoch "transzendiert" es (durch seine Zeitlichkeit) in diesen Horizont hinein, d.h., es steht wesensmäßig über alles ontische Seiende hinweg in der Offenheit, in der sich Seiendes allererst zeigen kann. In diesem Sinne wird das Dasein zur Bedingung der Möglichkeit für das Erscheinen von Seiendem. Aber dies bedeutet nicht, wie wir während der Befmdlichkeitsanalyse schon mehrmals betonten, daß der Mensch alles Seiende "setzen" würde, sondern er selber ist in diese wesensmäßige Offenheit, in sein transzendierendes Existieren, geworfen. Im ereignisgeschichtlichen Denken hingegen erfährt sich das Dasein nicht mehr als anonymes "Geworfensein" in sein Sein, sondern es erfährt sich aus dem Bezug zum Sein als ereignetes Dasein. Das Ereignis spricht von dem Zusammengehören von Sein und Mensch, wobei dem Menschen vom Sein die wesensmäßige Offenheit des Menschen übereignet wird. In dem Sinne spricht Heidegger vom "übereignenden Zuwurf'. Der Mensch verliert dadurch aber nicht seine eigenen Entwurfsmöglichkeiten; er ist "lediglich" nicht mehr in sie geworfen, sondern sie sind ihm nunmehr "zu eigen gegeben", übereignet. In der wesensmäßigen Freiheit seines Entwerfens des sich ihm zuwerfenden Anwesens des Anwesenden ist er der "ereignete Entwurf'. Wie wir später noch genauer sehen werden, kann sein Bezug zum Anwesenden selber nicht mehr im Sinne der "Bedingung der Möglichkeit" gefaßt werden. Weiter sind die Weisen des Anwesens, die sich dem ereignet-entwerfenden Dasein zuwerfen, in sich geschichtlich. Die Geschichtlichkeit wird nicht mehr, wie noch in Sein und Zeit, "nur" als die Geschichtlichkeit des Daseins gefaßt, sondern die Weisen des Anwesens des Seins selbst sind geschichtlich. Die sechs sich zusammenfUgenden Fugen, die .das Ereignis ausmachen, beginnen mit der gegenwärtigen geschichtlichen Situation, in die das Dasein ein-

7 Für weitere überblickshafte Zusammenfassungen der Fugen des Ereignisses vgl. von Herrmann Wege ins Ereignis. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1994: S. 16ff., 32ff.

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

gelassen ist und die Heidegger den "Anklang" nennt. Diese Epoche zeichnet sich durch die Seinsverlassenheit bzw. Seinsvergessenheit aus; dies bedeutet natürlich nicht, daß die Dinge faktisch nicht vorhanden seien bzw. ihr Vorhandensein sich nicht objektiv meßbar nachweisen lassen könnte. Gerade die Meßbarkeit und die sich ins Riesenhafte steigernde Manipulierbarkeit des Seienden zeigen sich nur allzu deutlich als "wirklich" in diesem Zeitalter. Das Wort "Seinsverlassenheit" weist vielmehr darauf hin, daß das Anwesen des Seienden nicht mehr eigens hervorscheint und dieses Anwesen, das verbal verstandene Sein, so immer mehr der Vergessenheit anheimfällt. Das Anwesen selbst tritt immer mehr hinter den verschiedenen (potentiell verrechenbaren) Eigenschaften des Anwesenden zurück. Die Grundstimmung, die in dieser Epoche das Dasein ftir das Seiende im ganzen auf wesentliche Weise aufschließen könnte, nennt Heidegger die "Verhaltenheit", in der der Mensch einerseits über das Ausmaß der "Seinsverlassenheit" erschrickt, andererseits durch die verhaltene "Scheu" dem Sichzeigen eines tieferen Sinnes dieser Verlassenheit Raum gibt (nämlich, wie noch genau zu untersuchen sein wird, dem Element des freigebenden "Sichentziehens", das in der "Verlassenheit" waltet). Wegen dieses tieferen Sinnes, der selbst im Zeitalter des vollendeten Nihilismus noch irgendwie "echohaft" da ist und der darauf wartet, daß ihm Zukunft gegeben werde, nennt Heidegger diese erste Fuge den "Anklang". Dieses "Echo" verweist aber nicht nur in die Zukunft, sondern auch in das geschichtlich Gewesene. Die zweite Fuge durchdenkt das Schicksal des Seins in der abendländischen Metaphysik seit ihrem ersten Anfang in der Philosophie der Vorsokratiker. Hier zeigt sich einerseits die in den folgenden geschichtlichen Epochen zunehmende "Seinsvergessenheit", andererseits beginnen sich im Zuge ihrer "Destruktion" auch wieder die ursprünglichen Quellen zu zeigen, aus denen das "Wachstum" des Seins überhaupt vor seinem "Veröden", d.h. Vergessen-werden, aufsprießen konnte. Aus dem Durchdenken der Wege von und zu diesen Quellen empfangt das Denken eine Art Spiel-Raum, aus dem es einen "Anlauf' zum "Sprung" in einen anderen Anfang nehmen kann. Die zweite Fuge heißt demgemäß das Zu-spiel. Die dritte Fuge, der "Sprung", bezeichnet den Übergangsbereich zwischen a. der Verwindung des gewesenen ersten Anfanges und der ihm eigenen Seinsvergessenheit und b. der Gründung eines anderen Anfanges. In diesem Sprung ändert sich vor allem die Art des Denkens, das einen "Schritt zurück" von einem vorstellenden Denken in ein andenkendes Denken nimmt. "Vorstellen" muß hier im weiten Sinne von "etwas vor etwas stellen" genommen werden, der sowohl die antike "Vor-stellung" einer Idee vor das Seiende umfaßt als auch das neuzeitliche "cogito", das jegliche innere Repräsentation im Bewußt-

§ 4. Vorbereitung flir die Auslegung des Heiligen

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sein vor sein "Ich" stellt.8 Das andenkende Denken zwingt hingegen nicht etwas anderes vor ein Etwas, sondern versucht, etwas "aus sich selbst her" als dieses "Etwas" sich entfalten zu lassen. Es nimmt das Sichzeigende in die Sorge und verwahrt Zu-künftiges (und Gewesenes) im Andenken. Das jeweilig Sichzeigende wird als epochaler Zuspruch des Seins in die Hut genommen. In der vierten Fuge, der "Griindung", wird das Anwesen des Seienden aus der wahrheitsmäßigen Lichtung her gedacht, und dieser Lichtungsbereich wird eigens in das Seiende geborgen, so daß das Anwesen als Anwesen des Seienden (auf verschiedenste Weisen hervorscheinend) anwesen kann. Das Sein wird hier aus der Wahrheit als Zeit-Raum her gedacht, der das Erscheinen alles Anwesenden in sich gewährt; wir werden uns später ausfiihrlicher mit der Auslegung dieses Zeit-Raums, die Heidegger in den Beiträgen vornimmt, befassen. Die zwei letzten Fugen, nämlich "der letzte Gott" (6. Fuge), dessen Erscheinen in diesem anderen Anfang möglich wird und dessen Vorbereitung Aufgabe der "Zukünftigen" (5. Fuge) ist, sollen in diesem Überblicknur dem Namen nach erwähnt werden. Auch sie werden eine genauere Auslegung später erfahren9 •

b) Dritter Exkurs (2. Teil): Das aus dem "Zuspiel" verstandene Wort "Natur"

Aus dieser kurzen "methodischen" und "systematischen" Besinnung geht nun klar hervor, daß Heideggers unausdriicklicher Verweis auf das HeraklitFragment 123 innerhalb der sechsfach gefügten Fuge des Ereignisses in die zweite Fuge, d.h. in das "Zuspiel", gehört. Dieses Heraklit Fragment, das von dem sich-entziehenden Moment in dem Aufgehen der uats- spricht, behält für Heidegger im Verlauf seines Denkweges eine einzigartige Bedeutung. Schon lange vor diesem Vortrag verweist er immer wieder in Vorlesungen auf dessen Tiefsinnigkeit. So heißt es z.B. schon 1929 in einer Vorlesung: "In der Sammlung der Fragmente [des Heraklit] steht ein nackter Satz, den man bis heute nie verstanden und in seiner Tiefe begriffen hat: uats-...KpulTTEa8at tI.El. »Das Walten der Dinge hat in sich selbst das Streben, sich zu verbergen«. " 10

Vgl. von Herrmann Wege ins Ereignis, S. 333. Bezüglich der Zukünftigen siehe Punkt IV.b. im § 6 dieses Kapitels. Heideggers Gedanken zum "letzten Gott" werden im 4. Kapitel (zwölfter Exkurs) behandelt. 10 GA 29/30 (Die Grundbegriffe der Metaphysik. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1992): S. 41. 8

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage... «

Ein paar Jahre später (1931/32) erläutert Heidegger diese Tiefe schon etwas eingehender: Die folgenden Zeilen geben einen Überblick hierüber: KptmTEuats- ist das Hervorgehen und Aufgehen, das Sichöffnen, ... ") verweist Heidegger auf das Phänomen, das bereits in der etymologischen Grundbedeutung des griechischen Wortes Q>uats- spricht, nämlich "Wachsen"; diese Bedeutung ist z.B. auch bei Aristoteles belegt15 • Der nächste Teil: "... das aufgehend zugleich zurückgeht in den Hervorgang ... " verweist auf das notwendige Moment des Sichverbergens im Aufgehen, das in dem untersuchten Heraklit-Fragment genannt wird. Dieser Gedanke ist natürlich weitaus weniger selbstverständlich als die etymologische Grundbedeutung und kann wohl nicht als ein "gemeingriechisches" Gedankengut angenommen werden16• Weiters erfahren wir in dem letzten Teil des Satzes, inwiefern das Verborgene nicht als bloßes "Nichts", "Vernichtung" zu denken ist, sondern als der Aufgehen-gewährende Anfang alles Aufgehenden west: "...und so in dem sich verschließt, was je eiGA 4: S. 56. Bei Aristoteles heißt es im fünften Buch der Metaphysik, daß die uats- zum einen auch das Wachsen des Gewächses bezeichnet: ums- AEYETat Eva ~t€:v Tp6TTov ~ Twv VO[.LEVWV YEVEO"tS", otov EL TlS" ETTEKTELvas- AEyot TO v ... " (V.IV; 1014b16f.; Aristot!e Metaphysics (Loeb Classical Library). Cambridge: Harvard University Press, 1989). Für Anstoteies ist die Bedeutung "Wachsen" hier also ganz selbstverständlich; es mußte ihm dabei die Kürze des v auffallen, da alle zugehörigen Formen ein langes v aufweisen. Aus heutiger Sicht läßt sich die Kürze des v in ums- mit einem besonderen, analogisch bedingten Ablautphänomen begründen. Dieses Ablautphänomen beruht darin, daß nach dem Muster von EO"TTIV (d.i. EO"Tav) zu anims- nun auch zu Euv ein uats- gebildet wurde. Vgl. auch Eduard Schwyzer Griechische Grammatik/, S. 350, y. München: Beck, 21953. 16 Vielleicht sagt Heidegger deswegen hier auch nicht: die oots- als Grundwort gedacht, wie am Anfang des nächsten Satzes, wo das Aufgehen wieder im Vordergrund steht, sondern: uats- ist, d.h., "west an als... ", relativ unabhängig davon, ob das Sichverbergen in ihr denkerisch eigens beachtet wurde. 14 15

§ 4. Vorbereitung für die Auslegung des Heiligen

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nem Anwesenden die Anwesung gibt." Das Verborgene, in welches das Sichentziehende sich "verschließt", zeichnet sich also durch ein "Geben" aus. Das Verborgene gibt Anwesendes in sein Aufgehen allererst frei, erscheint aber selber nie wie Anwesendes. Der nächste Satz fährt nun damit fort, die uatc;- im Hinblick auf ihr aufgehendes Anwesen zu thematisieren. Die Betonung des "aufgehenden" Wesensmomentes geschieht insofern zu Recht, als die uatc;- selbst in den Ursprüngen des ersten Anfangs der abendländischen Philosophiegeschichte eher ein Grundwort für das "wachsende Aufkeimen" des Anwesens war als für das Moment des "Sichentziehens" in ihm, das in der Tat, nach einer späteren Bemerkung Heideggers, nur ein einziges Mal in der Geschichte der abendländischen Philosophie (und zwar in diesem Fragment) ins Wort gehoben wurde 17• Weiter nennt Heidegger diese geschehende Öffnung eine Lichtung: "uatc;- als Grundwort gedacht, bedeutet das Aufgehen in das Offene, das Lichten jener Lichtung, in die herein überhaupt etwas erscheinen, in seinem Umriß sich stellen, in seinem »Aussehen« (ELOOS', t&a) sich zeigen und so je als Dieses und Jenes anwesend sein kann. "11 Die in der uatc;- sich lichtende Lichtung eröffnet den Bereich, in den (hinein) das Anwesen allererst anwesen, aber auch Stand gewinnen und aus diesem Stand als ein bestimmtes "Etwas" einen Anblick (El8oc;-) von sich geben kann. Dieser Anblick wiederum eröffnet Möglichkeiten, das Seiende selbst in den Blick zu nehmen und kategorial zu bestimmen. In bezug auf den Gedanken, daß die uatc;- das El8oc;- in sein Anwesen freigibt, gilt es hier ein Zweifaches zu beachten: Erstens, solange die Philosophie Seiendes eingedenk der es anwesen-lassenden umc;- bedenkt, ist der ursprüngliche Lichtungsbereich noch nicht zugunsten d~s Seienden "vergessen". Zweitens, erst wenn die Folge dieses Geschehens, nämlich das in den Anblick Gekommene, zum ontologisch Ursprünglicheren erklärt wird, dann verschwindet der Lichtungsbereich in den Hintergrund und kann im Sinne eines bloßen Parameters zu einer Art Begleiterscheinung herabgewürdigt werden. Heidegger geht hier nicht näher auf diese Möglichkeit ein, so daß es an dieser Stelle ge-

17 Diese Bemerkung ist überliefert in dem Protokoll zu einem Seminar anläßlich des "Zeit und Sein"-Vortrages: "Dieser Entzug des Seins bleibt zudem verborgen. Im KptrrrTEcr8m Heraklits ist zum ersten und zum letzten Mal das ausgesprochen, was der Entzug ist." Zur Sache des Denkens, (Einzelausgabe, 3. Aufl.), Tübingen: Max Niemeyer, 1988: S. 56. 18 GA 4: S. 56.

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nügt anzumerken, daß gemäß seiner Auslegung genau dies das Schicksal des sich lichtenden Seins in der abendländischen Metaphysik war. 19 Im nächsten Satz spricht Heidegger wieder davon, was die uaLS" ist, nicht als die »Allgegenwärtige« zugleich die Allerglühende sein? Hölderlin nennt deshalb »die Natur« in diesem Gedicht auch die »Allerschaffende« und die »Allebendige«."35 Die wohlverstandene Natur eröffnet also nicht nur den Offenständigkeitsbereich für Seiendes, sondern bringt gewissermaßen auch den "Grund" (den "Sinn", "Zweck") für das eigenständige Erscheinen von Seiendem mit sich; es belebt das Seiende auf eine Weise, in der dies von sich aus zu erscheinen trachtet, weil es einen Sinnbereich für solches Erscheinen empfangen hat. Hier deutet sich bereits etwas an, das im Zuge der Analyse immer klarer werden wird: Die "allerschaffende Natur" "schafft" selbständige (Lebe-) Wesen, die nicht bloß als Abhängigkeitsmomente von einem Unbedingten "dahinvegetieren", sondern lebendige "Geschöpfe" sind, die in dem Lichtungsbereich nicht nur den Möglichkeitsbereich, sondern auch einen Grund bzw. Sinnbereich für die eigenständige Wesensentfaltung ihres ureigenen Seins fmden; bei den Menschen kann dieser Grund sogar als Grund in ihrem Wesen eigens gewahrt, zugelassen und in Freiheit bejaht werden36• Wir sind durch die vorangegangenen Überlegungen in die Lage gekommen zu ermessen, wieso das Wort "Natur" im "Nachschwingen einer Sagekraft" als "Leitwort" des Gedichtes sinnvoller Weise noch für das neu zu nennende Wort des "Heiligen" stehen kann. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß Hölderlin sich über das soeben philosophisch Dargelegte selber im Klaren gewesen sei: "Hölderlins Wort »die Natur« dichtet ihr Wesen in diesem Gedicht nach der verborgenen Wahrheit des anfänglichen Grundwortes Q>uaLS". Aber Hölderlin hat die auch heute noch kaum ermessene Tragkraft des anfänglichen Grundwortes Q>uaLS" nicht gekannt." 37 Hierin meldet sich der Unterschied zwischen der dichterischen Nennkraft eines Wortes und einer philosophischen Auslegung ihrer. Ein dichterisches Wort kann eine Nennkraft innehaben, welche die ganze Tragweite des Phänomens in sich birgt, ohne daß der Dichter über diese (philosophisch zu erschließende) Tragweite des Wortes Auskunft geben könnte38. Andererseits kann die philosophische Auslegung eines Wortes den Weg GA 4: s. 57. Er kann aber natürlich auch verleugnet und verneint werden; "Seinsvergessenheit". 37 GA 4: S. 57. 38 Dieses Phänomen spricht bereits Sokrates in seiner Apologie an, indem er darlegt, wie er im Zuge seiner "Widerlegungsversuche" des Delphischen Orakels feststellen mußte, daß fast alle anderen bei der Unterredung Mitanwesenden angemessener als die Dichter selbst die dichterischen Worte auszulegen vermochten:"' Os- broc;- yap EiTEiv, 35

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für das vertiefte Hören seiner dichterischen Nennkraft vorbereiten. In diesem Sinne schreibt Heidegger im Vorwort zu den "Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung": "Der letzte, aber auch der schwerste Schrittjeder Auslegung besteht darin, mit ihren Erläuterungen vor dem reinen Dastehen des Gedichtes zu verschwinden. "39 Während uns die philosophische Besinnung tief in den gewesenen Bereich der griechischen Philosophie zurückgeführt hat, wendet sich Hölderlins Dichtung der "Natur" an Zukünftiges (dessen Bezug zum Gewesenen dadurch natürlich nicht bestritten wird): "Insgleichen will Hölderlin mit dem, was er »Natur« nennt, nicht das in alter griechischer Zeit Erfahrene nur wieder aufleben lassen. Hölderlin dichtet in dem Wort »die Natur« ein Anderes, das wohl in einem verborgenen Bezug zu Jenem steht, was einstmals uaLS' genannt worden. "40 Hölderlin dichtet also im Vergleich zu dem bei den Griechen Erfahrenen im Hinblick auf ein anderes, das aber gerade, wie wir weiter oben hörten, die "verborgene Wahrheit des anfänglichen Grundwortes" in gewisser Weise ans Licht bringt. Das Gewesene wird somit nicht mißachtet, sondern viel eher in die Würde seines Wesens erneut bzw. vielleicht erstmals emporgehoben, da auch für die Griechen die Wahrheit, aus der sie dachten, weitgehend selber "unbedacht" blieb. In dem folgenden Absatz vollzieht sich der Übergang von der Analyse der wohlverstandenen Natur zum erstmaligen Nennen des Grundwortes des Heiligen. Heidegger faßt in den folgenden Zeilen auch Gedanken zusammen, die er am Anfang des Vortrages entfaltete und von uns bis jetzt übersprungen wurden. Es gilt nun, im Zuge der Besprechung dieses kurzen Absatzes Wesentliches aus dem Vorangegangenen miteinzubringen: "Die Natur, die »leicht umfangend« alles in ihrer Offenheit und Lichtung einbehält, scheint zu Zeiten zu schlafen."41 Dieses "leichte Umfangen" wurde von Heidegger zuvor folgendermaßen erläutert: "Das Allgegenwärtige kennt nicht die Einseitigkeit der Schwere des bloß Wirklichen, das den Menschen bald nur fesselt, bald nur fortstößt, bald nur stehenläßt, jedesmal aber preisgibt in das Verzwungene alles Zufälligen. "42 Die "Leichtigkeit" wird also nicht im Sinne von etwas Kapriziösem gefaßt, sondern in ihr meldet sich gerade das Gegenteil des Zufälligen. Die Natur verhält sich nicht wie ein Seiendes, das anderes Seiendes fesselnd vereinnahmt 6A[you aimilv änavTES' oi nap6VTES' äv ßünov i!Aqov lTEp[ tiiv auTol ElTElTOLTJKEcrav." ((Frankfurt: Insel, 1991) 22b). 39 GA 4: S. 8. 40 GA 4: S. 57. 41 GA 4: S. 57. 42 GA 4: S. 53.

§ 4. Vorbereitung ftir die Auslegung des Heiligen

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und nach seiner Vernutzung "fortstößt" und "preisgibt". Vielmehr haben wir soeben gehört, daß sie alles Seiende in ihrer Lichtung "einbehält", d.h. im Sein hält und nicht etwa festhält; die Natur ist so der nicht-vereinnahmende, sondern frei-gebende Halt für das Seiende. Jedoch, da dieser "Halt" nie wie Seiendes sichtbar ist und sich nie wie Seiendes in den Vordergrund drängen kann, kann es scheinen, als ob die Natur "zu Zeiten schläft", d.h., nichts von ihrem Wesen lebendig-wach den Menschen anspricht. So kann Heidegger sagen: "Die Natur scheint zu schlafen und schläft doch nicht. Sie ist wach, aber wach in der Weise der Trauer. "43 Wenn der Mensch diesen Halt der Natur zwar einerseits beständig als "bloß Gegebenes" in Anspruch nimmt, ihn aber andererseits nie eigens bedenkt und daher die Natur nicht eigens in die Welt der Menschen eingelassen (bzw. geborgen) wird, dann entzieht sie sich in "Trauer": "Dann ist das Lichte trauernd in sich zurückgegangen.""" Die "Trauer", die hier nicht als menschliche Empfmdung zu verstehen ist (sondern vielmehr als der Grund für eine solche), verweist auf das "Zurückgehen" des Lichten in ein Dunkles: "Die sichverschließende Trauer ist undurchdringlich und erscheint als das Dunkel. "45 "Undurchdringlich" ist die trauemde Natur, weil sie als der Wesensgrund allen "Lichtes" niemals zur Gänze gelichtet sein kann; sie kann höchstens im Gelichteten als der verborgene Wesensgrund erscheinen. Weil dieser aber immer die Möglichkeit birgt, als verborgener Grund des Lichtes zu erscheinen, ist die Natur jedoch keine "bloße Finsternis", sondern birgt in sich stets die Möglichkeit eines reineren Aufgangs. Das Dunkle ruht so im Sinne einer lebendigen "Ahnung": "Aber nicht eine bloße und beliebige Finsternis ist diese Trauer, sondern ein ahnendes Ruhen. "46 Die wohlverstandene "Trauer" der Natur ist ein ahnendes Ruhen. Was heißt "Ruhen"? "Ihre Ruhe bedeutet keineswegs das Aufhören der Bewegung."47 Die ursprüngliche Ruhe ist nicht ein Zustand an einem "Seienden", der "äußerlich" im Sinne einer Feststellung der "Bewegungslosigkeit" gefaßt werden kann. Vielmehr ist das ursprüngliche Ruhen eine Weise der "Sammlung": "Ruhe ist das Sichsammeln auf den in aller Bewegung gegenwärtigen Anfang und sein Kommen. "41 Indem sich das Lichte in das Dunkle trauernd zurückzieht, sammelt es sich auf den Anfang, der aller Bewegung zugrunde liegt und diese frei-

GA 4: S. 54f. ""GA4: S. 57. 45 GA 4: S. 57. 46 GA 4: S. 57. 47 GA 4: S. 55. 48 GA 4: S. 55. 43

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gibt (und wieder in sich aufnimmt). Dadurch wächst in dieser Ruhe eine "Ahnung" des Kommens: "Deshalb ruht auch die Natur ahnend". Mit der Ahnung ist die Möglichkeit des (Wieder-)Kommens angesprochen: "Die Ahnung denkt vor in das Ferne, das sich nicht entfernt, sondern im Kommen ist."49 Die Ahnung verweist also auf einen Bereich, der weiter ist als das Gegenwärtige: "Weil aber das Kommende selbst noch in seiner Anfänglichkeit ruht und zurückbleibt, ist das Ahnen des Kommenden zumal ein Vor- und Zurückdenken."50 Der Wesenszug des ahnenden Ruhens in der Natur verbürgt die Möglichkeit eines Neu- bzw. Wiedererwachens; da der dunkle Grund des Lichten weiter ist als alles Gegenwärtige, ist durch ein gegenwärtiges "Schlafen" der Natur noch nichts über die Zukunft (des Gewesenen) entschieden. Wichtig ist es, noch einmal zu betonen, daß mit der "Ahnung" hier primär nicht an die menschliche Verhaltensweise gedacht wird, sondern an einen Zug in der Natur, dem sich der Mensch allerdings.als der (auf seine Weise) Ahnende öffnen kann: "Nur indem Ahnende sind, sind auch solche, die der Natur zugehören und ihr entsprechen. "51 Dies sind die Dichter; sie haben sich ahnend dem ahnenden Wesenszug der Natur geöffnet. Sie erfahren sich nicht nur der Natur zugehörig, sondern sie ent-sprechen ihr eigens, d.h., lassen sich von ihr ansprechen und versuchen, diesem Anspruch durch ihr Sagen von ihm zu entsprechen. Der Sinn dieses "Ent-sprechens" wird sich im Laufe dieser Untersuchung noch wesentlich erhellen. Das Dunkle, in das die Natur trauernd sich verschließt, ist also nicht ein resignierendes Versinken im "bloßen Nichts", sondern ist die Vorbereitung einer Wiederkehr. Einen Einblick in dieses Geschehen gewährt das Phänomen von "Nacht" und "Tag": "Das Dunkel ist die Nacht. Die Nacht ist die ruhende Ahnung des Tages."52 Die Nacht, in die sich das Sonnenlicht während der Abenddämmerung zurückgezogen hat, ist derselbe Bereich, aus dem auch die Morgendämmerung anhebt. In diesem Zusammenhang zitiert Heidegger nun die Zeilen aus dem Gedicht, in denen das Heilige als neues Grundwort in den "Horizont" (bzw. besser: in die "Gegend") einer aufgehenden Morgendämmerung gestellt wird: Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, Und was ich sah, das Heilige sei mein WortY

49 GA 4: S. 55. 50 GA 4: S. 55. 51 GA 4: S. 55. 52 GA 4: S. 57. 53

GA 4: S. 57.

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Im unmittelbaren Anschluß an diese Zeilen sagt Heidegger zunächst: "Der Ausruf, mit dem die dritte Strophe beginnt, nennt das Aufgehen der erglühenden Helle. "54 Dadurch, daß Heidegger als erste Erläuterung des Heiligen auf die vorhergegangene Analyse des ursprünglichen Wesens der älter«, also früher, also zeitiger, also gerade zeithafter denn »die Zeiten«, mit denen die Erdensöhne rechnen." 127 Das "älter" in Hölderlins Vers wird also im Sinne einer "ontologischen" und nicht einer "chronologischen" Priorität gedacht. Dadurch, daß Heidegger diese ursprüngliche Zeit "zeitiger" als "die Zeiten" nennt, wird schon ersichtlich, daß die ursprünglich verstandene Zeit nicht gänzlich bezuglos zur chronologischen Zeit waltet. Vielmehr ist die chronologische Zeit ein "Derivat", ein gewisser "Abkömmling" der ursprünglichen Zeit. Bevor dieser Ursprung aller "Zeiten", nämlich die Zeit selbst, in ihrem "älteren", d.h. "ontologisch früheren", Wesen erläutert wird, weist Heidegger noch einmal scharf darauf hin, daß das Heilige als das Außerhalb-der gewöhnlichen-Zeit-Fallende nicht "überzeitlich" bzw. "ewig" im herkömmlichen Sinne ist: "))Die Natur« ist die älteste Zeit und keineswegs das metaphysisch gemeinte »Überzeitliche« und vollends nicht das christlich gedachte ))Ewige«. "128 Der Zeitcharakter der wohlverstandenen Natur kann nicht der Tradition abgerungen werden, sondern muß phänomenologisch allererst entworfen, d.h. freigelegt werden. Allerdings hat die bisherige Untersuchung des Lichtungsphänomens uns bereits in die Lage gebracht, einen ersten Einblick in das Wesen der Zeitlichkeit des Heiligen zu werfen: "Die Natur ist zeitiger denn ))die Zeiten«, weil sie als die wunderbar Allgegenwärtige zuvor schon allem Wirklichen die Lichtung verschenkt, in deren Offenes hinein erst alles zu erscheinen vermag, was ein Wirkliches ist. "129 In bezug auf die ursprüngliche Zeitlichkeit gilt es also zunächst zweierlei zu bedenken: I. Die ursprüngliche Zeitlichkeit "ermöglicht" das Wirkliche. Erst dadurch, daß es überhaupt Wirkliches gibt, das sich im Wandel befmdet, kann ein Fluß der "Jetzte" konstatiert und berechnet werden. Das "vulgäre Zeitverständnis" resultiert somit aus einer Interpretation des am vorhandenen, wirklichen Ding feststellbaren Wandels; die chronologische Zeit wird nur durch Seiendes möglich. Dieses Seiende selbst mit der ihm eigentümlichen chronologischen Meßbarkeit wird aber allererst durch die wesentliche Zeit in seinem Sein 126 Vgl. hierzu auch GA 24, § 19 und die in diesem Kapitel(§ 9 I. d, e) vorgenommene Zusammenfassung der Auslegung der Zeitlichkeitsanalyse in Sein und Zeit. 127 GA 4: S. 59. 128 GA 4: S. 59. 129 GA 4: S. 59.

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möglich. 2. Die Weise, wie dieses Sein "ermöglicht" wird, charakterisiert Heidegger hier als ein "Verschenken der Lichtung" an das Wirkliche. Daraus wird abermals ersichtlich, daß das "wirkliche Seiende" in seiner "Ermöglichtheit" nicht einfach bloß zu einem kontingenten Moment des Ermöglichenden herabgewürdigt wird, sondern daß es sein Sein, d.h. Anwesen in der Lichtung, "geschenkt", übereignet bekommt. Es ist somit nicht nur ein "bloß Ermöglichtes", sondern gewissermaßen ein "gemocht Er-mög-lichtes", d.h. ein in seinem Wesen wesensmäßig "Bejahtes". Das Wesen der ursprünglichen Zeitlichkeit wird vor allem im 9. Exkurs (§9) noch vertiefende Erläuterungen erfahren.

II. Der Bezug des Heiligen zu den Göttern (3. Strophe, Zeile 4) Durch die "Zuvorhaftigkeit", die dem Heiligen durch seine ursprüngliche Zeitlichkeit eigen ist, werden wir zur nächsten Einsicht in das Wesen des Heiligen hinübergeleitet, nämlich zum Bezug des Heiligen zu den Göttern, der in der vierten Zeile der dritten Strophe angesprochen ist. Auch die Götter stehen in gewisser Weise dem "Wirklichen" näher als dem Heiligen: "Allem Wirklichen und Wirken zuvor ist die Natur, zuvor auch den Göttern." 130 So gesehen ist das Heilige bzw. die wohlverstandene Natur "über" den Göttern: "Denn sie »die älter denn die Zeiten« ist auch »über die Götter des Abends und Orients«"131. Aber das heißt natürlich weder, daß das Heilige lediglich ein anderer Bereich des Wirklichen wäre, noch daß dieser Bereich irgendwie von "höherem Wert" wäre als die Götter. Die Götter werden also nicht zugunsten des Heiligen "entwertet", sondern sie walten wesensmäßig anders als das Heilige: "Die Natur ist nicht etwa über »den« Göttern als ein abgesonderter Bezirk des Wirklichen »oberhalb« ihrer. Die Natur ist über »die« Götter. Sie, »die mächtige«, vermag noch ein Anderes als die Götter: in ihr als der Lichtung kann alles erst gegenwärtig sein."132 Hieraus erfahren wir, daß der wesensmäßige Unterschied zwischen dem Heiligen und den Göttern darin liegt, daß die Götter in gewisser Weise innerhalb der Lichtung anwesen, das Heilige aber alles Anwesen (auch das der Götter) in sich "ermöglicht", d.h., die Lichtung selbst gewährt, zuläßt. Aber da dieses Zulassen, wie wir gesehen haben, ein schenkendes Sein-lassen des Anwesenden ist und kein Kontingentrnachen, ist der Bezug des Heiligen zu den Göttern kein "Konkurrenzverhältnis", sondern ein "liebender" Bezug.

130 GA 4: S. 59. 131 GA 4: S. 59. 132

GA 4: S. 59.

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Dies wird vollends dadurch klar, daß das Heilige nicht bloß ein "Teilaspekt" des Göttlichen, eine "Eigenschaft eines Gottes" ist: "Die Natur nennt Hölderlin das Heilige, weil sie »älter denn die Zeiten und über die Götter« ist. Also ist »Heiligkeit« keineswegs die einem feststehenden Gott entliehene Eigenschaft."133 Der Bezug vom Heiligen und dem Göttlichen wahrt als ein liebender nicht nur das Sein der Götter, sondern auch den Bereich des Heiligen als einen wesenseigenen, der nicht ein bloßer Aspekt eines "feststehenden Gottes" ist. Mit "feststehend" wird schon darauf hingewiesen, daß in der Dimension des Göttlichen nichts "Erstarrtes" und dann ftir den Menschen bloß "Abzuschreibendes" vorhanden ist, sondern daß diese Dimension sich fortwährend geschehnishaft ereignet und der Mensch mit Begriffskategorien, die am beständig vorhandenen Seienden gewonnen wurden, hier einfach nicht durchkommen kann. Innerhalb dieses gegenseitigen Bezuges, der als liebender nicht vereinnahmt oder "höher bewertet", betont Heidegger hier aber das Moment des Heiligen, weil es der allumfassendere Bereich ist, der das ("eigenständige") Anwesen der Götter in sich zuläßt: "Das Heilige ist nicht heilig, weil es göttlich, sondern das Göttliche ist göttlich, weil es in seiner Weise »heilig« ist; ... "134 •

111. Erster Verweis auf das Heilige als das ursprüngliche "Chaos" (3. Strophe, Zeilen 6-7) Der vorangegangene Satz endet mit einem Strichpunkt. Das darauffolgende "denn" legt nahe, daß eine unmittelbare Begründung folgen wird; jedoch muß diese "Begründung" eher als Vorblick auf die kommende Untersuchung gesehen werden, da sie ein neues Wort mit sich bringt, das erst zu einem späteren Zeitpunkt ausfUhrlieh ausgelegt werden wird. "...denn »heilig« nennt Hölderlin in dieser Strophe auch »das Chaos«. "135 Zu diesem Zeitpunkt kann bezüglich dieser "Begründung" lediglich formal festgehalten werden: "Das Chaos" ist also ein weiteres Wort flir das Heilige, das einen "Aspekt" des Heiligen erhellt, der verdeutlicht, inwiefern die Götter zu Göttern werden, weil sie in das Heilige gehören, d.h., der die "ontologische Vorherigkeit" des Heiligen erhellt. Bevor Heidegger die nächsten Hölderlin-Verse zitiert, in denen das Wort "Chaos" erscheint, faßt er noch einmal zusammen: "Das Heilige ist das Wesen der Natur. Diese enthüllt als das Tagende ihr Wesen im Erwachen." 136 Die wohlverstandeGA 4: S. 59. GA 4: S. 59. 135 GA 4: S. 59. 136 GA 4: S. 59. 133

134

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ne Natur, die in diesem Gedicht mit dem Wort "das Heilige" neu genannt wird, erscheint, indem sie im dichterischen Wort "erwacht", d.h., dämmernd zum Vorschein kommt; das Phänomen der "Dämmerung" wiederum legt nahe, daß das Phänomen des Heiligen in einen Zwischenbereich gehört, der nie gänzlich dunkel ist wie die Nacht, aber auch nie so erscheint wie der Tag. In den nächsten vier zitierten Zeilen Hölderlins fällt eigens das Wort vom Chaos: Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder Nach vestem Geseze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt, Fühlt neu die Begeisterung sich, Die Allererschaffende wieder.m Bevor jedoch Heidegger zur Auslegung dieses Wortes kommen und damit das im oben zitierten "Begründungssatz" Angedeutete zur vollen Entfaltung bringen kann, wendet er sich der Auslegung der Zeilen 8 und 9 zu, um den Umkreis dieses weiteren Grundwortes zu klären. Das "Und" ist fiir Heidegger nicht die bloße Fortsetzung des Gedichtes mit "zusätzlichen" Gedanken, sondern bildet den Übergang in die dichterische Wesensentfaltung der erwachenden Natur: "Dieses »Und«, das dem »erwacht« folgt, leitet nicht fort zu Anderem, was außer dem Erwachen, etwa gar erst als dessen Folge, geschieht. Das »Und« leitet die Wesensenthüllung dessen ein, was die Natur als die erwachende ist." 138 IV. Das Heilige als das Erwachen der allerschaffenden Begeisterung (3. Strophe, Zeilen 8-9) Das Sich-selbst-Fühlen der Begeisterung, von dem im Vers 8 die Rede ist, bringt Heidegger mit dem "Zu-sich-selbst-Erwachen" in Zusammenhang: "Im Erwachen kommt sie zu sich selbst. Die Begeisterung fiihlt neu sich wieder, die »Allerschaffende«. So heißt jetzt die allgegenwärtige Natur." 139 Das Erwachen ist ein Allerschaffendes. Indem die Natur "zu sich selbst erwacht", ruft sie alles Seiende ins Sein. Bereits im ersten Kapitel sahen wir als Eigentümlichkeit des Heiligen, daß das "Freigeben von Anderem" zu seinem Wesen gehört und daß es nur in diesem Freigeben "zu sich selbst" kommt (was gerade nicht heißt, daß es das Freigegebene als sein possessives "Eigentum" beansprucht). Vorgreifend können wir zu diesem Bezug des Heiligen zum Erschaffenen schon einiges andeuten, um näher zu bestimmen, woher das "Fühlen" in diesem Erwachen rührt: Das Erwachen der Natur geschieht wesentlich durch ihr Hervorscheinen

Hölderlin zitiert von Heidegger in GA 4: S. 59f. GA 4: S. 60. 139 GA 4: S. 60.

137 138

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im dichterischen Wort. Dieses ist als menschliches Entsprechen immer schon ein gestimmtes. Das "Sich-selbst-Fühlen" der Natur meint also auch das wesentliche Zum-Vorschein-Kommen durch seinen Bezug zum Menschen als dem gestimmt-ereigneten Entwurf, der in das Offenbarwerden des Heiligen eingelassen ist. In seiner eigenständigen Freiheit ist er dennoch nicht "aus sich selbst" geschaffen, sondern ebenfalls aus der "allerschaffenden" Natur (als dem ereignenden Zuwurf), in sein bezugsverbunden-eigenständiges Sein gerufen. Deswegen kann die Natur nun auch die "Allerschaffende" heißen, weil sie in gewisser Weise alles Seiende (auch den Menschen als "ereigneten Entwurf') ins Sein ruft, aber auf eine Weise, in der sie sein eigenständiges Sein als den Hüter der Lichtung braucht. Nachdem das "Zu-sich-selbst-Kommen" erhellt wurde, wendet sich Heidegger der Erläuterung der zu sich selbst kommenden "Begeisterung" zu: "Das Lichte läßt alles hervorgehen in sein Erscheinen und Leuchten, auf daß jedes Wirkliche, von ihm selbst befeuert, in seinem eigenen Umriß und Maß steht. Dergestalt in sein eigenes Wesen unterschieden, ist alles Erscheinende vom Geist durchstrahlt: be-geistert. " 140 Der erste Teil dieses Gedankens ist eine Wiederholung des in bezug auf die Lichtung des Lichtes bereits Gedachten: Die immer schon zuvor waltende Offenheit eröffnet den Raum für die Erscheinung und "spornt" dadurch gewissermaßen das Erscheinende zum Sichzeigen an. Dieses wird nicht von der Lichtung passiv "gesetzt", sondern es zeigt sich von ihm selbst her in seinen eigenen Umrissen und Maßen. Das Seiende hat seine eigene Gestalt und Proportion, seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Durch diese ist es von anderem Seienden unterschieden. Aber in diesem Unterschieden-sein strahlt das "Unterschieden-sein-lassende" (gewissermaßen als "Urgrund" bzw. "Hintergrund", auf dem die Unterschiede eigenständig bestehen können und dürfen) unscheinbar mit durch. Dieses "Durchstrahlen" des Heiligen in der Gegebenheit des ureigenen Seins des Seienden wird dichterisch als "Begeisterung" angesprochen. Die wohlverstandene Natur, d.h. das Heilige, befeuert nicht nur das Seiende in sein Erscheinen, sondern begeistert es. D.h., sie gewährt im Befeuern dem Seienden ureigenen Grund und Zweck seines Existierens und bleibt darüber hinaus als abgründige "Herkunft" dieses Seins auf solche Weise auf Seiendes bezogen, daß sie in ihm abgründig hervorscheinen kann (in der Begeisterung). Die Natur "begeistert" in ihrem Erschaffen von eigenständigem Seienden, das auf sie bezogen bleibt: "Die Natur be-geistert alles als die allgegenwärtige, allerschaf-

140

GA 4: S. 60.

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fende. Sie ist selbst »die Begeisterung«. Be-geistern kann sie nur, weil sie »der Geist« ist. " 1'41 Mit großer Sorgfalt wird jedes dichterische Wort Hölderlins, das einen gewichtigen Hinweis auf das Wesen des Heiligen birgt, von Heidegger philosophisch ausgelegt, um das dichterisch genannte Wesen des Heiligen durch das Hören auf die Nennkraft des Wortes in seinem Wesen phänomenologisch zu entfalten. Bis jetzt wurde das Heilige als die allgegenwärtige Lichtung, die allem Wirklichen zugrunde liegt, gefaßt, die durch dieses Zugrundeliegen allererst Wirkliches "erschafft", d.h., sich zeigen läßt, und daher auch die "allerschaffende" genannt wurde. Das Durchstrahlen des Erschaffens im Erschaffenen hieß die Begeisterung. Jetzt gilt es zu sehen, inwiefern die Begeisterung vom "Geist" her zu verstehen ist; mit anderen Worten, es bedarf einer philosophischen Besinnung auf das Wesen des Geistes, um einen tieferen Sinn der Begeisterung zu gewinnen. Wie ist das Walten des Geistes in der Begeisterung zu verstehen?

V. Der Wesenszug des "Geistes" im Heiligen: Die einigende Einheit (Zur Vertiefung des Verständnisses der Begeisterung) Gerade in bezug auf das Wort "Geist" vermag das philosophische Denken Wesentliches ans Licht zu bringen. Wie wir sehen werden, wird das Heilige durch dieses Wort als "einigende Einheit" näher erläutert. Zunächst heißt es im Text: "Der Geist waltet als die nüchterne aber kühne Aus-einandersetzung, die alles Anwesende in die wohlgeschiedenen Grenzen und Gefüge seiner Anwesung einsetzt." 142 Das Wesen des Geistes ist die Aus-einandersetzung, die dann durch weitere "Attribute" näher bestimmt wird. Heidegger schreibt die "Auseinandersetzung" mit einem Trennungsstrich, um anzudeuten, daß das Mannigfaltige aus dem Einen "gesetzt" wird. Dieses Setzen kann aber nicht als ein passives "In-die-Kontingenz-Versetzen" verstanden werden, sondern als ein freigebendes Im-eigenen-Wesen-zum-Stehen-kommen-Lassen (die ursprüngliche 8€aLS.,43). Der Relativsatz, der die "Aus-einandersetzung" näher bestimmt, erläutert dieses "eigene Wesen" des "Gesetzten" dadurch, daß er von den "wohlgeschiedenen Grenzen und Gefüge" des Anwesenden spricht, die es in seinem eigenen Wesen abgrenzen. Das Wort "Aus-einandersetzung" legt ferner

GA 4: S. 60. GA 4: S. 60. 143 Vgl. hierzu Heideggers Zusatz zur Kunstwerkabhandlung: Holzwege (Einzelausgabe, 6. Aufl.) Frankfurt: Vittorio Klosterrnann, 1980), S. 68. 141

142

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nahe, daß das mannigfaltig "Gesetzte", das aus dem Einen gewissermaßen "entlassen" wird, auch nicht als ein bloßer "Teil" bzw. "an sich völlig unbedeutendes Moment" des Geistes gefaßt werden kann, sondern als ein mit eigener Wesenswürde begabtes "Anderes" anzusehen ist, das im Grunde durch den Geist zugelassen und geeint wird. Um diesen Sinn noch deutlicher zu markieren, hätte die "Aus-einandersetzung" vielleicht so geschrieben werden können: "Aus-ein-ander-»setzung«". Diese wohlverstandene "Aus-einandersetzung" wird in dem obigen Zitat sowohl eine "nüchterne" als auch eine "kühne" genannt. Das Wort "nüchtern" deutet darauf hin, daß, obwohl, wie wir bereits gesehen haben, die allgegenwärtige Natur Seiendes "befeuert", sie- als Geist- sich dennoch in dieser Befeuerung nicht gänzlich "schwärmerisch" an das Seiende "verliert" (bzw. nicht ins "Leere verschwebt", wie es im ersten Kapitel bereits hieß). 144 Der Geist waltet in seiner Nüchternheit nicht als "freischwebend-schwärmerische" Auseinandersetzung, wohl aber als eine "kühne", d.h. eine, die es wagt, Seiendes in seine eigenständigen, festen Grenzen und Fügungen freizugeben, über die der Geist dann keine direkte "Kontrolle" mehr hat. Die "Auseinandersetzung" wird nun von Heidegger weiter im Hinblick auf das wesentliche Denken ausgelegt (es wird aber nicht mit ihm identifiziert, da die ursprüngliche Auseinandersetzung nicht "nur" im Denken waltet): "Solches Auseinandersetzen ist das wesentliche Denken. Das Eigenste »des Geistes« sind die »Gedanken«, durch die alles, weil auseinandergesetzt, gerade zusammengehört. Der Geist ist die einigende Einheit. " 145 Das bisher ausgelegte Phänomen bekundet sich in der Philosophie selber am Phänomen des wesentlichen Denkens und läßt sich daher anband dieses Phänomens deutlich aufweisen: Die "Gedanken" des Geistes beziehen sich einerseits auf das mannigfaltig Gedachte, das aber nur mannigfaltig gedacht sein kann, weil sich andererseits in den Gedanken ein einheitsstiftendes Denken vollzieht; daß das Gedachte in den verschiedensten Wesenseigentümlichkeiten dennoch Gedachtes ist, ist "Werk" des Denkens des Geistes. Es ist interessant anzumerken, daß Heidegger hier ganz deutlich den Gedanken der Einheit, die eine Vielheit geradezu fordert, durch die Wendung "weil auseinandergesetzt, gerade zusammengehört" betont. Dadurch wird deutlich, daß er die Einheit nicht als eine totalitär-vereinnahmende denkt, sondern die ursprüngliche Einheit nur in ihrer Zugehörigkeit zur Vielheit erblickt; sie eint die Vielheit im Grunde, ohne sie dadurch aber

144 Im ersten Kapitel begegnete uns dieser Gedanke als die dritte mögliche Wesensentartung des Heiligen, wo der Bezug des Heiligen zum Seienden ins Leere verschwebt 14s GA 4: s. 60.

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einzuebnen. Vielmehr gewährt ihr dieser Grund den "Boden" für ihre Entfaltung. Dies wird durch den folgenden Gedanken noch deutlicher werden. Durch das einheitsstiftende Element kann gesagt werden: "Der Geist ist die einigende Einheit. Sie läßt das Zusammen alles Wirklichen in seiner Versammlung erscheinen." 146 Die einigende Einheit des Geistes sammelt und offenbart so Versammlung. "Sammeln" und so "versammelt Zusammengehörenlassen" kann sie nur dasjenige, was in gewisser Weise geschieden ist. Dieses Geschiedene kann wiederum im letzten Grunde nicht so verschieden sein, daß es jegliche Form der Sammlung verwehrt (was natürlich nicht heißt, daß es sich jeder Art von "gewaltsam-vereinnahmender Kollektivierung" fügen muß). Die Sammlung des Geistes im wesentlichen Denken ist eine solche, die das Geschiedene wegen seiner Gemeinsamkeit in bezug auf den letzten Grund (der niemandes "Eigentum" ist) geschieden sein läßt. Diese Art von eigenständiger Geschiedenheit auf Grund gesammelter Zusammengehörigkeit ist der Geist der Gemeinsamkeit: "Der Geist ist deshalb wesenhaft in seinen »Gedanken« der »gemeinsame Geist«."' 47 Dieser gemeinsame Geist begeistert alles Seiende durch das versammelt-versammelnde Zusammengehörenlassen von wesensmäßig Verschiedenem. Das Verschiedene wird nicht auf Grund seiner Verschiedenheit aus dem Geist der Gemeinsamkeit herausgestoßen, sondern bleibt darin einbezogen: "Er ist der Geist in der Weise der Begeisterung, die alles Erscheinende in die Einheit der Allgegenwärtigen einbezieht. "148 Wie wir in bezugauf das Heilige im ersten Kapitel sahen, kommt das Heilige im Freigeben von Erscheinendem zu sich selbst, d.h., dadurch daß es gibt, bekommt es ein eigenes Wesen. In diesem Sinne wird nun von der allgegenwärtigen Natur als dem Geist gesagt: "Diese selbst hat in der Begeisterung die Art ihrer Anwesung, die das Aufgehen und Erwachen ist. " 149 Dadurch, daß das Heilige begeistert, d.h., Seiendes in nüchtern-kühner Auseinandersetzung in ureigenste Formen und Maße freigibt, bekundet sich das Wesen des Heiligen; im Freigegebenheilscharakter des also Freigegebenen wird das Heilige offenbar, west an bzw. erwacht. Das dichterische Wort hebt dieses dämmernde Offenbarwerden ins Wort und verleiht ihm damit worthart-verlautbarte Offenbarkeit, die Mit-teilung dieser Offenbarkeit ermöglicht. Das bedeutet, daß nur durch den Bezug zum Freigegebenen das Heilige im vollen Sinne heilig sein kann. Der Mensch kann dem Wesen des Heiligen einen

GA 4: S. 60. GA 4: S. 60. 148 GA 4: S. 60. 149 GA 4: S. 60.

146 147

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Erscheinungsraum gewähren. Ursprünglich geschieht dies im dichterischen Wort, wo dem im Grunde an-sich-haltenden Zuwurf rein entsprochen wird. Diesem Wort verleiht der Dichter, gestimmt durch eine Grundstimmung, seine verlautbarende Stimme. Diese gehört als eigenständiger Bereich der Natur selbst zu dieser. Heidegger sagt nun: "Im Erwachen wird die Natur, zu sich selbst kommend, von ihr selbst durchstimmt."•so Die Natur kommt zu sich selbst, indem sie jedem Wesensmoment seinen eigenen Bereich überläßt und dieses gegenseitige Überlassen eigens in die Offenbarkeit (des Wortes) gehoben wird. Durch das Erscheinen im von einer Grundstimmung durchstimmten dichterischen Sagen beginnt die Natur "zu fühlen." 1s1 Da die Natur einzig ist und daher natürlich niemals "mehrmals in ihr selbst" wieder "vorkommen" kann, d.h., ursprünglich-zeitlich ist und die chronologischen Wiederholungsmöglichkeiten zwar in sich birgt, selber natürlich aber niemals chronologisch gefaßt werden kann, deswegen ist das Aufgehen der Natur immer "neu", immer anfänglich, d.h., entbehrt wesensmäßig der Möglichkeit des "Veraltems": "Da die Natur allem voraus das Anfängliche ist, kann sie, wenn sie sich wieder fiihlt, nur anfänglich, d.h. »neu« fiihlen." 1s2

VI. Die gegliederten Bezirke des Bereiches des Heiligen Mit dem nächsten Absatz geht Heidegger dazu über, die weiter oben schon einmal zitierte 7. Verszeile auszulegen (nämlich: "Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder"). Hier vollzieht sich in ganz kurzen Sätzen die "innere Untergliederung" des einen Offenheitsbereiches in mehrere "Bezirke". Um diesen hier von Heidegger nur angedeuteten Gedanken näherhin aufschließen zu können, werden wir uns in Kürze seiner Abhandlung über den Ursprung des Kunstwerks zuwenden. Zuerst gilt es aber, die Hinweise, die sich in diesem Vortrag bereits fmden, zu erläutern. Der erste Hinweis bezieht sich auf den "grundlegenden" Charakter der Offenheit, der alle Bezirke durchwaltet "Das GA 4: s. 60. Götter können dem Heiligen kein Gefühl schenken; dazu braucht es den Menschen, wie aus dem folgenden Hölderlin Zitat aus der "Rhein"-Hymne hervorgeht: "Es haben aber an eigner/ Unsterblichkeit die Götter genug und bedürfen/ Die Himmlischen eines Dings,/ So sinds Heroen und Menschen/ Und Sterbliche sonst. Denn weil/ Die Seeligsten nichts fühlen von selbst,/ Muss wohl, wenn solches zu sagen/ Erlaubt ist, in der Götter Nahmen/ Theilnehmend fühlen ein Andrer, /Den brauchen sie... " (v. 105114). Heideggers Auslegung dieser Strophe in seiner Vorlesung über Hölderlins Hymnen »Germanien(( und »Der Rhein(( (GA 39) findet sich auf den Seiten 268ff. 152 GA 4: S. 60. ISO

•s•

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Offene, darin Jegliches die Anwesung und Weile hat, durchragt zuvor den Bereich aller Bezirke. " 153 Diese Bezirke sind also nichts "außerhalb" der Offenheit, sondern durch und durch von der Offenheit durchragt; sie sind vielmehr in ihr, gewissermaßen als Entfaltungen ihrer. In dieser Offenheit hat ferner "Jegliches" den Ort fiir seine "Anwesung" und in ihr fmdet "Jegliches" die Zeit fiir seine "Weile". Der Offenheitsbereich gibt also allem Erscheinenden ursprünglichen Raum und ursprüngliche Zeit und zwar, wie es jetzt zu sehen gilt, in verschiedenen Bereichen. Weil die Offenheit alle Bezirke durchragt, kann von ihrem Sicheröffnen bzw. "Erwachen" gesagt werden: "Daher waltet das Erwachen »hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder«." 154 In dieser Verszeile werden zwei Bezirke genannt, welche die Offenheit gegliederter aufschließen: der Äther und der Abgrund. Den "Äther" interpretiert Heidegger in bezug auf den "lichten", also gewissermaßen "durchsichtigen" und "durchlässigen" Bezirk: "»Äther« ist der Name fiir den Vater des Lichtes und der allbelebenden lichten Luft." 155 Es ist wichtig zu bemerken, daß der "Äther-Bezirk" nicht das "physische Licht" selber ist, sondern "der Vater des Lichtes". Das Licht kann nur leuchtend erhellen, weil es in den Offenheitsbereich des "Äthers" hineinleuchten kann. Auch die "natürliche Luft", die "licht" im Sinne von "durchlässig" und "allbelebend" ist, weil sie den in ihr wohnenden Kreaturen Nährstoff gewährt, kann nur innerhalb des im "Äther" eröffneten Offenständigkeitsbereiches ihr Wesen entfalten. Der lichte Offenheitsbereich des "Äthers" ist aber nur eine Weise, wie der Offenheitsbereich aller Bezirke sich näherhin darreicht. Auch der Bezirk des "abgründig Verschlossenen" wird als solcher ins Offene gebracht und zwar von der "Erde", die ihn "trägt": "»Abgrund« heißt das alles Verschließende, das von »der Mutter Erde« getragen wird." 156 Der Offenheitsbereich geht also nie gänzlich im lichten, durchlässigen Bezirk des Äthers auf, sondern eröffnet sich immer auch als undurchlässiger, dunkler, abgründiger, verschließender. Die Erde trägt diesen Bereich, indem sie das Sichverschließende in sich birgt, aber auch indem sie dieses Wesensmoment als solches in den lichten Bereich des Äthers hineinträgt. Innerhalb dieser beiden Bezirke erhält alles in die Offenheit Eingelassene seinen Ort. "»Äther« und »Abgrund« nennen zumal die äußersten Bezirke des Wirklichen, aber auch die höchsten Gottheiten." 157 In der philosophischen Auslegung haben sich diese beiden Worte als Bezirke des einen OfGA 4: S. 60. GA 4: S. 60. 155 GA 4: s. 60. 156 GA 4: S. 60f. 157 GA 4: S. 61 .

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fenheitsbereiches erwiesen, die sämtliches Wirkliche in allen seinen Epochen umfassen und den Wesensort gewähren. Mit dem Verweis darauf, daß in diesen beiden Worten zwei, und zwar die "höchsten", Gottheiten genannt werden, will Heidegger wohl daran erinnern, daß im dichterisch-mythischen Sagen der Griechen diese beiden Bereiche schon in ihrer Allumfassendheit gesehen und genannt worden sind. 158 Diese selber sind allerdings auch nicht "aus sich", sondern werden letztendlich doch von einem anderen durchragt "Beide sind durchgeistet von der Begeisterung." 159 Die Begeisterung lernten wir bereits als einen Wesenszug der alldurchwaltenden wohlverstandenen Natur kennen. Im Zusammenhang mit den obersten Gottheiten bereitet Heidegger hier eine weitere Wesenserläuterung dieses Geschehens durch den Verweis auf das "Chaos" vor, aus dem die "obersten Gottheiten" "gezeugt" wurden. Bevor wir uns aber diesem Gedankengang widmen können, gilt es, das oben bereits angekündigte Versprechen einer umfassenderen Auslegung der zwei Entfaltungsbezirke des Offenheitsbereiches durch Zu-Hilfe-Nahme von Heideggers Kunstwerkabhandlung einzulösen.

a) Sechster Exkurs (1. Teil): Das zwiefache Streitgeschehen in der Kunstwerkabhandlung160

Innerhalb der Kunstwerkabhandlung wird die sich lichtende Offenheit im Zusammenhang mit der ursprünglich verstandenen Wahrheit gedacht. Diese birgt in sich ein zwiefaches Streitgeschehen. Um die gröbsten Mißverständnisse von vornherein zu vermeiden, ist es angebracht, gleich am Anfang darauf hinzuweisen, daß dieser "Streit" kein zerstörerischer bzw. vernichtender ist, sondern gerade einer, durch den die Streitenden in ihr jeweiliges Wesen befreit werden; es handelt sich hier gewissermaßen um eine "liebevolle Aus-ein-andersetzung". Innerhalb einer Thematisierung des Phänomens des Streits in bezug auf eines der beiden ursprünglichen Streitgeschehen161 heißt es ausdrücklich bei Heidegger in Abhebung von dem gewöhnlichen Streitverständnis (als einem zerstörerischen): "Im wesenhaften Streit jedoch heben die Streitenden, das eine

158 So entspringen bei Hesiod in der Theogonie die Gottheiten aus rara und Oupav6,;, wobei allerdings auch Oupav6s- von rara gezeugt wird und diese wiederum dem

Chaos entspringt. 159 GA 4: S. 61 . 160 Für eine ausftihrlichere Interpretation siehe von Herrmanns Heideggers Philosophie der Kunst. Frankfurt: Vittorio Klosterrnann, 21994: § 25. 161 Nämlich in bezugaufden "Welt-Erde-Streit".

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je das andere, in die Selbstbehauptung ihres Wesens."162 Obwohl aus diesem Satz eindeutig hervorgeht, daß die Streitenden einander das Wesen nicht zersetzen, könnte man zunächst beim bloßen Hören dieses Satzes meinen, daß es sich zwar um kein zerstörerisches Zueinander-Verhalten handelt, aber gewiß auch um kein "heiliges"; das Wort "Selbstbehauptung" in seiner geläufigen Bedeutung würde eher auf eine Art von "symbiotischem Egoismus" hindeuten, wo es dem einen im Stärken des anderen letztendlich doch nur um die Verhärtung seines eigenen Wesens geht. Aber hier ist es ganz entscheidend, weiter zu fragen, wie denn Heidegger "Selbstbehauptung" versteht. Der nächste Satz gibt uns darauf schon eine unmißverständliche Antwort: "Die Selbstbehauptung des Wesens ist jedoch niemals das Sichversteifen auf einen zuflilligen Zustand, sondern das Sichaufgeben in die verborgene Ursprünglichkeit der Herkunft des eigenen Seins. "163 Folglich handelt es sich bei der "Selbstbehauptung" gerade nicht um eine monadische Versteifung auf ein starres "Eigentum", zu dessen Stärkung das Andere toleriert und gefördert wird. Ganz im Gegenteil wird ein solches vielmehr aufgegeben; im Einander-ins-Wesen-Erheben heben sich die Streitenden beide in das Sichaufgeben in die verborgene Ursprünglichkeit der Herkunft ihres Seins. 164 Daher trägt der Streit die Streitenden nicht in die Erstarrung, sondern in die "Innigkeit des einfachen Sichgehörens" 165 ; dieses Sichgehören wird letztendlich nicht aus ihnen selbst, sondern erst aus ihrer gemeinsamen Herkunft verständlich. Diese gemeinsame Herkunft ist der "Urstreit", der zwar selber keine weitere "Herkunft" mehr hat, sondern als die Herkunft allen Seins schlechthin waltet, dessen "Streitcharakter" jedoch ebensowenig wie der bereits erwähnte ein zerstörender, sondern der ursprungliehst-freigebende ist und in sich den Wesenszug des "Ur-Verborgenen" austrägt. Dieses Streitgeschehen ist uns der Sache nach bereits aus der Auslegung des Heraklit-Fragmentes bekannt. In der Tat legt Heidegger in einer späteren Vorlesung den Spruch des Heraklit über die >deutungsvoller...uns«nämlich den miterwachenden Dichtem. Der Reichtum des Anfänglichen schenkt ihrem Wort die Überfulle der kaum zu sagenden Bedeutung."2114 Hier betont Heidegger, daß die Tiefe der anfänglichen Erschütterung einen Reichtum birgt: Sie erscheint zwar nie wie eine geschichtliche Epoche oder wie ein innerweltlich Seiendes in einer solchen und bleibt daher vom Seienden aus gemessen ein "nichts"; aber gerade dieses "Nicht-Aufgehen" ist kein Mangel, sondern gehört wesensmäßig zu einer Schenkung: Durch dieses An-sich-Halten verschenkt die Tiefe der Erschütterung dem dichterischen Wort "die Überfülle der kaum zu sagenden Bedeutung", d.h., sie kann nie mit weltlichen Worten ausgeschöpft werden und bleibt so in ihrer Überfiille fast unsagbar; begrifflichkategorisch kann sie natürlich überhaupt nicht erfaßt werden, da dies die Möglichkeit einer Unterordnung unter Faßbares voraussetzt. Jedoch ist ihre Unsagbarkeit nur "fast", denn, obwohl das dichterische Wort sie niemals ausschöpft, so schwingt im dankenden Preisen doch ein Anklang des Heiligen immer mit. Aber das ursprünglich Unausschöpfbare anklingen zu lassen, bleibt schwer. Heidegger betont diese Schwierigkeit des Sagens, die dennoch keine Unmöglichkeit, sondern vielmehr nie endende Auf-gabe der Dichter ist, indem er einige Verse Hölderlins zitiert, die all dies bekunden: "Daher wird ihnen »eine Last von Scheitern« auf die Schultern gelegt. Darum ist dann auch für sie »Vieles zu behalten« (»Reif sind ... « IV2, 71) und »Vieles ist zu sagen« (IV2, 219, 221), »denn noch ist manches zu singen« (Am Quell der Donau. IV2, 161)."285 Trotz der Schwierigkeit sind aber die Dichter einzigartig vom Erwachen der wohlverstandenen Natur angesprochen, weil sie sich in diese (als Zu-gelassene) einbezogen erfahren; daher sind ihnen die bisher erläuterten Grundzüge des Heiligen "vernehmlicher" als anderen Menschen. Sie stehen inniger in der Erschütterung, aus der das Urgeschehen des Sichlichtens der verschiedenen Epochen aus einer verborgenbleibenden Tiefe geschieht. Heidegger faßt diesen Gedanken im folgenden Satz noch einmal zusammen: "Aber weil die Erschütterungen aus der ältesten Tiefe der erwachenden Natur stammen, die Dichter

284 285

GA 4: S. 66. GA 4: S. 66.

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jedoch von dieser leicht umfangen sind, muß ihnen auch die Begeisterung anwesender und so »vernehmlicher« sein." 286

IV. Das "Still-Enden in der Seele der Dichter" (5. Strophe, Z. 7-8) Es drängt sich nun die Frage auf, wie denn dieses dichterische Vernehmen sich darbietet, wie es das Anwesen des Heiligen vernehmend bewahrt. Zur Beantwortung zieht Heidegger die nächsten zwei Verszeilen heran: "Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, /Still endend in der Seele des Dichters."287 Zunächst betont Heidegger das Komma am Ende der ersten Zeile: "Mit Bedacht hat Hölderlin nach dem »sind« ein Komma gesetzt. Wie ein unscheinbarer Meißelschlag des Bildhauers dem Gebilde ein anderes Gepräge verleiht, so legt dieses Komma ein eigenes Gewicht in das »sind«"288 Mit dem "sind" ist also nicht die bloße "Kopula" gemeint, welche die "Gedanken des gemeinsamen Geistes" als Subjekt dem Prädikat des "Still-Endens in der Seele des Dichters" unterordnet; vielmehr heißt das "sind" hier: "wesen an" bzw.: "Die »erwachende Natur«, die »Begeisterung« ist gegenwärtig."289 Die Gedanken des gemeinsamen Geistes sind, wie wir sahen, gegenwärtig anwesend im Lied; sie entstammen dem Heiligen selbst, das hier von Heidegger durch die bereits erläuterten Wesenszüge der "erwachenden Natur" bzw. der "Begeisterung" genannt wird. Die Weise, wie die wohlverstandene Natur gegenwärtig anwest, ist wegen ihrer Unausschöpfbarkeit das Kommen (des "Uralten", immer schon gewesenen Neuerscheinens): "Die Art ihrer Gegenwart ist das Kommen." 290 Die nächsten Sätze Heideggers bieten auf dem Boden der bisherigen Erläuterung keine großen Verständnisschwierigkeiten mehr und brauchen daher kaum kommentiert zu werden: "Das Heilige behält alles zusammen in der unversehrten Unmittelbarkeit seines »vesten Gesezes«. Alles auseinandersetzend bleibt der »Geist«, alles denkend durchfügend, allem zugetan. Er ist als »der Geist« stets »gemeinsamer Geist«. "291 Hier wiederholt Heidegger den Gedanken der heilen Unmittelbarkeit des Heiligen, die alles Erscheinende in ein eigenständiges, differenziertes Sein vermittelt und dennoch auf das also Freigegebe-

GA 4: S. 66. Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 67. 288 GA 4: S. 67. 289 GA 4: S. 67. 290 GA 4: S. 67. 291 GA 4: S. 67. 286

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ne nach "allgegenwärtigem", "festem Gesetz" "geistmäßig", d.h. durch einigende Einheit, "zugetan", d.h. auf es freundlich bezogen, bleibt. Da das Heilige also zu allem und damit auch zu den Dichtem in einem Bezug steht, stellt sich die Frage: "Und welcher Art ist die Gegenwart der alles durchwaltenden und in der Einheit behaltenden Begeisterung des Geistes?" 292 Wie "sind" die Gedanken des gemeinsamen Geistes, d.h., wiewestdas Heilige als Kommendes, Erwachendes an? Die zweite Verszeile antwortet: >>Still endend in der Seele des Dichters«. Die Weise des Anwesens des Heiligen ist das "Still-Enden". Sogleich muß gefragt werden: Was heißt hier "enden", und was bedeutet "still"? Heidegger betont, daß hier mit dem "Enden" kein "Verenden", "Verkommen" bzw. "Untergehen" gemeint ist, sondern daß sich im "Enden" das Heilige in gewisser Weise vollendet. Diese Art der "Vollendung" ist keine Absage an die wesensmäßige Unausschöpfbarkeit, sondern das Heilige wird als Kommendes in die "Seele des Dichters" "eingelassen", d.h. in ihr "zugelassen", gewahrt und aufbehalten, d.h. verwahrt: "Sie »endet« nicht in dem Sinne, daß sie hinschwindet und aufhört. Im Gegenteil: die Begeisterung wird eingelassen und aufbehalten, und zwar »still«." 293 Das "still" erläutert also die Weise, wie das Heilige anwesend wird als ein vom Dichter Ge- und Verwahrtes. "Still" besagt einmal, daß das ankommende Anwesen des Heiligen zunächst nicht ein "Stimmlich-Verlautendes" ist. Der Dichter ist also kein "Stimmen-Hörer" in dem Sinne, daß er mysteriös lautende Stimmen einfach nachspricht. Die Stimme des Heiligen ist still, lautlos-schweigend. Zum anderen spricht "still" hier aber auch vom "Ge-stillt-sein" der Erschütterung, d.h. vom Zur-ruhigen-Vollendung-gekommen-sein des Aufrisses der Lichtung aus dem Verborgenen: "Die Erschütterung ist gestillt und verwahrt in die Besänftigung."294 In der Erschütterung wurde die Bodenlosigkeit einer verkrusteten, verknechteten Gelichtetheilsweise offenbar, in der die Menschen, das Heilige vergessend, der Betreibung und Benutzung von Seiendem nacheifern. In so einer Grundhaltung wird eine Erschütterung, die das Bodenlose aufzeigt, im geläufigen Sinne des Wortes: "entsetzlich"; in ihr verliert der Mensch all seinen gewohnten Halt und stürzt ins Bodenlose. Der Dichter aber, der dem neuen Boden des Heiligen erwachend entgegenkommt, bringt einen Raum mit sich, in dem das Ent-setzliche, d.h. das die Wesensweite des Menschen Aufreißende und so Aufzeigende, sich vollenden und besänftigen kann. Da das Heilige ja im (milden) Ent-setzen auf den dem Menschen gewährten, übereigneten

GA 4: S. 67. GA 4: S. 67. 294 GA 4: S. 67. 292 293

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bzw. übergebenen Offenständigkeitsbereich aufmerksam macht, ist es im Grunde das Gegenteil dessen, was wir gewöhnlich unter dem "Entsetzlichen" verstehen. Die wesensmäßige Milde des Entsetzlichen bekundet sich als solche vornehmlich in der milden Grundhaltung des ahnenden Dichters: "Das Entsetzende des Heiligen ruht in der Milde der Seele »des Dichters«."m Wie der Dichter das Entsetzliche mildert und als Gemildertes dem Volk mitteilen kann, wird Heidegger ein wenig später genauer untersuchen. Bis jetzt wurde lediglich aufgewiesen, wie das Heilige sich dem Dichter zeigt: "Das Heilige ist still gegenwärtig als Kommendes. "2911 Weil es auch für den Dichter niemals ein vollständig Gegenwärtiges wird, das er sich quasi gegenüberstellen und vollständig begreifen und "verdichten" könnte, sondern ein "Kommendes" bleibt, deswegen ist das Heilige un-gegenständlich: "Deshalb wird es auch nie als ein Gegenstand vorgestellt und erfaßt. "297

a) "Der Dichter" gegenüber "den Dichtern" In bezugauf die zuvor zitierten beiden Zeilen (7-8) bemerkt Heidegger, daß Hölderlin jetzt von dem Dichter in der Einzahl spricht: "Überall sonst in diesem Gedicht spricht Hölderlin in der Mehrzahl von den Dichtem (v. 10/11, 16/17, 31 , 56). Hier aber ist der eine Dichter gemeint, jener, der sagt: »Ich harrt und sah es kommen.«" 298 Der Dichter in der Einzahl ist derjenige, der den weitesten Blick in das Kommende hat und so dem Erwachen des Heiligen am nächsten steht und das gelungenste Wort vom Heiligen und von dem Bezug zur Dichtung künden kann. Solch ein Blick ist natürlich niemals ein begrifflichkategoriales Wissen, das etwas unter ein immer schon Bekannteres, Allgemeineres unterordnet (da das Heilige sich ja, wie bereits erläutert, nicht unterordnen läßt, sondern vielmehr den Raum aller Ordnung eröffnet). Aber das ahnende Zugehörigsein zum Heiligen bringt eine eigene Art von "Wissen" und "Gewißheit" mit sich, die Heidegger andeutet: "Seinem Wissen entstammt die Gewißheit des Wortes: »Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, still endend in der Seele des Dichters.«"299 Sein Wissen ist das Gesehenhaben und Sehen der Zugehörigkeit des Erscheinenden zum unausschöpfbaren Wesen des Heiligen; die Gewißheit des Wortes ist keine apodiktisch-deduzierte, sondern entstammt

GA 4: GA 4: 297 GA 4: 298 GA 4: 299 GA 4: 295

296

S. 67. S. 67. S. 67. S. 67. S. 67.

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einem Mitwissen um das gelungene Entsprechen des Anspruches, der vom Heiligen an den Dichter ergeht. Die Weise, wie dieses Dem-AnspruchEntsprechen näherhin zu verstehen ist, und vor allem welche Gefahren ihm drohen, wird von Heidegger im folgenden bedacht. Um den Verweis auf die Einzahl "des Dichters" im Gegensatz zu dem sonst genannten Plural "die Dichter" angemessener verstehen zu können, müssen wir uns zuvor aber kurz der fiinften Fuge des Ereignisses zuwenden, in der von den "Zukünftigen" die Rede ist. Heidegger selber nannte die Dichter am Anfang des Vortrages schon einmal beim Namen der "Künftigen": "»Die Dichter« sind die Künftigen, deren Wesen bemessen wird nach ihrer Anrnessung an das W esen der »Natur«." 300 Die Einzahl "der Dichter" verweist auf ihren Zukünftigsten.

b) Siebenter Exkurs: "Die Zu-Künftigen" im Ereignis-Denken

Zunächst ist festzuhalten, daß "zukünftig" natürlich von Heidegger nicht im chronologischen Sinne gemeint ist. Denn dann wäre Sätzen wie dem folgenden überhaupt kein Sinn abzugewinnen: "Heute sind schon Wenige dieser Zukünftigen. "301 Auch wäre Hölderlin chronologisch gerechnet kein Zukünftiger, sondern ein Vergangener. Ausdrücklich heißt es aber im 252. Paragraphen: "Hölderlin ihr weitherkommender und daher zukünftigster Dichter."302 Stringent faßt Heidegger das Wesen der Zukünftigen im folgenden Satz zusammen: "Die Zukünftigen, die im gegründeten Da-sein Inständlichen des Gemütes der Verhaltenheit, auf die allein das Sein (Sprung) als Ereignis zu-kommt, sie ereignet und zur Bergung seiner Wahrheit ermächtigt. "303 Diesen Satz gilt es im folgenden auszulegen. Die Zukünftigen stehen im "gegründeten Da-sein" inne, d.h., erfahren ihr Wesen aus der Wahrheit des Seins als der Lichtung und stehen in und bauen auf diese(r) Wesenserfahrung; die also "Inständlichen" zeichnen sich durch die Grundstimmung der Verhaltenheit aus. Die Verhaltenheit charakterisiert Heidegger in bezug auf die Zukünftigen so: Verhaltenheit und Verschwiegenheit werden die innigste Feier des letzten Gottes sein und die eigene Weise des Zutrauens zur Einfachheit der Dinge und die eigene

GA 4: S. 55. GA 65 : S. 400. 302 GA 65: S. 401. 303 GA 65: S. 401. 300 301

§ 6. Auslegung des Verhältnisses des Heiligen zu den Dichtem

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Strömung der Innigkeit der berückenden Entrückung ihrer Werke sich erringen, die Bergung der Wahrheit wird das Verborgenste verborgen sein lassen und ihm so die einzige Gegenwart Ieihen. 304

Aus diesem Zitat ist für uns hier wichtig, daß durch die Grundstimmung der Verhaltenheit ein Bezug zu dem "letzten Gott" gestiftet wird; durch die schweigsam-offene, anwesen-lassende Verhaltenheit öffnet sich das Dasein für die Erscheinung dieses Gottes. Weiter wird diese Grundhaltung das Verborgenste verborgen sein lassen, d.h., als Verborgenstes anwesen lassen und ihm so eine gewisse Art der Gegenwärtigkeit verleihen. Das Verborgene wird so nicht zu etwas "Gegenwärtigem" im geläufigen Sinne, aber es west im Seienden als dessen verborgenbleibender Grund gegenwärtig geborgen an. Durch die Verhaltenheit erfährt das Verborgene seine einzige Möglichkeit der Gegenwart, nämlich des Anwesens als das Verborgenbleibende, das Seiendem Grund gibt und als dieser verborgenbleibende Grund in diesem (Seienden) und durch dieses aufscheint. Im "Sprung" kommt den Zukünftigen das Sein als Ereignis zu. Das heißt, daß sie sich als ereigneter Entwurf aus dem ereignenden Zuwurf erfahren und die Gründung aus dieser Erfahrung vollziehen können, indem sie in ihr inständig werden. Deswegen erfahren sie eigens, daß sie ereignet sind. Zwar steht jeder Mensch in einem gewissen Bezug zum Ereignis, aber, wie wir schon öfters sahen, dieser Bezug wird zunächst und zumeist nicht eigens wahrgenommen und als solcher erfahren. Dadurch daß die Dichter achtsam in dieser Erfahrung stehen, d.h., sich angesprochen vom ereignenden Zuwurf erfahren, werden sie zur "Bergung seiner Wahrheit ermächtigt". Ermächtigt werden sie in dem Sinne, daß sie, aus dem Anspruch des Zuwurfs schöpfend, von ihm sagen und zeugen können. Dieses Gesagte ist dann nicht "ihr (genialer) Einfall", sondern stammt aus einem Hören auf das Sichzusprechende. Dadurch, daß sie dem Anspruch entsprechen, verfälschen sie ihn zwar nicht, aber verwandeln ihn doch in gewisser Weise: Sie gewähren ihm einen Anwesungsraum im Seienden, machen ihn vernehmbar im Seienden und vollenden so gewissermaßen seinen Anspruch, im Seienden hervorzuscheinen. Auf dem Boden des soeben Dargelegten wird der Begründungszusatz verständlicher, den Heidegger jenem Zitat beifügt, in dem Hölderlin der "Zukünftigste" genannt wird: "Hölderlin ist der Zukünftigste, weil er am weitesten herkommt und in dieser Weite das Größte durchmißt und verwandelt." 305 Die Weite muß sich hier auf die Wesensweite der ursprünglichen Zeit beziehen, die weit über das Gegenwärtige hinausragt Aus dieser Weite "kommt" 304 305

GA 65: S. 399f. GA 65: S. 401.

II Helling

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

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Hölderlin "her", d.h. aus ihr hat er im Sprung sein Wesen als ereigneter Entwurf erfahren, und in ihr hat er sein Wesen gegründet. Er hat als also Inständiger einen Einblick in die Zugehörigkeit seines eigenen zeitlichen Wesens bzw. Selbstseins zur Wesensspannweite des ursprünglichen Zeit-Raums gewonnen. In dieser Zugehörigkeit zur Wesensweite, so heißt es weiter, ''durchrnißt" und "verwandelt" Hölderlin zugleich "das Größte". Der Hinweis auf dieses "Größte" liegt in dem Selbstsein, das der Wesensweite der ursprünglichen Zeit (bzw., wie später noch genauer erläutert werden wird, des Zeit-Raums) zugehört: "Das Selbst-sein ist der schon im Suchen liegende Fund, die sichere Leuchte, die aller Verehrung voranleuchtet, kraft deren allein wir offen sind fiir den Anklang des Einzigsten und Größten. "'06 Die Wesensweite des Selbst-seins trägt in sich schon den Bezug zum "Größten", das jedoch nie in ihr aufgeht, wohl aber in ihr anklingen kann. Das Wort "durchrnißt" wurde von Heidegger in dem Zitat, das Hölderlin den "Zukünftigsten" nennt, kursiv geschrieben. In dem in den Beiträgen unmittelbar vorangegangenen Abschnitt über die "Bergung" wird das "Durchmessen" von dem bisherigen, vorstellenden Denken abgehoben und mit der "Wahrheit des Seyns" in Zusammenhang gebracht. Hieraus läßt sich vielleicht ein Wink entnehmen, wie das zu durchmessende "Größte" an unserer Stelle zu denken ist: Allein, das Verständnis der hier wesenden Zusammenhänge verlangt, daß man sich von der einfachen Denkweise des Vor-stellens des Anwesenden (vom Sein als Anwesenheit und Wahrheit als Angleichung an das Anwesende) von Grund aus losmacht und den Blick des Denkens so ansetzt, daß er zumal die ganze Wesung der Wahrheit durchmißt 307 Das Durdunessen des Größten läge demnach im Ablassen vom vorstellenden Bedenken des Seienden zugunsten des Sich-inne-Werdens derjenigen Spannweite, die der W esung der Wahrheit eigen ist. Die Weite des ereigneten Menschenwesens stammt aus der Größe der ereignenden Wahrheit. Indem das Erscheinen der Wahrheit durch das Sagen von ihr vermittels der Zukünftigen im Seienden zum Vorschein gebracht wird, erfahrt sie, wie wir weiter oben sahen, eine Verwandlung. In diesem Sinne vermögen die Zukünftigen aus der Erfahrung der Zugehörigkeit (der ereigneten Wesensweite ihres Selbst-seins) zum Größten, nämlich der ereignenden Wahrheit des Seins, dieses Größte zu durchmessen und zu verwandeln.

306 307

GA 65: S. 398. GA 65: S. 390.

§ 6. Auslegung des Verhältnisses des Heiligen zu den Dichtem

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V. Die Möglichkeit des Glückensund Verunglückens im Entsprechen (6. Strophe, Z.l-5) Im Vortrag wendet sich Heidegger nach dem Verweis auf den Dichter in der "Einzahl" nunmehr der nächsten Strophe zu, in der die möglichen Weisen des dichterischen Entsprechens zur Sprache kommen. Vorher bemerkt er aber, daß ein Zwischengedanke den Übergang erst erhellen muß. Diese Bemerkung stützt sich auf ein philologisches Faktum: "In der fiinften Strophe fehlt der Zahl nach ein Vers. So muß auch ein Zwischengedanke eingefügt werden, damit ein deutlicher Übergang zur nächsten Strophe besteht."301 Der Zwischengedanke soll aufzeigen, wie das "Still-Enden" des Zuspruches des Heiligen zum geglückten Sagen von ihm führen kann. Diesen Zwischengedanken beginnt Heidegger mit dem Verweis darauf, daß mit dem Erwachen der wohlverstandenen Natur auch der eine Dichter erwacht ist, der dieses Erwachen ins Wort hebt: Jetzt, da es tagt, ist auch >>der« Dichter erwacht. Durchstimmt von der erwachenden Begeisterung, ist jetzt ein ))Geistiger« bestimmt, der einzige Dichter zu sein. Und erst muß ja ein Dichter sein, damit ein Wort des Liedes werden kann. 309 Dieses Zitat bietet im Lichte der vorangegangenen Untersuchungen keine besonderen Schwierigkeiten: Der Dichter, der sich für das dämmemde Erscheinen der Natur geöffnet hat (für sie "erwacht"), ist von dieser durchstimmt und bestinunt, d.h., empfängt sein Zu-Sagendes allein aus dem Zuspruch, der aus der erwachenden Natur an den Dichter ergeht. Weil er aus diesem Zuspruch seine Weisung empfängt, dichtet er kein bloß Seiendes mehr, sondern das Heilige. Dadurch wird er zu einem der Zukünftigen; wie wir während unseres kurzen Exkurses zu der Auslegung der "Zukünftigen" in den Beiträgen sahen, wird Hölderlin für Heidegger zu dem "Zukünftigsten" bzw. "einzigen Dichter" schlechthin, da er die Weite des Phänomens am einzigartigsten erfahren hat. Im Empfangen des Zuspruchs aus dem Heiligen ist der Dichter zunächst der verhalten Schweigende: "Der eine Dichter verwahrt die gestillte Erschütterung des Heiligen in der Stille seines Schweigens. "110 Die Erschütterung ist vom Dichter "gestillt", weil er sich bereits auf sie entgegenkommend gesammelt hatte und sie ihn daher nicht im Erschüttern alltäglicher Grundlagen in eine "sprachlose Furcht" versetzt; viel eher führt ihn solche Erschütterung zur Sprache. Das vorbereitende Offenwerden für das Heilige geschieht im schweigsamen Stillwerden des Schweigens. Da der Zuspruch des Heiligen keine GA 4: S. 67. GA 4: S. 67. 310 GA 4: S. 67. 308 309

!!•

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

"verlautbarte Stimme" ist, sondern lautlos ruft, kann dieser nur im Schweigen gewahrt und verwahrt werden. Aus solcher Verwahrung und dem daraus entstehenden Vertrauterwerden kann der Dichter dann das schweigend Empfangene in das verlautende Wort bergen: "Weil ein Wortklang des echten Wortes nur aus der Stille entspringen kann, ist jetzt alles so bereit:"311 Mit diesem Satz ist der "Zwischengedanke" zwischen der 5. und 6. Strophe abgeschlossen, und Heidegger zitiert nun die ersten fiinf Zeilen dieser Strophe. Weil also der Dichter im stillen Schweigen den Zuspruch des Heiligen vernommen und in sich eingelassen hat, kann er bzw. sie ("die Seele des Dichters") nun von ihm rein sprechen: Dass schnellbetroffen sie, Unendlichem Bekannt seit langer Zeit, von Erinnerung Erbebt, und ihr, von heilgern Stral entzündet, Die Frucht in Liebe geboren, der Götter und Menschen Werk Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt. 312

Durch den ersten Satz, der diese Zeilen erläutern soll, wird die Notwendigkeit des soeben dargelegten "Zwischengedankens" noch einmal einsichtig gemacht: "Der pindarische Bau dieser Verse wird durchspannt von dem einen Gedanken: Weil das Heilige in der Seele des Dichters still verwahrt ist, glückt ihr der Gesang, d.h. jetzt das Wort, das nur das Heilige sagen soll. "313 Das Heilige kann nie vom Dichter "erfunden" werden; ein echtes Wort von ihm kann nur glükken, wenn der Offenständigkeitsbereich des Dichters (bzw. "die Seele des Dichters") von dem Heiligen selbst durchstimmt und in Anspruch genommen ist. Dieser Offenständigkeitsbereich ist wieder nur als schweigsam-stiller "offen" genug, um den lautlosen Anspruch des Heiligen zu hören. Aber mit dem nächsten Satz deutet Heidegger eine Gefahr an, die das Glükken des Gesanges überkommen kann; d.h., das einzigartige Vernehmen des Heiligen in stillschweigsamer Offenheit garantiert noch nicht das geglückte Sagen bzw. den "Gesang" hiervon. Inwiefern das Lied "verunglücken" kann, wird jetzt schrittweise von Heidegger erarbeitet: "Dies Glücken aber besteht nicht allein darin, daß ein Lied gelingt, sondern daß »ihr«, der Seele des Dichters, das Glück hold ist, insofern sie nicht im Werden des Werkes verunglückt."314 Das "insofern" betont also: Sogar dann, wenn das Heilige sich dem Dichter zugesprochen hat und von diesem vernommen wurde und ein Werk im Werden ist, besteht die Gefahr. Dasselbe sagt Heidegger noch einmal auf andere Weise:

GA 4: S. 67f. Hölderlin zitiert von Heidegger in GA 4: S. 68. 313 GA 4: S. 68. 314 GA 4: S. 68.

311

312

§ 6. Auslegung des Verhältnisses des Heiligen zu den Dichtem

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"Dies betonte Wort, daß der Gesang glückt, will sagen: Das Drohende eines wesenhaften Unglücks wird überstanden. "315 Dadurch daß Hölderlin vom "Glück" des Gesanges weiß, weiß er also auch von dieser Möglichkeit des Verunglückens. Heidegger - der Dichtung folgend - wechselt im folgenden mehrere Male zwischen der Untersuchung des Glückes und des Unglückes hin und her. Dadurch werden beide Möglichkeiten unmittelbar einander gegenübergestellt und erhellen so deutlich die beiden Weisen, wie sich das Entsprechen in bezug auf das Heilige gestalten kann. Für uns stellt sich zunächst die Frage: "Woher jedoch soll hier ein Unglück drohen?" 316

a) Die Möglichkeit der Verunglückung im Entsprechen in bezugauf das Heilige (1): Der mißverstandene Bezug zu den Göttern

Die erste Antwort auf die Frage nach dem "Wober" des Unglückes gibt Heidegger in Form einer Gegenfrage: "Woher anders denn aus dem möglichen Nichtertragen des Glücks?" 317 Dieses Glück erläutert Heidegger weiter: "Des Glückes nämlich jener Beglückung, die notwendig ist für die Geburt des Liedes."318 Hier deutet sich schon an, daß das stille Verwahren des Heiligen "in der Seele des Dichters" allein nicht schon den Gesang glücken läßt. Es bedarf einer weiteren "glücklichen Begebenheit", die aber auch die Möglichkeit des Unglücks mit sich bringt: "Denn mag auch die Seele des Dichters still die Gegenwart des Kommenden in sich verwahren, der Dichter vermag dennoch nie von sich aus unmittelbar das Heilige zu nennen. "319 Das Sichöffuen fiir das Heilige in seinem Kommen ist ein wesentliches Moment des Werdens des Liedes, aber es ist nicht das einzig wesentliche Moment. Heidegger redet im folgenden von dem Heiligen als einer "Glut", die erst der Entzündung bedarf: "Die in der Seele des Dichters still gehegte Glut des Lichten bedarf der Entzündung."320 Um diese "Glut" zu "entzünden", bedarf es eines "Strahls", der wiederum aus dem Heiligen kommt, aber in gewisser Weise "stärker" ist als der Strahl, der die Glut in der Seele des Dichters entfacht hat: "Stark genug dazu ist nur ein Lichtstrahl, der wieder vom Heiligen selbst entsandt wird. Also muß ein Höherer, der dem Heiligen näher und gleichwohl stets noch unter ihm ist, ein GA 4: S. 68. GA 4: S. 68. 317 GA 4: S. 68. 318 GA 4: S. 68. 3 19 GA 4: S. 68. 320 GA 4: S. 68.

3 15

316

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...>Und daher trinken...«), sind die künftigen Dichter (»Doch uns gebührt es ... «) in die äußerste Gefahr gestellt. 357

Diese Gefahr besteht in der gewaltigen Größe der Aufgabe, welche die "Vennittlung" des Heiligen zu den Menschen mit sich bringt. Einerseits muß der Dichter rein in der sich-öffnenden Dimension des Heiligen bleiben, d.h., er muß hier das jäh sich immer neu zusprechende Phänomen, das selbst niemals zu Seiendem werden kann, offen halten; andererseits muß er dieses an sich nie faßbare Phänomen, von dem der Dichter immer lebendig "erfaßt" werden muß, für die Menschen irgendwie faßbar machen, ohne aber das Wesentliche dadurch zu verdecken. Er muß das "Nicht-Seiende" im Seienden andeutungsweise hervorscheinen lassen. Diese grundsätzliche Problematik entwickelt Heidegger in dem folgenden Gedankengang. Zunächst heißt es: "Jetzt müssen sie dort stehen, wo das Heilige selbst, vorbereiteter und anfänglicher, sich öffnet."358 Sie stehen also im Zuspruch, der ihre Zugehörigkeit zum Heiligen (das sie beständig erharren) bestärkt und immer im Kommen ist. Durch diese Erfahrung werden sie mit dem Anfanglichen, das sich nie in einem Moment erschöpft, vertrauter und somit immer besser "vorbereitet" auf das, was die Dichter gewissermaßen immer 357 358

GA 4: S. 71. GA 4: S. 71.

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

schon im anfangenden, sich öffnenden Zuspruch vorbereitet hat. In ihrem Entsprechen müssen sie diesem Zuspruch treu bleiben, zugleich aber auch ihn verwandeln: "Die Dichter müssen dem Unmittelbaren seine Unmittelbarkeit lassen und doch zugleich seine Vermittlung als das Einzige übernehmen."359 Hier wird die Spannung zwischen dem Unmittelbaren und der dennoch notwendigen Vermittlung deutlich betont. Im Ausstehen dieser Spannung liegt die einzige Aufgabe der Dichter, insofern sie "Zukünftige" sind. Wir sahen bereits, daß die Vermittlung des Unmittelbaren nicht nur des Sichöffnens der Dichter fiir das Heilige bedarf, sondern auch des Sichöffnens ftir das Empfangen der Hilfe von Wesen, die in ihrem Erscheinen rein im Heiligen ruhen und daher den Dichtern einen gewaltigen Stoß in das Zu-Nennende gewähren können. Der Bezug zu den Göttern darf daher von den Dichtern, die beständig dem immer neu sich zusprechenden Phänomen des Heiligen entsprechen müssen, nicht aufgegeben werden: "Deshalb ist dies ihnen Würde und Pflicht, im Bezug zu den höheren Mittlern zu bleiben."360 Die Mittler sind zwar "höher" als die Dichter, jedoch bleiben sie natürlich Mittler, d.h., wesensmäßig auf das Heilige als ihren Erscheinungsgrund bezogen. Die Aufgabe des Dichters besteht daher im folgenden: 1. Dem Bezug zum Heiligen in seinem je immer neuen Zuspruch rein zu entsprechen; 2. den Bezug zu den Göttern als den "höheren Mittlern" zu bewahren, ihn aber nicht zu verabsolutieren. Da das Heilige immer neu erscheint und immer neuer "höherer Vermittlung" bedarf, besteht die Gefahr des Sichverlierens an diese Mittler (was dem Verlust des menschlichen Wesens gleichkäme) auch fortwährend. 3. Das vom Heiligen je immer neu Zugesprochene, durch die Götter "höher Vermittelte", muß im Seienden geborgen (d.h. gegründet) den Menschen aufmilde Weise nahegebracht werden, um diesen zu helfen, in einen eigentlicheren Bezug zu ihrer eigenen Wesensherkunft zu gelangen (und dies nicht "ein fiir alle mal", sondern je immer wieder neu). Im Angesicht dieser Aufgabe wird der folgende Satz Heideggers gut verständlich: "Jetzt, da es tagt, ist die »Last von Scheitern« nicht gemindert, sondern in das kaum Tragbare gesteigert."361 Heidegger selbst faßt die Schwierigkeit und Spannung dieser Aufgabe so zusammen: "Wenn auch das Unmittelbare nie unmittelbar zu vernehmen ist, so gilt es doch, den vermittelnden Strahl »mit eigner Hand zu fassen« und selbst in den »Wettern« des aufgehenden Anfanglichen auszuharren." 362 Das Unmittelbare ist zwar nicht "an sich" faßbar, wird jedoch durch seinen Bezug zum GA 4: S. 71. GA 4: S. 71. 361 GA 4: S. 71. 362 GA 4: S. 71. 359

360

§ 6. Auslegung des Verhältnisses des Heiligen zu den Dichtern

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Erscheinenden vernehmbar. Ein Strahl des Heiligen ist die "Seele des Dichters" selber, die sich in ihrer Zugehörigkeit zum sie freigebenden Heiligen erfahren kann. Ein weiterer Strahl ist der der Götter. Der Dichter muß diesen Strahl "mit eigener Hand" fassen, d.h., er darfnicht sein menschliches Wesen im Empfangen dieses Strahls verlieren. Er muß menschlich dem Heiligen entsprechen, selbst wenn ein Gott ihm in solches Entsprechen verhilft. Trotzdem er nun den also gefaßten Strahl in seiner Seele gestillt und in einer Mildheit den Menschen vernehmbar gernacht hat, darf er sich selber nicht in dieser Milde einwiegen, sondern muß den "Wettern", d.h. dem beständigen Geschehen der Erschütterung alles Gewöhnlichen durch den gänzlich ungewöhnlichen, je immer neu anwesenden, immer schon ge-wesenden Grund, ausgesetzt bleiben. Diese Aufgabe ist die Aufgabe aller Zukünftigen. Unabhängig von der Weite und Tiefe, in der die jeweils einzelnen Dichter dieser Aufgabe entsprechen, erfahren sie sich in dieser Aufgabe als zusammengehörig: "Im Wissen dieses Gebührenden gehören die Dichter zusammen. "363 Diese Aufgabe "gebührt" den Dichtem, sie ist ihrer Wesenswürde nach die entsprechende. Hölderlin nimmt hier in Heideggers Denken einen ganz besonderen Ort ein: "»Wir Dichter« - das sind jene Einzigen, Künftigen, als deren erster Hölderlin selbst alles, was zu sagen ist, vor-sagt. "364 Dieses "Vor-sagen" ist natürlich nicht im Sinne eines "Diktates" zu verstehen, das die anderen Dichter, ihrer Fähigkeit entsprechend, "abzuschreiben" hätten, sondern es verweist darauf, daß mit dem Wort Hölderlins dasjenige einzigartige bzw. einzige Phänomen genannt, offenbar gernacht worden ist, das es künftig in seiner unauslotbaren Weite und Tiefe zu verdichten bzw. zu besingen gilt. Sein "Vor-sagen" ist also ein hinweisendes Aufzeigen dessen, was die zukünftigen Dichter auf ihre je einzigartige Weise in seiner Einzigartigkeit (d.h. in der des Phänomens) zu verdichten haben, insofern sie ihre Aufgabe bejahen. Die Vollzugsbedingung dieser Aufgabe charakterisiert Heidegger so: "Was diesen Dichtem aufgegeben ist, das vermögen sie, wenn das Fassen und Reichen ihrer Hände vorn »reinen Herzen« durchschwungen ist. "365 Durch ihr lnnewerden ihres Bezugs zum Heiligen und durch das Empfangen des Anstoßes von den "höheren Vermittlern" des Heiligen sowie durch ihr gemildertes Weiterreichen des Wortes vorn Heiligen pulsiert also eine Schwingung. Diese Schwingung ist der Puls des "reinen Herzens". Was heißt hier "Herz" und was "rein"? "»Herz« bedeutet Jenes, worin sich das eigenste Wesen dieser Dichter

GA 4: S. 71. GA 4: S. 71. 365 GA 4: S. 71. 363

364

12 Helting

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

sammelt: die Stille der Zugehörigkeit in die Umfangnis des Heiligen. "366 Das Herz sammelt. Es versammelt den wesentlichen Puls, der in allem weiteren fortschwingt und so alles bewegt. Es ist der Ort dieser Sammlung. Dieser Ort wird durch einen Bezug erläutert: den Bezug der "Stille der Zugehörigkeit" zur "Umfängnis des Heiligen". Die Stille der Zugehörigkeit ist der übereignete Offenständigkeitsbereich des Dichters, durch dessen stilles Gewahren die Zugehörigkeit zu einem immer schon Gegebenen (bzw. Gebenden) erfahren wird. Dieses immer schon (verborgen-bleibend) Gegebene (bzw. Gebende) ist das Heilige, das den Dichter "umfängt", d.h., nicht vereinnahmend-gefangennimmt, sondern allseitig-haltgewährend freigibt. In bezug auf die "Reinheit" des Herzens lesen wir bei Heidegger folgendes: "»Rein« sagt für Hölderlin stets so viel wie »ursprünglich((, entschieden verbleibend in anfänglicher Bestimmung. Dies eignet den Kindern. "367 Das "reine Herz" ist ursprünglich, weil es seinem Ursprung (der Umfängnis des Heiligen) treu bleibt, d.h., sich nicht an Entsprungenes verliert, sondern Entsprungenes immer in bezugauf den Ursprung erblickt bzw. den Ursprung immer schon im Entsprungenen mitgewahrt Heidegger nennt dies das "Verbleiben" in der "anfänglichen Bestimmung." Die Bestimmung ist der Bezug, aus dem heraus das Herz in seine jeweiligen Stimmungen (die es für das Ganze des Seins öffnen) eröffnet bzw. freigegeben wird. "Anfänglich" ist diese Bestimmung, weil sie nicht nur ein Moment dieses Geschehens ausmacht, sondern die ganze W esensentfaltung trägt, so daß sich der Anfang im Angefangen-Habenden bis zu seiner Vollendung bekundet. Die "Kinder" sind diejenigen, die dem Anfang noch am ehesten treu bleiben. 363 Ausdrücklich betont Heidegger, daß das "reine Herz" primär kein ethischmoralischer Terminus ist: "Das »reine Herz« ist hier nicht »moralisch« gemeint. "369 Dies bestreitet natürlich nicht, daß solch ein Herz auch wesentliche Konsequenzen für eine Ethik bzw. Moral mit sich bringt. Aber hier ist mit dem "reinen Herzen" etwas anderes angesprochen: "Das Wort nennt die Art des BeGA 4: S. 71. GA 4: S. 71. 368 Zu untersuchen wäre in diesem Zusammenhang Heideggers Analyse des Spiels in GA 27 (Einleitung in die Philosophie Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1996), S. 31 Off. Das Kinderspiel weist wesentliche Momente eines ursprünglich-anfänglichen Geschehens auf; auch in dem von Heidegger immer wieder zitierten Heraklit-Fragment DK 52 klingt das Ursprüngliche des Kinderspiels an: "aLwv lTais €aTl lTa((wv, lTEaaEvwv. rral8os ~ ßaaLATJhl" (Diels/ Kranz Die Fragmente der Vorsokratiker I. Zürich: Weidmann, 18!989). 369 GA 4: S. 71. 366 367

§ 6. Auslegung des Verhältnisses des Heiligen zu den Dichtem

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zugs und die Weise der Entsprechung zur »allgegenwärtigen« Natur."370 Der Bezug ist derjenige zwischen dem Wesen des Dichters (ereigneter Entwurf) und dem dieses freigebenden Heiligen (als Wesensmoment des ereignenden Zuwurfs). Die Art der Entsprechung ist das reine Gewahren des Heiligen, das diesen Bezug still verwahrt, um ihn dann "rein" im Seienden bewahren (bergen) zu können, d.h., ihn also gemildert den Mitmenschen vernehmbar machen zu können. Solange die Dichter ihrer bereits dargelegten Aufgabe standhalten, d.h., im Aussprechen des Heiligen in die worthaft-verlautbarte Vernehmbarkeit dennoch im stillen Geschehen des niemals seienden Heiligen selbst verwurzelt bleiben, erfahren sie ihr Wesen beständig in seiner Zugehörigkeit zum Heiligen und als dessen Gabe und kommen so nicht in die Gefahr, das Gesagte als "ihr Eigentum" zu betrachten und sich darauf zu versteifen: "Wenn die Dichter innebleiben in der Allgegenwart der mächtig-schönen »Natur«, dann ist auch jede Möglichkeit genommen, nur auf das Eigene zu pochen und sich in dem zu vermessen, was das Gesetz ist. "311 Diese Gefahr ist uns bereits aus dem ersten Kapitel bekannt, wo im Zuge der Analyse der Wesensbestimrnung des Heiligen in »Germanien« das "eigenmächtige Sichversteifen" als eine "Einseitigkeit" und dadurch als ein "Abfall" vom Heiligen sich erwies. Auch wird in der oben angesprochenen Erfahrung "das Gesetz" niemals zu etwas von Menschenhand Gesetztem, starrem Absoluten, sondern der Mensch empfiingt es immer neu im schwingenden Puls seines "reinen Herzens". Dadurch bleiben die Dichter ihrem Wesen und ihrer Wesensherkunft treu und laden keine Schuld einer etwaigen Veruntreuung auf sich: "Ihre Hände sind »schuldlos«. "312 Dadurch, daß sie mit ihrer Dichtung nicht den Eindruck erwecken wollen, sie seien Besitzer und Urheber des Gesagten, und so keinerlei Machtansprüche geltend machen, erscheint ihr Beruf als der "unschuldigste": "Ihre höchste Entschiedenheit, das dichtende Sagen, sieht dann aus wie das >>Unschuldigste aller Geschäffte«."313 Mit diesem Zitat verweist Heidegger auf einen Brief Hölderlins an seine Mutter, worin dieser das Dichten das "Unschuldigste aller Geschäfte" nennt. In der Vorlesung über "Germanien" zitiert Heidegger diesen Briefl7• und stellt diesen Satz einem anderen, uns schon aus dem "In Hütten aber wohnet der Mensch... "-Fragment bekannten Satz ge-

GA 4: S. 71. GA 4: S. 7\f. 312 GA 4: S. 72. 313 GA4: S. 72. 374 GA 39: S. 33f.

370

311

12•

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

genüber, wo die Sprache als der Güter Gef!ihrlichstes bezeichnet wird. 375 Der Dichter ist dieser Gefahr in höchstem Maße ausgesetzt, versucht sie aber für seine Mitmenschen zu mildern, damit diese in eine ursprünglichere Erfahrung gelangen können und erscheint ob der Milde des "getanen Werkes" als derjenige, dessen "Geschäft" das "unschuldigste" ist.

§ 7. Die Schlußstrophe des Gedichtes (abschließende Sammlung des ereigneten Entwurfes in den ereignenden Zuwurt) ("8. Strophe", Z. 1-3) Durch die vorangegangenen Untersuchungen zeigte sich, wie sich hinter dem Anschein der "harmlosen Unschuld" des Dichterberufes die äußerste Gefahr verbirgt. In der Unschuld des reinen Herzens zu bleiben, bedeutet nichts anderes als die gefährliche Spannung zwischen dem unmittelbaren unsagbaren Heiligen und dem vermittelten Sagen von ihm auszutragen, ohne die Spannung in eine Richtung hin zu entladen oder an ihr zu zerbrechen: Entladen wird sie einerseits im Verstummen in bezug auf das Heilige, da so keine Kunde von ihm "unter das Volk" kommen kann. In eine andere - wohl die noch gefährlichere Richtung wird die Spannung entladen, wenn der Dichter beginnt, eigenmächtig seine Rede über das Heilige zu "erfmden" und sich selbst zu feiern; hierbei bleibt das Heilige nicht nur verborgen, sondern wird durch bloßen Schein überdies verdeckt, verstellt und verschüttet. Die Spannung zerbricht, wenn sie "die Seele des Dichters" aus ihrer Verwurzelung im menschlichen Bereich herausreißt. Mit dieser äußersten Gefahr geht aber auch die äußerste Wesenswürde des Dichters einher; denn in ihnen - sofern sie ursprünglich zukünftige sind - vollzieht sich die Zugehörigkeit des Menschenwesens zum Heiligen in ausgezeichneter Weise. Sie verlautbaren diese Zugehörigkeit eigens im Wort und stiften so den offenen mittelbaren Bezug zum Heiligen. Diese Verlautbarung geschieht, innerhalb der Ereignis-Struktur betrachtet, im ereigneten Entwurf. Die vorangegangene Analyse(§ 6) hat diesen durch die Interpretation des dichterischen Sagens zu erhellen versucht. An der Schlußstrophe des Gedichtes angekommen, tritt nun das ganze Ereignis-geschehen noch einmal ans Licht, d.h., der ereignete Entwurf wird noch einmal in seinen Bezug zum Herz des ereignenden Zuwurfs zurückgedacht.

375

GA 39: S. 60.

§ 7. Die Schlußstrophe des Gedichtes

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I. Zum Übergang von der 7. zur "8. Strophe" Heidegger sieht nach der 9. Zeile der 7. Strophe den inhaltlichen sowie den formal-strukturellen Abschluß dieser Strophe. "Mit dem Vers 62 schließt die siebente Strophe inhaltlich; aber auch gemäß der für die Strophen gewählten Versanzahl. "376 Daher will Heidegger nicht der von den Herausgebern des Gedichtes angesetzten Interpunktion folgen: "Das bei Hellingrath und Zinkernagel am Ende von Vers 62 nach >>Hände« gesetzte Komma steht nicht in der Urschrift."377 Vielmehr sieht Heidegger in den letzten Versen einen markanten Absatz, der sich zur Gänze wieder auf das einzige, ursprüngliche Sagen des Heiligen sammelt: "Mit Vers 63 beginnt ein Denken, das in das Sagen des Heiligen zurückkehrt und die Vollendung des Gedichtes einleitet. "378 Aus diesem Grund ändert Heidegger die standardmäßige Interpunktion dieses Gedichtes und setzt am Ende des 62. Verses einen Punkt: "Deshalb wurde im vorliegenden Text an das Ende von Vers 62, das bei Hölderlin ohne Satzzeichen geblieben, ein Punkt gesetzt. "379 Nach diesen philologischen Bemerkungen, denen natürlich ein Vorblick auf die Sache selbst zugrunde liegt, geht Heidegger langsam zu der Interpretation dieser Schlußverse über, nicht ohne aber vorher noch einmal die siebente Strophe zu überblicken: "Die siebente Strophe handelt von dem Zwiefachen: Die Gabe des Liedes, durch einen »Himmlischen« vermittelt, wird von den Dichtem den Erdensöhnen gereicht; die Dichter selbst aber sind unter »Gottes Gewitter« gestellt. "380 Wenn aber das Gedicht rein vom Heiligen sprechen soll, dann muß zwar einerseits der Bezug des Heiligen zu den Göttern, Dichtem und Menschen angesprochen werden, aber es muß andererseits aufweisen, daß das ganze freie, eigenständige Sein dieser und ihr Aufeinanderbezogen-sein allererst durch das Heilige freigegeben wird: Mit der Nennung der Erdensöhne und der Dichter kann aber dieses Gedicht im Ganzen nicht schließen. Denn was diesem Gedicht eigentlich und sonach in der Vollendung zu sagen aufgegeben ist, das sagt es selbst in der alles tragenden dritten Strophe: »Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,/ Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort«381

376 GA 4: S. 72. 377 GA 4: S. 72. 378 GA 4: S. 72. 379 GA 4: S. 72. 380 GA 4: S. 72. 381 GA 4: S. 72.

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage... «

Deswegen darf das Heilige im Gedicht nicht in einer Verabsolutierung des aus ihm Erschienenen untergehen. "Zum Heiligen muß das Schlußwort dieses Gedichtes zutück."382 Das Gedicht spricht im Zuge des Sagens vom Heiligen auch von den Dichtem, um zu zeigen, inwiefern das Heilige der "Vermittlung" bedarf, um als Heiliges unter den Menschen anwesen zu können: "Von den Dichtem und von der Gabe des Liedes sagt das Gedicht auch nur deshalb, weil das Heilige die Schrecknis der Allerschütterung und das Unmittelbare ist. Daher bedürfen die Erdensöhne der Vermittlung des Heiligen in der Gabe des gefahrenlosen Gesanges. "383 Damit will Heidegger betonen, daß die Dichter in diesem Gedicht nicht ihr Eigenes preisen und hervorheben, sondern sich aus dem Bezug zum Heiligen genötigt erfahren, die Aufgabe der Vermittlung zu übernehmen, und als diese Vermittler in den Gesang hineingehören (als diejenigen, welche immer wesensmäßig auf das Unmittelbare, zu Vermittelnde (das Heilige) bezogen bleiben). Wie wir sahen, birgt diese Vermittlung eine Gefahr in sich: Das Heilige, das wesensmäßig Unmittelbare, wird verwandelt zu etwas Mittelbaren und dadurch Mitteilbaren. Im Seienden geborgen, west es anders an als im erschütternden Anspruch an den Dichter selbst. Heidegger weist auf diese Gefahr folgendermaßen hin: "Allein gerade dieses, daß das Heilige einer Vermittelung durch den Gott und die Dichter zugewiesen und in den Gesang geborgen wird, droht das Wesen des Heiligen in sein Gegenteil zu verkehren. Das Unmittelbare wird so zu einem Mittelbaren. "384 Obwohl diese Verwandlung vom Dichter wesentlich mitbestimmt ist, kommt doch der Grundimpuls zu dieser Verwandlung vom Heiligen selbst: "Weil der Gesang nur mit dem Erwachen des Heiligen entwacht, entspringt sogar das Mittelbare aus dem Unmittelbaren selbst."31s Die Gefahr, daß das Heilige im Mittelbaren versandet, entspringt also gewissermaßen aus dem Wesen des Heiligen selber. Der Dichter ist zwar fiir das Glücken oder Verunglücken des im gesprochenen Worte geborgenen Sagens vom Heiligen mitverantwortlich, aber die Gefahr des Mißlingens reicht bis in die Wurzeln des Gesanges, d.h. des Heiligen selbst: "Dieser Ursprung des Gesanges, der »Waffenklang«, »mit« dem die Natur erwacht, ist somit die in die eigene Wesenstiefe des Heiligen hinabreichende Erschütterung." 386

GA 4: S. 72. GA 4: S. 72. 384 GA 4: S. 72. JSS GA 4: s. 72f. 386 GA 4: S. 73.

382 383

§ 7. Die Schlußstrophe des Gedichtes

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Die Erschütterung des Heiligen, die im Gewahren des Dichters still verwahrt und durch die weitere Vermittlung eines Gottes verlautbart wird, veranlaßt somit die Möglichkeit des eigenen Wesensverlustes. Die Gewährung des vermittelten Mitteileus des Unmittelbaren ist als die Eröffuung einer Verwandlungsmöglichkeit ein Wagnis, da an dem "Gelingen" solcher Verwandlung andere, freie Wesen miteingelassen und gebraucht sind, und daher das Gelingen niemals strikt vorherbestimmt sein kann. "Indem das Heilige das Wort wird, kommt sein innerstes Wesen ins Wanken. Das Gesetz ist bedroht. "387 Das Gesetz im Sinne des vor allem menschlichen Setzen immer schon waltenden Freigebens des Möglichkeitsraumes für jegliches Setzen kann durch die und in der worthaften Verlautbarung in seinem eigentlichen Wesen entarten und untergehen. Dadurch, daß die Wurzeln im "vermittelten Unmittelbaren" vergessen werden können, kann gesagt werden: "Das Heilige droht unfest zu werden. "388 Die letzten Zeilen des Gedichts bringen Ruhe in diese Gefahr. Sie verweisen auf die Festigkeit der nie tilgbaren Wurzeln, auf die sich der Dichter immer wieder neu besinnen kann und von denen er gehalten bleibt: Allein »Des Vaters Stral, der reine versengt es nicht Und tieferschüttert, eines Gottes Leiden Mitleidend, bleibt das ewige Herz doch fest.« 389

Aus diesen Zeilen spricht Heidegger dem "ewigen Herz" eine besondere Bedeutung zu: "Dies Wort >>das ewige Herz« ist einmalig in Hölderlins gesamter Dichtung. "390 Auch die Bedeutung dieses einmaligen Wortes liegt folglich nicht auf der Hand, sondern enthüllt sich bei Hölderlin in dieser Klarheit nur in diesem Gedicht: "Was dieses Wort bedeutet, wird auch nur in diesem einzigen Gedicht gesagt." 391 Die Erläuterung des "ewigen Herzens" wird mit einem weiteren Grundwort Hölderlins, nämlich der "Innigkeit", in Zusammenhang gebracht. Jedoch wird dieser über einen Zwischengedanken eingeleitet, der bereits behandelte W esensbestirnmungen wieder aufnimmt. Dieser Zwischengedanke spricht die Vermittlung an: "Das Heilige ist in seinem Ursprung das ))Veste Gesez«, jene ))Strenge Mittelbarkeit«, in die alle Bezüge alles Wirklichen vermittelt sind. "392 Das Heilige ist das zugrundeliegende Unversehrliche bzw. Heile, das auf alles mittelbar Unterschiedene bezogen GA 4: S. 73. GA 4: S. 73. 389 Hölderlin zitiert von Heidegger in GA 4: S. 73. 390 GA 4: S. 73. 391 GA 4: S. 73 . 392 GA 4: S. 73.

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388

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage... «

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bleibt, indem es dieses als freies in ihm behält, d.h. dem Unterschiedenen innigen Halt gewährt: "Alles ist nur, weil es in die Allgegenwart des Unversehrlichen gesammelt, in diesem inne ist: »Alles ist innig«. So beginnt ein später Entwurf (IV2, 381 ). "393 In dieser Innigkeit besteht alles Seiende in seinem ureigenen Sein, von dieser Innigkeit wird es getragen; innerhalb dieser zugrundeliegenden Innigkeit begegnet es anderem und innerhalb ihrer begegnet anderes ihm. Aus allem scheint so die Allgegenwart der Innigkeit, die all dies in sich hält und aushält. "Alles ist nur, indem es aus der Innigkeit des Allgegenwärtigen hervorscheint "394 Dieses Hervorscheinen ist zumeist natürlich gänzlich unscheinbar, kann aber im dichterischen Wort eigens zum Her-vor-scheinen gebracht werden. Diese Innigkeit, aus der das Wesen allen Seins pulsiert und fortwährend seinen eigenen Puls empfängt und auf die es immer, ob es sie nun eigens beachtet oder nicht, rückbezogen bleibt, ist das "ewige Herz": "Das Heilige ist die Innigkeit selbst, ist- »das Herz«." 395

II. Das ewige Herz - die Innigkeit - und die äußerste Gefahr für das Heilige ("8. Strophe", Z. 3) Die Ewigkeit dieses Herzens wird als ein Bleiben eigener Art interpretiert. Niemals ist es im Sinne des beständigen Vorhandenseins eines Seienden zu fassen, denn, wie wir schon oft sahen, das Heilige west vor allem Seienden: "Das Heilige aber, »über die Götter« und die Menschen, ist »älter denn die Zeiten«. Das Einstige, allem zuvor das Erste und allem nachher das Letzte, ist das allem Voraufgehende und alles in sich Einbehaltende: das Anfängliche und als dieses das Bleibende."396 Das Heilige ist also nur bleibend, insofern es anfänglich anwest, d.h. jeden Augenblick aus seinem "ontologisch-vorherigen" Wesen allem Erscheinenden den Erscheinungsraum gewährt; weil es allem Entstehen und Vergehen von Seiendem zuvorkommt, bleibt es, d.h. überdauert dieses. Es bleibt der Anfang und das Ende des Seienden. Der seinsgewährende Puls des Heiligen ist ein ewiger, insofern er beständig dem Seienden sein ureigenes Sein übereignet und in diesem Sein hält, so daß es, in diesem Halt stehend, in innigem Bezug zu allem durch diesen Halt Erscheinenden steht. "Sein Bleiben ist die Ewigkeit des Ewigen. Das Heilige ist die einstige Innigkeit, ist »das ewige

GA 4: S. 73. GA 4: S. 73. 395 GA 4: S. 73. 396 GA 4: S. 73. 393

394

§ 7. Die Schlußstrophe des Gedichtes

185

Herz«" 397 Das Heilige ist nicht ein "Inniges" wie Seiendes, sondern die Innigkeit, d.h. das Wesen bzw. die Wesensherkunft, welche das Innigsein alles Seienden verbürgt. Aber die Beständigkeit des Heiligen kann nur als die immer wieder neuankommende, d.h. unausschöpfbar nie im gegenwärtigen Moment vollständig aufgehende, Dimension bleiben. Durch die verlautbarte Sage vom Heiligen im dichterischen Wort wird das Heilige verwandelt und nimmt in einem gewissen Ausmaß den Charakter eines beständig Seienden an. Hieraus droht ihm die Gefahr, des anfänglichen Wesens in gewisser Weise verlustig zu gehen: "Dieses Bleiben des Heiligen ist aber bedroht durch die aus ihm selbst stammende und mit seinem Kommen geforderte Vermittelung durch das Wort des Gesanges. "398 Der Gesang muß das Heilige als das Anfängliche bergen, d.h. im Sinne eines Zeichens (bzw. Hinweises auf seine Unausschöpfbarkeit), um es nicht so zu verfremden, daß es der Gefahr des Wesensverlustes erliegt. Aber das Heilige ist nicht nur durch seine Verwandlung im menschlichen Wort gefährdet, sondern bereits durch sein gewandeltes Erscheinen bei den Unsterblichen bzw. hier: "dem Vater". "Allein nicht erst das menschliche Wort, sondern eher noch und reißender schon droht der in die Entzündung und Zeugung des Wortes geschickte »heilige Stral« des Vaters das Heilige seiner Unmittelbarkeit zu entreißen und durch die Versetzung in das Mittelbare der Wesensvemichtung preiszugeben. "399 Das Erscheinen des Heiligen, d.h. der Bezug des Heiligen zu alldem von ihm Freigegebenen, Beschenkten, bleibt ein Wagnis. Das Heilige muß sich als das Undifferenzierte, alle Differenzierung erst Gewährende und im Sein Haltende wandeln, um im Bereich der Differenzen irgendwie vernehmbar zu werden. Dieses Vernehmbarwerden bringt einerseits die Möglichkeit der Wurzelfmdung bzw. Heimkunft des Erschienenen in seine Herkunft mit sich und birgt doch andererseits die Gefahr, gänzlich irrefiihrend zu werden. Wenn nämlich die vermittelte Erscheinung für das Heilige selbst gehalten wird, dann ist der Mensch nicht nur seines eigentlichen Bezuges zum Unmittelbaren gänzlich verlustig gegangen, sondern wähnt sich überdies noch sicher im "Besitz" dieser Herkunftsgegend. Heidegger betont diesen Gedanken dadurch, daß er darauf hinweist, daß der "Strahl des Vaters" als eine "Erscheinung" des Heiligen im Göttlichen nicht selbst das Heilige ist: "Denn auch im »Stral des Vaters« ist das Heilige schon zum Mittelbaren entäußert, wenn anders sogar die Unsterblichen nur mittelbar

GA 4: S. 73. GA 4: S. 73. 399 GA 4: S. 73f. 397

398

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

sind zum Heiligen. "400 Das Göttliche steht natürlich in einem Bezug zum Heiligen: in ihm kommt es gesammelt-schlagartig zum Vorschein; aber dieser Bezug ist eben gewissermaßen ein im Pulsschlag des ewigen Herzens entstandenes Phänomen, das niemals das Herz selbst ist, sondern in bezug auf dieses (innig) "entäußert" ist. Diese "Äußerlichkeit" ist also weder eine Bezuglosigkeit oder gar eine bloße Oberflächlichkeit, sondern ein "In-den-Freiraum-geschicktWerden", das unter anderem dem Menschen die Freiheit verleiht, die Herkunft seines eigenen Herzens aus dem ewigen Herzen zu gewahren und dessen Puls in das Entsprungene zu bergen oder aber dieses ständig zu übergehen. In diesem Gedicht bricht jedoch die Gefahr, die das Erscheinen des Heiligen

im Göttlichen wesenhaft mit sich bringt, nicht aus. Im Gegenteil zitiert Heideg-

ger nun noch einmal die Verszeile "»Des Vaters Stral, der reine versengt es nicht...« »es«, das ewige Herz"401 , um zu betonen, daß die Gefahr zwar nicht ausgebrochen ist, von Hölderlin aber wohl erkannt wurde. Denn mit dem "Versengen" spricht Hölderlin eine "Vernichtung" an: "»Versengen« bedeutet hier gemäß der Wendung »sengen und brennen« soviel wie vernichten; statt »versengt es nicht« schrieb Hölderlin zuerst »tödtet nicht«.".o2 In diesem ganzen Gedanken spricht die eine Grunderfahrung, daß alles Erschienene, sei es Mensch oder gar ein Gott, niemals selber der Wesensursprung allen Seins ist. Diese Grundeinsicht fmdet Heidegger bei Hölderlin in "erregten Schriftzügen" festgehalten: "In harten, erregten Schriftzügen ist an den inneren Rand der Schlußverse folgende Bemerkung gesetzt: »Die/ Sphäre/ die höher/ ist, als/ die des Menschen/ diese ist der Gott«.".o3 Weil das Göttliche das Heilige in gewisser Weise noch reiner hervorscheinen lassen kann und so in gewisser Weise "höher" ist, so bringt es dadurch die noch größere Gefahr der Wesensverwechslung mit sich. Noch leichter als ein dichterisches Wort kann das Phänomen eines Gottes fälschlich verabsolutiert werden. "Der Wink, den der Dichter in diesem Wort fiir sich festhalten will, soll an dieser Stelle sagen: Die höhere Sphäre, der heilige Stral, bedroht sogar das Heilige noch tiefer mit dem Verlust seines Wesens."~ Je näher eine Erscheinung dem Heiligen steht, d.h., je mehr sie ihrem Wesen gemäß Anderes zu beschenken und freizugeben vermag, desto mehr kann sie fälschlieber Weise fiir das einzig "Gewährende schlechthin" gehalten werden, wo doch gerade dieses Letztgewährende (gerade weil es alles von sich gibt) niemals selber (als GA 4: S. 74. GA 4, S. 74. 402 GA 4: S. 74. 403 GA 4: S. 74. 404 GA 4: S. 74. 400 401

§ 7. Die Schlußstrophe des Gedichtes

187

Einzelerscheinung) sich zeigt. Deswegen bleiben die "höheren Sphären" immer nur "höhere" und sind nie das "Höchste" (welches, wie wir in bezug auf das Pindar-Fragment sahen, das Heilige ist): "Aber auch diese Sphäre ist nur »die höhere«, nicht »das Höchste«. "405 Deswegen kann auch eine falschliehe Verabsolutierung eines Erschienenen zum Heiligen selbst zwar die Vernehrnbarkeit des Heiligen innerhalb des Seienden gründlich verstellen und das geborgene Anwesen seiner als anfangliebes vereiteln, jedoch bleibt es auch dann verborgener Weise immer noch auf das urgewährende Heilige bezogen, und dieses bleibt im innersten Wesen unverletzt (obwohl seine Erscheinung natürlich gänzlich korrumpiert werden kann): "So vermag das dem Ursprung Entsprungene nichts gegen den Ursprung. Und daher bleibt denn »das ewige Herz«, obzwar »tieferschüttert«, »doch fest«. "406 Die Tiefe der Erschütterung bringt Heidegger im folgenden mit dem Leiden in Zusammenhang.

111. Das Leiden ("8. Strophe", Z. 2-3)

Zunächst lesen wir bei Heidegger, daß das Heilige durch die Erschütterung, die ihm aus dem Bezug zum Entsprungenen widerfahren kann, von einem Leiden durchwaltet ist: "Die Erschütterung freilich gründet in jener Tiefe, aus der das Heilige >>eines Gottes Leiden mitleidet«." 407 Dieser Satz zieht natürlich gleich folgende Frage nach sich: "Inwiefern leidet der Gott, der sich als Blitz in den heiligen Strahl schickt?"401 Der Sinn des "Leidens" soll sich in den folgenden Ausfiihrungen erhellen. Zunächst müssen Jedenfalls im Sinne der phänomenologischen Destruktion die geläufigen Assoziationen, die mit dem gebräuchlichen Wort "Leiden" einhergehen, ausgeklammert werden, damit sich der Sinn, der von Heidegger erarbeitet wird, überhaupt unvoreingenommen zeigen kann. Unabhängig davon, wie dieses Leiden genauer interpretiert werden wird, kann jedenfalls jetzt schon zur Kenntnis genommen werden, daß der Bezugscharakter des Heiligen ein solcher ist, der zwar niemals im Erscheinenden selber aufgeht, jedoch in einer Weise auf das Erscheinende bezogen bleibt, daß ein "Leiden" im Erscheinenden bis tief in seine Herkunft, d.h. in den Bereich des Heiligen, hinabreicht und diesen erschüttert (wenn auch dadurch nicht sein innerstes Wesen vernichtet).

GA 4: GA 4: 407 GA 4: 408 GA 4: 405

406

S. 74. S. 74. S. 74. S. 74.

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage... «

188

Entgegen der gewohnten Auffassung von "Leiden" als einem peinvollen, oft gänzlich sinnlosen bzw. sinnversagenden Gefühl, bringt Heidegger dieses Phänomen mit der "Entschiedenheit zur Zugehörigkeit" zusammen: "Der Strahl heißt in ausdrücklichem Zusatz »der reine«, weil er die Entschiedenheit des Zugehörens zum Heiligen innehält; denn »himmlische Güte, muß ihret selber wegen, heilig sein« (Zum Pindarfragment »Das Höchste«. V2 , 276)." 409 Die Reinheit des Strahles, d.h. der Erscheinung des Heiligen im göttlichen Bereich, besteht in einer "Bejahung" des Bezuges zu dieser Herkunft. Die "Entschiedenheit" kann hier nicht als ein "heroisch-verbissener Willensakt" aufgefaßt werden, da wir bereits sahen, daß der Bezug zum Heiligen (die "Zugehörigkeit" also) niemals vonseitendes Erschienenen "beschlossen" werden kann, sondern entweder nur bejaht (im Sinne einer ein- und zulassenden Aufgeschlossenheit für diesen) oder vergessen (bzw. verleugnet, verneint) werdenkann. Die Zugehörigkeit des Göttlichen zum Heiligen ist das aufgeschlossenentschlossene Ent-schieden-sein für diesen Bezug. Dadurch ist er "rein", d.h., läßt den Bezug von sich her walten, ohne wesensfremde Elemente hinzuzuführen, d.h. solche, die aus Erscheinungen nachträglich (und daher nicht direkt aus dem Unmittelbaren) geschöpft wurden. Der Hölderlin-Zusatz, mit dem Heidegger die "Reinheit" des Strahls näher begründet, besagt, daß die "himmlische Güte", um solche bleiben zu können ("um ihret selber wegen"), im Bezug zum Heiligen stehen muß. Nur von dort kann sie die Ermächtigung empfangen, in "himmlischem" Maße "gut" zu sein. Diese Entschiedenheit, d.h. dieses offen-annehmende Bejahen des Bezugs zum Heiligen, die bzw. das durch nichts rückgängig gemacht werden kann, nennt Heidegger das "Leiden": "Dieses inständige Zugehören, nicht ein bloßes Erdulden, ist das Leiden. "410 Heidegger lehnt in dem Nebensatz das Erdulden, solange es ein "bloßes", d.h. weitgehend sinnloses, ist, in bezug auf den ursprünglichen Sinn des Leidens ab. D.h. natürlich nicht, daß der Bezug zum Heiligen nie etwas "erdulden" müsse; es heißt aber, daß jegliches Erdulden im Grunde kein Zeichen der Resignation, sondern der höchsten Bejahung der offen-empfangenden "Inständigkeit" in der Zugehörigkeit zum Heiligen ist. Diese Inständigkeit ist das Leiden. Das Wesen dieses Leidens sieht Heidegger darüber hinaus noch in einer Variante zu einer Hymne Hölderlins angedeutet: Wie aber Hölderlin das Wesen des Leidens denkt, enthüllt sich an einer nachträglichen Änderung der späteren Fassung jener Hymne, die überschrieben ist ))Der Einzi-

409 410

GA 4: S. 74. GA 4: S. 74.

§ 7. Die Schlußstrophe des Gedichtes

189

ge«, welche Hymne ja sagen soll, daß der Gott der Christen gerade nicht der Einzige ist. Hier (IV2 , 379) spricht Hölderlin von einer »... Wüste voll Von Gesichten, daß zu bleiben in unschuldiger Wahrheit ein Leiden ist.«411

Zu einer direkten, eigenen Auslegung dieser Zeilen kommt es nicht. Leiden wird hier als ein reinherziges ("unschuldiges") bejahendes Ertragen gedacht, das die Wahrheit des Anfangs in allem durchhält und in ihr bleibt und sich nicht von der Wüste fortreißen bzw. entwurzeln läßt, die im Seienden und seinen zahllosen Anblicken wächst (Seinsverlassenheit). In den oben zitierten Zeilen klingt auch eine Stellungnahme Heideggers zum Christentum an. Es ist allerdings nicht Thema dieser Arbeit zu untersuchen, welches Verständnis von Christentum sich bei Heidegger zeigt und inwiefern dies dem Wesen des christlichen Glaubens gerecht wird. Daher kann auf Äußerungen dieser Art hier nicht näher eingegangen werden. 412 Heidegger bezieht im folgenden das Leiden auf die Innigkeit des ewigen Herzens: "Weil die einstige Innigkeit, das Bleiben im unversehrten »Gesez«, ein Leiden ist, deshalb leidet das ewige Herz aus seinem Wesensanfang."413 Das ewige Herz ist das fortwährendste "Treubleiben" der anfangliehen Wesensgewährung. Durch nichts läßt es sich dazu bewegen, der einst zugesagten Gewährung des immer anfangliehen Wesensbereiches für alles Erscheinende Absage zu erteilen. Das Anfangliehe bleibt seinem Wesen treu und "leidet" dadurch in dem erhellten Sinne dieses Wortes. Auch im Erscheinen im Göttlichen bleibt es seinem eigenen Wesentreu und leidet so "mit dem Gott": "Daher leidet es auch »eines Gottes Leiden mit.« Indem das Heilige in die Entschiedenheit des Strahls, die ein Leiden ist, sich verschenkt, bleibt das Heilige doch, sich verstrahlend, in der Wahrheit seines Wesens und leidet so anfanglich."'~• In dem vorangegangenen Zitat wird ein zwiefaches Leiden angesprochen. Der Strahl des Heiligen, d.h. sein Erscheinen im Göttlichen, ist ein Geschenk, das eine Entschiedenheit mit sich bringt. Das Heilige hat dem Göttlichen ein eigenes Sein übereignet und "hält" an dem Bezug zu diesem Geschenk, welches nicht mehr ein bloßer "Teil" seiner selbst ist, sondern ein "eigenständiger" Bereich, "fest". Dieses "Festhalten" ist kein "Einkerkern", sondern ein HaltGewähren, und zwar denjenigen Halt, den das Göttliche, wie wir sahen, braucht, um in "himmlischer Güte" sein zu können. Der Gott bleibt der AnGA 4: Kurze 413 GA 4: 414 GA 4:

411

412

S. 74. Überlegungen hierzu finden sich am Anfang des 12. Kapitels. S. 75. S. 75.

190

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage... «

nahme dieses Geschenkes treu, bleibt entschieden inständig in seinem Anfang und leidet dadurch. Dieses Leiden, das vom Bezug zum Heiligen spricht, berührt das Heilige selber; denn das Heilige selber birgt in sich auch ein eigenes Leiden, d.h. es bleibt unabhängig vom "Sichverstrahlen" seiner eigenen Anfanglichkeit treu, indem es sich niemals gänzlich ins Erscheinende entäußert, wo es seines Halt-gewährenden Wesens verlustig gehen würde. So bleibt das Heilige in der Wahrheit seines Wesens, die stets im Gewähren des Erscheinungsraumes eine verborgenbleibende ist, und in dieser Inständigkeit im eigenen Wesen "leidet" das Heilige selbst. Daß das Heilige "mit einem Gott mit" leidet und "an sich" leidet, heißt also: Es bleibt sowohl dem einmal beschenkten Wesen von Anderemtreu (gewährt ihm fortwährenden Halt) sowie es dabei auch seinem eigenen Wesen (Inständigkeit) treu bleibt (d.h. es verliert sich nicht im Gewähren). Um die Wesensbejahung, die in solcher Treue liegt, gebührend zu würdigen, reicht die geläufige Auffassung von "Leiden" nicht aus. Alles "Leiden" im geläufigen Sinne bleibt überholt von dem ursprünglichen Leiden, d.h. von der ursprünglichen Bejahung, die aller etwaiger damit einhergehender duldsamer Pein zugrunde liegt. "Weil jedoch dies dem Anfang entstammende Leiden kein preisgegebenes Dulden ist, sondern die alles in sich sammelnde Innigkeit, hat auch das Mitleiden mit dem Gott nicht die Art des Bedauerns und Erbarmens. "415 Das ursprüngliche Mitleiden ist also ein Halt-gewährendes "Leiden" bzw. ein in die Innigkeit des Wesens versammelndes und dort verwahrendes. Es ist kein bloßes äußerliches Miteinstimmen in die Hoffnungslosigkeit des jeweiligen Falles, der nur noch "bedauernswert" bzw. "erbarmenswert" erscheint, sondern es ist das Miteinbeziehen des inständig Treubleibenden in die Herrlichkeit des Anfangs: "Das Leiden ist das Festbleiben im Anfang. Für den Anfang ist das Aufgehen und die Verschenkung nie Verlust und Ende, sondern stets nur herrlicherer Anfang, anfangliebere Innigkeit. "416 Das Verschenkte wird vom Heiligen in seinem Leiden nie einfach "aufgegeben". Das Verschenkte ist zwar nicht mehr possessives "Eigentum" des Schenkenden, bleibt aber dennoch in dessen wohlverstandenem "Mitleid" auf es bezogen. Dieses Mitleid bezieht das Freigegebene in das anfängliche Wesen mit ein, ohne es dadurch wieder zu vereinnahmen, da das Wesen ein durch und durch "gebendes" und kein "nehmendes" ist; und dennoch mindert sich das Schenkende durch das Schenken nicht, sondern wird gewissermaßen reicher. Es gewinnt die Möglichkeit, dem Freigegebenen, das sich in eigenständiger Entschiedenheit seiner Herkunft geöffnet hat, den fortwährend innig-

4 15 416

GA 4: S. 75 . GA 4: S. 75.

§ 7. Die Schlußstrophe des Gedichtes

191

gesammelten Halt des Heiligen zu gewähren und es an dessen Herrlichkeit teilhaben zu lassen. Dadurch wird die Verschenkung nie zu einem Verlust oder einem bloßen Ende, sondern in ihr vollendet sich vielmehr das unausschöpfbare Wesen des Heiligen. Nachdem durch den Pulsschlag des "ewigen Herzens" und der Wesenstreue des wohlverstandenen "Leidens" das Heilige im Sinne des ereignenden Zuwurfes thematisiert wurde, wendet sich Heidegger der Aufgabe zu aufzuweisen, inwiefern der ereignete Entwurf, hier natürlich insbesondere das Dichterwesen, in das "Leiden" des Heiligen einbezogen ist.

IV. Das Sagen des Heiligen als "des Festbleibenden im Leiden" als Aufgabe des Dichters Heidegger wiederholt an diesem Punkt, daß die Aufgabe des Dichters im Sagen des Heiligen besteht, welches durch die Analyse des Leidens sich als das Festbleibende im Leiden erwiesen hat: "Das Heilige in seinem Festbleiben ist zu sagen. "417 Dieses Bleiben ist natürlich niemals im Sinne des beständigen Anwesens von Seiendem zu verstehen (was ja nach Heidegger gerade den Denkansatz der abendländischen Metaphysik auszeichnet): "Sein Bleiben bedeutet aber nie das leere Andauern eines Vorhandenen, sondern ist das Kommen des Anfangs."418 Der Anfang ist das immer schon Gewesene, das ob seiner Unausschöpfbarkeit nie in einem Moment gänzlich aufgeht, sondern in seiner Wesensfülle in jedem Augenblick neu ankommt, ohne sich in solchem Ankommen jemals zu erschöpfen. Dieses Anfangliehe eröffnet den Wesensraum für alles Anwesen von jeglichem Seienden. Die ganze Frag-würdigkeit des Seins empfängt durch dieses Anfängliche allererst ihren Bereich, in dem sie aufbrechen kann. Das Denk-würdigste ist demnach dieser Anfang, vor dem nichts gedacht werden kann: "Diesem zuvor als dem Einstigen kann nichts Anfänglicheres gedacht werden. "419 Die Anfanglichkeit dieses Anfangs ist dasjenige, aus dem das Denken entspringt, dasjenige, was dem Denken das Denken anbefiehlt (was das Denken denken heißt), dasjenige, dem das Denken nie zuvor kommen kann und das demnach als das "Unvordenkliche" waltet. Das Walten dieses Anfangs ist das beständige Bleiben im Immer-neu-Ankommen, das stets unausschöpfbare Möglichkeiten in die Gegenwart bringt, ohne jemals mit dieser "identifiziert" werden zu können. GA 4: S. 75. GA 4: S. 75. 419 GA 4: S. 75.

417 418

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage... «

"Das Bleiben als Kommen ist die unvordenkliche Anfanglichkeit des Anfangs."420 Die Bergung dieser Anfanglichkeit im Seienden, d.h. das stiftende Sagen von ihr, durch das sie den Mitmenschen auf gewandelte Weise vernelunbar werden und diese eigens ansprechen kann, ist die Aufgabe der Dichter. Heidegger zitiert in diesem Sinne den Schlußvers von Hölderlins Gedicht »Andenken«: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«421 Was hier alles im Wort "Stiften" mitschwingt, vergegenwärtigen wir uns am besten durch einen erneuten kurzen Blick in Heideggers Kunstwerkabhandlung.

a) Achter Exkurs: Die Auslegung des "Stiftens" des Heiligen mit Hinblick auf die Kunstwerkabhandlung

Das Wesen der Dichtung als "Stiften" der Wahrheit charakterisiert Heidegger in seiner Kunstwerkabhandlung dreifach: "Stiften als Schenken, Stiften als Gründen und Stiften als Anfangen. "422 Die ursprüngliche Stiftung ist niemals eine Art "freies Überlassen eines bereits Vorhandenen" an andere; vielmehr ist die Stiftung eine Eröffnung von etwas, das sich aus nichts Seiendem ableiten läßt: "Die im Werk sich eröffnende Wahrheit ist aus dem Bisherigen nie zu belegen und abzuleiten. "423 Daher ist die Stiftung vielmehr im Sinne eines Überbringens eines Geschenkes zu verstehen, welches sie nicht aus sich her schöpft, sondern das ihr selber aus der anfangliehen Dimension des Heiligen zuteil wird. Aus dem Überfluß des Bezugs der Wahrheit zum Menschen ergeht das Geschenk an die Menschen, wobei die Dichter dieses als solches ursprünglich gewahren und den Mitmenschen weiterschenken. "Die Stiftung ist ein Überfluß, eine Schenkung. "424 Das Schöpferische des Künstlers kann nicht in einer "genialen" "gänzlichen Neuerschaffung" von etwas bestehen, sondern ist anderswo zu suchen. Die Weise, in der die Dichter dieses Geschenk überbringen, ist nämlich eine verwandelnde Weise. Wie wir gesehen haben, wandeln sie im Sagen das ZuSagende, indem sie es im seienden Wort bergen und also gründen. In dem Sinne bringen sie "schöpferisch" einen Zuspruch in das Seiende und gründen ihn dort. Das, was sie gründen, ist niemals ein vorher schon in dieser Weise Seiend-Gewesenes und insofern gewissermaßen "nichts". Jedoch ist dieses - was 420 GA 4: S. 75. 421 Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 75. 422 Holzwege, S. 61 . 423 Holzwege, S. 61. 424 Holzwege, S. 61.

§ 8. Rückblick auf das ganze Gedicht

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sich vom Geläufigen her bemessen als "nichts" darbietet- in Wahrheit der Zuspruch des Anfänglichen, dessen Überfluß im Seienden aufgenommen wird. Dieses "Nichts" enthüllt sich so als ein "Vorenthalt", ein Halt, der immer schon zuvor dem Menschen die Möglichkeit der Einsicht in sein eigenes Wesen (also die Zugehörigkeit) entgegenhält: "Er kommt jedoch nie aus dem Nichts, insofern das durch ihn Zugeworfene nur die vorenthaltene Bestimmung des geschichtlichen Daseins selbst ist. "425 Da dieses Vorenthaltene zwar eigens im Seienden gegründet werden kann, d.h. als Hinweis im Seienden vermittelt zum Hervorscheinen gebracht werden kann, aber nie gänzlich dort aufgeht, sondern sein unausschöpfbares Wesen zukünftig immer von neuem sich im Ankommen befmdet, darf das Stiften kein "festsetzend-vereinnahmendes" Gründen sein, sondern muß ein Anfangendes sein, d.h. eines, das zu immer größerer Offenheit fiir diese Ankunft fiihrt. "Der Anfang dagegen enthält immer die unerschlossene Fülle des Ungeheuren und d.h. des Streites mit dem Geheuren. "026 Das Stiften verweist auf das nie ganz im gewöhnlichen, geheuren Seienden "Aufgehende", das immer in der (liebevollen) Aus-ein-ander-setzung mit dem Seienden steht. Das Geheure und das Ungeheure ermöglichen einander in diesem "Streit" jeweils ihr Wesen, und gerade die Zukunft fiir eine im Wort hervorscheinende Offenheit dieses wechselwendigen Wesengönnens gewährt das stiftende Sagen, insofern es ein anfängliches ist.

§ 8. Rückblick auf das ganze Gedicht: Wannwest das "Jetzt" des Gedichtes? (Vorblick auf das geschichtliche Kommen des Heiligen) Den fragmentarischen Entwurf dieses Hölderlin Gedichtes, der im Zuge des Vortrages von Heidegger ausfuhrlieh erläutert wurde, nennt Heidegger im zusammenfassenden Rückblick auf das ganze Gedicht "unvollendet": "Das Gedicht ist in mannigfacher Hinsicht unvollendet. "m Zunächst gibt er dieser Feststellung einen philologischen Sinn: "Die Gestaltung des Schlusses zurnal, fiir die Hölderlin selbst sich einst entschieden hätte, bleibt unbestimmbar. "421 Diese Art der "Unvollendetheit" spricht lediglich das Faktum an, daß es keinen von dem Dichter Hölderlin "autorisierten" Schluß fiir das Gedicht gibt. Aber die

Holzwege, S. 62. Holzwege, S. 62. 427 GA 4: S. 75. 428 GA 4: S. 75. 425 426

13 Helting

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

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Unvollendetheit dieses Gedichtes ist auf tieferer Ebene betrachtet kein Mangel, sondern der offene Überfluß der Fülle des in ihm Gesagten: "Aber alle Unvollendung ist hier nur die Folge des Überflusses, der aus dem ionersten Anfang des Gedichtes quillt und das bündige Schlußwort verlangt."429 Die Unvollendetheit rührt also aus der Unausschöpflichkeit des Zu-Sagenden. Zwar verlangt dieses ein "bündiges Schlußwort", doch darf diese Bündigkeit niemals eine "zu-" bzw. "verschließende" sein, sondern eine Halt-gewährende, die eine immer größere Offenheit für das sich als Unvordenkliches und Unausschöpfbares Zeigende erbringt. Ein jeglicher "Abschluß" dieses Gedichtes wäre so gewissermaßen ein Auftakt für das anfangliebere Entfachen dessen, was in diesem Gedicht gesagt wird. Deswegen bemerkt Heidegger gleich, daß ein jeglicher Versuch eines Abschlusses dieses Gedichtes nur im vorausblickenden Rückblick auf dasjenige sinnvoll wäre, was dieses Gedicht nennt: das Heilige. Solch ein "Abschluß" kann nie ein einfaches "Hintanstücken" von weiteren Versen sein. Ein jedes Kunstwerk bleibt einzigartig und kann nicht nachträglich "verbessert" werden. Jedoch ist es möglich, solch einen Abschluß "nachzuzeichnen" und dadurch Hinweise auf denjenigen Abschluß zu geben, der verborgen in den überlieferten Versen mitschwingt, ohne zur Ausreifung gekommen zu sein. Solch eine Nachzeichnung ist aber nur dann sinnvoll, wenn er diejenigen Menschen trifft, die auf das hören können, was in diesem Gedicht gesagt wird: "Jeder Versuch, das Gefüge der Schlußstrophe nachzuzeichnen, darf nur darauf trachten, Solche zu wecken, die hören können, was »das Wort« dieses Gedichtes ist: »Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,/ Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.«"430 Damit will Heidegger wohl unter anderem sagen, daß ein bloßes philologisch-kritisches Forschen, das nur danach trachtet, Hölderlins "Meinung" über den Gedichtabschluß zu rekonstruieren, den Sinn dieses Gedichtes verfehlt und daher eine Nachzeichnung des Abschlusses, die sich aus diesem Sinn nährt, für bloße "bodenlose Spekulation" halten muß. Die Vorwürfe, die immer wieder gegen Heideggers Auslegung von philologischer Seite (besonders bezüglich der letzten unklar überlieferten Verse dieses Gedichts) tatsächlich vorgebracht wurden, scheinen Heideggers Mahnung zur Vorsicht, die in dem soeben zitierten Satz aufscheint, als begründet zu erweisen. Als nächsten Schritt in diesem zusammenfassenden Rückblick wirft Heidegger die Frage auf, was mit dem "Jetzt", das dieses Gedicht wesentlich bestimmt, gemeint ist. "»Jezt« - wann ist dieses »Jezt«? Ist das der Zeitpunkt um 1800, da

429 430

GA 4: S. 75. GA 4: S. 75.

§ 8. Rückblick auf das ganze Gedicht

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dies Gedicht entstand?" 431 Von philologischer Seite aus betrachtet, scheint dies eindeutig zu sein. In diesem Sinne sagt Heidegger: "Das »Jezt» nennt ja doch eindeutig den Zeitpunkt, in dem Hölderlin selbst sagt: »Jezt aber tagts!«" und bestätigt sogleich: "Gewiß nennt das »Jezt« Hölderlins Zeit und keine andere. "432 Diesem scheinbaren Zugeständnis, daß das "Jetzt" bereits der Vergangenheit angehört, wendet Heidegger sogleich adversativ ein "aber" entgegen: "Aber Hölderlins Zeit ist ja einzig die durch sein Wort angestimmte Zeit. Hölderlins Zeit ist allerdings im strengen Sinne seine Zeit. "433 Durch das "im strengen Sinne seine Zeit" deutet sich schon an, daß hier nicht die chronologisch datierbaren Jahre seines Schaffens gemeint sein können; vielmehr ist die wesentliche Zeit gemeint, die, wie wir sahen, nicht vergeht, sondern höchstens mißachtet werden kann, wodurch ihre Neuankunft bzw. die Neuankunft des Gewesenen in seiner Fülle vereitelt wird. Das "Jetzt" ist also gerade nicht das "Zeitalter", in dem unter anderem auch Hölderlin lebte und das mittlerweile lange bereits vergangen ist: "Aber diese seine Zeit ist gerade nicht das zu dieser Zeit nur gleichzeitige und übliche Zeitgenössische."434 Das "Jetzt" gibt also keinen Zeitpunkt an, an dessen "Datum" das Heilige kommen würde, sondern vielmehr bringt das Heilige die Möglichkeit eines "Jetzt" mit sich, d.h., bringt den Augenblick fiir eine Entscheidung mit sich: "Das »Jetzt« nennt das Kommen des Heiligen. Dieses Kommen allein gibt die »Zeit« an, in der es »Zeit« ist, daß die Geschichte sich wesentlichen Entscheidungen stellt."43' Das "Jetzt" datiert kein Kommen, sondern das Kommen bringt das "Jetzt" mit sich und gibt die Möglichkeit eines eigenen Beachtens seines immer schon gewesenen augenblicklichen Kommens den Menschen in ihrer jeweils geschichtlichen Situation anheim: "Solche »Zeit« läßt sich nie angeben (»datieren«) und ist nicht ausmeßbar durch Jahreszahlen und Abschnitte von Jahrhunderten. "436 Zwischen dem geschichtlichen "Jetzt", das sich aus der Zugehörigkeit des Menschen zum Heiligenvollzugshaft dem Menschen zuspricht, und demjenigen, was nachträglich feststellbar wird bezüglich der spezifischen tatsächlichen Ergreifung von Möglichkeiten in den bestimmten Epochen, sieht Heidegger den Unterschied von ursprünglich verstandener Geschichte und Historie: "»Geschichtszahlen« sind lediglich das herzugebrachte Leitband, an dem GA 4: S. 75 . GA 4: S. 75. 431 GA 4: S. 75f. 434 GA 4: S. 76. 435 GA 4: S. 76. 436 GA 4: S. 76.

43 1 432

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menschliches Rechnen die Begebenheiten aufreiht. Diese besetzen immer nur den Vordergrund der Geschichte, der allein der Erkundung (laTopdv) zugänglich bleibt. "437 Historische Fakten bleiben in bezug auf das Geschichtliche "vordergründig", weil in ihnen nur Vergangenes festgestellt wird und der Grund, der sowohl das Vergangene wie auch dessen Feststellung eröffnet, im Bereich der Historie ungesagt bleibt. Dieser Grund ist das Heilige bzw. das, was denkerisch, wie wir am Anfang des zweiten Kapitels in der geschichtlichen Besinnung auf das Heraklit-Fragment schon kurz sahen und weiter unten noch genauer untersuchen werden, das ursprüngliche Wesen der Wahrheit. Eine ursprüngliche Erfahrung dieses Wesens wird selten "gemacht", d.h. durchgemacht und ausgetragen. Dementsprechend selten ist die "Geschichte" in dem wohlverstandenen Sinne als die Entscheidung fiir das "Jetzt" des Kommens des Heiligen (das aus dem ursprünglichen Wesen der Wahrheit zu denken ist): "Dieses »Historische« ist aber nie die Geschichte selbst. Geschichte ist selten. Geschichte ist nur dann, wenn je das Wesen der Wahrheit [1. Aufl.: "das Seyn selbst"] anfanglieh entschieden wird. "m Das Heilige selber begründet in seinem Kommen die Geschichte. D.h. aber nicht, daß die Geschichte der Menschen nur das "Ausspielen" von längst festgesetzten "Rollen" wäre. Das Heilige, wie immer wieder betont wurde, begründet den Offenständigkeitsbereich fiir anderes, d.h. fiir eigenständig-freie Wesen, die sich fiir das Gewahren ihres Grundes eigens entscheiden müssen. In seinem beständigen Kommen, das nie ein beständig "Gegenwärtiges" (im chronologischen Sinne) ist, bietet das Heilige aber jeden Augenblick den möglichen Grund fiir das Geschichtlich-Werden der Menschen. Insofern gründet es Geschichte: "Das Heilige »älter denn die Zeiten« und »über die Götter« gründet in seinem Kommen einen anderen Anfang einer anderen Geschichte. "439 Indem die Menschen zwar durchaus eigenständig-frei, aber dies eben nicht "aus sich" sind, sondern ihnen ihr sogeartetes Sein übereignet wurde, entscheidet ursprünglich das Heilige über ihr Sein: "Das Heilige entscheidet anfanglieh zuvor über die Menschen und über die Götter, ob sie sind und wer sie sind und wie sie sind und wann sie sind. "440 Dieser Satz, nur fiir sich genommen, könnte so aufgefaßt werden, als ob Heidegger den reinsten Fatalismus propagiere, der allem Seienden nur seine absolute Kontingenz und Nichtigkeit vorrechnen würde. Im Lichte der ganzen bisher geleisteten Interpretation ist aber ersichtlich geworden, daß nichts verkehrter wäre als eine derartige Auffassung. NaGA 4: GA 4: 439 GA 4: 440 GA 4:

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S. 76. S. 76. S. 76. S. 76.

§ 8. Rückblick auf das ganze Gedicht

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türlieh kann sich der Mensch nicht für das Heilige entscheiden, so wie sich das Heilige für den Menschen entscheidet. Der Mensch (und alles Seiende schlechthin) bleibt das vom Heiligen eröffnete; für diese Eröffnung hat sich das Heilige anfänglich ent-schieden, d.h. geöffnet, aufgeschlossen. Jedoch fängt mit dieser Ent-scheidung die eigentliche Frage bezüglich des "Schicksalcharakters" des (Frei-)Gegebenen erst an: Hat sich das Heilige für die versklavte Abhängigkeit von allem entschieden, oder für die Übereignung von eigenständig-freiem Sein, das auf das Heilige zwar bezogen bleibt, aber mit der Würde der Freiheit begabt ist, sich eigens fiir das Heilige entscheiden, d.h. öffnen, zu können und durch diese Öffnung sogar das Heilige wesentlich in Seiendes hineinzubergen und dadurch gewissermaßen kreativ verwandeln zu können? Die Antwort auf diese Frage liegt in allem bisher Gesagten.

I. Das Rufen des Heiligen als Bergungsweise seiner Ankunft Heidegger spricht im nächsten Satz denjenigen Sachverhalt an, der von dem Sichöffnen des Menschen für das Heilige Kunde bringt: "Kommendes wird in seinem Kommen gesagt durch das Rufen. "441 Im Rufen öffnet sich der Mensch für ein Kommen. Dies geschieht im Gedicht Hölderlins: "Hölderlins Wort ist jetzt, mit diesem Gedicht anhebend, das rufende Wort. "442 Durch diesen Sinn des Rufens bestimmt Heidegger das Wesen der "Hymne" ursprünglicher: "Hölderlins Wort ist jetzt »Hyrnnos« in einem neu geprägten und einzigen Sinne. Gewöhnlich übersetzen wir das griechische Wort UIJ.VELV mit »preisen« und »rühmen«. Wir meinen dabei leicht ein wörtertrunkenes Besingen und Ansingen. "44' Die gewöhnliche Bedeutung von "Hymne" erblickt Heidegger also im Sprechen über ein vorhandenes Seiendes, das dieses mit besonders rührigen Wörtern "anpreist" bzw. "umschreibt". Aber die ursprüngliche dichterische Hymne bezieht sich nicht auf ein schon Vorhandenes. "Allein jetzt ist das dichtende Wort das stiftende Sagen...... Wie wir auch in unserem kurzen Exkurs zur Kunstwerkabhandlung gesehen haben, bezieht sich dieses Stiften nicht auf ein innerweltlich Seiendes: "Das Wort dieses Gesanges ist nicht mehr eine »Hymne an« etwas, weder die »Hymne an die Dichter«, noch aber auch die Hymne »an« die Natur, sondern

GA 4: S. 76. GA 4: S. 76. 443 GA 4: S. 76. 444 GA 4: S. 76.

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die Hymne »des« Heiligen."441 Mit dem "des" deutet sich der ereignishaftkehrige Bezug des Heiligen zum Menschen an. Im ursprünglichen Stiften wird nicht Vorhandenes besungen, sondern dem ereignenden Zuspruch (bzw. Zuwurf), der lautlos aus dem Heiligen an den Menschen ergeht, wird vollzugshaft im dichterisch-verlautbarenden Wort als dem ereigneten Entwurf entsprochen. Dieser Genetiv ist gewissermaßen ein "genetivus objektivus und subjektivus": "Das Heilige verschenkt das Wort und kommt selbst in dieses Wort. "446 Das Heilige verschenkt das Wort im lautlos-ereignenden Zuspruch; nur in ihm fühlt sich das ursprüngliche dichterische Wort angesprochen. Jedes menschliche Sprechen ist in gewisser Hinsicht ein "Ent-sprechen" (in bezugauf dieses Wort des Heiligen), insofern alles Sprechen, auch das über die Dinge, sich in irgendeiner Weise auf den eröffnenden Bereich des Heiligen bezieht. Aber nur im "rein gesprochenen" Wort kommt dieser Bezug eigens zum Hervorscheinen. Nur hier kommt das Heilige selbst ins Wort. Hier wird es im Seienden geborgen und wesentlich verwandelt. Durch das Hervorscheinen im dichterischen Wort kann es Menschen auf gewandelte Weise ansprechen und auf die Würde ihres Wesens und auf die Freude, die mit dieser Wesenseinsicht einhergeht, hinweisen; denn mittelbar den Menschen ansprechen kann das Heilige "von sich aus" (als das wesenhaft Unmittelbare) nicht. Dazu bedarf es des verwandelnden Sagens der Dichter. Damit ist das Heilige auch nicht bloß eine "Bedingung der Möglichkeit" für alles Seiende und für das seiende Wort. Vielmehr kann jetzt gesagt werden: "Das Wort ist das Ereignis des Heiligen. "447 Das Wort ist immer in seinem zwiefach kehrigen Sinne zu verstehen: Das Ereignis übereignet im ereignenden Zuwurf den Zuspruch an die Menschen, und im rein-entsprochenen ereigneten Entwurfwird dieses Wort verwandelt wieder-gegeben, so daß das Heilige unter den Menschen sein, d.h. geborgen anwesend sein kann. Es ist zwar niemals bloß anwesend wie ein Seiendes, aber es kann durch das Entsprechen seienden Charakter annehmen, ohne seinen Geheimnis-Charakter dadurch zu verlieren, wenn in der Tat das Entsprechen ein ausgezeichnetes Bergen ist, welches das Sich-Eröffnende auf eine Weise birgt, die seinen Wesenszug des Sichverschließens nicht preisgibt, sondern als solchen hervorscheinen läßt. Den kehrigen Sachverhalt des Ereignisses spricht Heidegger auch im nächsten Satz an: "Hölderlins Dichtung ist jetzt anfangliebes Rufen, das vom Kommenden selbst gerufen, dieses und nur dieses als das Heilige sagt. "448 Weil die-

GA 4: S. 76. GA 4: S. 76. 447 GA 4: S. 76f. 448 GA 4: S. 77.

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§ 8. Rückblick auf das ganze Gedicht

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ses entsprechende Sagen sich rein aus dem Vollzug des Empfangens des Zuspruchs nährt und das Heilige nicht mit Seiendem "vergleicht", was bedeuten würde, sich aus dem Vollzug hinaus zu begeben, ist dieses Rufen ein anfängliches, d.h., es fängt einen Zuruf auf, der immer schon aus dem aufgehenden Anfang an die Menschen ergeht. Aus diesem Vollzug sagt Hölderlin nur vom Heiligen, und zwar auf eine Weise, die es verwandelt in das Gedicht birgt. Das, was den Dichter in dieses Sagen "nötigt", ist also nichts außer das Heilige selbst: "Das hymnische Wort ist jetzt »heiliggenöthiget«;"449 Das Heilige braucht, um verwandelt im dichterischen Wort sprechen zu können, eine gewisse Nüchternheit. Wir sahen bereits, daß ein allzu hingerissenes Sagen leicht der Gefahr erliegt, das Heilige zugunsten einer seiner Erscheinungen zu verlieren. Deswegen betont Heidegger auch: "und weil >>heilig« genötiget, auch »heilignüchtem«."450 Den Verweis auf die dem Heiligen entsprechende Nüchternheit entnimmt Heidegger einem überlieferten Bruchstück Hölderlins: "So sagt ein aus dem Jahr 1800 stammendes Bruchstück, das überschrieben ist »Deutscher Gesang«, dieses: ...dann sizt im tiefen Schatten, Wenn über dem Haupt die Ulme säuselt, Am kühlathmenden Bache der deutsche Dichter Und singt, wenn er des heilignüchternen Wassers Genug getrunken, fernhin lauschend in die Stille Den Seelengesang. (Bruchstück n. 10. IV2 , 244)"451

In diesen Versen erblickt Heidegger wesentliche Hinweise auf die Nüchternheit, die zum Sagen vom Heiligen erforderlich ist; fast am Ende des Vortrages angekommen, gibt er noch einige Hinweise, wie diese Nüchternheit zu denken ist, die im rufenden Sagen des Heiligen mitschwingt.

a) Die notwendige Nüchternheit im Sagen vom Heiligen Der in den soeben zitierten Gedichtzeilen angesprochene "Schatten" bringt das schattige Dunkle mit sich, das vor einem gänzlichen Aufgehen in der Helle bewahrt. Der Dichter darf nicht versuchen, das dunkel-bergende W esenselement seines Seins (das ihm durch die Zugehörigkeit zur Erde zukommt) zugunsten einer "reinen Gelichtetheit" aufzugeben; er ginge damit nur seines Wesens verlustig. Diesen Gedanken spricht Heidegger so an: "Der »tiefe Schatten« retGA 4: S. 77. GA 4: S. 77. 451 GA 4: S. 77.

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tet das dichtende Wort vor der übergroßen Helle des »himmlischen Feuers«."452 Das himmlische Feuer, das Semeie aufs Haupt traf, die sich zu sehr von ihrem Wesen entfernte, indem sie den Gott direkt zu Angesicht bekommen wollte, hat Heidegger ja bereits ausfUhrlieh interpretiert. Vor der Glut dieses hellen Feuers schützt auch die im Gedicht angesprochene "Kühle": "Der »kühlathmende Bach« schützt das dichtende Wort vor der überstarken Glut des »himmlischen Feuers«. "453 Die zwei Wesenszüge, die dem Entsprechen . in bezug auf das Heilige zugrundeliegen, sind also einerseits das bodenständige Dunkle des Schattens und das Kühle des Flusses: "Das Kühle und Schattige des Nüchternen entspricht dem Heiligen. "454 Genausowenig wie das Dunkle alle Helle verleugnet, sondern ihr gewissermaßen einen eigenen Ort einräumt, an dem sie sich vom Dunklen abheben kann, so bringt auch das "Kühle" die Glut nicht zum Erstarren: "Diese Nüchternheit verleugnet nicht die Begeisterung. "455 Hieraus geht eindeutig hervor, daß die Nüchternheit nicht das Gegenteil von Begeisterung ist. Vielmehr ist sie die Grundbedingung daftlr, daß die Begeisterung sich nicht gänzlich verliert, da dadurch die eigentümliche Vermittlerrolle des Menschen verloren gehen würde. Das Heilige bringt, wie wir in seiner Wesensanalyse auch sahen, notwendigerweise die einigende Einheit der Begeisterung mit sich, die jedoch keine verschmelzende ist, sondern eine Einheit, die jedem "Teilhabenden" an dieser Einheit seinen eigenen Wesensbereich überläßt. Die Einheit ist eine Vieleinheit, die auf Grund der Einheit Anderes anders sein läßt. Die Nüchternheit bringt die Bodenständigkeit mit sich, auf deren Grund Begeisterung, die wesentlich zum Heiligen gehört, sich eigentlich vollziehen kann: "Die Nüchternheit ist die allzeit bereite Grundstimmung der Bereitschaft ftlr das Heilige."456

Im letzten Satz des Vortrags bemerkt Heidegger, daß das von Hölderlin dichterisch rein bewahrte Wort vom Heiligen bis heute noch nicht rein gehört wurde, aber solchem Hören entgegenharrt und das rein Gesprochene ftlr achtsame Hörer aufbewahrt: "Dieses Wort ist, noch ungehört, aufbewahrt in die abendländische Sprache der Deutschen. "457 Der vorletzte Satz des Vortrages birgt einen unscheinbaren V erweis, den es von uns ausfUhrlieh zu untersuchen gelten wird. Der Satz lautet: "Hölderlins Wort sagt das Heilige und nennt so

GA 4: S. 77. GA 4: S. 77. 454 GA 4: S. 77. 455 GA 4: S. 77. 456 GA 4: S. 77. 457 GA 4: S. 77. 452 453

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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den einmaligen Zeit-Raum der anfangliehen Entscheidung für das Wesensgefüge der künftigen Geschichte der Götter und der Menschentümer. "m Hier wird der "Zeit-Raum" angesprochen, der im Heiligen genannt wird, und innerhalb dessen eine geschichtliche Entscheidung eröffnet ist, die auf die Begegnung von Mensch und Göttern bezogen ist. Mit diesem Wort "Zeit-Raum" verweist Heidegger verhaltener Weise auf ein Grundwort des ereignisgeschichtlichen Denkens, dessen Auslegung uns seit der Veröffentlichung der Beiträge möglich geworden ist. Um diesen Hinweis näher zu verstehen, müssen wir unsere ganze Aufmerksamkeit einer Interpretation der wesentlichen Gedanken dieses schwierigen Kapitels der Beiträge widmen.

§ 9. Neunter Exkurs: Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit In den Paragraphen, die innerhalb der Beiträge den Zeit-Raum behandeln, findet sich ein Hinweis darauf, daß das Raum-und-Zeit-Phänomen innerhalb des ereignisgeschichtlichen Denkens tiefer gedacht wird als in Sein und Zeit, daß andererseits aber Sein und Zeit schon unterwegs zu einer ursprünglicheren Zeit- und Raumauslegung war: Der Zusammenhang des Zeit-Raumes mit Raum und Zeit und die Entfaltung dieser aus jenem läßt sich zu einem Teil am ehesten zuvor verdeutlichen, wenn versucht wird, Raum und Zeit selbst aus der bisherigen Auslegung herauszunehmen, aber doch in der Richtung dieser in ihrer vor-mathematischen Gestalt zu fassen (vgl. »Sein und Zeit« über die Räumlichkeit des Da-seins; die Zeitlichkeit als GeschichtIichkeit).459

Daher müssen wir uns, bevor wir den Zeit-Raum der Beiträge durchdenken können, durch eine Analyse der Auslegung des Raum-und-Zeit-Phänomens in Sein und Zeit vorbereiten. I. Die Auslegung von Raum und Zeit in Sein und Zeit

Bezüglich des Zeitphänomens ist es notwendig, zwischen der im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit faktisch ausgearbeiteten daseinsmäßigen Zeitlichkeit und dem ursprünglich in den Vorblick genommenen horizontalen Zeitphänomen zu unterscheiden. Beides fmdet sich in der Überschrift zum ersten Teil 458 GA 4: S. 77. 459 GA 65 : S. 387.

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von Sein und Zeit so angedeutet: "Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein. "460 Die phänomenologische Ausarbeitung der Zeit als transzendentaler Horizont fiir den Sinn von Sein überhaupt war fiir den dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit geplant, dessen Ausarbeitung von Heidegger selber fiir unzureichend empfunden und vernichtet wurde.461 Wie wir später noch genauer sehen werden, fmdet sich ein Ansatz zu einer Neuausarbeitung dieses Abschnittes in der Vorlesung über die Grundprobleme der Phänomenologie. Zunächst wenden wir uns aber der innerhalb von Sein und Zeit veröffentlichten Zeit- und Raumauslegung zu. Um fiir die Auslegung der daseinsmäßigen Zeitlichkeit, die im zweiten Abschnitt vorgenommen wird, gerüstet zu sein, muß zuvor der Sinn des ersten Abschnittes noch weiter erhellt werden. Bis jetzt sahen wir: Die Weise, wie der Mensch in der Welt existiert, ist das Offenstehen in einem vom Wesen der Sprache gegliederten Möglichkeitsbereich ursprünglichen Verstehens und Entwerfens, in dem sich der Mensch immer schon gestimmt befmdet bzw. in den der Mensch durch seine Befmdlichkeit geworfen ist. Das heißt, der Mensch entwirft Möglichkeiten, die ihm aus einer Welt, in die er geworfen ist, (vor-)gegeben sind. Das Wesen der Sprache (die Rede) erwies sich als ein Existenzial, das sowohl auf die Befmdlichkeit als auch auf das V erstehen bezogen ist, ohne aber ein drittes neben diesen zu sein. Es ist zwar als Existenzial gleichursprünglich wie diese, aber innerhalb dieser Gleichursprünglichkeit hat es fiir die beiden anderen fundierenden Charakter. Das dritte Existenzial, das auf gleicher Ebene neben Geworfenheit und Verstehen von Heidegger bestimmt wird, ist nicht das "Verfallen", wie in der HeideggerLiteratur oft angenommen wurde462, sondern, wie von Herrmann klargestellt hat, das "Sein-bei" innerweltlich Seiendem. Das "Sein-bei" zeigt sich zwar alltäglich zunächst und zumeist im Modus der Verfallenheit, aber dieser Modus wird von Heidegger nicht "fatumshaft" interpretiert, d.h., der Mensch kann sich natürlich auch fiir echte Weisen des "Sein-bei" öffnen. Die alltägliche Weise des Sein-bei gegenwärtigem, innerweltlichem Seienden soll nun ganz grob umrissen werden.

Sein und Zeit, S. 41. Vgl. GA 66 (Besinnung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1997): S. 413f. 462 Vgl. von Herrmanns überzeugende Behandlung dieser Fehlinterpretationen in Subjekt und Dasein, S. 198-224. 460

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§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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a) Das Existenzial des "Sein-bei" und seine Entfaltung in der Weltlichkeitsanalyse von Sein und Zeit Die Weise, wie der Mensch sich zunächst und zumeist bei innerweltlich Seienden aufhält, wird in Sein und Zeit in den Paragraphen 15-18 mitanalysiert, die sich einer Auslegung der "Weltlichkeit der Welt" 463 widmen. Im § 15 wird aufgewiesen, daß die Weise, wie Seiendes zunächst und zumeist in der Welt begegnet, eine andere ist als die traditionelle Auffassung der Philosophie nabelegen würde. Denn phänomenal ist es ein Tatbestand, daß alltäglich und üblicherweise gerade keine vorhandenen Dinge begegnen, die sich durch eine eidetische "Sachhaltigkeit" konstituieren und von einander abgrenzen. Der Hammer ist im alltäglichen Gebrauch primär nicht ein vorhandenes Ding, dessen Wesen unabhängig von allem anderen theoretisch betrachtet wird, sondern er erweist sich als ein zuhandenes Zeug, dessen Bewandtnis immer schon auf einen größeren Bewandtniszusammenhang verweist, aus dem sein eigenes Sein verständlich wird. Die traditionelle Interpretation der Anwesenheitsweise der Dinge als die Vorhandenheit und ihr "Was-sein" als realitas bzw. essentia wird hier als unzureichend für die Erfassung des Seinssinnes des Zeugs, mit dem wir es zunächst und zumeist zu tun haben, erwiesen. Denn die Anwesenheitsweise des Zeugs ist vielmehr die der Zuhandenheit, und sein "Was-sein", wie wir in Kürze sehen werden, ihre "Dienlichkeit zu", die sich im "Verweisungscharakter" bzw. in der "Um-zu"-Struktur bekundet. Das Sein des Zeugs läßt sich also nicht "angemessener" aus einer theoretischen Betrachtungsweise bestimmen (die es aus seiner natürlichen Anwesenheitsweise herausreißt): "Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es »an sich« ist. "464 Ontologisch, d.h. von dem Sichzeigen ihrer Seinsweise her betrachtet, ist also die Zuhandenheit keinesfalls in der Vorhandenheit fundiert.465

463 Hier ist zu beachten, daß in Sein und Zeit die ontologische Welt der Umwelt (d.h. die Welt des Besorgens) analysiert wird. Diese Welt deckt sich nicht mit dem Phänomen des "Seienden im Ganzen", so wie es z.B. in Heideggers Antrittsvortrag "Was ist Metaphysik" (Wegmarken, S. 103-121) oder in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik (GA 29/30) reicher ausgelegt wird. Die Welt der Umwelt ist innerhalb der "Welt" im Sinne des wohlverstandenen "Seienden im Ganzen" zu denken. Vgl. auch Anm. 465. 464 Sein und Zeit, S. 71 465 Die Natur bzw. die Naturdinge werden in Sein und Zeit vornehmlich als das im umsichtigen Gebrauch Mitentdeckte thematisch. Die Natur, insofern sie sich dem Hantieren entzieht, wird in Sein und Zeit fast ausschließlich vom Blickpunkt des zuhandenen Seienden gedacht: als das Herstellungsunbedürftige (vgl. auch GA 24: S. 162f.).

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Der § 16 erhellt diesen "Verweisungscharakter" des Zeugs durch eine Analyse verschiedener Privationsformen. Wenn das reibungslose Auf-einanderVerweisen des Zeugs gestört wird und das dadurch vereinzelte Zeug auffällig, aufdringlich oder gar aufsässig wird, dann schwindet der Zuhandenheitscharakter immer mehr zugunsten der bloßen Vorhandenheit in den Hintergrund und die Verweisungszusammenhänge treten- zurnindestens kurzfristig - deutlicher als solche zum Vorschein. Wenn z.B. ein benötigter Hammer in einer Werkstatt funktionsuntauglich wird, tritt der ganze Verweisungszusammenhang, der ansonsten als solcher nicht eigens im thematischen Blick steht, als ein stagnierender in den Vordergrund. Anband solcher Privationsphänomene wird hier das fundierende Phänomen deutlicher. Die Welthaftigkeit der alltäglichen Welt, die den Boden sowohl für das zuhandene Seiende als auch für das Betrachten von Vorhandenheit bildet, erweist sich dadurch als wesentlich konstituiert durch Verweisungszusammenhänge von innerweltlich Seiendem. Der § 17 untersucht eigens das Phänomen der "Verweisung", nachdem es sich als wesentlich für die Erhellung der Weltlichkeit der Welt erwiesen hat. Die Analyse widmet sich dem Phänomen des "Zeichens", welches den Verweisungszusammenhang als einen solchen kenntlich machen soll. Das ontische Zeichen ist natürlich nicht selbst mit der ontologischen Struktur eines Verweisungszusammenhangs zu identifizieren, aber in ihm zeigt sich "die ontologische Struktur der Zuhandenheit, Verweisungsganzheit und Weltlichkeit"..u an, weil es a.) in einem "Um-zu" fundiert ist, das b.) zu einem Verweisungszusammenhang gehört und es c.) diesen als solchen auf ontischer Ebene eigens sichtbar macht ("die Umwelt [wird] je für die Umsicht ausdrücklich zugänglich. "467). Die Möglichkeit des Hereinbrechens der Natur als "eigenständiger Macht" wird in Sein und Zeit nur insofern angedeutet, als das in Sein und Zeit herausgearbeitete Naturverständnis von der Naturmacht negativ abgegrenzt wird: "Natur darf aber hier nicht als das nur noch Vorhandene verstanden werden- auch nicht als Naturmacht." (S. 70). Die Naturdinge als Naturdinge werden von Heidegger ausführlicher in der Kunstwerkabhandlung thematisiert. Im Kommentar von Herrmanns heißt es hierzu: "Die in 'Sein und Zeit' vorgenommene und durchgehaltene Unterscheidung von Zeug und Ding deckt sich nicht mit der von Gebrauchsding und bloßem Ding in der Kunstwerk-Abhandlung. Das 'bloße Ding' nach 'Sein und Zeit' ist nicht der bloße Granitblock, der in der KunstwerkAbhandlung in seinem ihm eigentümlichen Dingsein bestimmt werden soll, aber in seinem Dingsein, in welchem es nicht für das theoretische Erkennen, sondern für die natürliche unmittelbare Erfahrung der reinen Naturdinge offenbar ist." (Heideggers Philosophie der Kunst, S. 120). 466 Sein und Zeit, S. 82. 467 Sein und Zeit, S. 82.

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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Im § 18 wird der Seinscharakter der Zuhandenheit weiter bestimmt als die Bewandtnis, die das Dasein immer innerhalb eines Bewandtniszusammenhangs versteht. Dadurch ist, wie wir schon im ersten Kapitel sahen, das Dasein immer schon "angewiesen" auf eine "Welt", aus der her die Bewandtnis des einzelnen Zeugs vorgegeben und in ihrer Bedeutsarnkeit verständlich wird. Das W eltphänomen erschöpft sich nicht in der Bewandtnisganzheit von Zuhandenem, sondern konstituiert sich wesentlich auch durch das "sichverweisende Verstehen" des Daseins, das die Bedeutsamkeil einer Bewandtnis aus einem "Worumwillen" ("darauf letztlich alles Wozu zurückgeht" 468) begegnen läßt. Welt wird in diesein Paragraphen von Sein und Zeit folglich so bestimmt: "Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist das Phänomen der Welt. "469 Die Bedeutsamkeit bezeichnet das ganze Bezugsgefiige der Bewandtnisganzheit des Zuhandenen, insofern sie aus dem "Worum-willen" des daseinsmäßigen Verstehens begegnet. Die Bewandtnisganzheit nennt die Totalität des besorgbaren Zuhandenen, die Bedeutsamkeit nennt diese in ihrem wesensmäßigen Bezug zum Dasein (mit seinem "Worum-willen"); erst in der Bedeutsamkeit ist die Weltlichkeit der Welt (qua Umwelt) hinreichend bestimmt. Das "Sein-bei" des Daseins erweist sich also als das hantierende, offenständige Existieren, das die Bewandtnisganzheit offen hält und das Zeug innerhalb dieser als bedeutsames begegnen läßt. Zunächst und zumeist ist sich das Dasein seines offenständigen Begegnenlassens von Zeug nicht inne, sondern "verliert" sich im Besorgen. Aber nichts in Heideggers Analyse legt nahe, daß der Mensch nicht auch auf eigentliche Weise gegenwärtig bei innerweltlich Seiendem sein kann, indem er das Innerweltliche begegnen läßt, zumal aber sich im Begegnenlassen dessen inne ist, daß seine Wesenswürde darin besteht, diejenige Offenheit zu sein, in der Seiendes überhaupt begegnen kann (d.h. daß der Mensch Seiendes sein lassen darf). Da diese Wesenswürde kein "Gegenüber" ist, spricht nichts dagegen, daß der Mensch in einem Atemzug ganz bei der Sache sein kann (und sei es die "trivialste" Besorgung), ohne aber sein Selbst dabei zu verlieren. Nachdem die Zeuganalyse470 in Sein und Zeit vollzogen wurde, wendet sich Heidegger einer Abhebung des dadurch erlangten Verständnisses des In-derSein und Zeit, S. 86. Sein und Zeit, S. 86. 470 Es ist an diesem Punkt wichtig, eigens anzumerken, daß die Zeuganalyse in Sein und Zeit nicht besagen will, daß die alltägliche Weise, "mit Zeug" umzugehen, die "tiefste" bzw. "eigentlichste" Existenzweise sei; genauso wenig wird hier behauptet, daß das einzig Bedeutsame in der Welt das "Zeug" sei. Heidegger selber karikiert solch eine 468

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Welt-seins von der cartesianischen Auslegung des Menschen als einem weltlosen Subjekt zu. In den§§ 19-21 wird gezeigt, inwiefern Descartes in seiner Interpretation der Welt die phänomenalen Tatbestände übersieht, welche die Analyse des In-der-Welt-seins ans Licht gebracht hat. Den Einzelheiten brauchen wir uns in diesem Zusammenhang nicht zu widmen. Es genügt festzuhalten, daß die Situation, in der sich der Mensch als ein Seiendes erfahrt, das den vorhandenen Dingen "gegenüber" steht, in Sein und Zeit als ein bestimmter Modus des (nämlich theoretischen) In-der-Welt-seins ausgelegt wird, dem aber kein all-fundierender Status zukommt. Aber gerade dieser Sonderfall ist der Ausgangspunkt der Bestimmung der Welt bei Descartes. Das wesentliche Attribut der Substanz der Welt wird von ihm als reine Ausgedehntheit (res extensa) interpretiert. Die Welt ist zusammengesetzt aus räumlich ausgedehnten, vorhandenen Einzeldingen. Auf mysteriöse Weise muß das "rein geistige", nicht-ausgedehnte (also raumlose) menschliche Bewußtsein Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Die Analyse der Räumlichkeit in Sein und Zeit hebt sich von einem Raumverständnis, das aus solch einem Weltverständnis entstanden ist, entschieden ab. Ansicht in einer späteren Vorlesung, in der auf Sein und Zeit zurückgeblickt wird: "Wie Heidegger unter den Stimmungen nur die Angst kennt, so beschränkt er willkürlich die »Welt« auf das Zeug; flir Heidegger besteht die Welt nur aus Kochtöpfen, Mistgabeln und Lampenschirmen; zur »höheren Kultur« hat er kein Verhältnis und zur »Natur« schon gar nicht; denn das alles kommt ja in »Sein und Zeit« nicht vor. " GA 49 (Die Metaphysik des Deutschen Idealismus. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1991 : S. 44). Die Zeuganalyse ist wichtig, da sie Heidegger ermöglicht zu zeigen, daß die Subjekttheorie kein "fundamentum inconcussum" ist (im Sinne einer Grundlage flir alle menschlichen Verhaltensweisen); wenn sie überhaupt eine Grundlage ist, dann nur fllr diejenigen Akte, in denen sich der Mensch vor aller Möglichkeit der Täuschung schützen will. Durch die Zeuganalyse wird evident, daß die Möglichkeit einer solchen Theorie in einer ursprünglicheren menschlichen Seinsweise wurzelt. "Hantieren von Zeug" ist jedoch weder die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt noch die vollständige Antwort nach dem Sein des Daseins (und überhaupt keine, wenn sie nur auf der ontischen Ebene gelesen wird): "Wenn man gar den ontischen Zusammenhang der Gebrauchsdinge, des Zeugs, mit der Welt identifiziert und das In-der-Welt-sein als Umgang mit den Gebrauchsdingen auslegt, dann ist freilich ein Verständnis der Transzendenz als In-der-Welt-sein im Sinne einer »Grundverfassung des Daseins« aussichtslos." ( Wegmarken: S.153 (n. 55)). Die Zeuganalyse ist "lediglich" ein erster Schritt in die Richtung einer Interpretation des daseinsmäßigen In-der-Welt-seins als Transzendenz; diese wiederum ist "lediglich" ein erster Schritt in die Richtung einer Grundlegung, auf deren Boden die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt sinnvoller Weise wieder gefragt werden kann. Als ein solcher "erster Schritt" ist die Zeuganalyse natürlich unbestreitbar von höchster Bedeutung.

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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b) Die Analyse des Raumphänomens in Sein und Zeitm

Heideggers phänomenologische Analyse der Räumlichkeit beginnt mit dem Aufweis, wie sich der Raum zunächst und zumeist in der Alltäglichkeit zeigt(§ 22). Im alltäglichen Hantieren von zuhandenem Zeug hat dieses eine Nähe und Richtung, die den Platz des Zeugs konstituieren. 472 Dieser Platz bestimmt sich wiederum durch seinen Bezug zu anderen Plätzen innerhalb eines Bewandtniszusammenhangs. In diesen Plätzen ist jeweils schon eine "Gegend" mitverstanden als das "im Blick gehaltene Wohin des möglichen zeughaften Hingehörens. "473 Die Gegend ist keineswegs ein dreidimensionaler Behälter von (Leer-) Stellen, sondern zunächst ist sie der unthematisch mitverstandene, zuhandene Bereich (Umkreis), in dem Plätze aufeinander verweisen. Die Gegend ist immer schon vertraut, jedoch unauffällig. 474 Auffällig und d.h. als Gegend thematisch zugänglich wird die Gegend beim Nichtantreffen von einem zuhandenen Zeug an seinem Platz. Das im alltäglichen Benutzen zumeist nicht beachtete Zuhandene drängt sich in solchen Fällen auf und verweist ausdrücklich auf die Plätze in ihrem Bezug zueinander. Die Umwelt "spielt sich" also nicht in einem Raumbehälter "ab", sondern in der Umwelt zeigt sich Räumlichkeit zunächst als Platz und Gegend der zuhandenen Dinge. Der nächste Schritt in Sein und Zeit(§ 23) ist es aufzuzeigen, wie die räumliche Zuhandenheit der Dinge in der Räumlichkeit des In-der-Welt-seins des Menschen wurzelt. Die Räumlichkeit des Daseins ist weder vorhanden noch zuhanden, da dies Modi des innerweltlich Seienden sind. 475 Die aus dem Phänomen des Daseins entworfene Räumlichkeit wird von Heidegger terminologisch mit den Worten "Ent-fernung" und "Ausrichtung" gefaßt. Ent(-)fernung wird von Heidegger ausdrücklich nicht synonym mit "Abstand" verstanden, sondern trägt einen aktiven, transitiven Sinn: Entfernung besagt das "Verschwindenmachen der Ferne" bzw. "Näherung."476 In 471 Eine etwas ausführlichere Darlegung dieser Thematik findet sich in meinem Aufsatz "Einfllhrende Überlegungen in die Geschichte des Raumverständnisses im Denken von Martin Heidegger" Daseinsanalyse 14, l. Heft, 1997: S. 25-39. 472 Vgl. Sein und Zeit, S. 103. 473 Sein und Zeit, S. I 03. 474 V gl. Sein und Zeit, S. I 04. 475 Vgl. Sein und Zeit, S. 105. 476 Sein und Zeit, S. 105. In diesem Zusammenhang muß kurz auf eine Randbemerkung Heideggers eingegangen werden, die auf Schwierigkeiten der Fassung der Räumlichkeit durch das "Ent-fernen" hinweist. In Sein und Zeit heißt es: "Entfernen besagt

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diesem Sprachgebrauch haben zwei Punkte keine Entfernung voneinander, sondern einen Abstand, der dann auf Grund des Ent-fernens gemessen werden kann. 477 Die im Dasein liegende "wesenhafte Tendenz auf Nähe" zeigt sich im Ent-fernen, d.h. im In-die-Nähe-Bringen durch Beschaffen, Bereitstellen, ZurHand-Haben von Zeug. 478 Das umsichtige Besorgen entscheidet über Nähe und Ferne des umweltlieh zunächst Zuhandenen. 479 Das Dasein entdeckt in diesem Besorgen den Raum, und zwar so, daß "es sich zu dem so räumlich begegnenden Seienden ständig entfernend verhält". 480 ein Verschwindenmachen der Ferne..." (S. I05). Die Randbemerkung hierzu lautet: "Woher die Ferne, die ent-fernt wird?" (S. 442). Heidegger will damit wohl andeuten, daß der Raum dem Dasein irgendwie schon "vorgegeben" sein muß, damit dieses im besorgenden Hantieren der Dinge Zuhandenes aus der Ferne nähern kann. Denn, wenn die Räumlichkeit nur durch menschliches Hantieren der Dinge entstünde, wäre es unklar, wie derselbe öffentliche Raum verschiedenen Menschen zugänglich sein könnte. Oder, anders gewendet, wäre so der "öffentliche Raum" nichts anderes als eine abstrahierende Summierung der im umsichtigen Hantieren entstehenden jeweiligen Einzelräume; genau eine solche "intersubjektive" Abstraktionstheorie der Welt (die letztendlich in einer Ansetzung des Menschen als eines Subjekts, einer immanenten Bewußtseinssphäre, eines Aktzentrums wurzelt) will Heidegger allerdings unterlaufen. Aber das Dasein ist für Heidegger bereits in Sein und Zeit schon Mit-Sein, d.h., wesenhaft konstituiert durch das gemeinsame Sein in einer Welt, deren gemeinsamer Raum natürlich dann unterschiedlich (im Ent-fernen) gestaltet werden kann. Innerhalb der Raumanalyse von Sein und Zeit bleibt es jedoch unthematisch, daß dem Dasein durch das Mitsein ein öffentlicher Raum erschlossen ist, in dem es ent-fernend existiert. Die alltägliche Vorgabe der Ferne geschieht im Man, das das unhinterfragte, umsichtig-besorgende Entfernen ermöglicht. Aus dem durch das Man konstituierten öffentlichen Raum ent-fernt das Dasein seine konkrete Werkwelt Auch der un-alltägliche, eigentliche öffentliche Raum, der durch das Mitsein eröffnet wird, bleibt ein gemeinsamer. Das gelassene Entfernen ist ein von einer Zerstreutheit in das alltägliche Hantieren ablassendes Gewahren der Weite des Daseins, in welcher Menschen einander gegenwendig anwesen lassen können, einer Weite, die allzu oft aber fernab der Aufmerksamkeit liegt. Alles Nähern von Zuhandenern kann geschehen, weil das Dasein in einem vor-gegebenen, gemeinsamen ("öffentlichen") Welt-Raum eingelassen ist. 477 Vgl. Sein und Zeit, S. 105. Weil also das Dasein räumlich existiert, kann metrischer Abstand gemessen werden und nicht umgekehrt: weil es metrischen Abstand gibt, kann das Dasein ursprünglich räumlich existieren (wobei damit natürlich nicht geleugnet wird, daß ein (zumindestens potentiell) metrisch faßbarer Raum eine ontische Bedingung fUr menschliches Leben ist). 478 Vgl. Sein und Zeit, S. I05. 479 Sein und Zeit, S. I 07. 480 Sein und Zeit, S. I 08.

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Die "Ausrichtung" besagt, daß das Dasein in seinem Ent-fernen immer schon "eine Richtung in eine Gegend" aufgenommen hat. 481 Das Dasein ist in seiner Räumlichkeit also orientiert. Heidegger führt "links" und "rechts" als bestimmte Ausrichtungen an ("oben", "unten", "vorne", "hinten" sind weitere Einzelausrichtungen). Wichtig ist es Heidegger hier zu zeigen, daß das ausrichtende Ent-fernen nicht als ein orientierungsloser, dreidimensionaler Raum verstanden werden darf, in dem Abstände mathematisch genau formulierbar sind. Vielmehr kann sich gemäß Heideggers Analyse jegliche Räumlichkeit des innerweltlichen Seienden nur zeigen, weil das Dasein Plätzen und Gegenden im ausrichtenden Ent-fernen Raum zu geben vermag. Die Räumlichkeit des Daseins fundiert innerweltlichen Raum. Dieses Fundierungsverhältnis herauszuarbeiten, bedarf einer philosophischphänomenologischen Anstrengung, da es sich im alltäglichen Vollzug des räumlichen In-der-Welt-seins zunächst nicht zeigt. Der Vollzug des räumlichen Existierens wird von Heidegger in diesem Paragraphen denkerisch gegliedert in die dem zuhandenen Ding entsprechende Räumlichkeit und in die des Daseins: Der ausgerichteten Nähe des Zeugs entspricht die ausrichtende Näherung des Daseins. Der dritte Schritt von Heideggers Raumanalyse in Sein und Zeit(§ 24) leistet ein Zweifaches: Zum einen gibt er einen Hinweis darauf, wie "der Raum" zu verstehen ist, aus dem das Dasein in ausrichtender Ent-fernung existieren kann. Wie wir während der W eltlichkeitsanalyse sahen, wurde die Weltlichkeit der Welt als "Bedeutsamkeit" gefaßt, innerhalb derer Seiendes in seinen Verweisungszusammenhängen verständlich wird. Im folgenden Satz bringt Heidegger den "Raum" mit der "Bedeutsamkeit" zusammen: "In der Bedeutsamkeit, mit der das Dasein als besorgendes In-Sein vertraut ist, liegt die wesenhafte Miterschlossenheit des Raumes. "412 Da das Dasein die Bedeutsamkeit einerseits durch seine wesensmäßige Offenheit ermöglicht, andererseits aber auch, wie wir sahen, auf diese angewiesen bleibt, ist der Raum niemals ein "Gemächte" des Menschen, sondern er ist ein Wesenszug der Welt, in die das Dasein als existierendes geworfen ist. Zum anderen versucht der Paragraph 24 aufzuzeigen, wie die geläufige Vorstellung vom dreidimensionalen Raum aus der ursprünglich verstandenen Räumlichkeit entstehen kann; Heidegger will zeigen, daß der dreidimensionale Raum eine Abstraktion der ursprünglichen Räumlichkeit ist. Wie oben ange-

Vgl. Sein und Zeit, S. 108. Sein und Zeit, S. 110. Dies hebt von Herrmann in seinem Kommentar zur Kunstwerkabhandlung hervor; vgl. Heideggers Philosophie der Kunst: S. 186. 481

482

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deutet, liegt die ursprüngliche Räumlichkeit in dem "für das In-der-Welt-sein konstitutive[n] Begegnenlassen des innerweltlich Seienden" im Sinne eines "Raum-gebens".••' Dieses Zuhandene, das durch das einräumende Dasein auf seine (innerweltliche) Räumlichkeit freigegeben ist, kann hinsichtlich seiner Räumlichkeit thematisiert und zum Gegenstand für umsichtige Berechnung werden; Heidegger nennt hier als ein Beispiel den Hausbau, der ein gewisses Maß an abstrakter Raumplanung fordert, aber letztendlich noch weitgehend in den Bewandtniszusammenhang der Bereitstellung von Zuhandenern integriert ist. Von diesem noch weitgehend in das umsichtige Betrachten integrierten Raumverständnis kann weiter abstrahiert werden, bis das reine Hinsehen statt Plätze eine Stellenmannigfaltigkeit für beliebige Dinge sieht. Das innerweltliche Seiende verliert so seinen Bewandtnischarakter; die Umwelt wird zur Naturwelt und die Welt zum Zusammenhang von vorhandenen, ausgedehnten Dingen. 484 Wichtig ist es zu sehen, daß eine so konzipierte Welt, die innerhalb eines dreidimensionalen "Raumbehälters" vorgestellt wird, nur möglich ist auf Grund einer Entweltlichung der durch das Dasein ursprünglich erschlossenen Welt, die durch den ursprünglichen Raum mitkonstituiert ist. 485 Die Welt ist also nicht im Raum, wohl ist sie aber räumlich, weil das Dasein, das nicht von der Welt zu trennen ist, sondern sie wesenhaft mitkonstituiert, im ausrichtenden Entfernen räumlich existiert, d.h. Seiendem Raum einräumt.

c) Die Sorge als vorläufige Wesensbestimmung des Daseins im ersten Abschnitt von Sein und Zeit Durch diesen Gedankenabriß bezüglich des "dritten" Existenzials des "Seinbei" als dem offenständigen Begegnenlassen von innerweltlich-räumlich Seienden (in den Anwesenheitsmodi der Zu- und Vorhandenheit) sind wir in die Lage gekommen, die Wesensbestimmung des Seins des Daseins als Sorge zu verstehen. Die "Sorge", die im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit durch die Zeitlichkeit tiefer fundiert wird, faßt die erläuterten ExistenziaHen in einer Einheit zusammen: Dem Dasein geht es in seinem Sein (als das von Grund auf vom Wesen der Sprache vorgegliedert durchwaltete, gestimmt-geworfene, verstehend-entwerfende Sein bei innerweltlichem Seienden) eigens um dieses

Sein und Zeit, S. 111. ••• Vgl. Sein und Zeit, S. 112. 485 Die ursprüngliche "erschlossene Welt" ist nicht nur räumlich, sondern auch räumlich erschlossen. 483

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Sein, d.h. es sorgt sich um dieses Sein. Ausdrücklich vollzieht sich diese Bestimmung im § 41. Dort heißt es: "Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorwegschon-sein-in-(der-Weit) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfiillt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein ontologischexistenzial gebraucht wird. "486 Mit dem "Sich-vorweg"-sein ist der im Verstehen grundgelegte Möglichkeitscharakter angesprochen; das "schon-sein" verweist auf die in der Befmdlichkeit erschlossene Geworfenheit, und als drittes Existenzial wird klar und deutlich das "Sein-bei" (und nicht etwa das "Verfallen") genannt. Die "Sorge" bezeichnet die Strukturganzheit dieser drei Existenzialien, die zwar unter Abblendung der jeweils anderen im einzelnen getrennt untersucht werden können, tatsächlich aber immer nur zusammen im konkreten Phänomen des Daseins anwesend sind. Mit dem eigenen Verweis darauf, daß "Sorge" rein "ontologisch-existenzial" gebraucht wird, versucht Heidegger klarzustellen, daß diese "Sorge" nicht mit dem ontischen Phänomen eines sorgevollen Verhaltens (welcher Art auch immer) zu verwechseln ist (obwohl sie natürlich in einem ontologisch fundierenden Bezug zu diesem ontischen Phänomen steht). "Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit existenzial-apriorisch »vor« jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen »Verhaltung« und »Lage« des Daseins."487 Aber das Faktum, daß das Dasein in der Alltäglichkeit sich gerade nicht eigens um Seiendes "kümmert" bzw. es im Gerede, der Neugier und Zweideutigkeit in seinem Eigenwesen übergeht (dies zeigt die Analyse des Verfalles in Sein und Zeit in den §§ 35-38) ist ein Beleg dafiir, daß das Dasein ontologisch als ein Wesen konstituiert ist, das sich um sein Sein auf irgendeine Weise sorgen muß. Diese Weise kann natürlich privativ sein, aber eine Privation ist niemals etwas Eigenständiges, sondern ein Mangel an etwas bzw. eine Beraubung von etwas und verweist somit auf ein Zugrundeliegendes (das in diesem Falle natürlich nicht den Charakter eines zu- oder vorhandenen Dinges hat).

d) Der zweite Abschnitt von Sein und Zeit: Ursprüngliche Zeitlichkeit des Menschen und die davon abgeleitete Räumlichkeit

Im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit wird nun die Sorge im § 65 ontologisch auf die sie fundierende zeitliche Struktur freigelegt: Die Seinsganzheit des Daseins als Sorge besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in (einer Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Bei der ersten Fixierung

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14*

Sein und Zeit, S. 192. Sein und Zeit, S. 193.

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dieser gegliederten Struktur wurde darauf hingewiesen, daß mit Rücksicht auf diese Gliederung die ontologische Frage noch weiter zurückgetrieben werden müsse bis zur Freilegung der Einheit der Ganzheit der Strukturmannigfaltigkeit Die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der Zeitlichkeit. 488

Im Phänomen der Sorge bekundet sich also die ursprüngliche Zeitlichkeit des menschlichen Wesens als einigende Einheit, welche die Vielheit der Entfaltungsmomente der Sorge nicht unterdrückt, sondern vielmehr erst ermöglicht. Das "Sich-vorweg" des verstehenden Entwerfens von Möglichkeiten auf eine Bewandtnisganzheit gründet in der ursprünglich verstandenen Zukunft. Das "Schon-sein-in", das in der Befmdlichkeit offenbar wird, gründet in der ursprünglich verstandenen Gewesenheit. Das "Sein-bei" gründet letztlich in der ursprünglich verstandenen Gegenwart. Heidegger weist im Anschluß an diese Wesensbegründung gleich darauf hin, daß die ursprünglich verstandene Zeit nicht die chronologische ist: "Das »Vor« [in "Sich-vorweg"] meint nicht das »Vorher« im Sinne des »Noch-nichtjetzt - aber später«; ebensowenig bedeutet das »Schon« ein »Nicht-mehr-jetzt aber früher«. "489 Denn damit würde das Dasein wie ein innerweltlich vorhandenes Seiendes gefaßt werden, dessen Vorhandenheit an verschiedenen Zeitpunkten gegenwärtig sein bzw. fehlen könnte. Der Mensch kann natürlich so interpretiert werden, aber damit wäre das Eigentümliche seines Wesens verfehlt. Der Mensch zeigt sich vom Phänomen der Weise seines Anwesens her betrachtet als ein Wesen, das in die Bereiche des Gewesenen und Kommenden sowie in den des Gegenwärtigen hineinreicht, ohne natürlich in der Vergangenheit oder Zukunft vorhanden zu sein. Das Dasein steht somit wesensmäßig in diese Bereiche "aus"; es empfängt seinen Seinssinn aus diesen bzw. diese ermöglichen, daß er als ein durch Sorge strukturiertes Wesen existieren kann. Nur weil er z.B. in einem wesensmäßigen Bezug zur Zukunft steht, kann er gegenwärtig in einer Situation für die Zukunft etwas (sein Sein oder das Sein von etwas anderem) entwerfend erschließen. Dieses "Außer-sich"-sein fuhrt zu der terminologischen Bezeichnung der menschlichen Zeitlichkeit als die daseinsmäßig-ekstatische: "Zeitlichkeit ist das ursprüngliche »Außer-sich« an und fiir sich selbst. Wir nennen daher die charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart die Ekstasen der Zeitlichkeit."490 Die drei zeitlichen Ekstasen sind gleichursprünglich, d.h., keine läßt sich aus der anderen ableiten. Eine Mißachtung einer dieser Ekstasen kommt einer Verkennung des menschlichen Wesens gleich. Innerhalb dieser Sein und Zeit, S. 327. Sein und Zeit, S. 327. 490 Sein und Zeit, S. 329. 488 489

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Gleichursprünglichkeit fällt eine gewisse Betonung auf die Zukunft, da in ihr der Mensch gewürdigt ist, frei das Gewesene in der gegenwärtigen Situation fiir die Zukunft zu entwerfen, und er es dadurch ursprünglicher sich anzueignen vermag. Dies ist der Grundgedanke; die weiteren, umfangreichen Auslegungen dieser Ekstasen in Sein und Zeit (Alltäglichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins) können und brauchen in unserem Kontext hier nicht näher untersucht zu werden.

a) Die Fundierung des Raumes in der Zeitlichkeit

Für uns ist in bezug auf das Raum-Phänomen noch wichtig zu bemerken, daß dieses im ersten Abschnitt im Zuge der W eltlichkeitsanalyse behandelte Phänomen im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit auf die Zeitlichkeit zurückgeführt wird. Im § 70 wird evident, daß der Raum als nicht gleichursprünglich mit der Zeitlichkeit betrachtet wird, sondern von dieser abhängig ist: "Nur auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit ist der Einbruch des Daseins in den Raum möglich."491 Der scheinbare Vorrang des Raum-Phänomens, der sich in der Selbstauslegung des Daseins und seiner Sprache bekundet, wird auf die Verfallenstendenz im Dasein zurückgeführt: Dieser Vorrang des Räumlichen in der Artikulation von Bedeutungen und Begriffen hat seinen Grund nicht in einer spezifischen Mächtigkeit des Raumes, sondern in der Seinsart des Daseins. Wesenhaft verfallend, verliert sich die Zeitlichkeit in das Gegenwärtigen und versteht sich nicht nur umsichtig aus dem besorgten Zuhandenen, sondern entnimmt dem, was das Gegenwärtigen an ihm als anwesend ständig antrifft, den räumlichen Beziehungen, die Leitfaden ftir die Artikulation des im Verstehen überhaupt Verstandenen und Auslegbaren.02

Fast vierzig Jahre später sagt Heidegger in seinem Vortrag Zeit und Sein ausdrücklich, daß die soeben angedeutete Rückfiihrung der Räumlichkeit auf die Zeitlichkeit unhaltbar ist: "Der Versuch in »Sein und Zeit« § 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, läßt sich nicht halten"493 • Denn der Raum muß gleichursprünglich mit der Zeit aus dem "Ereignis" bedacht werden: Insofern Zeit sowohl wie Sein als Gaben des Ereignens nur aus diesem her zu denken sind, muß entsprechend auch das Verhältnis des Raumes zum Ereignis bedacht werden. Dies kann freilich erst glücken, wenn wir zuvor die Herkunft des Raumes

Sein und Zeit, S. 369. Sein und Zeit, S. 369. 493 Zur Sache des Denkens, S. 24. 491

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aus dem zureichend gedachten Eigentümlichen des Ortes eingesehen haben. (Vgl. Bauen Wohnen Denken, 1951 in »Vorträge und Aufsätze« 1954, S. 145ff. )494

Die Interpretation des Zeit-Raums in den Beiträgen wird versuchen, dem Raumphänomen diese Wesenswürde zurückzugeben. Bevor wir uns dieser Interpretation zuwenden können, gilt es zu verstehen, inwiefern die Auslegung in Sein und Zeit die Analyse des ereignishaften Zeit-Raums vorbereitet und doch noch in gewisser Hinsicht "in der traditionellen Richtung" verbleibt (wie wir gleich am Anfang dieses Exkurses im Heidegger-Zitat lasen). Einen Einblick in diese Problematik wird uns die Betrachtung der "Rekonstruktion" des dritten Abschnittes gewähren. Um dieser Rekonstruktion folgen zu können, war es jedoch vorher notwendig zu zeigen, wie im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit das Sein des Menschen als die ursprüngliche Zeitlichkeit im Sinne der daseinsmäßigen Ekstasen interpretiert wird. Diese ist jedoch nicht der in Sein und Zeit in die Vor-sicht genommene Sinn von Sein überhaupt, denn dieser hätte ursprünglich erst in jenem dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit aufgewiesen werden sollen.

e) Der geplante dritte Abschnitt von Sein und Zeit und die ekstatisch-horizontale Zeit Historische Fakten bezüglich des von Heidegger selbst vernichteten "dritten Abschnittes" von Sein und Zeit und bezüglich der Entstehung der "zweiten Ausarbeitung" dieses Abschnittes in der Vorlesung über die Grundprobleme der Phänomenologie fmden sich bei F. W. von Herrmann im§ 1 seiner Schrift über Heideggers »Grundprobleme der Phänomenologie» Zur »Zweiten Hälfte« von »Sein und Zeit«. Weiter gelingt es von Herrmann in dieser Schrift, Heideggers Grundgedanken des dritten Abschnittes in solch einem Ausmaß zu rekonstruieren, daß deutlich erkennbar wird, inwiefern die transzendental-horizontale Fragestellung aus Sein und Zeit durch die ereignisgeschichtliche Fragestellung radikal verwandelt und vertieft wird. 495 Wenden wir uns zunächst der fundamental-ontologischen Auslegung des Seinssinnes als der Zeit zu. Die Zeitlichkeit des Daseins eröffnet einen Bereich, in den Seiendes anwesen kann. Jedoch ist dieser zeitlich-gelichtete Bereich nicht vom Dasein erschaffen, sondern im Dasein lichtet sich die Zeit als der Horizont, innerhalb Zur Sache des Denkens, S. 24. Dies bedeutet natürlich gerade nicht, daß die gesehenen Phänomene in Sein und Zeit dadurch "falsch" werden würden. Vielmehr wird ihnen im Ereignis-Denken eine neue Frag-würdigkeit verliehen. 494 495

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dessen alles innerweltliche Sein anwesen kann: "Die Zeit als Horizont gehört zur ekstatischen Zeitlichkeit, und zwar insofern, als sich dieser Zeit-Horizont in der Zeitigung der ekstatischen Zeit aufschließt bzw. lichtet. ""• Das Dasein bleibt, wie wir sahen, auf dieses Gelichtete angewiesen. Das innerweltlich Seiende hat zwar einen zeitlichen Seinssinn, den das Dasein verstehend entwirft, aber dieser zeitliche Seinssinn ist nicht einfach gleichzusetzen mit der Zeitlichkeit des Daseins. Innerweltliches Seiendes ist also nicht ekstatisch-zeitlich wie das Dasein, d.h., es bildet keinen zeitlich-ekstatischen Offenständigkeitsbereich für das Anwesen von anderem aus; vielmehr erscheint es innerhalb eines solchen in dem jeweils eigenen Zeitlichkeitsmodus der horizontalen Zeit. Die Zeitlichkeit des Daseins ist also Bedingung der Möglichkeit für das Erscheinen von Seiendem, setzt aber die Zeitlichkeit des also Erscheinenden nicht "aus sich heraus" (genauso wenig, wie es seine eigene Zeitlichkeit "setzt", sondern in sie schon eher "versetzt" ist). Seiendes bekundet sich von ihm selbst her in seinem zeitlich-temporalen Charakter, den das Dasein "lediglich" erschließt. Das Dasein erschließt den Horizont, der das Anwesen von nicht-daseinsmäßigem Sein ermöglicht. Diesen Horizont nennt Heidegger den temporalen Horizont, dessen Temporalität von der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins streng zu unterscheiden ist (obgleich er natürlich nicht gänzlich bezugslos zu ihr ist). Die ekstatische Zeitlichkeit erwies sich also als der Sinn vom Sein des Daseins und der temporale Horizont als der Seinssinn, woraufhin innerweltliches Seiendes entworfen wird. "Der Sinn von Sein überhaupt, vom Sein im Ganzen, ist die ursprüngliche Zeit als Einheit von ekstatischer Zeitlichkeit und horizontaler Zeit. "497 Neben der Klärung der Fundamentalfrage nach dem Sinn von Sein überhaupt, also nach dessen Entwurfsbereich, sollte der dritte Abschnitt von Sein und Zeit auch vier weitere ontologische Grundfragen498 klären und die "Kehre" der Fundamentalontologie in die Metontologie vorbereiten. Die Metontologie hätte sich in Form einer Ausarbeitung der "metaphysischen Ontik" vollzogen, d.h., der regionalen Gliederung des Seienden im ganzen auf dem Grunde eines durch die Fundamentalontologie geklärten Sinnes von Sein über-

496 Von Herrmann Heideggers »Grundprobleme der Phänomenologie« Zur »Zweiten Hälfte« von ))Sein und Zeit«, Frankfurt: Vittorio Klostermann 1991, S. 38. 497 Von Herrmann Wege ins Ereignis, S. 16. 498 Diese Grundfragen bzw. Grundprobleme sind: "1. Das Problem der ontologischen Differenz (des Unterschieds von Sein und Seiendem). 2. Das Problem der Grundartikulation des Seins (essential existentia). 3. Das Problem der möglichen Modifikationen des Seins und der Einheit seiner Vielfältigkeit. 4. Der Wahrheitscharakter des Seins." (GA 24: S. 33).

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haupt. Dieser Bereich hätte unter anderem eine Ausarbeitung einer philosophischen Anthropologie im vollen Sinne zur Aufgabe, sowie auch einer philosophischen Besinnung auf die Ethik und die Politik. Der Bereich der Metontologie ist aber in unserem Zusammenhang nicht weiter zu erörtern. Wir sind nun bei dem wichtigen Punkt angelangt, die Frage nach dem Übergangscharakter von Sein und Zeit in bezug auf die Beiträge zu beantworten.

II. Klärung des Übergangscharakters der Zeit-und-Raum-Analyse von Sein und Zeit im Hinblick auf den Zeit-Raum der Beiträge Die Klärung der Frage nach dem Übergangscharakter von Sein und Zeit muß sich in zwei Schritten vollziehen. Erstens gilt es zu zeigen, wie sich Sein und Zeit vom traditionellen "Raum und Zeit"-Verständnis unterscheidet und inwiefern es diese Phänomene ursprünglicher interpretiert. Zweitens muß aufgezeigt werden, inwiefern Sein und Zeit trotz seiner ursprünglicheren Auslegung noch in gewisser Weise der traditionellen Blickrichtung verhaftet bleibt. Erst die Beantwortung dieser beiden Fragen wird verdeutlichen, inwiefern die Auslegung des Zeit-Raums in den Beiträgen noch über das in Sein und Zeit Gesagte hinausgeht bzw. wie im ereignisgeschichtlichen Denken der fundamental-ontologische Ansatz wesentlich gewandelt und vertieft wird. 1. In bezug auf den Grundgedanken, der die traditionelle Interpretation von Raum und Zeit trägt, fmden wir in den Beiträgen folgenden, gewichtigen Hinweis: "Nur wo ein Vorhandenes festgehalten wird und festgelegt wird, entspringt der an ihm vorbeifließende Fluß der ))Zeit« und der es umgebende ))Raum«."499 Das traditionelle Verständnis von Raum und Zeit wird also dadurch gewonnen, daß von einem Seienden ausgegangen wird und zeitliche sowie räumliche Bestimmungen an diesem festgestellt werden. Raum und Zeit erscheinen auf diese Weise als ein Horizont, innerhalb dessen Seiendes festgestellt werden kann. Ein Horizont zeigt sich immer von einem Blickpunkt aus, und in diesem Falle ist der Blickpunkt: das Seiende. Seiendes wird zwar als "innerhalb" von Raum und Zeit angesehen, jedoch wird im Grunde diese ganze Interpretation von Raum und Zeit am Seienden (als dessen Horizont) festgemacht. Was in der traditionellen Interpretation gänzlich unbeachtet bleibt, ist der Offenständigkeitsbereich, in den Seiendes überhaupt anwesen kann. Hieraus erhellt sich die Genese der soeben beschriebenen "Raum und Zeit"-Auffassung: 499

GA 65 : S. 382.

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Das prozeßhafte Anwesen in die Offenheit bringt zwar verschiedene "Anblicke" des Seienden zum Vorschein, jedoch bleiben das angeblickte Seiende und die von ihm aus eruierten Horizonte eine Wesensfolge des Seyns. Wenn diese Folge außerhalb des prozeßhaften Anwesens des Seyns gedacht wird und die Anblicke zu ideellen Wesenheiten erhoben werden, die außerhalb jeglicher Wandlung beständig sind, dann "erstarrt" oder "erfriert" das verbale Anwesen des Seyns. Nach Heidegger wurden diese Wesenheiten von Platon zum eigentlichen Seienden erklärt500 • In der traditionellen Interpretation wird also eine Wesensfolge zum eigentlichen Wesen erhoben, und das ursprüngliche Anwesen wird nunmehr als unwesentliche Begleiterscheinung der als eigentlich angesetzten Wesenheit gedacht. Das Seyn wird so zu einem paradigmatisch Seienden. Der Streit, der nun entfacht wird, was denn eigentlich das Seiende ist (in mittelalterlicher Formulierung: die "Universalien" oder die "Individuen"?), hat einen gemeinsamen Boden, nämlich die Voraussetzung, daß das "ist" selbst ein Seiendes ist (sei dies nun eine geistige oder eine materielle Entität). Daß das Konzept des "Seienden" ursprünglich aus dem "ist" entsprungen ist, ist hier bereits vergessen. Wenn der Streit zugunsten des einzelnen Seienden entschieden wird und nunmehr nur das Individuum eigentlich ist, dann können Raum und Zeit nur als Bestimmungen erscheinen, die das vorhandene Seiende in seinem Sein näher bestimmen. Schon bei Aristoteles bahnt sich so eine Interpretationsrichtung an: " ...bei Aristoteles, lTOÜ, lTOTE - Kategorien, Bestimmungen der Seiend.heit, oucr[a!" 501 Letztendlich können dann im Zuge der neuzeitlichen Mathematisierung Raum und Zeit als "Rahmenvorstellungen" (Parameter) fixiert werden. Da hier nur das ist, was berechnet werden kann, Raum und Zeit aber als Bedingungen für die Berechnung benötigt werden, "sind" Raum und Zeit nicht, sondern sie "bilden" den Rahmen für das Berechnete. Innerhalb dieses Ordnungsgefiiges wird nun alles, was ist, berechnet. Auch der Mensch wird somit unter die am vorhandenen Seienden gewonnenen Kategorien subsumiert.

Sein und Zeit interpretiert Raum und Zeit insofern ursprünglicher als die Metaphysik, als dort nicht mehr vom vorhandenen Seienden ausgegangen wird. Wie oben bereits expliziert, zeigt sich die Räumlichkeit des Zuhandenen (und damit auch des Vorhandenen) als in der Räumlichkeit des Daseins fundiert. 500 Ob Heidegger in allen Phasen seines Denkens diesen "Einsturz" des Seyns bei Platon ansetzt und ob nicht ein sokratisch gelesener P1aton mit dem Denken Heideggers dialogfähig ist, ist eine Frage, die in meiner Dissertation: "Das Ganze und der Grund im Denken von Sokrates, Platon, Heidegger und Meister Eckehart im Hinblick auf einen Dialog mit dem asiatischen Denken" (Wien 1995, unveröffentlicht) aufgeworfen wird. 501 GA 65 : S. 376.

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Auch die ursprüngliche Zeitlichkeit des Daseins ist nicht eine am innerweltlich Seienden gewonnene innerweltliche, "chronologische Zeit", unter die das Wesen des Menschen fallen würde. Vielmehr erweist sich die chronologische Zeit als nur möglich auf dem Boden der ursprünglich daseinsmäßigen Zeitlichkeit (und der horizontalen Temporalität, die sich im Dasein lichtet). Mit einem Wort: Sein und Zeit zeigt eine wesentlich intimere Verbindung des menschlichen Wesens mit den Raum-und-Zeit-Phänomenen auf als es die traditionellen Auffassungen nahelegen. Diese Interpretation geht auch über die von Kant geleistete Verbindung von Raum und Zeit mit dem menschlichen Wesen hinaus, da erstens der Mensch nicht als ein "Subjekt" interpretiert wird, dessen Anschauungsformen transzendental betrachtet nur "subjektive Geltung" haben, sondern phänomenologisch aufgezeigt wird, inwiefern eine Rede vom Subjekt dem menschlichen Phänomen nicht gerecht wird. Zweitens wird das Raumund-Zeit-Phänomen selbst ursprünglicher phänomenologisch, d.h. so, wie es sich von ihm selbst her zeigt, interpretiert, und nicht einfach traditionell der physikalisch-mathematische "dreidimensionale euklidische Raum" bzw. die "eindimensionale chronologische Zeit" der menschlichen Anschauung zugrunde gelegt. 2. Die traditionelle Interpretationsrichtung wird allerdings auch in Sein und Zeit noch beibehalten, da die Zeitlichkeit (auf welche ja auch die Räumlichkeit zurückgeführt wird) noch als "Horizont" des Seinsverständnisses interpretiert wird. Zwar wird in dieser Interpretation der Mensch nicht mehr einfach unter den am vorhandenen Seienden festgestellten "Raum- und Zeit-Horizont" (im Sinne eines Ordnungsgefüges) subsumiert, aber auch der als Zeitlichkeit interpretierte Horizont des Daseins bleibt in gewisser Weise vom Seienden her bestimmt; denn das Dasein wird immer als Ermöglichungsgrund für das Sichzeigen von zuhandenem Seienden aufgewiesen. Die ursprüngliche Zeit wird als Einheit der daseinsmäßigen ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit und der nichtdaseinsmäßigen schematisch-horizontalen Temporalität gefaßt; Seiendes wird innerhalb dieses Horizontes in seinem Sein vernehmbar. Das Dasein ist so in seiner Zeitlichkeit die Bedingung der Möglichkeit für das Erscheinen von Seiendem in seiner eigenen Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Der Blickpunkt, von dem her Raum und Zeit interpretiert werden, bleibt so gewissermaßen noch das Seiende, obwohl das Seiende viel ursprünglicher, d.h. nicht mehr im Sinne eines "bloß Vorhandenen", gefaßt wird und das Fundierungsverhältnis klar aufgewiesen wird. Aber die Rede von einer "Bedingung der Möglichkeit" des Seienden erblickt das Bedingende, d.h. die Zeitlichkeit, in die das Dasein entrückt ist, noch vom Blickpunkt des Bedingten aus, nämlich als dessen Bedingung. In dieser Blickbahn interpretiert, wird das Raum-undZeit-Phänomen noch nicht "an ihm selbst" bzw. in der diesen Phänomenen eigenen Herkunft deutlich. In einer späteren Schrift bemerkt Heidegger, daß der

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Horizont immer nur die "uns zugekehrte" Seite einer bzw. der Gegend ist. 502 Wie steht es um diese Gegend selbst, deren uns zugewandte Seite als Horizont erscheinen kann (nämlich dann, wenn die Blickrichtung vom in ihm erscheinenden Seienden ausgeht)? Auf diese entscheidende Frage, die in Sein und Zeit noch nicht gestellt wird, fmden wir die Antwort in den Beiträgen. Formal anzeigend kann dieser Übergang so gefaßt werden: Der Übergang von der transzendental-horizontalen Blickbahn in die seinsgeschichtliche Blickbahn des Ereignis-Denkens erfolgt aus der Einsicht, in der der Bezug von Sein und Dasein noch ursprünglicher erfahren und gefaßt wird, als dieses schon auf dem ersten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage geschehen war... Zu dieser phänomenologischen Erfahrung kommt es, wenn gesehen wird, daß der geworfene Entwurf von Sein als Anwesen in seiner temporalen Erschlossenheit ereigneter Entwurf ist aus dem ereignenden Zuwurf der Wahrheit des Seins.503

111. Der Zeit-Raum im Ereignis-Denken504

Gleich zu Anfang ist zu bemerken, daß die traditionellen Auslegungen von Raum und Zeit im Zuge des Ereignis-Denkens nicht völlig ignoriert werden. Vielmehr soll sich durch das Ereignis-Denken zeigen, in welchem Bereich die gängigen Raum- und Zeitauffassungen ihre Richtigkeit haben. Heidegger schreibt dies ausdrücklich: Die Auslegung von Raum und Zeit aus dem Zeit-Raum will nicht das bisherige Wissen von Raum und Zeit als »falsch« erweisen. Im Gegenteil, es wird erst in den freilich begrenzten Bezirk seiner Richtigkeit eingefügt und deutlich gemacht, daß Raum und Zeit so unerschöpflich sind im Wesen wie das Seyn selbst. 505

Gelassenheit. Pfullingen: Günther Neske, 10!992: S. 37. Von Herrmann Heideggers »Grundprobleme der Phänomenologie» Zur »Zweiten Hälfte« von ))Sein und Zeit«, S. 57. 504 Für eine weitere Auslegung dieser Thematik vgl. vor allem von Herrmanns Aufsatz "Wahrheit- Zeit- Raum". In: Die Frage nach der Wahrheit. Hrsg. Ewald Richter. Frankfurt: Klostermann, 1997, S. 243-256. Hier wird auch herausgearbeitet, daß die Wahrheitsfrage im fundamental-ontologischen Denken in den Horizont der Frage nach der Zeit gehört, während im ereignisgeschichtlichen Denken die Frage nach der Zeit in die Frage nach der Wahrheit gehört. 505 GA 65: S. 378. 502

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Raum und Zeit werden also im Ereignis-Denken auf ihre zugrundeliegende Wurzel hin durchdacht. Solange sie in bezug auf diese Wurzeln und aus diesen Wurzeln verstanden werden, bleibt ihre Bedeutung unangefochten. Es gilt jetzt, langsam ein Verständnis dafiir anzubahnen, wodurch sich die traditionellen (metaphysischen) "Raum und Zeit"-Interpretationen von dem "Zeit-Raum" des Ereignis-Denkens unterscheiden. Das Ereignis-Denken geht im Unterschied zu dem traditionellen nicht vom vorhandenen Seienden aus, und daher können Raum und Zeit dort auch keine horizontalen Bestimmungen des Seienden sein. Das Ereignis-Denken denkt im Unterschied zum fundamental-ontologischen Denken den "Zeit-Raum" nicht mehr als Horizont, den das Dasein konstituiert, sondern bedenkt, daß sich mit dem Dasein eine Offenheit ereignet, in die Sein anwesen kann. Das Ereignis ist jetzt der Quell ("Urgrund"), aus dem die Offenheit des Da-seins interpretiert wird. Ein vertieftes Verständnis dieses Sachverhalts gilt es nun zu erarbeiten. Dazu wenden wir uns dem 242. Abschnitt der Beiträge zu, den wir aber in diesem Rahmen allerdings nicht zur Gänze, sondern nur größtenteils interpretieren werden. Zeit und Raum stehen in einem zu klärenden Bezug zum "Ab-grund", dessen Wesen gleich am Anfang thematisiert werden soll (a.), und zwar im Hinblick auf das Ereignis bzw. das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen (b.). Die dem "Ab-grund" eigentümliche "Leere" (c.) und der sich hier zeigende Bezug zu Gott (d.) konstituieren zwei weitere Untersuchungspunkte. Nachdem diese Untersuchungen vollzogen worden sind, wird der "Ab-grund" dann im Hinblick auf das Phänomen von Zeit und Raum thematisiert (g.-h.).

a) Der Ab-grund: die zögernde Versagung des Grundes

Gleich im zweiten Absatz des 242. Abschnittes werden Raum und Zeit mit dem "Abgrund" in Verbindung gebracht: "Der Abgrund ist die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit, jene einigende Einheit, die sie erst in ihre Geschiednis auseinandergehen läßt. "s06 Raum und Zeit lassen sich also nicht von einander ableiten, sondern sind gleichursprünglich. Sie stehen in einem Bezug zu einander, weil sie beide in der gleichen Herkunft wurzeln. Diese Herkunft eint Raum und Zeit ursprünglich, indem sie gerade nicht die beiden Elemente einfach nivellierend gleichsetzt, sondern in ihr je eigenes Wesen entläßt, im Grunde aber nicht ins Bodenlose entgleiten läßt, sondern zusammenhält. Die Unterscheidung wird somit gerade am Boden der Einheit möglich. Diese Herkunft selber wird als "Ab-grund" bezeichnet. S06

GA 65:

s. 379.

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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Auf die Frage nach dem Wesen des Abgrunds, antwortet Heidegger: "Der Ab-grund ist das Weg-bleiben des Grundes."s07 Das bedeutet zum einen, daß der Abgrund nie so anwesend ist, wie ein beständig Vorhandenes, das jederzeit in seiner Präsenz auf gewisse Weise "unmittelbar einsichtig" ist. Der Ab-grund ist kein vorhandenes Gegenüber. Das "Ab" im Abgrund verweist auf diesen Zug des Nichtvorhandenseins. Aber die Wurzel von Raum und Zeit ist nicht nichts. Heidegger hat bereits gesagt, daß der Ab-grund als einigende Einheit waltet. Daher ist der Ab-grund ein Grund anderer Art. "Er ist das Sichverhüllende - Aufnehmen, weil ein Tragen, und dieses als Durchragen des Zugründenden. Grund: das Sichverbergen im tragenden Durchragen. nsos Der Ab-grund ist als das Sichentziehende dennoch der Tragende. Oder vielleicht besser: gerade weil er sich entzieht und nicht in Erscheinung tritt, wie das Zugründende, das er abgründig begründet, kann er das Gegründete tragen. Er durchragt alles Gegründete, weil er nie im Gegründeten aufgeht, sondern es vielmehr trägt, d.h. im Grunde einigt und hält und dadurch in die Möglichkeit des Austragens der jeweiligen einzigartigen Differenz des Gegründeten gewährt. Dieses Tragen geschieht zwar ständig, drängt sich aber nie als solches eigens auf und erschöpft sich nie in einem gegenwärtigen Moment. Das Tragen geschieht als sichentziehendes. Das abgründig Sichentziehende ist einerseits ein Wegbleiben, andererseits gerade durch dieses unaufdringliche Wegbleiben ein Eröffnen eines Anwesenheitsraumes für Anderes. Deutlich geht dies aus den folgenden Zeilen hervor: Ab-grund das Ausbleiben; als Grund im Sichverbergen, ein Sichverbergen in der Weise der Versagung des Grundes. Versagung aber ist nicht nichts, sondern eine ausgezeichnete ursprüngliche Art des Unerflillt-, des Leerlassens; somit eine ausgezeichnete Art der Eröffnung.s09

so7 GA 65: s. 379. SOS GA 65: S. 379. so9 GA 65: S. 379. In Heideggers Wortwahl "das Versagen" für die Benennung des im Entziehen sich öffnenden Geschehens ist also ein zwiefaches zur Sprache gebracht: I . Die Verweigerung des "Selber-in-die-Offenheit-Aufgehens" des Urverborgenen; 2. ein Hinweis darauf, daß diese Verweigerung zumal als ein Gewähren waltet. Der erste, sozusagen "rein negative" Sinn des Wortes stützt sich auf den auch in der gebräuchlichen Bedeutung bekannten Sinn dieses Wortes. Der zweite, sozusagen "rein positive" Sinn würde dem "Ver-" und dem "Sagen" einen ungebräuchlichen Sinn abringen. "Sagen" würde dann in seiner etymologischen Grundbedeutung als "aufweisendes Zeigen, Erscheinenlassen" verstanden sein; das "ver-" Präfix, wiederum, würde Heidegger hier (analog zu seiner späteren Kompositum-Bildung "ver-eignen" (vgl. z.B. Unterwegs zur Sprache, Pfullingen: Günther Neske, 91990: S. 260)) ebenfalls etymologisierend als ein Präfix verstehen, das auf ein "übergebendes, übertragendes, überlassendes Gesche-

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage... «

Die Leere, die das Ausbleiben eröffnet, ist keine öde, sondern eine brachliegende, d.h. fruchtbare. Heidegger betont auch in den folgenden Sätzen, daß der Ab-grund eine eigene Art des Grundes ist und nicht eine Art nihilistisches "gar nichts": "Allein, der Ab-grund ist als Wesung des Grundes kein bloßes Sichver-

hen" veJWeist (vgl. unten). Der zweite Sinn wäre somit: Ein gewährendes Überlassen des in einem lichtenden Erscheinenlassen Gestifteten, wobei der erste Sinn anzeigt, daß sich in diesem Gewähren das Gewährende selber (die Verborgenheit (Al)efl)) versagt, d.h. im Gewähren der Lichtung nicht selber innerhalb der Lichtung erscheint, nicht selber in ihr aufgeht. Das "Versagen" im Sinne der "VeJWeigerung" zeigt also zunächst nur den negativen Sinn, das "weg von", nämlich das Verbergungsgeschehen als "ErscheinungsveJWeigerung" an. In der Phänomenologie geht aber ein positiver Sinn, ein "hin zu", stets eng mit dem negativen Sinn einher. Der 2. Sinn des Wortes "Versagen" ergänzt den negativen Sinn ("weg vom selbst in der Lichtung erscheinen") durch einen Fingerzeig hin zum positiven Sinn ("aber gerade dadurch die Lichtung in ihrer Eigenständigkeit erscheinen lassen (=Lichtung gewähren)") Auch auf rein grammatischer Eben lassen sich Fingerzeige für den positiven Sinn dieses Wortes finden : "Das Versagen" ist ein substantivierter Infinitiv, dessen Verbalform sich in das Präfix "ver-", die Wurzel "sag-(< ig. •seqw-) und der Infinitiv-Endung "-en" zergliedern läßt. Es handelt sich bei "sagen" und "versagen" nicht etwa um zwei semantisch divergierende homophone Wurzeln, sondern "versagen" ist durch Präfigierung von ein und demselben "sagen" entstanden. Die Erstbelege für das Kompositum gibt es laut Kluge (Etymologisches Wörterbuch, Berlin: DeGruyter, 231995) ab dem neunten Jahrhundert (also schon sehr früh) in der Bedeutung von "veJWeigern, absagen". Belegstellen flir den hier angedeuteten zweiten, "positiven" Sinn des Wortes gibt es natürlich nicht; das ist aber kein prinzipielles Hindernis daflir, das Heidegger einen solchen aus diesem Wort heraushört, da er streng zwischen der Nennkraft eines Wortes (auf die es zu hören gilt) und der alltäglichen WortveJWendung unterscheidet (und das Präfix "ver-" hat in der Tat neben dem Sinn des "Gegenteilanzeigens" auch den (sogar älteren) Sinn des "über etwas hinaus, an eine andere Stelle", wobei es sich vermutlich auf ig. "*per-: hinübergehen" zurückfUhren läßt). Es ist also durchaus möglich, daß Menschen ein Wort alltäglich in einem gewissen Sinne veJWenden, ohne daß sie dabei die volle Nennkraft des Wortes auch nur erahnen. Bezüglich dieses Phänomens können folgende Gedanken aus Heideggers Gespräch über die Gelassenheit 'A YXLßaa{TJ (In: GA 77 (FeldwegGespräche Frankfurt: Viottorio Klostermann, 1995)) angeftlhrt werden: "Der Weise: Als ob der Bereich des gewöhnlichen Sprechens allein darüber befinden könnte, was ein Wort bedeutet. Als ob nicht das Wort selbst zuerst und von sich her die Deutung der von ihm genannten Sache zu veJWahren hätte.... Das Wort verfügtjeweils einen Sprachgebrauch, so zwar, daß dieser alsbald und im Sinne der ihn aufnehmenden gebräuchlichen Sprache dann seinerseits über das Wort verfügt und sich an dessen Fug und Recht nicht mehr kehrt." (S. 12); "Der Weise: Was das Wort vermag, wissen wir kaum. Aber wenn es uns das in ihm Bedeutete deuten soll, dann müssen wir wenigstens zuvor versuchen, auf dieses Deuten im Wort zu achten. Wir unterlassen dies jedoch, wenn wir vorschnell die Zuflucht zum Wörterbuch nehmen ..." (S. 13).

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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sagen als einfacher Rückzug und Weggang. Der Ab-grund ist Ab-grund."510 Durch die Kursivierung hebt Heidegger den zwiefachen Sinn im Wort Abgrund klar hervor: Er ist vom gewöhnlichen Verständnis von Grund (nämlich als ein beständig gegenwärtig Seiendes) her gesehen gerade das Ausbleiben dieses; aber dadurch wird eine eigene ursprüngliche Art der Gründung überhaupt erst möglich. Heidegger wiederholt ausdrücklich diesen Gedanken noch einmal gegen Ende des 242. Abschnitts: "Das Offene des Ab-grundes ist nicht grundlos. Abgrund ist nicht das Nein zu jedem Grund wie Grundlosigkeit, sondern das Ja zum Grund in seiner verborgenen Weite und Ferne."511 Der Abgrund eröffnet die Leere fiir das Wachsturn von Gegründetem. Die Leere, die durch den Ab-grund bestimmt ist als eine eröffnende, spricht Heidegger im folgenden Absatz an und erwähnt hier erstmals den Terminus "Zögerung", der von großer Wichtigkeit ist und noch näher ausgelegt werden wird: Im Sichversagen bringt der Grund in einer ausgezeichneten Weise in das Offene, nämlich in das erst Offene jener Leere, die somit eine bestinunte ist. Sofern der Grund auch und gerade im Abgrund noch gründet und doch nicht eigentlich gründet, steht er in der Zögerung.m

Die "Zögerung" sagt also von der zwiefachen Weise, in der das Wort Ab-grund verstanden werden muß: Der Ab-grund gründet und versagt sich nicht gänzlich und doch gründet er nie so wie Vorhandenes. Er versagt sich, aber zögert in diesem Versagen, d.h. entzieht sich nicht vollkommen, sondern auf eine Weise, die dennoch begründet, d.h. ins Offene bringt. Der Ab-grund verschlingt nicht alles Seiende chasmatisch, sondern er bringt alles allererst ins Offene. "Abgrund ist die zögernde Versagung des Grundes. "m Durch das Zögern im Versagen wird die "Lichtung fiir Gegründetes" eröffnet; aber diese Lichtung verweist zumal auf das Zögern als ein Sichversagendes, d.h. nie wie Gegründetes Erscheinendes. Die Lichtung ist einerseits die "Frucht" der "Zögerung" in der Versagung, andererseits auch der Hinweis auf den "Stamm" bzw. "Wurzel", die sich in der Zögerung und durch diese als verborgenbleibende (sich-versagende) bekundet: "In der Versagung öffnet sich die ursprüngliche Leere, geschieht die ursprüngliche Lichtung, aber die Lichtung zugleich, damit sich in ihr die Zögerung zeige. "514 Die Zögerung zeigt sich als ursprünglich eröffnende Leere aber auch als GA 65: S. 379. GA 65: S. 387. 512 GA 65: s. 379f. SI) GA 65: S. 380. 514 GA 65: S. 380.

510 511

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Zögerung einer Versagung, die sich niemals wie die eröffnete Leere zeigt. Diese Versagung nennt Heidegger auch die Verbergung: "Der Ab-grund ist die erstwesentliche lichtende Verbergung, die Wesung der Wahrheit." 313 Die Wahrheit ist hier nicht als starre Adäquation gefaßt, noch als die Offenbarkeil des Seienden, sondern als ein Geschehnis, das mit dem Ab-grund zusammengebracht wird: Die Wahrheit geschieht als die Eröffnung einer Lichtung aus dem Verborgenen, in der das Verborgene als Verborgenbleibendes erscheinen kann. Dieses Wahrheitsgeschehen ist das lichtende Verbergen, das im griechischen Wort ftir Wahrheit ciA.~8ELa angezeigt (obgleich noch nie ursprünglich genug durchdacht worden) ist.

b) Das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen, das Ereignis, der Urgrund und der Abgrund

Im nächsten Absatz bringt Heidegger das ursprüngliche Wahrheitsverständnis mit dem Ereignis-Gedanken zusammen. Bevor wir uns der Einzelanalyse der Sätze widmen, ist es angebracht, den ganzen Text dieses Absatzes zu zitieren: Da aber die Wahrheit die lichtende Verbergung des Seyns ist, ist sie als Ab-grund zuvor Grund, der nur gründet als das tragende Durchragenlassen des Ereignisses. Denn die zögernde Versagung ist der Wink, in dem das Da-sein, eben das Beständnis der lichtenden Verbergung, erwunken wird, und das ist die Schwingung der Kehre zwischen Zurufund Zugehörigkeit, die Er-eignung, das Seyn se\bst.m

Im letzten Satz wird das Seyn selbst als die Er-eignung erläutert, d.h. als das Zusammengehören von ereignendem Zuwurf (Zuruf) und ereignetem Entwurf (Zugehörigkeit). Der Bezug wird als Kehre gefaßt, die "schwingt", weil Zuwurf und Entwurf in einem wechselseitigen und nicht etwa einseitigen Verhältnis zueinander stehen. Der Entwurf empfangt sein Sein aus dem Zuwurf und der Zuwurf wird im Entwurf geborgen. Das Dasein ist dasjenige Wesen, das einzigartig der lichtenden Verbergung "Bestand" geben kann, indem es dieses Geschehen als solches im Wort aufscheinen läßt und so ins Seiende birgt. Dieses Da-sein ist ein "Wink" der zögernden Versagung; das heißt erstens, daß das Dasein nicht identisch ist mit der zögernden Versagung, sondern als ereigneter Entwurf sein Sein aus diesem Geschehen empfangt. Zweitens heißt es, daß durch das Da-sein aber ein Hinweis, ein "Wink" auf dieses Geschehen des zuwerfenden Ereignens gegeben ist. Das Dasein selber ist Hinweis auf das Ereig-

515 516

GA 65: S. 380. GA 65: S. 380.

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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nis. Die Wahrheit kann nur im Ereignis gedacht werden, d.h., dadurch daß das Geschehen des lichtenden Verhergens (Zuwurf) im Gegründeten (vom Entwurf) gewahrt wird, gründet der Ab-grund. Der Grund kann nicht gründen ohne zu Begründendes. Das Seyn selbst als das Ereignis verweist in seiner wechselschwingenden Struktur sowohl auf das Gründende als auch auf das Gegründete (und Entwerfend-Mitgründende). Diesen Gedanken faßt Heidegger in dem folgenden, kursiv hervorgehobenen Satz noch einmal zusammen: "Die Wahrheit gründet als Wahrheit des Ereignisses."511 Das sichlichtende Verbergen ist nur innerhalb der Ereignisstruktur verständlich. Der "Urgrund" des abgründigen Wahrheitsgeschehens ist demnach das Ereignis: "Dieses [das Ereignis] ist daher von der Wahrheit als Grund her begriffen: der Ur-grund. "518 Die folgende kurze Erläuterungen dieses Satzes, die Heidegger gibt, ist von immenser Bedeutung. Der Ur-grund selber als der kehrige Schwingungsbereich zwischen ereignendem Zuwurf und ereignelern Entwurf birgt in sich ebenfalls das Moment des Sichverbergens. Das Ereignis wirft sich dem Dasein auf eine Weise zu, so daß in diesem Zuwurf ein Entzug, ein An-sich-halten waltet. Nur weil der Zuwurf ein sichverbergender ist, kann das Zugeworfene wahrhaft über-eignet, d.h. zu eigen gegeben werden. Das Zu-eigen-Gegebene ist der erste und einzige Hinweis auf das sich entziehende Zu-eigen-Gebende. Der Ab-grund als der Lichtungsbereich der zögernden Versagung ist selber eine Gewähmis des Ereignisses. Der Ab-grund ist der einzigartige Hinweis auf den Urgrund, auf das Ereignis, das als verborgenbleibendes sich im Ab-grund öffnet. Ausdrücklich sagt Heidegger: "Der Ur-grund öffnet sich als Sichverbergendes nur im Ab-grund. "519 Mit dem nächsten Satz spricht Heidegger eine Möglichkeit der Verstellung des Abgrundes (und damit des "Ur-grundes") an: "Der Abgrund jedoch wird völlig verstellt durch den Ungrund... "520 Den Ungrund hat Heidegger bereits einige Male zuvor in den Beiträgen charakterisiert. Im 11. Abschnitt wird der Ungrund mit der Seinsvergessenheit in Zusammenhang gebracht. 521 Im 188. Abschnitt wird er in einem Diagramm durch die beiden Worte "Verstellung" und "Verwesung" charakterisiert. 522 Zusammengefaßt wird dies im 226. Abschnitt: "Jetzt erst auch wird der Ursprung der Irre deutlicher und die Macht und Möglichkeit der Seinsverlassenheit, die Verbergung und die Ver-stellung;

GA 65: S. 380. GA 65: S. 380. 519 GA 65: S. 380. 520 GA 65: S. 380. 52 1 Vgl. GA 65: S. 31. 522 Vgl. GA 65: S. 308. 517

518

15 Helling

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die Herrschaft des Ungrundes. "m Der Ungrund ermangelt einer ursprünglichen Bergung des Wahrheitsgeschehens in das Seiende, so daß in ihm dieses nicht aus seiner Wahrheit her vernommen werden kann. Wenn als Letztbegründungsinstanz das Seiende genommen wird, dann ist der Ab-grund und dadurch a fortiori der Urgrund verstellt. Das Seiende ist gewissermaßen das Letztgegründete und ihm eignet eine eigene Würde; auch es kann in gewisser Weise begründen. Aber dieses Begründungsvermögen ist eine Gewährnis, die es aus dem gründenden Ab-grund und Urgrund empflingt. Wenn dieses Geschehnis mißachtet wird, dann herrscht der Un-grund und die ihm eigene Irre, die sich an das Seiende verliert und dadurch die eigentliche Wesenswürde des Seienden verkennt. Im nächsten Satz bringt Heidegger noch einmal den Ur-grund mit dem "Seyn selbst" zusammen, dessen Wesen bzw. "Wesung" (wie Heidegger öfters sagt, um einem essentialen Wesensverständnis vorzubeugen), aus dem wechselschwingenden Bereich von Zuwurf und Entwurf verstanden werden muß (dem ein eigener "Urverborgenheitsbereich" eigen ist): "Der Ur-grund, der gründende, ist das Seyn, aber je wesend in seiner Wahrheit. "S24 Insofern der Urgrund gründet, d.h. im Abgrund sich öffnet, west er als der wechselschwingende Bereich des Seyns an, der aber niemals "überhaupt" anwest, sondern jeweils nur in seiner geschichtlich-epochalen "Konkretion." Wie wir in bezugauf den Un-grund bemerkten, beruht die Ursprünglichkeit des Wesens des Grundes auf der Art und Weise, wie das Seiende aus seiner Wahrheit erfahren wird. Je tiefer das Seiende in seiner Herkunft gewahrt wird, desto eigentlicher kann sein Grund als gründender im Offenen anwesen und so gewissermaßen auch "sein". "Je gründlicher der Grund (das Wesen der Wahrheit) ergründet wird, um so wesentlicher west das Seyn."'2' Das Seyn steht immer in einem gewissen Bezug zum Seienden, aber dieser Bezug kann so verstellt werden, daß er als "Schall und Rauch" von den Menschen mißachtet werden kann. Dadurch geht das Seyn seiner wesentlichsten Bergungsmöglichkeiten, in denen es in seinem geschehnishaft-freigebenden Wesen im Seienden durch das Dasein zum Erscheinen gebracht werden kann, verlustig. Eine Gewahrung dieses Grundes, die solcher Bergung vorangehen muß, wird nur möglich durch den "Sprung", der vom Festhalten am Seienden abläßt und sich in den "nicht-seiendmäßigen" Bezug zu dessen Wahrheit einläßt: "Die Ergrundung des Grundes muß aber den Sprung in den Ab-grund wagen und den Ab-

GA 65: S. 351. GA 65: S. 380. 525 GA 65: S. 380.

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§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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grund selbst ermessen und bestehen."526 Der Sprung bleibt ein Wagnis, weil sich hier keine "Ergebnisse" vorausberechnen lassen. Die "Ermessung" des Abgrundes kann also folglich keine "metrische" sein, sondern vielmehr eine wesensmäßige Öffnung fi1r seine unauslotbare Weite. Der Mensch darf sich in ihr aber nicht verlieren, sondern muß sie "bestehen", d.h. er muß aus dieser Erfahrung seine Verantwortung fiir konkreteste Situationen schöpfen., d.h. aus ihr zum eigenen Stand kommen.

c) Die Ab-gründigkeit des Ab-grundes. Erste Wesensbestimmung der Leere

Nachdem der Ab-grund aus seinem Bezug zum Urgrund gedacht wurde, knüpft Heidegger mit dem nächsten Satz wieder an den Gedanken der aus und mit dem Ab-grund gestifteten "Leere" an: "Der Ab-grund als Weg-bleiben des Grundes in dem genannten Sinn ist die erste Lichtung des Offenen als der »Leere«. "527 Das erste Moment der Lichtung, ihr Eröffnungsmoment also, besteht im Wegbleiben des Grundes; nur dadurch, daß der Grund Ab-grund ist, kann sich überhaupt diese Art von Lichtung ereignen. Das Wesen dieser Lichtung wird als eine Offenheit charakterisiert, die als Leere waltet. Heidegger macht den Charakter dieser Leere noch einmal kurz fragwürdig: "Aber welche Leere ist hier gemeint?" 528 In der Antwort wiederholt er noch einmal, daß es sich hierbei nicht um einen Mangel handelt, sondern daß sich in ihr zeiträumlich die "Frucht" des zögernden Sichversagens bekundet: "Nicht jenes Unbesetzte der Ordnungsformen und Rahmen fi1r das berechenbare Vorhandene von Raum und Zeit, nicht die Abwesenheit von Vorhandenem innerhalb dieser, sondern die zeit-räumliche Leere, die ursprüngliche Aufklaffung im zögernden Sichversagen. "529 Die Leere ist nicht etwas "Unbesetztes", weil dies eine Art immer schon vorhandenseienden "Behälter" voraussetzt, dem seine Erfiillung dann und wann mangelhaft wäre. Dagegen erweist sich die ursprüngliche Leere als die Eröffnung des Möglichkeitsraumes für Vorhandenes überhaupt. Eine Konstatierung von "unbesetzten Leerstellen" ist nur möglich auf dem Boden eines zuvor gewährten Offenheitsbereiches. In der nächsten Frage thematisiert Heidegger das Faktum, daß das Sichversagen irgendwie auf ein Suchen, dem es sich versagen

GA 65: GA 65: 528 GA 65: 529 GA 65: 526 527

15*

S. 380. S. 380. S. 380. S. 380f.

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kann, angewiesen bleibt: "Doch muß dieses [zögernde Versagen] nicht auf einen Anspruch, ein Suchen, ein Hinwollen stoßen, damit es ein Sichversagen sein könne?" 530 Braucht das Sichversagen, um als Sichversagen sein zu können, nicht Wesen, die es als solches erfahren? Heidegger antwortet: "Gewiß, aber beide wesen je als Ereignis, und jetzt gilt es nur, das Wesen der Leere selbst zu bestimmen, das will sagen: die Ab-gründigkeit des Abgrundes zu denken; wie der Ab-grund gründet."m Das Sichversagen kann also eigentlich niemals außerhalb des Bezuges zu demjenigen, dem es sich versagt, gedacht werden. Wir lasen bereits, daß der Abgrund immer nur aus dem Ereignis zu denken sei, dessen Struktur ja gerade den kehrigen Bereich aufweist, der sowohl den Zuwurf als auch den Entwurf umfaßt. Heidegger wiederholt diesen Gedanken hier: "Eigentlich ist das nur immer zu denken aus dem Ur-grund, dem Ereignis, und im Vollzug des Einsprungs in seine schwingende Kehre." 532 Wenn Heidegger also nach der Abgründigkeit des Abgrundes fragt, ohne dabei auf das suchende Wesen einzugehen, dem es als Ab-grund erscheint, dann will er damit nicht leugnen, daß dieses notwendig zum vollen Geschehen des Waltens des Ab-grundes dazugehört, sondern er will diesen Bezug zunächst thematisch ein wenig abblenden, um die wesensmäßige Leere des Ab-grundes tiefer zu ergründen; letztendlich wird damit natürlich aber auch diejenige Auslegung vorbereitet, die erhellt, wie der Ab-grund als Ab-grund das Menschenwesen angeht. Das erste Problem, das sich bei der Erläuterung des Wesens der Abgründigkeit in den Weg zu stellen scheint, ist ein undurchdachter Sinn von "Wegbleiben". Steht dieser nicht in einem glatten Widerspruch zum Sichzeigen der Wahrheit im Abgrund? "Der Ab-grund als Wegbleiben des Grundes soll doch die Wesung der Wahrheit (der lichtenden Verbergung) sein. Weg-bleiben des Grundes, ist das nicht Abwesenheit der Wahrheit? Aber das zögernde Sichversagen ist doch gerade Lichtung für die Verbergung, somit Anwesung der Wahrheit." 533 Wenn Wahrheit das Anwesen der Lichtung für die Verbergung besagt und diese Wahrheit ab-gründig als das zögernde Sichversagen des Grundes gefaßt wird, welches eine Art des Weg-bleibens ist, dann scheint die Wahrheit einerseits anzuwesen, andererseits aber gerade abzuwesen. Dieses scheinbare Paradox löst Heidegger wie folgt auf: "Gewiß, »Anwesung«, jedoch nicht in der Weise, wie Vorhandenes anwest, sondern Wesung dessen, was erst

GA 65: s. 381. GA 65: s. 381. 532 GA 65: S. 381. m GA 65: S. 381.

SlO Sll

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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An- und Abwesenheit von Seiendem begründet, und nicht nur dieses. "534 Die Wahrheit west in der Tat an. Aber ihre Anwesenheitsweise ist vom Seienden her betrachtet gerade ein Abwesen, denn sie zeigt sich nie wie Vorhandenes. Dies ist jedoch kein Mangel, sondern Auszeichnung ihres Wesens, da sie auf diese Weise Seiendes allererst sich zeigen lassen kann und es begründet. Ferner eröffnet sie den Offenständigkeitsbereich für den gesamten Bewandtniszusammenhang, in dem Seiendes erscheint (Welt), und den Bereich, auf den dieser fest gegründet werden kann (Erde). Das Weg-bleiben ist kein absolutes, sondern es ist eine eigene Art des Gründeus, die vom Seienden her nachträglich nicht mehr gefaßt werden kann. "»Weg-bleiben« als Sichversagen (zögerndes) des Grundes ist Wesung des Grundes als Ab-grund. Der Grund braucht den Ab-grund. "535 Der Ab-grund ist diejenige Wesungsweise des Grundes, in der überhaupt der Offenständigkeitsbereich fiir Gegründetes eröffnet wird. Jegliches Grundhafte seiender Art kann nur innerhalb dieses Bereiches Grund sein. Jeglicher Grund braucht den Abgrund. Dieser Offenständigkeitsbereich, der sich im Abgrund lichtet, wird nun von Heidegger näher erläutert: "Und das Lichten, das im Sichversagen geschieht, ist kein bloßes Aufklaffen und Aufgähnen (xcioS' - gegen tmS'), sondern das stimmende Erfiigen der wesentlichen Ver-rückungen eben dieses Gelichteten, das jenes Sichverbergen in es hereinstehen läßt. "536 Die Leere des Offenständigkeitsbereiches ist kein "verschwebendes Klaffen", sondern eröffnet bzw. erfiigt ein bestimmtes Gelichtetes, das dadurch charakterisiert wird, daß es durch wesentliche Ver-rückungen konstituiert ist und als Gelichtetes offen ist fiir das Hereinstehen des Sichverbergenden. Die Ver-rückungen werden sich ein wenig später als die zeitlichen Ekstasen erweisen, die den Offenständigkeitsbereich des Daseins ausmachen und die das Dasein dafür öffnen, in einem einzigartigen Bezug zum Sichversagen zu stehen, da dieses sich als solches in ihm zeigen kann. Weiters wird gesagt, daß diese Erfiigung durchstimmt ist, was auf die Befindlichkeit des Daseins hinweist, in der es sich als geöffnet fiir das Seiende im ganzen erfahren kann. Deutlicher wird dieser Bezug des Offenständigkeitsbereiches zum Dasein im nächsten Absatz. Dieser besteht aus einem Satz und lautet: "Und dies deshalb, weil die Wahrheit als lichtende Verbergung Wahrheit des Seyns als des Ereignisses, der herüber und hinüber schwingenden Ereignung, die in der Wahrheit (der Wesung des Da) sich gründend in ihr und nur in ihr sich auch die Lichtung

GA 65: S. 381. GA 65 : S. 381. 536 GA 65: S. 381.

534 535

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gewinnt fiir ihr Sichverbergen."537 Wie mehrfach betont muß die Wahrheit als das Ereignis gedacht werden, das immer auch schon den Bezug zum Dasein mitnennt Die Wahrheit gründet sich im Dasein, indem sie in ihm eine Offenheit eröffnet, deren Lichtung das Anwesen als Anwesen vernehmen kann und zumalsich dessen inne werden kann, daß die ureigene Lichtung über-eignet ist, d.h., daß sie gewährt ist aus einem Grund, der sich nicht zeigt, der sich versagt, sich verbirgt, aber in der Gegebenheit der Lichtung sich als verborgener bekundet (in dieser gewissermaßen einen "Wink" gibt}. Die Wesung der Wahrheit wurde als eine gründende Art des Wegseins bestimmt, die auf nicht-seiende Weise dennoch anwesend ist als die Eröffnung von allem. Weiters zeigte sich, daß die Wahrheit niemals ohne Bezug zum Eröffneten verstanden werden kann. "Das Ereignis stimmt und durchstimmt die Wesung der Wahrheit." 538 Die Wahrheit als das Sichzeigen der Lichtung fiir die Verbergung bedarf wesenhaft des "ereigneten Entwurfs", der den "ereignenden Zuwurf" gewahrt und auf den verborgenen Zug in ihm achten kann. Die Offenheit der Wahrheit im Sinne der eröffnenden Leere erweist sich so nicht als ein "starrer Mangel", sondern als ein "lebendiges" Geschehen. "Die Offenheit des Lichtens der Verbergung ist daher ursprünglich keine bloße Leere des Unbesetztseins, sondern die gestimmt stimmende Leere des Ab-grundes, der gemäß dem stimmenden Wink des Ereignisses ein gestimmter und d.h. hier gefügter ist. "539 Die Leere ist kein "Unbesetztsein", weil sie alles Setzen erst abgründig ermöglicht; der Abgrund ist gestimmt-stimmend, weil er "gemäß" dem Ereignis einen ausgezeichneten Bezug zum Da-sein hat, welches er einerseits Stimmungshaft eröffnet (fügt) und in dessen Stimmungen er andererseits als solcher (Fügender) erscheinen kann und durch den er wiederum auf gewisse Weise selber gefügt wird (indem das Dasein als der ereignete Entwurf alles im Abgrund Einbehaltene in endlicher Freiheit gliedernd entwirft). In den folgenden fünf Absätzen widmet sich Heidegger noch einmal einer ausführlicheren W esensbestimmung dieser "Leere".

a) Ausführlichere Wesensbestimmungen der Leere Es muß auch im Sinne der wechselschwingenden Ereignisstruktur betont werden, daß die Leere zwar in einem ausgezeichneten Bezug zum Dasein steht, aber niemals auf dieses reduziert werden kann: "Die »Leere« ist auch nicht die GA 65: s. 381. GA 65: S. 381. 539 GA 65: s. 381. 537

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bloße Unbefriedigung einer Erwartung und eines Wünschens. "540 Die ursprüngliche Leere kann also nicht im Sinne eines Mangels verstanden werden, der aus unerfiillten menschlichen Projektionen stammt. Diese Leere ist weder unerfiillter geometrischer Raum noch ist sie unerfiillte menschliche Erwartung. "Sie ist nur als Da-sein, d.h. als die Verhaltenheit ... , das Ansichhalten vor der zögernden Versagung, wodurch der Zeit-Raum als die Augenblicksstätte der Entscheidung sich gründet." 541 Ein Verständnis davon, daß die Leere nur im Dasein ist, bedarf also eines achtsamen Gebrauches des Wortes "ist". Dieses "ist" bedeutet niemals: Sie ist eine Eigenschaft des vorhandenen Menschenwesens. Dieses "ist" sagt vielmehr: Die Leere braucht das Menschenwesen, das in einer Grundstimmung der Verhaltenheit vermag, diese ursprünglich sein, d.h., anwesen zu lassen. Die Leere ist nicht Resultat einer willkürlichen Setzung des Menschen, sondern sie kann vom Menschen in entsprechend gesammelter Grundhaltung ein- und zugelassen werden. Die Verhaltenheit zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß sie "an sich hält" 542, d.h. die zögernde Versagung nicht mit Wünschen oder Theorien überfallt, sondern sich für diese öffnet und aus dieser Öffnung den Zeit-Raum ursprünglich da sein läßt. In solcher Grundhaltung kann sich der Zeit-Raum eigentlich gründen. Der Mensch ist mit der Freiheit gewürdigt, sich von diesem abwenden bzw. sich diesem eigens zuwenden und ihn in sich gründen lassen zu können. Im Falle einer Abwendung ist es eher so, daß der Mensch sich vom Zeit-Raum abwendet als daß der Zeit-Raum sich vom Menschen abwenden würde. Das Zulassen des Zeit-Raums bringt den Menschen allererst in die "Augenblicksstätte", wo wesentliche Entscheidungen fallen können, d.h. wo nicht nur Entscheidungen über Seiendes fallen, sondern über die Anwesenheitsweise, d.h. das Sein des Seienden. Daher weist die Leere auf die Wahrheit des Seins, aus der das Seiende in seinem Sein neu erfahren werden kann. Die Leere bringt den Raum des "Nochunentschiedenen" mit, d.h. sie eröffnet die Möglichkeit, daß das Sein des Seienden anders erfahren werden kann als im gegenwärtigen Zustand. "Die »Leere« ist ebenso und eigentlich die Fülle des Noch-unentschiedenen, zu Entscheidenden, das Ab-gründige, auf den Grund, die Wahrheit des Seins, Weisende. "543 Dadurch, daß die Leere nicht zu einem festgelegten Seienden wird, birgt sie die Fülle alles noch Seiend-sein-Könnenden in sich. Ohne diese Leere würde es keine Entscheidungen mehr geben. Indem sie Offenheit mit sich GA 65: S. 382. GA 65: S. 382. 542 Durch das Ansichhalten geschieht der Einsprung bzw. Vorsprung in den wechselschwingenden Bereich des Ereignisses: "Verhaltenheit: der an sich haltende Vorsprung in die Kehre des Ereignisses... " (GA 65: S. 36). 543 GA 65 : S. 382. 540 541

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bringt, verweist sie auf das Walten des Ab-grundes, der eröffnet, ohne wie Vorhandenes anwesend zu sein und dabei doch nicht einfach "nichts" ist, sondern eben abgründig gründender Grund, der Entscheidungsraum begründet, wenn auch nicht "festlegt". Die Leere steht auch in einem gewissen Zusammenhang mit der Seinsverlassenheit Weil sich die Leere in ihrem eröffnenden Erscheinen dennoch niemals so aufdrängt wie Seiendes, ist es möglich, daß die Leere als der allesermöglichende Hintergrund nicht eigens im Seienden als solcher durchscheint (bzw. hervorscheint). Sobald jedoch die Leere als Leere erfahren wird, ist die Not der Seinsverlassenheit erfiillt, d.h. zeigt sich die Seinsverlassenheit als extreme Weise, wie freigiebig die Leere waltet, d.h. wie sehr sie sich zugunsten des Seienden zurückziehen kann (nämlich so sehr, daß sie selber dabei gänzlich in Vergessenheit gerät): "Die »Leere« ist die erfiillte Not der Seinsverlassenheit, aber diese schon in das Offene gerückt und somit auf die Einzigkeit des Seyns und dessen Unerschöpflichkeit bezogen. "544 Wenn die Leere als Leere "ins Offene rückt", d.h. als solche erfahren wird, dann zeigt sie sich als der Anwesungsbereich fiir das Sein, das in ihr immer neu anwesen kann und sich so nie in der faktischen V orhandenheit der Dinge erschöpft. Es ist auf diese Weise unausschöpfbar und zugleich einzig, da durch die Wesung des Seins erst Vergleichbares ins Sein treten kann. Das Seyn selbst in seiner Wahrheit ist unvergleichlich, einzigartig, weil alles erst eröffnend. Im folgenden Absatz geht Heidegger weiters auf die Art der "Not" ein, die mit der "Leere" einhergeht. Diese Not resultiert nicht aus einer Bedürftigkeit: "Die »Leere« nicht als das Mitgegebene einer Bedürftigkeit, deren Not, ... "545 Wie wir schon wiederholt betonten, setzt solche Art von Leere bereits Eröffnetes voraus, dem etwas ermangeln bzw. das etwas bedürfen kann. Die Leere als Not nötigt vielmehr zur Verhaltenheit, d.h. der Grundstimmung in der sich das Dasein als zugehörig zu ihr erfährt. Diese "Not" kann natürlich gerade kein "aufdringliches Zwingen" sein, sondern eher ein winkend-einladender Zuruf, der aber nur im still-offenen Verhalten-sein hörbar wird: "...vielmehr die Not der Verhaltenheit, die in sich aufbrechender Entwurf ist, die Grundstimmung der ursprünglichsten Zugehörigkeit." 5~ Aus diesem Zitat wird erneut sehr deutlich, daß die Zugehörigkeit gerade keine passive Abhängigkeit ist, sondern der Grund fiir den "aufbrechenden Entwurf', d.h. der Grund fiir eigenständiges, gliederndes Verstehen, das Seiendes auf sein Sein hin auszulegen und sich zu diesem auf verschiedenste Weise zu verhalten vermag.

GA 65: S. 382. GA 65: S. 382. 546 GA 65 : S. 382.

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Nach all diesen Charakterisierungen der durch den Ab-grund eröffneten "Leere", kommt Heidegger zuletzt auf die Unzulänglichkeit dieses Wortes zu sprechen: "Die Benennung als »Leere« für das, was sich in der Er-eignung der Verhaltenheit zur zögernden Versagung öffnet, ist daher nicht angemessen und immer noch zu sehr aus der schwer überwindbaren Ausrichtung am Dingraum und der Vorgangszeit bestimmt. "547 Das Faktum, daß Heidegger während seiner Auslegung der Leere so häufig möglichen Mißverständnissen dieses Wortes vorzubeugen hatte, weist darauf hin, daß es zu sehr in den dinghaften Bereich (als eine Art des Mangels) verweist. In dem Wort "Leere" spricht die eröffnende Erfüllung für alles Dinghafte zu wenig bzw. wird sie durch die geläufigen Assoziationen von unerfüllten Bedürfnissen, Erwartungen, Wünschen usw... überschattet. Durch die Orientierung am metrischen Raum und der chronologischen Zeit, innerhalb derer die "unerfüllte Leere" gedacht wird, kann der Mensch seine ursprüngliche Zugehörigkeit zum Ereignis nicht erfahren, weil der Mensch sich solchen Raum und solche Zeit gewissermaßen "gegenüberstellt" und dadurch lediglich zu einem in diesen vorkommenden Moment wird. Die ursprüngliche Eröffnung für sämtliche Metrik und Chronologie (die durch das Dasein wesentlich rnitgeschieht, indem ihm die frei-entwerfende Zugehörigkeit zur Leere vom bzw. im Ereignis übereignet wird), muß unter solchen Umständen unbeachtet bleiben, weil sie sich hier nicht zeigen kann; innerhalb der Eröffnung bzw. einer bestimmten begrenzten Auslegung dieser "kommt" sie nicht noch einmal "vor".

d) Der Bezug zum Gott

Im unmittelbaren Anschluß an die Durehrlenkung der "Leere" fmdet sich ein äußerst wichtiger Hinweis auf den Bezug des über den Zeit-Raum Gesagten zur Gottesthematik Der erste Satz dieses Absatzes lautet: "Das Sichöffnende für die Verbergung ist ursprünglich die Feme der Unentscheidbarkeit darüber, ob der Gott von uns weg oder auf uns zu sich bewegt. "548 Das "Sichöffnende für die Verbergung" ist die ab-gründig eröffnete Leere, der das Dasein zugehörig ist als dasjenige Wesen, das diese Leere eigens gewahren und ins Seiende einbringen kann, d.h. in seinem Entwerfen das Sein des Seienden aus dieser Leere (der ursprünglichen Wahrheit) her verstehen undanwesenlassen kann. Weiters sahen wir, daß der Ab-grund vom Urgrund, dem Ereignis, durchwaltet ist, das sich zwar öffnet, aber immer auch als ein Verborgenbleibendes. Daher ist das Sichöffnen immer zumal auf ein Verborgenbleibendes bezogen, das zwar als

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solches (d.h. Verborgenes) erscheinen kann, aber niemals dadurch in seinem "Wesen" gänzlich "ans Licht gebracht ist". Das Erscheinen des Verborgenbleibenden im Ereignis als Verborgenbleibendes ist der einzige Hinweis darauf, daß die im Dasein geschehende Offenheit sich einem verborgenen Geschehen verdankt, aus dem diese allererst freigegeben wird. Wenn die Offenheit als Offenheit fiir die Verbergung zugelassen wird, d.h. wenn die Offenheit sich nicht an Eröffnetes verliert, sondern das Offene als Eröffnung von einem Verborgenbleibenden erfährt und somit die Öffnung als Öffnung fiir das Erscheinen des Verborgenen als Verborgenen offen hält, dann, so erfahren wir aus dem oben zitierten Satz, ist ursprünglich ein Augenblick gegeben, der fiir das Erscheinen des Gottes von höchster Bedeutsarnkeit ist. Dieser Augenblick wird als "die Feme der Unentscheidbarkeit" charakterisiert. "Fern" darf hier natürlich nicht im Sinne eines großen metrischen Abstandes verstanden werden oder im Sinne einer großen chronologischen Zeitspanne. Vielmehr sind alle Abstände solcher Art noch relativ "nahe", da sie sich zumindestens noch "auf gleicher Ebene" bewegen. Die Feme, die in dem "Sichöffnenden fiir die Verbergung" aufblitzt, ist vielmehr eine solche, die niemals wie ein Eröffnetes nahe gebracht werden kann. Sie war in der unermesslichen chronologischen Zeitspanne niemals vorhanden gegenwärtig und ist in dem unermesslichen metrischen Raum an keinem Ort vorzufmden wie etwas Seiendes. Das Verborgene, fiir das sich das Sichöffnende geöffnet hat, bleibt von hier betrachtet in un-endlicher Feme; aber dennoch steht es in einem Bezug zum Offenen, da dieses von dem Fernbleibenden eröffnet wurde und gerade durch das Fernbleiben in ureigenster Eigenständigkeit sein darf. Obwohl dieser Eigenständigkeit ihr endlicher Freiraum gewährt ist und bleibt, kann aber in diesem Raum nicht darober entschieden werden, "ob der Gott von uns weg oder auf uns zu sich bewegt. "549 Die Dimension des Göttlichen ist also eng mit dem Fernbleibenden verbunden und entzieht sich so gleichermaßen menschlichem V erfiigen. Jedoch steht der Mensch zu diesem unverfiigbaren Ereignis des Erscheinens oder Wegbleibens des Gottes in einem Bezug, nämlich dem Bezug des Nennens: "Das will sagen: in dieser Feme und ihrem Unentscheidbaren zeigt sich die Verbergung von Jenem, was wir dieser Eröffnung zufolge den Gott nennen."550 Das wesenhaft Verborgenbleibende, das sich in urgründiger Feme verbirgt und unverfiigbar bzw. "unentscheidbar" bleibt, steht durch das Sichöffnen dennoch in einem Bezug zum Eröffneten. Durch diesen einzigen Bezug, durch den es in fernster Weise "zugänglich" wird, kann das Verborgene genannt wer-

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550 GA 65: S. 382.

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den. Es wird durch solches Nennen nicht in seinem Wesen "gelüftet", aber es wird als das Verborgene, welches Lichtung, Offenheit eröffnet und der Verbergungzugehörig sein läßt, in gewisser Weise vernehmbar gemacht. Solche Vernehmbarkeit ist niemals im Sinne einer kategorial-begrifflichen Bestimmung faßbar, sondern eher einer dankend-andenkenden Würdigung zugänglich. In die Eröffnung dessen, das wir nie "an sich" fassen können, sondern das uns im dankend-andenkenden-Denken nur aufgrund unseres Einbezogenseins in die aus dem Verborgenbleibend-Eröffnenden gewährte Öffnung nennbar wird, gehört ftir Heidegger der Name des Gottes.

e) Ursprüngliche Räumlichkeit und Zeitlichkeit als Entfaltung der ursprünglichen Leere

Mit dem nächsten Absatz geht Heidegger nun zur Erläuterung der ursprünglichen Räumlichkeit und Zeitlichkeit über. Zunächst charakterisiert er die soeben besprochene "Feme" dadurch, daß er ihr die innerzeitlichen und innerräumlichen Attribute abspricht (wobei dieses Absprechen natürlich kein Mangel ist): "Diese »Feme« der Unentscheidbarkeit ist vor jedem ausgesonderten »Raum« und jeder abgehobenen verlaufenden Zeit. Sie west auch vor aller Dimensionalität. "m All die soeben genannten Bestimmungen entspringen bereits dem dinglichen Bereich, der im Vergleich zu der ursprünglichen Feme noch relativ "nah" bleibt. Die Dinge und ihre jeweiligen Bestimmungen gilt es nicht als letztbegründende Instanz zu sehen, sondern aus ihrem Entsprungensein. "Solches entspringt erst aus der Bergung der Wahrheit und somit des ZeitRaumes im Seienden und zwar zunächst im dißghaft Vorhandenen und Umschlagenden. "552 Indem sich die Wahrheit des Seins birgt, d.h. im Seienden "festen Stand" gewinnt, kommt es zu den geläufigen Bestimmungen von Raum und Zeit: "Nur wo ein Vorhandenes festgehalten wird und festgelegt wird, entspringt der an ihm vorbeifließende Fluß der »Zeit« und der es umgebende »Raum«."m Wenn die geborgene Wahrheit festgehalten wird, d.h. wenn das Seiende nicht im Geschehnis der stets sich bergenden Wahrheit gewahrt wird, dann erscheint das Seiende als eine Art starrer "Wirklichkeitsklotz", der unter anderem in einem dreidimensionalen, Behälter-artigen Raum vorkommt bzw. dessen verlaufende Bewegungen ("Umschläge") gezählt und somit chronologischGA 65: s. 382. GA 65: S. 382. 553 GA 65: S. 382.

SSI

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zeitlich bestimmt werden können. Diese Bestimmungen sind in ihrer Exaktheit nur möglich, weil das Seiende als eine Art Ursubstanz angesetzt wird, in bezug auf welche die Kategorien erstellt werden. Die niemals vorhanden-seiende Bergungsweise der Wahrheit, in der das Seiende allererst zu seinem Anwesen freigegeben wird (und als Folge "festgehalten" und kategorial bestimmt werden kann), muß vom Blickpunkt des Seienden (d.h. wenn dieses als letzter Richtscheit genommen wird) "nichtig" bzw. aller Bestimmungen bar erscheinen. Aber die ursprünglich durch den Abgrund eröffnete Leere, obwohl sie niemals im geläufigen Sinne zeitlich und räumlich sein kann, entbehrt doch nicht aller Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Vielmehr entfaltet sich diese Leere ursprünglich zeitlich und räumlich: "Der Ab-grund als erste Wesung des Grundes gründet (läßt den Grund als Grund wesen) in der Weise der Zeitigung und Räumung. "554 Der im Ab-grund waltende Grund gründet, indem er wegbleibt und so die Leere eröffnet, die sich als Zeitigung und Räumung eröffnet. Diese beiden Weisen bestimmen also das Wesen der Leere bzw. dieses Wesen entfaltet sich in diesen Hinsichten. Die ursprüngliche Zeit und der ursprüngliche Raum sind aus dem gewährend-eröffnenden Wesen der Leere zu verstehen. Heidegger legt im folgenden ein besonderes Gewicht auf diese Bestimmung des Ab-grundes. Ähnlich wie bei der vorläufigen Bestimmung der Ab-gründigkeit des Ab-grundes als "Leere" müssen die dinghaften Vorstellungen von "Raum" und "Zeit" beiseite gelassen werden bzw. in ihrem fundierten Wesen erkannt werden: Aber hier ist für den rechten Begriff vom Ab-grund die kritische Stelle. Zeitigung und Räumung können nicht von der geläufigen Raum- und Zeit-Vorstellung her gefaßt werden, sondern diese Vorstellungen müssen umgekehrt nach ihrer Herkunft aus dem erstwesentlichen Zeitigen und Räumen ihre Bestimmung erhalten.sss

Wie eingangs betont, sind die geläufigen Raum- und Zeitvorstellungen nicht "falsch", sondern lediglich höchst unangemessen fiir die Wesensbestimmung der ursprünglichen Weisen des Räumens und des Zeitigens, die aus einem anderen Phänomen als dem Seienden verstanden werden müssen. Heidegger fragt in diesem Sinne zunächst: "Woher hat das Zeitigen und Räumen seinen einigen Ursprung und sein Geschiednis?"556 Woher kommt es also, das Raum und Zeit in gewisser Weise zusammengehören, ohne aber in ihrem Wesen identisch zu sein? Wie ist ferner die Einheit dieses Zusammengehörens zu verstehen? "Weieher Art ist die ursprüngliche Einheit, daß sie sich in diese Scheidung ausGA 65 : S. 383. GA 65: S. 383. 556 GA 65: S. 383. 554 555

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einanderwirft, und in welchem Sinn sind die Geschiedenen hier als Wesung der Ab-gründigkeit gerade einig?"ss7 Diese Frage zeigt schon an, daß es Heidegger hier darum geht, ein Verständnis von "Einheit" zu erarbeiten, das gerade nicht Unterschiede unterdrückt, sondern diese eher fordert. Ursprüngliche Einheit, wie wir bereits öfters sahen, ist fiir Heidegger Viel-Einheit. Aber diese VielEinheit gilt es weiter aufzuhellen. Wie eint diese Einheit bzw. wie ist diese aus der Ab-gründigkeit des Grundes näherhin zu verstehen? In diesem Zusammenhang bemerkt Heidegger vorbeugend, daß er mit der Viel-Einheit nicht aufirgendeine "Dialektik" hinaus will, die das Unterschiedene nur als zu überwindende Momente in der Findung von begrifflicher Einheit bejaht: "Hier kann es sich nicht um irgend eine »Dialektik« handeln, sondern nur um die Wesung des Grundes (der Wahrheit also) selbst."sss Die Vielheit wird aus dem Walten der Wahrheit, d.h. aus dem Geschehen der Eröffnung des Anwesenheitsbereiches verstanden, der einerseits gemeinsamen, einigen Boden schenkt, andererseits das Wachsende dieses Bodens nicht "vordeterrniniert", sondern zu eigenem Sein verschiedenster Art freigibt. Die Einheit ist nicht "über" dem Vielen, sondern waltet als der freigebende Grund dieses. Das Walten dieses Grundes erhellt Heidegger wieder im Lichte des Ereignisses: "Das Gefiige dieser Wesung muß immer wieder in den Entwurf gestellt werden: Das Wesen der Wahrheit ist lichtende Verbergung. Diese nimmt das Ereignis auf und läßt, es tragend, seine Schwingung durchragen durch das Offene."ss• Das Wesen der Wahrheit als das Sichöffnen fiir die Verbergung ist das Geschehnis, das das Ereignis (als dem Schwingungsbereich des (im Grunde sich entziehenden) Zuwurfs und Entwurfs) ins Offene trägt. Nur dadurch, daß sich Wahrheit lichtet, kann das Ereignis des Übereignens von Sein aus dem Verborgenen erscheinen. Indem die Wahrheit das Ereignis erscheinen läßt, ist sie gewissermaßen der Grund für das Sein (als erscheinendes Anwesen gedacht): "Tragend-ragenlassen ist die Wahrheit der Grund des Seyns."s60 Aber Grund ist hier nicht im Sinne des "Urgrundes" zu verstehen. Der Urgrund bleibt das Ereignis, aus dessen verborgenem Walten der Grund (im Sinne des eröffnenden Ab-grundes) entspringt. Der Ab-grund ist vielmehr Grund in dem Sinne, daß es das Sein als den Hinweis auf das Entspringen-Lassen von Sein aus dem Ereignis begründet, indem es sich als Lichtung der Verbergung eröffnet:

GA 65: S. 383. GA 65: S. 383. ss• GA 65: s. 383. S60 GA 65: s. 383.

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2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...>Wegbleiben« des Grundes, seine Abgründigkeit, ist gestimmt aus dem zögernden Sichversagen, zeitigend und räumend, entrückend und berückend zumal. "m Der Grund bleibt weg, indem er eine Leere eröffnet, die das Dasein in den ursprünglich-zeithaften Bezug zum Gewesenen und Kommenden gegenwärtig entrückt und somit die niemals gänzlich gegenwärtige Spannweite fiir das Zulassen der Zugehörigkeit zum Ereignis übergibt; diese Leere entfaltet sich andererseits, indem sie berückend die Spannweite des Daseins in den Entscheidungsraum so einrückt, daß sie dem Dasein einen Entscheidungsraum fiir solches Zulassen überantwortet. Dieser verantwortungsvolle Entscheidungsraum ist der (zeitlich-offene) Augenblick, der durch die Berückung eingeräumt wird: "Das Einräumen gründet und ist die Stätte des Augenblicks. "m Aus diesen ursprünglich räumlichen und zeitlichen Entfaltungsweisen der Leere ist der Ab-grund, wie wir oben im Zitat hörten, gestimmt, d.h. diese Entfaltungsweisen verleihen ihm im Sinne einer gestimmten Offenheit gewissermaßen auch "Stimmen", in denen er sich bekunden kann, ohne aber dadurch in seiner Wesensherkunft "gelüftet" zu sein; denn diese empfängt der Ab-grund nicht aus dem Zeit-Raum, sondern er bleibt (als die abgründige Einheit des Zeit-Raums) in seiner Wesensherkunft rückbezogen auf das urgründige Ereignis, das zwar im ab-gründigen Sichzuwerfen sich in gewisser Weise dem ereigneten Entwurf (winkmäßig) bekundet, jedoch immer nur als ein im letzten Grunde verborgenbleibendes Geschehen. Dieser verborgenbleibende Zug im Ereignis öffnet sich einzig als Verborgenbleibender, wie wir sahen, im Abgrund und dessen intimen Bezug zum Dasein.

j) Das Wesen des Zeit-Raums (Einheit und Geschiednis) Durch die bisherigen Untersuchungen sind wir nunmehr in die Lage gekommen, das eigentliche Wesen des Zeit-Raums sachgerechter zu verstehen. Er ist kein dem Mensch gegenüberstehender chronologisch-metrischer "Behälter", sondern er ereignet sich als Augenblicksstätte fiir das Dasein, die dem Dasein das Zulassen seiner Zugehörigkeit zum Ereignis und den Austrag dieser gewährt: "Der Zeit-Raum als die Einheit der ursprünglichen Zeitigung und Räumung ist ursprünglich selbst die Augenblicks-Stätte, diese die ab-gründige we-

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GA 65: S. 384. GA 65: S. 384.

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senhafte Zeit-Räumlichkeit der Offenheit der Verbergung, d.h. des Da."577 Der Zeit-Raum ist die Augenblicksstätte, welche die ursprüngliche Zeitigung und Räumung eint, indem sie diese verschieden sich entfalten läßt, so aber, daß sie sich gegenseitig ergänzen. Diese einigende Einheit ist wesenhaft ab-gründig, weil sie im Einigen sich entzieht, d.h. ihr einigendes Wesen nicht in den Vordergrund stellt, sondern es gewissermaßen als unscheinbaren "Hintergrund" walten läßt, in dem Verschiedenes sich entfalten kann. Durch diese Entfaltung von ursprünglicher Räumung und Zeitigung geschieht die Eröffnung einer Offenheit, in die das Dasein wesenhaft eingelassen ist. Diese Offenheit birgt aber zugleich den Hinweis auf die Verbergung als das Offenheit-Gewährende. Raum und Zeit sind geeint, insofern sie beide Entfaltungsweisen des ZeitRaumes sind, dessen Einheit abgründig aus dem Urgrund gestiftet wird, der immer auch verborgen bleibt. Nach diesem Hinweis auf die im Zeit-Raum waltende Einheit stellt Heidegger nun die Frage nach dem Unterschied von Räumung und Zeitigung: "Woher also die Geschiednis in Zeitigung und Räumung?" 571 Dieser Unterschied erhellt sich aus dem zweifachen Zug, der im Abgrund als der zögernden Versagung selber angelegt ist: "Aus der Entrückung und Berückung, die grundverschieden sich fordern, aus der Einheit der zögernden Versagung." 579 Erstens gilt es wieder zu beachten, daß die Einheit es ist, die gerade das "Grundverschiedene" fordert, d.h. die Entfaltungen sind als solche vom Grund verschieden und tragen diesen auf verschiedentliehe Weise aus. Dieses Verschiedensein geschieht auf Grund der nicht-vereinnahmenden, sondern freigebenden Einheit des abgründigen Grundes (der die Gabe dieser Einheit vom Urgrund empfängt). Die Entrückung entfaltet das Versagen des Ab-grundes durch die Eröffnung der zeitlichen Wesensspannweite des Da, die sich niemals gegenwärtig erschöpft. Dieses sich-entziehende Versagen fordert gerade wieder einen gewissen Anhalt bzw. Urnhalt, damit nicht alles ins Verantwortungslose entgleitet. Solcher Umhalt liegt in der durch das Zögern ermöglichten Berückung, die den Entscheidungsraum einräumt. Umgekehrt fordert solcher Entscheidungsraum wieder die Entrückung, damit gegenwärtig Gewesenem Zukunft gegeben werden kann, damit also fiir das gegenwärtig Entschiedene die Möglichkeit des Sichzeitigens (Reifens) gewährt ist. Mit der nächsten Frage und deren Antwort wiederholt Heidegger noch einmal, daß der Ursprung der Geschiedenheit in der Einheit des Zeit-Raums als der zögernden Versagung zu suchen ist, und verweist zugleich darauf, daß die-

GA 65: S. 384. GA 65 : S. 384. 579 GA 65: S. 384.

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ses Geschehen immer aus dem Ereignis zu denken ist: "Woher die Geschiedenheit von Entrückung und Berückung? Aus der zögernden Versagung, und diese das Etwinken als das anfangliehe Wesen des Ereignisses, anfanglieh im anderen Anfang."sao Die zögernde Versagung (der Ab-grund) ist der Wink bzw. das Geschehen der Erwinkung des Ereignisses. Dieses west anfänglich, d.h. erschöpft sich nie im Verlauf der Zeit, sondern west vielmehr als der beständige Grund für solchen Verlauf; dies ist freilich niemals ein Grund, der jemals im Sinne eines Seienden gefaßt werden könnte und dessen Beständigkeit sich vom Seienden her gemessen eher wie fortwährendes Vergehen ausnimmt. Deswegen bedarf es der Gründung eines "anderen Anfangs", in welchem das Seiende nicht als die Letztinstanz der Bestimmungen angesetzt wird, sondern wo dieses aus der anfangliehen Eröffnung des Ereignisses vernommen wird. Bevor Heidegger noch ausführlicher auf den "Wink" zu sprechen kommt, weist er auf die Einmaligkeit des Wesens des Seyns hin; da dieses im anderen Anfang aus dem Ereignis gedacht wird, das Ereignis aber das unerschöpfliche Immer-wieder-Ankommen der anfangliehen Eröffnung aus dem Verborgenen ist, steht es nicht in der Möglichkeit irgendeiner Quantiflzierbarkeit bzw. Zahl, da dies beständige Vorhandenheit voraussetzt; es ist unvergleichbar, unberechenbar einzig. "Dieses Wesen des Seyns einzig und einmalig und damit dem ionersten Wesen des Seyns genügend; auch ucrts einzig und einmalig."511 Die Einzigkeit bzw. Einmaligkeit ist also auch wesensmäßig anderer Art als die "Einmaligkeit" der mathematischen Zahlen. Sie spricht nicht von einer bestimmten individuellen Instanz unter anderen, die nur ein mal vorhanden wäre, sondern verweist auf eine unberechenbare Weise des Anwesens des in den verschiedenen geschichtlichen Epochen Anwesenden. In dem Zusatz zu dem obigen Satz bemerkt Heidegger, daß diese Einzigartigkeit des Seyns auch schon in den Anfängen der griechischen Philosophie im Denken der ucrts (zumindestens ansatzweise) vernommen wurde, ohne aber näher darauf einzugehen, inwieweit das Seyn hier schon als Seyn gedacht wurde. Im folgenden Absatz verweist Heidegger kurz darauf, daß durch die vorangegangene Analyse die Herkunft von Raum und Zeit dem Denken sichtbar gemacht worden ist; auch alle geläufigen Auslegungen von Raum und Zeit haben also als eine Weise der Auslegung der ursprünglichen Zeitigung und Räumung ihre Herkunft nicht aus einer Bestimmungen des Seienden (sondern eben aus dem Zeit-Raum als Wesensstätte des Seyns): "Wenn jene Zeitigung und jenes Räumen das ursprüngliche Wesen der Zeit und des Raumes, dann ist deren Herkunft, ab-gründige, den Ab-grund gründende, aus dem Wesen des Seins

SBO

SBI

GA 65: s. 384f. GA 65: s. 385.

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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sichtbar gemacht. "582 Das Wesen des Seyns ist das ereignishafte Anwesen in die ab-gründige Offenheit des Zeit-Raums. Das Ereignis als der Urgrund ist das den Ab-grund Gründende. Dieser Ab-grund wird durch die Räumung und Zeitigung im Dasein "ausgetragen", und das Dasein vermag, diesen im Seienden zu bergen (bzw. auf die ihm eigentümliche Weise "zu gründen"). Dadurch, daß Räumung und Zeitigung die Weisen sind, wie sich im Dasein eine Offenheit für Seiendes allererst "gründet", kann nicht gesagt werden, daß Raum und Zeit "sind" (wie Seiendes), sondern sie "wesen" geschehnishart in der Eröffnung des Anwesenheitsraumes für Seiendes: "Zeit und Raum (ursprünglich) »sind« nicht, sondern wesen. "583 Der Zusatz "ursprünglich" weist darauf hin, daß Heidegger nicht leugnen will, daß es abgeleitete, parameterartige Auslegungen von Raum und Zeit geben kann, die diesen Phänomenen "seienden Charakter" zusprechen. Solche Auslegungen können im Hinblick auf ihre jeweiligen Zwecke und in den Grenzen solchen Hinblicks durchaus gerechtfertigt sein; ungerechtfertigt sind lediglich Interpretationen, die diesbezüglich einen Absolutheitsanspruch erheben.

g) Der Zeit-Raum als Wink des Ereignisses Immer wieder betont Heidegger, daß der Abgrund bzw. das zögernde Sichversagen des Zeit-Raums aus dem Ereignis gedacht werden müssen. Hier geschieht dies dadurch, daß der Zeit-Raum als Wink des Ereignisses näherhin untersucht wird: Aber die zögernde Versagung selbst hat diese ursprünglich einigende Fügung des Sichversagens und des Zögems aus dem Wink. Dieser ist das Sicheröffnen des Sichverbergenden als solchen und zwar das Sicheröffnen fllr die und als die Er-eignung, als Zuruf in die Zugehörigkeit zum Ereignis selbst, d.h. zur Gründung des Da-seins als des Entscheidungsbereiches für das Seyn. 584

Daß das Sichversagen und das Zögern, das sein Wesen jeweils verschieden austrägt, zunächst einmal in einer gefügten, zu differenzierenden Einheit überhaupt offen gegeben ist, verdankt es dem Wink. Der Wink ergeht an das Dasein bzw. ereignet sich als das Dasein; er stammt nicht aus sich, sondern von einem Winkenden. Der Wink eröffnet, aber verweist zugleich auf ein Winkendes, das sich jedoch nicht zeigt. Daher ist der ab-gründige Wink ein Wink, der das Sichverbergende "als solches", d.h. als Verborgenbleibendes, eröffnet, d.h. GA 65: S. 385. GA 65: S. 385. 584 GA 65: S. 385.

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den Bezug der Offenheit zum Verborgenen hervorscheinen läßt. Das Ereignis bleibt im Grunde verborgen, aber es eröffnet sich im ereignenden Wink, der die ab-gründige Offenheit dem Dasein übereignet und dadurch den "Zuruf in die Zugehörigkeit zum Ereignis" erteilt; das Dasein kann durch die Eröffnung dieses Winkes erfahren, daß es ursprünglich in das Ereignis des Seinsgeschehens eingelassen ist und zwar im Sinne der Zugehörigkeit. Das Dasein ist ein "wesentliches Moment" in der Eröffnung von Sein überhaupt; es ist die gebrauchte Lichtung des Daseins, damit Seiendes anwesen kann, d.h. in einer Offenheit erscheinen kann. Das Dasein kann Seiendes eigens im Hinblick auf die Wesung des Seyns gewahren. Dadurch kommt es zu einer eigentlichen Bergung des Seyns im Seienden, d.h. solches Gewahren läßt Seiendes aus seiner Herkunft her anwesend aufgehen. Die Zugehörigkeit des Daseins zum Sein eröffnet dem Dasein die Möglichkeit, diese Zugehörigkeit nicht nur "als (bloß) gegeben" ständig zu übergehen, sondern sie eigens zu gewahren imd diese als Entscheidungsraum für das Seyn zu gründen. Obwohl das Dasein als ereigneter Entwurf den Zuruf des Seyns niemals erzwingen kann und in seinem Sein ein Gegründetes bleibt, so ist es doch als ein solches Seiendes gegründet, daß in Freiheit eine eigene Weise des Gründens vermag. Es vermag das Ereignis bergend im Seienden hervor-scheinen zu lassen. Hieraus wird schon ersichtlich, daß weder das Seyn von sich aus noch der Mensch allein jemals das hervorscheinende Winken des Winkes erzwingen können. Der Wink als der Zuwurf kann an den Menschen ergehen, ohne daß dieser ihn eigens wahrnimmt, indem er sich an Seiendes verliert. Der Wink kann niemals vom Menschen "erfunden" werden, weil alles menschliche, freiheitliche Tun und Denken sich bereits auf dem Grunde des Winkes vollzieht. Im folgenden Zitat bringt Heidegger dieses wechselbezogene Geschehen auch mit dem "Anklang" aus dem geschichtlich-fugenhaften Ereignis-Denken zusammen: Aber dieser Wink kommt nur zum Winken im Anklang des Seyns aus der Not der Seinsverlassenheit und sagt nur wieder: weder aus dem Zuruf noch aus einer Zugehörigkeit, sondern nur aus dem beide erschwingenden Zwischen öffnet sich das Ereignis und wird der Entwurf des Ursprungs des Zeit-Raumes als ursprünglicher Einheit aus dem Abgrund des Grundes vollziehbar...m

Die gegenwärtige geschichtliche Epoche zeichnet sich durch eine Seinsverlassenheit aus, deren höchste Not gerade darin besteht, daß die Seinsverlassenheit überhaupt nicht als solche und schon gar nicht als Not wahrgenommen wird.

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GA 65: S. 385.

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

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Heidegger bezeichnet dies auch die Not der Notlosigkeit. 586 Anstatt die Not der Seinsverlassenheit zu erfahren, "erfreut" sich der Mensch an der ins Riesenhafte übersteigbaren Hantierbarkeit bzw. besser: "Betreibbarkeit" oder "Bestellbarkeit" von Seiendem. Zu einem Anklang des Seyns in der Seinsverlassenheit, d.h. in der Epoche, der es an wesentlicher Gründung des Seyns im Seienden ermangelt, könnte es kommen, wenn der Mensch sich auf die "ungegründete" bzw. "bodenlose" Weise besinnen würde, in der er zu seinem eigenen Sein bzw. dem des innerweltlich Seienden steht. In solcher Besinnung könnte aufblitzen, daß dem Dasein die Möglichkeit zur Gründung vom Sein gewährt wird, aber eben auf eine Weise, daß sich diese Möglichkeit gerade nicht wie Seiendes aufdrängt, sondern eher im "Hintergrund" bleibt und dadurch fiir so etwas wie die Seinsverlassenheit Raum gibt. Dadurch würde aber das Dasein seine Zugehörigkeit zum Sein erfahren und so könnte es vernehmlicher werden fiir den ungewohnten Zuruf des Seyns, der nach Gründung ruft. Es bedarf, wie gesagt, sowohl des Zurufes als auch der wahrgenommenen bzw. eigentlich übernommenen Zugehörigkeit des Daseins zu diesem Zuwurf, damit das Seyn zum Anklang und damit in den Beginn seiner vollen Wesensentfaltung gelangen kann. Heidegger nennt diesen Bereich fiir den Anklang das "Zwischen", weil es zwischen Zuruf und Zugehörigkeit liegt, wobei dieses "Zwischen" eben beide miteinbezieht Das Ereignis "öffnet" sich in diesem Zwischen, d.h. als das wechselseitige Aufeinander-Bezogensein, wobei das Dasein diesen Bezug bejahen muß, um ein gründendes zu werden, d.h. um dem Zuspruch rein zu entsprechen. Es genügt nicht, das Ereignis gleichsam "von außen" oder "rein intellektuell" zu betrachten. Der ganze von Heidegger skizzierte "Entwurf', der den Ursprung des Zeit-Raumes aus der abgründigen Weise entfaltet, wie der ereignishafte Urgrund sich öffnet, wird einzig im Einsprung in dieses "Zwischen" echt vollziehbar.

h) Zusammenfassung des Bezugs des Abgrundes zu Raum und Zeit und der Bezug dieser untereinander

Heidegger faßt in den folgenden vier Sätzen stringent den Bezug von Raum und Zeit zum Abgrund und ihren Bezug untereinander zusammen. Der erste Satz lautet: "Raum ist die berückende Ab-gründung des Umhalts. "m Der Raum wird gegründet aus dem Ab-grund, indem dieser in seinem Zögern berückend waltet und dadurch einen Entscheidungsraum eröffnet, der dem ZuEntscheidenden einen fest umrissenen Platz bzw. Umhalt gibt. Der zweite Satz 586 587

Vgl. z.B. GA 65: S. 113. GA 65: S. 385.

250

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

lautet: "Zeit ist die entrückende Ab-gründung der Sammlung. "588 Auch die Zeit ist eine Weise, wie sich der Ab-grund gründet, und zwar indem er durch sein Sichversagen in eine ursprünglich-zeitliche Weite ent-rückt, die zwar niemals "gegenwärtig" vorhanden sein kann, jedoch in einer Sammlung als abwesende mitanwest. Die ersten beiden Sätze erhellen also, wie die Raum-und-ZeitPhänomene als Austrag der abgründigen Gründung zu verstehen sind und nicht nachträglich vom (aufgrund dieser Gründung ermöglichten) Seienden ursprünglich (d.h. von ihrem Ursprung her) verstanden werden können. Mit dem dritten Satz beginnt die Thematisierung des Bezugs von Raum und Zeit untereinander: "Die Berückung ist abgründiger Umhalt der Sammlung. "589 Indem die raumhafte Berückung aus dem Ab-grund gestiftet wird, eröffnet sie den Ort, an dem der zeitmäßigen Sammlung des Gewesenen, Gegenwärtigen und Kommenden ein "Umhalt" gegeben wird bzw. eine Art "Anhalt", durch den der Sammlung ein Entscheidungsraum eingeräumt wird. Der vierte Satz lautet schließlich: "Die Entrückung ist abgründige Sammlung auf den Umhalt. "590 Die aus dem Abgrund gewährte Zeitlichkeit versammelt sich in diesem raummäßigen Umhalt und verleiht ihm dadurch die wesensmäßige Weite für die der im Entscheidungsraum Stehende verantwortlich wird. Die Zukunft des Gewesenen wird gegenwärtig dem Entscheidungsraum anheimgestellt; zwar kann nicht darüber entschieden werden, ob überhaupt Zeit gegeben sein soll, aber wie sich die gegebene Zeit gestaltet, ist nicht vordeterminiert, sondern mitentscheidbar. Auf diesen gegenseitig-fördernden Bezug von Raum und Zeit, die in ihrer Verschiedenheit gerade ihre abgründige Einheit zu einer fruchtbaren machen, verweist Heidegger mit dem folgenden Satz: "Wenn Entrückung sich als Sammlung erweist und Berückung als Umhalt, so liegt darin je ein Gegenwendiges."59' Bevor Heidegger positiv das ursprünglich wechselseitige Wesensgönnen dieses Gegenwendigen aufzeigt, deckt er ein mögliches Mißverständnis auf, das im Zuge einer ausfuhrlieberen Ausarbeitung des hier nur ansatzweise Aufgezeichneten im Sinne einer "Destruktion" genauer zu behandeln wäre: "Denn Entrückung scheint Zerstreuung und Berückung scheint Entfremdung zu sein. "592 Das Wort "Entrückung" könnte man ja so auffassen, als ob es gerade die gewaltsame "Tat" anspricht, durch die vom vermeintlich Wesentlichen (dem unmittelbar Vorhandenen) weg hin zum Beliebigen geleitet wird (zum 588 GA 65: S. 385. 589 GA 65: S. 385. 590 GA 65: S. 385. 591 GA 65: S. 385. 592 GA 65: S. 385.

§ 9. Der Zeit-Raum, der Abgrund und die Wahrheit

251

"längst Vergangenen" bzw. zum "noch nicht einmal aktuell Seienden"), durch welches das Wesentliche gerade aus den Augen verloren wird. Ebenso spricht in dem Wort "Beriickung" eine alte Bedeutung von "hinterhältiger Täuschung" mit. Im Grimmsehen Wörterbuch heißt es s.v. "Beriickung": "decipere, fallere, bestricken, in die falle locken, gleichsam hinterwärts ... fangen". Eine so verstandene Beriickung im Sinne eines hinterhältig-gewaltsamen Nahetretens fiihrt zur Entfremdung. Aber die ursprungliehe Bedeutung, die Heidegger mit diesen beiden Worten andeuten will, liegt ganz wo anders: "Dieses Gegenwendige ist gerade das W esentliche und der Hinweis auf die ursprungliehe Gewiesenheit beider zueinander auf Grund ihrer Geschiednis. "593 Das Gegenwendige der Entriickung und Beriickung liegt nicht in einem gegenseitigen Überbieten an hinterhältiger Falschheit bzw. Wesensberaubung, sondern ihr gegenwendiges Auf-einanderbezogen-sein erbringt gerade das Wesentliche, das allererst die Möglichkeit fiir diejenigen privativen Weisen mit sich bringt, die in den oben genannten Wortbedeutungen aufscheinen. Gerade weil sie vom einigen Ab-grund in ihr jeweils verschiedenes Wesen entlassen sind, können sie sich gegenseitig dasjenige schenken, was zur Ergänzung des anderen unabdingbar ist, wobei keines der beiden diese Ergänzung "aus sich" zu leisten vermögen würde. Deswegen sind sie "auf Grund ihrer Geschiednis" ursprunglieh zueinander verwiesen und tragen in ihrem gegenseitigen Wesensgewähren gerade keine hinterhältige W esenszernichtung aus, sondern die urgriindige Wesensbejahung bzw. Wesenszulassung ("Liebe"). Raum und Zeit versuchen nicht das jeweils andere Wesen fiir sich zu vereinnahmen. Sie bleiben in ihrem Wesen, das aber wesensmäßig auf die Begegnung mit dem jeweils anderen offen bleibt und nur durch diese Begegnung sich wahrhaft vollendet. In diesem Sinne nimmt jedes der beiden Momente das jeweils andere empfangend an, aber auf eine nicht-vereinnahmende Weise, d.h. auf eine Weise, die die Wesensweise des anderen weder imitiert noch diese "an sich reißt": "Die Zeit räumt ein, niemals beriickend. Der Raum zeitigt ein, niemals entriickend."594 Der Raum räumt einen Wesensort fiir die Zeit ein, so daß diese dann entrückend in ihm walten kann. Er selber aber zeitigt nicht entriikkend. Die Zeit räumt in sich den Ort fiir die Wesensentfaltung des Raumes ein, so daß dieser sich herliekend entfalten kann. Die Zeit selber aber beriickt nicht. Sie gewähren durch ihr im Grunde geeintes Wesen, daß das andere sich (als das andere) in ihnen austragen darf.

593 594

GA 65: S. 385. GA 65: S. 386.

252

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage... «

In diesem Sinn ist auch ihre Einheit nicht die eines (formalgattungsmäßigen) "Gemeinsamen", das sich durch spezifische Differenzen konkretisiert, aber im Grunde nichts wesentlich Neues zuläßt: "Sie haben aber auch kein Gemeinsames als Einheit..." 595 • Ihre Einheit kommt gewissermaßen "von woanders", d.h., nicht aus etwaigen vergleichbaren Merkmalen, die an ihnen gleichsam "nachträglich" festgestellt werden könnten. Vielmehr erweist sich ihre Einheit als eine, die erst im Zulassen ihres Grundes ans Licht tritt (da sie aus diesem allein gewährt wird): "... sondern ihr Einigendes, was sie entspringen läßt in jene unzertrennliche Gewiesenheit, der Zeit-Raum, das Abgründen des Grundes: die Wesung der Wahrheit." 596 Die Einheit des ZeitRaums verdankt sich "der Wesung der Wahrheit", insofern dies das Geschehen ist, in dem ereignishart ein Urgrund sich öffnet und zwar in der Weise des Abgrundes. Indem der Zeit-Raum in dieses Geschehen eingelassen ist bzw. aus diesem Geschehen entspringt, ist es im Grund geeint, hat eine einige Herkunft, welche allerdings die unterschiedlichen Austragsweisen bejaht. Dadurch daß aufgewiesen wurde, wie der Grund abgründig sich öffnet und so das Da-sein zu seinem zeit-räumlichen Wesen kommt, welches das Anwesen von Seiendem zuläßt, ist die W esungsweise des Grundes keineswegs erschöpft: "Die Ab-gründung des Grundes ist damit in ihrem Wesen nicht erschöpft, sondern nur deutlich gemacht als Gründung des Da. "S97 Der Ab-grund gibt also nicht nur dem Da-sein Grund; wegen der hervorragenden Bedeutung der einzigartigen Zugehörigkeit des Daseins zum Grund wurde dieser während der Untersuchung in den Vordergrund gestellt. Inwiefern der Ab-grund in allen Dingen (durch den Welt-Erde Streit) waltet und jeweilig den verschiedenen Seinsweisen des Seienden Grund verleiht, bleibt hier unentfaltet. Durch das Da-sein wird der Zeit-Raum geschichtlich. Durch den dem daseinsmäßigen Wesen eingeräumten Entscheidungsraum waltet der Zeit-Raum als immer einzigartiger, unwiederholbarer Augenblick, in dem das Dasein die Zukunft des Gewesenen wesentlich mitbestimmt. Das Dasein ist so in die Geschichte des Seins überantwortet. Dies wird aus der folgenden Zusammenfassung noch einmal sehr deutlich: Der Zeit-Raum ist der berückend-entrückende sammelnde Umhalt, der so gefUgte und entsprechend stimmende Ab-grund, dessen Wesung in der Gründung des »Da«

GA 65: s. 386. GA 65: s. 386. 597 GA 65: s. 386. 595

596

§ 10. Das Heilige und der Zeit-Raum

253

durch das Da-sein (seine wesentlichen Bahnen der Bergung der Wahrheit) geschichtlich wird. 598

Der Zeit-Raum versammelt die zeitlich-entrückenden Ekstasen in den raumhaft-berückenden Urnhalt des Augenblicks (des Entscheidungsraumes), und ist somit der aus dem Ab-grund gefiigte und gestimmte Grund, der dem Dasein überantwortet wird. Das Dasein kann diesen Grund eigens als solchen gewahren und in dem Sinne gründen, daß es dessen nicht-seiende Anwesenheitsweise durch die Bergung im Seienden hervorscheinen läßt. Dadurch kommt die Wahrheit des Seins in ihre volle Wesung. Durch diese Übernahme des Grundes durch das Dasein und dessen Endlichkeit, in der es sich in einer je einmaligen, unwiederbringbaren geschichtlichen Situation vorfmdet, wird der Zeit-Raum selber geschichtlich, bekommt eine Geschichte. Allerdings kann das Dasein neben den wesentlichen Bergungsweisen auch den Grund ver-wesen lassen, d.h. ihn beständig unbeachtet übergehen; dann verwahrlost die Geschichte des Zeit-Raums in dem Sinne, das zwar historisch nachweisbar auf verschiedenste Weise mit Seiendem umgegangen wurde und wird, jedoch keine wesentlich geschichtlichen, d.h. die Wahrheit des Seins des Seienden betreffende, Entscheidungen mehr fallen. Obwohl der 242. Abschnitt mit dieser Wiederholung noch nicht abgeschlossen ist und Heidegger dazu übergeht, ansatzweise zu zeigen, wie die geläufigen "Raum und Zeit"-Vorstellungen aus dem Zeit-Raum entspringen, beenden wir unsere Analyse hier, da wir bereits fiir unseren Zweck die wesentlichsten Einsichten erarbeitet haben. Es gilt nun zu zeigen, was Heidegger am Ende des "Wie wenn am Feiertage ... "-Vortrags damit gemeint hat, wenn er im Heiligen eine Nennung des Zeit-Raumes erblickt.

§ 10. Das Heilige und der Zeit-Raum I. Die Bedeutung der Zeit-Raum-Analyse für die Feiertag-Hymne

Die vorangegangene Interpretation des Zeit-Raums geschah umwillen der Klärung eines entscheidenden Satzes am Ende von Heideggers Vortrag über Hölderlins Feiertag-Hymne. Dieser Satz lautete: "Hölderlins Wort sagt das Heilige und nennt so den einmaligen Zeit-Raum der anfänglichen Entscheidung fiir das Wesensgefiige der künftigen Geschichte der Götter und der Menschen-

598

GA 65: S. 386.

254

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

tümer. "s99 Hieraus entnehmen wir folgende drei Hauptpunkte, die im Lichte des mittlerweile Erarbeiteten zu klären sind: a. Mit dem Sagen des Wortes vom Heiligen ist der Zeit-Raum genannt; b. der Zeit-Raum ist ein einmaliger; c. er ist der Zeit-Raum fiir eine anfängliche Entscheidung, in welcher die künftige Geschichte (im Sinne einer Begegnung von den Menschengeschlechtem mit den Göttern) entschieden wird. ad a) Die Wesensbestimmungen des Heiligen, die uns im Zuge von Heideggers Auslegung der Feiertag-Hymne begegneten, sind also auch in bezug auf den Zeit-Raum zu denken bzw. erweist sich der Zeit-Raum der Beiträge als eine denkerische Auslegung desjenigen Phänomens, das im dichterischen Wort vom Heiligen in seiner Unauslotbarkeit ans Licht kommt. Durch die Analyse des Zeit-Raums in den Beiträgen zeigte sich deutlicher bzw. ausdrücklich, daß der Zeit-Raum (und damit auch das Phänomen des Heiligen) aus dem Ereignis zu denken sind. Dadurch wird unser Vorblick auf die Ereignis-Struktur, die wir der vorangegangenen Analyse der "Feiertag-Hymne" zugrunde legten, gerechtfertigt und bestätigt. Wie auch im Vortrag selber immer wieder anklang, zeigte die Analyse des Zeit-Raums, daß der "Bereich", den das Heilige nennt, in ein Geschehen eingelassen ist, das trotz des eröffnenden Wesenszuges immer auch einen sichverschließenden birgt, der sich niemals lichtet. So wie im Ereignis (als dem Urgrund) in seinem eröffnend-abgrundig-grundenden Zuwurf stets ein Zug des ansichhaltenden Verborgenbleibens waltet, so müssen sich auch im Heiligen diese zwei Wesenszüge fmden. Der eine Zug weist auf das in der Schenkung Eröffnete hin und erhellt, wie das Eröffnete selber die Würde des Gewährens inne hat; so gewährt der ZeitRaum (als das im Ereignis primär Eröffnete) dem Dasein sein zeit-räumliches Wesen. Dieses vermag wiederum, in der Bergung (Griindung) dem Seyn Halt im Seienden zu gewähren. Diese eröffnende Gewähmis verweist in das Geschehen des Heiligen, wobei sich das Heilige niemals im Eröffneten erschöpft. Der Zeit-Raum selber ist auch nie als ganzer für eine geschichtliche Entscheidung eröffnet, sondern nur epochal (wobei in jeder Epoche in gewisser Weise das Ganze auf dem Spiel steht). D.h., selbst wenn das Heilige restlos mit dem Zeit-Raum zu identifizieren wäre, so würde es niemals zur Gänze zugänglich sein, sondern sich wesentlich immer auch der Offenheit der geschichtlichen Gegenwart entziehen. Aber wir sahen in der Zeit-Raum-Analyse der Beiträge, daß selbst der Abgrund (der sich zeit-räumlich entfaltet) noch einmal aus dem Urgrund als dessen einzige Eröffnung (als dessen einziger Wink in das Sichverbergende) ver-

599

GA 4 : s. 77.

§ I 0. Das Heilige und der Zeit-Raum

255

standen werden muß und daß in diesem Urgrund also auch ein Zug waltet, der nicht zeit-räumlich erscheint. Das stellt unsere Interpretation des Heiligen in bezugauf den Zeit-Raum vor eine Wegscheide. Wenn das Heilige ausschließlich als ein Name fiir den Zeit-Raum gedacht wird, dann würde das Heilige selbst aus einer noch verborgeneren Dimension entspringen. Unsere kommenden Darlegungen werden erweisen, daß für Heidegger als Name fiir diese Dimension weder der des Gottes noch der der Gottheit in Frage kommen; daher müßte diese Dimension gänzlich unbenannt bleiben (bzw. wäre sie nur im Ereignis ganz undifferenziert mitgenannt). Wir wollen uns hier fiir die zweite Interpretationsmöglichkeit entscheiden, gemäß der das "Heilige" diesen verborgenen Zug des Urgrundes nennt (bzw. ihn im Zeit-Raum mitnennt, gewissermaßen als dessen Herz). Das Heilige steht somit in einem Bezug zum Eröffneten, durch den es überhaupt erst benannt (und mit dem Zeit-Raum zusammengedacht) werden kann; es erschöpft sich aber nicht in den durch diesen Namen ermöglichten Auslegungen von Wesenszügen, sondern verweist immer auch auf einen urverborgenen Grundzug in allem Eröffnen. Daher werden wir das Heilige auch immer wieder als "Urgrund" ansprechen (wobei zu beachten ist, daß im terminologischen Sinne Heideggers der Urgrund als das Ereignis einen weiteren Bereich umfaßt als nur das Verborgene; wenn wir vom Heiligen als dem "Urgrund" reden, dann muß also immer mitgedacht werden, daß an solchen Stellen von uns vor allem der verborgenbleibende Grundzug im von Heidegger genannten ereignishaften Urgrund angesprochen wird). Weil alles folgende auf dieser Interpretation aufbaut, soll dieser Gedanke noch einmal mit etwas anderen Worten wiederholt werden: Das Wort vom Heiligen verweist zumal auf die eröffnende Gewährnis aller zeit-räumlichen Entfaltungsmöglichkeiten, so wie aber auch auf das in der Gewährnis von "Offenheit überhaupt" Sichentziehende, das einzig durch die Gegeben-heit der Offenheit überhaupt nennbar wird (als das Verborgenbleibende). Das Heilige, indem es auf den Zeit-Raum bezogen ist, verweist auch auf den nichterscheinenden Zug des Urgrundes und erweist das Moment des verborgenen Ansichhaltens als das wesentliche Moment des Gebens (Schenkens, Gewährens). Vom Eröffnungsgeschehen her läßt sich das Heilige im Sinne der positiv auslegbaren Wesenszüge denken, vom Zug des Sichverbergens empfängt es seinen Geheirnnischarakter. Dieser schlägt als das Herz im Wort vom Heiligen immer mit. Das Wort vom Heiligen macht gewissermaßen den freigebenden Bezugscharakter des Geheimnisses vernehmbar. ad b) Daß der Zeit-Raum ein einmaliger "ist", bedeutet zunächst, daß er den Offenständigkeitsbereich schlechthin eröffnet, in den hinein alles Seiende mit seinen zahlhaft nennbaren Differenzen anwesen kann. Er selber kann niemals durch das Zahlhafte erfaßt werden, weil er dessen Möglichkeit immer schon zugrunde liegt. Er ist auch, wie oben bereits angedeutet wurde, in dieser Ein-

256

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

maligkeit nie vollständig gegenwärtig gegeben; aber in einer bestimmten, jeweiligen Einmaligkeit räumt er dem Dasein den Entscheidungsort für seine Geschichte ein. Dieser jeweils einmalige Zeit-Raum wird im nächsten Punkt näher ausgelegt. ad c) Im jeweils einmaligen Zeit-Raum "konkretisiert" sich also das Heilige in dem Sinne, daß dem Menschen ein Entscheidungsraum eingeräumt ist, in dem Wesentliches in bezug auf die Geschichte des Seins zur Entscheidung steht. Zwar kann der Mensch das Heilige in seinem innerstenWesennicht vernichten, aber er kann sich so sehr von diesem abwenden, daß es in der Welt nirgends mehr als solches zum Hervorscheinen kommt. Wenn dies geschieht, dann ist den Menschen der Einblick in ihre eigene Wesensherkunft versagt, und so kann auch keine auf diese Herkunft hinweisende Kunde mehr tradiert werden. Zur Entscheidung steht also nicht nur die gegenwärtige Ausgangssituation, sondern auch die der künftigen Menschentümer (denen freilich - sofern der Mensch ihnen nicht auch die ontischen Bedingungen für ihr Leben entreißt vom Heiligen eine Möglichkeit der Wesensfmdung eingeräumt sein wird, wobei aber eben die "Ausgangssituation" der Gewahrung dieser Möglichkeit durch das tradierte Gebaren vorheriger Generationen wesentlich verstellt und erschwert sein kann.). Auch eine Begegnung mit den erscheinenden Göttern, die gemäß Heideggers Analyse wesentlich zur Findung des eigenen Wesens der Menschen beitragen (wie auch umgekehrt ein "Einfluß" besteht), kann sich bei einem verwahrlosten Bezug zum Heiligen nicht ursprünglich vollziehen; denn so wie das Menschenwesen nährt sich auch das erscheinende Göttliche vom Heiligen und dessen verborgenbleibendem Zug, und ohne Ahnung dieses Borns muß auch das aus ihm Quellende im Grunde verkannt werden. Daher ist die geschichtliche Entscheidung, in welcher der Mensch steht, eine anfängliche. In ihr und nur in ihr kann das Anfangen einer wesentlichen Geschichte zugelassen werden, da der Anfang das Angefangenhabende (aufgrund seiner übereignet-überantworteten Freiheit) nicht zu bestimmten Entscheidungen zu zwingen vermag. Der Mensch kann den Zuspruch nicht von sich her bewirken, jedoch kann er ihn zulassen oder auch veröden lassen. Sein Entscheidungsraum ist daher ein wesentlicher und echter. In ihm entscheidet sich die Geschichte des je einmaligen Zeit-Raums; das Heilige kann hier beginnen, vermittelt hervorzuscheinen, es kann aber auch einfach lautlos ver-wesen. Durch die Nennung des Heiligen ist dieses Phänomen in den Entscheidungsraum gelangt. Das heißt natürlich nicht, daß bezüglich des Heiligen somit alles gesagt wäre, "alles klar" wäre und der Mensch nun nur noch sein "placet" zu geben bräuchte. Vielmehr interpretiert Heidegger diese Nennung als den

§ 10. Das Heilige und der Zeit-Raum

257

"Auftakt" zu allen anderen Hymnen Hölderlins, die das Wesen des Heiligen immer tiefer in die geschichtliche Entscheidungssituation zu verwurzeln suchen. Bevor wir uns aber diesen Gedanken widmen, gilt es zuerst, einen Rückblick auf die bereits untersuchte "Germanien"-Hyrnne zu geben und das dort angelegte ereignishafte Gedankengut aufgrund der mittlerweile geleisteten Analysen kurz zu betrachten.

II. Rückblick auf die Auslegung des Heiligen in Heideggers »Germanien«-Vorlesung im Lichte des Ereignis-Denkens In der Vorlesung "Germanien" wurde das Heilige als das "Uneigennützige" ausgelegt. Diese Wesensbestimmung kann im Lichte des mittlerweile Erarbeiteten in ihrer Verwurzelung im Ereignis erhellt werden. Das Uneigennützige erwies sich als das Wesensgewähren von eigenständigem Anderen, ohne daß dabei das Gewährende seines eigenen Wesens verlustig ginge. Genau diese beiden Momente des Ansichhaltens einerseits und des damit einhergehenden Übereignens von ureigenem Sein an Anderes andererseits haben sich oben als konstitutiv für das Heilige erwiesen, insofern es das Verborgene im urgründigen Ereignis nennt. Das Ereignis eröffnet im Zuwurf den Anwesenheitsbereich für verschiedenste Anwesenheitsmodi, ohne dabei selber im innersten Wesen zu solch einem Anwesenden zu werden, da es im Eröffnen sich entzieht. Die Rede von der "Uneigennützigkeit" des Heiligen in der "Germanien"-Vorlesung, die sich als tief verwurzelt im Ereignis gezeigt hat (obwohl dieser Bezug in der Vorlesung selber nicht eigens als solcher thematisiert wird), entfaltet den Ereignisgedanken, indem sie zeigt, wie die ereignishafte Schenkung, Gewährnis, "uneigennützig" Anderes freigibt; die "Uneigennützigkeit" erläutert näher, wie das Ansichhalten im Schenken zu verstehen ist: Das Schenkende hält an sich, weil es nicht sich selber zu vergrößern trachtet, nicht sich selber zu nützen sucht, sondern das Andere wesensmäßig beschenkt. In diesem uneigennützigen Schenken besteht das Wesen des Heiligen. Die "Germanien"-Vorlesung konkretisiert das Heilige weiter in bezug auf die geschichtliche Situation, indem sie thematisiert, inwiefern in der vom Heiligen durchwalteten Grundstimmung ein Bereich eröffnet wird, der dem Menschen Raum gewährt, sich den Göttern öffnen zu können. Diese Thematisierung geschah im Zuge der Analyse des "Einrückens in die Erde" und des "Entrückens zu den Göttern", innerhalb deren sich zeigte, daß dem Bereich, in 17 Hclting

258

2. Kap.: »Wie wenn am Feiertage...«

dem eine Neubegegnung mit dem Göttlichen wieder möglich werden könnte, eine eigentümliche Räumlichkeit und Zeitlichkeit eignet; durch die Analyse des Zeit-Raumes in den Beiträgen ist nunmehr ein differenzierter Einblick in diesen Gedanken erbracht. Die Neubegegnung bedarf des Gewahrwerdens des Entscheidungsraums, in den der Mensch wesensmäßig eingelassen ist und in dem ihm der Raum gewährt ist, durch seine wesensmäßige ursprüngliche Zeitlichkeit einen Bezug zu den gewesenen Göttern aufzunehmen, ihr gegenwärtiges Fehlen auszustehen und eine Wiederkunft des Göttlichen aus der anfangliehen Dimension des Heiligen zu erharren. Die Menschen sind somit gewürdigt, in der sich ereignenden Offenheit bzw. Wahrheit zu stehen, die sich zeiträumlich in der jeweiligen geschichtlichen Situation "konkretisiert", und können als solch Inständige die Geschichte wesentlich mitbestimmen.

3. Kapitel Heideggers Auslegungen zum Geschichtlichwerden des Heiligen (1): Seine Vorlesung "Hölderlins Hymne »Andenken«" (1941/42) Der Grund fiir die Ausfiihrlichkeit, mit der Heideggers Auslegung der Feiertag-Hymne untersucht wurde, beruht darin, daß Heidegger fortan die weiteren Hymnen Hölderlins als Entfaltungen des in dieser einen Hymne erstmals genannten Phänomens interpretiert. Die erstmalige Nennung des Heiligen in »Wie wenn am Feiertage ... « stiftet den unausschöpfbaren Offenständigkeitsbereich dieses Phänomens, den das hymnische Sagen Hölderlins auf dichterische Weise fiir die Mitmenschen näher zu erschließen sucht. Wir sahen während der abschließenden Besprechung der Relevanz der seinsgeschichtlichen Gedanken zum Zeit-Raum fiir das Denken und Dichten des Heiligen, daß das Heilige nie "ein fiir alle mal" gelichtet werden kann, sondern in den je einmaligen zeiträumlich geschichtlichen Situationen immer neu ins Seiende geborgen werden muß. Mit der Nennung des Phänomens ist solches Bergen als Aufgabe aufgewiesen; es ist eine Aufgabe, die nie endet, weil die Bergung je immer neu und je immer ursprünglicher vollzogen werden muß, damit der Puls des Heiligen nicht in einer Art "Götzentum" erstarrt. Auch das Gedicht »Andenken« wird von Heidegger also auf dem Boden desjenigen Phänomens interpretiert, das in der Feiertag-Hymne stiftend ins Wort gehoben wurde. In bezugauf die weiteren Hymnen Hölderlins legt Heidegger aber einen besonderen Akzent auf das Gedicht "Andenken", der schriftlich festgehalten in einer Notiz überliefert ist, die den Aufbau der geplanten Auslegungen der späteren Hymnen skizziert: "Die Auslegung von »Andenken« gibt den Grund und Ausblick und die Hinsichten fiir alles Folgende." 1 Während der Analyse von Heideggers Interpretation gilt es also in Erinnerung zu behalten, daß "Andenken" einerseits das von Hölderlin bereits genannte und von uns mit Heidegger untersuchte Phänomen des Heiligen entfaltet, andererseits den Boden für weitere Entfaltungen legt, die das Heilige immer ursprünglicher in den geschichtlich-gegenwärtigen Augenblick zu bergen suchen. 1

197.

17*

GA 52 (Hölderlins Hymne »Andenken« Frankfurt: Vittorio Klostermann, 21992): S.

260

3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

Das dritte Kapitel gliedert sich in vier Hauptabschnitte. Zuerst sollen die vorbereitenden Überlegungen zur Auslegung des Heiligen im Gedicht "Andenken" besprochen werden (§ 11}, um der eigentlichen Wesensbestimmung des Heiligen folgen zu können(§ 12). Diese Wesensbestimmung wird ein besonderes Gewicht auf die Begegnung von den Menschen mit den Göttern legen, die im dichterischen Wort "Brautfest" genannt wird. Das geschichtliche Gefiige dieses Festes wird dann eigens besprochen werden(§ 13). Dieses Gefuge verweist auch auf die Notwendigkeit des vorbereitenden Gesprächs mit dem Fremden, Anderen fiir die Möglichkeit eines zukünftigen Kommens eines "Brautfestes." Die Bedeutung dieses Gesprächs bildet den abschließenden Untersuchungspunkt (§ 14).

§ 11. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung des "Heiligen" im Gedicht "Andenken" Nennungen des Heiligen fmden sich bereits in der Anfangsphase der Vorlesung; allerdings treten sie dort eher in Hölderlin-Zitaten auf oder in Heideggers rückblickenden Paraphrasen solcher Zitate.2 Auch steht von der Sache her das Heilige schon von Anfang an im Blick dieser Vorlesung. Den ersten ausdrücklichen Hinweis auf diesen Sachverhalt gibt Heidegger aber erst auf Seite 70. Dieser Hinweis setzt allerdings schon gewichtige Stücke des zuvor in dieser Vorlesung geleisteten Gedankenganges voraus, die wir uns erst aneignen müssen, um vorbereitet zu sein, diesen Hinweis auszulegen. Es gilt also zunächst ein Dreifaches zu klären: a) Wie denkt Heidegger das im Gedicht angesprochene Phänomen des "Grüßens"?; b) wie denkt er die dort genannten "Feiertage", die das "Fest" vorbereiten und c) was ist mit dem "Brautfest" gemeint?

I. Der Gruß- Die Erhebung des Anderen in sein Wesen

Heideggers Untersuchung des Phänomens des Grüßens bleibt rückbezogen auf die ersten fiinf Verszeilen des Gedichtes "Andenken", wo dem Nordostwind ein Gruß anbeiengegeben wird: Der Nordost wehet, Der liebste unter den Winden Mir, weil er feurigen Geist

2

Vgl. GA 52: S. 28, 47, 60.

§ 11. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

261

Und gute Fahrt verheisset den Schiffern. Geh aber nun und grüsse...3

Im Zuge einer Wiederholung seines Gedankens bezüglich des Grüßen referiert Heidegger ein geläufiges, aber verdinglichendes Verständnis des Grüßens: "Im Grüßen senden wir einen Gruß. Das Grüßen ist, so genommen, wie die Weiterbeförderung einer Kunde. Gruß und Kunde geben sich wie etwas Dinghaftes, das dargereicht wird. "• Demnach wäre ein Gruß nichts anderes als eine besondere Art der Übermittlung eines Nachrichteninhalts, der sich auf Seiendes bezieht (genauer: auf den Grüßenden) und dessen Beforderung selber seienden Charakter annimmt. Doch dieses Verständnis verfehlt das ursprüngliche Geschehen des Grüßens: "Allein das Grüßen besteht nicht in der Weiterleitung des so gemeinten Grußes. Das Grüßen ist auch kein Melden und keine Benachrichtigung."' Mit anderen Worten: Das ursprüngliche Grüßen kann gerade nicht als eine Art der Übermittlung von Informationen (unter vielen, vielen anderen) gefaßt werden. Heidegger kommt nach dieser negativen Ausgrenzung auf eine Spannung zu sprechen. Einerseits wurde gerade gesagt, daß der Gruß keine bloße Informationsübermittlung ist, die Nachrichten vorn Grüßenden bringt, und andererseits scheint es doch unbestreitbar, daß mit dem Gruß doch irgendwie der Grüßende mitgedacht werden muß: "Aber der Grüßende meldet in einem Gruß doch sich. Dennoch: der Grüßende berichtet in seinem Gruß nie etwas über sich. "6 Eine Klärung dieser Spannung darf das Sichmelden des Grüßenden nicht unterschlagen, aber sie darf jedenfalls nicht den Gruß als eine Kunde über den Grüßenden fassen. Es gilt also, das "lrgendwie-Mitschwingen" des Grüßenden im Gruß genauer zu bestimmen. Zunächst geschieht dies dadurch, daß Heidegger anmerkt, daß der Grüßende im Gruß insofern mitspricht, als er dort nicht sein Eigenes aufoktroyieren will, sondern gerade den Gegrüßten beschenken: Sofern der Grüßende überhaupt und in einer Hinsicht notwendig von sich sagt, sagt er gerade, daß er für sich nichts will, sondern alles dem Gegrüßten zuwendet, alles das nämlich, was im Grüßen dem Gegrüßten zugesagt wird. Das ist all jenes, was dem Gegrüßten gebührt, als dem, das es ist. 7

GA 52: S. 42. GA 52: S. 50. 5 GA 52: S. 50. 6 GA 52: S. 50. 7 GA 52: S. 50. 3

4

262

3. Kap.: Hölderlins Hymne »»Andenken«

Das Grüßen ist also kein Einfordern der Aufmerksamkeit des Anderen fiir sich, sondern das Zueignen bzw. Übereignen all des im Gruß Zugesagten. Im ursprünglichen Grüßen wird dem Anderen das seinem Wesen Gebührende zugesagt: "Das jeglichem Seienden zuvor Gebührende ist das Wesen, aus dem es ist, was es ist. Der echte Gruß ist ein Zuspruch, der dem Gegrüßten den ihm gebührenden Wesensrang zuspricht und so das Gegrüßte aus dem Adel seines W esens anerkennt und durch dieses Anerkennen sein läßt, was es ist. "• Im letzten Satz sammeln sich die wesentlichen Bestimmungen des ursprünglichen Grußes, die es zu bedenken gilt. Der Gruß wird als erstes durch das "Zusprechen" gekennzeichnet. Weiter oben sahen wir bereits, daß der Gruß nichts fiir sich fordern will, sondern das Gegrüßte in gewisser Weise beschenken. Dieses Geschenk, dieser Zuspruch, spricht nun nicht etwas Zufälliges dem Gegrüßten zu, sondern das Wesentliche. Solcher Zuspruch ist kein "Setzen", sondern vollzieht sich als "Lassen"; er zwingt nicht das Wesen des Gegrüßten ins Sein, sondern läßt es in die offene Anwesung gelangen. Diese Offenheit besteht in dem Anerkennen, das nicht etwas über das Gegrüßte zu erkennen vermeint, sondern welches das Wesen des Gegrüßten als eben genau dieses in der Weise, wie es sich von sich selbst her zeigt, anerkennt, d.h. von sich aus anwesend sein läßt. Diese Anerkennung bezieht sich sowohl auf die Weise, wie und als was das Gegrüßte sich im Offenen zeigt und wie es auf die Bewandtnisganzheit des Offenen bezogen ist (den "Rang"), als auch auf die Weise, von woher das Gegrüßte in diese Offenheit gelangt (den "Adel", d.h. die Herkunft seines Wesens). Es ist natürlich so, daß sich faktisch in bezug auf die Ursprünglichkeit des Grüßens eine enorme Spannweite eröffnet: "Auch hier sind Stufen vom flüchtigen, konventionellleeren Gruß bis zur Seltenheit des echten Grußes und bis zur Einmaligkeit dieses dichtenden Grußes. "9 Weil das Grüßen kein festsetzendes Zur-Kenntnis-Geben ist, sondern ein Anerkennen des Gegrüßten, waltet zwischen dem Gruß und dem Gegrüßten eine seltsame Art des Bezogenseins. Der Gruß ent-läßt den Anderen in sein Wesen und doch geschieht dies auf eine Weise, in der auf das Gegrüßte nicht hantierend zugegriffen wird: "Das Grüßen ist ein Hinlangen zum Gegrüßten, ein Rühren an ... , das doch nicht berührt, ein Fassen, das doch einen >Zugriff< nie nötig hat, weil es zugleich ein Loslassen ist..." 10• Der Gruß rührt an das Wesen des Gegrüßten und doch ohne dadurch beim Gegrüßten sich "anzubiedern" oder gar mit ihm zu rechnen: "Das Grüßen bleibt dergestalt immer ein Wille der Zugehörigkeit zum Gegrüßten und hat doch nie die Art der Anbiederung GA 52: S. 50. GA 52: S. 50. 10 GA 52: S. 50.

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§ 11. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

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und des rechnenden Aufeinanderrechnens." 11 Der Gruß stiftet also eine Zugehörigkeit, welche die Zugehörigen in ihrem Wesen frei sein läßt bzw. in dieses Wesen "losläßt" (den Grüßenden als Grüßenden, den Gegrüßten als Gegrüßten), wobei diese Zugehörigkeit auch nicht als eine Art "Symbiose" faßbar ist, in der die Zueinandergehörigen sich nur tolerieren, weil sie von einander profitieren. Im ursprünglichen Grüßen gibt es keinen handgreiflichen Profit. Dennoch können die im Vollzug des Grüßens Eingelassenen eine gewisse Verwandlung erfahren: "Im echten Gruß verbirgt sich sogar jene geheimnisvolle Strenge, durch die jedesmal die Sichgrüßenden in die Feme ihres eigenen Wesens und seiner Bewahrung gewiesen werden;" 12• In gegenseitiger Wesensanerkennung werden die Sichgrüßenden in die Offenheit ihres Wesens verwiesen, die eine eigene Feme mit sich bringt; der, die oder das Gegrüßte kann durch den Gruß eigens in diese Feme gelangen, die ansonsten zwar unscheinbar immer waltet, aber vom Gegrüßten einfach vergessen sein kann. Der Gruß vermag durch das Erscheinenlassen des Wesens des Gegrüßten den Gegrüßten auf sein Wesen (wieder) aufmerksam zu machen. Die Achtsamkeit auf die unauslotbare Feme des Wesens und die Bewahrung dieser bleibt Aufgabe, die niemals "erledigt" werden kann; deswegen genügt nicht nur "ein Gruß", sondern "jedesrnal" weist der Gruß in diese Aufgabe. Daher waltet im Gruß verborgen immer auch der Aufruf zur W esensbesinnung, wobei sich die gewaltige Aufgabe der Wesensbesinnung in der unscheinbaren Harmlosigkeit des Grußes verbirgt. Die Strenge, die im Gruß sich geheimnisvoll mitbekundet, betrifft die W esensdifferenz der Sichgrüßenden: "denn alles Wesenhafte ist je durch sein Eigenes unbedingt fern dem anderen." 13 Jedem Wesen ist unwiderruflich sein Eigenes mitgegeben, welches nicht zuläßt, verwechselt oder einfach vermischt zu werden. Dies schließt natürlich nicht aus, daß das eigenste Wesen auf Andere bezogen bleibt. Wir sahen bereits, daß gerade aufgrund von solchem Bezug das eigene Wesen zu einem eigentlichen werden kann. Die Feme besteht zum einen darin, daß alle Wesen aufgrund ihres ureigenen Wesens niemals zu einer undifferenzierten, bestandhaften Einheit verschmelzen können. Die Wesen sind natürlich (auch ontologisch) aufeinander bezogen, aber so, daß sie sich- wenn sie ihrem Wesentreu bleiben- gegenseitig im Wesen nicht vereinnahmen, sondern bejahen. Zum anderen schenkt die Feme aber auch die Möglichkeit einer Verbundenheit auf anderer Ebene. Denn alle Wesen haben das eigene Wesen nicht "aus sich", sondern haben dieses empfangen. Ihre Differenz verdankt sich also GA 52: S. 50. GA 52: S. 50f. 13 GA 52: S. 51.

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3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

einer gemeinsamen Herkunft, durch welche die augenblickshafte, innigste Verbundenheit zwischen den Wesen erfahren werden kann: "Doch diese Feme allein verbürgt auch die Augenblicke des Übergangs von Einem zum Anderen." 14 In solchen Augenblicken des Übergangs erfahren Sichgrüßende ihr Gemeinsames, aufgrund dessen sie einander fern bleiben dürfen und d.h. gegenseitig im eigenen (d.h. weltoffenen) Wesen sich bejahen. Die Feme wird hier zu dem, was die Möglichkeit des Überganges verbürgt. Nur weil Seiendes ureigenes Wesen hat, kann es zu einem Übergang kommen, kann die gemeinsame Herkunft als der wesensfreigebende Grund erfahren werden. Fern Geschiedenes kann sich gegenseitig in diese gemeinsame Herkunft einweisen, und so kann es zu einem ursprünglichen Übergang kommen, in dem beide ihr Gemeinsames erfahren, aber als ein solches, das gerade die Differenz bejaht, damit das Differente aus je seiner Feme das Andere ergänzt. "Echtes Grüßen ist eine Weise solchen Übergangs. "15 Im Grüßen spricht also-zumal die Feme und die Gemeinsamkeit bzw. Einheit, aber nicht im Sinne einer Verschmelzung, sondern im Sinne eines augenblickshaften Übergangs. In dem ursprünglichen Übergang kehren die Wesen nicht in einen Schmelztigel ein, sondern sie kehren aus dem Übergang erneut in die Feme ihres unauslotbaren Wesens ein und erfahren dieses je immer neu (mit den darin angelegten je immer neuen Möglichkeiten der Sorge um das Andere). Im Grüßen kann sich also das Gegrüßte "fmden": "Der einfachste aber zugleich innigste Gruß ist jener, durch den das Gegrüßte erst eigens in sein Wesen neu zurückkehrt, wie ein Anfängliches erscheint und sich wie zum ersten Mal fmdet. " 16 Das Gegrüßte wird durch den Gruß in die Offenbarkeit seines ureigenen W esens entlassen und so in die Feme und Unauslotbarkeit seines Seins verwiesen, dessen Ge- und Bewahrung Aufgabe bleibt. Aus der Erfahrung dieses durch den Gruß offenbar gewordenen Wesens kann es zum "Übergang" kommen, in dem das Gegrüßte in die gemeinsame Herkunft des Grüßenden und Gegrüßten einkehrt und aus ihr sich wieder in die Begabung des eigenen Seins zurückgegeben erfährt, wobei dieses Sein nie gänzlich "gekannt" ist, sondern immer neu und ursprünglicher erfahren werden kann und in solcher Erfahrung sich das Wesen anfänglich bzw. "wie zum ersten Mal" darbietet. Mit dem nächsten Satz erweist Heidegger die Untersuchung des Grüßens in seiner Relevanz für das Gedicht "Andenken": "Nur wenn wir den Gruß so wesentlich denken, ahnen wir die Weise, wie Hölderlin durch den Nordost und

GA 52: S. 51 . GA 52: S. 51 . 16 GA 52: S. 51 .

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§ II. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

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durch dessen »Gehen« grüßen läßt: ... " 17 • Der Gruß in "Andenken" ist also einer, der das Gegrüßte in seinem Wesen erscheinen läßt, das Gegrüßte in seiner Weise des Erscheinens würdigt und ebenso seine Herkunft beachtet. Der Gruß versteift sich nicht auf den Standort des Grüßenden, sondern er läßt zunächst von diesem ab und übergibt sich dem Wehen des Nordostwindes, der ihn dem Gegrüßten zuträgt. Was genau mit diesem Gegrüßten gemeint ist, wird sich erst im Laufe der Untersuchung zeigen. Zunächst scheint es das südliche Frankreich zu sein, wie es die folgenden Zeilen nahelegen (dessen wesenhafte Bewandtnis in diesem Gedicht jedoch wo anders liegt). Gegrüßt werden soll: Die schöne Garonne, Und die Gärten von Bourdeaux Dort, wo am scharfen Ufer Hingebet der Steg und in den Strom Tief fällt der Bach, darüber aber Hinschauet ein edel Paar Von Eichen und Silberpappeln; 11 In dem Ablassen des Standortes verliert sich jedoch der Grüßende nicht, da er ja nicht sich, sondern den Gruß mit dem Wind ziehen läßt. Im Ziehen-Lassen empfangt er viel eher sein eigentliches Wesen. Der Gruß befreit das Gegrüßte zu seinem Wesen, und der Grüßende erfahrt sich von der Wesensfmdung des Gegrüßten erneut angesprochen. Beide werden im Wesen nicht vermischt, sondern es kommt (formal-anzeigend gesprochen) höchstens zu einem Übergang, in dem beide das Gemeinsame ihrer Herkunft erfahren, um noch eigentlicher sich das Eigene gegenseitig zu gewähren und dadurch ihre gegenseitige Differenz gerade Differenz sein zu lassen, weil sie diese als zu-gelassen aus der gemeinsamen Herkunft erfahren. Das Phänomen des Grußes kann abschließend in einem Satz zusammengefaßt werden: Der Gruß sagt also von einem Zulassen des Wesens von Anderem, das zugleich dieses Andere auf sein Wesen aufmerksam macht und übergangsmäßig zur eigentlicheren Aneignung führen kann, aus welcher Aneignung wiederum ein gewandelter Zuspruch und Anspruch an den Grüßenden ergehen kann, der diesem in sein Wesen zu verhelfen vermag, das wiederum kein abgekapseltes monadisches ist, sondern ein (Welt-)Offenes (und sich sowohl in den gegenwärtigen Bereich als auch in den gewesenen und kommenden erstreckt.). Die feierliche Vorbereitung fiir solchen Übergang und das Festliche seines Vollzugs sowie das aus ihm entspringende gewandelte Welt-

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GA 52: S. 51 . GA 52: S. 51.

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3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

verhältnis, gilt es in den folgenden zwei Überlegungen ansatzweise zu bedenken.

II. Die Feiertage als Vorbereitung des Festes das Offenwerden für das Heilige Die "Feiertage" werden in der zweiten Strophe von "Andenken" angesprochen, die einen Einblick in das Gewesende des Gegriißten gibt: Noch denket das mir wohl und wie Die breiten Gipfel neiget Der Ulmwald, über die Mühl', Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum. An Feiertagen gehen Die braunen Frauen daselbst Auf seidnen Boden, Zur Märzenzeit, Wenn gleich ist Nacht und Tag, Und über langsamen Stegen, Von goldenen Träumen schwer, Einwiegende Lüfte ziehen.19

Zunächst mag es seltsam erscheinen, daß im Zuge dieser andenkenden Erinnerung gerade die Feiertage erwähnt werden. Aber Heidegger betont, daß es sich hier sicher nicht um eine Zufalligkeit handeln kann: "»An Feiertagen.... « Warum nennt Hölderlin, der in der Zeit seiner Hymnendichtung für kein Wort mehr eine Zufalligkeit und eine Aushilfe duldet, gerade die Feiertage?"20 Auch ist zunächst auffallig "daß Hölderlin in der Zeit der Hymnendichtung immer wieder die Feiertage und das Fest nennt. "21 Um dieser Begebenheit auf den Grund zu gehen, widmet sich Heidegger im folgenden der Auslegung des Phänomens des Feiertags. Heidegger schickt allerdings der Analyse des "Feiertages" noch den Hinweis voraus, daß dieser ausdrücklich im Titel der von uns im zweiten Kapitel untersuchten Feiertag-Hymne erwähnt wird: "Zunächst genüge der Hinweis darauf, daß die erste und d.h. alle kommenden in sich einschließende Hymne beginnt: »Wie wenn am Feiertage .... «"22 Das bedeutet, daß wir das im Zuge der Analyse GA 52: S. 19f. GA 52: S. 63. 21 GA 52: S. 63. 22 GA 52: S. 63 . 19

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§ II. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

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dieses Gedichtes Erarbeitete nicht nur hier mithören dürfen, sondern dazu gerade aufgefordert sind. Allerdings bietet uns die in dieser Vorlesung vollzogene Auslegung des Phänomens des "Feiertages" eine gewichtige Ergänzung, insofern der in der ersten Strophe von "Wie wenn am Feiertage ... " erwähnte Feiertag als Feiertag nicht im thematischen Zentrum von Heideggers Auslegung stand, obwohl er der Sache nach in der ganzen Auslegung mitschwang. Die in der "Andenken"-Vorlesung vollzogene Analyse des "Feiertages" konzentriert sich auf das "Feiern", das den Feiertag unter den übrigen Tagen auszeichnet: "»Feiertage« sind Tage des Feiems. Und das Feiern?"23 Ganz im Sinne der phänomenologischen Destruktion versucht Heidegger zunächst, die alltäglichen Vorstellungen vom Wesen der Feiertage auf ihre ursprüngliche Quelle hin sichtbar zu machen. Zunächst und zumeist wird der Feiertag vor allem negativ bestimmt: "»Feiern« bedeutet zuerst, aussetzen mit dem alltäglichen Tun, das Ruhenlassen der Arbeit. "24 Der daraus entstehende Freiraum ermöglicht die Zuwendung zu Nicht-Alltäglichem. Das "Wofiir", das die Zuwendung innerhalb des durch den Feiertag ermöglichten Freiraums leitet, bestimmt, inwiefern die Feiertage aufWesentliches hin ausgerichtet sind oder nicht: "Das bestimmt eben dieses »Feiern« selbst, gesetzt daß alles Feiern nicht das bloß Negative des Aufhörens mit der Arbeit ist, sondern noch aus eigener Wesenskraft stamrnt." 25 In diesem Satz deutet sich ein zwiefaches an: 1. Feiertage können einem "Wofiir" angehören, das ihnen eine eigene Wesenskraft verleiht; dies ist die ursprüngliche Quelle der wohlverstandenen Feiertage, die sich im Zuge der Analyse als das Fest enthüllen wird. 2. Feiertage können allerdings diese Wesenskraft verlieren und zu bloßen (im tieferen Sinne "sinnlosen") Arbeitspausen werden. Im Zuge der Destruktion wendet sich Heidegger zunächst einer Charakterisierung der zweiten Bestimmung zu: "Bleibt das Feiern jedoch nur das Aufhören und Aussetzen mit der Arbeit, dann muß die entstehende Pause anderswoher, nicht aus dem Feiern und durch dieses, sondern nur wieder aus einem Bezug zur Arbeit bestimmt werden. "26 Weil eben gerade die ursprüngliche eigene W esenskraft, die sich aus einem ursprünglichen "Wofiir" nährt, hier fehlt, kann es zu keiner positiven Bestimmung des Feiertages kommen. Hier zeichnet er sich lediglich dadurch aus, daß der Mensch an ihm eben nicht den alltäglichen Geschäften nachgeht, sondern sich von diesen erholt: "Das Feiern wird dann, von der Arbeit her gerechnet, ein Mittel der Entspannung und Erholung durch

GA 52: S. 64. GA 52: S. 64. 25 GA 52: s. 64. 26 GA 52: S. 64. 23

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3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

Unterhaltung." 27 Solche Erholung bleibt aber im Wesen immer notwendig auf das Unerholsame bezogen, ohne das es nicht das sein könnte, was es ist. In gewisser Weise werden dann die Feiertage sogar in den Dienst der Arbeitstage genommen: "»Feiern« sind dann im Grunde arbeitsdienliche Ausfüllungen von Arbeitspausen. "21 Solche Pausen dienen also zur Erholung von der Arbeit, um sich dieser nachher beflissendieher zuwenden zu können. Aber das uneigentliche, verstellte Wesen der Feiertage bleibt trotzdem auf das eigentliche, echte Wesen bezogen. Der ganze Sinn der phänomenologischen Destruktion nährt sich aus dem Eigentümlichen der Privationsphänomene, daß sie nämlich in ihrer "Beraubung" des Eigentlichen immer auch schon einen Hinweis auf dieses bergen. So kann Heidegger sagen: "Streng genommen jedoch empfangt schon das Feiern als Ruhenlassen der Arbeit seine Art nur aus dem ursprünglichen Wesen des Feierns."29 Dieses Wesen schwingt also auch in den Privationsformen mit, wobei ein Gewahren dieser Schwingungen einer Anstrengung bedarf, welcher der Mensch gewachsen sein muß: "Wir Heutigen sind diesem Wesen kaum mehr gewachsen, wenngleich es sich doch schon im geläufigen Feiern ankündigt." 30 Die Spur zum ursprünglichen Wesen des Feierns fmdet sich also überall dort, wo gefeiert wird - unabhängig von dem "Wofür" der Feiertage. Was aber ist diese Spur? Worin besteht das Ursprüngliche im Feiern, das sogar im geläufigen Ruhenlassen der Arbeit anklingt? Heideggers erster Hinweis lautet: Denn das Feiern als Innehalten mit der Arbeit ist nämlich bereits Ansichhalten, ist Aufmerken, ist Fragen, ist Besinnung, ist Erwartung, ist der Überschritt in das wachere Ahnen des Wunders, des Wunders nämlich, daß überhaupt eine Welt um uns weitet, daß Seiendes ist und nicht vielmehr nichts, daß Dinge sind und wir selbst inmitten ihrer sind, daß wir selbst sind und doch kaum wissen, wer wir sind, und kaum wissen, daß wir dies alles nicht wissen. 31 Jedes Feiern ist, insofern es von der gewöhnlichen Arbeit abläßt, ein Moment des Innehaltens. In diesem Moment geschieht - in welchem Ausmaß auch immer- ein Wachwerden für den Sinn des aus dem Innehalten hervorkommenden Freiraums, der eine Zuwendung zu Unalltäglichem ermöglicht. In diesem Moment bricht die Frage nach dem "Wofür" auf; es bricht die Erwartung von GA 52: S. 64. GA 52: S. 64. 29 GA 52: S. 64. 30 GA 52: S. 64. 31 GA 52: S. 64. 27

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§ 11. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

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Unalltäglichem auf. In solcher Erwartung, in solchem Aufmerken hält der Mensch - wenn auch nur kurzfristig - mit seinem Tun an sich, um das erwartete, geahnte Wunder sich zeigen zu lassen. Kurzfristig kann die Frage nach dem "Warum-überhaupt?" aufbrechen, die im alltäglichen Leben durch zahllose, naheliegendste "um-zu" Antworten auf ontischer Ebene überschüttet wird. Jedoch will Heidegger natürlich nicht behaupten, daß jedes Feiern "automatisch" schon ein eigentliches Sich-versetzen-Lassen in die Grundfrage nach dem "Sinn von Sein überhaupt" ist. Vielmehr bringt jedes Feiern den Menschen an die Schwelle zu dieser Frage: "Das Feiern als solches Innehalten bringt uns so schon an die Schwelle der Besinnung und damit in die Nachbarschaft des Fragwürdigen und damit noch einmal an eine Grenzscheide. "32 Diese Schwelle ist also einerseits schon dem ursprünglichen Wesen des Feierns nahe; der Mensch steht an ihr in der Nachbarschaft zur Grundfrage. Aber dadurch, daß er an diese Schwelle gelangt ist, hat er sie noch nicht überschritten, d.h. er steht zwar durch das Ablassen vom Verstreutsein im Alltäglichen im Zuge eines weitherkommenden Besinnungsraumes, aber sein Verhalten zu diesem Zug ist noch nicht entschieden. Denn dieser Sesinnungsraum enthält keine vorgefertigten Schemen und Antwortmuster (wie es sie in der Arbeitswelt gibt) und zeigt sich so zunächst als Leere; zwar hörten wir bereits während der Analyse des Zeit-Raumes in den Beiträgen, daß diese Leere gerade der Nährboden für die Fülle des Seins ist, jedoch liegt diese Einsicht nicht auf der Hand. Daher kann es leicht dazu kommen, daß der Mensch, wenn er den Zug des ursprünglichen Wesens des Feierns zu spüren beginnt, vor dieser Leere zurückschreckt und sich mutwillig für diese betäubt bzw. sich nur als Betäubter ihr aussetzen will: "Denn jetzt kann es sein, daß wir im Innehalten mit der Arbeit doch ins Leere geraten; mit uns selbst nichts anzufangen wissen, Aushilfen suchen; und alsbald sind die Zeiten des Feierns unversehens zu Gelegenheiten der Flucht vor uns selbst und zu Anlässen der Betäubung geworden. "33 Gerade weil an Feiertagen die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt und damit die Frage nach dem Sinn des Selbst-seins aufbricht, die in der Arbeitswelt zumeist unterdrückt wird, kann die Leere, die eigentlich dem Menschen den Freiraum zu seiner wesensmäßigen Entfaltung erst freigibt, als penetrant unangenehm empfunden werden, weil sie aufzeigt, wie sehr das Eigentliche im Alltag übergangen wird und wie viel hier von dem verabsäumt wird, was der Mensch seinem Wesen eigentlich schuldig wäre. Dieses Unangenehme führt dann zur Flucht vor der Frage nach dem eigenen Selbst und oft zur Betäubung, die den Schmerz der Wesenslosigkeit lindern soll, in Wahrheit aber die Sammlung auf

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GA 52: S. 64. GA 52: S. 64f.

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3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

den Grund dieses Schmerzens nur immer mehr in die Feme rückt und eine wahrhafte Heilung dadurch verhindert. Solche Fluchtversuche können durchaus auch organisiert bzw. institutionalisiert werden. Einerseits wird eingesehen, daß der Mensch momentanen "Atemraum" braucht, der ihm erlaubt, sich vom Alltäglichen zu lösen (warum bleibt unklar), andererseits darf diesen Momenten nicht zuviel Gewicht zugemessen werden, da in ihnen der Mensch sich zur Frage werden kann und der anfängliche Schmerz dieser Frage sowohl mit einer effizienten Arbeitserledigung unvereinbar ist, als auch auch von den Menschen selber gescheut wird. Daher können die Feiertage "je nach Bedarf" bestellt werden: "Aus der Notwendigkeit des unbedingten Vorrangs der »Arbeit« werden dann »Feiertage« wie die Arbeit selbst entweder eingerichtet oder abgeschafft. »Feiertage« sind dann Einrichtungen menschlicher Mache. "34 Damit ist der ursprüngliche Sinn des Feiertages, nämlich das Freiwerden für die Besinnung auf das Eigenwesen und die Zugehörigkeit dieses zum Sinn von Sein überhaupt, auf den Kopf gestellt; Feiertage werden zur Vorbereitung für ein effizienteres Hantieren von Seiendem, das mehr Gelegenheit bietet für das reibungslose Sichaufhalten bei Seiendem, wobei in diesem immer glatter werdenden Übergangscharakter von einem Seienden zum nächsten die Frage nach dem Sinn des Ganzen effizienter verdrängt wird. "Das Wesen des Feiertags ist so überallhin in das Gegenteil verkehrt. Aber dies Unwesen des Feiern bestätigt nur das Wesen." 35 Immer wieder betont Heidegger, daß sich das Unwesen nur vom Wesen (parasitär) nährt. Je mehr der Mensch vor den wesentlichen Fragen flieht, desto mehr erweist sich, wie kraftvoll bzw. brennend das in ihnen Gefragte eigentlich ist. Eine Welt, zu welcher der Mensch kein ursprüngliches Verhältnis hat, d.h. zu der er nicht mehr in einem Bezug steht, der sowohl das Eigene des Selbst als auch das Eigene der Welt wahrt, bringt Heidegger hier mit dem Uneigentlichen zusammen. "Dieses Uneigentliche beansprucht unser eigenes Wesen nicht mehr; der Bezug zwischen Ding und Mensch verödet im Geläufigen. "36 Die Gegebenheit des Weltbezugs ist hier kein staunenerregendes Wunder, sondern das Gewöhnliche, Banale, oft wohl auch das Lästige, Bedrückende, Langweilige. Es ist jedoch nicht so, daß Heidegger diese Art des Weltbezugs als "notwendiges Schicksal" der Menschen ansetzt. Heidegger will weder sagen, daß der Mensch hilflos solcher Verödung ausgesetzt wäre und sie nur stoisch zu

GA 52: S. 65. GA 52: S. 65. 36 GA 52: S. 65 . 34

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§ ll. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

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ertragen hätte. Noch will er das alltäglich Seiende an sich degradieren und zugunsten des Ungewöhnlichen (des Seins) "heruntermachen". Am wenigsten will er wenige Menschen damit auszeichnen, daß einzig sie als diejenigen, die das Alltägliche verachten und sich dem Unalltäglichen widmen, "bessere Menschen" in einem moralischen Sinne wären. Ausdrücklich heißt es bei Heidegger: "Dinge und Menschen der Alltagswelt müssen nicht diesen Zug der Uneigentlichkeit und solcher Gewöhnlichkeit haben;" 37• Hieraus geht eindeutig hervor, daß der Alltag nicht zur Verödung verdammt ist und daß es sehr wohl echte Weisen des alltäglichen In-der-Welt-seins geben kann. Eine Sorge um das Ungewöhnliche an den Feiertagen hat gerade keine künftige Verabscheuung aller Arbeitstage im Sinn, sondern ein gewandeltes Verhältnis, das selbst im Alltäglichen etwas von dem Ungewöhnlichen bewahrt, wodurch auch das Alltäglich-Einfache in seiner eigenen Würde aufscheinen kann. Während der Analyse der Feiertag-Hymne im 2. Kapitel sahen wir unzweideutig, daß denjenigen Menschen, die sich vom Ungewöhnlichen angesprochen erfahren, nichts anderes aufgegeben ist, als diese Erfahrung gemildert 1n den Alltag der Mitmenschen hineinzubergen, damit diese in die Würde ihres Wesens gelangen können. Die Auszeichnung der "Zukünftigen" ist also gerade keine moralische oder ontologische "Höherstellung", sondern eher noch eine "Dienststellung" (ausgezeichneter Art), da sie durch die ihnen zuteil gewordene Erfahrung größere Aufgaben zu übernehmen haben. Diese Aufgaben zeichnen sich gerade nicht durch "weltlichen" Ruhm und Vorzug aus, sondern dadurch, daß sie dem alltäglichen Verständnis trotz der ursprünglichen Bedeutsamkeit des Aufgegebenen immer wie Unscheinbares, Unschuldiges erscheinen, zu dessen Bewältigung es "nicht viel braucht". Gerade weil die "Zukünftigen" sich in ihrem ureigenen Wesen als er-eignet erfahren, erkennen sie ihre Wesenswürde darin, Anderen in ihr Wesen zu verhelfen. Die Gabe des Seins ruft zur Sorge um den Mitmenschen. Denn obwohl dieser niemals gezwungen ist, seinen Weltbezug im Belanglosen und Gewöhnlichen veröden zu lassen, tut er dies dennoch zumeist: "allein sie haben ihn [=den Zug der Uneigentlichkeit] zumeist. "38 Das Uneigentliche herrscht dann, wenn der Weltbezug kein für Mensch und Welt befreiender ist, wenn im Alltäglichen nicht auch das On-alltägliche mitanwesen darf, wenn nur noch das Geläufige zählt und alle Sorge nur noch dessen Hantierbarkeit gilt und nichts sorgloser mißachtet wird als das Ungewöhnliche:

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GA 52: S. 65. GA 52: S. 65 .

3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

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Sie haben ihn [=den Zug der Uneigentlichkeit] zumal dann, wenn das Eigentliche der Dinge und Menschen unzugänglich, wenn das Ungewöhnliche verschlossen, wenn das Wissen davon verloren und die Sorge darum erloschen ist. Dies tritt in dem Augenblick ein, da wir die Sorge nur noch als Betrübnis und Bekümmernis, als geschäftliche Bemühung und als Unruhe der Machenschaften verstehen, statt zu erkennen .... 39

Das "statt zu erkennen" verweist schon wieder auf den Bezug zum Wesentlichen, den das Unwesentliche in seinem Herzen trägt, von dem es lebt, ohne sich darum zu kümmern. Dieses Eigentliche deutet Heidegger so an: " ... statt zu erkennen, daß die Sorge noch anderen Wesens ist, nämlich der Gehorsam der Bewahrung einer Zugehörigkeit zum Wesenhaften alles Seienden - d.h. zum Eigentlichen, das immer das Ungewöhnliche ist. ···o Der "Gehorsam" ist hier sicher kein "blinder", d.h. Heidegger fordert als Öffnung für das Wesentliche nicht eine fanatische Unterwürfigkeit, sondern die prinzipielle Bereitschaft, auf einen Zuspruch zu hören und sich von ihm ansprechen zu lassen. Dieser Anspruch spricht von der Zugehörigkeit des Hörenden, d.h. des Menschen, zu dem sich zuwerfenden Wesenhaften allen Seins. Der Mensch ist in das Ereignis des Anwesens des Seins eingelassen, und zwar als "notwendiges" Wesen, wobei diese Notwendigkeit des Gebrauchtseins vom Sein gerade die Wesenswürde des.Menschen ausmacht, die in dem Wort "Zugehörigkeit" geborgen ist. Das Sein als das Eigentliche ist stets das Ungewöhnliche in dem Sinne, daß es nie zu einem beständig vorhandenen, allgemein bekannten Seienden wird, sondern anfänglich immer neu aus dem Urgrund in die vom Menschen wesentlich mitkonstituierte Offenheit anwest. Dieses ungewöhnliche Anwesen des Seins ist allerdings nicht adversativfeindlich dem Gewöhnlichen gegenüberzustellen. Vielmehr ruft das Ungewöhnliche danach, im Gewöhnlichen Halt zu bekommen. Dies geschieht, wie wir schon öfters sahen, in der Bergung. Das Gewöhnliche wiederum erfährt durch seinen Bezug zum Ungewöhnlichen, d.h., dadurch daß es geborgenes Ereignis ist, einen Glanz des Ungewöhnlichen, der ihn vor der Verödung in die Seinsverlassenheit bewahren kann - wenn die Menschen ihn vernehmen. "Das Ungewöhnliche ist das ständig Wesende, Einfache und Eigene des Seienden, kraft dessen es sich im Maß seines Wesens hält und dem Menschen das Maßhalten abfordert. Im Gewöhnlichen kann daher das Ungewöhnliche am reinsten erscheinen. "41 Das Gewöhnliche ist niemals das bloß Bedingte, ZuÜberwindende, sondern gewissermaßen der "Hafen" des Ungewöhnlichen, wo dieses - "meerbezogen" - zur Ruhe seines milden Scheinens kommen kann. In 39 40

41

GA 52: S. 65. GA 52: S. 65. GA 52: S. 66.

§ 11. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

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solchem Scheinen erscheint das Maß des Seienden und der Anspruch an den Menschen, sich um dieses zu sorgen, d.h. es nicht zu überfordern oder verwahrlosen zu lassen. Der ursprüngliche Sinn des Feierns und somit der Tage, an denen dieses gepflogen wird, nämlich der Feiertage, ist durch die vorangegangenen Überlegungen erhellt worden. Im Lichte dieser Helle faßt Heidegger noch einmal folgendes zusammen: "Feiern ist das Freiwerden vom nur Gewöhnlichen durch das Freiwerden fiir das Ungewöhnliche."42 Das "Wofiir" der Feiertage ist also das, was zunächst als das Ungewöhnliche charakterisiert wird. Dieses ist nicht als Privation des Gewöhnlichen aufzufassen, aber, wesensmäßig gedacht, muß auch das "Gewöhnliche" nicht privativ sein. Das Ungewöhnliche vermag dem Gewöhnlichen erst seine eigentliche Wesenswürde zu verleihen, die allerdings zum "bloß Gewöhnlichen" im Sinne einer faden Belanglosigkeit entarten kann. Heidegger fährt fort: "Feiern ist Aufborehen auf das, was Stifter das »sanfte Gesetz« nennt, ist Erwartung des Eigentlichen, ist Vorbereitung der Aneignung des Wesenhaften, ist Erharren des Ereignisses, in dem das Wesenhafte sich offenbart."43 Das Feiern ist ein jähes, achtsames Horchen, welches das Ereignis erwartet und vorbereitet, in dem und durch welches das Wesenhafte, das Eigentliche ans Licht tritt. Dieses Ereignis ist kein innerweltliches, sondern es ist hier terminologisch als "das Ereignis" zu denken, von dem die Beiträge sagen. Obwohl Heidegger hier kein eigenes Gewicht auf dieses Wort legt, obwohl er es nicht näher erläutert, muß es der Sache nach im streng terminologischen Sinne gedacht werden. Immer deutlicher wird sich erweisen, daß die Feiertage von uns unbedingt auch als Vorbereitung des Ereignisses zu denken sind. Im nächsten Satz betont Heidegger, daß diese Vorbereitung gerade nicht dadurch erzwungen werden kann, daß möglichst viel Aufwand im Seienden betrieben wird. Das Ereignis läßt sich also gerade nicht von menschlicher Seite her durch das Betreiben von Seiendem herbeizwingen, sondern es gibt vielmehr von sich aus die Weisung, wie der Mensch seine Hand der Wesenswürde des Seienden entsprechend anlegen kann: "Die Feier wird feierlicher nicht durch die Steigerung und Ausdehnung von Veranstaltungen und nicht durch die Aufblähung des Pompösen und des dazu inszenierten Lärms. "44 Der Feiertag zeichnet sich ursprünglich nicht durch eine nachweisbare Leistung des Menschen aus, sondern durch seine Gabe, das Wesentliche zu erwarten: "In

GA 52: S. 66. GA 52: S. 66. 44 GA 52: S. 66. 42 43

18 Helting

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3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

dem Grade als ein Tag erwartungsvoller ist im Hinblick auf das Erscheinen des Wesenhaften, in demselben Grade ist er auch ein Feiertag."45 Das, was die Feiertage erwarten, das, wofiir sie vom Alltäglichen ablassen, wurde als das Wesentliche, das Eigentliche und sogar als das Ereignis charakterisiert. Ein weiteres Wort dafiir ist "das Fest": "Die Feier ist dann feierlicher, wenn sie erwartender wird fiir das eigentliche Fest. "46 Die Feiertage bereiten somit kein beliebiges "Fest" vor, sondern das eigentliche Fest. Daß das Fest kein beliebiges ist, will sagen, daß es keine willkürliche Einrichtung bzw. "Erfindung" des Menschen zu irgendeinem "allzu irdischen" Zwecke ist: "Das Fest ist nicht bedingt durch das Machen der Menschen, die >ein< Fest zu irgend einem Zeitpunkt von sich aus >ansetzen< und irgendwo >inszenieren>Das Fest« aber ist für Hölderlin wesenhaft »das Brautfest«, das »Menschen und Götter« feiern. "52 Das "Brautfest" ist nicht das denkerische, wohl aber das dichterische Wort für diese Begegnung: "»Brautfest«, das fast zögernde dichtende Wort für Fest...Das Fest ist das Ereignis des Entgegenkommens der Götter und Menschen."53 Hier fällt das Wort "Ereignis" abermals. Dieser Satz legt, ohne den Hinweis zu entfalten, nahe, daß die Begegnung von Göttern und Menschen ein wesentlicher Zug des Ereignisses ist. Wir müssen daher kurz einen Blick in die Beiträge werfen, um zu sehen, ob und wie diese Begegnung dort gedacht wird. Wie heißt das denkerische Wort für diejenige Begegnung, die dichterisch im "Brautfest" angesprochen ist?

a) Zehnter Exkurs: Die Entgegnung: Das denkerische Wortfiir das Aufeinandertreffen von Mensch und Gott (Götter) Das denkerische Wort für die Begegnung der Götter mit den Menschen, das an mehreren Stellen in dem 8. Hauptteil ("Das Seyn")5• der Beiträge angesprochen und erläutert wird, lautet: die Entgegnung. So heißt es z.B. im 270. Abschnitt: "das Seyn, die erstreitende Er-eignung zur Entgegnung der Götter und des Menschen. "55 Um den hier angesprochenen Sachverhalt zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie Heidegger die Ent-gegnung innerhalb des Ereignisgefüges denkt. Einen systematischen Hinweis hierzu gibt uns der 267. Abschnitt, der betitelt ist "Das Seyn (Ereignis)".56 In diesem Abschnitt werden die mannigfaltigen Züge des Ereignisses gegliedert entfaltet. Der erste Gliederungspunkt sagt: Ereignis ist: I. die Er-eignung, daß in der Notschaft, aus der die Götter des Seyns bedürfen, dieses zur Gründung seiner ihm eigenen Wahrheit das Da-sein er-nötigt

52GA 52: S. 69. 53 GA 52: S. 69. In diesem Teil werden die Fügungen des Ereignisses rückblickend und zusammenfassend noch einmal durchdacht. 55 GA 65 (Beiträge zur Philosophie. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1989): S. 484. 56 Eine ausführliche Interpretation der Ent-gegnung wird von Daniela Neu in ihrer Dissertation unternommen (Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion Berlin: Duncker & Humblot, 1997: S. 214-224). 54

§ 11. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

277

und so das Zwischen, die Er-eignung des Daseins durch die Götter und die Zueignung der Götter zu ihnen selbst zum Er-eignis wesen läßt. 51

Deutlich geht aus diesem Punkt hervor, daß die Ent-gegnung innerhalb des Ereignisses zu denken ist. Menschen und Götter begegnen sich innerhalb des Geschehens, in dem aus dem Verborgenen Sein zu eigen gegeben wird. Von den Göttern wird gesagt, daß sie des Seins bedürfen, und zwar aus einer Notschaft In der 6. Fuge (der letzte Gott) wird betont, daß solches Brauchen nicht als Mangel zu verstehen ist, der etwas von der Größe des Göttlichen berauben würde: "... das sich und seiner Größe nichts vergebende Eingeständnis des Gottes, des Seyns zu bedürfen." 58 Das Positive in diesem "Bedürfen" bzw. "Brauchen" wird ersichtlicher, wenn wir uns daran erinnern, daß die Götter in der Auslegung der Feiertag-Hymne sich als diejenigen Wesen erwiesen, die einerseits nicht der Grund des Erscheinens des Seyns sind, sondern selber im ereignenden Zuwurf in die Offenheit anwesen, d.h. selbst auf gewisse Weise in die Erscheinung, in das Sichzeigende gehören. Andererseits sind sie innerhalb dieses Erschienenen die "Höheren", insofern sie den Urgrund des Seyns reiner zum Vorschein bringen. Dieser Urgrund zeichnet sich aber vor allem durch das Sichentziehen aus, das zu ureigenem Sein freigibt. Daher waltet im Göttlichen das Wesensmoment des Entzugs stärker mit. Sie zeigen sich zwar, aber immer mit der Betonung auf das Sichentziehende in jeglichem Sichzeigen. Insofern sich die Götter zeigen, brauchen sie den Anwesenheitsraum des Seyns. Um als Gebende auf die im Seyn verborgene Urgabe hinweisen zu können, muß das Seyn gegeben sein. Die Größe der Götter besteht nicht in ihrer Unabhängigkeit, sondern gerade in ihrem Bezogen-sein auf das im Ereignis Ereignete, so zwar, daß sie dieses mit dem Hinweis auf seine Herkunft beschenken. Das Seyn wiederum braucht, um in seinem Anwesen erscheinen zu können, den Menschen als das Da-sein, d.h. als die Lichtung, in die es anwesen kann und in der es im Seienden zum Stand kommen kann. Durch die "Notschaft" der Götter (nämlich: im brauchend-beschenkenden Bezug zum Seyn zu wesen) werden sie auf das Dasein bezogen, denn dieses vermag allein die Lichtung des Seyns gestimmt-verstehend offenzuhalten und so auch den Göttern ihren Erscheinungsraum einzuräumen. Das Wesen des Menschen zeichnet sich gegenüber anderen Wesen durch seine einzigartige Bezogenheit nicht nur zum Seyn, sondern auch zu den Göttern aus. Die Begegnung von Göttern und Menschen ereignet sich in dem Zwischen, das durch diese Begegnung aus dem Ereignis gestiftet wird. In dem oben zi-

51 SB

GA 65: GA 65:

s. 470. s. 413.

3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

278

tierten Satz hieß es, daß das Dasein durch die Götter er-eignet wird und die Götter ihnen zugeeignet werden. Dies sind jedoch keine festen Termini in den Beiträgen; derselbe Sachverhalt spricht sich in anderen Worten am Anfang der Beiträge folgendermaßen aus: "Das Ereignis übereignet den Gott an den Menschen, indem es diesen dem Gott zueignet."59 Was im 267. Abschnitt das "Zueignen" genannt wird, heißt hier (im 7. Abschnitt) das "Übereignen", und was dort (267.) "er-eignet" genannt wird, heißt hier (7.) das "Zueignen". Der Sachverhalt ist jeweils derselbe, jedoch gilt es die Differenz in der Terminologie eigens hervorzuheben, um Verwirrung zu vermeiden. Wir halten uns im Zuge der folgenden Besprechung an die Wortwahl des 7. Abschnittes. Der Bezug von Gott und Mensch, der aus dem Ereignis gestiftet wird, ist ein gegenwendiger. Der Gott wird an den Menschen übereignet. Bezüglich der Art und Weise, wie dies geschieht, gibt der mit "indem" beginnende Modalsatz Aufschluß: indem der Mensch dem Gott zugeeignet wird, wird zumal das Göttliche auf den Menschen in der zu klärenden Weise des "Übereignens" bezogen. Was aber bedeutet diese "Zueignung"? Das Menschenwesen wird gewissermaßen dem Göttlichen "gewidmet", d.h. in besonderer Weise ist der Mensch auf das Göttliche hin ausgerichtet. Der Mensch steht ausgezeichnet unter allem Seienden in einem offenständigen Bezug zu dem Göttlichen und vernimmt es als solches. Dadurch daß der Mensch die Lichtung des Seyns aussteht, in der alles (also auch das Göttliche) anwest, das Göttliche aber niemals wie Seiendes anwesen kann, sondern nur geschehnishaft im Verweisen auf das Ereignis vernommen werden kann, hängt das Erscheinenkönnen gewissermaßen vom Menschen ab, der "Wächter" bzw. "Hüter" dieser Offenheit ist. Dieses "Abhängen" will natürlich nicht sagen, daß der Mensch von sich aus das Erscheinen der Götter bewerkstelligen könnte, aber es sagt, daß das Sich-vonsich-selbst-her-Zeigen des Göttlichen darauf angewiesen ist, daß es als solches wahr- und in die Hut genommen wird. In diesem Sinne ist das Göttliche dem Menschen übereignet, d.h. sein geschichtliches Schicksal ist ihm so in die Hände gegeben. Menschliche Hände erfmden nicht dieses Schicksal, aber es ist ihnen überantwortet. Es ist ihnen, insofern sie die "Wächter" bzw. "Hirten" der Offenständigkeit der Lichtung des Seyns sind, die Möglichkeit zu eigen gegeben, das Göttliche anwesen zu lassen oder im Wesen zu verstellen bzw. zu verleugnen. Mit anderen Worten: Indem das Menschenwesen dem Gott gewidmet wird, d.h. indem es einzigartig unter allem Seienden auf das Wesen der Götter bezogen wird als "Wächter" der "Notschaft" (d.h. Hüter der Lichtung des Seyns, die vom Gotthaften, um erscheinen zu können, gebraucht wird), wird das geschichtliche Schicksal der

59

GA 65: S. 26.

§ II. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

279

Götter dem Menschen anheimgegeben. Sie können das Gotthafte bergen (natürlich nie von selber "machen") oder aber verstellen, übergehen. Indem der Mensch die Wesenswürde des ausgezeichneten Götterbezugs empfängt, d.h. sein Wesen dem Gotthaften in dem eben erläuterten Sinne gewidmet wird (als dessen menschliche Wächter, insofern sie die in der Lichtung Inständigen sind und auf das Erscheinen von allem bezogen sind), wird das Erscheinen des Göttlichen auf den Menschen angewiesen. Die Menschen allein vermögen das nicht wie Seiendes Anwesende zu gewahren, indem sie auch in den Bereich des Nicht-gegenwärtig-Seienden geöffnet und erstreckt sind und durch ihre Sterblichkeit sogar ·in einem eigentümlichen Bezug zum Urverborgenen stehen, der wiederum notwendig ist, um das eigentümliche Anwesen der vom Verborgenen reiner durchwalteten Götter zu gewahren. Dieses "Angewiesensein" der Götter auf den Menschen ist wiederum kein Mangel, sondern bekundet, daß sie tief im Ereignis verwurzelt sind, das nie danach trachtet, für sich Bestand zu sichern, sondern Anderem Eigenständigkeil übereignet (auch auf die Gefahr hin, daß aufgrund der übereigneten Eigenständigkeil das Zueigen-Gebende beständig übergangen wird). Mittlerweile dürfte der urtümliche Bezug zwischen Menschen und Götter, so wie er aus dem Ereignis sich darbietet, etwas einsichtiger geworden sein. Der zweite Punkt auf dem Weg, die Begegnung von Menschen und Götter aus dem Ereignis zu denken, soll zur weiteren Klärung verhelfen: 2. Das Ereignis der Er-eignung schließt in sich die Ent-scheidung: daß die Freiheit als der abgründige Grund eine Not erstehen läßt, aus der als dem Überschwung des Grundes die Götter und der Mensch in die Geschiedenheit hervorkommen.60

Das Ereignis läßt Götter und Menschen, indem es auf intime Weise ihre Wesen einander "widmet", in einem ursprünglichen Bezug stehen, obgleich ein solcher nur möglich ist auf Grund der Geschiedenheit dieser Wesen. Wenn eines dem anderen ohnehin schon "(possessiv) gehören" würde, dann wäre eine Widmung vollkommen sinnlos. Eigentlich gewidmet kann etwas nur in eigenständiger Freiheit werden. Menschen und Götter kommen im Ereignis in ihrer Geschiedenheit hervor, welche Geschiedenheit wiederum den ursprünglichen Bezug ermöglicht. Die also waltende "Ent-scheidung" ist daher im Sinne einer Scheidung zu verstehen, welche die Geschiedenen dadurch gerade einander entgegenbringt. Diese "Ent-scheidung" fällt gemäß dem Zitat auf dem Boden der Freiheit, die als "abgründiger Grund" bezeichnet wird. Das Ereignis waltet also nicht kausal determiniert, sondern in Freiheit entscheidet es sich .fiir die Stiftung des Entsprungenen; in dieser Urstiftung bleibt das Stiftende abgründig,

60

GA 65: S. 470.

3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

280

d.h. erscheint nicht wie das Begründete, auf dessen Boden alles weitere wächst. Dieser Boden ist (damit auf ihm etwas wachsen kann) wiederum eine "Not", d.h. eine Leere, die aus dem "Überschwung des Grundes" entsteht, d.h. also kein Mangelphänomen, sondern in diesem Überschwung wird eine zeiträumliche Weite eröffnet. Die Götter brauchen diese Weite, und den Menschen ist zugemutet, diese auszustehen. So kommen Götter und Menschen auf Grund ihrer Geschiedenheil in den einander ergänzenden Bezug (der natürlich degenerieren kann), innerhalb dessen der Raum für das Anwesen alles Seienden entsteht. Dieser Bezug wird jetzt im dritten Entfaltungspunkt des Ereignisses ausdrücklich mit dem Wort benannt, das wir bereits am Anfang dieser Untersuchung vorwegnahmen: die Entgegnung. 3. Die Er-eignung als Ent-scheidung bringt den Geschiedenen die Ent-gegnung: daß dieses Zu-einander der weitesten nothaften Entscheidung im äußersten »Gegen« stehen muß, weil es den Ab-grund des gebrauchten Seyns überbrückt. 61

Der von uns immer schon mitthematisierte Bezugscharakter in der Entscheidung wird von Heidegger hier ausdrücklich gemacht. Die Ent-gegneten stehen sich nicht "feindschaftlich entgegen", sondern in ihnen wird der Abgrund überbrückt, d.h. durch sie wird ein "fester Boden" gewonnen, der ein Leben über dem Ab-grund ermöglicht, das Kunde von den Göttern (und damit Wesentliches vom Ereignis selbst) in den menschlichen Bereich (und damit in das Seiende) bringen kann, und andererseits den Göttern dadurch ein Anwesenheitsraum gewährt wird. Daß der Bezug zwischen Menschen und Göttern so hervorgehoben wird, heißt natürlich nicht, daß irgendwelche "weltlosen" Menschen sich nur den Göttern widmen und alles Welthafte zu vernachlässigen wäre. Vielmehr hat bereits Sein und Zeit gezeigt, daß zur menschlichen Existenz immer schon der Weltbezug gehört. Im Zuge des Ereignis-Denkens hat sich das Weltverständnis vertieft, indem das Seiende in bezug auf sein Entspringen aus dem Welt-Erde Streit gedacht wird. Die Lichtung, die das Da-sein aussteht, ist wesensmäßig eine Lichtung, in der das (wesensgönnende) "Streitgeschehen" von Welt und Erde sich zeigen kann. Ausdrücklich denkt Heidegger den Bezug der Entgegnung zur Welt in den folgenden Zeilen: Das Seyn west als die Er-eignung der Götter und des Menschen zu ihrer Entgegnung. In der Lichtung der Verbergung des Zwischen, das aus der entgegnenden Ereignung und mit ihr entspringt, ersteht der Streit von Welt und Erde. 62

61 62

GA 65: S. 470. GA 65: S. 477.

§ II. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

281

In der Ent-gegnung wird die Offenheit daseinsmäßig eröffnet, die aber einerseits ein "Zwischen" bleibt, d.h. nie possessiver Besitz des Menschen wird, und die andererseits inuner auf das Verborgene bezogen bleibt. Menschen und Götter sind mit anderen Worten in dasjenige Geschehen eingelassen, was im Sprachgebrauch der Kunstwerkabhandlung der "Urstreit" genannt wurde. In diesem Urstreit fußt auch der Welt-Erde Streit, in dem das Seiende "erstritten" wird. Der Bezug des Seienden zu diesem Streitgeschehen wird von Heidegger gleich im Anschluß an die soeben zitierten Zeilen thematisiert: Und erst im Zeit-Spiel-Raum dieses Streites kommt es zu Verwahrung und Verlust der Ereignung, tritt ins Offene jener Lichtung Jenes, was das Seiende genannt wird. Das Seyn und das Seiende sind gar nicht unmittelbar zu unterscheiden, weil überhaupt nicht unmittelbar zu einander bezogen.63

Heidegger verweist gleich zu Anfang auf die zwei Möglichkeiten, wie das Seiende aus diesem Streit entspringen kann. Es kann auf eine Weise entspringen, in welcher der ganze Geschehnischarakter des Ereignisses in ihm nicht hervorscheint ("Verlust"); auf diese Weise verödet das Seiende in der Seinsverlassenheit Es kann allerdings auch so geborgen werden, daß das Seiende im Lichte des Ereignisgeschehens glänzend zum Eigenstand kommt ("Verwahrung"). Dadurch wird das Ereignis mit allen seinen mannigfaltigen Bezügen im Seienden zum Vorschein gebracht, und so bekommt auch das Göttliche im Seienden seinen Platz und seine Geschichte. Des weiteren verweist Heidegger noch darauf, daß die "ontologische Differenz" zwischen Seyn und Seiendem keine unmittelbare ist, sondern daß sie ursprünglich nur in einem reichgegliederten Geschehen gedacht werden kann. Durch die (inuner aus dem Ereignis zu verstehende) Ent-gegnung wird also Seiendes zu Seiendem, d.h. kann Seiendes aus diesem reich gegliederten Geschehen entspringen, und das Göttliche gewinnt so seine eigene Geschichte und kommt geborgen im Seienden zum Vorschein. Die durch die Zeitlichkeit des Daseins angelegte ursprüngliche Geschichte der Götter, die sich in dieser Zeitlichkeit bekundet, kommt im Seienden zum Wesen, empfängt dort Halt; aber da die Ent-gegnung immer im Geschehen des Ereignisses zu denken ist und niemals zu einem statischen "Ergebnis" werden kann, bringt sie das Fragwürdige, d.h. die inuner neu und tiefer erfragend zu gewahrende Sinnhaftigkeit des Seyns, in das Seiende: Hier enthüllt sich das Seyn in jener Wesung, auf Grund deren Abgründigkeil die Ent-gegneten (Götter und Menschen) und die Strittigen (Welt und Erde) in ihrer ursprünglichen Geschichte zwischen das Seyn und das Seiende zum Wesen gelangen 63

GA 65: S. 477.

282

3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

und die gemeinsame Nennung des Seyns und Seienden nur als Fragwürdigstes und Geschiedenstes zulassen. 64

Die ontologische Differenz ist nichts Statisches, sondern ein Geschehen. Von dem Unterschied von Sein und Seiendem kann nur eigentlich geredet werden, wenn das Seiende geschehnishaft verstanden wird (d.h. in bezug auf die mannigfaltigen Züge des Ereignisses) und das Seyn wiederum auf das Seiende andenkend-denkerisch bezogen wird, um es in ihm ursprünglich zu bergen. Damit wäre die Begegnung von Göttern und Menschen, so wie sie in den Beiträgen gedacht wird (nämlich als Ent-gegnung), in groben Zügen umrissen. Es gilt nun wieder zur "Andenken"-Vorlesung zurückzukehren und der Auslegung dieses Sachverhaltes zu folgen, insofern er dort mit dem dichterischen Wort "das Brautfest" genannt wird. Die hier erarbeiteten Gedanken sind freilich während der kommenden Auslegung immer mit im Auge zu behalten.

b) "Das Brautfest": Untersuchung des dichterischen Wortes fiir das Aufeinandertreffen von Menschen und Götter Im Zuge der Untersuchung des grüßenden Andenkens sahen wir, daß hier die Feiertage einen vorzüglichen Rang einnehmen. Die Feiertage erwiesen sich als das Ablassen vom Gewöhnlichen, womit ein vorbereitendes, achtsames Aufmerken auf das Ungewöhnliche einhergeht. Das, worauf die ursprünglich verstandenen Feiertage bezogen sind, d.h. das, was sie vorbereiten und woraus sie ihre Kraft schöpfen, erwies sich als das Fest. Das Fest, so sahen wir, "ist für Hölderlin wesenhaft »das Brautfest«"65 • In der Vorlesung erläutert Heidegger dieses besondere Fest mit folgendem Hinweis: "Das Fest ist das Ereignis des Entgegenkommens der Götter und Menschen."66 Dieser unscheinbare Satz bietet den Hinweis darauf, daß dieses Entgegenkommen aus dem Ereignis zu denken ist (als Ent-gegnung), ohne diesen Gedanken natürlich zu entfalten. Auf dem Grunde unseres Exkurses wird dieser schlichte Satz in seiner enormen Tragweite jedoch einsichtiger. Diese Begegnung ist nicht ein "Ereignis" unter vielen anderen, sondern in ihr entspringt erst das Wesen des Seyns und dessen Bergung im Seienden. Das "Brautfest", auf das die Feiertage ausgerichtet sind, ist also denkerisch als derjenige Sachverhalt zu verstehen, der im ereignisgeschichtlichen Denken GA 65: S. 479. GA 52: S. 69. 66 GA 52: S. 69.

64

65

§ 11. Vorbereitende Überlegungen zur Auslegung

283

als "Ent-gegnung" gedacht wird. Dort sahen wir, daß das Ereignis der Entgegnung als Konstituens der Er-eignung gefaßt wird, d.h. als ein Wesenszug des mannigfaltig gefügten Ereignisgeschehens überhaupt. Wenn daher im nächsten Satz der Vorlesung davon die Rede ist, daß dieses "Ereignis" der Begegnung einen Grund hat, dann ist dies nicht so zu verstehen, als ob das Ereignis selbst noch wo anders gründen würde, sondern im Lichte des Erarbeiteten wird sich deutlich sagen lassen, was hier gemeint ist: "Das Festliche des Festes ist der Grund dieses Ereignisses, das weder von Göttern verursacht noch von Menschen gemacht werden kann."67 Das, was hier als "Ereignis" angesprochen wird, ist in strenger ereignisgeschichtlicher Terminologie der Beiträge als die aus der Er-eignung zu verstehende Ent-gegnung zu denken. Diese waltet als ein Wesenszug des Ereignisses nicht "aus sich", sondern wurzelt im vollen Ereignisgeschehen, d.h., sie ist aus dem im Grunde sich entziehenden Zuwurf und dem ereigneten Entwurf zu verstehen. Das Fest als die Ent-gegnung von Göttern und Menschen setzt das Festliche dieses Festes nicht aus sich, sondern empfängt es und trägt es aus. Dieser Sachverhalt ist sowohl aus den Beiträgen gut verständlich als auch aus der im zweiten Kapitel geleisteten Darlegung von Heideggers "Feiertag-Hymne"Auslegung, wo sich erwies, daß sowohl die Menschen als auch die Götter auf das Heilige bezogen bleiben und daher den Grund ihrer Begegnung niemals "verursachen" bzw. "machen" können; dieser ist ihnen vielmehr ab-gründig gegeben, übereignet und zwar so, daß sie durch den gegebenen, abgründigen Grund aufeinander bezogen sind und diesen überbrücken, d.h. urbar machen für das Beständigwerden des Anwesens im Seienden. In die Richtung der Bestimmung dieses Festlichen bewegt sich nun auch in dieser Vorlesung Heideggers Denken. "Das Festliche ist Jenes, was anfänglich sich ereignet und alles Einander-Entgegenkommende in seiner Entgegnung trägt und durchstimmt "68 Das Festliche ist das anfänglich sich ereignende, d.h. dasjenige, was das Fest im Sinne der Ent-gegnung von Göttern und Menschen immer schon eröffnet hat und eröffnen wird. Dadurch trägt es alles Entgegnete, von dem hier deutlich gesagt wird, daß es in seiner "Gegnerschaft" gerade nicht feindlich geschieden wird, sondern einander entgegenkommt. Letztlich "durchstimmt" das Festliche das Fest, d.h., eröffnet es ursprünglich in einer gewissen Stimmung, deren Schwingungen in den menschlichen Grundstimmungen (wie der "heiligen Trauer") aufgenommen werden können, wodurch sich eine offene Bereitschaft für den Empfang des tragenden Ereignisses

67 GA 52: S. 69. •• GA 52: S. 69.

3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

284

ergibt, d.h. also für die Erfahrung des "Getragenwerdens" (in der Eigenständigkeit). Diese Stimmung wird aber nicht nur als eröffnende Stimmung gefaßt, sondern auch im Sinne einer "Stimme", die allerdings nicht Iauthaft spricht, wohl aber "worthaften" bzw. "sprachlichen" Charakter hat, den das menschliche Wort zur Verlautbarung bringen kann. "Das Festliche ist das anfänglich Stimmende. Dieses Stimmende durchstimmt und bestimmt alles als eine lautlose Stimme. "69 Das Eröffnete ist also gewissermaßen sprachhaft eröffnet, es hat etwas zu sagen es spricht an, gibt zu erkennen, verweist. Hier erblicken wir die ereignishaft vertiefte Grundeinsicht von Sein und Zeit bezüglich der ontologisch-grundlegenden Bedeutung des Phänomens der Rede, die der Auslegung und verlautbarter, mitteilbarer Aussage zu Grunde liegt, indem sie das Selbsthafte sowie das Innerweltliche ursprünglich gliedert. Hier wird das "Sprachhafte" als ein Grundzug alles Seins ereignisgeschichtlich aus der Stimme der eröffnenden Stimmung gedacht. Aber in Heideggers "Andenken"-Vorlesung wird die Stimme auch noch im Sinne des "Grüßens" gedacht, womit Heidegger an die bereits vollzogene Auslegung des Grüßens wieder anknüpft: "Das ist die Stimme eines anfangliehen Grüßens, durch das Menschen und Götter zuvor erst selbst zu Gegrüßten werden. "70 Diese Anknüpfung enthält zugleich aber auch noch eine Vertiefung bzw. zurnindestens einen "Blickwechsel". Denn vorher wurde das Grüßen vor allem in bezugauf das menschliche Grüßen gefaßt, d.h. in bezugauf den ereigneten Entwurf. Jetzt aber wird das Grüßen auf das Festliche des Festes, d.h. das Ereignis bezogen, aus dem Menschen und Götter erst hervorgehen. Zugleich empfangen wir aber hierdurch einen Hinweis, wie dieses Hervorgehen zu denken ist. So wie im menschlichen Grüßen der Grüßende nicht "das Seine" ausbreitet, sondern Anderes in dessen jeweiligem Wesen bekräftigen will und dieses zur Gewahrung des eigenen Wesens ermuntert, (analog) grüßt auch das Ereignis in dem Sinne, daß es Götter und Menschen in ihrem jeweiligen Sein ins eigentliche Anwesen zu verhelfen sucht. Weil die Ent-gegneten Götter und Menschen anfanglieh vom Ereignis gegrüßt sind, können sie diese Grunderfahrung gewahren und aneinander in gewandelter Form weitergeben. Nie werden sie im Grüßen zum anfänglichen Ereignis selber, aber sie können einander den Wesensraum zur Entfaltung so zukommen lassen, daß in diesem Lassen das Ereignis aufscheinen und ins Sein her-vor-gebracht werden kann (ohne natürlich jemals in solchem Anwesen

69 70

GA 52: S. 69. GA 52: S. 69f.

§ 12. Die Wesensbestimmung des Heiligen in "Andenken"

285

gänzlich aufzugehen bzw. erschöpft zu werden). Ausdrücklich sagt Heidegger: "Erst als die vom Festlichen Gegrüßten und nur als diese vermögen sie, die Götter und die Menschen, die Einen die Anderen und die Anderen die Einen, sich auch wechselweise zu grüßen. "71 Die Betonung liegt hier auf dem Wechselseitigen, das durch das anHingliche Grüßen ermöglicht wird. Gerade weil dieses Grüßen nicht possessiv-vereinnahmend, sondern ansichhaltendfreigebend ist, kommt es bei der Weitergabe solchen Grüßens nicht zu einem "Streit um Vorherrschaft", sondern zu einer wechselweise bezogenen (liebevollen) Wesensgönnung. Die Götter sind nicht "besser" als die "Menschen", die "Menschen" sind nicht durch ihre Wächterschaft "ontologisch ursprünglicher" als die Götter, sondern beide sind in ihrem Eigenwesen so bedeutsam, daß sie zur unentbehrlichen Ergänzung des Anderen in dessen unvergleichbaren Würde notwendig sind. Das Grüßen, von dem am Anfang des Gedichtes die Rede war, ist also ein vom ursprünglichen Grüßen mitbestimmtes Offenwerden für die Wesensentfaltung des Gegrüßten; dieses wiederum kann sein Wesen so entfalten, daß es durch seine Verwurzelung im anfänglichen Grüßen des Ereignisses seinerseits zu einem Überbringer des anfänglichen Grußes wird und diesen dem Grüßenden auf gewandelte Weise "zurückträgt", auf daß nun der Grüßende seinen Bezug zur Wurzel erneut und vertieft bejahe. Dieser Bezug zum anfänglichen Grüßen ist aber immer einer, der von sich aus nicht zur Versteifung auf das Empfangene aufruft, sondern gerade zur Weitergabe des im Gruß eröffneten Freiheitsraumes zur Wesensentfaltung an Andere. Es gilt nun zu sehen, wie Heidegger das Festliche des Festes und damit das Ereignis (in Hinblick auf seine Er-eignung der Ent-gegnung von Göttern und Menschen) in bezug auf das Heilige denkt. Hieraus wird auch verdeutlicht werden, wie eng das Dichten des Heiligen und dessen denkerische Auslegung mit dem Ereignis-denken einhergeht.

§ 12. Die Wesensbestimmung des Heiligen in "Andenken" Im folgenden wird es also darum gehen, die in der Vorbereitung durchdachten Gedanken in bezug auf das Heilige zu denken. Das Heilige soll sich als das Festliche erweisen (I.), und dieses wird dann in seinen eigentümlichen Grundzügen durch eine Besinnung auf das Wesen des "Schicksals" und dessen "übergangshafter" "Weile" näher ausgelegt werden (li.).

71

GA 52: S. 70.

286

3. Kap.: Hölderlins Hymne ))Andenken«

I. Die Wesensbestimmung des Heiligen als das Festliebe

des Festes (Brautfestes)

Das Grüßen im Gedicht "Andenken" erging eingangs als ein Mitgrüßen mit dem Klarheit-schaffenden Nordostwind an das südliche Frankreich. Diesem sollte im Gruß der Wesensraum zur Entfaltung seines ursprünglichen Wesens gestiftet werden. Das Gegrüßte wies einen besonderen Bezug zu den Feiertagen auf, deren Wesen sich als das Ablassen vom Alltäglichen zugunsten des Wachwerdens für das Fest erwies, welches die Feiertage vorbereiten und aus welchem sie ihren Sinn empfangen. Das Fest enthüllte sich als das "Brautfest", an dem Götter und Menschen einander begegnen und aus dem der Anwesenheitsraum für alles Seiende "geboren" wird. Das Gegrüßte in seiner Wesensentfaltung wiederum vermag, den Grüßenden auf eine Weise anzusprechen, welche diesem selber in seinen Bezug zum Ursprung verhilft; denn das gewesene Fest, an das andenkend gedacht wird, ist in gewissem Sinne nicht vergangen, da das Festliche des Festes sich nicht im Fest erschöpft, sondern immer neu kommenden Festen ihr Wesen zu verleihen vermag. Das Festliche des Festes erwies sich als das Ereignis, das Götter und Menschen ursprünglich grüßt und sie dadurch zum Grüßen, d.h. zur gegenwendigen Gewährung der W esensentfaltung, befähigt. Im folgenden Satz kommt Heideggers erster ausdrücklicher Hinweis darauf, daß der Andenken-Hymne das in der Feiertag-Hymne erstmals genannte Phänomen des Heiligen zugrunde liegt: "Das Festliche des Festes, das, was je das Fest sich ereignen läßt, ist das anfängliche Grüßen des Grüßenden, das Hölderlin in der ersten seiner Hymnen »Wie wenn am Feiertage ... « »das Heilige« nennt. "72 Das Heilige ist der Gruß, der alles andere Grüßen durchweht bzw. auf dessen Grund die Grüße einander zugetragen werden können. In diesem Gruß läßt das Heilige Anderes zu eigenem Wesen kommen und gewinnt dadurch die Möglichkeit einer Geschichte. Die Geschichte ist im wesentlichen Sinne zu verstehen, d.h. als der Austrag der wesentlichen Entscheidungen über die Anwesenheitsweise des Anwesenden. Wird das Anwesende verabsolutiert und das Anwesen vergessen? Oder wird das Anwesende im Lichte des Anwesens und seiner Wahrheit gewahrt und aus dem Bezug von Menschen und Göttern, Erde und Welt erfahren? Solche geschichtlichen Entscheidungen werden möglich, weil der Zeit-Raum für die Geschichte eröffnet ist, dem eigenständige Wesen inständig sind. Das Heilige als das Grüßend-Eröffnende ist somit das verborgene Wesen der Geschichte:

72

GA 52: S. 70.

§ 12. Die Wesensbestimmung des Heiligen in "Andenken"

287

"Dieser anfangliehe Gruß ist das verborgene Wesen der Geschichte. "73 Verborgen ist dieses Wesen, weil der Gruß des Heiligen unscheinbar ist und dadurch das Erscheinende in seinem Wesen zur vollen Entfaltung und Geltung kommen läßt. In dieser Vorlesung liegt die Betonung darin aufzuzeigen, wie sich das Heilige geschichtlich entfaltet, d.h., das Heilige wird immer im Hinblick auf den geschichtlichen Augenblick thematisiert, wodurch das vom Heiligen Eröffnete stärker in den Vordergrund kommt; während der Analyse der FeiertagHymne wurde dies streckenweise thematisch abgeblendet, um die Weise des Freigebens, d.h. wie das Heilige eröffnet, zu betonen. Jetzt werden die Weisen des Freigegebenen stärker thematisiert, bleiben aber natürlich immer auf das Heilige rückbezogen. Der anfangliehe Gruß, das Heilige in seiner geschichtlichen Eröffnung, wird von Heidegger immer wieder mit dem "Ereignis"-Gedanken zusammengebracht, der dadurch zwar angedeutet, jedoch anband der ausgearbeiteten Strukturen der Beiträge nicht dargelegt wird: "Dieser anfangliehe Gruß ist das Ereignis, der Anfang. "74 Sowohl Anfang als auch Ereignis werden mit dem kursiv gedruckten bestimmten Artikel hervorgehoben, um darauf hinzuweisen, daß es sich nicht um irgendein Ereignis oder einen Anfang handelt, sondern daß diese Worte auf ein einzigartiges Phänomen hinweisen. Im folgenden Erläuterungssatz aufgenommen wird aber nur das Wort "Anfang": "Anfanglich nennen wir das Grüßen im Sinne des Koromens des Heiligen, weil erst und nur in diesem Grüßen das Entgegenkommen der Menschen und Götter entspringt und seinen Quellgrund hat. "7s Die Begegnung von Göttern und Menschen erwies sich als die Eröffnung des Wesungsbereiches des Welt-Erde Streits und damit auch des daraus entspringenden Seienden. Ein jeglicher "Anfang" im Seienden quillt folglich aus dem einen Anfang, nämlich dem Heiligen, das alle Entgegnung und alles Entspringen von Seiendem eröffnet und zwar in einer W eise, daß dieses Geschehen niemals sich in einem gegenwärtigen Moment erschöpft, sondern immer neu im Kommen ist und dadurch dem Gewesenen in der Gegenwart - zumindestens von seiten des Heiligen her - die Zukunft nicht versagt wird. Dieser Gedanke ist uns durchaus aus den Analysen des zweiten Kapitels vertraut. Das im anfangliehen Gruß Sichereignende ist das Fest, auf das die Feiertage vorbereiten: "Das Fest ist das Ereignis des anfänglichen Grußes. "76 Dieser an-

GA 52: S. 70. GA 52: S. 70. ?S GA 52: s. 70. 76 GA 52: S. 70. 73

74

288

3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

fangliche Gruß wird in der Andenken-Vorlesung nun in seinem inneren Gefüge gegliedert: Dazu gehört aber zumal das Dreifache: einmal, daß das Heilige grüßt, damit Götter und Menschen gegrüßt werden; zum anderen, daß Götter und Menschen also Gegrüßte sind; zuletzt, daß Götter und Menschen als die so Gegrüßten seitdem selbst einander wieder grüßen und in solchem Grüßen aneinander sich halten können.77

Mit dem "zumal" wird deutlich, daß es sich hier um ein Geschehen handelt, dessen Einheit aber gerade als der Zusammenklang einer Vielheit zu verstehen ist. Die Einheit verschmilzt nicht die Vielheit, sondern hält sie innig zusammen. Daher gibt es keine "hierarchische" Ordnung (im geläufigen Sinne dieses Wortes) in diesem Fest, d.h. keine wertende Unter- und Überordnung, sondern eine gegenwendige Zuordnung. Der anfängliche Gruß des Heiligen eröffnet den Bereich, dessen "Extreme" die Götter und Menschen austragen und offenhalten; diese sind daher in gewissem Sinne auf das Heilige "angewiesen", was nicht bedeutet, daß sie "ohnmächtig" wären, da das Heilige sie ja gerade mit ihrem ureigenen Wesen beständig "bevollmächtigt". Das Heilige wiederum ist auf die also "Bevollmächtigten" in gewisser Hinsicht angewiesen, weil es nur durch ihre freie Entscheidung eine Geschichte bekommt und d.h. nur durch sie in der Geschichte heilsam im Seienden ins Anwesen gelangen darf. Das Heilige grüßt; Götter und Menschen werden als Weitergrüßende gegrüßt. Da dieses Gegrüßtwerden ein Wesensüberbringen ist, sind die Gegrüßten "ermächtigt", sich gegenseitig zu grüßen und d.h. sich gegenseitig in ihrem Sein zu bestärken und sich gegenseitig "halten" und "helfen" zu können: "Dieses Halten und Helfen ist die Not. Den Grund dieses Aneinander-sichhaltens spricht Hölderlin in der Titanenhymne (IV, 209, V. 46) aus mit dem Wort: >> ..... Denn keiner trägt das Leben allein«." 78 Das ursprünglich "Nothafte" ist das Einander-Brauchen, das aber hier nicht als Mangel zu verstehen ist, sondern in gewissem Sinne als Auszeichnung der W esensoffenheit. Das in dieser Not Verweilende vermag, sich etwas genuin schenken zu lassen, und verleiht dem Schenkenden dadurch die offenbare Sinnhaftigkeit seines Geschenkes. Dieses Schenken und Empfangen gründet im Wesen des Festes: "Das Aneinander-sich-halten der Götter und Menschen gründet im Wesen des Festes, d.h. im Festlichen, das wir als das grüßende Kommen des Heiligen denken müssen."79 Die Gabe des Weiterschenkens dessen, was das Andere nothaft bedarf, entspringt dem anfänglichen Grüßen des Heiligen. Dieses selbst empfängt wiederum von den Gegrüßten das Geschenk des Geschichtlichwerdens. Dieses "drei-

GA 52: S. 70. GA 52: S. 70. 79 GA 52: S. 71.

77

78

§ 12. Die Wesensbestimmung des Heiligen in "Andenken"

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einige" Geschehen von Heiligem, Göttern und Menschen ist ein "abgerundetes" Wesensgewähren, das den (Ur-)Grund ins Offene hinausträgt und das im Offenen Wachsende des Grundes eingedenk sein läßt (bzw. sein lassen kann). Die "Feiertage" bereiten ein eigentlicheres, gesammeltes Gewahren dieses Geschehens vor. Das "Feiern" bleibt so als offenwerdendes Erwarten auf das Fest wesensmäßig bezogen: "Wenn das Fest das Ereignis des Grußes des Heiligen ist, dann hat das Feiern sein Wesen darin, auf dieses Ereignis sich zu sammeln und in solcher Sammlung sich zu lösen aus der gierigen und ratlosen Verzwungenheit in das gewohnte Gewöhnliche, um frei zu werden für den Anklang des Kommenden. "80 Das Feiern trägt als negatives Element das Ablassen vom Gewöhnlichen, als positives das Freiwerden jUr das Kommen des Heiligen. Also sind auch die Feiertage vom Heiligen her zu verstehen. Sie können so, in bezugauf das Fest gedacht, zum Vortag werden, dem seine eigene Würde inne ist - vorausgesetzt natürlich, daß das Feiern ein ursprüngliches ist: "Wenn das Feiern diese erwartende Sammlung ist, vielleicht gar das Erglänzen einer unzerstörbaren, weit hinauslangenden Langmut und Geduld, dann besteht das Wesen des Feiertags stets darin, eigentlich der Vortag des Festes zu sein."81

a) Das Festliche als die ursprünglichste Stimmung

Auch in der Andenken-Vorlesung wird das Heilige in bezug auf die Stimmungen gedacht. Die Stimmung bleibt das anfänglich Eröffnende, das überall mitschwingt und im Dasein die Offenheit eigens als ganze eröffnet, in der das Stimmungshaft Eröffnete gliedernd-verstanden bzw. bedacht werden kann. Als die eröffnende Stimmung wird sie aber von menschlichen Stimmungen (als eröffnet-eröffnenden) nie eingeholt: "Wenn das Festliche als das anfänglich Grüßende das Heilige ist, dann waltet im Heiligen das Stimmen einer Stimmung, die stets anfänglicher und ursprünglicher bleibt als jede Stimmung, die uns Menschen durchstimmt und bestimmt. "82 Die Urstimmung des Heiligen erschöpft sich also nie in einer menschlichen Stimmung; die verschiedenen wechselhaften Stimmungen des Menschen nehmen auf verschiedene Weise Schwingungen dieser Urstimmung aufbzw. entsprechen dieser. Heidegger verdeutlicht dies, indem er sowohl die Freude als auch die Trauer in bezug auf das Heilige denkt:

GA 52: S. 73. GA 52: S. 73. 82 GA 52: S. 71 .

80

81

19 Helting

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3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

Weil beide, Freude und Trauer, in einem Ursprünglicheren, dem Heiligen, gründen, sind sie in diesem Grunde einig und Eines. Weil sie Eines sind im Sinne der wesenhaften Unzertrennlichkeit, deshalb kann, ja muß zuweilen das Freudigste in der Trauer sich aussprechen. Wo dieses sich ereignet, ist stets das Fest. Hölderlin sagt in seinem Epigramm »Sophokles«: »Viele versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen,/ Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.« 83

Die Einheit von Freude und Trauer beruht in ihrer gemeinsamen Herkunft: dem Heiligen, das stets Stimmungshaft schwingt, d.h. den Bereich eröffnet, in den der Mensch mit seinen Stimmungen eingelassen ist. Wenn der Mensch in seinen Stimmungen in die stimmungshaften Urschwingungen dieser Herkunft gelangt, dann schwingt diese Herkunft in der jeweiligen Stimmung mit und verweist darauf, daß auch scheinbar entgegengesetzte Stimmungen sich alle aus der Urschwingung nähren. Dann kann es dazu kommen, daß sich die "Freude" auch in der "Trauer" ausspricht, weil gerade ihre gemeinsame Herkunft erfahren wird, die verschiedene Stimmungen einander zuträgt. Die von Hölderlin ausgesprochenen Zeilen zeugen davon, daß hier das "Festliche des Festes", das Heilige in seiner Urschwingung erfahren wird. Die Trauer in ihrem Bezug zum Heiligen birgt die Freude, so wie die Freude in diesem Bezug auch auf die Trauer bezogen ist. II. Das Heilige und das Fest im Sinne des Übergangs, des Schicksals und der Weile Im Gedicht "Andenken" wird gemäß Heideggers Interpretation durch das Nennen der "Märzenzeit" (in der bereits zitierten 2. Strophe) die Zeit des "Übergangs" genannt. Der Grund dafür, warum Hölderlin die Feiertage mit dieser Übergangszeit zusammenbringt, muß geklärt werden. Auch trägt Heidegger höchst bedeutsame Überlegungen zum "Schicksalscharakter" des Festes vor und denkt die eigentümliche Zeitlichkeit dieses Festes durch die Analyse einiger Verszeilen aus der "Rhein-Hymne". Die Gedanken zu dieser Zeitlichkeit werden ebenfalls mit großer Achtsamkeit darzulegen sein, da sich hier sehr klare Hinweise fmden, warum der "Vorbeigangscharakter" des Heiligen (und seinem Erscheinen im Gotthaften) dem alltäglichen Meinen so hartnäckig verschlossen bleibt.

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GA 52: S. 77f.

§ 12. Die Wesensbestimmung des Heiligen in "Andenken"

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a) Der Übergang- das freigebende Wesensgönnen der Aufeinanderbezogenen

Wir sahen bereits, daß in der Ent-gegnung Götter und Menschen zwar geschieden werden, aber so, daß sie aufeinander bezogen bleiben und ihr Wesen gegenwendig ergänzen. Dies geschieht auf dem Grunde des wesensgönnenden Zuges des Heiligen selbst. Die Nennung der "Märzenzeit" und der "Gleichheit" von "Nacht und Tag" in Hölderlins Gedicht nennt für Heidegger die Zeit des Übergangs, der in bezug auf die Ent-gegnung gedacht werden muß (im Hinblick auf das Ereignis des Festes, d.h. des Geschichtlichwerdens des Heiligen): "Aber alles dies in Bezug auf die Entgegnung der Götter und Menschen, also im Hinblick auf das Fest. "34 Das Geschehnis des Übergangs bekundet sich in dem Phänomen, wo Sommer und Winter sich im März begegnen, indem die "Härte und Starre des Winters mit der Gelöstheit und Kraft des Sommers"85 sich versöhnt, und die Nacht das Längerwerden des Tages zuzulassen beginnt. 86 Hier wird der ins Seiende geborgene Übergang dichterisch angesprochen, und dies ruft zu einer denkerischen Auslegung auf. Der Übergang ist also gerade kein einmaliges Verlassen eines Bereiches zugunsten des Fußfassens in einem anderen, sondern in ihm waltet ein wechselwendiges Wesensgönnen, indem jedes das Seine geschenkt bekommt. "So ist denn der Übergang nicht das Weg von Einem und das Fort zum Anderen, sondern die wesentliche Art des Zueinanderkommens des Einen und des Anderen. "87 Im Übergang begegnen sich die Geschiedenen als wesensmäßig aufeinander Bezogene und kommen so zueinander, indem sie aus der Zuwendung des Anderen den Raum für ihre eigene Wesensentfaltung bekommen. Diese Gabe des wechselseitigen Wesensgewährens haben sie allerdings nicht "aus sich", sondern sie empfangen sie von dem einigen Grund, der sie jeweils - aufeinander bezogen - geschieden sein läßt: "Übergang ist nicht das Vorübergehen, sondern das in sich gesammelte Bleiben, das Eines und das Andere einigt und so beide aus ihrem bleibenden Wesensgrund hervor-gehen und in ihm allererst bleiben läßt. "8& Das Bleibenlassen des Anderen geschieht durch das gegenwendige "(Hin-) Über-gehen"; dieser "Übergang" will dem Anderen nichts rauben, sondern verhilft dem Anderen zum Bleiben. Der Übergang nährt sich aus der Einheit, die GA 52: S . 87. GA 52: S. 86. 86 Vgl. GA 52: S. 88. 87 GA 52: S. 85. 88 GA 52: S. 85f.

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19*

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ihrer Geschiedenheit zugrunde liegt, und trägt diese in ihrem Differenzbejahenden Wesen aus, indem das Andere in seinem anderen Wesen bestehen gelassen wird und ihm zur eigentlichen Wesensentfaltung verholfen wird (welche die Bejahung des einigen Ursprungs miteinschließt): "Übergang ist das, worin im Hin und Her beide Seiten, die einander entgegenstehen, erst sich fmden und aus ursprünglicher Einheit sich sammeln, um von dieser anfänglichen Einheit die Wesensbestimmung zu erhalten. "19 Die Wesensbestimmung als die Differenzhaftigkeit bzw. das Anderssein, das in seiner Andersheit aber auf Anderes bezogen ist und dieses in seiner Andersheit ursprünglich bejahen kann und in solchem Bejahen die eigene Wesensbestimmung allererst eigentlich empfängt, ergeht aus dem einigen Ursprung, dessen Einheit allerdings nie auf der Ebene des Differenten faßbar wäre, sondern hier als das "ganz Andere" west, welches das ursprungliehe Einander-Zugewandtsein im different Entsprungenen durch seine auf ganz anderer "Ebene" "liegende" Einheit erst eröffnet. Aber diese Verweise auf den vollkommen un-dinglichen Charakter des Übergangs (aus dem alle Dinge (und Weltgegenden) in ihrem differenten Sein erst entspringen) bleiben problematisch: "Doch wenn wir auch den Übergang so denken, geraten wir oft noch in die Gefahr, sein Wesen zu verkennen. Der Grund dafür liegt darin, daß unser Denken allzuleicht dinghaft bleibt und ins Dinghafte sich rettet. "90 Im Dinghaften bleibt der "Übergang" nämlich immer etwas "Nachträgliches", das bereits vorhandenes Seiendes vollziehen oder unterlassen kann. Der Übergang wird so nicht als das verstanden, was erst Grund und Boden bereitet, sondern als ein innerweltliches Geschehen, das auf bereits vorhandenem Grund passiert: "Für das dingliche Vorstellen ist dann der Übergang als Hinüber- und Herobergang doch nur das Nachträgliche, was zwischen zwei vorhandenen Seiten vermittelt, gleich als ob diese sonst und zuvor für sich Bestand hätten. "91 Wegen der großen Gefahr dieses Mißverständnisses betont Heidegger im folgenden noch einmal den Stiftungscharakter des Übergangs. Der Übergang ist also nicht das "Nachträgliche", sondern: "der Übergang ist das Erste ... "92 • Er ist das Erste in bezugauf das, was in ihm sich gegenseitig in die Wesensentfaltung erhebt. Er ist das Geschehen, in dem die gegenseitige "Bejahung" wurzelt: " ...und läßt erst das, von woher, und das, wohin er Übergang ist, im Übergehen und aus ihm entstehen. "93 Durch den übergangsmäßigen GA 52: S. 97. GA 52: S. 97. 91 GA 52: S. 97. 92 GA 52: S. 97. 93 GA 52: S. 97.

89 90

§ 12. Die Wesensbestimmung des Heiligen in "Andenken"

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Bezug kann die Wesensentfaltung anheben zu geschehen. Jedoch muß ein Wesen, das sich im Lichte des Anderen zu entfalten vermag, ursprünglich freigegeben sein, damit es im Übergang zu seiner eigentlichen Bestimmung erhoben werden kann. Daher kann der Übergang selber nicht das "Ur-Erste" sein, das gleichsam "in der Luft" schwebt: "Deshalb schwebt auch der Übergang nicht im Leeren, er ist selbst noch ein Entspringendes." 94 Die Wesensentfaltung, die sich innig im Übergang vollzieht, gründet in der Innigkeit, d.h. im Ursprung, der zum Übergang aufruft. Heidegger versucht den Gedanken des Übergangs durch den Verweis auf eine Brücke zu verdeutlichen. Wenn vom vorhandenen Charakter der Brücke abgesehen wird und ein Auge für das Geschehen gewonnen wird, aus dem die Brücke ihr Brückeruein entfaltet, kann hier ein wesentlicher Einblick in das Übergangsphänomen erlangt werden: Die Brücke ist hier kein Ding, das von einem schon vorhandenen Ufer zum anderen auch schon vorhandenen Ufer geschlagen wird, sondern >die Brücke< senkt sich, ganz zugleich und in einem den Strom überschwingend, über diesen und macht so Ufer erst zu Ufern und öffnet das Offene eines Herüber und Hinüber. 9s

Die Ufer entspringen in ihrem Ufer-sein erst aus dem Übergangscharakter des Brückenwesens. Durch die verbindende Kraft der Brücke werden die Ufer aufeinander bezogen und ermöglichen sich so gegenwendig ihr jeweiliges Ufersein; natürlich wird das eine Ufer nicht durch die Brücke bestandesmäßig zum anderen Ufer. Sie bleiben und verhelfen sich gegenwendig zum jeweils ureigenen Ufersein, das durch den Bezug zum Anderen gleichursprünglich auch ein Anderssein ist; innerhalb der Gleichursprünglichkeit kann vielleicht sogar ein gewisser Akzent auf das Anderssein gelegt werden, da das Selbstsein ja gerade vom Anderen her in seiner Entfaltung eröffnet und verstanden wird und das Eigene auf es ausgerichtet bleibt (da allerdings das Andere ja gerade das eigene Sein des Anderen ureigen sein läßt, ist das Eigene nicht "ontologisch" niedriger als das Anderssein zu betrachten, sondern eben gleichursprünglich). Damit wäre angedeutet, wie die "Ufer" aus dem übergangsmäßigen Wesen der Brücke entspringen. Jedoch hieß es oben bei der ontologischen Wesensbestimmung des Übergangs, daß auch dieser noch ein Entspringender ist. Dieses Entspringen drängt sich kaum der Aufmerksamkeit auf, da sogar die Brücke, nachdem sie die Ufer einmal als solche ins Erscheinen hat vortreten lassen, in ihrem Brückenwesen allzu oft im Getummel des "Herüber" und "Hinüber" untergeht. Durch die Brücke kommen sich die Ufer näher. "Je höher die Höhe,

94 95

GA 52: S. 97. GA 52: S. 97.

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3. Kap.: Hölderlins Hymne ))Andenken«

aus der sich die Brücke senkt, umso überbrückter und näher sind die Ufer. "96 Durch diesen Hinweis kommt ein anderes (zunächst unscheinbares) Phänomen in den Blick: Die Ufer, die durch das Brückenwesen in ihrem Sein entspringen, münden über einem Abgrund. Je tiefer der Abgrund, je näher erscheinen die Ufer und je augenfälliger werden diese: "Ihre Entfernung bemißt sich nicht nach dem Abstand vorhandener Seiten, sondern nach der Höhe der Herkunft des Brückenschwunges. "97 Damit ist der Hinweis auf den Ursprungsbereich des brückenhaften Übergangs gefallen: Er liegt im Ab-grund, aus dem die Brücke erst Brücke, der Übergang erst Übergang sein kann. In bezug auf die Ent-gegnung gedacht, heißt dies: "Übergang ist die Entgegnung von Menschen und Göttern: das Fest."98 Wir sahen, daß das Festliche dieses Festes im Heiligen wurzelt. Also ist der Ursprung des Übergangs das Heilige, aus dem Menschen und Götter in ihrem Wesen ursprünglich gestiftet sind und zwar so, daß sie im Übergang sich gegenseitig zu ihrer Wesensentfaltung verhelfen können. Dieser (Ur-)Übergang weist in sich ein mannigfaltiges GefUge auf. Auch die Begegnung mit den entflohenen Göttern im Erharren der Wiederkehr ihrer Göttlichkeit ist ein Übergang: "Übergang ist aber auch der Hinübergang vom gewesenen Fest zum künftigen. Übergang ist so ein Übergang von Übergängen. "99 Die zuvor schon erläuterte Innigkeit wird in diesem Zusammenhang von Heidegger noch einmal thematisiert. Die Innigkeit erwies sich als der Wesensgrund fiir das Innige, d.h. das geschieden Auf-einanderBezogene, das im Grunde aus einer selbigen Wesensherkunft hervorgeht. "Wir könnten in einer wesensgerechten Abwandlung des Hölderlinschen Spruches ))alles ist innig« auch sagen: Alles ist Übergang." 100 Das heißt, daß die Analyse des Übergangs als weitere Erläuterung gelesen werden darf, wie Heidegger die von Hölderlin angesprochene "Innigkeit" denkt. Bei dieser Auslegung der Innigkeit fällt auf, daß das gegenwendige "InsWesen-Heben" sprachlich nicht mehr vornehmlich als "Streit" aufgefaßt wird (wie z.B. noch in der Germanien-Vorlesung), sondern als "Versöhnung"; der Streitcharakter wird also hier "terminologisch" (ursprünglicher) als "Versöhnung" gedacht : "Übergang ist Versöhnung und Versöhnung ist jener Ausgleich, der nicht gleichmacht in der Ebene des Unterschiedslosen, sondern jedem das Gleiche, nämlich sein Eigenes zuteilt nach den gleichen Maßen des je

GA 52: S. 97. GA 52: S. 97. 98 GA 52: S. 98. 99 GA 52: S. 98. 100 GA 52: S. 98.

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§ 12. Die Wesensbestimmung des Heiligen in "Andenken"

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eigenen Wesens."' 01 Die Versöhnung ist gerade keine nivellierende Verschmelzung, sondern ein Einander-ernst-Nehmen und Bestärken im ursprünglich (bezugsverbundenen) Eigenen. Im Zusammenhang mit dem Übergang verweist Heidegger auch auf die Bedeutung des Dichtens der "Halbgötter" in der Rhein-Hymne: In diesem Reich des Übergänglichen ist daher überall zuerst das >Zwischen< das Wesentliche. Hier sind daher auch Jene, die dieses >Zwischen< übernehmen, vollziehen und austragen, die zuerst Gerufenen. Das sind die, die nicht mehr nur Menschen, aber auch noch nicht Götter sind. Hölderlin nennt sie die »Halbgötter«.102

Eng mit den Halbgöttern in Heideggers Auslegung der Rhein-Hymne ging das Dichterwesen einher. Auch in der Auslegung von "Wie wenn am Feiertage ... " erwiesen sich die Dichter als ausgezeichnete Vermittler zwischen dem Heiligen, den Göttern und dem "Volk". Im Bereich des Heiligen denkt Hölderlin also auch immer die Halbgötter mit: "Daß aber Hölderlin überall, wo er das Reich des Heiligen denkt, zuerst und ständig die Halbgötter denkt, das spricht er selbst aus in der Hymne »Der Rhein«." 103 Um diesen Gedanken abzurunden, schließt Heidegger noch jene Verse aus der zehnten Strophe an, die er bereits in der "Germanien"-Vorlesung als den "Angelpunkt" der Rhein-Hymne bezeichnet hat: "Halbgötter denk' ich jetzt/ Und kennen muss ich die Theuem,/ Weil oft ihr Leben so/ Die sehnende Brust mir beweget. "'< Deutlich geht aus diesen Sätzen Heideggers zur Rhein-Hymne hervor (d.h. ausdrücklicher als in seiner ersten Hölderlin-Vorlesung), daß diese aus dem Heiligen zu denken sind, d.h. daß sie "zuerst und ständig" im Reich des Heiligen zu denken sind. Wenn sie die thematische Betonung erfahren, dann liegt das nicht an einem Vorrang ihrer Ursprünglichkeit, sondern am sich-entziehenden Wesen des Heiligen, dessen Wesung (d.h. verborgenes Anwesen) ins Seiende zu bergen den Halbgöttern und Dichtem aufgegeben ist.

b) Das Schicksal- das ursprünglichfreigebende Gewähren von bezugsverbunden-eigenständigem Sein Das von der Festlichkeit des Heiligen durchwaltete "Brautfest", bei dem sich Menschen und Götter begegnen und einander ihr ureigenes Wesen in der jeweiligen Andersheit entfalten lassen, dichtet Hölderlin als "Schicksal". Heideg101 102 103

GA 52: S. 98.

GA 52: S. 98. GA 52: S. 98.

'FatumsFatalitätum>Wer« ist das Neutrum, das Man ."241 Die Botmäßigkeit bezieht sich zunächst nicht auf irgendwelche identifizierbare Personen, sondern sie herrscht in einer unauffälligen Anonymität, die sich bei niemandem festmachen läßt. "In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur." 242 2. Die Durchschnittlichkeit. In der Durchschnittlichkeit ist eine Art "Rahmen" eröffnet, innerhalb dessen tolerierbare und untolerierbare Abstände sich zeigen können. Untolerierbare Abstände, d.h. solche, die das herrschende Maß der Durchschnittlichkeit gefährden, werden niedergehalten. Andererseits gibt es auch Abstände, welche die Durchschnittlichkeit gerade als solche verfestigen und daher durchaus in ihrem Dienste stehen. Abstände, die sich im tolerierbaren Rahmen von der Durchschnittlichkeit abheben, sind in ihrem Wesen gerade von dieser abhängig. Michalski bringt hierfür ein anschauliches Beispiel: "»man« kleidet sich so und so, das heißt nicht nur, daß sich faktisch die meisten so und so kleiden - das muß gerade nicht der Fall sein; das heißt vielmehr, daß man sich so und so kleiden muß, wenn man »auf der Höhe« sein will, bzw. daß man sich nicht so und so kleiden darf, wenn man »darüber stehen« will." 243 Die Durchschnittlichkeit ist der Zug in der Seinsweise des "Man", welcher die Abständigkeit begründet.244 Weil die alltägliche Sorge der Durchschnittlichkeit gilt, werden die Abstände zu diesem Durchschnitt so überaus wichtig. Aber auch in der Distanzierung von Anderen gibt es durchschnittliche Maße, die man nicht überschreiten darf.

Sein und Zeit, S. 126. Sein und Zeit, S. 126. 243 Fremdwahrnehmung und Mitsein, S. 215. 244 Vgl. Sein und Zeit, S. 127.

241

242

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3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

3. Die Einebnung. Die eben besprochene Durchschnittlichkeit ist eine Weise, alles einzuebnen. "Diese Durchschnittlichkeit in der Vorzeichnung dessen, was gewagt werden kann und darf, wacht über jede sich vordrängende Ausnalune ... Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen. "245 Im "Man" wird alles zum längst Bekannten, immer schon Gewußten und verliert so seine Einzigartigkeit. Abstände sind somit nur unwesentliche Modifikationen; alle Wesensunterschiede (und damit auch alle Andersheit) sind eingeebnet. 4. Die Öffentlichkeit. Diese wird durch "Abständigkeit", "Durchschnittlichkeif' und "Einebnung" konstituiert. Die so verstandene Öffentlichkeit regelt das alltägliche Verhalten zu den Dingen und erschwert wesentlich einen ursprünglichen Zugang zu diesen. Betont werden muß hier, daß Heidegger nicht sagen will, daß alle gemeinschaftliche Offenheit nichts als Privation und Uneigentlichkeit sein muß; vielmehr sagt die Analyse, daß sich zunächst und zumeist die Öffentlichkeit so darbietet. Damit werden aber nicht die Mitmenschen "angeklagt"; die Eigentümlichkeit des "Man" ist es, daß niemand "Schuld" daran ist. Heideggers Analyse weist lediglich darauf hin, daß in der vom Man regierten Öffentlichkeit das Dasein und die Mitmenschen ihrer ureigenen Seinsmöglichkeiten beraubt werden, was nicht heißt, daß sie nicht auch in einer sinnvollen öffentlichen Gemeinschaft leben könnten. 5. Die Entlastung. Da im Man die jeweiligen Verhaltensnormen weitgehend festgelegt sind, nimmt das Man den Menschen auch das Schwergewicht der Entscheidung und damit der Verantwortung ab: "Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. "246 Gerade dadurch, daß keine wahrhaft eigenen Entscheidungen getroffen werden, fehlt das Gefiihl der Verantwortung, was eine gewisse Entlastung mit sich bringt; dadurch kommt die Entlastung der uneigentlichen Tendenz im Dasein entgegen: "mit dieser Seinsentlastung kommt das Man dem Dasein entgegen, sofern in diesem die Tendenz zum Leichtnelunen und Leichtmachen liegt. "247

245 Sein und Zeit, S. 127. An anderer Stelle spricht Heidegger ausdrücklich davon, daß die "Durchschnittlichkeit" in der "Einebnung" gründet; vgl. GA 20 (Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs Frankfurt: Vittorio Klostermann, 21988): S. 339. Michalski arbeitet in Fremdwahrnehmung und Mitsein das Begründungsgeflige im "Man" deutlich heraus (vgl. S. 214ff.). 246 Sein und Zeit, S. 127. 247 Sein und Zeit, S. 127f.

§ 14. Das "Gespräch unter Freunden"

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Durch diese Wesenszüge wird das "Man" von Heidegger bestimmt. Es ist die Antwort auf die Frage nach dem "Wer" im alltäglichen Dasein. Es muß betont werden, daß es hier gerade nicht in seiner Eigentlichkeit erscheint. Das "Man" ist kein eigenständiges, vorhandenes Subjekt und auch keine Eigenschaft am Menschenwesen. Vielmehr ist seine Seinsweise diejenige des Daseins: "Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins." 248 Heidegger verweist wieder ausdrücklich darauf, daß es verschiedene Möglichkeiten geben kann, wie sich das Man daseinsmäßig konkretisieren kann, welche Möglichkeiten auch geschichtlich wechseln: "Es (das Man] hat selbst wieder verschiedene Möglichkeiten seiner daseinsmäßigen Konkretion. Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit seiner Herrschaft können geschichtlich wechseln. "249 Damit verweist Heidegger auch auf Möglichkeiten, in denen das "Man" das Miteinandersein der Menschen zu einem weit geringeren Teil bestimmen könnte. Das "Man" meint schließlich nicht die Mitmenschen selbst, sondern die Weise, wie sie sich uneigentlich (und zum Teil auch unecht) zueinander verhalten. Obwohl es diese Tendenz phänomenal unbestreitbar bei den Menschen gibt und sie sich als ein Existenzial erweist, so ist dadurch nicht darüber entschieden, ob nicht die Menschen in eine weitaus eigentlichere Seinsweise des öffentlichen Miteinanderseins gelangen könnten. 2so In Sein und Zeit unterscheidet Heidegger zwischen dem im Man verlorenen Selbst und dem eigentlichen Selbst, also demjenigen, welches sich nicht in uneigentlichen Weisen des Mitseins treiben läßt: "Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. "2SI Das Eigentlichwerden des Selbst bleibt auf das Man als einem Existenzial bezogen; im Gegenzug zu den verstellenden Tendenzen des Man versucht das eigentliche Selbst an die Quelle zu gelangen, die vom Man verstellt, aber in solchem Verstellen auf negative Weise doch bewahrt wird: Wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt und sich nahebringt, wenn es ihm selbst sein eigentliches Sein erschließt, dann vollzieht sich dieses Entdecken von »Welt« und Erschließen von Dasein immer als Wegräumen der Verdeckungen und Verdun-

248

249 2so

Sein und Zeit, S. 129. Sein und Zeit, S. 129.

Ein Ansatz zur Sozialphilosophie bei Heidegger findet sich bei Michalski in

Fremdwahrnehmung und Mitsein auf den Seiten 226f herausgearbeitet. Ht Sein und Zeit, S. 129. 22 Helling

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3. Kap.: Hölderlins Hymne ))Andenken«

kelungen, als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt. 252

Die Herauslösung des eigentlichen Selbst aus dem Man modifiziert die uneigentliche Weise des Mitseins in eine eigentliche. Die Vereinzelung aus dem Man geschieht also nicht als eine Abwendung vom Mitsein, sondern sie geschieht als eine Abwendung von uneigentlichen Weisen des Mitseins, umwillen einer eigentlicheren Zuwendung zu den Mitmenschen. Dies wurde weiter oben bereits ein wenig ausgefiihrt. Das Man birgt in seinen privativen Weisen einen Hinweis auf die Eigentlichkeit, und das Finden dieser vollzieht sich somit als eine existenzielle Modifikation des Man (hin auf seine ihm selbst verborgene Quelle): "Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials."2s3 Auf dem Boden einer gewonnenen Eigentlichkeit wird ursprüngliches Mitsein eröffnet, dem gegenüber die Mitseinsweisen des Man abkünftig sind.'s•

d) Die Verfallensanalyse als Vertiefung der Gedanken zur "Uneigentlichkeit" (der Grundzug von den§§ 35-38) Die in den Paragraphen 35-38 von Sein und Zeit vorgenommene Untersuchung der Verfallenstendenz des Daseins will als eine weitere Auslegung der Uneigentlichkeit verstanden sein: "Was wir die Uneigentlichkeit des Daseins nannten, erfahrt jetzt durch die Interpretation des Verfallens eine schärfere Bestimmung. "m Den Einzelheiten dieser Analysen, d.h. wie das alltägliche Dasein durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit bestimmt wird, brauchen wir uns hier nicht zu widmen. Jedoch sei angemerkt, daß Heidegger dort an mehreren Stellen betont, daß es sich hierbei nicht um eine Bemängelung der Gesellschaft handele (mit dem impliziten Anspruch, "es besser machen zu können"). Ausdrücklich sagt er, daß die hier vorgenommene Interpretation "eine rein ontologische Absicht hat und von einer moralisierenden Kritik des alltäglichen Daseins und von »kulturphilosophischen« Aspirationen weit entfernt ist. nm WähSein und Zeit, S. 129. Sein und Zeit, S. 130. 254 So wird verständlich, wie Heidegger, ohne sich zu widersprechen, auch sagen kann: "Es zeigte sich, zunächst und zumeist ist das Dasein nicht es selbst, sondern im Man-selbst verloren. Dieses ist eine existenzielle Modifikation des eigentlichen Selbst." Sein und Zeit, S. 317. 255 Sein und Zeit, S. 17Sf. 256 Sein und Zeit, S. 167; vgl. auch: S. 176, 179f. 252 253

§ 14. Das "Gespräch unter Freunden"

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rend der Untersuchung des "Geredes" hebt Heidegger abermals hervor, daß auch die echten, eigentlichen Verstehensweisen in der Uneigentlichkeit den Ausgangsboden fmden und letztlich auf diesen rückbezogen bleiben (sei es auch nur, um fiir die Mitmenschen gegen die nivellierende Tendenz des Man vorzugehen): "In ihr [der alltäglichen Ausgelegtheit] und aus ihr und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und neu Zueignen. "257 Die "Uneigentlichkeit" ist somit nicht ein verhängnisvolles Fatum, solidem birgt den (freilich noch nicht ins Eigentliche befreiten) ursprünglichen Boden in sich. Oben wurde schon vermerkt, daß Heidegger geschichtliche Variationen des Vorherrschaftscharakters des "Man" anspricht. Es kann also durchaus geschichtliche Epochen geben, in denen die nivellierende Durchschnittlichkeit weniger aufdringlich waltet. Im Zuge der Verfallensanalyse wird allerdings klar, daß Heidegger hier nicht an irgendein utopisches (oder "legendäres") "goldenes Zeitalter" denkt, daß bar jeder Tendenz zur Uneigentlichkeit sein könnte: "Die ontologisch-existenziale Struktur des Verfallens wäre auch mißverstanden, wollte man ihr den Sinn einer schlechten und beklagenswerten ontischen Eigenschaft beilegen, die vielleicht in fortgeschrittenen Stadien der Menschheitskultur beseitigt werden könnte. nm Auch in geschichtlichen Epochen, wo das Man weniger stark das Leben der Menschen in ihrem Miteinandersein bestimmt, bleibt zumindestens die Tendenz zum Verfallen aufrecht. Der Mensch kann sich also nie ein für alle Mal gegen diese Möglichkeit absichern, sondern muß immer wieder sich bemühen, ihr nicht in allzu großem Maße zu unterliegen. Letztlich ist es hier noch angebracht, auf die Vielschichtigkeit der Worte "Uneigentlichkeit" und "Eigentlichkeit" hinzuweisen. Die Eigentlichkeit im strengen Sinne meint die Seinsweise, in der das Dasein sein eigenes Selbst ausdrücklich "ergreift", d.h., nicht einfach in alltägliche Vollzüge des Besorgens zerstreut ist, bei denen das eigene Selbst fraglos bleibt. Die Uneigentlichkeit im strengen Sinne meint die Seinsweise, in der sich das Dasein im Sinne von Seinsweisen versteht, die es fraglos übernommen hat und aufgrund derer es gänzlich im jeweiligen alltäglichen Besorgen aufgeht. Diese Uneigentlichkeit kann in gewissem Sinne aber durchaus "echt" sein. D.h., ein Tischler, der sein Sein gänzlich aus einem überlieferten Handwerkerverständnis her versteht, ohne daß ihm sein eigenes Selbst dabei jemals frag-würdig geworden wäre, hat zwar nicht sein handwerkliches Sein aus dem entschlossenen Entwurfscharakter seines ureigenen Selbst frei ergriffen und ist insofern uneigentlich - aber er

257 258

22*

Sein und Zeit, S. 169. Sein und Zeit, S. 176.

340

3. Kap.: Hölderlins Hymne ))Andenken«

ist dadurch nicht "unecht". Er unterliegt nicht einer entwurfsmäßigen Selbsttäuschung, die sein Handwerk (für ihn selbst oder für andere) als etwas anderes darstellt als dieses ist. Ein anderes wäre es, wenn der Handwerker eine verabsolutierende Interpretation seines Handwerkes übernehmen würde, die dem Wesen seines Handwerkes nicht entspricht259 • Hier könnte dann von einer Uneigentlichkeit im Modus der Unechtheit gesprochen werden: Der Mensch interpretiert sein Sein aus seiner besorgenden Verrichtung, deren eigentliches Wesen er nicht einmal versteht. In bezug auf die Eigentlichkeit bedeutet das, daß die Echtheit darin besteht,

im Vorlaufen zum Tode sich fiir den Entwurf derjenigen Seinsweisen frei zu entschließen, die dem Dasein wesensmäßig zugehören. Die Eigentlichkeit (im

weiteren Sinne) verbürgt nicht schon die Echtheit. Es ist möglich, daß ein Dasein (z.B. durch eine Angst-Erfahrung) aus den uneigentlichen Weisen des alltäglichen Besorgens auf sein eigenes Sein zurückgerissen wird, letztendlich dieser Angst aber ausweicht und sich in durchaus "ausdrücklich ergriffene" Selbstinterpretationen flüchtet, die aber ganz und gar nicht der Seinsweise seines Selbst entsprechen. Vor allem auf dem Gebiet der Psychopathologie werden solche Fälle einer unechten Eigentlichkeit unschwer nachweisbar sein, d.h. Fälle, wo ein Dasein zwar ausdrücklich sein Selbst entwirft (d.h. sich nicht einfach an die Welt des Besorgens verliert), aber der Entwurf nicht dem Wesen des jeweiligen Selbst gerecht wird. Wenn also die Worte "Eigentlichkeit" bzw. "Uneigentlichkeit" gebraucht werden, muß, um Verwirrung zu vermeiden, der Leser mitdenkend den genauen Sinn dieses Gebrauches bestimmen. Uneigentlichkeit z.B. kann einfach neutral im strengen Sinne als fraglos übernommener Entwurf des (überantworteten) menschlichen Seins gebraucht werden, ohne daß in dem Zusammenhang eine gewisse Selbstinterpretation fiir "unecht" erklärt werden soll. Andererseits kann das Wort "uneigentlich" von Heidegger auch in Situationen gebraucht werden, wo primär an die unechten Modi der uneigentlichen Seinsweisen gedacht wird. 260

Vgl. Platon Apologie (Frankfurt: Insel, 1991) 22d. Ausdrücklich wird in Sein und Zeit die Unterscheidung von "echt" und "unecht" in bezugauf die "Eigentlichkeit" und "Uneigentlichkeit" nur im Verstehengparagraphen angesprochen; vgl. S. 146. 259 260

§ 14. Das "Gespräch unter Freunden"

341

II. Der ausgezeichnete Sinn des Gespräches im Gedicht "Andenken" als das Gespräch zwischen Menschen und Göttern, welches durch das (im Sinne eines echten Mitseins geführte) zwischenmenschliche Gespräch vorbereitet wird In der "Andenken"-Vorlesung denkt Heidegger das menschliche Sprechen, in dem sich das Mit-sein vollzieht, in seinem Ursprung aus dem Fest, d.h. in seinem Bezug zur Begegnung von Menschen und Göttern, wobei der Bezug vom Heiligen gestiftet ist: "Das Gespräch, so genommen, ist nicht eine Gebrauchsform der Sprache. Vielmehr hat die Sprache ihren Ursprung im Gespräch und d.h. im Fest und somit in dem, worin dieses selbst gründet."261 Der Entwurf des ursprünglichen Sinnes des Gespräches, der in den eingangs zitierten Schlußversen der dritten Strophe von Hölderlins "Andenken" anklingt, denkt das vom Mitsein durchwaltete menschliche Gespräch nicht von den alltäglichen, informationsdienlichen Unterredungen her, sondern denkt es vom Heiligen her als eine ausgezeichnete Weise, wie Menschen und Götter sich entgegnen können. Dieser hier angedeutete Sinn soll sich im folgenden wesentlich erhellen. Es wird auch zu zeigen gelten, daß das menschliche Gespräch und damit das menschliche Mitsein nicht "unwichtig" wird oder gar verstummt ("um nur noch auf die Götter zu hören"), sondern vielmehr dadurch erst in die volle Entfaltung seiner Eigentlichkeit entlassen wird. Das Gespräch vollzieht sich im "Hören" und "Sagen". Heidegger legt dieses "und" als ein explikatives aus, d.h., daß die Betonung auf dem "Hören" liegt, aus dem das Sagen sich erst eigentlich vollziehen kann. Von besonderer Bedeutung ist im Gespräch auch das, was das Hören und damit das Sagen durchstimmt, welches der Mensch vernehmen, auslegen und stimmhaft verlautbaren kann: "Wesentlich ist das, was die sagende und gehörte Stimme stimmt. Hieraus bestimmt sich zugleich die Art des Sagens und Hörens. "262 Das Zu-Sagende ist dem Gedicht zufolge: "des Herzens Meinung". Das Herz ist also das, was vernimmt, und dessen Vernommenes es zu sagen gilt. In Anschluß an den Gedanken des "heiligtrauernden Herzens" aus der Germanien-Hymne sagt Heidegger: Daher ))des Herzens Meinung« - das, was dieses, nämlich das ))heilig-trauernde« »will«. Das ist das, wozu das Herz in seinem Grunde entschieden ist, jenes, ohne welches es nicht ist und nicht sein kann, was es ist. Dieses im Herzen Gemeinte ist

26 1 262

GA 52: S. 157. GA 52: S. 158.

3. Kap.: Hölderlins Hymne >>Andenken«

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das Heilige, das selbst je nur geschichtlich ist in der Entgegnung der Menschen und Götter. 263

Die heilige Trauer des Herzens bleibt in dieser Trauer um die gewesenen Götter auf das Heilige bezogen, d.h., gerade in der Ablehnung der bloßen Übernahme von den Brauchtfunern gewesener Feste und deren Götter vermag das Herz, offen zu bleiben fiir den Grund dieser Feste, d.h. fiir das Heilige. In solchem Offensein pocht das Herz gerade nicht auf irgendeine "eingebildete Meinung", sondern es entleert sich eher von solchen, um vorbereitet zu sein, das Zu-Sagende zu empfangen. Deswegen erinnert Heidegger in diesem Zusammenhang auch an die etymologische Grundbedeutung von "Meinen", die in der "Minne", "Liebe" zu suchen ist. Des Herzens Meinung entspringt im Lieben, d.h. Offenwerden fiir den Zuspruch des Gemeinten ("Geminnten"). Das Heilige ist aber nur geschichtlich, wenn es sich im Bezug von Menschen und Göttern zeigen kann, und das bedeutet, daß der Dichter, um dem Heiligen zu seinem geschichtlichen Wesen verhelfen zu können, den Bezug zu den Göttern (eingedenk des Heiligen) stiften muß. Solch eine Stiftung kann natürlich nie erzwungen werden; die Götter müssen sich von sich selbst her zeigen. Allerdings kann der Dichter wesentlich zu der Begegnung etwas beitragen, indem er sich nämlich auf solches Erscheinen vorbereitet, damit er das Erscheinen der Götter als solches vernimmt, wann und wo immer es sich ereignen sollte. Solche Vorbereitung auf das Gespräch mit den Göttern ist das echte Gespräch unter Menschen. Im Gedicht wird nun gesagt, daß solches Gespräch von "Tagen der Liebe" redet und von "Taten, welche geschehen". Mit anderen Worten: Das Gespräch unter Menschen, sofern es des Herzens Meinung (das Heilige) ansprechen und dadurch das Gespräch mit den Göttern vorbereiten soll, vollzieht sich vor allem durch Erinnerung an Gewesenes. Bezüglich dieser Erinnerung bemerkt Heidegger: "Erinnerung, recht verstanden, ist hier das Vertrautwerden mit dem Wesenhaften als dem, das immer einmal schon weste. Das so Wesende muß sich von sich her den Sterblichen anvertrauen. Das ist seine Weise des Offenbarwerdens."264 Wieder begegnet uns hier die Doppelstruktur, die wir schon bei der Analyse des Griißens fanden: Die SichErinnernden öffnen sich fiir das Gewesene in dem Sinne, daß sie ihm Raum geben, sich von sich selbst her zu zeigen und sich dadurch der Erinnerung wesentlich zuzusprechen. In solchem Zuspruch ergeht wiederum eine Weisung an die Sich-Erinnernden, welche diesen in ihr Eigenes verhilft. Denn das Gewesene ist als Erscheinendes auch auf dasjenige angewiesen, was erscheinen läßt 263 264

GA 52: S. 158. GA 52: S. 161.

§ 14. Das "Gespräch unter Freunden"

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und in diesem Lassen sich entzieht: "Weil aber das Sichanvertrauende schon weste und west, birgt es immer in sich ein Früheres, in das es zuriickweist, ohne es doch erscheinen zu lassen. Das Erinnerte ist erfiillt von Solchem, was sich zugleich entzieht und die Erinnerung im Verborgenen festbindet." 265 Das "Frühere", auf welches das Gewesene in seinem Anwesen zuriickweist, ist natürlich kein chronologisch Früheres (das genau dieselbe Anwesenheitsweise hätte, wie das chronologisch Spätere, dadurch immer weiter hinterfragbar wäre und daher diese Kette im Endlosen versanden würde), sondern ein "ontologisch Friiheres" bzw. besser: das Anfängliche, aus dem sich das Seyn allererst ereignet.

Die Erinnerung weist also auf das Anfängliche zuriick, daß im Erscheinen nur insofern offenbar wird, als es sich entzieht. Damit ist aber auch gesagt, daß das Anfängliche niemals "verloren" gehen kann, in dem Sinne, daß die Menschen für es "zu spät" kommen. Für das Eigene eines gewesenen Festes ist dies möglich. Die Germanien-Hymne klagt um die Unmöglichkeit, die gewesenen Götter unmittelbar in die lebendige Gegenwart holen zu können. Aber der Ursprung dieses Festes ist nicht in dem Sinne gewesen wie die Götter, weil er im Gewesenen nie erschöpfend aufgegangen ist. Die gewesenen Tage der Liebe und der Taten erinnern die Freunde im Gespräch daran, daß in diesen etwas gespart blieb, dessen verhaltenes Wiedererscheinen es vorzubereiten gilt: Offenbar zu werden im Sichentziehen ist aber die Art, wie das Schicksal west, das geschichtlich ist im Fest, dessen Feier den Sterblichen in der Gestalt der Liebe und der Tat anvertraut ist. Daher gilt: Das Gespräch, das des Herzens Meinung sagt und von der Liebe und den Taten hört, ist die den Sterblichen gewährte Vorbereitung des himmlischen Gesprächs, in das die Sterblichen schon einbezogen sein müssen. 266

Mit anderen Worten, die Menschen werden auf das Gespräch mit den Göttern nur vorbereitet, wenn sie aus dem Gewesenen lernen, daß der Quell der Menschen und Götter ein verborgener ist, der unausschöpflich sich an allen Tagen ergießt und in Weisen der "Liebe" und "Taten" an Festtagen einmalig zum Vorschein kommen kann. Aus dieser Erinnerung können die Menschen im Gespräch einander vertrauen lernen. Denn hier lernen sie das gemeinsame Geheimnis des Ursprungs ihrer Geschiedenheit, auf das sie wesenhaft bezogen sind. Dieses Geheimnis gewährt allem Erscheinenden sein ureigenes Sein, dessen Differenz aber gerade keine Abkapselung von allem Mitanwesenden bedeutet, sondern die Möglichkeit verleiht, auf ureigene eigenständige Weise das Andere so anders sein zu lassen, wie auch der Ursprung das ureigene Sein des Entsprungenen von ihm anders 265

266

GA 52: S. 16lf. GA 52: S. 162.

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sein läßt (ohne dadurch den Bezug zum Anderen zu verlieren, sondern ihn gerade zu halten). "Nur aus diesem erinnernden Vertrautsein mit dem Anvertrauten her können nun auch die Sagenden und Hörenden des Gesprächs einander vertrauen und als Vertrauende die Vertrauten sein, die Freunde. "267 Die Freundschaft der Freunde gründet somit in dem im Grunde schon angelegten eigentlichen Bezug der Menschen zu einander, dessen Grundstruktur keine vereinnahmende, sondern freigebende ist. Konkret Freunde werden diejenigen Menschen, die diese Grundstruktur erfahren haben und lebendig in sich aufnehmen. Daher wird die Freundschaft im strengen Sinne nicht "gemacht", sondern zugelassen. Bereits in Sein und Zeit sahen wir, daß die ontologische Struktur des Mitseins den Menschen so wesenhaft konstituiert, daß er unabhängig von seinem ontischen Verhalten sich ihrer nie entledigen kann. Natürlich kann er sie bis zur gröbsten Unkenntlichkeit hin mißbrauchen und verstellen; aber der Mensch kann seinen Bezug zum Mitmenschen nie nachträglich "machen", sondern ist immer schon auf ihn bezogen. So auch in der Freundschaft: "Gleichwohl >machen< nicht erst die Freunde ihr Gespräch; denn das Gesprochene solchen Gespräches ist nur, was es ist, das Erinnerte, wenn die Sprechenden, d.h. Sagenden und Hörenden, selbst schon angesprochen sind von dem, was im Gespräch gesprochen und doch niemals ausgesprochen wird. "268 Gesprochen wird im eigentlichen freundschaftlichen Gespräch von der Erinnerung an das gewesene Fest im Hinblick auf bzw. als Vorbereitung für das Kommende. Der Grund für die Möglichkeit solcher Vorbereitung liegt in der Unausschöpflichkeit des Heiligen. Aus diesem Grund schöpft das ganze Gespräch seine Kraft, ohne diesen aber jemals (so wie das Erinnerte) aussprechen zu können, da er sich im Grunde immer zugunsten der Eigenständigkeit des Ausgesprochenen entzieht. Die Freundschaft als Grund für das Gespräch unter Freunden ist somit die "Gestalt", in der eine wesentliche Vorbereitung für das kommende Fest sich vollziehen kann. Die Vorbereitung ist insofern jederzeit möglich, als die Freundschaft (als Grund) immer schon gegeben ist, unabhängig davon, wieviele Freunde es faktisch gibt, die ihn gewahren: "Sie [die Freundschaft] west ursprünglicher als die Freunde, so wie das Gespräch ursprünglicher ist als die Sprechenden. "269 "Ursprünglicher" ist hier nicht so zu verstehen, daß der konkrete Vollzug eines freundschaftlichen Gespräches ein unwichtiges, nebensächliches Begleitphänomen wäre; gerade so eine "platonisierende" Auffassung GA 52: S. 162. GA 52: S. 162. 269 GA 52: S. 165.

267 268

§ 14. Das "Gespräch unter Freunden"

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des Wesentlichen will Heidegger durch den ereignisgeschichtlichen Gedanken der Bergung unterlaufen. Ursprünglicher heißt hier, dem gebenden Ursprung näher und damit auf einer Ebene gegeben, die nicht willkürlich zerstört werden kann. Konkrete Freunde stehen immer in der Möglichkeit, ihr Eigenes vergessen zu können und damit ihres eigentlichen Bezugs zum Mitmenschen verlustig zu gehen und so auch zu Feinden zu werden. Allerdings stehen sie nicht in der Möglichkeit, die ontologische Struktur der Freundschaft zu zerstören; d.h. mit anderen Worten: eine Rückfmdungsmöglichkeit in ihr Wesen ist ihnen jederzeit ursprünglich gegeben, und daher wird das Ablehnen dieser erst zu einer freien Handlung. Die Sprechenden und die Freunde sind mit der Freiheit gewürdigt, den Ursprung zu mißachten und ihre Zusammengehörigkeit zu mißbrauchen. Je ursprünglicher nun eine "Struktur" ist (wie z.B. die "Freundschaft"), desto mehr steht sie im gebenden Zug des Ursprungs, und desto weniger kann sie sich "strikt verweigern", d.h., sich von sich selbst her so verschließen, daß ihre Aneignung dem Menschen prinzipiell nicht mehr offen stünde. Der Ursprung selber ist das reinste Geben (von nie tilgbaren Wesensfmdungsmöglichkeiten). Wie schon in Sein und Zeit im Zuge der Verfallensanalyse die Uneigentlichkeit in bezug auf das eigentliche Gespräch als "das Gerede" analysiert wurde, so verweist Heidegger auch in seiner "Andenken"-Hymne Vorlesung auf diese Möglichkeit. Die Möglichkeit des Verfallens, deren Auslegung in "Andenken" recht kurz gehalten wird, braucht hier nicht ausführlich erläutert zu werden. Das uneigentliche Gespräch wird mit Hölderlin das "Geschwätz" genannt. Als solches entbehrt es der dichterischen Wesenszüge und vor allem der Bündigkeit, d.h. der Verbindlichkeit zu dem, was Wesentliches dem Menschen zu sagen aufgegeben ist; solch Sagen vermag das dichterische: "das Dichterische ist nicht das End- und Uferlose, sondern das Sichfügende in das Schickliche;...Das Dichterische ist das Bündige, was sich selbst bindet und als Gebundenes verbindlich ist. "270 Das solches Sichfügen natürlich nicht fatumshart zu verstehen ist, wurde von uns bereits ausführlich untersucht. Solche Fügung ist vielmehr das eigenständig-freie Zulassen des Wesentlichen und der ("schöpferisch-") verwandelnde Austrag dessen ins Seiende.

270

GA 52: S. 164.

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111. Die einsame, doch andenkende Vorbereitung auf das zwischenmenschlich-vorbereitende Gespräch mit den Göttern In unserem Sein und Zeit-Exkurs deuteten wir bereits kurz an, daß der ontischen Übernahme des im Menschen angelegten Wesenszuges des echten, eigentlichen Mitseins eine Phase der Vereinzelung vorangeht. Diese Vereinzelung ist aber nicht Selbstzweck, sondern öffnet das Dasein erst für das vorausspringend-befreiende Mitsein. In der "Andenken"-Vorlesung begegnen wir einer seinsgeschichtlich verwandelten Form dieser "Vereinzelungsphase". Denn nicht nur kann das gemeinsame Gespräch unter Freunden das Erscheinen eines Gottes nicht herbeizwingen, sondern selbst das Gespräch unter Freunden kann nicht herbeigezwungen werden: Sogar die Vorbereitung des einzelnen und zumal des Dichters für das Gespräch, das andenkende Denken, ist stets eine Schenkung, um die der Dichter nur bitten kann~ ..Dieses >Bitten< verlangt nach der Zumutung des Schicklichen, nach den Stunden der Feier, nach den ersten Vorzeiten des Festes. 271 Als "Bitte" um solch eine Feier zitiert Heidegger Zeilen aus Hölderlins "Titanenhymne". An deren Ende heißt es jedoch: "))Ich aber bin allein.«" 272 Die Zeit für das vorbereitende Gespräch unter Freunden ist noch nicht gegeben. Heidegger knüpft unmittelbar an das Titanenhymnenzitat den Hinweis an, daß aus dieser Einsamkeit die 4. (und Teile der 5.) Strophe zu verstehen ist (sind): "Dieser letzte Vers »Ich aber bin allein« nennt den Grund für die Frage, mit der die vierte Strophe von ))Andenken« beginnt. Weil der Dichter allein ist, fragt er: .. "273 An diesem Punkt zitiert Heidegger die ersten zwei Zeilen der 4. Strophe von "Andenken"; wir wollen uns hier schon diese Strophe als ganze vergegenwärtigen: Wo aber sind die Freunde? Bellarmin Mit dem Gefährten? Mancher Trägt Scheue, an die Quelle zu gehn; Es beginnet nemlich der Reichtum Im Meere. Sie, Wie Maler, bringen zusammen Das Schöne der Erd' und verschmähn Den geflügelten Krieg nicht, und Zu wohnen einsam, jahrlang, unter Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen GA 52: S. 166. Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 52: S. 166. 273 GA 52: S. 166. 271

272

§ 14. Das "Gespräch unter Freunden"

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Die Feiertage der Stadt, Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nichtY4 Die Freunde, die sich im Gespräch auf die Bestimmung des Zu-Sagenden einlassen, sind noch auf Wanderschaft in der Feme. Heidegger betont, daß Hölderlin nicht etwa schon "am Ziel" wäre und beklage, daß die anderen Dichter so weit "hinten" geblieben sind. Auch Hölderlin ist nicht arn "Ziel". Aber er hat sich aufgemacht auf den Weg, das Eigene frei gebrauchen zu lernen. Er hängt dem Fremden nicht nach, um von dort das Eigene zu fmden und gleichsam von daher zu importieren. Diese Einsicht leitet Heidegger so ein: "Die Freunde sind nicht im Heimischen und Eigenen; genauer, sie sind nicht auf dem Weg des Lemens, worin der freie Gebrauch des Eigenen angeeignet werden soll. "275 Der Dichter nennt mit "Bellarrnin" eine Gestalt aus der Hyperion-Dichtung. Heidegger interpretiert dies dahingehend, daß der Dichter Hölderlin selbst auf dieser Wanderung war, wo die Freunde noch sind. Von dieser Wanderung ist er heimgekehrt und steht am Anfang eines neuen Weges: "Durch den Übergang in das Heimische hat der Dichter sie zurückgelassen in dem fremden Lande, wo er selbst vormals war und im Fremden das >Eigentliche< suchte, ohne das Eigene zu bedenken."276 Auf diesem Weg ist der Dichter noch allein. In dieser Einsamkeit hat er sich aber von den Freunden nicht gänzlich abgewandt. Auch auf dem Weg ins Eigene denkt er an sie. Durch solches Andenken wird ein Gespräch mit ihnen schon vorbereitet. Ihr jetziger Wesensort trägt auch ein Gewicht für die Vorbereitung des künftigen Gesprächs, denn das Lernen des Fremden ist, wie wir sahen, unabdingbare Voraussetzung für das Lernen des freien Gebrauchs des Eigenen: "Die Frage »Wo aber sind die Freunde?« soll demnach urspriinglicher mithelfen zu bestimmen, welchen Wesens dieses Gespräch der Freunde ist, das ein künftiges »himmlisches Gespräch« vorbereiten soll. "277 Das Andenken an die Freunde ist also miteinbezogen in die Frage nach der künftigen Freundschaft. Der heimgekehrte Dichter ist selbst in seiner Einsamkeit doch auf die Freunde bezogen und erharrt ihr Kommen. Da auch er am Anfang eines Weges ist, gilt das in der 4. Strophe in bezug auf die Freunde Gesagte auch für ihn: "Im Bereich dieser Freundschaft ist der Dichter selbst mit ein Freund. Was die vierte Strophe fragt, handelt zwar von den Freunden, geht aber doch auch den Dichter, ihn sogar zuerst an. "278 Der Dichter räumt sich Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 52: S. 20. GA 52: S. 167. 276 GA 52: S. 167. 277 GA 52: S. 169. 278 GA 52: S. 169.

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275

3. Kap.: Hölderlins Hymne »Andenken«

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nicht selber eine "höhere Stellung" den Freunden gegenüber ein, sondern richtet das Gesagte und die Fragen, die auch sie betreffen, nichtsdestoweniger in erster Linie an sich. Die dritte und vierte Zeile reden von der Scheu, die "mancher" in bezug auf den Gang zur Quelle trägt. Auch der einsame Dichter ist nicht an dieser Quelle; diese Scheu gilt auch ihm. Das einsame "Ich" des Dichters betont vielmehr die Schwere des Anfangs solchen Ganges, die ihn als ersten angeht: "Es [das "Ich aber bin allein"] enthüllt vielmehr die Schwere des Eingeständnisses, selbst am Beginn des Schwersten zu stehen. Das Wort ist weder Anklage noch Herabsetzung. "279

a) Die Scheu vor der Quelle Die Analyse der Scheu, die Heidegger in diesem Zusammenhang gibt, ist fiir ein besseres Verständnis der "Verhaltenheit", der Grundstinunung im ereignisgeschichtlichen Denken, von großer Bedeutung. Die Verhaltenheit konstituiert sich in erster Linie aus zwei Wesenszügen: 1. Dem Erschrecken vor der Seinsverlassenheit, d.h. der Weise, wie im Seienden das Sein nicht mehr zum Vorschein kommt, und 2. der Scheu. Ohne auf diese ganze Analyse hier eingehen zu können, läßt sich aus ihr positiv hervorheben, daß die Scheu das Moment des Zögems in sich trägt, welches allerdings kein bloßes "Verzagen" bzw. keine verzweifelte Unentschlossenheit ist; denn die Scheu weist gerade nicht auf den Zusammenbruch eines Bezuges hin, sondern auf die Vorsicht, mit dem dieser gewahrt und gepflegt werden soll: "Denn in der Scheu west allem zuvor eine Zuneigung zum Gescheuten, deren Vertrautheit sich im Fernbleiben verhüllt und ihr Fernes nahe hat, indem sie zu ihm hinüberstaunt." 280 Das Fernbleiben des Gescheuten ist nicht das Ergebnis eines Von-sich-Stoßens, sondern rührt aus einem staunend-offenen Nahekommenlassen des Femen als Femen, damit dessen Eigenes nicht durch allzu Grobes zerstört wird. Das in dieser Scheu Gescheute ist zunächst ein Fremdes. Aber die Quelle (als das Gescheute) steht doch in einem unmittelbaren Bezug zum Eigensten: Die Scheu entspringt und erwacht nur dort, wo ein Fernes erscheint, dem allein die anfänglich Entfernten eigentlich zugehören. Dieses Feme zeigt sich zunächst als das Fremde. Dieses befremdet. Aber die Scheu ist nicht Scheu vor dem Befremdlichen,

279

280

GA 52: S. 170. GA 52: S. 171.

§ 14. Das "Gespräch unter Freunden"

349

sondern vor dem Eigenen und fernher Vertrauten, das im Fremden als dem Fremden zu leuchten beginnt. 281

Der Gang zur Quelle ist kein vorhanden-naheliegender. Daher entspringt die Scheu vor der Quelle nur, wenn ihre (vom Vorhandenen her gemessene) Femheit vernommen wird. Aber gerade in dieser Scheu und der sich in ihr zeigenden Feme kommen die Scheuenden ihr näher. Da die Quelle eben nicht auf der Hand liegt, bleibt ein jegliches Suchen im Vorhandenen ihr gänzlich fern. Die Feme, die sich aber in der Scheu zeigt, ist zwar zunächst ein Fremdes, aber zwischen dem Fremden der Quelle und der Fremde, die sich auf den Reisen in der Welt des Seienden zeigen kann, waltet ein Unterschied. Das Fremde gewesener Feste und fremder Orte wird nie zum Eigenen. Dies wäre Vereinnahmung des Anderen und dadurch Wesensverlust des Eigenen zugleich. Das Eigene und das sogeartete Fremde müssen in der Feme bleiben, um sich gegenseitig im Wesen zu wahren. Das Fremde der Quelle aber kann zum "fernher Vertrauten" werden, das in der Fremde "zu leuchten" beginnt und durch solche Leuchtspur in den Ursprung des Eigenen verweist. Das Eigene ist in der Quelle zu Hause. Auch das Fremde ist in der Quelle zu Hause, aber mit einem anderen Eigenwesen von ihr begabt. Die Scheu vor der Quelle ist also ein Grundzug der Stimmung auf dem Weg zum Lernen des freien Gebrauches des Eigenen. Das Eigene zeigt sich nicht vorhanden im Seienden. Aber es beginnt sich zu zeigen in der fernen Vertrautheit der Quelle. Die Quelle wird somit natürlich niemals zum Eigentum. Vielmehr erweist sich, daß das Eigene in seiner Nähe zur Quelle ein Suchen bleibt; das Suchen nämlich, die Quelle immer ursprünglicher im Eigenen fließen zu lassen. "Das Eigenste ist nie Besitz - es ist das Eigenste nur als das Gesuchte des Suchens. Suchen ist jetzt eindeutiger: der Gang an die Quelle. "282 Das Lernen des freien Gebrauches des Eigenen ist der Gang an die Quelle. Das Eigene wird hier nicht aus dem Fremden bloß übernommen, sondern aus "seiner" Quelle erfahren, die auf andere (unverfiigbare) Weise aber auch dieselbe Quelle des Fremden "ist". Das Sprudeln der Quelle im Eigenen erweist dieses als niemals fest-stellbaren Besitz. Die Quelle verweist auf den Fluß ins Andere. Das Eigene besteht also nicht in der Abkapselung vor dem Anderen, sondern in dessen Bejahung. Es besteht aber auch nicht in dessen Verabsolutierung. Das "Andere" kann einen Hinweis auf die Quelle geben und somit zumal auf den Ursprung auch des Eigenen.

281 282

GA 52: S. 172. GA 52: S. 173f.

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3. Kap.: Hölderlins Hymne ))Andenken«

b) Der Hinweis aufdie Quelle im Anderen: Die Unabdingbarkeil der Fahrt in die Fremde Das "Andere" kann diesen Hinweis auf die Quelle des Eigenen nicht nur geben, sondern es gibt ihn auch. Deswegen ist die "Fahrt in die Fremde" und das Erlernen des Fremden unabdingbar für den Gang an die Quelle. Deswegen gilt das Andenken des einsamen Dichters auch auf nicht-verachtende Weise den Freunden, die noch nicht ins Eigene gekehrt sind. Denn sie bringen von ihrer Fahrt in die Fremde Hinweise für den Gang an die Quelle, solange sie sich nicht im Fremden verlieren. Die Freunde bringen von ihrer Fahrt Kunde von "Tagen der Liebe" und den "Taten, welche geschehen", die einen Hinweis auf das Heilige als der Quelle bergen. Ein Gespräch mit den Freunden, wo dieses zur Sprache gebracht wird, ist, wie wir sahen, unabdingbare Vorbereitung für das Gespräch mit den Göttlichen. Nur auf diese Weise kommen aber die Menschen in ihr Eigenes, indem sie das Eigene der Götter und der Mitmenschen sein, d.h. anwesen, lassen. Den Gedanken der Unabdingbarkeit der Fahrt in die Fremde verfolgt Heidegger noch einmal am Ende dieser Vorlesung. Von ihr künden auch die 4. und der größere Teil der 5. Strophe. Die 4. Strophe verweist darauf, daß der "Reichtum" nicht an der Quelle beginnt, sondern im Meere. Das Meer entfaltet den Reichtum, der in der Armut der Quelle gründet. Solche Armut ist kein Mangel. Auch die Grundhaltung desjenigen, der die Quelle des Eigenen fmden will, muß eine der Armut in diesem Sinne sein: "Die wesenhafte ursprüngliche Armut ist der Mut zum Einfachen und Ursprünglichen, der nicht nötig hat, an etwas zu hängen." 283 Die Quelle behält nichts für sich, sondern gibt alles weiter. Die Gaben der Quelle versammeln sich im Reichtum des Meeres. Der Reichtum des Meeres wird so zum Hinweis darauf, welche Reichtümer die Armut der Quelle zu verschenken hat. Der Gang an die Quelle verlangt also ein Ablassen von den Reichtümern, da diese nicht zur Quelle, sondern zunächst von ihr weg führen. Die Quelle (be-)hält keine Reichtümer und keinen Besitz. Aber doch bleiben die Reichtümer auf die Quelle bezogen. In ihnen vollendet sich der Fluß der Quelle. Daher leuchtet in den Reichtümern die Armut der Quelle im erhabenen Sinne mit auf. Am reinsten ist dieses Leuchten im "Meer" des Fremden, wo sich die Gaben sammeln. Die Leuchtspur zur Quelle fmdet sich dort am ehesten: "Der Aufenthalt in der Fremde und die Befremdung in der Fremde müssen sein, damit am Fremden das Eigene zu leuchten beginnt. Dieses ferne Leuchten erweckt die entfernte Zuneigung zum Eigenen. "284 Das 283 284

GA 52: S. 174. GA 52: S. 175.

§ 14. Das "Gespräch unter Freunden"

351

Eigene ist natürlich genauso Gabe derselben Quelle und daher in seinem Grund auch kein statischer Besitz. Das Fremde wird nicht zum Eigenen vereinnahmt, sondern an seiner Gegeben-heit, d.h. an dem ihm zum ureigenen Seinsvollzug freigegebenen Wesen, bekundet sich dieselbe Quelle, die das gesuchte Eigene bereithält. Die "Schiffer", die in den Reichtum dieses Meeres ausfahren, sind gemäß Heideggers Interpretation die Dichter, die das "Eine" zwar niemals im Abbilden von Vorhandenem erblicken, aber es doch noch im primären Hinblick auf das Seiende bestimmen (anstatt das Seiende im Fluß der Quelle zu gewahren, d.h. im Ereignis des Sichhergens der Wahrheit des Seins ins Seiende). Von dieser Art des Dichtens sagen folgende Zeilen aus der 4. Strophe: "... Sie,/ Wie Maler, bringen zusammen/ Das Schöne der Erd' ... "285 Hölderlin selber dichtete zur Hyperionzeit auf diese noch "metaphysische" Weise286: "Die Dichter berichten nicht, sie entwerfen das Bild und bringen in ihm den Anblick dessen zu Gesicht, was das Aussehen, die t8Ea des Seienden ausmacht. Sie müssen dieses aber auf ihrer Fahrt erfahren aus der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der Erde. Sie müssen aus dem All des Seienden aufsteigen zum Sein."287 Solche Fahrt ist "stürmisch" und dauert lange Jahre. Auch diese Fahrt ist kein Leichtes, auf ihr sind die Dichter nicht nahe dem Ursprung und dennoch: "sie sind entschlossen, »Zu wohnen einsam, jahrlang, unter/ Dem entlaubten Mast...«." 288 Das Auffmden der "Leuchtspur" zur Quelle im Reichtum des Meeres ist mühselig und schwer. Das Erlernen des Fremden ist aber nicht umgehbar: "»jahrlang« dauert der Beginn des Lernens des Fremden, welches Lernen erst dem eigentlichen Lernen des Eigenen voraufgehen muß. "289

IV. Das ganze Gefüge der Vorbereitung des Brautfestes Die Vorbereitung des Brautfestes und damit das Erharren des Wiedererscheinens des Heiligen ist also mehrfach in sich gefügt: Das Heilige als die Quelle beginnt im Meer der Fremde aufzuleuchten. Daher muß das Fremde

Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 52: S. 176. Heidegger weist auf den "metaphysischen Charakter" solcher Dichtung eigens hin: "Daß hier die Dichter »wie Maler« gedacht sind, enthält die verborgene Wahrheit über das Wesen des Dichterturns der Dichter, die noch nicht auf die andere Seite hinübergegangen. Sie sind Dichter im Wesensbereich der >Metaphysik>nennen« heißt es V. 65f.: »Wir nennen Dich, heiliggenöthiget, nennen,/ Natur! dich wir, ... « Auch das dichterische Sagen »von« dem Strom ist solches Nennen des Stromes"•, d.h. ein Nennen, das aus dem Heiligen her zu verstehen ist. Das Heilige gilt es ins Wort zu bringen, damit dessen Offenbarkeit (im Sinne des Aufschemens des gewährenden Sichentziehens) den Bereich fiir das .Fest, d.h. fiir die Begegnung von Göttern und Menschen, eröffne. Im Wesen des Heiligen ist diese Begegnung einzig zu denken. Das "Wann" und "Wo" des Festes fragt nach dem geschichtlichen Ort, an dem den Menschen im dichterischen Wort der Bereich des Heiligen eröffnet ist und die Begegnung sich ereignet. Dieser Ort bleibt natürlich frag-würdig. Noch ist solches Fest nicht. Aber es gibt eine Vorbereitung für ein solches, die in Hölderlins Dichtung aufbewahrt ist und auf Aneignung und Vertiefung wartet. Solche Vorbereitung hebt das Heilige ins Wort. Damit ist die Aufgabe jedoch nicht erledigt; sie fängt hier vielmehr eigentlich erst an. Denn die Nennung des Heiligen eröffnet dieses Phänomen in seiner urgründigen Unauslotbarkeit, die es anfänglich und unaufhörlich ins Seiende zu bergen gilt. Nie kann das Heilige in solcher Bergung erschöpft werden, sondern je mehr Spuren des Heiligen zum Vorschein gebracht werden, desto deutlicher zeigt sich die Unausschöpflichkeit des Phänomens, dessen jäher Vorbeigang in der Geschichte überlieferte Spuren hinterlassen hat. Die Kunde der gewesenen Götter und ihr Bezug zu den Menschen sind solche Spuren. Durch die Nennung des Heiligen leuchtet ihr Sinn als gewesener auf; es gibt Hinweise auf das Heilige in dem griechischen Götterdenken, aber das Heilige selbst hat sich hier bereits entzogen. Damit es die Menschen in ihrem Innersten erneut streifen und begeistern kann, muß es im Wesen des Menschen selber aufscheinen, um diesen fiir das Erscheinen des Gotthaften vorzubereiten. Damit die Menschen das Erscheinen eines Gottes als solches überhaupt wahr-nehmen können, bedarf es einer gewissen Vertrautheit mit dem Wesen des Heiligen. Solche Vertrautheit stiftet der Dichter aufmilde Weise, indem er das Ent-setzliche, d.h. der Gewohnheit ganz fremde Wesen des Heiligen, auf gewandelte Weise ins Wort hebt, wo es im 4

GA 53: S. 25.

§ 15. Heideggers Vorlesung ))Der Ister«

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Seienden mild geborgen hervorscheint und die Menschen auf eine Weise ansprechen kann, die sie vor allzu abruptem Hereinbrechen des Un-heimlichen bewahrt und sie dennoch nicht in eine bloße Oberflächlichkeit abgleiten läßt. Das Wesen solcher Dichter liegt aber nicht auf der Hand. Auch es muß gestiftet werden, und zwar in eins mit der Nennung des Heiligen. Aus dem Wesen des Heiligen muß das Wesen der Dichter verstanden werden. Wir sahen bereits, wie sich bei Hölderlin dies anbahnt. Die Bereitung des geschichtlichen Ortes des Festes ist wesentlich mitgestaltet durch die Dichter. Durch sie kommt das Heilige ins Seiende. Das Wesen solcher Dichter wird gemäß Heideggers Interpretation in den Stromdichtungen gedichtet. Dies gilt es näher zu erhellen.

II. Das Wesen des Stromes- das Geschichtlichwerden des Heiligen Bereits in der Vorlesung "»Germanien« und »Der Rhein«" wurde das Wesen des Dichters eng mit dem Strom und dem "Halbgott" Rhein zusammen gedacht. Dieser Gedanke wird sich im Zuge der Ister-Vorlesungnoch weitergehend verdeutlichen. Betrachten wir zunächst aber "nur" das Wesen des Stromes, so, wie es sich in den gedichteten "Flüssen" zeigt. In der Rhein-Hymne heißt es, daß der Strom der erdhaften Quelle durch Erhörung seitens der Götter entspringt und die Gabe seines Entsprungenseins ins Land trägt, so daß um ihn Wachsturn gedeiht und die Gegend fiir Menschen bewohnbar wird. Der Strom macht urbar, stiftet den Wohnort. In der Ister-Hymneheißt es im letzten Drittel der ersten Strophe, nachdem die fernangekommenen Wanderer das Ufer des Isters erreicht haben: »Hier aber wollen wir bauen«. Hier spricht sich das Heimischwerden aus, zu dem der Strom Wesentliches beiträgt. Im letzten Kapitel sahen wir bereits, daß die "Wanderer" diejenigen sind, die aus der Fremde zurückkehren und in Erinnerung an das gelernte Fremde nun sich aufmachen wollen, den freien Gebrauch des Eigenen zu lernen. Darin besteht das echte Heimischwerden, dem der Strom hilft: "Wenn aber der Strom die Ortschaft des Heimischen bestimmt, dann ist er eine wesentliche Hilfe fiir das Heimischwerden im Eigenen. "s Die Hilfe besteht darin, daß er den Menschen einen Ort einräumt, an dem sie wohnen können, und sie dadurch eine Stätte haben zu lernen. Aber der Strom erschöpft sich nicht an einem Ort, versiegt nicht dort, sondern "wandert", d.h., strömt unaufhaltsam weiter. Er trägt den Ursprung bis ins Meer, wo sich der aus der Armut der Quelle gestiftete Reichtum sammelt. Der Strom stiftet in seis GA

53: S. 24.

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4. Kap.: »Der Ister« und die Gedenkschrift »Andenken«

nem Fließen, in seinem Wandern, die Ortschaft. Aus dieser Wesenseinsicht gewinnt Heidegger den interpretatorischen Leitspruch der Auslegung des Stromwesens: "Der Strom ist die Ortschaft der Wanderschaft. Der Strom ist aber auch die Wanderschaft der Ortschaft. "6 Etwas ausfiihrlicher lautet dieser Gedanke so: "Der Strom ist die Ortschaft des Wohnens des geschichtlichen Menschen auf dieser Erde. Der Strom ist die Wanderschaft des geschichtlichen Heimischwerdens am Ort der Ortschaft. Der Strom ist Ortschaft und Wanderschaft."' Heidegger nennt diese Sätze selber ein "Rätsel".' Solches Rätsel ist aber keine bloße ontische Unentdecktheit, sondern erfährt seine Rätselhaftigkeit aus dem Geheimnis des Heiligen: "Diese [alte, ursprüngliche Bedeutung des Wortes] meint mit Rätsel das vom »Raten«, d.h. dem sorgenden Nachdenken umsorgte Verborgene. »Rätsel« ist immer, wenn wir das sagen dürfen, heiliges Rätsel. "9 Das Rätselhafte des Stromwesens, das in den Leitsätzen anklingt, ist wesentlich von der eigentümlichen Räumlichkeit bestimmt, die mit der "Ortschaft" des Stromwesens angesprochen ist, und von der eigentümlichen Zeitlichkeit, von der die "Wanderschaft" des Stromes sagt. "Aber wie? Ort und Wandern, das gehört zusammen wie »Raum und Zeit«." 10 Heidegger weist im nächsten Satz zunächst auf die geläufigen Auffassungen von Raum und Zeit hin, die er danach einer längeren Destruktion unterwirft. Denn jeder Ort ist doch eine Stelle »im Raum«, und das Wandern ist eine Aufeinanderfolge der Schritte. Dieses Nacheinander verläuft in der »Zeit«. Die Abfolge der »Augenblicke«, d.h. hier der einzelnen Punkte des »Jetzt«, nennt man ja schon von altersher ein »Fließen«. 11

Aber diese geläufigen Raum-und-Zeit-Vorstellungen (als "Stellenmannigfaltigkeit'' und dem vergehenden Fluß von Jetzt-Punkten) können zur Besinnung auf das "heilige Rätsel" der Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Ströme keine wesentliche Einsicht beitragen (was keineswegs bedeutet, daß diese Vorstellungen innerhalb ihrer Grenzen "falsch" oder "nutzlos" seien). Heideggers Destruktion dieser geläufigen bzw. traditionellen Vorstellungen braucht uns hier nicht eingehender zu beschäftigen. Es genügt festzuhalten, daß Heidegger zunächst keine positive Entfaltung der "Wanderschaft" und "Ortschaft" gibt, sondern auf ihre seltsame Zusammengehörigkeit hinweist und die naheliegendsten Mißverständnisse bezüglich ihres Wesens abwehrt. Das 6 GA 53: S. 39. ' GA 53: S. 39. 8 Vgl. GA 53: S. 40. 9 GA 53: S. 40. 10 GA 53: S. 46. II GA 53: s. 46.

§ 15. Heideggers Vorlesung »Der Ister«

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Mißverständnis, das danach trachtet, Raum und Zeit ursprünglich im Sinne der Physik zu denken, faßt Heidegger kurz so zusammen: "Darin liegt, grob gesagt, daß Ort und Zeit nicht aus dem Bezug zur Geschichte und zum geschichtlichen Menschen begriffen sind, sondern aus dem Hinblick aufbloße Bewegungsvorgänge überhaupt. "12 Nachdem dieses Mißverständnis destruiert worden ist, bleiben die Leitsätze gewissermaßen als rätselhafte "Merkmale" stehen: "Der denkende Hinweis auf Ortschaft und Wanderschaft soll uns nur auf Merkmale aufmerksam machen, von denen aus das in sich ruhende dichterische Wesen des Stromes deutlicher und das Hören des dichtenden Wortes beholfener wird." 13 Wir haben freilich im Zuge unserer bisherigen Auslegung schon Einsichten in die rätselhafte Räumlichkeit und Zeitlichkeit kennengelernt, die im Heiligen mitgenannt sind und sich daher auch in seinem stromhaften Geschichtlichwerden bekunden; die ausführlichste diesbezügliche Analyse wurde im Exkurs zu dem "Zeit-Raum"-Abschnitt der Beiträge geleistet. 14 Die dort gewonnenen Einsichten sind hier also unbedingt rnitzudenken. Die Zeitlichkeit des Stromwesens ist keine vergehende Jetzt-Zeit, sondern die geschichtliche Spannweite, in der sich das Seiende ereignet. Die Räumlichkeit ist kein bloßer Punkt, sondern der Ort, an dem der Entscheidungsraum fiir die Zukunft des Gewesenen gewährt wird. Diese Räumlichkeit und Zeitlichkeit haben je ihr eigenes Wesen, aber solcher Art, daß sie einander ergänzen. Nur in ihrem Aufeinander-bezogen-sein können sie das sein, was sie sind. Der geschichtliche Entscheidungsort, der in die Zukunft blickt und ein zukünftiges Fest bereitet, bleibt notwendig auf die Zeit im Sinne der Zukunft, Gegenwart, aber auch auf das Gewesene bezogen. Die Ortschaft des Stromes kann also nicht ohne die Geschichtlichkeit der Wanderschaft des Stromes verstanden werden. Die Suche nach dem Lernen des Eigenen am vom Fluß gestifteten Orte kann sich also nur durch eine Besinnung auf das Gewesene vollziehen und zwar im Hinblick auf das Kommende. Zunächst verweist Heidegger auf die Bedeutung der Stromdichtung für dieses Lernen des Eigenen: "Insofern wir auf die Stromdichtung Hölderlins aufmerken, bedenken wir, daß und wie der Stromgeist einen Bezug hat zum Heimischwerden im Eigenen." 15 Zu diesem Lernen gehört, wie Heidegger unermüdlich betont, der Bezug zum Fremden, an das sich das Lernen aber nicht verlieren darf (da dadurch sowohl die Einzigartigkeit des Anderen als auch die des Eigenen verstellt werden): GA 53: S. 65f. GA 53 : S. 58. 14 V gl. hierzu den Punkt III im § 10 des zweiten Kapitels. 15 GA 53: S. 60. 12 13

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4. Kap.: »Der lster« und die Gedenkschrift »Andenken«

Das Heimischwerden ist so ein Durchgang durch das Fremde. Wenn das Heimischwerden eines Menschentums die Geschichtlichkeit seiner Geschichte trägt, dann ist das Gesetz der Auseinandersetzung des Fremden und des Eigenen die Grundwahrheit der Geschichte, aus welcher Wahrheit sich das Wesen der Geschichte enthüllt. Deshalb muß auch die dichterische Besinnung auf das Heimischwerden ihrerseits von geschichtlicher Art sein und als dichterische eine geschichtliche Zwiesprache mit den fremden Dichtem fordern. 16

Das hymnenhaft Festliche von Hölderlins Dichtung liegt im Bezug dieser Dichtung zum Heiligen; sie sucht dieses ins Wort zu heben und dadurch sein Geschichtlichwerden anzustimmen. Vorbereitet werden soll dadurch das Fest, an dem im dunklen Licht des Heiligen die Menschen den Göttern sich begegnen. Die gedichteten Ströme bringen die eigentümliche Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Heiligen, d.h. seine Geschichtlichkeit, rein im Seienden ins Scheinen. Am Strom wird die Ortschaft der Wanderschaft und die Wanderschaft der Ortschaft. Der Fluß gewährt Raum, ohne in ihm zu versiegen; er stiftet immer neuen Raum. Der Raum läßt die Menschen am Fluß Fuß fassen, ohne aber daß dadurch der Fluß des Stromes eingedämmt wäre. Aber um in dieser Ortschaft die Kunde von dem Ursprung, d.h. der Quelle des Flusses, zu vernehmen und um diese dichterisch den Mitmenschen vernehmbar machen zu können, bedarf es des Hörens auf die Dichtung gewesener Zeiten an anderen Orten, da diese Hinweise und Erfahrungshilfen bezüglich des Heiligen bergen. Hölderlins Dichtung der Ströme ist daher stets begleitet von dem Zwiegespräch mit griechischen Dichtem, vornehmlich Sophokles und Pindar: "Daher kommt es, daß zumal im Bezug auf das Heimischwerden und Heimischsein des Menschen in Hölderlins Hymnendichtung immer wieder dichterische Gedanken des Pindar und Sophokles anklingen. " 17 Das Heimischwerden bedarf des Fremden. Dadurch verliert das Eigene nicht an Ursprünglichkeit, sondern gewinnt sie gerade. Denn es kopiert niemals das Fremde, sondern erblickt im Fremden die Winke in den Ursprung des Eigenen des Fremden, ein Ursprung, der aufverborgene Weise derselbe (nicht der gleiche) ist, wie der Ursprung des gesuchten Eigenen: "Die Großen haben das, was sie geben, nicht aus ihrer Originalität, sondern aus anderem Ursprung, der sie empfmdlich macht für den »Einfluß« des Ursprünglichen der anderen Großen."18 Gerade dieser "Einfluß" verdankt sich also etwas, das weder "Besitz" des Fremden noch des Eigenen ist. Im Lichte dieses nie in den Besitz Zu16 GA 53: S. 60f. Daß hier mit "Durchgang" kein ausnützendes Verhalten gemeint ist, welches das Fremde "nach Gebrauch" verwirft, wird sich im Laufe dieses Kapitels zeigen (vgl. vor allem V.a.). 17 GA 53: S. 61. 18 GA 53: S. 62.

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Bringenden, aus dem dennoch alles zu eigen gegeben wird, kann das Eigene des Fremden gerade in seiner vom Seiben gewährten Andersheit zum Scheinen gebracht werden: Weil Hölderlin wie keiner seiner Zeitgenossen das innere Vermögen besitzen durfte, von Pindar und Sophokles beeinflußt, d.h. jetzt, dem fremden Ursprünglichen aus dem eigenen Ursprung ursprünglich hörig zu sein, deshalb hat auch Hölderlin allein aus der geschichtlichen Zwiesprache und Entsprechung es vermocht, uns diese Dichter und ihre Dichtung in einem ursprünglicheren Lichte zu zeigen. 19

Um das Gespräch mit dem Anderen auch wirklich ernst zu nehmen, wendet sich Heidegger nun einer ausfuhrliehen Auslegung vor allem des ersten Chorliedes der "Antigone" von Sophokles zu. In ihr soll sich zeigen, wie sich das Heimischwerden im Eigenen in Griechenland vollzogen hat und welche Hinweise dies uns fiir ein besseres Verständnis der lster-Hyrnne gibt, die ebenfalls das Heimischwerden im Eigenen sucht, d.h., das eigentliche Übernehmen des vom Heiligen gewährten Zeit-Raums zur Vorbereitung der festlichen Begegnung von Göttern und Menschen (auch wenn dieses Geschehen nicht als solches interpretatorisch den Griechen bekannt war).

111. Das notwendige Gespräch mit dem Eigenen des Anderen (Fremden): Das Heimischwerden im ersten Standlied von Sophokles' "Antigone" Im Rahmen dieser Untersuchung ist es nicht möglich, eine ausfuhrliehe Interpretation von Heideggers Antigone-Auslegung zu geben. Für uns ist es primär wichtig zu zeigen, daß der Bezug zum Heiligen ein Heimischwerden eröffnet, in dem das Eigene zwar "gefunden" bzw. "erlernt" werden kann, wobei dies jedoch nicht ohne das Gespräch mit dem Anderen geschehen kann. 20 Hier gilt zuerst, die Grundzüge anzuzeigen, wie Heidegger in solchem Gespräch das (für ihn fremde) eigene Wesen des Griechischen in dessen Eigenes zu heben sucht. Gemäß Heideggers Interpretation vollzieht sich auch in dieser Sophokles-Tragödie ein Suchen des Eigenen, ein Heimisch-werden. Heidegger greift vier Leitsprüche aus dem ersten Standlied des Chores heraus, um das Geschehen des sich hier vollziehenden Heimischwerdens freizulegen. 1. Der erste dieser Leitsprüche ist der erste Vers "noA.Aa Ta &tva Km)8Ev av8pwnou ÖELVOTEpov nD.Et". Heidegger übersetzt: "Vielfältig das UnheirnliGA 53 : S. 62. Vor allem im nächsten Punkt (IV.) werden wir ausführliche Hinweise Heideggers auf diesen Sachverhalt untersuchen. 19

20

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4. Kap.: ))Der Ister« und die Gedenkschrift ))Andenken«

ehe, nichts doch/ über den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt. "21 Auffällig ist sogleich die Übersetzung von "To 8Ew6v" mit "das Unheimliche". Heidegger bemerkt hierzu, daß es sich hier, lexikalisch betrachtet, um eine Fehlübersetzung handelt. Aber Heidegger versteht die Grundaufgabe der Übersetzung darin, die in einem fremdsprachigen Wort mitschwingende Bedeutungsmannigfaltigkeit in ihrer Grundschwingung zu fassen und diese in die eigene Sprache zu übersetzen. Daher fordert die Übersetzung immer schon den Blick auf den "Gipfel"22 bzw. auf das Wesen, aus dem das Gesagte spricht. Nur dann vermag eine Übersetzung das Fremde verständlich zu machen, wobei "verständlich machen heißt, das Verständnis dafür wecken, daß der blinde Eigensinn des gewöhnlichen Meinens gebrochen und verlassen werden muß, wenn die Wahrheit eines Werkes sich enthüllen soll." 23 Nur durch solches Übersetzen wird das Andere in seiner eigentlichen Befremdlichkeit nahe gebracht. Den Bedeutungsbereich, in dem das 8Ew6v schwingt, erblickt Heidegger in einem dreifachen Gefüge: "das Furchtbare, das Gewaltige, das Ungewöhnliche. "24 Jede dieser Bestimmungen pendelt wiederum in einem zwiefachen Bereich: "das Furchtbare als das Fürchterliche und als das Ehrwürdige; das Gewaltige als das Überragende und als das nur Gewalttätige; das Ungewöhnliche als das Ungeheure und als das in allem Geschickte." 25 Dieses Gefüge gilt es in seiner Einheit zu über-setzen. Heidegger wählt als das Wort, das diesem Gefüge die Einheit in der deutschen Sprache stiftet: "das Unheimliche". Zu diesem Wort bemerkt er folgendes: Dieses Wort soll nicht etwa eine weitere Bedeutung neben den angeführten anzeigen, sondern es soll sie alle zusammen nennen, und zwar nicht durch ein äußerliches Zusammenraffen, was sprachlich unmöglich und widersinnig ist, sondern so, daß mit dem »Unheimlichen«, wie es im folgenden verstanden sein möchte, der verborgene Grund der Einheit der mannigfaltigen Bedeutungen des Bnv6v und dieses so in seinem verborgenen Wesengefaßt wird. 26 Heidegger fügt anschließend noch hinzu, daß diese Übersetzung - was die Ausdrücklichkeit betrifft - über das im griechischen Wort Ausgesprochene hinausgeht. Jedoch versteht er die Übersetzung nicht als eine "überbietende Aneignung" des Griechischen, sondern als eine Weise, die (unausdrücklich mitGA 53 : S. 73. Vgl. GA 53: S. 76. 23 GA 53: S. 76. 24 GA 53: S. 78. 25 GA 53: s. 78. 26 GA 53: S. 78. 21

22

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schwingende) Wahrheit des griechischen Wortes fiir uns reiner ins Scheinen gelangen zu lassen. Dieses mannigfach gefiigte "Unheimliche" kann auf vielfältige Weise aufscheinen, am eindringlichsten aber, so sagt der erste Vers des Chorliedes, west es im Menschen an. Im Menschen kommt die Unheimlichkeit auf besondere Weise ins Scheinen. "Das Wort des Sophokles, daß der Mensch das unheimlichste Wesen sei, besagt dann, daß der Mensch in einem einzigen Sinne nicht heimisch und daß das Heimischwerden seine Sorge ist." 27 Solche Unheimlichkeit meint primär nicht die gewalttätigen, furchtbaren und ungeheuren Taten, die der Mensch (leider) nur allzu oft ins Werk setzt; dann wäre das Unheimliche eine Folge des menschlichen Gebarens und flösse aus seinem Sein. Jedoch fließt vielmehr das Sein des Menschen aus dem Unheimlichen bzw. ragt aus diesem auf (was natürlich gerade nicht heißt, der Mensch wäre zur Bestialität verdammt). Von diesem spricht das Wort TTEAELV: Das TTEAELV meint nicht die leere Anwesung des nur Vorhandenen, sondern das Bleiben, das gerade im Wandern und Strömen ist, was es ist. .. Die Unheimlichkeit entsteht nicht erst zufolge des Menschentums, sondern dieses kommt aus der Unheimhchkeit und bleibt in ihr- es ragt aus ihr heraus und regt sich in ihr. 28

Weil das Wesen des Menschen in dieser Unheimlichkeit ins Sein tritt, bleibt sein Leben ein Suchen nach dem Heimischen. "Dieses Suchen scheut keine Gefahr und kein Wagnis. Überallhin fährt es und überallhinaus ist es unterwegs."29 Von diesem Suchen redet der zweite Leitvers, den Heidegger aus dem Standlied hervorhebt und untersucht. 2. Der griechische Vers lautet: TTUVTOTTOPOS' äTiopos- ETT' ou8Ev EPXETaL Heidegger übersetzt: "Überall hinausfahrend unterwegs erfahrungslos ohne Ausweg/ kommt er zum Nichts." 30 Damit ist nicht der "Abenteurer" gemeint, der ohne Eigenerfahrung sich im unaufhörlichen Aufsuchen des Fremden verliert. Der in dieser Verszeile angesprochene Mensch ist der unheimliche Mensch, der seine eigene Wesensrnitte sucht, aber von ihr ausgesperrt bleibt: "dagegen ist der &w6TaToS' das unheimlichste Wesen in einer Art des Heimischseins, in jener nämlich, die innerhalb des eigenen Wesens nicht den Eingang zu diesem fmdet, von ihm ausgesperrt bleibt und ohne den Ausweg zum Eingang in die eigene Wesensrnitte. "31 Der Mensch fährt überallhin aus, aber seine dortigen "Funde" bringen ihn nicht in sein Wesen. In seiner Fahrt durch 11

GA 53: S. 87. GA 53: S. 88f. 29 GA 53: S. 91. 30 GA 53: S. 73. 31 GA 53: S. 91 . 27

28

24 Helling

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das Seiende ist er des Seins vergessen. Dieses Vergessen wahrt aber den positiven Bezug zu seinem Wesen, denn es deutet darauf hin, daß er prinzipiell seiner eingedenk sein könnte. Das Unheimliche des Seienden hingegen steht nicht in der Weise offen, daß es sich zu seinem eigenen Wesen verhalten könnte. Der Mensch jedoch verhält sich zu seinem Sein, und zwar zunächst auf eine Weise, in der er seine Heimat in der Fremde sucht und dadurch den Bezug zum Sein in seinem eigenen Herzen vergißt Dadurch wird er zum Unheimlichsten des Unheimlichen, das Heidegger das "Unheimische" nennt: "Im Seienden, zu dem er kommt und worin er sich heimisch meint, kommt er zum Nichts. Er ist als der vermeintlich Heimische der Unheimische."32 Also gerade in den Ausfahrten ins Seiende, wo er zu allerlei Fund kommen kann, fmdet er doch nicht seine eigentliche Heimat, die in seinem ausgezeichneten Bezug zum Sein besteht, das nie wie ein Seiendes unter anderen gefunden werden kann: Diese Art der Unheimlichkeit, nämlich die Unheimischkeit, ist nur dem Menschen möglich, weil er zum Seienden als einem solchen sich verhält und dabei das Sein versteht. Und weil er das Sein versteht, kann er allein auch das Sein vergessen. Die Unheimlichkeit im Sinne der Unheimischkeit übertrifft daher alle sonstigen Arten des Unheimlichen unendlich, d.h. im Wesen. 33

Aber diese Art des Unheimischseins ist wiederum nicht als "moralischer Lapsus" zu verstehen, sondern sie birgt gerade die Möglichkeit der Wesensfmdung, des Heirnischwerdens. Der nächste Leitvers vertieft den Gedanken des Unheimischseins, indem gezeigt wird, auf welche Weise der Mensch selbst in der vermeintlichen Heimat der rr6A.ts- seines eigentlichen Wesens verlustig sein kann. 3. Die griechischen Verse lauten: "U\jJ(rro.\lS' ärroAlS' ÖT4J To ll.TJ Ka.\ov/ TOAIJ.aS" xciplV." Heidegger übersetzt: "Hochüberragend die Stätte, verlustig der Stätte/ ist er, dem immer das Unseiende seiend/ der Wagnis zugunsten. "34 Gegen die Tendenzen seiner Zeit wehrt sich Heidegger dagegen, die griechische Polis "politisch" zu denken: "Die rroALS" läßt sich nicht »politisch« bestimmen." 35 Vielmehr bestimmt Heidegger das Wesen der rr6AlS' aus der Offenheit bzw. Wahrheit (d:.\~9ELa) des Seins (To TTÜELv) her: "Die rr6A.Ls- ist inmitten des Seienden die offene Stätte alles Seienden, das sich hier zu seiner Einheit sammelt, weil die rr6ALS' der Grund dieser Einheit ist und in diesen Grund zurückreicht "36 Der Mensch ist als seinsverstehendes Wesen auf einzig-

~UVEOTl

GA 53: S. 94. GA 53: S. 94. 34 GA 53: S. 97. 35 GA 53: S. 99. 36 GA53:S.ll7.

32

33

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artige Weise in diesen Bereich eingelassen. Er steht in der Freiheit, das sich in dieser Stätte wahrhaft Zeigende zu überragen und das "Nicht-Seiende" fiir Seiendes zu halten. Der Mensch trägt somit einerseits den wahren Bezug zum Sein in seinem Wesen, übergeht diesen aber, indem er sich dem Seienden auf verkehrende Weise zukehrt: "Wer die Wesensstätte seiner Geschichte, d.h. das Schickliche aller Geschicke verliert, indem er sie hochüberragt, ist nur deshalb ein solcher, weil ihm das Unseieode seiend sein kann. Darin liegt: Der Bezug des Menschen zum Seienden trägt in sich die Möglichkeit dieser Verkehrung... "37 Heidegger übersetzt (mit Verweis aufPlaton31) das "Nicht-Schöne" (To I.I.TJ KaA6v) mit "das Unseiende" und bringt dies mit der Wagnis zusammen, die den Menschen in sein Unheimischsein fiihrt: "Gemäß und zufolge diesem wagnishaften Bezug, der ihn, den Menschen, und ihn allein dergestalt in die offene Stätte inmitten des Seienden stellt, ist der Mensch als der wesenhaft Un-heimische das unheimlichste Seiende. "39 In der Wagnis ist dem Menschen das Seiende im ganzen eröffnet, aber so eröffnet, daß zumal auch die Gefahr, sich an es zu verlieren bzw. dem Schein eines Seienden zu verfallen, immer gegeben ist. Da der Mensch in die offene Stätte versetzt ist, muß er irgendwie suchen, in ihr heimisch zu werden. Dieses Suchen im Sinne der Wagnis bringt ihn aber allzu oft nur in eine Scheinheimat: "Weil aber das Seiende selbst seinen eigenen Schein ausspielt, muß der Mensch im Wagnis des Heimischwerdens alles auf dieses Spiel setzen und deshalb dem begegnen, daß ihm das Heimische versagt wird."•o Der erste Leitvers nannte den Menschen das 8ELv6TaTov aller Wesen. Das semantische Umfeld dieses griechischen Wortes suchte Heidegger mit dem deutschen Wort "das Unheimlichste" auf seine Einheit hin zu fassen. Der zweite Leitvers zeigte, daß der Mensch in allen seinen Ausfahrten in das Meer des Seienden doch nicht sein Wesen fmdet. Auch der dritte Leitvers bestätigt dies. Er steht wesenhaft in der iTOALS' als der offenen Stätte, in der er zwar heimisch werden könnte, zunächst aber in der Wagnis seinen Wesensgrund überragt und ihm so verlustig geht, indem er sich an den Schein des Seienden hält. Die Unheimlichkeit des Menschen ist nicht bloß graduell höher als die der Dinge, die innerhalb dieser Offenheit vorkommen. Da der Mensch auf ursprüngliche Weise dieser Offenheit als seinsverstehendes Wesen angehört, d.h., das Sein versteht und es dennoch zugunsten der Wagnis mit dem Seienden übergeht, ist seine Unheimlichkeit wesentlich anderer Art, die Heidegger, wie

GA 53: S. 108. Vgl. GA 53: S. 108. 39 GA 53: S. 110. 40 GA 53: S. 111.

37 38

24•

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4. Kap.: »Der lster« und die Gedenkschrift »Andenken«

wir schon sahen, als das "Unheimische" faßt: "Stets auf dem Weg in die heimische Stätte und zugleich auf das Spiel der V erwehrung des Heimischen gesetzt, ist der Mensch im Innersten seines Wesens der Unheimische." 41 4. Die griechischen Verse lauten: "~TlT' EIJ.Ot rra()EuTtot;/ "YEVOL TO IJ.T]T '(uov povwv Öt; Tci8' Ep8ot." Heidegger übersetzt: "Nicht werde dem Herde

ein Trauter mir der,/ nicht auch teile mit mir sein Wähnen mein Wissen,/ der dieses führet ins Werk. "42 Dieser Schlußvers wirft die Frage auf, ob nicht bloß einige der Menschen "unheimlich" sind und daher aus der rr6At'i> verstoßen werden sollen, und ob gerade das Wesen der Antigone vielleicht nicht durch solche Unheimlichkeit gefaßt werden kann?43 Wenn dem so wäre, dann würde die vorangegangene Interpretation in die Irre gegangen sein, die ja das Wesen des Menschen (d.h. das Menschsein überhaupt, und nicht das Gebaren Einzelner) in der Unheimlichkeit im Sinne des Unheimischseins erblickte.

Aber ausdrücklich geht aus dem Eingangsgespräch, das Antigone mit ihrer Schwester lsmene führt, hervor, daß Antigone selber das Wesen des Unheimlichen in sich aufnimmt bzw. es "erleidet", d.h., als Wesensgrund zuläßt. Heidegger zitiert und übersetzt die entscheidende Stelle: "an' Ea ~E Kal TTJV E:e EiJ.OÜ 8uußouA(av doch überlaß dies mir und jenem, was aus mir GefahrliehSchweres rät. Und wohin geht dieser Rat? rra9E"Lv TO &tvov TOÜTo· ins eigne Wesen aufzunehmen das Unheimliche, das jetzt und hier erscheint."" Indem Antigone dieses Unheimliche "auf sich nimmt", kehrt sie eigentlich in ihr eigenes Wesen zurück, wird sie im Unheimlichen heimisch. Dieses ist ein "Wagnis" ganz anderer Art, da es hier nicht mehr hoch in das Seiende hinausführt, sondern zunächst in gewisser Weise aus diesem heraus: "Sie überragt die Stätte alles Seienden nicht nur wie K.reon, der innerhalb ihrer in seiner Weise hochragt, sondern Antigone tritt sogar und überhaupt aus dieser Stätte heraus. Sie ist unheimisch schlechthin."45 Aber gerade dieses erleidende Zulassen ihrer Unheimischkeit ist nicht ihr Wesensverlust, sondern in ihm wird sie in ihrem Wesen heimisch: "Ihr Sterben ist ihr Heimischwerden, aber das Heimischwerden in jenem und aus jenem Unheimischsein. "46 Der letzte Leitvers gibt dem unheimlichen Menschen eine Absage. Ist damit auch Antigone vom Herd verstoßen? Heidegger beginnt die Untersuchung die-

GA 53: S. II!. GA 53: S. 115. 43 Vgl. GA 53: S. 116. 44 GA 53: S. 127. 45 GA 53: S. 128f. 46 GA 53 : S. 129. 41

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ser Frage mit einer anderen Frage47: Was heißt eigentlich Herd? Zunächst kommt dem Herd als der Stätte des Feuers im alten Griechenland ein ausgezeichneter Ort sowohl in den Behausungen der Menschen als auch in den Tempeln zu: "Der Herd ist durch dieses Feuer der bleibende Grund und die bestimmende Mitte - gleichsam die Stätte aller Stätten, die Heimstatt schlechthin, auf die zu alles beieinander und miteinander anwest und d.h. überhaupt ist. "48 Auch in Platons Phaidros kommt der Göttin 'EcrT[a als einziger eine "stabilitas loci" zu, d.h., sie bleibt bei den Ausfahrten der Götter zurück. 49 In diesem Zusammenhang erwähnt Heidegger auch das Philolaos Fragment, in dem der "Herd" genannt wird;so Heidegger legt diese Nennung des Herdes so aus, daß hier vom "Heimisch-sein" im Sinne einer "besinnlichen Ahnung" (4>povE1v) vom Sein gesagt wird und daß nur von solchem "Wissen" der vielumherfahrende, unheimliche bzw. unheimische Mensch verstoßen werden kann: "Wenn das Unheimliche als ein solches nur willbar ist vom Heimischen her, dann muß alles Sagen vom 8nv6v bereits über dieses hinausgedacht haben. Doch wohin hinaus? In der Richtung auf das Heimische, den Herd."s• Wenn der Herd ausdrücklich in Bezug zum TTEAELV (Sein) gebracht wird, so soll dies nicht die griechische Dichtung zur Philosophie machen. Heidegger versucht dadurch lediglich auf denkerische Weise, die in der Dichtung ungesagte Grunderfahrung denkerisch verständlich zu machen. Der Mensch, der von diesem "Wissen" "verstoßen" wird, verliert dadurch natürlich gerade nicht sein Wähnen, das sich auf Seiendes richtet. Er wähnt sich zwar auf Grund seiner Erfahrung mit dem Seienden an manchen Orten heimisch, aber er kann dies nicht sein, solange er den eigentlichen Bezug seines Wesens zum Herd, d.h. zum Sein, nicht wahrnehmen will: Wenn nun aber dieser Unheimliche ausgestoßen wird vom Herde, wenn ihm das Schlußwort des Chores das echte Wissen abspricht, kommt er dann durch diese Verstoßung nicht außerhalb des Seins zu stehen? Keinesfalls - denn ihm wird ja nicht jede Art von povEiv abgesprochen, ihm wird vielmehr dies zugesprochen, daß er im Seienden wahrhaft zu sein wähne, ohne es doch zu sein.s2

Diese "Verstoßung" ist kein willkürliches Abschneiden der irrenden Menschen von ihrer Herkunft, sondern durch sie wird der Mensch allererst aufmerksam auf diese. Ohne sie wähnt er sich beim Herd zu sein, wo er doch den eigentliVgl. GA 53: S. 129ff. GA 53: S. 130f. 49 Vgl. GA 53: S. 141ff. so Vgl. GA 53: S. 140. SI GA 53: s. 134. s2 GA 53 : s. 135. 47

48

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4. Kap.: »Der lsten< und die Gedenkschrift »Andenken«

chen Herd immer schon vergessen hat und daher das Seiende in seiner eigentlichen Herkunft auch nicht gebührend würdigen kann: "Die Verwerfung sagt, daß der Unheimliche zum Herd eine Wesensbeziehung habe, aber diejenige des Vergessens und der Verblendung, der zufolge er nicht das Sein im Blick und im Andenken haben kann. "53 Die Verstoßung wirft diesen vergessenen Bezug allererst als solchen auf: "Durch die Verstoßung wird ja erst in aller Härte gesagt, wohin der Unheimliche gehört - nämlich zum Sein, das alles Seiende bestimmt und in solcher Bestimmung bewahrt und in der Hut hält. "54 Erst durch die Erfahrung des Herdes kann der Mensch die eigene Hut, die dem Seienden vom Sein übereignet wird, gewahren und dieses in dessen eigenem Sein (mit-) hüten. Ohne diese Erfahrung kommt es allzu leicht dazu, das Seiende nur für die eigenen Zwecke zu "hüten" bzw. "horten" zu wollen. Wenn sich nun erwiesen hat, daß Antigone das Unheimliche in ihrem Wesen erleidet und dieses gerade vom Chor im Schlußwort "verworfen" wird, dann würde sich, oberflächlich betrachtet, zunächst nahelegen, daß auch und gerade Antigone dieses Urteil trifft. Aber doch liegt die Wahrheit ganz woanders, denn das Unheimliche weist eine gewisse Zweideutigkeit auf. Auf diese Zweideutigkeit weist die Ausstoßung, wie wir sahen und Heidegger noch einmal betont, allererst hin: "In Wahrheit ist jedoch diese Ausstoßung aus dem Umkreis des Herdes nur der Anstoß zum Aufmerken auf das Heimische und zur Wagnis der Zugehörigkeit in dieses. Das Schlußwort verwirft nicht bloß den Unheimischen, sondern es läßt das Unheimischsein fragwürdig werden. "55 Durch dieses Frag-würdig-werden erweist sich das Unheimischsein als kein bloß zufalliger, nachträglicher "Zustand", der dem Menschen an manchen Orten zukommt, an anderen aber nicht, sondern: "Das Unheimischsein zeigt sich als das nochnicht-erweckte, noch nicht entschiedene, noch nicht übernommene Heimischseinkönnen und Heimischwerden. "56 Hieraus ergibt sich der zwiefache Sinn des Unheimlichen. Zum einen kann es das seinsvergessene Verloren-sein im Seienden bedeuten: "Das Unheimischsein kann sich ergehen in der bloßen Vermessenheit zum Seienden, um je aus diesem jeweils einen Ausweg und eine Stätte zu erzwingen. "57 Aber gerade das Unheimischsein eröffnet auch die Möglichkeit, von einer nie glückenden, verzwungenen Verabsolutierung eines beliebigen Seienden abzulassen und sich auf die Zugehörigkeit zum Sein einzulassen: "Das Unheimischsein kann aber auch diese Vergessenheit brechen durch das »Andenken« an das Sein und aus GA 53: s. GA 53: S. ss GA 53: S. 56 GA 53: s. 57 GA 53 : S. 53

54

135f. 136. 143. 144. 144.

§ 15. Heideggers Vorlesung >>Der lster«

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der Zugehörigkeit zum Herd. "51 Aus solcher Zugehörigkeit kann dann ein wahres Heimischwerden sich ereignen, das, von außen betrachtet, sich gerade äußerst un-heimlich darbietet, da es nirgends "festgemacht" werden kann. Daß dies die Art der Unheimlichkeit der Antigone ist, die vom Schlußwort des Chorliedes so wenig verurteilt wird, als gerade sie zu derjenigen wird, die dem Herde ein Trauter werden darf, zeigt sich im Zwiegespräch zwischen Kreon und Antigone, wo dieser ihre Überschreitung seines Gesetzes anspricht. Antigone entgegnet Kreon, daß sie ihre Weisung einem Zuspruch entnimmt, der von weit über seinen Gesetzen, ja selbst auch derjenigen der Götter herrührt. Diese Weisung liegt überhaupt nicht im Reich des Seienden und muß daher unbestimmt bleiben. Angesprochen wird der Herkunftsbereich dieser W eisung von ihr durch folgende Worte: "ou ycip TL vüv 'YE Kax9€s-, ti>..A' tid rroTEI (tl müm, Kou&:ls ol&:v Ee ÖTou 'civll"· Heideggers Übersetzung lautet: "Nicht nämlich irgend jetzt und auch nicht/ gestern erst, doch ständig je/ west dies. Und keiner weiß, woher es eh' erschienen. "s9 Dieser Zuspruch ·ist zum einen sogar über den Göttern, entzieht sich selbst ihrer Gewalt, aber dennoch steht er in einem Bezug zum Menschen. Bereits während unserer Untersuchungen der Ereignis-Struktur sahen wir, daß sich der ereignende Zuwurf im Über-eignen auch entzieht und daher niemals faßbar ist - und dennoch alles Faßbare freigibt und im jeweils eigenen Sein hält. Diesem Zuspruch, der einerseits offenbar, andererseits aber keinem Seienden entsprungen ist, hat sich Antigone in ihrem Wesen geöffnet: "Dem also Unverborgenen gehört das Wesen der Antigone. In diesem Unverborgenen geborgen und heimisch zu werden ist das, was sie selbst nennt rra9Ei.v TO &tvov TOÜTo - dieses Unheimischsein in allem Seienden durchzumachen. "60 Dadurch hat sie das "Heimischwerden im Sein"•• auf sich genommen und ist vom Schiedsspruch des Chores ausgenommen, gerade weil sie ihr unheimlichstes Wesen auf dessen Grund hin annimmt. Damit hat sie eine Wagnis ganz anderer Art auf sich genommen. Heidegger nennt diese Wagnis gegenüber derjenigen, die sich als Verlorengehen im Seienden bekundet, die "höchste Wagnis": Nicht werde der Unheimische je ein Heimischer, solange er nur und sofern er einzig auf seinem Unheimischsein beharrt und so unstet im Seienden sich umtreiben läßt. Das Schlußwort verwirft diesen Unheimischen und ruft zugleich in das Wissen von seinem eigentlichen Wesen. Das Schlußwort verbirgt in sich den Wink auf die unentfaltete und noch unvollzogene, aber im Ganzen der Tragödie sich vollziehende Wag-

s. 144. GA 53: S. 145. 60 GA 53: S. 146. 61 GA 53: S. 146.

ss GA 53: 59

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4. Kap.: »Der Ister« und die Gedenkschrift »Andenken«

nis, zwischen dem eigentlichen Unheimischsein des Menschen und dem uneigentlichen zu scheiden und zu entscheiden. Antigone selbst ist diese höchste Wagnis innerhalb des Bereichs des 8ELv6v. Diese Wagnis zu sein, ist ihr Wesen. Sie übernimmt als Wesensgrund dpx~ TdiJ.~xava -das, wogegen nichts auszurichten ist, da es, keiner weiß woher, von sich aus erscheint. Antigone übernimmt als das Schickliche, was ihr zugeschickt ist aus dem, was über den oberen Göttern (Zeus) und über den unteren Göttern (ßtKT)) west. 62

Die Dichtung des Sophokles erweist sich als eine dichterische Nennung desjenigen Phänomens, welches denkerisch "Sein" heißt. Antigone wird aus dem Wesen des Seins her gedichtet als die Heirnfmdende, d.h. diejenige, die im Grunde ihrer höchsten Un-heirnlichkeit das An-sich-halten des Seins erblickt, das sich zugunsten der Eigenständigkeil des Seienden entzieht (was wiederum die Möglichkeit und Freiheit zur Irre eröffnet), und die sich hier von einer Weisung ("Gesetz") gehalten erfährt, das kein menschliches (oder auch göttliches) Gernächte ist. Das Gedicht Antigone dichtet somit das Heimischwerden im Unheimlichen: "Antigone selbst ist das Gedicht des Heimischwerdens im Unheimischsein. Antigone ist das Gedicht des höchsten und eigentlichen Unheimischseins."6' Der Dichter dichtet hier das Heimischwerden im eigenen Wesen, das es in die Welt des Seienden auszutragen gilt, damit dort in aller Unheimlichkeit die Spur zur Heimat aufleuchte. Heidegger legt nahe, daß dies die höchste Aufgabe der Dichtung ist: "Vielleicht ist gar dieses wesenhaft nur ZuDichtende, nämlich das Heimischseinkönnen des Menschen, das Höchste, was der Dichter dichten muß. "64 Damit wäre den griechischen Dichtem die Aufgabe, ihr Eigenes in seiner Herkunft zu vernehmen und hervorscheinen zu lassen, geglückt. Dies ist auch die Aufgabe, wie sie Hölderlin in seiner Hymnendichtung versteht. Zu solcher Dichtung bedarf es, wie betont, des Gespräches mit den Anderen: "Und wenn demnach dieses Chorlied die höchste Dichtung des höchsten Dichtungswürdigen ist, dann könnte das wohl der Grund daffir sein, daß dieses Chorlied dem Dichter Hölderlin in der Zeit seiner Hymnendichtung immer neu zugesprochen wurde. "6 s Alles wäre natürlich mißverstanden, wollte man meinen, daß es Hölderlin darum ginge, dieses Chorlied nachzuahmen. Es kann nicht darum gehen, das Heimischwerden der Antigone, das sie nur durch den Tod bekunden konnte, als ontische "Verhaltensregel" zu etablieren. Die Ins-Werk-Setzung des Eigenen bleibt einmalig und verwehrt jede Nachahmung. Aber gerade weil das Eigene auf das niemals in den Besitz zu bekommende "ganz Andere" des Seins 62 GA 53: S. 146f.

GA53 : S.I51. GA 53 : S. 151f. 6S GA 53: S. 152.

61 64

§ 15. Heideggers Vorlesung »Der Ister«

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(des Heiligen) verweist, deswegen können durch die Besinnung auf das einmalig rein-gedichtete Eigene gewesener Zeiten fruchtbare Hinweise gewonnen werden, die helfen, das noch nicht gedichtete Eigene ins Werk und d.h. ins Seiende zu bergen. Diesen Gedanken verfolgt Heidegger besonders intensiv in dieser Vorlesung. Nachdem er ausfuhrlieh die Sinnhaftigkeit des Gespräches mit der griechischen Dichtung aufgewiesen hat, widmet er sich einem Fragment Hölderlins, das die Notwendigkeit und die Gefahr solchen Gespräches betont.

IV. Die Notwendigkeit des Anderen für das Eigene und die Gefahr im Gespräch mit dem Anderen: Heideggers Auslegung des Fragmentes: »nemlich zu Hauß ist der Geist/ nicht im Anfang.•.« Das Andenken an das Heilige und das Erharren des Brautfestes, an dem sich Menschen und Götter begegnen, braucht Vorbereitung. Solche Vorbereitung vollzieht sich im Gespräch mit Anderen im Andenken an das Gewesene. Oben wurde angedeutet, wie sorgfältig Heidegger die Wesenswürde der griechischen Dichtung zu erhellen versucht, um zu zeigen, daß in der Tat aus ihr W esentliches fiir die Vorbereitung des Festes gelernt werden kann, weil auch dort das Heimischwerden im Unheimischsein auf dem Spiel stand. Auch in ihr vollzieht sich ein Ringen um die Wahrheit, die ins Wort kommen soll, um die Mitmenschen in ihre wesensmäßige Un-heirnlichkeit zu geleiten und d.h. einen Wink in die (wohlverstandene) "Heimat" zu geben. Auch wenn das "Heilige" hier nicht explizit beim Namen genannt wird, so schwingt es doch in diesem Sagen als der Grund dieses geschichtlichen "Festes" mit. Um die Bedeutung des Fremden (Anderen) fiir das Eigene weiter zu erhellen und um auf eine wesensmäßige Gefahr im Bezug zum Anderen hinzuweisen, untersucht Heidegger nun einen fragmentarischen Entwurf Hölderlins, der ursprünglich ein neuer Abschluß zur Elegie "Brod und Wein" hätte sein sollen. Bereits gegen Ende der "Andenken"-Vorlesung widmet sich Heidegger diesem Fragment. Wir haben in unserer Darlegung diese Interpretation übergangen, um sie hier nachzuholen, da diese Thematik in der "Ister"-Hymne ausfiihrlicher behandelt wird. Das Fragment lautet: nemlich zu Hauß ist der Geist nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath. Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.

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4. Kap.: »Der Ister« und die Gedenkschrift »Andenken«

Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder den Verschmachteten. Fast wär der Beseeler verbrandt. 66

In der ersten Zeile wird der "Geist" genannt, der auch schon in der Auslegung der "Feiertag"-Hyrnne als Erläuterung eines Wesenszuges des Heiligen aufschien. Heidegger betont, daß der "Geist" als Grundwort zwar nicht einfach von Hölderlin aus der Philosophie des deutschen Idealismus übernommen wurde, daß aber dort natürlich Hinweise auf den Sinn des dichterischen Wortes gefunden werden können. "Nach dem metaphysischen Begriff hat der Geist seine Auszeichnung im Denken. Der Geist denkt in seinen Gedanken das, was jedem Seienden als einem Seiendem zukommt, das ihm Zugeschickte. "67 Weiche Art des Seins kommt den Gedanken des Geistes bei Hölderlin zu? Zwar bleibt der Geist auf sein Gedachtes bezogen, aber dieses empfängt durchaus sein eigenes Sein. Deswegen sind sie nicht lediglich "possessiver" Besitz des Geistes, sondern werden von diesem in ihr Seinfreigegeben: "Und seine Gedanken gehören ihm nicht nur, sondern haben die Auszeichnung selbst zu sein. "68 Dieses eigene Sein erfährt, wie wir bereits im 2. Kapitel sahen, in Hölderlins "Feiertag"Hyrnne durch den Punkt am Ende des Verses: "des gemeinsamen Geistes Gedanken sind." eine besondere Betonung. Ihnen kommt eigenes Sein zu, so daß sie selbst sein können. Der Mensch steht in einem ausgezeichneten Bezug zum Geist, insofern er das Zugeschickte als solches gewahren kann und im Bezug zu dessen unerschöpflichem Ankommen steht: "Das dem Menschen Zu-geschickte ist das, was »der Geist« denkt und dem Menschen zudenkt, so daß »der Geist« im geschichtlichen Menschen die Geschichtlichkeit bestimmt. Das Zugeschickte und Schickliche aber bleibt für den Menschen stets das auf ihn Zukommende, Zukünftige. "69 Der Geist schickt den Menschen in die Möglichkeiten seiner Geschichte, und durch den Menschen empfängt der Geist seine geschichtliche Anwesungsweise. Durch den Menschen wird der Geist ins Seiende geborgen. Der Vers, der in der Feiertag-Hymne der Nennung des Seins der Gedanken des gemeinsamen Geistes folgt, lautet: "»Still endend in der Seele des Dichters.«"70 Im Sinne des ereignisgeschichtlichen Gedankens der Bergung interpretiert Heidegger dies so: "Weil in der ))Seele« des Dichters des Geistes Gedanken auf der Erde heimisch werden, ist der Dichter »der BeseelerWie Hertha griin« - das Griin ist die Bestimmung der Göttin Erde, ist daher selbst aus dem Heiligen bestimmt und >>heiliges Grün«: »Und das heilige Grün, der Zeuge des seeligen, tiefen/ Lebens der Welt, ...« (»Der Wanderer«, IV, 103, V. 4lf.)" 120 Die Kinder des Himmels, die den Göttern bodenständig den Weg zur Erde bereiten, sind daher nach Heideggers Interpretation die Halbgötter (und nicht etwa die Götter im Sinne der Kinder des Höchsten (dem "Äther")) 121 • VII. Zur Wesensdifferenz des lsters und des Rheines Die folgenden Verse der Hymne interpretiert Heidegger immer mit Hinblick auf und in Abgrenzung von der Rhein-Hymne. In der Ister-Hymneheißt es gegen Ende: Aber allzugedultig Scheint der mir, nicht Freier, und fast zu spotten. Nemlich wennl/ Angehen soll der Tag In der Jugend, wo er zu wachsen Anfängt, es treibet ein anderer da Hoch schon die Pracht, und Füllen gleich In den Zaum knirscht er, und weithin hören

GA 53: S. 195. Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 53: S. 195. 120 GA 53 : S. 196f. 121 Vgl. GA 53 : S. 197ff. 118

119

§ 15. Heideggers Vorlesung »Der lster«

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Das Treiben die Lüfte, Ist der betrübt; 122

Der Ister "spottet" dem Stromwesen, insofern er nicht in ungestümer, jugendlicher Kraft fort in die Feme stößt, sondern "fast rückwärts" zu gehen scheint. Wo der Rhein am Anfang "jauchzet" (weil er aus seinem hohen Ursprung freigelassen wurde in sein Strömen), ist der Ister "betrübt". Heidegger interpretiert dies als die Grundstimmung der "heiligen Trauer", in der das Dichterwesen sich für seine eigentliche Bestimmung öffnet: "Doch diese Betrübnis ist die »heilige Trauer« und als diese das ursprüngliche Wissen von der dichterischen Bestimmung dieses Dichters; Wissen von der Notwendigkeit des geduldigen Verweilens »nahe dem Ursprung«." 123 Der Dichter darf sich also nicht vom Entsprungenen fortreißen lassen und die Quelle vergessen. Er muß in all seinem Sagen das Ereignis des Erspringens alles Entsprungenen im Herzen tragen. Dadurch wird ein echtes Heimischwerden auf der Erde möglich, d.h. ein solches, das die Menschen eingedenk des Heiligen im Bezug zu den Göttern wohnen läßt. Gegen Ende der Ister-Hyrnne heißt es: "Es brauchet aber Stiche der Fels/ Und Furchen die Erd',/ Unwirthbar wär es, ohne Weile;/" 124• In dem Stromgeist des Isters spricht sich das Wesen der Dichters aus, der aus der langen Wanderschaft in die Feme nun an die Quelle geht, um seine Heimat im eigentlichen Sinne dichterisch bewohnbar zu machen: Der Ister verweilt an der Quelle und verläßt schwer den Ort, weil er nahe dem Ursprung wohnt. Und er wohnet nahe dem Ursprung, weil er in die Ortschaft heimgekehrt ist aus der Wanderschaft in die Fremde. Der Ister genügt dem Gesetz des Heimischwerdens als dem Gesetz des Unheimischseins. So gründet er das dichterische Wohnen des Menschen und ist deshalb in seinem eigenen Wesen, das das Wesen des Dichters ist, der den Dichter dichten muß.m

Das Unheimischsein, d.h., das niemals gänzliche Aufgehen im Seienden, sondern das immer schon irgendwie Rückbezogensein auf die Wesensherkunft, wird durch die wesentliche Dichtung in diese Herkunft zurückgetragen und dadurch heimisch gemacht. Die letzten zwei Verse der Ister-Hyrnne: "Was aber jener thuet der Strom,/ Weis niemand" 126 bezieht Heidegger auf das Wesen des Rheins. Dessen Wesen bleibt verborgen, erhellt sich aber in seiner Verborgenheit, wenn es in bezug auf die Ister-Hyrnne gedacht wird: "Die verborgene dichterische Wahrheit der Rheinhymne kommt erst jetzt zum Scheinen, wenn Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 53: S. 4f. GA 53: S. 201. 124 Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 53: S. 201. 125 GA 53 : s. 202. 126 Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 53: S. 201. 122

123

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4. Kap.: ))Der Ister« und die Gedenkschrift ))Andenken«

diese Dichtung als die notwendig gegenwendige Dichtung des Stromwesens begriffen, und d.h. aus dem Bezug zur Isterhymne gedacht ist." 127 Heidegger deutet an, daß beide Hymnen wiederum in einem ursprünglichen Bezug zur Germanien-Hymne stehen. Aber diese Bezüge werden von Heidegger nicht näher erläutert. Auffallend ist aber, daß in seiner Auslegung der lster-Hymne vor allem das Wesen des Dichters thematisiert wird, insofern es sich auf die notwendige Wanderschaft in die Ferne der gewesenen Zeit des Griechenlandes bewegen muß, um dann bei der Rückkehr an der Quelle heimisch werden zu können. Obwohl es schwierig genug bleibt, läßt sich solche Besinnung in ihrem Wesen noch leichter darlegen als das Künftige, das der Dichter zu eröffnen trachtet: das Brautfest Es könnte daher sein, daß das Wesen des in der Rhein-Hymne gedichteten Halbgottes das verborgene Wesen der Zukunft des Dichterischen anspricht, von dem noch "niemand weiß", was uns bereitet wird, während dielster-Hymneden Augenblick anspricht, wo der Dichter aus der "Wanderschaft in die Ferne" in "Germanien" heimgekehrt ist und sich aufmacht, den Ort fiir eine dichterische Zukunft zu gründen (indem er den "Gang an die Quelle" wagt).

VIII. Heideggers Schlußbemerkung in der Ister-Vorlesung

Ausdrücklich weist Heidegger auf die Selbigkeit des Wesens des Stromes und des Wesens des Dichters hin. Selbigkeit bedeutet natürlich nicht Einerleiheit, sondern daß der konkrete Dichter und der konkrete Strom in ihrem Wesen einig sind, dessen Einheit sich aber gerade auf unterschiedliche Weise entfalten kann: "Der Dichter ist der Strom. Und der Strom ist der Dichter. Beide sind dasselbe auf dem Grunde ihres einzigen Wesens ... "121 Eindeutig sagt Heidegger hier, daß sie dasselbe sind auf dem Grunde ihres Wesens. Der Fluß Donau und der Dichter Hölderlin stehen nicht in einer absurden Bestandesidentität, sondern tragen auf je ihre Weise den gemeinsamen Wesensgrund aus, wobei die Gemeinsamkeit dieses Wesens von Heidegger sicherlich nicht im Sinne einer klassischen "Essenz" verstanden wird. Das Wesen ist vielmehr eine ureigene Geschehensweise, die aus dem Ereignis freigegeben wird und sich verschiedentlich im Seienden birgt. Dieses Wesen erläutert Heidegger weiter: "...Halbgötter zu sein, im Zwischen zwischen den Göttern und den Menschen zu sein. Das Offene dieses

121

128

GA 53: S. 202. GA 53: S. 203.

§ 15. Heideggers Vorlesung »Der IsterAndenken< sagt Einiges davon. "137 Im Lichte unserer vorangegangenen Interpretation können wir bereits zu diesem Zeitpunkt ahnen, was mit diesem Hinweis gemeint ist. Der Rückwärtsfluß des Isters an die Quelle spricht vom Heimischwerden der rückkehrenden Dichter aus ihrer Wanderschaft in die Feme. Im Gedicht "Andenken" erwartet gemäß Heideggers Interpretation der einzig bereits zurückgekehrte Dichter die Freunde, die zu den "Indiem" gegangen sind, um von dort her in die Heimat zurückzukehren. Im Gespräch mit den Freunden und in der Erinnerung an die gewesenen Geschehnisse der Menschentümer, in denen das Heilige sich aussprach, soll der "Gang an die Quelle" vorbereitet werden, wo der freie Gebrauch des Eigenen erlernt werden kann, d.h. das dichterische Sagen (die Klarheit der Darstellung) des Heiligen (des Feuers). Solches Sagen stiftet den Ort für die Begegnung von Menschen und Göttern. Diese Begegnung ist dichterisch mit dem Wort vom "Brautfest" genannt. Diesen Gedankengang entwickelt Heidegger wieder entlang einer Auslegung des Fragmentes "nemlich zu Hauß ist der Geist /Nicht im Anfang ... " sowie dem bereits in der Andenken-Vorlesung niedergelegten Gedankengut. Obwohl diese Auslegung kleine Variationen und teilweise stringentere Formulierungen gegenüber den Vorlesungsversionen aufweist, brauchen wir uns den ganzen Gedankengang hier nicht noch einmal zu vergegenwärtigen. Die Grundgedanken der Vorlesungen werden auch hier beibehalten. Daher können wir in der Analyse gleich zu dem Punkt der Schrift schreiten, wo ausdrücklich das Heilige thematisiert wird - und zwar in bezug auf das Brautfest

136 Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1981 ): S. 80. 137 GA 4: S. 80.

26 Helling

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4. Kap.: »Der IsterDer IsterDer RheinMnemosyne>Andenken«

unterstellt, sondern dem inneren Reichtum der Gründe und Abgründe in der Augenblicksstätte des Aufleuchtensund der Verbergung des Winkes des letzten Gottes." 14s "Aufleuchten" und "Verbergen" sind nicht im Sinne einer Aufeinanderfolge zu denken; der Wink besteht darin, im Erscheinen auf anderes, gerade nicht Erscheinendes, zu verweisen. Der letzte Gott trägt somit am reinsten das Gottwesen aus, d.h. das Wesen (den Wesensbereich, die Wesensweise), welches (welcher, welche) alles Göttliche bestimmt. Das "letzte" ist somit nicht im Sinne des "Kleinsten" zu verstehen, sondern im Sinne des "Ursprünglichsten". Sein Erscheinen oder Ausbleib bringt somit die Entscheidung darüber, ob der Bereich, in dem geschichtlich Gotthaftes überhaupt genannt werden kann, sich öffnet: "Aber, der letzte Gott, ist das nicht eine Herabsetzung des Gottes, ja die Lästerung schlechthin? Wie aber, wenn der letzte Gott so genannt werden muß, weil zuletzt die Entscheidung über die Götter unter und zwischen diese bringt und so das Wesen der Einzigkeit des Gottwesens ins Höchste hebt?" 146 Wir sahen bereits, daß die Entscheidung im Ereignis die Götter und Menschen in ihr jeweils Eigenes bringt, von dem aus sie aber gerade auf das jeweils Andere bezogen bleiben. Hier erfahren wir weiter, daß die Entscheidung aber auch die Einzigartigkeit des Gottwesens ins Scheinen bringt, vermutlich sogar dieses zuerst bringt; d.h. im Lichte des Gottwesens kann erst das geschichtlich genannte Gotthafte eigentlich erfahren werden, nämlich im Sinne einer geschichtlich einmaligen, einzigartigen Wesungsweise des letzten Gottes. Somit kündigt die Rede vom "letzten Gott" auch kein rachsüchtiges Ende an, an dem es nun endlich einem Gott gelungen wäre, alle anderen zu verdrängen, und er nun seine eigenwilligen Satzungen ungehindert durchsetzen könnte. Vielmehr ist der "letzte Gott" der Anfang, der den Frei-Raum fiir das Sichentfalten des Göttlichen in verschiedenen "Spielarten" eröffnet: "Der letzte Gott ist nicht das Ende, sondern der andere Anfang unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte." 147 Hierin bekundet sich auch, daß der letzte Gott mit den Menschen die Geschichte prägt und sie ihnen nicht bloß vorschreibt. Auch soll die bisherige Geschichte nicht einfach übergangen werden (was ohnehin unmöglich wäre), sondern sie soll durch die Erfahrung des letzten Gottes verwandelt werden, d.h. ihr soll eine neue Zukunft (ein ursprünglicheres Ende) gegeben werden: "Um seinetwillen darf die bisherige Geschichte nicht verenden, sondern muß zu ihrem Ende gebracht werden. Wir müssen die Verklärung ihrer

GA 65: S. 411. GA 65: S. 406. 147 GA 65: S. 411.

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§ 16. Heideggers Gedenkschrift ))Andenken«

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wesentlichen Grundstellungen in den Übergang und die Bereitschaft hineinschaffen. "141 Der letzte Gott prägt zusammen mit den Menschen die Geschichte. Er eröffnet geschichtlich eine neue Einsicht in das Wesen des Verborgenen und läßt somit auch das Seiende in einem neuen Lichte erscheinen (d.h. die Eigenständigkeit des Seienden, die bisher die Substanzmetaphysik bedachte, wird in ihrer übereigneten Eigenständigkeit erfahren). Der Gott kann keine geschichtliche Wendung von sich aus erzwingen, aber auch der Mensch wiederum kann eine epochal-geschichtliche Wandlung der Anwesenheitsweise von Seiendem niemals von sich aus bewerkstelligen: "Die Vorbereitung des Erscheinens des letzten Gottes ist das äußerste Wagnis der Wahrheit des Seyns, kraftderen allein die Wiederbringung des Seienden dem Menschen glückt." 149 Die Vorbereitung ist ein Wagnis, weil es keine Notwendigkeit gibt, daß sie glückt. Sie ist das äußerste Wagnis, weil die Wahrheit des Seins, d.h. die Anwesung ins Offene überhaupt, auf dem Spiel steht. Die radikale geschichtliche Endlichkeit und Freiheit des Menschen würdigt ihn wesensmäßig damit, der "Hüter", "Hirt" ("Wächter") des Seins zu sein. Er kann eine ursprünglichere Anwesungsweise des Seyns nicht herbeizwingen; er kann sie vorbereiten, gleichwohl aber auch ihrer geschichtlich wesentlichen Wesungsweisen berauben.

a) Die Verweigerung und der Vorbeigang des letzten Gottes Die radikale Freiheit, die dem Menschen übereignet ist, kommt am deutlichsten im Phänomen der "Verweigerung" zum Vorschein. Wir sahen bereits, daß der Ab-grund als zögerndes Sichversagen immer in einer Weise gründet, in der wesensmäßig auch Abwesenheit waltet. Zwar ist dem Menschen durch das Zögern ein geschichtlicher Raum für echte Entscheidung eingeräumt, aber er bleibt auf das Anwesen von Abwesenden bezogen. Die "Verweigerung" nennt nun die Steigerung dieser Abwesenheitsweise, die darin besteht, daß sie eigens als solche aus dem sich-entziehenden Zug des Ereignisses (des Urgrundes) erfahren wird; dies geschieht im Denken des anderen Anfangs: "Dies [die Verweigerung] ist etwas wesentlich anderes als die bloße Abwesenheit. Verweigerung als zugehörig zum Ereignis läßt sich nur erfahren aus dem ursprünglicheren Wesen des Seyns, wie es im Denken des anderen Anfangs aufleuchtet." 150 Gerade wenn dieser Zug des Sichentziehens als Verweigerung erfahren wird,

GA 65: S. 411. GA 65: S. 411. 150 GA 65: S. 411.

148

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4. Kap.: ))Der Ister« und die Gedenkschrift ))Andenken«

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ergibt sich auch die größte Nähe zum letzten Gott, da dieser am reinsten diesen Zug ins Scheinen bringt: "Die größte Nähe des letzten Gottes ereignet sich dann, wenn das Ereignis als das zögernde Sichversagen zur Steigerung in die Verweigerung kommt." 151 Durch die Erfahrung des sich-entziehenden Zugs im Ereignis wächst die Einsicht, daß selbst in scheinbarer "Weltnacht", d.h. Seinsverlassenheit, Sinnlosigkeit und Einsamkeit der Bezug zum ereignenden Urgrund nicht fehlt. Wohl mag der Gott fehlen, der eigens auf diesen hinweist und ihn Geschichteprägend zum Scheinen bringt, aber der Urbezug zum Sichentziehenden, das in seinem Sichentziehen unabwendbar freigibt und dem Freigegebenen so zugewandt bleibt, daß dieses in seinem ureigenen Sein bleibt, dieser Urbezug waltet. Das Da-sein ist das von diesem unabwendbaren Urbezug immer schon Über-wundene, d.h. das in die Offenheit seines Wesens schon "hinüber"Freigegebene, unabwendbar Über-eignete. In.der Verweigerung spricht der radikalste Zuspruch an den Menschen, der ihn freispricht, d.h. mit der Freiheit würdigt, sich auf seine Zugehörigkeit zum Urgrund zu besinnen, seine Freiheit eigentlich anzunehmen und d.h. auch das Seiende im Lichte dieses Bezugs zu gründen: "Die Verweigerung als die Nähe des Unab-wendbaren macht das Dasein zum Überwundenen, das will sagen: schlägt es nicht nieder, sondern reißt es hinauf in die Gründung seiner Freiheit. " 152 Jetzt wird gut verständlich, wie Heidegger sagen kann, daß in der Verweigerung eine Schenkung von ursprünglichster Herkunft waltet: "Die Verweigerung ist der höchste Adel der Schenkung und der Grundzug des Sichverbergens, dessen Offenbarkeit das ursprüngliche Wesen der Wahrheit des Seyns ausmacht. So allein wird das Seyn die Befremdung selbst, die Stille des Vorbeigangs des letzten Gottes." 153 Die Verweigerung ist Schenkung, weil sie vom Phänomen des Abwesens im Ab-grund redet, das nunmehr als solches vernommen ist und im Bezug zum freigebenden Grundzug des Ur-grundes erfahren wird. Das Sichverbergen geschieht umwil/en der ("für die") Eigenständigkeit des Erscheinenden. Dies ist die Grunderfahrung. Dasselbe: Die Eigenständigkeit verdankt sich einem Geschehen, das so sehr gibt, daß es nichts für sich behält, womit es auf der Ebene des Gegebenen erscheinen könnte. Die Offenbarkeit des Sichentziehens im Sinne der Verweigerung läßt die Wahrheit erst Wahrheit im Sinne der Un-verborgenheit sein. Erst wenn der verborgene Grundzug als verborgener hervorscheint, ist die Offenheit in ihre Herkunft zurückgegründet Erst so kann sie ursprünglich, d.h. aus ihrem Ursprung heraus (sein Geschehen

GA 65: S. 411. GA 65: S. 412. 153 GA 65: S. 406. 151

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rein austragend), wesen. Nur aus diesem Bezug zum Urgrund kann es zum Vorbeigang des letzten Gottes kommen. Dieser Vorbeigang ist still, weil er ja die unscheinbare Ruhe des Urgrundes rein austrägt, d.h., zwar noch eher "erscheint" als der niemals seinsmäßig erscheinende Urgrund, aber nie wie dinghaft Seiendes erscheint. Solches Erscheinen ist ein jähes, vorbeigehendes, weil es nicht ein beständig Seiendes ins Scheinen bringt, sondern den je immer neuen Zuspruch des Ereignisgeschehens. Eine Erscheinung dieses muß daher übergangsmäßig-jäh, aber in dieser Jähe "beständig" sein.

ß) Das Bedürfen des letzten Gottes und das Gebrauchtwerden des Daseins Oben wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Gott dem Menschen die Geschichte nicht vorschreibt, sondern sie mit ihm gründet. Er bedarf des Menschen und seines endlich-gestimmten Seinsbezugs, um geschichtlich anwesend zu werden. Auch in der Analyse des Zeit-Raums begegnete uns bereits der Gedanke des "Bedürfens". Das Bedürfen des Gottes ist bereits im Bedürfen des kehrigen Ereignisses angelegt: "Und in der Kehre: Das Ereignis muß das Dasein brauchen, seiner bedürfend es in den Zuruf stellen und so vor den Vorbeigang des letzten Gottes bringen." 154 Der freigebende Grundzug des Ereignisses, der Sein frei-gibt, braucht das eigenständig-freie Dasein, damit es eine Offenheit gibt, in der Seiendes anwesen kann. Das Ereignis "stellt" das Dasein in diese Offenheit bzw. ruft es in diese hinein. Dieser Zuruf gibt einerseits dem Dasein sein Sein, verbirgt andererseits aber das Rufende. Daher waltet im Zuruf immer schon der zwiefache Wesenszug von Erscheinen (Anfall) als auch Verbergen (Ausbleib): "Der Zuruf ist Anfall und Ausbleib im Geheimnis der Ereignung. "m Er ist dies nicht segmentweise, sondern all-zumal. Dieser Zuruf erschöpft sich aber nicht im Freigeben des Daseins, sondern in ihm kommt alles Anwesen ins Scheinen. Auch das Göttliche west in ihm, wobei es am reinsten den Zug des Sichentziehenden austrägt und wahrt. Damit aber das gotthafte Wesen ins Seiende geborgen wird, bedarf der Gott des Menschen, der wesensmäßig offen ist für das Gewahren des Sichentziehenden, aber durch seine Leibhaftigkeil (Erdhaftigkeit) das Gewahrte ins Seiende bergen kann, d.h., den Zug des Sichentziehenden im Seienden gründen kann. Der letzte Gott west im Ereignis. Spuren dieses Gottwesens fmden sich im Erscheinen der gewesenen Götter, die zwar nicht einfach zurückgeholt werden

154

155

GA 65: S. 407. GA 65: S. 408.

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4. Kap.: »Der Ister« und die Gedenkschrift »Andenken«

können, wohl aber im Lichte des lebensspendenden Wesens des letzten Gottes verwandelt wieder erscheinen können. Solche Erscheinung bedarf aber der Gründung, d.h. bedarf des Menschen: "Seine Wesung [d.h. die des letzten Gottes] hat er im Wink, dem Anfall und Ausbleib der Ankunft sowohl als auch der Flucht der gewesenden Götter und ihrer verborgenen Verwandlung. Der letzte Gott ist nicht das Ereignis selbst, wohl aber seiner bedürftig als jenes, dem der Dagründer zugehört." 156 Der Mensch als Dagründer (und nur er) vermag das Seiende so einzurichten, so mit und auf ihm zu bauen, daß dieses einen Glanz des Göttlichen hervorscheinen läßt. Daher ist er vom Gott für sein Erscheinen gebraucht. Aber der Mensch vermag solches Bauen wiederum nicht aus sich allein, sondern er braucht hierfür die Weisung des Gottes. Das vom Gott Geforderte ist nichts Starres, sondern vor allem die sich-zeitigende Offenheit für ein immer ursprünglicheres Geschehenlassen des göttlichen Grundzugs im Sein des Seienden: Wir müssen zugleich wissen und uns daran halten, daß die Bergung der Wahrheit in das Seiende und damit die Geschichte der Bewahrung des Gottes erst durch ihn selbst und die Weise, wie er uns als da-seinsgründende braucht, gefordert wird; gefordert nicht nur eine Gebotstafel, sondern ursprünglicher und wesentlich so, daß sein Vorbeigang eine Beständigung des Seienden und damit des Menschen inmitten seiner fordert; eine Beständigung, in der erst das Seiende je in der Einfachheit seines zurückgewonnenen Wesens (als Werk, Zeug, Ding, Tat, Blick und Wort) dem Vorbeigang standhält, ihn so nicht still legt, sondern als Gang walten läßt. 157

Der Gott raubt dem Seienden nicht sein Eigenwesen, sondern braucht gerade dieses. Nur im Aufglänzen der Pracht des jeweils in seinem ureigenen (bezugsverbundenen) Wesen ruhenden Seienden kann Göttliches (als Wink in das Sichentziehende in jeder übereigneten Eigenständigkeit) aufblitzen. Solches Aufblitzen kann wiederum niemals das gleiche sein, sondern ereignet sich je immer neu. Daher muß der Vorbeigang in seinem Geschehenscharakter ins Seiende geborgen werden, um nicht zu etwas leblos Seiendem zu "vergötzen." Der Gott "erlöst" den Menschen nicht von seinem Seinsbezug, sondern braucht ihn gerade in diesem. Der Gott wahrt das Jeweilige im (immer bezugsverbundenen) Eigenen. Durch den Gott geschieht eine Anerkennung des Menschenwesens in dessen ureigenem Ereignisbezug, welches der Gott braucht, um Gott zu sein. Der Gott braucht das Andere seiner selbst, primär nicht um sich selbst zu fmden (im Sinne eines Egoismus), sondern um das Andere in seinem Sein sein zu lassen. Nur dann west Göttliches, und nur dann kann das endliche Menschenwesen frei darüber verfügen, ob diesem im Sein Raum gespendet

156 157

GA 65: S. 409. GA 65: S. 413.

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wird oder nicht. Durch die Anerkennung des Anderen in seinem Wesen kann der Gott zu seinem eigenen Wesen kommen, aber er vergewaltigt das Andere nicht, nur um zu sich selbst zu kommen. Hier geschieht keine Er-lösung, d.h. im Grunde Niederwerfung des Menschen, sondern die Einsetzung des ursprünglicheren Wesens (Da-seinsgründung) in das Seyn selbst: die Anerkennung der Zugehörigkeit des Menschen in das Seyn durch den Gott, das sich und seiner Größe nichts vergebende Eingeständnis des Gottes, des Seyns zu bedürfen. 158

In der Begegnung von Gott und Mensch kommt der Wesenszug des Sichverbergens im Seyn als die urgründige Mitte, die den kehrigen Wechselbezug eröffnet, erst ins Scheinen. Die Zugehörigkeit des Daseins "übertrifft" gewissermaßen das Brauchen des Gottes, da das Dasein mit der Freiheit gewürdigt ist, dem Gott in seiner Durft ver-wesen zu lassen, d.h. seine Gründung im Seienden zu verweigern. Jedoch "überragt" das "Bedürfen" des Gottes die Zugehörigkeit des Menschen, da sich in ihm der intime Bezug zum sichverbergenden Urgrund rein kundtut, der auch zum Innersten des Menschenwesens gehört. Der Mensch geht in seiner Entscheidung gegen den Gott einer Geschichteprägenden Erfahrung seiner eigenen Wesensherkunft verlustig. Der letzte Gott hingegen bleibt seiner Herkunft treu und überragt in dieser Hinsicht die Zugehörigkeit. Nur im Austrag des "Streites" (im Sinne des gönnenden wechselwendigen Wesenlassens) zwischen Mensch und Gott wird die Herkunft bewahrt und kommt jedes in sein eigentliches Wesen: Jene Zugehörigkeit zum Seyn und dieses Bedürfen des Seyns enthüllt erst das Seyn in seinem Sichverbergen als jene kehrige Mitte, in der die Zugehörigkeit das Bedürfen übertrifft und das Bedürfen die Zugehörigkei.t überragt: das Seyn als Er-eignis, das aus diesem kehrigen Übermaß seiner selbst geschieht und so zum Ursprung wird des Streites zwischen dem Gott und dem Menschen, zwischen dem Vorbeigang des Gottes und der Geschichte des Menschen. 159

y) Der Wink des letzten Gottes in der Seinsverlassenheit

und die daseinsmäßige Freiheit zum Grund

Alles Seiende, auch wenn es sich dem Menschen nur als das Berechenbare darbietet, birgt in Wahrheit einen Ort fiir die Vorbereitung des Vorbeigangs. Weil das Ereignis das Seiende eigenständig dastehen läßt und durch diese Be158 159

GA 65: S. 413. GA 65: s. 413.

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4. Kap.: »Der Ister« und die Gedenkschrift »Andenken«

ständigkeit dem Menschen das seinsvergessene Rechnen und Hantieren mit Seiendem ermöglicht, deswegen bleibt die Herkunft des Seienden aus dem Ereignis auch im bloßen Hantieren mit ihm im Innersten unberührt (obwohl natürlich oft genug gehörig verbaut). Der Wink des letzten Gottes (als Wesenszug des Ereignisses) winkt in diese Richtung: "Dieser Wink als Ereignis stellt das Seiende in die äußerste Seinsverlassenheit und durchstrahlt zugleich die Wahrheit des Seins als ihr innigstes Leuchten." 160 Dieses innigste Leuchten, das jegliches Rechnen nicht beseitigen kann, bietet die Möglichkeit, zur Stätte des Vorbeigangs zu werden, wenn der Mensch darauf achten lernt und dieses "Innigste" in seine Wesensentfaltung zu befreien beginnt: Alles Seiende, so aufdringlich und einzig und selbst- und erst-ständig es dem gottlosen und unmenschlichen Rechnen und Betreiben erscheinen mag, ist nur der Hereinstand in das Ereignis, in dem (dem Hereinstand) die Stätte des Vorbeigangs des letzten Gottes und die Wächterschaft des Menschen eine Beständigung suchen, um zur Ereignung bereit zu bleiben und dem Seyn nicht zu wehren, was doch das bisherige Seiende, dieses in der bisherigen Wahrheit, ausschließlich betreiben mußte.161

Die "Wächterschaft" des Menschen ist dessen Wesen, fiir das sich der Mensch entscheiden kann (oder das er auf privative Weisen ver-wesen lassen kann). Wenn der Mensch diese Wächterschaft nicht übernimmt bzw. so lange er sie noch nicht übernommen hat (d.h. wenn er nicht sein Wesen als das seinsbezogene, weltoffenständige Wesen übernimmt, dem aufgegeben ist, Seiendes in die Hut zu nehmen, d.h. in seinem Sein anwesen zu lassen), dann muß der Mensch das ursprüngliche Wesen des Seyns verfehlen bzw. ihm "wehren". Denn das ihm gegebene Wesen ist sein einziger ursprünglicher Zugang zum Sein, den er, einmal übergangen, niemals nachträglich (auf der Ebene des unbeachteten Übergangenen stehend) wiederherstellen kann. Die Wahrheit des Seins als das Ereignis der im Grunde sich verbergenden Lichtung braucht die Begegnung von Menschen und Göttern, um im vollen Sinne gedacht werden zu können. Denn diese Begegnung (in der Er-eignung) läßt den Menschen seine Würde erfahren; dieser ist nicht ein bloß kontingentes Seiendes, das genauso gut auch nicht sein könnte, sondern sein Wesen ist "notwendig", damit überhaupt Sein in einer Offenheit anwesen kann, damit sich Göttliches überhaupt zeigen kann. Solche Erfahrung kann aber nicht in Geschichte-prägender Weise vom Menschen allein gemacht werden, sondern dazu ist er auf das Erscheinen eines Gottes angewiesen. Dieses Erscheinen verweist aber in das Sichentziehen im Ereignis bzw. läßt dieses als verborgene,

160 161

GA 65: S. 410. GA 65: S. 413f.

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urgründige Mitte hervorscheinen, aus der Menschen und Götter er-eignet werden: Das Erdenken der Wahrheit des Seyns glückt erst, wenn im Vorbeigang des Gottes die Ermächtigung des Menschen zu seiner Notwendigkeit offenbar wird und so die Er-eignung im Übermaß der Kehre zwischen menschlicher Zugehörigkeit und göttlichem Bedürfen ins Offene kommt, um ihr SiGhverbergen als Mitte, um sich als Mitte des Sichverbergens zu erweisen und die Erschwingung zu erzwingen und damit die Freiheit zum Grunde des Seyns als Da-Gründung zum Sprung zu bringen. 162

Wenn der freigebend-sichentziehende Zug des Ereignisses in die Offenheit gelangt und der Mensch sich dadurch der Notwendigkeit seines eigenen "zugehörigen" Wesens inne wird, dann führt ihn das eigene Wesen in den Sprung, die Freiheit zum Grund wahrzunehmen. Die Freiheit zum Grund ist die Möglichkeit des jeweils eigenständigen Sichverhaltens zur Herkunft und das Übernehmen der Aufgabe deren Gründung ins Seiende. Dieser Bezug zum Urgrund bringt insofern Freiheit, als er den Menschen die Möglichkeit eröffnet, W eisungen zu empfangen, die sich niemals direkt aus den im Seienden waltenden Gesetzen ableiten lassen. In dem Augenblick, wo das eigene Wesen wahrhaft erfahren wird, muß dieser Grund und sein sanftes Gesetz wahrgenommen werden (denn das Wesen des Menschen ist seine Zugehörigkeit zu diesem). Allerdings besteht keine Notwendigkeit, daß der Mensch die Ankunft solcher Erfahrung zuläßt, und auch keine Notwendigkeit, daß er sein Wesen nach solcher Erfahrung nicht auch wieder vergessen kann (wegen des Vorbeigangcharakters des Ereignisses und der Zeitlichkeit des Daseins). Die Freiheit zum Grund bzw. zum Grunde des Seyns ist also die grundlegendste Freiheit. Sie bringt die Möglichkeit der Einsicht in die Herkunft und Notwendigkeit des eigenen Wesens, aber ihr ist auch ständig die Möglichkeit des "Abfalls" vom Grund mitgegeben. Wir sahen bereits, daß es Einzelnen möglich ist, in einen ahnenden Bezug zu diesem Urgrund zu kommen, noch ehe der Gott erscheint. Aber solche Erfahrungen sind allein noch nicht geschichteprägend: "Oder aber, der Augenblick gehört nur noch den einsamsten Einsarnkeiten, denen aber das gründende Einverständnis der Stiftung einer Geschichte versagt bleibt." 163 Und dennoch bereitet sich in solchen einsamen Augenblicken ein Sagen vor, das die Bereitschaft für das Erscheinen des kehrigen Ereignisbezuges stiften kann: "Aber diese Augenblicke, und sie allein, können die Bereitschaften werden, in denen die Kehre des Ereignisses zur Wahrheit sich entfaltet und fügt." 164 Die Bereitschaft der anfänglich Vorbereitenden darf

GA 65: S. 414. GA 65: S. 409. 164 GA 65: S. 409.

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4. Kap.: >>Der Ister« und die Gedenkschrift »Andenken«

also nicht erst in den "Feiertagen des Brautfestes" (wie es in "Andenken" hieß) beginnen, sondern muß inmitten der Seinsverlassenheit anheben (d.h. auch die "Weltnacht" muß in ihrem Bezug zum Ereignis erfahren werden). Es gilt, die Nähe des letzten Gottes bereits in der Seinsverlassenheit anklingen zu hören, d.h. dort, wo sich das Sichentziehende nothaft bekundet, diese Not aber gewandelt im Lichte des ursprünglichsten Freigebens erfahren werden kann; auch hier waltet die Freiheit zum Grunde, und zwar vollzieht sie sich in der Seinsverlassenheit zumeist in der Weise der Abkehr vom Grund (Seinsvergessenheit). Die Not der Seinsverlassenheit, wenn sie als Not erfahren wird, birgt schon den dämmemden Bezug zum sichentziehenden Wesenszug im Ereignis, aus dem auch das Erscheinen des letzten Gottes sich vollziehen kann. In dieser Not kann die Not-wendigkeit des eigenen Wesens erfahren werden, das allein durch seine Gegeben-heit schon den Bezug zum Urgrund in sich trägt; diese notwendige Zugehörigkeit birgt Freudiges bzw. den "Jubel des Seyns": "Denn nur wenn der Mensch aus dieser Not herkommt, bringt er die Notwendigkeiten zum Leuchten und mit diesen erst die Freiheit der Zugehörigkeit zum Jubel des Seyns. " 165 Diesen Jubel in der Seinsverlassenheit bereits anklingen zu hören, d.h. sich inmitten von scheinbarer äußerster Sinnlosigkeit fiir einen Born äußerster Sinnhaftigkeit offen zu halten, ist nicht jedermanns Sache. Vor allem ist es nicht die Sache von National- bzw. Völkerkulten; der letzte Gott ist niemals Privatbesitz von bestimmten Gruppen oder Nationen: "Der letzte Gott ist der Anfang der längsten Geschichte in ihrer kürzesten Bahn. Langer Vorbereitung bedarf es fiir den großen Augenblick seines Vorbeigangs. Und zu seiner Bereitung sind Völker und Staaten zu klein, d.h. zu sehr schon allem Wachstum entrissen und nur noch der Machenschaft ausgeliefert." 166 Der letzte Gott ist natürlich ebensowenig der Privatbesitz von Einzelnen. Doch ist es Einzelnen, die sich von ihrer Verfallenheit an das Betreiben von Seiendem noch eher lösen können als bereits fest institutionalisierte Einrichtungen, eher möglich, den letzten Gott vorzubereiten. Solche Vorbereitung glückt besser fernab der "Öffentlichkeit", wobei aber die Vorbereitung, das muß immer im Auge behalten werden, letztendlich gerade umwillen der Mitmenschen geschieht: "Nur die großen und verborgenen Einzelnen werden dem Vorbeigang des Gottes die Stille schaffen und unter sich den verschwiegenen Einklang der Bereiten." 167 Die Vorbereitung des letzten Gottes, durch das schweigsame Ausstehen der Seinsverlassenheit in der Ahnung ihrer wahren Herkunft, beginnt zwar mit

s.

GA 65: 412. GA 65: S. 414. 167 GA 65 : S. 414.

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§ 16. Heideggers Gedenkschrift ))Andenken«

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Wenigen (den "Zukünftigen"}, aber muß sich letztendlich den Mitmenschen öffnen, damit der letzte Gott geschichteprägend walten kann, d.h. damit Menschen und Götter in ihr Eigenes fmden. Heideggers Auslegungen von Hölderlins "Andenken" und der "Ister"-Dichtung zeigten uns dies mit massiver Klarheit. Weil der letzte Gott eine geschichtlich einmalige Wesungsweise des sichentziehenden Urgrundes ist, d.h. einzigartig auf diesen verweist, muß das Sichentziehende als Wesenszug allererst erfahren sein, damit überhaupt eine prinzipielle Bereitschaft für das Vernehrneo seiner geschichtlich einmaligen Wesensweise von menschlicher Seite her gegeben ist. Solches Sichentziehen waltet aber überall und jederzeit, d.h. auch in der Epoche der Seinsverlassenheit Der Gott fehlt hier zwar, aber sein Fehl ist vor allem durch die Menschen bedingt, die sich nicht an ihr Wesen kehren, d.h. nicht auf die Zugehörigkeit zum freigebend-sichentziehenden Urgrund achten. Ohne diese Wesenseinsicht kann der Gott nicht erscheinen, weil die Menschen die W esungsweise seines Erscheinens (als Wink ins Verborgene} niemals erkennen könnten. Darin liegt wiederum, daß, ursprünglich betrachtet, nicht die Menschen auf den Gott warten, sondern viel eher der Gott darauf warten muß, bis die Menschen beginnen, ihr W esen zumindestens zu ahnen (wozu die Dichter Wesentliches beitragen können}, um dann zusammen mit dem Gott in ihr jeweils Eigenes zu fmden: "Wie wenige wissen davon, daß der Gott wartet auf die Gründung der Wahrheit des Seyns und somit auf den Einsprung des Menschen in das Da-sein. Statt dessen scheint es so, als müßte und würde der Mensch auf den Gott warten. Und vielleicht ist dieses die verfänglichste Form der tiefsten Gottlosigkeit..." 168

II. Die Gefahr der "Verschmelzungsgier" für den Dichter bzw.: Die notwendig zu bewahrende Differenz im vom Heiligen (für das Fest} eröffneten Bereich Obwohl der Höchste nahe dem Höchsten steht, d.h., obwohl der Gott und das Heilige aufs engste zusammengedacht werden müssen, so darf der Dichter sich dennoch nicht an den Gott verlieren. Denn dadurch würde er sein vom Heiligen gestiftetes Wesen aufgeben, und das "Zwischen" als der Ort für die Begegnung von Menschen und Göttern würde verloren gehen. Die Gier nach verschmelzender Einheit (wie wir schon im 2. Kapitel in bezug auf das in der Feiertag-Hymne angesprochene Semeie-Schicksal sahen} führt so gerade weg von der wahren Viel-Einheit (wo sich die Verschiedenen in ihrer jeweiligen

168

GA 65: S. 417.

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4. Kap.: »Der lster« und die Gedenkschrift »Andenken«

Andersheit im Grunde jedoch als zusammengehörig erfahren): "Durch die entzweiende Gier in Eines wird aber das Zwischen, das der Halbgott innehalten soll, verstört. Das Offene dieses Zwischen verschließt sich." 169 Durch diesen Verschluß wird nicht nur der Bezug zum Gott verbaut, sondern auch dasjenige, was den Bezug von Gott und Mensch allererst ins Offene freigibt bzw. sein läßt: "Durch solche Verschlossenheit wird unzugänglich, was über den Menschen und Göttern als das Höchste ihr Zwischen erst aufgehen läßt und sie in dieses schickt und innerhalb seiner sie einander zuschickt. "170 Hier wird das Heilige als das urgründige "Lassen" angesprochen, das die reichgegliederte Offenheit allererst "sein läßt" und d.h. ihre jeweiligen Bereiche ins Sein schickt (sie mit ureigenem Sein begabt). Das vom Heiligen am ursprünglichsten der Offenheit Zugeeignete ist das "Fest", an dem gegenwendig Götter und Menschen einander ihr Wesen ergänzen, d.h., das Andere jeweils in sich anwesen lassen und so zumal das Eigene vollenden: "Dieses vom Heiligen zuerst Geschickte ist das Fest. Das Festliche des Festes hat seinen Bestimmungsgrund im H e i l i g e n. Das Heilige läßt das Fest das Brautfest sein, das es ist. "171 Dieses Sein-Lassen bringt Heidegger hier wieder mit dem ursprünglichen Grüßen zusammen: "Solches Wesenlassen eines Wesenden in seinem Wesen ist das ursprüngliche Grüßen. Das Fest ist das Ereignis des Grußes, in dem das Heilige grüßt und grüßend erscheint." 172 Während der Analyse der "Andenken"-Vorlesung wurde das Phänomen des Grüßens bereits relativ ausführlich behandelt und braucht daher von uns hier nicht eigens erläutert zu werden. In der Gedenkschrift betont Heidegger, daß dieser Gruß aber nur wahrhaft "ankommen" kann, wenn der Dichter sich im Schicklichen, d.h. in der Erfahrung seines Wesens, hält: "Das Festliche des Brautfestes stimmt nur dann zur Feier, wenn das Wesen des Halbgottes, der dem Brauttag entstammt, rein in seiner Bestimmung schwingt. "173 Bereits in der Vorlesung hörten wir, daß es möglich ist, daß der Mensch nicht mehr gegrüßt wird. Deutlich geht hier hervor, daß dies nicht meint, das Heilige würde von sich aus den Bezug zum Menschen aufgeben, sondern vielmehr ist es der Mensch, der den Gruß "aufgibt", weil er seines Wesens so weit verlustig gegangen ist, daß er den Gruß als Gruß in keiner Weise mehr wahrnehmen kann. Das Wesen des Menschen, in dem vor allem der Dichter heimisch sein muß, um Dichter zu sein, beruht aber auf seinem Bezug zum Heiligen, der ihn wieGA 4: S. GA 4: S. 171 GA 4: S. 172 GA 4: S. 173 GA 4: S. 169

170

104. I 04. I 04f. I 05. 105.

§ 16. Heideggers Gedenkschrift >>Andenken«

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derum für das Göttliche öffnet, damit aus der Beziehung zu diesem das Seiende in seiner eigentlichen Wesenswürde entspringen kann. Die Öffnung für das Göttliche muß aber wesentlich menschliche bleiben: "Das Wesen des Halbgottes ist jedoch, das Ungleiche zu den Göttern und den Menschen innezuhalten."174 Daß der Dichter auch den Menschen gegenüber der Ungleiche sein muß, bedeutet nicht, wie oben schon einmal besprochen, daß die "undichterisch-lebenden" Menschen des Bezugs zum Heiligen gänzlich entbehren würden. Vielmehr stehen sie in diesem Bezug, aber im Modus der Vergessenheit. Weil die Menschen zunächst und zumeist sich nicht ihrer Wesenswürde inne sind, deshalb muß der Dichter von diesem Seinsmodus des Menschen unterschieden sein. Dieser Unterschied ist aber ontologisch anderer Art als der zu den Göttern, die aufnicht-menschliche Weise auf das Heilige bezogen sind und daher nicht auf undichtensehe Weise diesen Bezug vergessen können wie die Menschen. Heidegger erläutert die Zwischenstellung des Dichters dadurch, daß er ihn zwischen Himmel und Erde ansiedelt, d.h., dem Himmel zugewandt und doch nicht mit ihm verschmelzend, aus der Erde gewachsen und doch nicht in ihr versandend: "Dieser Ungleiche zu sein, nach dem Himmel und nach der Erde zu, fordert das ihm zugeschickte Wesen. Es zu wahren ist das Schickliche. Das Schicksal fmdet daher dann und nur dann seinen Ausgleich, wenn das Ungleiche als das Ungleiche west."m Immer wieder betont Heidegger, daß der Sinn von Sein kein einheitlich-identischer ist, sondern die geeinte Vielheit, die Einheit, welche die Vielheit birgt, d.h. wahrt. Nur wenn das Dichterwesen dieser Einheit entsprechend west, kann es den Zwischenbereich wahren und offenhalten, in dem Götter und Menschen sich im eröffneten Sinnbereich des Heiligen begegnen können. Das Heilige stiftet den "Ausgleich" im Sein als einem Gliederungsgefiige, in dem das unterschiedene Andere wechselwendig dem jeweils Anderen hilft, in sein ureigenes Wesen zu gelangen, von wo aus es auf ureigene Weise auf die Wesensentfaltung des Anderen bezogen bleibt: "Der Ausgleich ist nicht das Auslöschen der Unterschiedenen, sondern ihre, der Götter und der Menschen, Rückkehr in das eigene Wesen. In solcher Rückkehr gründet das Bleiben des Ungleichen." 176 D.h., in der Rückkehr ins eigene Wesen liegt das Bleiben des Anderen in seiner Andersheit, weil das eigene Wesen gerade das Ungleiche ungleich sein läßt (analog wie es in seiner Ureigenheit aus dem Heiligen sein gelassen wird).

174GA 4: S. I 05. 175

GA 4: S. 105.

176GA 4: S. 105. 27 Helling

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4. Kap.: »Der Ister« und die Gedenkschrift »Andenken«

Indem das Heilige Menschen und Götter in ihrer Geschiedenheit aufeinander bezogen sein läßt und aus diesem Bezug das Seiende in seinem eigentlichen Seinssinn entspringt, weil es als vom Ereignis übereignet erfahren und auf eine diesem entsprechende schickliche Weise entworfen wird, gründet das Heilige mit dem Fest die Geschichte: "Das vom Heiligen zuerst geschickte Fest bleibt der Ursprung der Geschichte."m Der Dichter, der auf intimste Weise diesem Fest zugehörig ist, wird so wesentlich zum Mitbegründer der Geschichte, weil er den Gruß des Heiligen im Seienden zu stiften vermag, so daß dieses und die in ihm wurzelnden Götter die Menschen auf verwandelte Weise ansprechen können. Die Aufgabe des Dichters besteht darin, an das Gewesene im Lichte der einstigen Feste zu denken und das kommende Fest vorzubereiten, indem er schicklich in dem ihm zugewiesenen Zwischenbereich harrt: "Er denkt an das Gewesene im Denken an das Kommende. Dies ist das Heilige, das ankommend das Festliche des Festes bereitet. "171

111. Weitere Erläuterungen zum Heiligen in der Gedenkschrift

Im verbleibenden Teil der Gedenkschrift wird das Heilige im Zuge der Interpretation der einzelnen Verszeilen immer wieder thematisiert. Da wir während unserer Analyse von Heideggers Auslegung der "Andenken"-Hymne die einzelnen Verszeilen schon untersucht haben, wird im folgenden darauf verzichtet, sie in ihrem Zusammenhang noch einmal zu erläutern. Heideggers Gedanken zum Heiligen sollen also jetzt nicht so sehr auf das Gedicht bezogen werden, sondern uns interessieren jetzt vor allem die direkten Bemerkungen zum Heiligen, die während der jeweiligen Versbesprechung gegeben werden. Die Verse werden vornehmlich also nur zur untergliedemden Orientierung angegeben werden: 1. »Wenn gleich ist Nacht und Tag« (2. Str., V. 9): Die Nacht bringt Heidegger hier mit der Epoche der Götter-losigkeit zusammen, die der Dichter wach auszustehen hat und in der er sich schicklich auf das Dämmern des Heiligen vorbereiten muß: "Die Nacht ist die Mutter des Tages. Sofern im Tagen das Heilige kommt und die Gewähr der Ankunft der Götter geschenkt wird, ist die Nacht der Zeit-Raum der Gott-losigkeit." 179 Wenn Nacht und Tag "gleich" sind, deutet sich eine Übergangsphase an. Ohne daß Heidegger diese Übergangszeit

GA 4: S. I 06. GA 4: S. 107. 179 GA 4: S. I 09f.

177 178

§ 16. Heideggers Gedenkschrift »Andenken«

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eigens in bezug auf das Ereignis des Heiligen hier erläutert, können wir auf Grund der vorangegangenen Untersuchung sagen: Diese besteht darin, daß das Heilige zu dämmern beginnt, die zu nennenden Götter aber noch nicht in ihrem Erscheinen gewährt sind und daher erst das Feiern, nicht aber das eigentliche Brautfest beginnt. Diese Zeit der Götterlosigkeit denkt Heidegger nicht als etwas nur Negatives, sondern vieltnehr als den Augenblick für die Entscheidung, in der der Mensch sich auf das gewesene Erscheinen der Götter besinnen kann, den gewesenden Bezug zum Heiligen gewahren kann, um dadurch vorbereiteter zu werden für das Nennen der Kommenden: "Dies Wort meint hier keineswegs das bloße Fehlen oder gar nur die nackte Abwesenheit der Götter. Die Zeit der Gott-losigkeit enthält das Unentschiedene des erst Sichentscheidenden. Die Nacht ist die Zeit der Bergung des Vergangengöttlichen und der Verbergung der kommenden Götter." 180 Auch die Nacht wahrt noch das Andenken sowohl an das Heilige als auch an das Göttliche. Für diejenigen, die in dieser Nacht wach bleiben, bietet die Nacht die kühle Ruhe der Klarheit, deren Erlernung den Dichter vorbereitet fiir das feurige Erscheinen (des Heiligen im Erscheinen eines Gottes); er lernt im Andenken an das gewesene Fest die Gefahren im Nennen der Götter und wird dadurch vorbereitet, sich nicht an das Feuer eines Gottes zu verlieren, sondern dieses vieltnehr in der erlernten Klarheit des Heiligen hervorscheinen zu lassen. "Weil die Nacht in solchem bergendverbergenden Nachten nicht nichts ist, hat sie auch ihre eigene weite Klarheit und das Ruhige der stillen Bereitung eines Kommenden. Dem gehört ein eigenes Wachen, das nicht als Schlaflosigkeit am Schlafen hängt, sondern die Nacht bewacht und behütet." 181 Durch solches achtsames Wachen wird die Nacht bereits zur "heiligen Nacht"; d.h., im Sichentziehen der Götter und im scheinbaren "Fehl" auch des Heiligen wird der verborgene Urgrundzug des Heiligen geahnt, aus dem sämtliches Erscheinen zur Welt gebracht wird: "Aber die Nacht als die Mutter des Tages, der das Heilige bringt, ist heilige Nacht...". 182 Hier bestätigt sich wieder der zwiefache Zug der Nacht: 1. nennt er die Epoche der Götterlosigkeit, in der nicht einmal das Heilige genannt ist; 2. birgt sich in ihr der verborgene Grundzug des Heiligen: das urgründige Seinlassen durch das Sichentziehen. 2. »Von goldenen Träumen schwer,« (2. Str., V.ll): Anders als im geläufigen Traumverständnis, wo Träume als das "Unwirkliche", nur Scheinhafte gelten, interpretiert Heidegger die hier gedichteten "goldenen Träume" als das GA 4: s. 110. GA 4: S. 110. 182 GA 4: S. 110.

IBO 181

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4. Kap.: »Der Isten< und die Gedenkschrift »Andenken«

Kommen des Heiligen. Solche Träume fuhren in die "Wirklichkeit" des Wirklichen, d.h. zunächst weg vorn geläufigen Seienden in die Herkunft seines Seins, die selber niemals etwas "Wirkliches" ist, da sie auf der Ebene des Begründeten nicht angetroffen werden kann. Das Heilige erschöpft sich niemals im Wirklichen, sondern schenkt diesem durch sein sichentziehendes Wesen beständig neue Möglichkeiten. Im Anschluß an eine Hölderlin-Abhandlung 183 nennt Heidegger diesen Traum einen furchtbaren, aber göttlichen Traum. Furchtbar ist er, "weil er die, denen er sich zeigt, aus dem sorglosen Aufenthalt beim vertrauten Wirklichen heraus- und hineinwirft in den Schrecken des Unwirklichen. "114 Aber dieses Unwirkliche erweist sich gerade als das Ankommen des Möglichen aus dem Heiligen: "Aber dieser furchtbare Traum ist ein göttlicher, weil das in die Wirklichkeit ankommende Mögliche bei seiner Ankunft durch das Kommen des Heiligen geheiligt ist. " 185 Die Möglichkeiten des Wirklichen werden hier als Gewährnis des Heiligen erfahren. Das vorher als unwirklich Gewähnte erweist sich jetzt als das eigentlich Wesentliche: "Dieser ausgezeichnete Traum läßt das Mögliche seiender und das bisher fiir seiend und wirklich Gehaltene unseiender werden." 186 Aus solchem Traum, in dem das Heilige sein wesensgewährendes Wesen offenbart, empfängt der Dichter seine Weisung, die ihm das zu-dichtende Gedicht aufweist: "Dieser Traum zeigt sich dem Dichter, weil der Traum als dieses furchtbargöttliche Unwirkliche das unvordichtbare Gedicht des Heiligen ist. Dieses Gedicht müssen die Dichter sagen." 187 Solches Sagen hört auf den Traum, ist aber niemals ein bloßes "Nachsagen" sondern ein "Wiedersagen": "Dies [das echte Sagen] ist ursprünglich ein Hören, gleich wie das echte Hörenkönnen ein ursprüngliches Wiedersagen (nicht ein Nachsagen) des Gehörten ist" 181, d.h. ein auf dem zu eigen gegebenen Grund eigenständig stehendes, frei-entwerfendes Ant-worten bzw. Ent-sprechen. Die "goldenen Träume" glänzen also aus dem tiefgründenden Wesen des Heiligen her, aus dessen Dunkel (seines Sichentziehens) die reinen Funken der Glut (das Belebende/ Begeisternde, das das Seiende im Wesen durchwaltet) entspringen: "Die goldenen Träume sind wie Gold schwer aus der Gediegenheit des Wesenhaften ihres Gedichtes. Sie sind wie 183 Nämlich: "Das Werden im Vergehen. (Ill, 309 bis 316)". Heidegger hebt aus dieser Abhandlung folgenden Satz heraus: " Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn wird aber überall das Mögliche real, und das wirkliche ideal, und diß ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer aber göttlicher Traum." GA 4: S. 113. 184 GA 4: S. 113. 185 GA 4: S. 113. 186 GA 4: S. 113. 187 GA 4: S. 113. 188 GA 4: S. 124.

§ 16. Heideggers Gedenkschrift »Andenken«

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Gold glänzend aus der lichten Glut des Heiligen. Sie sind wie Gold edel aus der Reinheit des vom Heiligen her Entschiedenen und Geschickten. "119 Heidegger versucht hier, das vorhersagend-prophetische Sagen des Dichters, das auf das Heilige bezogen bleibt, vom Sagen der biblischen Propheten zu unterscheiden. Inwiefern er bzw. ob er überhaupt hier diesem wirklich gerecht wird, bedarf sicherlich einer eigenständigen Untersuchung und kann und darf hier nicht nur am Rande abgehandelt werden. Aus Bemerkungen wie den folgenden geht jedenfalls hervor, gegen was für ein Verständnis des Prophetischen Heidegger sich wendet: Die Dichter sind, wenn sie in ihrem Wesen sind, prophetisch. Sie sind aber keine »Propheten« nach der jüdisch-christlichen Bedeutung dieses Namens. Die »Propheten« dieser Religionen sagen nicht erst nur voraus das voraufgründende Wort des Heiligen. Sie sagen sogleich vorher den Gott, auf den die Sicherheit der Rettung in die überirdische Seligkeit rechnet. Man verunstalte Hölderlins Dichtung nicht durch »das Religiöse« der »Religion«, die eine Sache der römischen Deutung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern bleibt. 190 Untersucht werden müßte, ob das, was im biblischen Bereich mit dem Gott genannt ist, sich mit demjenigen deckt, was Heidegger mit Hölderlin den Gott bzw. die Götter nennt, oder ob nicht der biblische Gott eher dorthin gehört, wo Heidegger den verborgenen Wesenszug des Heiligen denkt. Weiters müßte untersucht werden, ob die Verläßlichkeit der Gotteserfahrung biblisch wirklich als eine "rechnende Sicherstellung" zu verstehen ist, oder nicht vielmehr als ein sich der Erfahrung des urgründig-gewährten Seinszuspruches verdankendes Gründen der zugesprochenen Pracht bereits auf Erden im Hinblick auf die Einkehr in die Herkunft. Vielleicht ist ja die Religion ursprünglich eher aus dieser Erfahrung des Dankes für diesen Zuspruch her zu verstehen als aus den staatlich-organisierten, oft sich-verabsolutierenden Institutionen von Götterkulten. 3. »denn süß/ Wär' unter Schatten der Schlummer« (3. Str., V. 4f.): Wieder, d.h. wie in der "Andenken"-Vorlesung, betont Heidegger hier den Konjunktiv des "wäre"; dem Dichter ist nicht der Schlaf aufgegeben, sondern das ruhige Wachen in der Nacht, um sich für das Tagen des Heiligen vorzubereiten: "Die nüchtern aufmerkende Offenheit für das Heilige ist zugleich die Sammlung auf das Ruhige, das dem »Ruhen« entspricht, woran der Dichter denkt." 191 Das Ruhen, das am Anfang des 4. Verses genannt wird ("Damit ich ruhen möge;"), ist GA 4: S. 114. GA 4: S. 114. Vgl. hierzu Martin Buhers Kritik an solch einem Verständnis der "Propheten": "Gottesfinstemis" Werke, I. Band: Schriften zur Philosophie. München, Kösel, 1962: S. 557. 19 1 GA 4: S. 118. 189

190

422

4. Kap.: »Der Ister« und die Gedenkschrift »Andenken«

also kein Schlafen, sondern eine Vorbereitung für das Standhalten in dem Aufruhr der Helle des Tages (wo es den Wesenszug des Sichentziehenden nicht zu vernachlässigen gilt).

4. »Es reiche aber,/ Des dunkeln Lichtes voll,/ Mir einer den duftenden Becher« (3. Str., V.l-3): Wenn der Dichter nicht in die wachsame Nachtruhe einkehren kann, droht ihm die Gefahr, vom sich-lichtenden Anwesen geblendet zu werden: "Das allzu feurige Feuer blendet nicht nur das Auge, sondern die übergroße Helle verschlingt auch alles Sichzeigende und ist dunkler als das Dunkle."192 Deswegen bittet der Dichter um den Becher voll "dunklen Lichts", damit er in allem Erscheinen den sich entziehenden, freigebenden Urgrund nicht aus den Augen verliert: "Die bloße Helle gefährdet das Darstellen eher, weil die Helle in ihrem Schein den Anschein bei sich führt, sie allein verbürge schon die Sicht. Der Dichter bittet um die Spende des dunklen Lichtes, worin die Helle gemildert ist."193 Die Helle ist insofern gemildert, als sie selber noch in ihrem Entsprungensein aus dem verborgen-bleibenden Wesenszug des Heiligen erfahren wird, aus dem sich die epochalen Lichtungsbereiche ereignen. 5. "Nicht ist es gut/ Seellos von sterblichen/ Gedanken zu seyn." (3. Str., V. 6-8): Die Seellosigkeit wäre für den Dichter gerade das Aufgeben der sterblichen Gedanken: "Der Dichter wäre see/los, wenn er nur dahinlebte, entblößt von sterblichen Gedanken." 194 Denn gerade diese öffnen ihn für seine Bestimmung, den Zwischenbereich zwischen Göttern und Menschen auszustehen und sich nicht an die Götter zu verlieren, sondern vielmehr für diese einen Ort bei den Menschen zu bereiten, wo sie aus dem Heiligen her erscheinen können. Daher darf der Dichter nicht seine menschliche Bestimmung ablegen: "Er denkt aus diesem Zwischen her das, was über beiden je verschieden beide heiligt und als das zu sagende Gedicht sich ihm zudenkt. Sterblich denkend dichtet er das Höchste. Ohne diese Gedanken zu sein, ist für das dichterische Bleibenkönnen im Eigenen nicht gut. "m Die sterblichen Gedanken sind also nicht die bloß vergänglichen Gedanken, sondern sie zeichnen die spezifisch menschliche Weise aus, in welcher der Dichter das Heilige denkt und mit den Göttern im dichterischen Wort ins Seiende birgt.

6. »Doch gut/ Ist ein Gespräch und zu sagen/ Des Herzens Meinung« (3. Str., V. 8-10): Nicht gut, d.h., das Wesen des Dichters verbauend, wäre das Aufgeben der menschlichen Bestimmung beim Dichten. Gut hingegen ist das

192 GA 4: S. 119. 193 GA 4: S. 119. 194

GA 4: S. 122.

195 GA 4: S. 123.

§ 16. Heideggers Gedenkschrift »Andenken«

423

Andenken an das Heilige in der Weise der Sterblichen: "Die Meinung ihres Herzens meint das Gedicht des Heiligen, das im Schicksal verweilt zur Zeit des Festes. Des Herzens Meinung denkt an die Feier des Festes. "196 Das "Herz" des Dichters bleibt also den geschichtlichen Anwesungsweisen des Heiligen eingedenk, die sich einmalig zur Festzeit bekunden, d.h. dort, wo die Menschen den Göttern begegnen. Der Dichter denkt den Vollzug dieses Festes und dessen Vorbereitung (in den Feiertagen) immer aus dem Schicksal (im Sinne der freigebenden Zu-Schickung) des Heiligen. 7. »Wo aber sind die Freunde? Bellarrnin/ Mit dem Gefährten?« (4. Str., V. 1-2): Indem der Dichter nach dem Wesensort der Freunde fragt, wird sowohl sein eigener Ort als auch der Bezug zwischen ihnen und ihm fragwürdig. Der Dichter ist zwar von der Wanderung in die Fremde heimgekehrt, aber noch steht ihm die Aneignung des Eigenen im Sinne des freien Gebrauches bevor. Noch sucht er das Heimischwerden an der Quelle. Deswegen bleibt er sich fragwürdig: "Dürfen wir uns da noch wundem, wenn der Dichter fragt, wo er selbst sei, gesetzt daß diese Frage auf das Heimischwerden im eigenen Wesensort hinausdenkt? Dann schließt das Andenken doch das Fragen nicht aus. Nur verfängt sich dieses nicht im berechnenden Zweifeln." 197 Auch dem Dichten eignet eine eigene Frag-würdigkeit, die sich aber nicht von der traditionellen Subjektmetaphysik her fassen läßt, die durch den methodischen Zweifel zu einem sicheren Ausgangspunkt im als Subjekt gefaßten Menschen zu gelangen sucht. In der Dichtung Hölderlins erfährt sich der Mensch gerade nicht als in sich selbst gegründet, sondern er empfängt seinen Wesensort aus dem Heiligen. Die Frag-würdigkeit des dichterisch-stiftenden Sagens des Heiligen ist aber auch eine andere als die des Denkens des Seins, das zwar auch gründend ist, aber nicht in der Weise der Kunst bzw. Dichtung: "Auch ist dies dichterische Fragen anderer Art als das denkerische, das sich in das wesenhaft Fragwürdige wagt und in diesem Anderes zum Austrag bringt als das Sagen des Heiligen. "198 Dieses "Andere" bleibt natürlich auch auf dasselbe Phänomen bezogen, das dichterisch das Heilige genannt wird; die Zugangsweise und Sprachlichkeit ist aber eine andere, sowie die Weise, dieses Phänomen ins Seiende zu "retten" bzw. zu gründen. 8. »Was bleibet aber, stiften die Dichter« (Str. 5, V. 11): Das Bleibende, das die Dichter stiften, vollzieht sich im Gang an die Quelle, d.h. im Treu-bleiben dem Eigenen, das aus dieser Quelle gestiftet wird: "Das Bleiben im Eigenen ist der Gang an die Quelle. Sie ist der Ursprung, dem alles Wohnen der ErdensöhGA 4: S. 125. GA 4: S. 129. 198 GA 4: S. 129. 196

197

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4. Kap.: »Der lster« und die Gedenkschrift »Andenken«

ne entspringt. Das Bleiben ist ein Gehen in die Nähe des Ursprungs. " 199 Dieser Ursprung, aus dem heraus das Bleibende erfahren und im dichterischen Wort gestiftet werden kann, ist aber wesenhaft immer auch auf das Entsprungene bezogen. Daher kann der Ursprung alleine, d.h. nur für sich, gar nicht gedacht bzw. gedichtet werden: "Denn der Ursprung übertrifft sich im Entspringenlassen und genügt sich selbst nie. "200 Nur durch die Beachtung der Freigegebenheit des Entsprungenen, in das sich der Ursprung ergießt, kann das volle Wesen des Ursprungs gestiftet werden; erst hier bekundet sich die Art seines Bleibens: Er bleibt das Gewährende und Haltende des Entsprungenen. Die Aufgabe des Dichters ist es, das Offene zu gründen, in dem das Entsprungene im Lichte des Ursprungs erscheinen und aufeinander bezogen anwesen kann. "Dies Offene öffnet sich, wenn das kommt, was über den Menschen und den Göttern ist, indem es hochher kommend erst ein Offenes aufgehen läßt, so daß ein Wahres (Unverborgenes) sein kann. Dies im voraus Öffnende ist das Heilige, das unvordichtbare Gedicht, das zuvor schon alles Dichten überdichtet hat, weil in ihm alles Stiften sein Gestiftetes festmacht. "201 Im Sinne der Ereignis-Struktur heißt das: Das dichterische Entwerfen kann sich als stiftendes nur deswegen vollziehen, weil es im ereignenden Zuwurf zu solchem Stiften "ermächtigt" bzw. freigegeben worden ist. Im letzten Grunde verdankt sich das Stiften dem Heiligen. Für das wahrhafte Hervorscheinen des Heiligen in allem, was ist, bedarf es aber auch noch des Erscheinens der Götter, d.h. des Brautfestes: "Das Heilige öffnet sich den Menschen und den Göttern zumal, wenn das Fest sich ereignet. In ihm erscheint das Feste, worin der Wesensursprung des Dichters sich erfestigt. "202 Das Heilige kommt, indem es in den Festen vorübergeht. Der Ursprung erschöpft sich nie im Entsprungenen, sondern gibt dies stets je neu frei. Daher muß die Nähe zum Ursprung immer die Ferne des Kommenden bejahen: "Dem Ursprung wohnt der Dichter nahe, indem er das Ferne zeigt, das im Kommen des Heiligen naht." 203 In diesem Nahe-Wohnen bei dem ankommenden Fernen vermag der Dichter das Bleibende zu stiften. Das ursprünglich Bleibende ist niemals ein vorhandenes Seiendes, sondern der unaufuörliche Bezug zum Heiligen, der jedoch gerade kein chronologisch kontinuierlicher ist, sondern augenblickshaft je neu ankommt und nur in solchem Ankommen bleibt. In diesem Bleiben, das chronologisch betrachtet fast eher ein beständiges Vergehen GA 4: S. GA 4: S. 201 GA 4: S. 202 GA 4: S. 203 GA 4: S. 199

200

145. 146. 148. 148. 148.

§ 16. Heideggers Gedenkschrift >>Andenken«

425

ist, da es nie greifbar wird, festigt der Dichter sein Sagen: "Der Dichter zeigt dieses Offene des Zwischen, worin er selbst zuerst wohnen muß, dadurch, daß sein Sagen zeigend dem Ursprung folgt und so das Bleiben ist, das sich in das Heilige festigt, das in sein Wort kommen soll."204 Im Gedicht "Andenken" wird der geschichtliche Gruß des Heiligen ins Wort gestiftet. Der Dichter erfahrt sich als vom Heiligen gegrüßt und kann daher im Grüßen des Griechenlandes bleiben, wo er ist. Das gewesene Fest bleibt unentbehrliche Hilfe fiir das Lernen des Eigenen, aber es ist nicht mehr der einzige Wink in das Heilige: "Der Grüßende bleibt aber zurück, weil das Wesen des Gegrüßten durch den Gruß des Heiligen ein Bleiben geworden ist. Sein Bleiben wird im Wort des Gedichtes Andenken gestiftet." 205 Das Gedicht ist in seinem Stiften kein Setzen des Heiligen, sondern ein dankbares Sagen des Wunders, welches der erfahrene Bezug zum Heiligen birgt: "Das Gedicht birgt den verwunderten Dank fiir das Wunderbare, vom Heiligen gegrüßt und so in das Stiften gerufen zu sein. "206 Das Heilige grüßt, indem es den Dichter in die Wesenswürde seiner Herkunft einweist und dadurch zumal das ihm Aufgegebene aufzeigt. Der Dichter muß heimisch werden in dem ihm geschichtlich übereigneten Zwischenbereich, den es fiir die Begegnung von Menschen und Göttern fruchtbar zu machen gilt. Dies geschieht, indem der Dichter das Heilige ins Wort hebt und somit den gemeinsamen Boden bereitet, auf dem in verschiedener Weise Götter und Menschen zu Hause sind und auf dem sie sich gegenseitig helfen können, immer ursprünglicher heimisch zu werden. Zu solcher Hilfe sind sie befahigt, weil sie im Quell ihres Herzens den wesensgönnenden Bezug des Heiligen tragen und auf gewandelte Weise diesen austragen können. Die dichterische Weise dieses Austrags ist das Stiften des Bleibens.

GA 4: S. 148. GA 4: S. 150f. 206 GA 4: S. 151. 204 205

5. Kapitel Heideggers Auslegungen zur Verweigerung des Geschichtlichwerdens des Heiligen (durch den "Fehl Gottes"): Der Vortrag >>Heimkunft/ An die Verwandten« (1943) sowie die Eingangsbemerkungen im Vortrag >>Wozu Dichter?« (1946) Heideggers Vorlesungen über Hölderlins Hynmen "Andenken" und "Der Ister" vertieften die Einsicht in das Wesen des Heiligen, insofern hier das in der Feiertag-Hymne erstmals genannte Phänomen in seinem geschichtlichen Wesen näher entfaltet wurde. Das Heilige erscheint nie "schlechthin", sondern zeitigt sich epochal; daher fmden sich im Gewesenen Spuren zum Heiligen, die allerdings nie zum gegenwärtigen, eigenen Bezug der Suchenden zum Heiligen werden können. Diese Spuren bergen Hinweise, die erlernt sein müssen, damit im Gespräch mit Freunden und Fremden der eigene Bezug zum Heiligen gewahrt und frei erlernt werden kann. Das "Finden" des Eigenen wiederum verdankt sich nicht nur den Menschen, sondern auch wesentlich Göttlichem. Das menschliche Gespräch kann das Gespräch mit den Himmlischen bestenfalls vorbereiten, niemals aber erzwingen. In der Dichtung Hölderlins hat sich zwar schon ein wesentlicher Schritt in die Richtung des Feierns des Festes vollzogen, jedoch ist das Brautfest noch nicht da; die Feiertage sind im Kommen; der Gott fehlt. Von diesem Fehl Gottes spricht das Gedicht "Heimkunft/ An die Verwandten", dem wir uns zuerst zuwenden werden (§ 17). Gegen Ende dieses Kapitels werden wir dann wichtige Bemerkungen zum Verhältnis des Göttlichen zum Heiligen durchdenken(§ 18), die sich bei Heidegger am Anfang seines Vortrags "Wozu Dichter?" fmden. Diese Bemerkungen vertiefen das in der "Heimkunft"-Interpretation Gesagte, indem sie das Bezugsgefiige "das Heilige - die Gottheit - der Gott" klarer gliedern.

§ 17. >>Heimkunft/ An die Verwandten« Die Untersuchung von Heideggers Vortrag "Heimkunft! An die Verwandten" wird sich folgendermaßen untergliedern: Heideggers Auslegung beginnt mit dem Aufweis, daß der Dichter bei seiner Heimkunft erfährt, wie weit die

§ 17. >>Heimkunft/ An die Verwandten«

427

dort lebenden "Verwandten" noch von ihrer wesentlichen Heimat entfernt sind (1. ). Obwohl die Wesenszüge der ursprünglichen Heimat noch keineswegs im "irdisch-konkreten" Heimatland gegründet sind, erfahrt der von seiner Wanderung heimkehrende Dichter in seiner freudigen Grundstimmung alles ihm Begegnende schon als Anklang ihres "heiteren" Urgrundes (der sich als das Heilige erweisen wird) (II.). Von diesem Urgrund künden vornehmlich drei Boten, von denen einer (nämlich der Gott) noch nicht bei seinem wahren Namen genannt werden kann (III.). Im folgenden wird dann der Bezug des Dichters zu dem Urgrund und dessen Boten (vor allem zum "höchsten" von diesen (d.h. zum Gott)) thematisiert (IV.). Hier wird sich zeigen, wie das stiftende Sagen des Heiligen, um Geschichte-prägende Gestalt anzunehmen, auf das Nennen eines Gottes angewiesen ist, der aber nicht herbeigezwungen werden kann. Allerdings ist der "Fehl Gottes" kein bloßer Mangel, sondern eröffnet den ZeitRaum einer geschichtlichen Epoche, in der eine ursprüngliche Gotteserfahrung (und damit das Nennen eines Gottes) vorbereitet werden kann. Die Aufgaben für die Dichter, Denker und Mitmenschen bei solcher Vorbereitung werden am Ende der Auslegung noch kurz angedeutet (V.). Den Schlußpunkt des ersten Hauptabschnittes in diesem Kapitel bildet eine kurze Untersuchung von Heideggers Vorbemerkung zur Wiederholung dieses Vortrags (VI.).

I. Die nur scheinbar Heimischen und der heimkehrende Dichter

Dem von seiner Wanderung heimgekommenen Dichter begegnet die Heimat in einem scheinbar vertrauten Licht. Am Ende 9er dritten Strophe des Gedichtes heißt es: "Alles scheinet vertraut, der vorübereilende Gruss auch/ Scheint von Freunden, es scheint jegliche Miene verwandt."' Aber Heidegger erblickt in diesem "Scheinen" die Einsicht des Dichters, daß die Mitmenschen seines heimatlichen Bodens noch nicht den freien Gebrauch des Eigenen erlernt haben. Das Eigene scheint zwar in der bloßen Heimat das Selbstverständlichste zu sein, aber es ist auch hier noch fern: "Menschen und Dinge der Heimat muten vertraut an. Aber sie sind es noch nicht. Also verschließen sie das Eigenste. "2 Zwar hat der Dichter auf seiner Wanderung vieles gelernt, was ihm das Suchen des Eigenen erleichtert bzw. überhaupt erst ermöglicht, aber dieses ist erst im Nahen, es ist noch nicht angeeignet: "»Was du suchest, es ist nahe, begegnet dir

1 GA 4 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt: Vittorio Klosterrnann, 1981): s. 10. 2 GA4: S. 13.

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5. Kap.: »Heimkunft/ An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

schon.« Mit der Ankunft hat der Heimkehrende die Heimat noch nicht erreicht... Deshalb bleibt auch der Ankommende noch ein Suchender."3 Heidegger verweist darauf, daß das Gesuchte ("der Fund") von Hölderlin in einer späteren Reinschrift der folgenden Zeilen "das Deutsche" genannt wurde: »Aber das Beste, der Fund, der unter des heiligen Friedens/ Bogen lieget, er ist Jungen und Alten gespart.«• Das "Deutsche" darf hier nicht fiir eine (gar biologische) Anlage bzw. Eigenschaft stehen, die einem gewissen Volk eigen ist; bereits im 3. Kapitel sahen wir, daß eine "Anlage" niemals den freien Gebrauch des Eigenen ausmachen kann. Denn als bloße Anlage wäre das Eigene ja immer schon gegeben und bedürfte nicht der umständlichen Wanderschaft, Heimkehr und des Ganges an die Quelle (bei der immer noch das Andere als das Andere wesensnotwendig ist). Daher kann das "Eigene", was gesucht wird, nicht zum Besitz eines Volkes gezählt werden. Das Eigene ist vielmehr von wo anders her bereitet und kann eigentlich nur übereignet werden, wenn die Empfangenden schicklich dafiir vorbereitet sind: Das Eigensie der Heimat ist zwar längst bereitet und denen, die das Geburtsland bewohnen, schon zugeschickt. Das Eigenste der Heimat ist bereits das Geschick einer Schickung, oder wie wir jetzt dies Wort sagen: Geschichte. Doch in der Schickung ist das Eigene gleichwohl noch nicht übereignet. Es wird noch zurückbehalten. Deshalb ist auch, was allein der Schickung gemäß bleibt, das Schickliche noch nicht gefunden.5 Der Dichter erfährt bei seiner Heimkunft, daß das Schickliche bei den zurückgebliebenen Landsleuten noch nicht gefunden ist. Zwar begegnet die Weisung schon, aus der das Schickliche (der Brauch, das Ethos) wachsen könnte, aber diese Schickung wird noch nicht eigentlich vernommen: "Als der gesparte begegnet der Fund schon und bleibt doch das Gesuchte. Warum? Weil sie, »die im Vaterlande besorgt sind«, noch nicht dafiir bereit geworden, das Eigenste der Heimat, »das Deutsche«, als ihr Eigentum zu haben. "6 Im Lichte der vorangegangenen Analysen kann von uns bereits mit Eindeutigkeit gesagt werden, daß solches Eigentum niemals "possessiver Besitz" bzw. gar "Privatbesitz" sein kann. Vielmehr besteht das Eigentum im Sinne des freien Gebrauches des Eigenen gerade darin, daß das Eigene mit Hilfe des Anderen "gefunden" wird, wobei der Heimkehrende dem Anderen freundlich-helfend zugewandt bleibt. Das Eigene ist nur Eigenes mit und durch den Anderen (was natürlich auch wiederum gerade nicht heißt, es sei eine bloße Kopie des Anderen). 3 GA 4: S. 13f. • Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 14. 5GA4: S. 14. 6 GA4: S. 14.

§ 17. »Heimkunft! An die Verwandten«

429

Durch diese Erfahrung sieht der Dichter ein, daß seine Landsleute, wie auch noch selbst er, den freien Gebrauch des Eigenen erst lernen müssen: "Dann besteht gar die Heimkunft darin, daß die Landesleute in dem noch vorenthaltenen Wesen der Heimat erst heimisch werden, ja vordem noch darin, daß die »Lieben« zuhaus das Heimischwerden erst lernen." 7 Zugleich mit dieser Einsicht wird dem Dichter auch seine Aufgabe deutlich. Er muß für die Landsleute, die von ihrer eigentlichen, derzeitigen Heimatlosigkeit noch gar nichts wissen, das Eigene der Heimat (d.h. den Bezug zum Ereignis des Heiligen) erst suchen; zumal hat er aber auf seiner Wanderung bereits den Zug in den freien Gebrauch des Eigenen erfahren und weiß davon, daß dieses immer schon auf verborgene Weise zugegen ist bzw. naht (im Sinne des unausschöpflichen Augenblicks in seiner Bezogenheit auf Gewesenes und Kommendes). Damit die "Landesleute" überhaupt in ihr Schickliches fmden können, muß der heimgekehrte Dichter nun erst recht zum Suchenden werden: "Dazu ist nötig, das Eigenste und Beste der Heimat im voraus zu kennen. Wie aber sollen wir dies fmden, es sei denn so, daß für uns ein Suchender ist, und daß das gesuchte Wesen der Heimat sich selbst ihm zeigt?"• Wie mutet sich dem Suchenden die Heimat an?

11. Das Freudige als die Grundstimmung bei der Heimkehr Heidegger zitiert nun aus der 4. Strophe (V. 13ff.) des Gedichtes, um die Grundstimmung, in der dem Dichter bei seiner Heimkunft die Heimat erglänzt, zu bedenken: Reizend hinauszugehn in die vielversprechende Feme, Aber reizender (ist sie [die Pforte des Landes] dem Dichter) Heirnzugehn, wo bekannt blühende Wege mir sind, Dort zu besuchen das Land und die schönen Thale des Nekars, Und die Wälder, das Grün heiliger Bäume, wo gern Sich die Eiche gesellt mit stillen Birken und Buchen, Und in Bergen ein Ort freundlich gefangen mich nimmt. 9

Die hier in der 4. Strophe namenlos waltende Grundstirnmung, die sonst im Gedicht ausdrücklich beim Namen genannt wird, erblickt Heidegger im GA4: S. 14. GA4: S. 14. 9 Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 15. Der Einschub in den runden Klammem stammt von Heidegger, der in eckigen ist eine weitere Klärung für uns. 7

8

430

5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

"Freudigen": "Wir müssen das Einladende der Heimat, das schon begegnet, mit dem Wort benennen, das die ganze Dichtung »Heimkunft« überleuchtet, mit dem Wort »das Freudige«."'" Gleich zu Beginn des Gedichtes begegnet schon dieses Wort (1. Str. V. lf.): »Drinn in den Alpen ists noch helle Nacht und die Wolke/ Freudiges dichtend, sie dekt drinnen das gähnende Thal.« 11 Die Wolke dichtet das Freudige. Wie kann eine Wolke den Zug des Dichterischen haben? Was ist das Freudige, das gedichtet wird, und woher empfängt es sein Wesen? Heidegger antwortet zunächst: "Das Freudige ist das Gedichtete. Das Freudige wird aus der Freude in diese gestimmt. Dadurch ist es das Erfreute und also das Sichfreuende. Dieses kann selbst wieder anderes erfreuen. So ist das Freudige zugleich das Erfreuende. " 12 Das Freudige wird in der Grundstimmung der Freude empfangen und in diese hineingeborgen. Also geborgen, ist es der Grund dieser Freude, der in seinem sich-freuenden Hervorscheinen auch Andere erfreuen kann. Das Freudige ist somit in ein Bezugsgefiige eingebunden. Das Freudige durchstimmt die Freude und erfreut auch anderes, so daß auch dieses wiederum zu Erfreuendem werden kann. Dieses Freudige dichtet die Wolke. Die Wolke steht in einem Zwischenbereich, in dem sie dem "heiteren Anblick" sowohl des Himmels als auch der Erde zugewandt ist: "Die Wolke »drinn in den Alpen« verweilt nach oben zu, den »silbernen Höhen« entgegen. Sie entdeckt sich der ragenden Helle des Himmels, während sie zugleich »dekt« ... »das gähnende Thai.«. Die Wolke läßt sich anblicken von der offenen Helle. Die Wolke dichtet." 13 Durch eine Besinnung auf diese Zwischenstellung wird der dichterische Zug der Wolke schon etwas einsichtiger. Der Dichter erwies sich in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder als derjenige, der einen Zwischenbereich ausstehen muß, um in ihm die Begegnung von Göttern und Menschen vorzubereiten. In dieser Vorbereitung muß er sich stets auf den Grund seines Wesens (das Heilige) besinnen und empfängt seine Weisung von dort. Daher "erdichtet" er nicht im Sinne von eigenen, willkürlichen Einfällen, sondern entspricht einem Zuspruch. Von der Wolke sagt Heidegger nun: "Weil sie in das blickt, wovon sie selbst angeblickt wird, ist ihr Gedichtetes nicht eitel erdacht und erfunden. Das Dichten ist ein Finden. Dabei muß die Wolke freilich über sich hinausgehen zu solchem, was nicht mehr sie selbst ist. Das Gedichtete entsteht nicht durch sie." 14 Der dichterische Zug der Wolke besteht also in einer vermittelnden Zwischenstellung, die den Grund ihrer Freude von woanders her empfängt, sich an diesem erfreut, ihn GA 4: S. 15. GA 4: s. 15. 12 GA 4: S. 15. 13 GA 4: S. 15. 14 GA 4: S. 15f. 10

II

§ 17. »Heimkunft! An die Verwandten«

431

in sich birgt und durch ihr freudiges Anmuten Andere in diese Grundstimmung geleiten kann. Der Grund der Freude, das Gedichtete, kommt nicht aus der Wolke, sondern er kommt über sie, d.h. durchwaltet ihr ganzes Wesen und stimmt sie so erst in ihr freudiges Wesen: "Das Gedichtete kommt nicht aus der Wolke. Es kommt über sie als das, dem die Wolke entgegenweilt Die offene Helle, in der die Wolke verweilt, heitert dieses Verweilen auf. Die Wolke ist aufgeheitert in das Heitere." 15 Die Herkunft der Freude der Wolke ist also dieses Heitere. Das Heiterewest als das Freudige, auf das die Wolke verweist, indem sie, Freudiges dichtend, dieses in sich aufnimmt, sich an ihm freut und in diesem Sichfreuen den Hinweis auf den Grund zur Freude (also das Heitere) an andere weitergibt: "Was sie dichtet, das »Freudige«, ist das Heitere." 16 Dieses "Heitere", dem die Wolke dichtend zugewandt ist, um das Freudige walten zu lassen und an andere weiterzugeben, gilt es nun näher zu bestimmen: "Wir nennen dies auch das »Aufgeräumte«. Wir denken dies Wort jetzt und künftig in einem strengen Sinne. Das Aufgeräumte ist in seiner Räumlichkeit freigemacht, gelichtet und gefUgt. Das Heitere, das Aufgeräumte, vermag allein, anderem seinen gemäßen Ort einzuräumen. "17 Das Heitere wird also im Sinne der Offenheit, der Unverborgenheit gedacht, die in ihrem (zeit-) räumlichen Wesen konkrete Orte allererst in ihr Wesen freizugeben vermag. Dieses Heitere, diese Offenheit, ist also keine starre "Rahmenbedingung" fiir Seiendes, sondern sie waltet ereignishaft im Sinne des Freudigen als des Gewährenden, das "hinter" dem Gewährten zurücktritt. Das vom Freudig-Gewährenden Freudig-Gewährte tritt somit in den Vordergrund und begegnet zuerst und weitaus augenscheinlicher als der Grund des also Erfreuten: "Das Freudige hat sein Wesen im Heiteren, das aufheitert. Das Heitere selbst wiederum zeigt sich zuerst im Erfreuenden." 18 Durch diesen sich-entziehenden Wesenscharakter des Heiteren empfängt das Gewährte die Würde seines eigenen Seins, an dem es sich erfreuen und im Lichte dieser Freude genügsam glänzen kann: "Indem die Aufheiterung alles lichtet, gewährt das Heitere jeglichem Ding den W esensraum, in den es seiner Art nach gehört, um dort, im Glanz des Heiteren, wie ein stilles Licht, genügsam mit dem eigenen Wesen, zu stehen." 19 Diese Eigenständigkeit des jeweili-

GA 4: GA 4: 17 GA 4: 18 GA 4: 19 GA 4:

15

16

S. S. S. S. S.

16. 16. 16. 16. 16.

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

gen Wesens verdankt das Ding dem Heiteren, dessen gebender Charakter im Unscheinbaren glänzt. Deswegen begegnet dem heimkehrenden Dichter noch vor dem Heiteren, Freudigen selbst zunächst das Erfreuende derjenigen Wesen, die vom Freudigen selbst gewährt sind: "Dem heimkommenden Dichter leuchtet das Erfreuende entgegen, wo gern Sich die Eiche gesellt mit stillen Birken und Buchen, Und in Bergen ein Ort freundlich gefangen mich nimmt.«" 20

>> •••

Das Heitere erscheint niemals wie solch Seiendes. Dennoch ist es auf gewisse Weise näher als solches, weil Seiendes nur in dessen Lichtung erscheinen kann. Deswegen ist es trotz der Unscheinbarkeit dieses Lichtungswesens nicht "nichts" (im Sinne eines "rein gar nichts"): "Das Heitere verweilt in seinem unauffälligen Scheinen. Es fordert nichts für sich und ist kein Gegen-stand und gleichwohl nicht »nichts«." 21 Vielmehr kann es als der verborgene Grund des Erscheinenden hervorscheinen bzw. die Eigenständigkeit des freudig SichZeigenden birgt den Hinweis auf das Heitere, das es jeweils sein läßt. Diesen Hinweis faßt Heidegger hier wieder im Lichte des Grußes. Wir sahen bereits, daß der ursprüngliche Gruß das Gegrüßte in sein eigentliches Sein entläßt. Diejenigen, die in ihrem freudigen Wesen auf solches Sein-Lassen (des Heiteren) ausdrücklich verweisen, faßt Heidegger als "Boten" bzw. "Engel": "Im Freudigen jedoch, das dem Dichter zunächst begegnet, waltet schon der Gruß dessen, was aufheitert. Die aber, die den Gruß des Heiteren entbieten, sind die Boten, äyyEAot, die »Engel«. Deshalb ruft der Dichter, indem er das begegnende Freudige der Heimat begrüßt, in der »Heimkunft« die »Engel des Hausses« und die »die Engel des Jahres«. "22

111. Die Engel des Freudigen als Boten "der" Heiteren (des Heiligen) Heidegger thematisiert zuerst das Wesen der Engel des "Hauses" und des "Jahres", die auf je ihre Weise Kunde von dem "Heiteren", d.h. dem gewährend-einräumenden Urgrund bringen (a); dieser empfängt auch einen eigenen Namen, der von dort an für den Vortrag maßgebend bleibt ("die Heitere"). Anschließend wird das Wesen "der Heiteren" kurz charakterisiert (b.), und zuletzt wird der vorläufige Name (der "Äther") für ihren "höchsten" Boten (den Gott) näher besprochen (c). GA 4: S. 16. GA 4: S. 16. 22 GA 4: S. 16. 20 21

§ 17. »Heimkunft! An die Verwandten«

433

a) Die Engel des "Hauses" und des ''Jahres" (Raum und Zeit ("Licht''))

Das Heitere grüßt das Seiende und erhebt es somit in sein jeweilig freudiges Wesen. Die "Engel" bringen die Kunde vom Grüßenden ins Seiende. Die zwei von Hölderlin genannten Engel tragen die Kunde vom Heiteren auf räumliche und zeitliche Weise ins Seiende. Diese beiden "Engel" untersucht Heidegger kurz näher. Zunächst wendet er sich dem "Engel des Hausses" zu: "»Das Hauss« meint hier den Raum, der den Menschen jenes einräumt, worin allein sie »zu hauss« und so im Eigenen ihres Geschickes sein können. "23 Der Raum, die Ortschaft, in dem (bzw. in der) die Menschen in ihrem Eigenen, d.h. ihnen zu eigen Gegebenen, heimisch werden, d.h. wohnen können, wird eröffnet von einem Boten des Heiteren. Das Heitere gewährt durch diesen Boten den Ort. Diesen Boten erkennt Heidegger in der Erde: "Diesen Raum verschenkt die unversehrte Erde. Sie räumt den Völkern ihren Geschichtsraum ein. "24 Die Erde gehört in das Heitere, indem sie sein heiter-gewährendes Wesen räumlich austrägt und so den Dingen den Wesensort zur Entfaltung ihres freudigen, d.h. herkunftsbezogenen, Wesens einräumt. Indem die Erde in solchem Einräumen das Heitere austrägt, heitert sie das "Haus", d.h. den Wohnort des Menschen auf; sie läßt das Heitere an diesem Ort aufscheinen: "Die Erde heitert >>das Hauss« auf. Die also aufheiternde Erde ist der erste Engel >>des Hausses«."25 Durch die ursprüngliche räumliche Eröffnung ist der Bereich für die verschiedensten Wohnorte ("Häuser") gegeben. Der "Engel des Jahres" trägt das Zeitliche des Heiteren aus bzw. eröffnet die Welt zeitlich. Heidegger bringt den Zeitcharakter hier zunächst in einen besonderen Zusammenhang mit dem Wechselspiel von Licht und Dunkel: ">>Das Jahr« räumt die Zeiten ein, die uns die Jahreszeiten heißen. Im >>gemischten« Spiel der feurigen Helle und des frostigen Dunkels, das die Zeiten gewähren, erblühen die Dinge und verschließen sich wieder." 26 In solchem Wechselspiel des feurig-hellen Ersprießens und des frostig-dunklen Sichverschließens eröffnet sich die "Weile", d.h. die zeitliche Erstreckung dieses "Engels": "Die Zeiten >>des Jahres« schenken im Wechsel des Heiteren dem Menschen die Weile, die seinem geschichtlichen Aufenthalt im »Hauss« zugemessen ist." 27 Da HeidegGA 4: S. GA 4: S. 25 GA 4: S. 26 GA4: S. 27 GA 4: S.

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24

28 Helting

16f. 17. 17. 17. 17.

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

ger den Austrag dieser Weile im Wechselspiel des Leuchtens und dessen Vergehens erblickt, kann er nun sagen: "»Das Jahr« entbietet seinen Gruß im Spiel des Lichtes. Das aufheiternde Licht ist der erste »Engel des Jahres.«" 28 Das Heitere entfaltet sein zeitliches Wesen durch den Boten des "Jahres", der den Wechsel vom Lichten und Dunklen eröffnet. In diesem Zusammenhang bringt Heidegger das Jahr eher mit dem Bereich des Lichtes zusammen und faßt das Dunkle als eine Spielart dessen. Dies wird in der Zusammenfassung deutlich, wo Heidegger den Raum mit der Erde nennt, das Jahr einfach mit dem "Licht": "Beide, Erde und Licht, die »Engel des Hausses« und die »Engel des Jahres«, heißen die »Erhaltenden«, weil sie als die Grüßenden das Heitere zum Scheinen bringen, in dessen Klarheit die »Natur« der Dinge und der Menschen heil bewahrt ist."29 Zwei geschehnishafte Weltgegenden beginnen sich hier zu zeigen: Die Erde und das Lichte (das Gewölbe der Zeit, der Bereich des Himmelsgewölbes); beide sind aber keine Letztinstanzen, sondern empfangen ihr Wesen aus einem anderen, dem Heiteren, und tragen diesen Ursprung auf je verschiedene Weise aus. Durch diesen Austrag "erhalten" sie das Heitere selbst im Bereich des Gelichteten, wo es natürlich nicht selber so erscheinen kann, wie ein Gelichtetes, da es diesen Raum zur Gänze den Gelichteten anheimgegeben hat (bzw. gibt). Durch diesen Bezug zum Heiteren tragen die Engel auch das Heile ins Scheinen. Jegliches Unheil im Bereich der Lichtung bleibt insofern noch auf das Heil bezogen, als das im Seienden waltende Unheil niemals alles zu korrumpieren vermag, da vom Heil des Heiteren immer fiir Zukünftiges gespart bleibt. Das Heil ist somit ein Wesenszug des Heiteren und wird durch die Boten des Heiteren ins Seiende ausgetragen. Einmal im Seienden erschienen, kann es verstellt und verbaut werden, aber die Quelle des Heils ist dadurch noch nicht versiegt (obgleich sie gründlich verschüttet sein mag und es lange dauern kann, bis das "Quellwasser" wieder in den lebensspendenden Fluß kommt). Heidegger bringt nun das ursprünglich verstandene Heimische mit diesem Heil zusammen: "Was heil bewahrt bleibt, ist »heimisch« in seinem Wesen." 30 Das "Heimischsein" besteht also darin, den Bezug zum Heiteren so zu bejahen, daß dessen heilbringende Boten in das jeweilige Wesen aufgenommen werden. Vom Heiligen aus wird jedwedes Wesen so gegrüßt, daß es in diesem Heimischsein zu existieren vermag: "Die Boten grüßen aus dem Heiteren, das alles heimisch sein läßt. "3' Inwiefern dieser Gruß von den jeweiligen Wesen zugelas-

GA 4: S. 17. GA 4: S. 17. 30 GA 4: S. 17. 31 GA 4: S. 17. 28 29

§ 17. »Heimkunft/ An die Verwandten«

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sen wird, ist natürlich eine andere Frage. Durch die ihnen übereignete Eigenständigkeit bzw. auch Freiheit ist es möglich, diesen Gruß in seinem eigentlichen Wesen zu ersticken (d.h. das Zukommende habgierig einfach an sich zu reißen). Die ursprüngliche Heimat ist dasjenige, was das Heimische gewährt: "Das Heimische zu gewähren, ist das Wesen der Heimat."32 Diese Heimat liegt also im Heiteren. Dieses begegnet je schon immer geborgen im Freudigen des zunächst Begegnenden: "Sie begegnet schon - nämlich im Freudigen, worin das Heitere zunächst erscheint. "33 Ein Glanz des Heiteren strahlt im Freudigen. Eine Gefahr besteht darin, diesen Glanz für das Heitere selbst zu nehmen, d.h., sich durch das Genießen des freudig Seienden der Heimat schon sicher zu wähnen. Obzwar das Heitere im Seienden nahe ist, obwohl dort etwas von Heimat aufglänzen kann, so ist sie doch dort allein noch nicht eigentlich gefunden. Hier beginnt vielmehr der eigentliche Weg des Suchens, der vom zunächst Erscheinenden der Heimat an dessen Quelle geht, nämlich zur ursprünglichen Heimat, von der die Boten im Seienden künden: "Doch was da [im Freudigen, Seienden] schon begegnet, bleibt dennoch das Gesuchte. "34 Das Erscheinen des Freudigen bleibt aber auf Wesen bezogen, die das Freudige als Freudiges ins Scheinen bringen können. Solche sind die Dichter. Sie gehören zusammen mit der Erde und dem "Licht" in das Geschehen des Erglänzens des Heiteren im Seienden: "Weil jedoch das Freudige nur dort begegnet, wo ihm ein Dichten entgegengrüßt, erscheinen auch die Engel, die Boten des Heiteren, nur dann, wenn Dichtende sind. Darum steht im Gedicht »Heimkunft« das Wort: » ........denn, was auch Dichtende sinnen Oder singen, es gilt meistens den Engeln und ihm;«" 35

Das "meistens" interpretiert Heidegger dahingehend, daß die echten Dichter, deren Augenmerk ja auf den Urgrund des Erscheinens gerichtet sein muß, vor allem diejenigen Wesen ansprechen müssen, die dieses am reinsten hervorscheinen lassen, um schickliche Kunde davon den Mitmenschen zu bringen. Daher gilt der Gesang besonders diesen zwei "Engeln": »Meistens den Engeln« gilt der Gesang des dichtenden Wortes, weil sie als die Boten des Heiteren die Nächsten sind, »welche sich nahn«;" 36 Aber neben diesen Engeln wird jetzt

GA 4: GA 4: 34 GA 4: 35 GA 4: 36 GA 4: 32

33

28*

S. S. S. S. S.

17. 17. 17. 17. 17.

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5. Kap.: »Heimkunft/ An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

noch ein Weiteres genannt: "»und ihm« gilt das dichtende Sagen. Das »und« bedeutet hier soviel wie »und vor allem«- »ihm«. Wer ist Er?" 37 Zunächst ist zu sagen, daß "Er", wenn ihm im besonderen Maße das Singen des Dichters gelten soll, auch als ein Bote des zu-dichtenden Urgrunds zu verstehen ist, ein Bote, der als ein einzigartiges Viertes in das Geschehen der Eröffnung des Heiteren (neben "Erde", "Licht" und "Mensch" (Dichter)) gehört. Auch er muß, in ausgezeichneter Weise, dort wohnen, wo das Heitere in ausgezeichneter Weise ins freudige Scheinen kommt: "Wenn ))ihm« zuhöchst das Dichten gilt, das Dichten aber Freudiges dichtet, dann wohnt Er im Freudigsten. Was aber ist dies und wo ist es?"38 Bevor Heidegger also das Wesen des von Hölderlin genannten "ihm" erläutert, wendet er sich der Erörterung der Frage nach dessen Wesensbereich zu. Dieser Wesensbereich ist bereits als das Heitere vorläufig bestimmt worden, welches der Erde, dem Licht und auch den Menschen (Dichtem) ihr jeweiliges Wesen einräumt. Dieses Heitere empfängt jetzt eine geringfügig gewandelte Nennungsweise. Der sachspezifische Artikel: "das" wird zu einem: "die" abgewandelt, wodurch der Name jetzt einen dezidierten "Wer"-Charakter (d.h. einen auf die Einzigartigkeit hinweisenden Charakter) empfängt: "Wir nennen nach einem älteren Wort unserer Muttersprache das reine Lichtende, das jedem ))Raum« und jedem ))Zeitraum« erst das Offene ))einräumt« und d.h. hier gewährt, ))die Heitere«. "39

b) Das Heilige erläutert durch das einzigartige Wesen "der Heiteren": Klarheit, Hoheit, Frohheil

Diese "Heitere" wird durch drei Wesenszüge erläutert: "Sie ist in einem zumal die Klarheit (claritas), in deren Helle alles Klare ruht, und die Hoheit (serenitas), in deren Strenge alles Hohe steht, und die Frohheit (hilaritas), in deren Spiel alles Freigelöste schwingt. "40 Die Klarheit der Heiteren verbürgt also das Ruhenall dessen, welches den eindeutigen Bezug zum Urgrund wahrnimmt. Dieses Ruhen ist aber kein bloßes, lahmes Dahinvegitieren, sondern es ist die Ruhe, die dem Freigegebenen (bzw. "Freigelösten") die frohe Gelassenheit verleiht, die das ursprünglich Spielerische, Unverzwungene bejahen kann. Dieses Spielerische der Frohheit ist aber wiederum nicht als willkürliche Leichtsinnigkeil zu verstehen, sondern das zugespielte Spiel weist durchaus seine eigene Strenge auf, die aber wiederum keine unterdrückend-versklavende GA 4: GA 4: 39 GA 4: 40 GA 4: 37 38

S. S. S. S.

17f. 18. 18. 18.

§ 17. »Heimkunft/ An die Verwandten«

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ist; "Hoheit" meint nicht eine willkürlich-imperiale Befehlsgewalt, die fiir andere alles festsetzt, sondern die Erhabenheit, die Anderes spielerisch in seinem Sein bejahen kann, Un-fug zu tolerieren vermag, ohne dennoch von diesem in seinem Wesen korrumpiert zu werden, sondern streng an der ursprünglichen Bestimmung festhält Das Hohe, das sich spielerisch in diese Bestimmung schickt, erfahrt die Strenge der Hoheit als haltgewährende Grenze, die dem Spiel den Sinn verleiht. Diese Klarheit, Hoheit und Frohheit wiederum zeugen alle von dem "Heilen", das der "Heiteren" wesensmäßig innewohnt. Über dieses Heile, das wir bereits im zweiten Kapitel als eine Wesensbestimmung des Heiligen kennenlernten, bahnt Heidegger auch hier den Weg von der Bestimmung der ursprünglichen Lichtung (des Verborgenen) als der "Heiteren" zu ihrer Bestimmung als dem "Heiligen": "Die Heitere behält und hat alles im Unverstörten und Heilen. Die Heitere heilt ursprünglich. Sie ist das Heilige. »Das Höchste» und »das Heilige« ist fiir den Dichter das Selbe: die Heitere."41 Das Heilige heilt. Diese Heilung, die aus dem Heiligen zuteil werden kann, läßt sich so verstehen: Das Heilige öffnet den epochal-geschichtlichen Lichtungsbereich, in dem Seiendes ("vermittelt" durch das gegenseitig bezogene Walten der Erde, des Lichtes, der Dichter (Menschen) und des noch anonymen "Ihm") zum Stehen kommt. Dieses Zukommen des Eigenstandes verdankt sich der augenblickshaften Übereignung des ureigenen Seins aus dem Heiligen. Insofern das Übereignen des Heiligen wesensmäßig klar, hoheitlich und froh bleibt, bleibt das Heilige, obwohl es in der einmal übereignet-gelichteten Erscheinung zwar verdeckt werden kann, fiir das Seiende gespart (weil das Gebende niemals in solcher Lichtung gänzlich aufgeht, sondern fiir Zukünftiges sich bereithält). Das Heile kann eigentlich zu-künftig werden, wenn der Mensch sich nicht auf ein gegenwärtig ihm widerfahrendes Unheil versteift und daran verzweifelt, sondern sich in dem ihm gegenwärtig höchstmöglichen Maß der Gelassenheit übt, um sein Wesen für den Empfang des auf ihn zu-kommenden Heils zu öffnen.42

GA 4: S. 18. 42 Dieses Heil ist natürlich keine seiende Erscheinung, sondern west zunächst unscheinbar als die untilgbare Würde der übereigneten Weltoffenheit, die jeglicher Zersplitterung voraufgeht. Eine ursprünglich-eigentliche Gewahrung dieser Wesenswürde ist natürlich alles andere als einfach und bedarf langer Einübung. Besonders in bezug auf die leibhaftige Einübung des heilen Bezugs zur Weltoffenheit des eigenen Wesens kann ein Dialog mit asiatischen Philosophien äußerst sinnvoll sein. Vgl. z.B. die Bemerkung hierzu von Wucherer-Huldenfeld, die dort im Kontext eines ursprünglicheren Verständnisses der mittelalterlichen Transzendentalienlehre gemacht wurde. Wucherer41

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5. Kap.: »Heimkunft/ An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

c) Der (vorläufige) Name des "hohen Boten" der Heiteren: Der llther Das Heilige (bzw. die Heitere) ist und bleibt also die Herkunft bzw. der Ursprung alles Freudigen (Gelichteten), weil dieses sich in ihm (ihr) entfalten kann: "Sie bleibt als der Ursprung alles Freudigen das Freudigste. In diesem ereignet sich die reine Aufheiterung."43 Nach dieser Erörterung kann sich Heidegger jetzt wieder der Frage zuwenden, wer "der Hohe" ist, der ebenfalls von der Heiteren Kunde bringt. Zunächst kann gesagt werden, daß auch er, insofern er erscheint, im Heiligen (dem Freudigsten) wohnen muß: "Hier im »Höchsten« wohnt »der Hohe«, der ist, wer er ist, als der »vom Spiel heiliger Strahlen« Er-freute: der Freudige.".. "Der Freudige", dem vor allem der Gesang der Dichter gilt (zusammen mit den Engeln), steht also in einem ausgezeichneten Bezug zum Heiligen. Zwar empfängt alles Freudige (d.h. auch die Engel und die Menschen) sein jeweiliges Wesen aus dem Heiligen, aber mit besonderer Klarheit ereignet sich dies bei "dem Freudigen". In ihm strahlt das Wesen des Heiligen, d.h. das urgründige, unscheinbare Gewähren von jeweiligem Sein, mit besonderer Klarheit, Hoheit und Frohheit hervor. Daher bleibt er den Menschen auf besondere Weise froh zugeneigt: "Wenn je Einer, dann scheint er geneigt, »Freude zu schaffen, mit uns«."'5 Diese Freude trägt die drei Wesenscharakteristika des Heiligen auf erhabene Weise den Menschen zu, wobei beachtet werden muß, daß der Mensch solches vom Hohen nur empfangen kann, weil er in seinem Wesen auch auf das Heilige bezogen ist und daher durch den "Hohen" ursprünglicher in den im Menschenereignishaft angelegten Bezug zum Heiligen geleitet werden kann. Durch sein Licht, d.h. durch den ihnen von ihm erhellten Anwesenheitsbereich, beginnen die Dinge in ihrem eigenen Sein zu strahlen: "Weil sein Wesen die Aufheiterung ist, »liebt er es«, »ZU öffnen« und »aufzuhellen«. Durch die klare Heitere »öffnet« er die Dinge in das Erfreuende ihrer Gegenwart." 46 Er "öffnet" die Dinge, indem er durch seine geneigte Bezogenheit auf sie ihnen einen frohen Bereich zur Entfaltung ihres Anwesens weitergibt. Er schenkt vor allem den Menschen die Freude als Grundstimmung, indem er sie in die frohe Grundschwingung des Heiligen einweist, auf die sie immer schon bezogen sind: "Durch die frohe Heitere hellt er das Gemüt der Menschen auf, damit ihr Huldenfeld, Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Band 2. Wien: Böhlau, 1997: , S. 347-378. 43 GA 4: S. 18. 44 GA 4: S. 18f. 45 GA 4: s. 19. 46 GA 4: S. 19.

§ 17. »Heimkunft/ An die Verwandten«

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Mut offen sei fiir das Gediegene ihrer Felder, Städte und Häuser."47 Das Gediegen-Gründliche des Wachstums und des menschlichen Bauens erfährt seinen letzten Sinn aus dem Heiligen, aus dem es zugelassen ist und auf das es bezogen bleibt. Selbst noch die Trauer bleibt auf das Freudige bezogen, weil auch in ihr der Bezug zum Frohen des Heiligen gespürt werden kann (wenn sie ursprünglich genug erfahren wird): "Selbst »Traurige« erfreut »der Freudige« wieder, wenngleich »mit langsamer Hand«. Er nimmt die Trauer nicht fort, sondern er wandelt sie, indem er die Trauemden ahnen läßt, daß selbst Trauer nur aus »alten Freuden« entspringt. "41 Die "alten Freuden" sind natürlich hier nicht primär chronologisch, sondern vielmehr wesenhaft zu verstehen: Der Mensch ist ontologisch von seinem Ursprung her in den Bezug zum Freudigen eingelassen und kann dieses wieder fmden; auch die Trauer birgt Spuren zu ihm. Weil "Er", "der Hohe", so ursprünglich in dem Heiligen, "der Heiteren" wohnt, wird er auch nach dieser Wohnstatt benannt: "Er, der in der Heitere wohnt, läßt sich jetzt nur erst nach dieser Wahnstatt benennen. Der Hohe heißt »der Äther«, Ate~p. "49 Der Hohe ist der Äther, d.h. trägt in sich das ("luftig") Durchlässige, das wegen seiner gewährenden Durchlässigkeit ganz im Heiligen als dem Gewährendsten wohnt. Obwohl Heidegger schon einmal die Notwendigkeit des Dichters fiir das Erscheinen des Freudigen genannt hat, nennt er zunächst nur die drei anderen Bereiche, durch die sich das Heilige öffnet: "Die lüftende »Luft« und das lichtende »Licht« und die mit ihnen erblühende »Erde« sind die »einigen drei«, in denen die Heitere sich aufheitert und Freudiges aufgehen läßt und im Freudigen die Menschen grüßt. "50 Das Wesen des bereits genannten Dichters soll erneut frag-würdig werden. Wie gehört das Dichterisch-Menschliche in dieses Geschehen?

IV. Der Bezug des Dichters zur "Heiteren" und ihren Boten (unter besonderer Berücksichtigung des Gottesbezugs) Nachdem das Wesen der "drei Boten" der "Heiteren" vorläufig umrissen wurde, untersucht Heidegger nun den Bezug des Dichters zur Heiteren und ihren Boten genauer. Diese Untersuchung beginnt mit dem Hinweis darauf, daß der Dichter diesen Boten entgegenkommen muß, damit sie (und mit ihnen das

GA 4: S. GA 4: S. 49 GA 4: S. so GA 4: S. 47

48

19. 19. 19. 19.

5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

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Heilige) von den Mitmenschen wahrgenommen werden können (a). Im Zuge der dort zitierten Verse Hölderlins fällt ein Hinweis auf eine ursprünglichere Bestimmung des Gottwesens, die gleich im Anschluß von Heidegger erläutert wird (b). Bevor die Eigentümlichkeit des Bezugs des Dichters zur "Heiteren" näher erhellt wird, wiederholt Heidegger einen uns bereits aus den vorangegangenen Kapiteln bekannten Gedanken, indem er auf die Notwendigkeit der Wanderung in die Fremde für die Heimkehr ins Eigene hinweist (c). Der von seiner Wanderung heimgekehrte Dichter muß einerseits von der erfahrenen Nähe zum Ursprung künden, andererseits das unerschöpfliche Geheimnis dieser Nähe, das niemals wie Seiendes greifbar wird, wahren (d). Damit solch ein Sagen der "Nähe zum Ursprung" Geschichte-prägend werden kann, muß der Dichter den Gott nennen, der das Geheimnis dieser Nähe am reinsten den Menschen nahebringen kann; solches Nennen kann der Dichter aber nicht "frei erfmden", sondern er muß sich in freudiger Grundstimmung für das Erscheinen eines Gottes immer reiner öffnen (e). Die geschichtliche Epoche, in der solche Freude noch nicht groß genug ist, um das Erscheinen eines Gottes zu empfangen, d.h. das Zeitalter des "Fehls Gottes", ist aber kein bloßer Mangel, sondern ruft die Dichter in das Wachsenlassen solcher Freude (aus der still gehegten Erfahrung mit dem Heiligen) (f). Wie wir im nächsten Punkt (V.) sehen werden, sind aber nicht nur die Dichter in die Vorbereitung des Erscheinens eines Gottes (und damit des Geschichtlichwerdens des Heiligen) miteinbezogen, sondern es gibt hier jeweils auch Aufgaben für die "Verwandten" des Dichters, d.h. für seine Mitmenschen und den Denkenden unter ihnen.

a) Das "Entgegenkommen" der Dichter

Heidegger leitet die Frage nach dem Bezug des Dichters zur Heiteren und ihren Boten dadurch ein, daß er davon sagt, wie wenig diese "einigen drei" von sich aus vermögen, der Heiteren im Seienden "Stand" zu geben, d.h. wie wenig durch sie allein das Seiende im Lichte des Heiligen den Menschen entgegenscheinen kann: "Doch wie kommt die Heitere aus ihrer Höhe zu den Menschen? Der Freudige und die freudigen Boten der Aufheiterung, der Vater Äther und der Engel des Hauses, die Erde, und der Engel des Jahres, das Licht, vermögen für sich allein nichts." S1 Die Menschen bleiben dem freudigen Geschehen zunächst und zumeist gegenüber blind. Dadurch wird das Seiende gemäß ungebundenen Gesetzen des Eigennutzes hantiert, und in solchem Hantieren zeigt sich daher immer auch nur der Eigennutz und nie das Heilige im Sinne des Uneigennützigen. Aber der Dichter, der sein menschliches Wesen nach

SI

GA 4:

s. 19.

§ 17. »Heimkunft/ An die Verwandten«

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der Art eines "Halbgottes" aus dem Heiligen erfahren hat, kann den "einigen drei" entgegenkommen und sie im Lichte des Heiligen ins Wort heben, so daß sie den Menschen auf verwandelte, weil ins Seiende geborgene Weise, vernehmlicher werden: "Die einigen drei müssen, obzwar für alles Freudige die Liebsten, die im Umkreis der Heiteren wohnen, in ihrem »Wesen«, nämlich bei der Aufheiterung, fast ermatten, wenn nicht zuzeiten einer ist, der zuerst und deshalb allein dem Freudigen dichtend entgegenkommt und ihm schon gehört."52 "Wesen" wird hier unter Anführungszeichen gesetzt, da diese nichts Dinghaftes sind, sondern geschehnishafte Bereiche, aus denen die Dinge erst sind. Durch solches Entgegenkommen, das dieses Ereignis den Menschen, die es vergessen haben, zurückbringt, kann sich eine Wandlung des Menschen in seinem Verhältnis zum Seienden anbahnen, die das Uneigennützige, das Heilige, im Seienden wesentlich klarer hervorscheinen läßt. Heidegger zitiert folgende Zeilen Hölderlins, in denen sich der "zurückbringende" Gang des Dichters ausspricht, der dem ereignishaften, d.h. das Heilige austragenden, Geschehen der "einigen drei" entgegenkommt: Und so bin ich allein. Du aber, über den Wolken, Vater des Vaterlands! mächtiger Äther! und du, Erd' und Licht! ihr einigen drei, die walten und lieben, Ewige Götter! mit euch brechen die Bande mir nie. Ausgegangen von euch, mit euch auch bin ich gewandert, Euch, ihr Freudigen, euch bring' ich erfahrner zurük. 53

Den Versen dieser Elegie ("Der Wanderer") entnimmt Heidegger einen wichtigen Hinweise darauf, wie das Wesen der "Götter" in bezug auf Erde und Himmel von Hölderlin dichterisch verstanden wird. b) Das Wesen der Götter als das Engelhafte

Heidegger nähert sich dem Hinweis auf das Wesen der Götter in den soeben zitierten Verszeilen zunächst durch die folgenden Feststellungen: "Erde und Licht, die Engel des Hauses und des Jahres, heißen hier in der »Wanderung« »Götter«."54 Auch gibt es noch genügend andere Belege dafür, daß verschiedene Phänomene, die in der späteren Fassung von "Heimkunft" durch die Engel genannt werden, früher von Hölderlin noch mit "Götter" angesprochen wurden: 52 GA 4: s. 19. 53

Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 19f.

54GA 4: s. 20.

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

"Auch in der ersten Reinschrift der Elegie »Heimkunft« hat Hölderlin noch gesagt: »Götter des Jahres« und »Götter des Hausses«. Insgleichen heißt es in der ersten Reinschrift der letzten Strophe von ))Heimkunft« (v. 94) statt ))Ohne die Frohen« noch >>ohne die Götter«."55 Es drängt sich nun die Frage auf, wieso die Götter auf einmal Engel genannt werden: "Sind in der späteren Fassung die Götter zu bloßen Engeln herabgesetzt? Oder sind neben die Götter auch Engel getreten?" 16 Heidegger erblickt in dem Namen der "Engel" jedoch keine "Entmachtung" des vormals Göttlichen, sondern das Phänomen, das vormals direkt göttlich (im Sinne der Götter) genannt wurde, wird in seinem Wesen nun durch den geeigneteren Namen "Engel" zur Sprache gebracht. Daher ist auf die Frage, ob die Götter herabgesetzt wurden bzw. neue Wesen zu ihnen getreten sind zu antworten: "Nein - sondern jetzt wird durch den Namen »die Engel« das Wesen der sonst so genannten ))Götter« reiner gesagt."17 Natürlich drängt sich hier gleich wieder die Frage auf, wie denn das Engelhafte das Wesen der Götter angemessener bzw. "reiner" sagt. Die Vermutung legt sich natürlich nahe, daß die Engel als die "Boten" ihrem Namen nach deutlicher auf das Heilige bezogen bleiben, das sie in ihrem Wesen austragen. Im Namen der "Götter" schwingt das "Botenmäßige" weniger deutlich im Wort mit als bei den Engeln. Heidegger betont nun auch ausdrücklich, daß das Wesen der Götter nicht in einer Selbstgenügsamkeit besteht, sondern in ihrem bezugsverbundenen Wesen, durch das sie erhabene Kunde vom Urgrund bringen: "Denn die Götter sind die Aufheiternden, die in der Aufheiterung den Gruß entbieten, den die Heitere sendet."ss Diesen Bezug zum Heiligen bzw. zur Heiteren tragen die Götter "grußhaft" aus. Wir sahen bereits, daß der ursprüngliche Gruß die .Gegrüßten in die eigentliche Würde ihres Wesens erheben kann. Die durch die Götter vom Heiligen Gegrüßten, d.h. also insbesonders die Menschen, werden in ihrem hörenden Bezug zu den Götter zumal der all-gemeinen Wurzel inne, die sie auf mannigfachen Wegen grüßt, in ausgezeichnet reiner Weise aber durch die Götter. Wie oben bereits angedeutet, kommt dieses "grußhafte" Wesen der Götter im Namen der "Engel" strahlender zum Vorschein: "Die Heitere ist der Wesensgrund des Grüßens, d.h. des Engelhaften, worin das Eigenste der Götter besteht. Indem der Dichter mit dem Wort >)die Götter« spart und den Namen zögernder sagt, kommt das Eigene der Götter, daß sie die Grüßenden sind, in deGA 4: S. 20. GA 4: S. 20. 11 GA 4: S. 20. 58 GA 4: S. 20. 51

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§ 17. >>Heimkunft! An die Verwandten«

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nen die Heitere grüßt, eher zum Leuchten."s9 Die neue Nennung des göttlichen Phänomens durch den Namen "Engel" deutet eine sich vertiefende Erfahrung des Dichters an bzw. zumindestens eine ursprünglichere Weise, das Erfahrene zur Sprache zu bringen: "Der heimkommende Wanderer ist im Wesen der Götter, d.h. der Freudigen, erfahrener geworden. "60 Der vertiefte Blick in das Wesen des Heiligen bringt mit sich eine vertiefte Würdigung der Not-wendigkeit des Wesens der Götter bzw. des Göttlichen. Durch ihren grüßenden Zuspruch gelangen die Menschen in ein eigentlicheres Wohnen. Der Hohe, der Freudigste, der Äther wird erfahren als einer, der auf wesentlichste Weise die Lichtung miteröffnet "Das im Anblick der Heimat begegnende Freudige erblickt er jetzt als das, was nur aus dem Freudigsten sich aufheitert und aus diesem her allein nahe bleibt. "61 Das freudige Seiende wird nur, wenn es in seiner jeweiligen Bezogenheit zum Freudigsten erfahren und gedacht wird. Daher muß der Dichter unbedingt auch die Nähe zum Freudigsten aufsuchen und ihr singend entgegengrüßen.

c) Der Grundgedanke von der notwendigen Wanderung in die Fremde, um in das Eigene heimkehren zu können

Heidegger führt an dieser Stelle einen Zwischengedanken an, der durch knappeste Worte das Wesen des ganzen Gedankengangs der StromdichtungAuslegung nahebringen soll: Der Dichter soll die Nähe zum Freudigsten aufsuchen. In der Rheinhymne wird gleich am Anfang als der Ort der "Burg der Himmlischen" das Alpengebirge genannt, von dem sich der Dichter in "Heimkunft" aber gerade wegbewegt, ohne aber scheinbar das Freudige dadurch aus den Augen zu verlieren. Das deutet schon darauf hin, daß im Gedicht "Heimkunft" schon erlernt ist, daß der Bezug zum Freudigsten nicht irgendwo in der Feme zu suchen ist, sondern im Eigenen. Durch einen Verweis auf die Patmos-Hymne Hölderlins verweist Heidegger unter anderem aber auch wieder darauf, daß das Fremde zum Finden des heimatlichen Bezuges zum Freudigsten notwendig ist: "»Hinübergehn« muß der Dichter zum »Alpengebirg«, aber »treuesten Sinns«, will sagen, aus der Treue zur Heimat, um zu ihr zurückzukehren, wo nach dem Wort der »Heimkunft« das Gesuchte »nahe ist«." 62 Die Wanderung in die Fremde verhilft also, wie wir schon oft sahen, zum Finden

s9 GA 4: S. 20.

GA 4: S. 20. GA 4: S. 20. 62 GA 4: S. 22.

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5. Kap.: »Heimkunft/ An die VeJWandten« »Wozu Dichter?«

des Götterbezuges im Eigenen (das immer auch eine gewandelt gastfreundliche Beziehung zum Fremden mit sich bringt). In gewissem Sinne ist die "Burg der Himmlischen" nicht im Fremden; sie ist nämlich nicht nur dort, sondern es gibt den Bezug zu den Göttern auch im Eigenen. Wenn Heidegger sagt, daß der Ursprung im Eigenen bzw. in der "schwäbischen Heimat" liegt, dann darf das natürlich nicht so verstanden werden, daß er für alle Menschen einzig und allein dort liegt. Die ganze bisher geleistete Untersuchung hat ja aufgewiesen, daß ein jeglicher eigene Ort auf Erden sein Wesen aus dem Heiligen und seinen Engeln erfährt; der Bezug dieses Ereignisses zu den jeweiligen Orten ist viel zu ursprünglich, als daß er sich von einem irdisch gegründeten Ort jemals ableiten ließe (wobei natürlich die Orte untereinander sich gegenwendig in ein ursprünglicheres Gewahren ihrer Herkunft verhelfen können). Daher sind Sätze wie die folgenden so zu verstehen, daß natürlich auch in der "schwäbischen Heimat" ein Bezug zum Freudigsten waltet und für die dort wohnenden Menschen hier ihr Eigenes liegt: "Dann ist also die Nähe zum Freudigsten, und das heißt doch zum Ursprung alles Freudigen, nicht dort >>Unter den Alpen«. Dann hat es mit der Nähe zum Ursprung eine geheimnisvolle Bewandtnis. Dann ist die vom Alpengebirg entfernte schwäbische Heimat gerade der Ort der Nähe zum Ursprung."63 Heidegger belegt diesen Gedanken mit einem Verweis auf die Hymne "Die Wanderung", den wir hier aber nicht im Einzelnen besprechen müssen. Der Grundzug des Gedankens der Wanderung und des Heimischwerdens ist uns durch die vorangegangenen Interpretationen vertraut.

d) Heimkunft des Dichters: Das freudige Sagen von der Nähe des Ursprungs und der zumal zu bewahrende geheimnisvolle Zug

Jedoch ist der Bezug eines Ortes zum Ursprung niemals gegeben wie etwas Vorhandenes. Die Nähe des Ursprungs bleibt so in gewisser Weise immer auch fern. Sie erschöpft sich nie im Gegenwärtigen. Daher bleibt der Ursprung das Gesuchte: "Die jetzt waltende Nähe läßt das Nahe nahe und läßt es doch zugleich das Gesuchte, also nicht nahe sein. Sonst verstehen wir die Nähe als die möglichst geringe Abmessung des Abstandes zweier Örter. Jetzt dagegen erscheint das Wesen der Nähe darin, daß sie das Nahe nahebringt, indem sie es fern-hält. "64 Weil die Nähe zum Ursprung nicht nichts ist, aber doch niemals zu einem entschleierbaren Seienden werden kann, ist und bleibt sie das Geheim-

63 64

GA 4: S. 22. GA 4: S. 24.

§ 17. »Heimkunft/ An die Verwandten«

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nis: "Die Nähe zum Ursprung ist ein Geheimnis."•s Dieses Geheimnis als Geheimnis zu erfahren, ist daher ein notwendiger Zug des Heirnischwerdens. Ein Heimischsein, bei dem man vermeinte, das Geheimnis in seiner Herkunft gelüftet zu haben bzw. in dessen festen Besitz geraten zu sein, hat sich bereits ins Bodenlose verloren: Wenn nun aber Heimkunft bedeutet, heimischwerden in der Nähe zum Ursprung, muß dann nicht das Heimkommen zuerst und vielleicht lange Zeit darin bestehen, das Geheimnis dieser Nähe zu wissen oder gar erst wissen zu lernen? Doch ein Geheimnis wissen wir niemals dadurch, daß wir es entschleiern und zergliedern, sondern einzig so, daß wir das Geheimnis a I s das Geheimnis hüten.66 Das "als" ist hier von Heidegger sogar gesperrt gedruckt, um zu betonen, daß auch jegliches "Hüten" des Geheimnisses das Gehütete niemals zu "fassen" bekommt, sondern einzig damit gewürdigt sein kann, das Geheimnis in seinem Geheimnischarakter sein lassen zu können, d.h. es als den verborgenen, ereignishaften Urgrund des Seins zu erfahren. Um auf diesen Geheimnischarakter überhaupt aufmerksam zu werden, d.h. damit dieser überhaupt wieder "zur Kenntnis" genommen werden kann, bedarf es aber derjenigen, die Kunde davon bringen: "Dieser Kenntnis wegen muß immer einmal wieder einer, der zuerst heimkommt, das Geheimnis sagen: »Aber das Beste, der Fund, der unter des heiligen Friedens/ Bogen lieget, er ist Jungen und Alten gespart.«"67 Weil das Geheimnis in solchem Sagen nicht zu einem beständig offenbaren Vorhandenen wird, das als solches tradiert werden könnte, genügt es nicht, daß das Geheimnis einmal gesagt wird, sondern es muß immer wieder "gefunden" werden. Der Dichter ist ein solcher, der durch seine Heimkunft vom Geheimnis zu sagen anhebt. Was er sagt, ist, daß der Ursprung vom Eigensten (dem schon besprochenen "Fund") immer etwas fiir das Kommende aufspart: "Die Nähe zum Ursprung ist eine sparende Nähe. "68 Das Sparen des Ursprungs entzieht dem Suchenden zwar nicht alles, aber erschöpft sich auch nicht im jeweiligen Übereignen. Daher bleibt die Nähe auch eine zu-künftige Feme. Heidegger interpretiert den Vers "Thörig red ich. Es ist die Freude"69 so, daß der Dichter weiß, wie befremdlich das Sagen der geheimnisvollen Nähe zum Ursprung dem gewöhnlichen Denken scheinen muß, er jedoch dennoch dies sagen muß, weil es einzig dem lichtend-verbergenden Wesen des Freudigen entspricht: "Der Dichter weiß, daß, wenn er den Fund GA 4: s. 24. GA 4: S. 24. 67 GA 4: S. 24. 68 GA 4: S. 24. 69 Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 25.

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5. Kap.: »Heimkunft/ An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

den gesparten nennt, er solches sagt, wogegen der gewöhnliche Verstand sich sträubt. "70 Worin liegt nun die Freude, die solches Sagen verlangt? Im Heimischwerden im Heiligen bzw.: "Das ursprüngliche Wesen der Freude ist das Heimischwerden in der Nähe zum Ursprung. Denn in dieser Nähe naht grüßend die Aufheiterung, worin die Heitere erscheint. "11 Die Aufheiterung, das Ereignis des Heiligen, erscheint, insofern es sich im freigebend-gewährendem Lichten verbirgt, aber als das Geheimnis des Freigegebenen erfahrbar wird. Aus solcher Erfahrung erwächst die Freude, die den Bezug zum Heiligen vernimmt und als einen solchen erkennt, der sich nie erschöpft, stets Neues birgt und bereit hält und damit immer auch ein sparender bleibt. Das Sagen des Dichters ist nicht bloß "begleitet" von dieser Freude; noch weniger ist sie eine Folge der Dichtung. Die Dichtung ist vielmehr der Vollzug der Freude, das freudig-dankbare Ent-sprechen in bezug auf das Zugesprochene. Als solche ist sie zugleich das "erste Heimkommen", d.h. erbringt sie das stiftend-gründende Wort von der geheimnisvollen Heimat, die den Raum für ein ursprünglich menschliches Wohnen erst eröffnet: "Das Dichten macht nicht erst dem Dichter eine Freude, sondern das Dichten i s t die Freude, die Aufheiterung, weil im Dichten das erste Heimkommen besteht ... Dichten heißt, in der Freude sein, die das Geheimnis der Nähe zum Freudigsten im Wort behütet. "72 Solches Hüten muß einerseits darauf achten, daß alles Seiende im Glanz dieser Freude erscheint, andererseits darauf, daß dieser Glanz das Freudigste, d.h. das Heilige selbst, nicht so weit "überglänzt", daß der "Grund zur Freude" allmählich unscheinbar wird und dem Gewahren entschwindet. Weil das Gebende spart, weil es für Zukünftiges aufbehält und weil es selbst niemals erscheint wie das Gegebene, deshalb ist sein Grüßen immer vom Zug des Verborgenen durchwaltet, der stets die Gefahr des gänzlichen Unscheinbarwerdens mit sich bringt. Die unaustilgbare Gefahr besteht, daß das mannigfach Erfreuende das Freudigste selbst verdeckt. Zugunsten des Gedeihens des jeweils Freudigen entzieht sich das Freudigste und hält fiir die Zukunft immer neues Sein von Freudigem gespart: "Damit also die sparende Nähe zum Freudigsten gehütet bleibe, muß das dichtende Wort dafiir sorgen, daß im Freudigen nicht das übereilt und verloren werde, was aus ihm her grüßt, aber grüßt als das Sichsparende. "73 Diese Sorge gehört wesensmäßig mit zum Wesen des Dichters. Keine Freude des Dichters kann diese Sorge aufheben: "Darum ist die Freude des Dichters in

GA 4: GA 4: 12 GA 4: 73 GA 4: 70

71

S. 24. S. 25. S. 25. S. 25.

§ 17. >>Heimkunft/ An die Verwandten«

447

Wahrheit die Sorge des Sängers, dessen Singen das Freudigste als das Gesparte hütet und das Gesuchte in der sparenden Nähe nahe sein läßt. "74 Der Dichter läßt das Freudigste nahe sein, bringt es im Gesang den Mitmenschen sogar in gewandelter Weise ganz nahe, d.h. birgt es durch das verlautbarte Wort ins Seiende, aber sorgt sich stets darum, in dieser Nähe die Feme nicht zu verdekken, d.h. sorgt sich darum, daß der verborgene Lebenspuls der sich ereignenden Offenheit nicht im Wort erstickt. Die Nähe braucht die Leere der Feme, um immer wieder neu und einzigartig nah sein zu können. Ohne das Gesparte wäre sie der Verödung preisgegeben. Das Nahe erglänzt augenblicklich freudig, weil es stets einmalig gegeben ist. Die Weise, wie das Freudigste gesagt werden kann, schließt aber das Trauern nicht aus. Bereits während der Ister-Vorlesung sahen wir, daß Heidegger Hölderlins Sophokles-Epigrarnrn dazu heranzieht zu zeigen, daß Hölderlins Übersetzung der Trauerspiele gerade im Hinblick auf das Freudige des Heiligen geschieht. Denn gerade in der dort waltenden Trauer erblickt Hölderlin das Sichaussprechen höchster Freude. Auch unsere Analyse der "heiligen Trauer", so wie sie in der Gerrnanien-Vorlesung untersucht wurde, zeigte, daß die Trauer gerade den Bezug zu etwas Sichentziehendem offenhält und dadurch dieses wahrt bzw. zumindestens sein Echo vernimmt und in diesem Echo Kunde vom Rufenden erfahrt. In seiner Analyse von "Heimkunft" sagt Heidegger bezüglich der Trauer: Die Trauer, durch eine Kluft geschieden vom bloßen Trübsinn, ist die Freude, die aufgeheitert ist für das Freudigste, sofern es sich noch spart und zögert. Woher sonst käme denn auch das weithin tragende innere Licht der Trauer, wenn sie nicht in ihrem verborgenen Grunde die Freude zum Freudigsten wäre?'5 Die "Kluft" zwischen der Trauer und dem bloßen Trübsinn liegt darin, daß der Trübsinn sich in sich selbst einschließt und über das nicht vorhandene Glück verzweifelt. Die wesentliche, heilige Trauer hingegen öffnet gerade den Trauemden fiir das Freudigste, insofern es sich entzieht, aber dadurch nicht "nichts" wird, sondern als das sparende Geheimnis waltet. In der Trauer spricht das Echo eines einst erschienenen Zuspruchs, der nun in seine verborgene Herkunft zurückgeborgen ist und von dort wieder auf gewandelte Weise ins Scheinen kommen kann.

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GA 4: S. 25. GA 4: S. 26.

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

e) Das Geschichtlichwerden des Heiligen durch das Nennen des Gottes und die hierzu notwendige freudige Grundstimmung Das Trauern des Dichters um die gewesenen Götter hat ihn fiir den Bereich des Heiligen geöffnet, aus dem sie erschienen sind und in das sie zurückgeborgen sind. Das Heilige hat der Dichter in seiner Feiertagshymne genannt. Jedoch ist dieses Nennen nur der "Auftakt" dafiir, sein geschichtliches Wesen zu gründen. Zu dieser Gründung gehört zwar auch wesentlich das Gespräch mit den Dichtern vergangener Zeiten, aber die Übersetzungen des Sophokles z.B. sind nicht das Einzige, was dem Sagen des Dichters aufgegeben ist. Obwohl die Heimkunft zwar notwendig auch die Zwiesprache mit dem gewesenen Sagen von Göttlichem braucht, muß sie auch noch anderes, nämlich den geschichtlich eigenen Bezug zum Heiligen, zur Sprache bringen: Deshalb schließt die Widmung, die Hölderlin seiner Übersetzung der »Trauerspiele des Sophokles« auf den Weg gegeben hat, mit dem Geständnis (V, 91 ): »Sonst will ich, wenn es die Zeit giebt, die Eltern unsrer Fürsten und ihre Size und die Engel des heiligen Vaterlands singen.« >>Sonst«, so lautet hier das scheue Wort ftir >>eigentlich«. Denn jetzt und künftig gilt der Gesang >>meistens den Engeln und ihm«.76

Das Geschichtlichwerden des Heiligen ist wesentlich mitbestimmt durch das Nennen des Gottes. Denn er bringt aufreinste Weise das verborgene Wesen des Heiligen ins Scheinen. Obwohl nun der Gott auf engste und reinste Weise im Heiligen wohnt, und obwohl dieses bereits in der Seele des Dichters als das Zu-Sagende erfahren wurde, so kann der Dichter den Gott doch nicht frei "erfmden", sondern er kann nur das nennen, was sich aus dem Heiligen zeigt. Dem Gewahren und Nennen des Sichzeigenden muß die Offenheit des Dichters gewachsen sein. Die stimmungsmäßig freudige Offenheit des Dichters kann noch "zu klein" sein, um dem göttlichen Geschick zu entsprechen: "Der Hohe, der die Heitere des Heiligen bewohnt, ist, wenn irgendwer, am ehesten nahe innerhalb der sparenden Nähe, in der die sparsame Freude des Dichters heimisch geworden. Doch >>Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein.«" 77 Hier zeigt sich, daß die Abwesenheit des Gottes nicht daran liegt, daß es sein verborgenes Walten noch nicht "gäbe", sondern daran, daß dieses noch nicht frei genug erfahren wird, weil die durch die heilige Freude eröffnete Offenheit noch nicht weit genug das Wesen des Dichters durchwaltet

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GA 4: S. 26. GA 4: S. 26.

§ 17. »Heimkunft/ An die Verwandten«

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Der Dichter kann den Gott noch nicht mit eigenen Namen nennen. Er ahnt ihn und gibt ihm behelfsweise einen Namen im Hinblick auf seine Herkunftsgegend, dem Heiligen: "Dichtend nennen bedeutet: im Wort den Hohen selbst erscheinen lassen, nicht nur seine W ohnstatt, die Heitere, das Heilige sagen, nicht nur ihn erst im Hinblick auf seine Wohnstatt benennen. Ihn selbst aber zu nennen, dahin reicht sogar die trauemde Freude noch nicht... "71 Die Nennung des Hohen nach seiner Herkunft geschah, indem er als der "Äther" angesprochen wurde. In diesem Namen bekundet sich das nachgiebig-luftige, "lichte" (d.h. zuruckweichende und daher verborgene) Wesen des Gottes. Dieser W esenszug trägt das Heilige ins Offene. Aber die einmalig eigenständige Weise, wie der Gott dies vollzieht, d.h. sein "Wer", ist dadurch noch nicht beim Namen genannt. Sein Wesen ist zwar angedeutet, aber die geschichtlich einmalige Vollzugsweise noch nicht ins Scheinen gebracht. Solches Nennen geschieht durch heilige Namen, die noch fehlen: "Wohl kann zuweilen »das Heilige« genannt und aus seiner Aufheiterung das Wort gesagt werden. Aber diese »heiligen« Worte sind keine nennenden »Nahmen«: » .... es fehlen heilige Nahmen,«." 79 Solche Namen geben keine Wasgehalte an, aber auch nicht nur verbal verstandene Wesensstrukturen im allgemeinen. Heilige Namen nennen, d.h. lassen erscheinen eine geschichtlich einmalige Vollzugsweise von Wesen, die den Gruß des sich sparsam lichtenden Heiligen austragen. Namen nennen ursprunglich keinen bloßen "Was-Gehalt", aber auch nicht nur ein "Wie", sondern das "Wie" eines "Wer": "Wer Er selbst ist, der im Heiligen wohnt, das zu sagen und sagend ihn selbst erscheinen zu lassen, dafiir fehlt das nennende Wort. Darum bleibt jetzt das dichtende »Singen«, weil ihm das eigentliche, das nennende Wort fehlt, ein wortloses Lied - »ein Saitenspiel«. "10 Mit der Bezeichnung des Gedichtes als einem "Saitenspiel" wird gesagt: Die Grundschwingung des Heiligen schwingt in diesem Sagen immer schon mit. Das Sagen sucht diese Grundschwingung geschichtlich zu grunden, indem es die Ankunft der Himmlischen und vor allem des "Hohen" vorbereitet. Solche Vorbereitung des Brautfestes, an dem der Gott sich dem Dichter zeigt und so ins Wort gerufen werden kann, besteht im urspiÜnglicheren Feiern der Festtage, d.h. im freudigeren Offenwerden und Empfangen der Gabe derjenigen Gegend, aus der auch der Gott erscheint (dem Heiligen). Wenn das nennende Wort fiir sein Erscheinen glückt, dann wandelt sich das Saitenspiel zu echtem Gesang.

GA 4: S. 27. GA 4: S. 27. 80 GA 4: S. 27. 78

79

29 Helting

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

Natürlich singt, d.h. spricht in gewisser Weise der Sänger dichterisch selbst im "Saitenspiel"; aber es ist "nur" ein vorläufiges Singen, welches das Wort des Hohen vorbereitet: "»Ein Saitenspiel«- das ist der scheueste Name für das zögernde Singen des sorgenden Sängers: »Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne,/ Und erfreuet vielleicht Himmlische, welche sich nahn./ Das bereitet...«"81. Es ist an dieser Stelle wichtig zu bedenken, daß das Nennen des Gottes das Heilige nicht "überflüssig" macht. Ganz im Gegenteil: nach wie vor darf der Dichter das Heilige niemals vernachlässigen und niemals seine Zugehörigkeit zum Gott über seine Zugehörigkeit zum Heiligen stellen. Aber gerade das Geschichtlichwerden der Zugehörigkeit zum Heiligen, d.h. das Finden des Eigenen und die Erlernung des freien Gebrauches, ist nicht allein Menschenwerk. Menschen können (und, wenn es glücken soll: "dürfen") sich untereinander auf dem Weg des Empfanges ihres jeweils Eigenen helfen, aber der Dialog unter Menschen bleibt Vorbereitung. Erst wenn die Menschen in das Gespräch mit dem Göttlichen kommen, erst am Tage des Brautfestes, wird es eigentlich möglich, das geschichtliche Wesen des Heiligen auf Erden zu gründen.

f) Der "Fehl Gottes" und seine positive Bedeutung Der Dichter hat die Aufgabe, das Gespräch zwischen dem Göttlichen und den Menschen dadurch vorzubereiten, daß er das Göttliche nennt und ansprechbar macht. Dazu muß er zuvor sich dem Heiligen geöffnet haben und sich immer ursprünglicher der aus dieser Erfahrung stammenden Freude öffnen. So kann es sein, daß der Dichter das Heilige zwar genannt hat, der Gott aber noch nicht zur Sprache gebracht ist: "Den grüßenden Boten, die den Gruß des noch gesparten Fundes bringen, für ihr Nahen freudig die schickliche Nähe zu bereiten, dies bestimmt den Beruf des heimkommenden Dichters. Das Heilige zwar erscheint. Der Gott aber bleibt fern. Die Zeit des gesparten Fundes ist das Weltalter, da der Gott fehlt." 82 Weil dem Gott noch nicht eine Freude entgegengebracht wurde, die "groß" genug wäre, sein Walten zu "Gesicht" zu bekommen, erscheint dieser noch nicht und kann daher auch nicht mit einem heiligen Namen genannt werden. Namen haben zwar stiftenden Charakter, insofern sie das Anwesen im Seienden hervorscheinen lassen können, sie haben aber ursprünglich keinen "setzenden" Charakter, d.h. sie können das Erscheinen eines Gottes niemals herbeizwingen. Daher ist primär nicht der Fehl heiliger Namen der Grund für das Fehlen eines Gottes, sondern: "Der »Fehl« des

81 GA 4: S. 27. 82 GA 4: S. 27f.

§ 17. >>Heimkunft! An die Verwandten«

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Gottes ist der Grund fiir das Fehlen ))heiliger Nahmen«. "83 Gleichwohl ist die Erfahrung des Fehls schon ein Hinweis auf sein Grüßen, welches den Dichter in eine noch größere Wesensfreude zu heben sucht. "Deshalb ist ))Gottes Fehl« auch kein Mangel. Darum dürfen die Landesleute auch nicht dahin trachten, durch Listen einen Gott selbst zu machen und so mit Gewalt den vermeintlichen Mangel auf die Seite zu bringen. "84 Genauso wenig, wie es möglich ist, das ursprünglich Göttliche von menschlicher Seite her zu bewerkstelligen, ist es auch unmöglich, das ursprünglich Göttliche in seiner ereignishaften, je augenblicklich einzigartig neuen Anwesenheitsweise zu bewahren, indem man sich darin bequemt, alte Namen gewesener bzw. erschienener Götter einfach nur nachzusagen: "Sie dürfen aber auch nicht darin sich bequemen, auf einen gewohnten Gott sich nur noch zu berufen. Auf solchen Wegen würde ja die Gegenwart des Fehls versäumt. "15 Der Fehl ist kein Mangel, sondern die Mahnung bzw. der freundliche Gruß, der das Gegrüßte in sein ursprüngliches Wesen zu befreien sucht. Alte Namen können ihre ursprüngliche Nennkraft verlieren, indem sie zu bloßem Gerede entarten, und dann kann ein ursprünglicheres Gottesverhältnis weit eher darin bestehen, den Fehl der Gotteserfahrung auszuhalten und sein eigenes Wesen auf ein Wiedererscheinen vorzubereiten, als darin, die eigene Erfahrungslosigkeit in bezug auf Gott durch das bloße Nachsagen verkrusteter Worte zu überdecken (die so von der wundersamen Lavaglut einstigen Nennens nur noch das anstößig Erstarrte zu spüren geben). Denn das Aushalten des Gottesfehls bringt die Weisung mit sich, sich auf die eigentümliche Weise seines Anwesens ursprünglicher zu besinnen, d.h. sein Erscheinen dadurch vorzubereiten, daß der sich-verbergende Zug in aller Erscheinung mehr gewürdigt wird und in diesem Entzug die Gabe des seinlassenden Urgrundes, den der Gott am reinsten austrägt, immer deutlicher erfahrbar wird. Aus dem Empfang dieser Gabe kann dann die Freude wachsen, um groß genug zu werden für eine neue Gotteserfahrung. Das Sparende der Nähe, das Sichentziehen im Freigeben des Gegenwärtigen, muß erfahren werden, um im Nächsten immer auch schon beim Fernsten sein zu können und dadurch erst jegliches Nahe ursprünglich nahe sein lassen zu können: Ohne die durch den Fehl bestimmte und deshalb sparende Nähe könnte aber der Fund nicht in der Weise nahe sein, wie er nahe ist. Darum gilt ftir die Sorge des Dichters nur das eine: ohne Furcht vor dem Schein der Gottlosigkeit dem Fehl Gottes nahe zu bleiben und in der bereiteten Nähe zum Fehl so lange zu harren, bis aus GA 4: S. 28. GA 4: S. 28. 85 GA 4: S. 28.

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

der Nähe zum fehlenden Gott das anfängliche Wort gewährt wird, das den Hohen nennt. 86

Der Dichter muß den Fehl aushalten lernen "bis Gottes Fehl hilft", wie es in dem Gedicht "Dichterberuf' bei Hölderlin heißt. 17 Gottes Fehl hilft, indem er in die noch nicht ausgeschöpfte Wesensfreude des Dichters verweist, die groß wachsen muß, um dem Nennen des Gottes gewachsen zu sein. Man sollte meinen, daß das Nennen des Heiligen, das doch der Quellbereich auch des Göttlichen ist, noch weitaus größerer Kraft bedürfe als das Nennen des Gottes. Aber es muß immer wieder im Gedächtnis behalten werden, daß das Heilige durch solches Nennen nicht "ein fiir alle mal" erfahren und genannt ist, sondern das solches Nennen nur den ersten (obzwar gewaltigen) Schritt in die Richtung des Geschichtlichwerdenlassens des Heiligen vollzieht. D.h. auch und vor allem im Nennen der Götter wird das Heilige mitgenannt und sein Wesen geschichtlich gegründet. Das geschichtliche Gründen des Heiligen, d.h. das ursprüngliche Bergen seines Wesens ins Seiende (im Lichte des ausdifferenzierten Geschehens, welches später im Geviert genannt ist) bedarf noch größerer "Anstrengung" (d.h. eigentlich: Wesensöffnung) als das erstmalige Nennen des Heiligen. Die Heimkunft des Dichters im Heiligen ist keine Weltflucht, sondern verwandelte Weltzuwendung. Das Heilige empfängt sein geschichtliches Wesen nur, insofern es Heimat fiir Irdische wird. Hierzu trägt auch der Dichter Wesentliches bei: "Der Beruf des Dichters ist die Heimkunft, durch die erst die Heimat als das Land der Nähe zum Ursprung bereitet wird. Das Geheimnis der sparenden Nähe zum Freudigsten hüten und es hütend entfalten, das ist die Sorge der Heimkunft. "•• Hier verweist Heidegger noch einmal auf die Schwierigkeit des ursprünglichen Bergens des Heiligen (die selbst dann nicht erlischt, wenn ein Gott erscheint): Das Heilige muß, um alle Menschen ansprechen zu können, auf geschichtliche Weise "seiend" werden. Im Seienden geborgen wird es in eine den Sterblichen vertraute Wesensnähe gebracht, die der Herkunft des Heiligen an sich fremd ist, da sie bei aller Nähe niemals im Nahen aufgeht, sondern sich immer dabei auch entzieht (wobei dieses Entziehen das Wesen des Sparens ist). Die Sorge des Dichters muß darin liegen, das Heilige so nahe zu bringen, daß das sparende Wesen des Heiligen in aller Gründung mitaufscheint (und nicht vom Gegründeten überdeckt wird). Diese Sorge ist und bleibt die wesentliche Sorge des Dichters: "Darum endet die Dichtung in das Wort:

GA 4: S. 28. Vgl. GA 4: S. 28. 88 GA 4: S. 28.

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§ 17. >>Heimkunft/ An die VeJWandten«

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»Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele/ Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.«" 89

V. Die Sorge des Dichters und die Sorge »der anderen« Das Wesen »der anderen« ist vielschichtig. Zunächst verweist dieses Wort auf die Menschen, deren Mienen am Anfang des Gedichtes als (nur) scheinbar vertraute angesprochen wurden. Die auf "heimatlichem Boden" bloß Ansässigen haben den Bezug zur Heimat eigentlich noch nicht vernommen. Zwar sind sie der dichterischen Wanderung und vor allem der dichterischen Sorge durch das im Abschlußvers genannte "nicht" enthoben, aber dies bedeutet nicht, daß sie jeglicher Sorge bezüglich des eigentlichen Heimischwerdens (d.h. des Gewahrens des Bezuges zum Heiligen und dessen Brautfest) enthoben sind: "Das jähe »nicht« entbindet »die anderen« zwar von der Sorge des dichtenden Sagens, aber keineswegs von der Sorge des Hörens auf das, was hier in der »Heimkunft« »Dichtende sinnen oder singen«."90 Auch wenn nicht alle Menschen zu Dichtem werden müssen, d.h. auch wenn nicht alle auf gleich ursprüngliche Weise den Bezug zum Heiligen erwandern müssen, so ist jeder Mensch seinem Sein schuldig, zumindestens auf die Kunde zu hören, die von seiner eigentlichen Herkunft berichtet. Durch das Hören auf solche Kunde erfahren sie von Wegen und Weisen, das Geheimnisvolle der Heimat zu gewahren und an es zu denken: "»Die anderen« müssen erst lernen, das Geheimnis der sparenden Nähe zu bedenken."91 Solches Bedenken vollzieht sich wiederum auf verschiedenen Ebenen. Es kann soweit ausgebildet werden, daß aus einigen dieser "anderen" eigens "Denker" werden, die in einem ausgezeichneten Bezug zum dichterischen Wort stehen, indem sie dieses im langsamen und bedachtsamen Hören in seiner Wesensweite und Tiefe auslegen und so das Gedicht in ein klares Scheinen bringen: In solchem Denken erst bilden sich die Bedachtsamen, die den gesparten und im Wort der Dichtung verwahrten Fund nicht übereilen. Aus den Bedachtsamen werden die Langsamen des langen Mutes, der selbst wieder lernt, den noch währenden Fehl des Gottes auszuharren. Die Bedachtsamen und Langsamen erst sind die Sorgsamen. Sie sind, weil sie an das in der Dichtung Gedichtete denken, mit der Sorge des Sängers dem Geheimnis der sparenden Nähe zugewendet. Aus dieser einigen Hingebung

GA 4: S. 28. GA 4: S. 29. 9 1 GA 4: S. 29.

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

zum Seiben sind die sorgsam Hörenden mit der Sorge des Sagenden verwandt, sind »die anderen« »die Verwandten« des Dichters. 92

Die Anderen sind zunächst also die verwandten Mitmenschen, die auf demselben heimatlichen Boden mitwohnen, vom eigentlichen Wesen der Heimat jedoch noch nichts wissen bzw. es ständig übergehen. Sie müssen von der sparenden Nähe des Heiligen und dem Fehl Gottes erst lernen, damit sie die Vorfeier des Brautfestes begehen können. Die Bedachtsamen dieser Menschen sind dem Dichter im ausgezeichneten Sinne verwandt. Denn sie blicken denkend auf dasselbe Phänomen, das der Dichter dichtet. 93 Indem die Denker zu ausgezeichneten Hörern des dichterischen Wortes werden, gilt für sie zwar immer noch, daß sie nicht die Sorge des Dichters auf sich nehmen müssen, aber sie tragen eine andere Sorge, die sich vor allem auf das eigentliche Gewahren des dichterischen Wortes bezieht. Dadurch helfen sie dem Dichter: "Indem sie auf das gesagte Wort achten und darauf denken, daß

GA 4: S. 29. Es ist wohl unbezweifelbar, daß Heidegger als weitere, dem Dichter auf ausgezeichnete Weise Verwandte hier die Soldaten nennt: " ... sind dann nicht die Söhne der Heimat, die fern dem Boden der Heimat, aber mit dem Blick in die Heitere der ihnen entgegen leuchtenden Heimat ihr Leben flir den noch gesparten Fund verwenden und im Opfergang verschwenden- sind dann nicht diese Söhne der Heimat die nächsten Verwandten des Dichters? Ihr Opfer birgt in sich den dichtenden Zuruf an die Liebsten in der Heimat, der gesparte Fund möge ein gesparter bleiben. Er bleibt es, wenn aus denen, »die im Vaterlande besorgt sind«, die Sorgsamen werden. Dann ist die Verwandtschaft mit dem Dichter. Dann ist Heimkunft. Diese Heimkunft aber ist die Zukunft des geschichtlichen Wesens der Deutschen." GA 4: S. 29f. Wie immer nun über den äußerst problematischen Bezug vom "wesentlichen Opfer" zum Kriegerischen zu denken ist, so muß doch für Heidegger folgendes festgehalten werden: Die Auszeichnung, die Heidegger hier den Soldaten zumißt, besteht zumindestens nicht darin, daß er betonen würde, wie sie flir das damals vorherrschende politische Regime kämpften, sondern er zeichnet sie nur aus, insofern sie ihre Taten in Hinblick auf das Kommen des Heiligen verrichteten. Ausdrücklich sagt Heidegger, daß das Heilige keineswegs damals in Deutschland wahrhaft gegenwärtig war, sondern daß es nur künftig sein kann, wenn es im "Vaterlande" zu einer wesentlich eigentlichereD Sorge um das Heilige kommt. Die Frage, unter welchen Umständen und ob überhaupt das Kriegerische jemals zum Erscheinen des Heiligen beitragen kann, ist sicherlich äußerst fragwürdig; dies soll aber in der vorliegenden Arbeit nicht diskutiert werden. Es gilt aber festzuhalten, daß Heidegger in diesem Satz - ungeachtet dessen, daß er damit wohl auf eine Art "Phänomenologie des »Helden«" hinweisen will - an der konkreten politischen Situation blind vorbeigeht. 92

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§ 17. »Heimkunft/ An die Verwandten«

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es recht gedeutet und behalten werde, helfen sie dem Dichter. "94 Der Dichter empfängt durch die Engel der "Heiteren" die Hilfe, das Heilige eigentlicher zu sagen und d.h. ihm eine Geschichte zu gründen. Der Dichter hilft den Engeln und deren Ursprung wiederum, in das Wohnen der Menschen miteinbezogen zu werden. Indem der Dichter aber die Kunde vom Heiligen und seinen Engeln in das geschichtliche Wohnen der Menschen miteinbezieht, wird sein Wort "Allgemeingut". Es wird, im Seienden geborgen, relativ "unabhängig" von der Erfahrung, aus der es zunächst ausgesprochen wurde. Damit diese Erfahrung nicht verlorengeht, sich abnutzt bzw. damit sie wieder erneut in der ursprünglichen Nennkraft des Wortes ins Scheinen gelangen kann, bedarf es des klärenden Sinnens der Denker: Weil aber das Wort, wenn es einmal gesagt ist, der Obhut des sorgenden Dichters entgleitet, kann er nicht leicht das gesagte Wissen vom gesparten Fund und von der sparenden Nähe allein fest in seiner Wahrheit halten. Darum wendet der Dichter sich zu den anderen, daß ihr Andenken helfe, das dichtende Wort zu verstehen, damit im Verstehen für jeden je nach der ihm schicklichen Weise die Heimkunft sich ereigne.9s

Die Denker hören auf und bewahren die ursprüngliche Erfahrung, die in den Worten spricht. Sie legen diese auf verschiedenen Ebenen aus, so daß sich Menschen auf verschiedenen Ebenen vom Ausgelegten angesprochen fiihlen und in ein Verstehen gelangen. Die Denker sind und bleiben dem Dichter gegenüber andere. Jedoch sind sie "andere" nicht in dem Sinne, daß sie nicht in derselben ursprünglichen Erfahrung, die den Dichter anspricht, stünden und daher nur das ins Seiende geborgene Wort verstünden. Sie sind angesprochen von derselben Ursprünglichkeit, aber auf eine andere Weise. Sie sagen von dieser Erfahrung nicht dichterisch sondern denkerisch. Jedoch bezieht sich das Denken auf die Nennkraft des dichterischen Sagens, in der die Erfahrung ausgezeichnet geborgen ist, und in diesem Bezug werden sie zu den anderen, die dem Dichter helfen, das "Geheimnis der sparenden Nähe" im Seienden hervorscheinen zu lassen: "... im Gedicht ))Dichterberuf« ... sagt Hölderlin über den Dichter und sein Wissen vom Geheimnis der sparenden Nähe dieses (IV, 147): » ....Doch nicht behält er es leicht allein, Und gern gesellt, damit verstehn sie Helfen, zu anderen sich ein Dichter.«" 96

GA 4: S. 30. GA 4: S. 30f. 96 GA 4: S. 31.

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

VI. Heideggers Vorbemerkung zur Wiederholung dieser Rede

Heidegger warnt in seiner Vorbemerkung zur Wiederholung des "Heimkunft"-Vortrages, daß die überlieferten Bezeichnungen "Hymne" und "Elegie" bei Hölderlin einen anderen Sinn empfangen: "Wenn wir diesen Gedichten die überlieferten Bezeichnungen >>Elegie« (Trauergesang) und »Hymne« (Preislied) geben, dann dürfen wird das nur, wenn wir das Wesen der Trauer kennen, die hier trauemde Gesänge singt, und wenn wir das Wesen des Heiligen wissen, das in diesen Gedichten gerufen wird. "97 Der Trauergesang ist keine in sich verschlossene Beklagung des Verlustes eines Seienden. Das Preislied ist kein verabsolutierendes Rühmen eines Seienden. Vielmehr müssen die Dichtarten Hölderlins immer vom Heiligen her gedacht werden. In der Elegie schwingt als Grundstimmung die heilige Trauer, d.h. die Trauer, die gerade den Bezug zum Freudigsten eröffnet und offen hält, indem sie Gewesenem nachsinnt, aber immer im Hinblick auf ein mögliches Wiedererscheinen seines Ursprungs in gewandelter Form. Die Hymne rühmt Seiendes nur insofern es seine eigenständige Würde vom Heiligen her empfangen hat und dieses auf ureigene Weise austrägt. Im Gedicht "Heimkunft" wird die Trauer immer in ihrer Wechselbezogenheit zum Heiligen gedichtet : "Vom einen und vom anderen, von der Trauer und vom Heiligen, vom Wechselbezug beider, singt der Gesang »Heimkunft«."98 So rührt die Sorge um das Wohl der nur scheinbar vertrauten Landesleute aus dem Heiligen her. Das sorgenvolle Wesen des Dichters ist darum bekümmert, die Landesleute mit der ständig übergangenen, aber eigentlichen Würde ihrer Heimat vertrauter zu machen. Diese Sorge wird dem Dichter vom Heiligen übereignet: "Auf das, was den Dichter in sein Dichterturn ruft (»das Heilige«), und auf die Weise, wie der Dichter das Zu-Dichtende sagen muß (»die Sorge«), »sinnt« das Gedicht »Heimkunft«."99 Das Heilige ruft den Dichter dazu auf, das geschichtliche Wesen des Heiligen im Seienden zu gründen, d.h. es dort verwandelt zu bergen, ohne aber den Geschehnischarakter dadurch zu ersticken. Solch stiftend (gründend-freiatrnendes) Dichten ist die Sorge des Dichters. Zum Gedenken des 100. Todestages Hölderlins zog Heidegger die Elegie "Heimkunft" heran. Er betont in der Vorrede, daß eine solche Feier zwar niemals wiederholt werden kann, jedoch das Einüben auf das denkende Hören auf 97

GA 4: S. 193.

98 GA 4: S. 193. 99 GA 4: S. 193.

§ 17. »Heimkunft/ An die Verwandten«

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das dichterische Wort sich immer wieder neu vollziehen muß. Diese Elegie wurde herangezogen, um auf den Bezug zum Heiligen (als dem "Rufenden"; vgl. oben) aufmerksam zu werden: "Darum und nur darum läßt uns die folgende Rede auf dieses Gedicht, die letzte Elegie Hölderlins, aufmerken."100 Einen bedenkenswürdigen Hinweis gibt Heidegger im folgenden Satz, wo das "Innerste" des Gedichtes angedeutet wird, wobei er sogleich hinzufiigt, daß von diesem die Rede selber schweigt: "Das Innerste des Gedichtes ist in Vers 42 verborgen, der die Landesleute nennt, »Denen der heilige Dank lächelnd die Flüchtlinge bringt,« Darüber schweigt die Rede. "101 Solches Schweigen ist natürlich von Heidegger nicht als ein Verstummen bzw. Verheimlichen gedacht, sondern dieses Schweigen soll gerade vom Eigentlichen sagen. Der Kontext dieses Verses sagt, daß Hölderlin lange und oftfor seine Mitmenschen ein Gespräch mit den Himmlischen gesucht hat bzw. zumindestens dadurch vorzubereiten gesucht hat, indem er das Heilige nennt und durch sein Wort fiir es zu danken sucht. "Wie bring' ich den Dank?'' ist ein Frage, die Hölderlin in der sechsten Strophe dieser Elegie eigens stellt. Das Dankbringen muß frag-würdig bleiben, damit der Raum fiir immer ursprünglicheres Danken gegeben ist. In diesem offen-ursprünglichen Danken, d.h. einem Danken, das auf das Heilige bezogen bleibt und auch fiir eine immer tiefere Einkehr in dieses offen bleibt, kann es wohl zu einem "heiligen Danken" werden. Solches heilige Danken vollzieht der Dichter in seinem Gedicht fiir seine Landesleute, damit diese vom Heiligen erfahren. Das Wesen des Heiligen ist aber auch und vor allem das Freudige, "Lächelnde", und der ursprünglich heilige Dank kann ebensolchen Wesenszug annehmen. Der heilige Dank bringt lächelnd die "Flüchtlinge." Sind dies die geflohenen Götter? Dafiir würde sprechen, daß gerade diese in der Begegnung mit den Menschen das Heilige im Brautfest hervorscheinen lassen würden und hier sich der heilige Dank fiir eine Weile vollendet. Dagegen könnte eingewendet werden, daß doch der Dichter gerade nicht vermag, das Göttliche zu nennen. Aber ist nicht schon die Kunde vom Fehl Gottes eine Weise seines Nennens, wenngleich eines noch anonymen? Dann würde die Kunde vom Heiligen und die Kunde vom Fehl Gottes, dessen Erscheinen es vorzubereiten gilt, dennoch die Flüchtlinge den Menschen nahebringen. Zwar noch nicht als genannte Götter bzw. als den genannten Gott, aber dafiir als Flüchtlinge bzw. als Fehl. Wir sahen ja während der Auslegung bereits, daß der Fehl - als Fehl erfahren - schon wesentliche Hilfe erbringen kann, insofern der Mensch daraus die Weisung zu

100 101

GA 4: S. 193. GA 4: S. 193.

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vernehmen vermag, sein Wesen freudiger dem Freudigsten zu öffnen, damit dem Gott der Wesensraum fiir sein Erscheinen gegeben ist. Heideggers Auslegung schweigt von dieser Zeile, die das "Innerste des Gedichtes" in sich sammelt. Jedoch spricht er von der hier gedichteten Sache unentwegt. Durch das Zurückhalten der Erläuterung soll wohl die Nennkraft des dichterischen Wortes in ihrer eigenen Schwingung gewahrt und fiir ein Vernehmen dieser gespart werden. Denn Heidegger erwähnt in der zweiten Hälfte der Vorbemerkung immer wieder die Gefahr des Verstellens des Dichterischen durch eine denkerische Erläuterung und nennt als Ziel (auch gerade der geglückten Erläuterung) dieses: "Was immer auch eine Erläuterung vermag und was sie nicht vermag, von ihr gilt stets dieses: damit das im Gedicht rein Gedichtete um einiges klarer dastehe, muß die erläuternde Rede sich und ihr Versuchtes jedesmal zerbrechen. Um des Gedichteten willen muß die Erläuterung des Gedichtes darnach trachten, sich selbst überflüssig zu machen... "102 Das Schweigen vom "Innersten des Gedichtes" betrifft nicht ein verschwiegen Gedachtes, sondern es betrifft die Möglichkeit des reinen Scheinens des Gedichtes, dem das Denken vordenkt, aber über das es nie hinwegdenkt, sondern am Ende in seine Wesenswürde zu befreien sucht, in der das Denken letztendlich höchstens als schweigender Gast fiir eine Weile verweilt.

§ 18. Das Heilige und die Gottesthematik in »Wozu Dichter?« Der anläßlich des 20. Todestages von R. M. Rilke gehaltene Vortrag "Wozu Dichter?" erbringt auf seinen ersten Seiten äußerst wesentliche Hinweise bezüglich des "Fehl Gottes" und seines Bezugs zum Heiligen. Die Frage "...und wozu Dichter in dürftiger Zeit?" entstammt Hölderlins Elegie "Brod und Wein". Die dürftige Zeit ist diejenige Epoche, in der sich der Untergang des Göttlichen vollendet, d.h. unsere Epoche: "Mit dem Erscheinen und dem Opfertod Christi ist fiir die geschichtliche Erfahrung Hölderlins das Ende des Göttertages angebrochen. Es wird Abend. Seitdem die »einigen drei«, Herakles, Dionysos und Christus, die Welt verlassen haben, neigt sich der Abend der Weltzeit ihrer Nacht zu." 103 Diese Götterfmsternis, d.h. das Aus- und Wegbleiben des Göttlichen, ist dasjenige Phänomen, das mit dem "Fehl Gottes" genannt

102

IOJ

GA 4: S. 194. GA 4: s. 265.

§ 18. Das Heilige und die Gottesthematik in »Wozu Dichter?«

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wird: "Das Weltalter ist durch das Wegbleiben des Gottes, durch den »Fehl Gottes« bestimmt. "104

I. Der "Fehl Gottes" - die Erfahrung unserer geschichtlichen Epoche Die Rede von dem "Fehl Gottes" will nicht nahelegen, daß jegliches Gottesverhältnis dadurch unmöglich geworden ist. Ausdrücklich betont Heidegger, daß die Rede vom epochalen "Fehl" nicht Einzelnen oder auch Gemeinschaften ihr Gottesverhältnis absprechen oder abwerten will: "Der von Hölderlin erfahrene Fehl Gottes leugnet jedoch weder ein Fortbestehen des christlichen Gottesverhältnisses bei Einzelnen und in den Kirchen, noch beurteilt er gar dieses Gottesverhältnis abschätzig." 105 Der Fehl Gottes meint ein anderes. Obwohl in eingeschränktem Rahmen ein Gottesverhältnis durchaus möglich sein mag, so kann wohl nicht geleugnet werden, daß solche Erfahrungen nicht mehr Geschichte-prägend sind, daß nicht das Erscheinen eines Gottes und die Zwiesprache mit ihm das gegenwärtige Zeitalter global bestimmen: "Der Fehl Gottes bedeutet, daß kein Gott mehr sichtbar und eindeutig die Menschen und die Dinge auf sich versammelt und aus solcher Versammlung die Weltgeschichte und den menschlichen Aufenthalt in ihr fiigt. " 106 Jedoch erschöpft sich der "Fehl Gottes" nicht darin, daß es in unserer geschichtlichen Epoche keine Zwiesprache mit einer geschichtlich einmaligen Erscheinung des Göttlichen (dem Gott) gibt. Der Fehl sagt darüber hinaus, daß nicht nur die Bekanntschaft mit dem "Wer" des Gottes fehlt ( d.h. mit seiner geschichtlich einzigartigen Erscheinungsweise), sondern daß nicht einmal das Wesen des Gottes, d.h. die Gottheit (die Weise des Erscheinens alles Göttlichen), uns angeht: "Im Fehl Gottes kündigt sich aber noch Ärgeres an. Nicht nur die Götter und der Gott sind entflohen, sondern der Glanz der Gottheit ist in der Weltgeschichte erloschen. "107 Dadurch, daß durch die Unbekanntheit des Gotteswesens, d.h. der Gottheit, nicht einmal der Geschehensbereich eines möglichen Erscheinens und Nennens des Gottes beachtet wird, steigert sich die Dürftigkeit des Zeitalters immer mehr. Denn ohne fiir die Anwesungsweise von Göttlichem prinzipiell offen zu sein fehlt sogar die Erfahrung, die den Fehl des Erscheinens eines Gottes als Fehl bemerkt: "Die Zeit der Weltnacht ist die

104

Holzwege ((Einzelausgabe, 6. Aufl.) Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1980), S.

265. Holzwege, S. 265. Holzwege, S. 265. 107 Holzwege, S. 265.

105

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dürftige Zeit, weil sie immer dürftiger wird. Sie ist bereits so dürftig geworden, daß sie nicht mehr vermag, den Fehl Gottes als Fehl zu merken. "101 Damit ist nicht nur der geschichtliche Gott "verloren", sondern sein geschichtlicher Ankunftsort gründlich verbaut. Da das Gotthafte den Wesensgrund des Seins auf reinste (obzwar natürlich immer geheimnisvolle) Weise zum Erscheinen bringt, fehlt mit dem Fehl Gottes auch das Scheinen des Grundes: "Mit diesem Fehl bleibt für die Welt der Grund als der gründende aus." 109 Das gegenwärtige Zeitalter des Fehls Gottes hängt somit im Abgrund. Dieses Wort ist uns aus der Analyse des Abgrundes der Beiträge mittlerweile schon etwas vertrauter geworden. Wir sahen, daß dieses Wort einerseits sagt, daß der Grund sich dem Seienden versagt, d.h. niemals selbst zu einem Seienden wird. Heidegger verweist in diesem Vortrag darauf, daß wortgeschichtlich der "Abgrund" immer noch einen, obzwar tiefen, seienden Grund nennt: "Abgrund bedeutet ursprünglich den Boden und Grund, zu dem als dem untersten, den Abhang hinab, etwas hängt. "110 Im Hinblick auf diesen Abgrund ist der "ontologische" Abgrund immer noch abgründiger, ein Abwesendes, ein Nichts: "Im folgenden sei jedoch das »Ab-« als das völlige Abwesendes Grundes gedacht." 111 In bezug auf eine Analyse der Erfahrung unserer geschichtlichen Epoche nützt es hier nichts, darauf hinzuweisen, daß doch auch der nicht-seiende Abgrund, so wie er in den Beiträgen gedacht wird, letztlich doch ein gründender ist, dessen Gründungsweise freilich nicht der des Seienden entspricht. Denn es ist gerade das Auszeichnende unseres Zeitalters, daß solch eine Erfahrung gerade nicht Geschichte-prägend ist. Vielmehr wird der Ab-grund als das Wurzellose erfahren, d.h. als ein bloßes "Hängengelassensein" über einem dunklen "nichts": "Der Grund ist der Boden für ein Wurzeln und Stehen. Das Weltalter, dem der Grund ausbleibt, hängt im Abgrund." 112 Jedoch betont Heidegger scharf, daß eine Rettung gerade nicht dadurch entstehen kann, diesen Abgrund zu fliehen, sondern er muß ausgestanden werden, da nur in ihm eine andere Art des Gründens erfahren werden kann (die in das Wesen des Gotthaften (der Gottheit) verweist und dann auch wieder eine Offenheit und Bereitschaft für ein Erscheinen Gottes eröffnen kann): "Gesetzt, daß dieser dürftigen Zeit überhaupt noch eine Wende aufbehalten ist, sie kann einst nur kommen, wenn die Welt sich von Grund auf, und d.h. jetzt eindeutig, wenn sie sich vom Abgrund Holzwege, Holzwege, 110 Holzwege, 111 Holzwege, 112 Holzwege, 108

109

S. 265. S. 265. S. 265. S. 265f. S. 266.

§ 18. Das Heilige und die Gottesthematik in »Wozu Dichter?«

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her wendet. Im Weltalter der Weltnacht muß der Abgrund der Welt erfahren und ausgestanden werden."m Das wache Ausstehen des Abgrundes, der Weltnacht, der (scheinbare) Fehl jedes (nicht selbst fabrizierten) Sinnes ist nicht jederrnanns Sache. Daher muß es einige geben, die sich dieser Sache eigens öffnen und widmen: "Dazu ist aber nötig, daß solche sind, die in den Abgrund reichen." 114 Denn eine "Wende" aus dem Abgrund wird nicht vom Göttlichen erzwungen; das Göttliche, das ja den schonend-sichentziehenden Wesenszug des Heiligen austrägt, vergewaltigt nicht ein Menschentum, zwingt es nicht zur "Umkehr", sondern toleriert still die Maßlosigkeit. Mit anderen Worten, nur wenn von den Menschen her eine Offenheit dem Göttlichen entgegengebracht wird (eine Offenheit, die nur aus dem Abgrund bzw. der wahrheitsgetreuen Kunde von ihm erlernt werden kann), kann das Göttliche erscheinen. Sein Aufenthaltsort, zu dem es am Tage des Brautfestes kommt, muß vorbereitet sein: "Die Wende des Weltalters ereignet sich nicht dadurch, daß irgendwann nur ein neuer Gott oder der alte neu aus dem Hinterhalt hereinstürzt. Wohin soll er sich bei seiner Wiederkunft kehren, wenn ihm nicht zuvor von den Menschen ein Aufenthalt bereitet ist?" 115 Der Aufenthaltsort eines Gottes verlangt aber, daß die Menschen mit dem Wesen des Göttlichen, der Gottheit vertraut sind. Der freigebend-sich-entziehende Wesenszug des Heiligen, den die Götter/ der Gott auf jeweils geschichtlich einmalige Weise austragen/ austrägt, muß zuvor erfahren sein und im Seienden zum Scheinen gebracht worden sein; d.h. im Seienden muß zumindestens der Hinweis auf seinen Bezug zum Entzug aufleuchten: "Wie könnte je dem Gott ein gottgemäßer Aufenthalt sein, wenn nicht zuvor ein Glanz von Gottheit in allem, was ist, zu scheinen begänne?" 116 Noch einmal betont Heidegger, daß die wesentliche Entscheidung, ob es überhaupt zu einer Erscheinung des Göttlichen kommen kann, nicht fatumshaft vorherbestimmt ist, sondern mit bei den Menschen (bei ihrem Gewahren bzw. Mißachten des Abgrundes) liegt: "Die Götter, die »sonst da gewesen«, >>kehren« nur in »richtiger Zeit«; dann nämlich, wenn es sich mit den Menschen am rechten Ort in der rechten Art gewendet hat. "111 Das "mit" weist darauf hin, daß das Erscheinen des Göttlichen zwar ganz wesentlich durch den Menschen mitbestimmt wird, jedoch nicht von diesem allein bewerkstelligt werden kann. Auch bei Hölderlin heißt es nicht, daß "die Menschen wenden", Holzwege, Holzwege, 115 Holzwege, 116 Holzwege, 117 Holzwege,

113

114

S. 266. S. 266. S. 266. S. 266. S. 266.

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

sondern daß es sich (zusammen) "mit den Menschen" wendet: "Darum sagt Hölderlin in der unvollendeten Hymne »Mnemosyne«, die bald nach der Elegie »Brod und Wein« entstand, dieses (IV (Hellingrath) 225): »... Nicht vermögen Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen Die Sterblichen eh' in den Abgrund. Also wendet es sich Mit diesen. Lang ist Die Zeit, es ereignet sich aber Das Wahre.«" 111 Im folgenden faßt Heidegger den Gedankengang noch einmal zusammen, leitet aber zumal dazu über aufzuweisen, wie aus der "Durft" der dürftigen Zeit das Verlangen zur Deckung eines Bedarfes wird, d.h. wie aus dem epochalen "Schicksal", das eigentlich danach ruft, daß die Not als Not ausgestanden wird (damit sich eine Wende mit den Menschen ereignen kann), die Flucht entsteht, den Sinnmangel als noch nicht gedeckten Bedarf des Menschen (gen. subj.) zu fassen, und alles Streben darauf zu richten, diesen Mangel so effizient wie möglich zu beheben: Lang ist die dürftige Zeit der Weltnacht Diese muß erst lang zu ihrer eigenen Mitte gelangen. In der Mittemacht dieser Nacht ist das Dürftige der Zeit am größten. Dann vermag die darbende Zeit sogar ihre Durft nicht mehr zu erfahren. Dieses Unvermögen, wodurch selbst die Durft des Dürftigen ins Finstere gerät, ist das schlechthin Dürftige der Zeit. Die Durft wird dadurch völlig verfinstert, daß sie nur noch als der Bedarf erscheint, der gedeckt sein will. 119 Auch die Kategorien "Pessimismus" und "Optimismus" vermögen fiir Heidegger nicht das Schicksal der Weltnacht zu fassen: "Gleichwohl ist die Weltnacht als ein Geschick zu denken, das sich diesseits von Pessimismus und Optimismus ereignet." 120 Das Geschick ist "diesseits" und nicht etwa "jenseits" (in irgendeiner "Hinterwelt"), weil es uns unmittelbar in unserem Sein angeht. Optimismus und Pessimismus sprechen fiir Heidegger von Haltungen gegenüber Vorstellungen und Erwartungen, die wir überhaupt erst auf Grund von unserem Sein machen können. 121 Das Geschick der Weltnacht ist aber keine Vorstellung, sondern ein unerrechenbares Geschick, über das keine notwendige Wesensrichtung ausgesagt Holzwege, S. 266. Holzwege, S. 266f. 120 Holzwege, S. 267. 118 119

Vgl. hierzu z.B.: GA 45 (Grundfragen der Philosophie. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 2!992): S. 55. 12 1

§ 18. Das Heilige und die Gottesthematik in »Wozu Dichter?«

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werden kann, d.h. das nicht die Entscheidungen allesamt für den Menschen trifft, sondern die freie Entscheidung der Menschen fordert: Vielleicht geht die Weltnacht jetzt auf ihre Mitte zu. Vielleicht wird die Weltzeit jetzt vollständig zu der dürftigen Zeit. Vielleicht aber auch nicht, noch nicht, immer noch nicht, trotz der unermeßlichen Not, trotz aller Leiden, trotz des namenlosen Leides, trotz der fortwuchernden Friedlosigkeit, trotz der steigenden Verwirrung. Lang ist die Zeit, weil sogar der Schrecken, für sich als ein Grund der Wendung genommen, nichts vermag, solange es sich nicht mit den Sterblichen wendet. 122

Der Schrecken ist, solange er nur auf Seiendes gerichtet ist, noch kein Grund zur Wende. Der Schrecken könnte, sofern er das Schreckliche im Seienden im Lichte der Seinsvergessenheit, die diesem Schrecklichen zugrunde liegt, erfährt, der Anfang einer Wende werden. Die Grundstimmung der Verhaltenheit, so wie sie in den Beiträgen dargelegt wird, ist ja neben der Scheu durch das Erschrecken im Angesicht der Seinsverlassenheit bestimmt. II. Die Spur zum Göttlichen

Die Seinsverlassenheit - als Seinsverlassenheit erfahren - verweist den Menschen in sein Wesen, das ursprünglich auf das Angegangensein vom Sein bezogen bleibt. Diese Einsicht ist der erste Schritt des Gangs in den Abgrund, der in die Richtung einer Erfahrung geht, aus welcher eine Wendung hervorgehen kann (durch die sich der Abgrund als ein gründender erweist): "Mit den Sterblichen wendet es sich aber, wenn sie in ihr eigenes Wesen fmden. Dieses beruht darin, daß sie eher als die Himmlischen in den Abgrund reichen. Sie bleiben, wenn wir ihr Wesen denken, dem Abwesen näher, weil sie vom Anwesen, wie von altersher das Sein heißt, angegangen sind. "123 Das Sein selbst, von dem einzig die Menschen (und nicht die Götter) auf einzigartig endliche Weise angegangen sind, trägt in sich schon den Wesenszug des Abwesens; daher sind die Sterblichen durch ihr Angegangenwerden vom Sein auch immer schon auf das Abwesen bezogen (was noch nicht heißt, daß sie dieses im Lichte der seinsgewährenden Herkunft erfahren): "Weil aber das Anwesen sich zugleich verbirgt, ist es schon selbst das Abwesen." 124 Indem der Abgrund kein bezugstilgendes "schwarzes Loch" ist, sondern auf das Anwesen des Seins bezogen bleibt, "merkt" er alles und das Anwesen selber wiederum trägt Merkmale von ihm in sich aus: "So birgt und merkt der Holzwege, S. 267. Holzwege, S. 267. 124 Holzwege, S. 267. 122 123

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5. Kap.: »Heimkunft! An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

Abgrund alles. Hölderlin nennt den »Abgrund« in der Titanenhymne (IV, 210) den »allesmerkenden«. Wer von den Sterblichen eher und anders als die anderen in den Abgrund reichen muß, erfährt die Merkmale, die der Abgrund vermerkt. Das sind fiir den Dichter die Spuren der entflohenen Götter." 125 Die entflohenen Götter verweisen, wie wir sahen, auf das gewesene Brautfest, an dem sich Menschen und Götter begegnen und so das Heilige in eine ausgezeichnete geschichtliche Wesungsweise gelangt; dort kam es zu einer geschichtlichen Epoche, wo das Heilige, obgleich es nicht bei diesem Namen eigens genannt war, dennoch auf gewisse Weise in allem Seienden hervorscheinend waltete und erfahren wurde. Der Dichter beachtet diese Merkmale, aber nicht um sie zu kopieren, sondern um von ihnen zu lernen, auf den eigenen Bezug zum Heiligen aufmerksam zu werden. Heidegger sieht ein fiir Hölderlin ausschlaggebendes (d.h. spurbergendes) göttliches Geschehen im Weingott Dionysos: "Diese Spur bringt nach Hölderlins Erfahrung Dionysos, der Weingott, den Gott-losen unter das Finstere ihrer Weltnacht hinab." 126 Aber gleich aus dem nächsten Satz wird deutlich, daß der Wein in Hölderlins Dichtung eine Verwandlung erfährt, indem er im Hinblick auf dasjenige Phänomen gedichtet wird, das Heidegger später als das Ge-viert denken wird: "Denn der Gott der Rebe verwahrt in dieser und in deren Frucht zugleich das wesenhafte Zueinander von Erde und Himmel als der Stätte des Brautfestes fiir Menschen und Götter." 127 Die Rebe ist die von himmlischem Naß bewässerte, erdgewachsene Frucht, die in ihrem "dunklen Licht" 128 Himmel und Erde so versammelt, daß der Ort fiir die Begegnung von Menschen und Göttern aufleuchtet. Solche geschichtliche Begegnung geschieht niemals freischwebend, sondern zwischen Himmel und Erde, d.h. gegründet auf irdischem Boden und offen fiir das Lichte des Himmels. Nur in einer Stätte, die das bodenständig Feste und das offene Lichte zumal in sich versammelt, kann es zu einem Brautfest kommen, und nur in diesem Bereich können daher die Spuren vergangener Feste und deren Götter gefunden werden: "Nur im Bereich dieser Stätte können noch, wenn irgendwo, Spuren der entflohenen Götter fiir die gott-losen Menschen zurückbleiben." 129 In diesem Sinne ist die Antwort zu verstehen, die Hölderlin auf die Frage nach dem "Wozu" der Dichter in dürftiger Zeit in seiner Elegie gibt: "Hölderlin Holzwege, S. 267. Holzwege, S. 267. 127 Holzwege, S. 267. 128 Vgl. Heideggers Anmerkungen hierzu in der Andenken-Vorlesung, die im dritten Kapitel erläutert wurden(§ 13. III.b.). 129 Holzwege, S. 267. 125

126

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antwortet scheu durch den Mund des angesprochenen Dichterfreundes Heinze: »Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,/ Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.«"llo Der Beruf der Dichter besteht also im Hören auf die Spuren zum Göttlichen und im Künden von diesen - auch in der Nacht der Götterlosigkeit. Den Dichtem gilt es, selbst in dieser Nacht noch die Spur zu den Göttern zu bahnen, indem sie die Nacht als heilige Nacht, d.h. in ihrer Bezogenheit auf den Wesenszug des Sichentziehens im Heiligen, erscheinen lassen: "Dichter sind die Sterblichen, die mit Ernst den Weingott singend, die Spur der entflohenen Götter spüren, auf deren Spur bleiben und so den verwandten Sterblichen den Weg spuren zur Wende." 131

a) Das Gefoge vom Heiligen, der Gottheit und des Gottes

Die Spur zum Göttlichen legt Heidegger in den folgenden, äußerst wichtigen Sätzen etwas näher aus bzw. deutet sie zumindestens an: "Der Äther jedoch, worin die Götter allein Götter sind, ist ihre Gottheit." 132 Wir sahen bereits, daß die Götter die geschichtlich einmalig in ihrem Erscheinen genannten "Boten" des Heiligen sind, deren Erscheinen aber von menschlicher Seite her zuerst durch eine gewisse Offenheit ihrem Bereich gegenüber (bzw. gegenüber der Wesensweise des Göttlichen) vorbereitet werden muß. Ohne eine Vorahnung der Wesensweise, wie Götter überhaupt erscheinen können, d.h. ohne eine gewisse Vertrautheit mit der Gottheit, kann es zu keiner geschichtlichen Nennung eines Gottes kommen. Die Gottheit wiederum als der Wesensbereich/ Wesenszug alles Göttlichen (Gott/ Götter) nährt sich aus dem Heiligen und d.h. aus dem "sichentziehenden Sein-Lassen", welches es auf göttliche Weise ins Seiende bringt. Daher muß die so verstandene Gottheit (als das Wesen der Götter) letztendlich immer aus dem urgründigen Wesenszug des Heiligen gedacht werden: "Das Element dieses Äthers, das, worin selbst die Gottheit noch west, ist das Heilige. "'33 Die Spur zu den Göttern ist die Gottheit. Der Gottheit gibt Hölderlin, wie wir sahen, auch den Namen "Äther", um anzuzeigen, daß diese aufs engste mit dem durchlässig-zulassenden Zug des Heiligen verbunden ist, aber hierdurch eben noch nicht eine geschichtlich einmalige Erscheinung des Göttlichen zur Sprache gebracht wird. In dem Äther liegt die Spur zum Gott. Die Spur zum Äther (d.h. zum W esensbereich, "Element" der Gottheit) liegt aber

Holzwege, Holzwege, 132 Holzwege, 133 Holzwege,

llO 131

30 Helling

S. 267f. S. 268. S. 268. S. 268.

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5. Kap.: »Heimkunft/ An die Verwandten« »Wozu Dichter?«

im Heiligen: "Das Element dieses Äther, das, worin selbst die Gottheit noch west, ist das Heilige. "134 Die Spur zu den entflohenen Göttern und damit immer auch die Spur zu einer möglichen Wiederkunft des Göttlichen am Tage des Brautfestes, dem Himmel und Erde eine Stätte versammeln, liegt also im Dichten und in der Besinnung auf das Heilige: "Das Element des Äthers für die Ankunft der entflohenen Götter, das Heilige, ist die Spur der entflohenen Götter."m Nur wer im Sichentziehen der dunklen, götterlosen Nacht das Walten des seinlassenden, urgründigen Waltens des Heiligen vernimmt, das nur abgründig, d.h. nie wie erscheinendes Seiendes, gründet, nur der ist auf dem Weg, die Spur zu den Göttern zu wittern. Im Unscheinbaren, scheinbar bloß Nichtigen, die Weisung des reinsten Urgebens zu vernehmen, bleibt schwer: "Doch wer vermag es, solche Spur zu spüren? Spuren sind oft unscheinbar und immer die Hinterlassenschaft einer kaum geahnten Weisung." 136 Der Dichter aber ist ein solcher, der in seinem Singen bzw. Saitenspiel das Brautfest vorbereiten will, indem er das Heilige ins Wort hebt, d.h., mit dem Nennen des sichentziehenden Seinlassens denjenigen Wesenszug zur Sprache bringt, der den Hinweis auf den Bereich der Gottheit birgt, deren Wesen wiederum vernommen sein muß, damit eine geschichtlich einmalige Erscheinung des Göttlichen (die nie vom Menschen aus bewerkstelligt werden kann), wenn sie erscheint, auch genannt werden kann: "Dichter sein in dürftiger Zeit heißt: singend auf die Spur der entflohenen Götter achten. Darum sagt der Dichter zur Zeit der Weltnacht das Heilige. Deshalb ist die Weltnacht in der Sprache Hölderlins die heilige Nacht." 137 Das Wesen solcher Dichter muß freilich auch erst dichterisch gestiftet werden. Die Aufgabe der Dichter nimmt den Mitmenschen aber nicht jegliche Aufgabe ab. Vielmehr bringt sie eine eigene Aufgabe für diese mit: "Wir anderen müssen auf das Sagen dieser Dichter hören lernen, gesetzt, daß wir uns nicht an der Zeit, die das Sein verbirgt, weil sie es birgt, dadurch vorbeitäuschen, daß wir die Zeit nur aus dem Seienden errechnen, indem wir dieses zergliedern. " 138 Die Zeit, die das Sein verbirgt, ist die Weltnacht der Götterlosigkeit, d.h. vor allem unsere gegenwärtige geschichtliche Epoche. Das Sein ist natürlich nicht getilgt, sondern auf eine Weise ins Seiende geborgen, in der es nicht eigens den in seine Machenschaften verstrickten Menschen mehr aufscheint; es ist vielmehr in den Herkunftsbereich des Entzuges zurückgezogen. Diese Epoche Holzwege, S. 268. Holzwege, S. 268. 136 Holzwege, S. 268. 137 Holzwege, S. 268. 138 Holzwege, S. 268. 134 135

§ 18. Das Heilige und die Gottesthematik in »Wozu Dichter?«

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bringt einerseits die Möglichkeit, auf die Dichter zu hören, die von einer Neuankunft des Göttlichen künden, andererseits bringt sie aber genauso die Möglichkeit, sich nur noch an das Betreiben von Seiendem zu verlieren. Wenn die Entscheidung das letztere bejaht, so bleibt das Sagen der Dichter unerhört, und dadurch ist die Möglichkeit des Brautfestes von menschlicher Seite her schon gründlich unterbunden. In der Tat scheint diese Möglichkeit immer "realistischer" bzw. "wirklicher" zu werden: "Je mehr es in der Weltnacht zur Mittemacht geht, desto ausschließlicher herrscht das Dürftige dergestalt, daß es sein Wesen entzieht. Nicht nur das Heilige geht als die Spur zur Gottheit verloren, sondern sogar die Spuren zu dieser verlorenen Spur sind beinahe ausgelöscht. "139 Eine weitere Formulierung dieses Sachverhalts fmdet sich ein wenig später im Vortrag: "Indessen ist sogar die Spur des Heiligen unkenntlich geworden. Unentschieden bleibt, ob wir das Heilige noch als die Spur zur Gottheit des Göttlichen erfahren, oder ob wir nur noch eine Spur zum Heiligen antreffen. Undeutlich bleibt, was die Spur zur Spur sein könnte. Fraglich bleibt, wie eine solche Spur sich uns zeigen möchte. "140 Im Laufe von Heideggers Abhandlung wird ein Hinweis auf diese Spur gründlich entfaltet, dessen Grundzug wir hier nur ganz kurz andeuten können. Zuvor sei aber noch eine hermeneutische Anmerkung Heideggers zu seiner Auslegungsweise von Dichtung erwähnt. Heidegger betont, daß das philosophische Verständnis Hölderlins "in die Ortschaft [denkt], die sich aus derjenigen Lichtung des Seins bestimmt, die als der Bereich der sich vollendenden abendländischen Metaphysik in ihr Gepräge gelangt ist." 141 Diese Ortschaft ist aber selbst wiederum gemäß dem seinsgeschichtlichen Denken ein Geschick des Seins, und zwar eines besonderer Art: "Aber vielleicht ist diese Offenbarkeit des Seins innerhalb der vollendeten Metaphysik zugleich schon die äußerste Vergessenheit des Seins. Wie aber, wenn diese Vergessenheit das verborgene Wesen der Dürftigkeit des Dürftigen der Zeit wäre?" 142 Das heißt, daß eine denkerische Auseinandersetzung mit Hölderlin seine Dichtung nicht aus seinem philosophischen Selbstverständnis interpretieren darf. Das Denken muß viel eher danach trachten, gerade das denkerisch Ungesagte in dieser Dichtung ans Licht zu bringen: "Aber es wäre und ist die einzige Not, nüchtern denkend im Gesagten seiner Dichtung das Ungesprochene zu erfahren." 143 Hieraus wird erkenntlich, wieso der "wissenschaftlichen" Forschung, die danach strebt, die "Meinung Hölderlins" möglichst authentisch zu rekonstruieren, diese andere Art der Interpretation als ein "gewaltHolzwege, Holzwege, 141 Holzwege, 142 Holzwege, 143 Holzwege, 139 140

30*

S. 268.

S. 271.

S. 269. S. 269. S. 269.

468

5. Kap.: »Heimkunft! An die Vetwandten« »Wozu Dichter?«

samer Akt" erscheinen muß: "Sie [die seinsgeschichtliche Zwiesprache] gilt der literarhistorischen Forschung unvermeidlich als ein unwissenschaftliches Vergewaltigen dessen, was jene für die Tatsachen hält. " 144

Ill. Die Spur zur Spur des Heiligen: Das Heillose als solches erfahren Im folgenden geht Heidegger dazu über, die Frage zu stellen, ob Rilke ein solcher Dichter in dürftiger Zeit ist, dessen ursprünglicher Sinn im Zuge der Auseinandersetzung mit Hölderlins Frage nach seinem "Wozu?" sich zu erhellen begann. Diesen Gedankengang können wir hier natürlich nicht weiter verfolgen. Jedoch muß noch angemerkt werden, daß sich auf diesem Gedankengang die Spur zum Heiligen als das Heile erweist: "Erst im weitesten Umkreis des Heilen vermag Heiliges zu erscheinen. " 145 Bereits im 2. Kapitel sahen wir, daß das Heile ein Wesenszug des Heiligen ist. Aber auch das Heile scheint doch nirgends in der Welt eigens mehr Geschichte-prägend aufzuscheinen! "Das Heile entzieht sich. Die Welt wird heil-los. Dadurch bleibt nicht nur das Heilige als Spur zur Gottheit verborgen, sondern sogar die Spur zum Heiligen, das Heile, scheint ausgelöscht zu sein. "146 Jedoch liegt ein erster Schritt in die Richtung einer Annäherung an das Heile darin, das Heillose als das Heillose zu erfahren und nicht sich über es hinwegzutäuschen (oder an ihm verbittert zu verzweifeln): "Es sei denn, daß noch einige Sterbliche vermögen, das Heillose als das Heillose drohen zu sehen." 147 Das Heillose als das Heillose drohen sehen bedeutet: Offen werden für das Heil. Das Heillose zu verdrängen, oder es fatalistisch hinzunehmen ist eine Weise, ihm zum Opfer zu fallen. Denn das Wesen des Verdrängenden nährt sich aus der ständigen Abkehr des Verdrängten und bleibt daher in all seinem Tun von ihm bestimmt. Die resignierende Hinnahme des Heillosen übergeht das eigene zeitliche Wesen des Daseins, das von sich aus immer noch einen Zeit-Raum für das Ankommen von Heil mitbringt. Die Resignation ist eine sich abriegelnde Vorwegnahme dieses kommenden Zeit-Raumes, d.h. eine Abriegelung von den eigenen W esensmöglichkeiten, die von sich aus einen Bezug zum Heilen bergen könnten (wenn ihnen dazu vom Menschen ein Entfaltungsraum gegeben wäre). Das Heillose als das Heillose erfahren heißt: Es nicht zu

Holzwege, Holzwege, 146 Holzwege, 147 Holzwege,

144 145

S. 270. S. 315. S. 291. S. 291.

§ I 8. Das Heilige und die Gottesthematik in »Wozu Dichter?«

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verleugnen, aber es auch nicht zu verabsolutieren; es heißt einzusehen, daß der Mensch das Unheil nur erfahren kann, weil er wesensmäßig auch in einen Bereich eingelassen ist, der das Privative des Un-heils erfahren läßt. Wo Privation ist, dort waltet aber auch immer schon ein verborgener, verstellter Bezug zu einem ursprünglich Heilen, dessen freies Wesen einer "Beraubung" unterliegt. Das Heillose als Heilloses erfahren heißt natürlich nicht, daß das Heillose damit schon überwunden wäre. Aber ein erster Schritt ist getan, indem der Ankunft des Heils Raum gegeben wird. Dichter, die wie Rilke das Heillose erfahren und es wagen, d.h. ausstehen, sind somit dem Heiligen auf der Spur: "Dichter von der Art jener Wagenderen sind, weil sie das Heillose als ein solches erfahren, unterwegs auf der Spur des Heiligen."148

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Holzwege, S. 315.

6. Kapitel Heideggers Hinweise zum Bezug Mensch-Gott (im Hinblick auf das Heilige): Der Vortrag »... dichterisch wohnet der Mensch...« (1951)

Obwohl das Wort vom "Heiligen" in Heideggers Aufsatz " ...dichterisch wohnet der Mensch... " aus dem Jahre 1951 nicht eigens genannt wird, so wird es doch indirekt angesprochen, und zwar insbesondere im Hinblick auf den Bezug des Menschen zu Gott. Unser Hauptaugenmerk bei der Analyse dieses Vortrages wird darauf gerichtet sein, diesen Bezug zwischen Menschen und Göttlichem zu erhellen und aus den bisher erarbeiteten Grundzügen des Heiligen zu verstehen. Durch die vorangegangenen Analysen haben wir gesehen, daß das Heilige in seinem Geschichtlichwerden die Begegnung von Menschen und Göttern braucht. Daher ist diese Beziehung von äußerster Wichtigkeit für das bessere Verständnis des vollen Wesensgeschehens des Heiligen. Um für diese Untersuchung hinreichend vorbereitet zu sein, muß zuvor aber ein kurzer Überblick über die neuen denkerischen Grundworte, die Heidegger in den fünfziger Jahren einführt, geschaffen werden, wobei es hier immer zu bedenken gilt, welche der uns bereits bekannten Gedanken durch diese neuen Namen eine Vertiefung erfahren.

§ 19. Überblickshafter Einblick in einige Grundgedanken und Grundworte Heideggers in den 50er Jahren und ihre Bedeutsamkeit für das Verständnis des hier untersuchten Vortrages Bereits am Anfang des Vortrages "... dichterisch wohnet der Mensch... " begegnet uns der Verweis auf ein Bezugsgefüge zwischen "Bauen" und "Wohnen": "Vielmehr sagt das Wort: «...dichterisch wohnet der Mensch... »: das Dichten läßt das Wohnen allererst ein Wohnen sein. Dichten ist das eigentliche W ohnenlassen. Allein wodurch gelangen wir zu einer Wohnung? Durch

§ 19. Grundworte Heideggers in den 50er Jahren

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das Bauen. Dichten ist, als Wohnenlassen, ein Bauen."' Die beiden Worte "Wohnen" und "Bauen" wurden von Heidegger in einem früheren Vortrag, nämlich "Bauen Wohnen Denken", zu philosophischen Grundworten erhoben. Einige Grundzüge dieses Gedankenganges gilt es nun zu erarbeiten, um ein besseres Verständnis des Wortes vom dichterisch wohnenden Menschen zu erlangen.

I. Dreizehnter Exkurs: Grundgedanken von Heideggers Vortrag "Bauen Wohnen Denken" (Das Schonen des Gevierts)

Die leitenden Grundfragen des Vortrags "Bauen Wohnen Denken" sind: "1. Was ist das Wohnen? 2. Inwiefern gehört das Bauen in das Wohnen?" 2 Heidegger versucht mit Hilfe eines Winkes der etymologischen Bedeutung von "Bauen" zu zeigen, daß das urspriingliche Bauen schon in einem innigen Bezug zum Wohnen steht.3 Das Bauen (wie das Denken) wird es im Zuge der Beantwortung der zweiten Frage aus dem ursprünglichen Wohnen zu denken gelten. Das Wohnen wiederum, dem sich die erste Frage widmet, wird nicht als eine Tätigkeit des Menschen gefaßt, sondern als der Grundzug seines Seins: "Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen."• Mit anderen Worten, diejenige weltoffene Existenzweise des Menschen, die in Sein und Zeit als das In-der-Welt-sein interpretiert wurde, wird hier als das "Wohnen" gedacht. Das "Wohnen" ist nicht bloß ein neuer Terminus für die menschliche Existenzweise, sondern in ihm wird diese auf vertiefte Weise gedacht. Das bedeutet, daß die Offenständigkeil des Menschen nicht mehr wie in Sein und Zeit als "geworfener Entwurf' gedacht wird, sondern als in seinem Wesen ereigneter Entwurf. Zwar fällt das Wort vom Ereignis nicht eigens in diesem Vortrag, der Ereignisgedanke klingt aber deutlich an, wenn davon die Rede ist, daß das Wohnen ein "Eingefriedetsein" in das "Frye" ist, das jegliches in sein Wesen "schont": "Wohnen, zum Frieden gebracht sein, heißt: eingefriedet bleiben in

1 Vorträge und Aufsätze ((Einzelausgabe, 6. Aufl.) Pfullingen: Günther Neske, 1990), s. 183. 2 Vorträge und Aufsätze, S. 139. 3 Vgl. Vorträge und Aufsätze, S. 140. Daß die Hauptbedeutung von "bauen" in den alten germanischen Sprachen "wohnen" ist, wird auch von der neuesten etymologischen Forschung bestätigt; vgl. hierzu Kluge (Etymologisches Wörterbuch, Berlin: DeGruyter, 231995), s.v. "bauen". 4 Vorträge und Aufsätze, S. 141.

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6. Kap.: Der Vortrag »...dichterisch wohnet der Mensch ... «

das Frye, d.h. in das Freie, das jegliches in sein Wesen schont. Der Grundzug des Wohnens ist dieses Schonen."5 Das Freie ist hier als die sich-ereignende Offenheit zu verstehen, die jegliches in sein eigenes Wesen entläßt bzw. dieses über-eignet. Dieses Übereignen wird als das ursprüngliche "Schonen" gedacht, d.h. nicht nur als ein Verschonen, sondern als der Vollzug des ins Wesengetangen-Lassens und dort "eingefriedet" Sein-Lassens, d.h. in der Ruhe seines Wesens Belassens. Das menschliche Wohnen ist bereits in sein Wesen geschont, und zwar auf eine Weise, in der der Mensch diesen Grundzug des ("Ur-") Schonens selber ins Seiende auszutragen vermag. Sein Wesen ist vom Schonen durchwaltet, d.h. ihm ist zu eigen gegeben, selber als ein Schonendes wesen zu dürfen. Dies besagt natürlich nicht, daß der Mensch seinem Wesen entsprechend leben muß; er kann sich auch auf privative Weisen zu seinem Wesen verhalten. Aber das Wort "Wohnen" nennt nicht einzig das aus dem Ereignis gedachte Menschenwesen als das mit dem Wesensgrundzug des Schonens begabte, sondern es denkt die Offenheit, in die der Mensch eingelassen ist, auch reicher gegliedert als z.B. in Sein und Zeit, indem es die menschliche Existenzweise als eine Weltgegend des Gevierts denkt. Die anderen Weltgegenden sind uns aus den vergangenen Untersuchungen dem Namen nach bereits bekannt: die Erde, der Himmel und der Gott/ die Götter. Zusammen mit den Sterblichen sind sie die vier Weltgegenden, die Heidegger nun in ihrer Einheit in dem Namen das "Ge-viert" nennt. Das "Ge-" Präfix nennt (im Sinne seiner ursprünglichen Bedeutung von "Versammeln") die Einfalt dieser vier Weltgegenden, wobei diese Einfalt natürlich nicht im Sinne einer Verschmelzung, sondern wieder im Sinne einer Viel-Einheit zu denken ist. Das (aus dem Ereignis als übereignetes zu denkende) Wohnen der Sterblichen ist in dieses Ge-viert eingelassen: "Diese ihre Einfalt nennen wir das Geviert. Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen. Der Grundzug des Wohnens aber ist das Schonen. Die Sterblichen wohnen in der Weise, daß sie das Geviert in sein Wesen schonen."6 Dieses Schonen vollzieht' sich in vierfacher Hinsicht', d.h. es bezieht sich sowohl auf die Erde, den Himmel, das Göttliche und auch auf das eigene Wesen der sterblichen Menschen. Die Erde wird geschont, indem sie nicht ausgebeutet, sondern in ihrem tragenden, wachsen-lassenden Wesen in die Hut genommen wird. Der Himmel wird dadurch geschont, daß seine Erscheinung gewahrt wird und die natürlichen Zyklen der Tages- und Jahreszeiten nicht gewaltsam durch technische Hilfsmittel auf beliebige Weise fiir den jeweiligen

Vorträge und Aufsätze, S. 143. Vorträge und Aufsätze, S. 144. 7 Vgl. Vorträge und Aufsätze, S. 144f.

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§ I 9. Grundworte Heideggers in den 50er Jahren

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Bedarf künstlich nachgeahmt werden. Das Schonen der Götter besteht im Erwarten ihrer und im Aushalten ihres Fehls seitens der Sterblichen. Diese wiederum schonen ihr Wesen, wenn sie die Sterblichkeit als Sterblichkeit erfahren, d.h. ihr Leben im Hinblick auf den Tod fiihren. Einer näheren Auslegung der Sterblichkeit werden wir uns in diesem Kapitel noch ausfiihrlicher widmen. Das Schonen des Gevierts vollzieht sich aber nicht gleichsam im "luftleeren Raum" bzw. in "puren Weltgegenden", sondern es vollzieht sich im Aufenthalt bei den Dingen. Das Geviert versammelt sich im Ding; das Ding kommt in sein Wesen aus der Zusammenkunft der Vier, wobei diese Vier im Ding einander begegnen und das Ding ihr Wesen ins Seiende austrägt ("dingt"). Diesem Gedanken werden wir uns noch genauer im Zuge der Besprechung von Heideggers späterer Sprachphilosophie zuwenden. Die Beantwortung der zweiten Hauptfrage dieses Aufsatzes nach der Weise, wie das Bauen in das Wohnen gehört, zeigt anhand einer phänomenologischen Analyse einer Brücke (einem "Bauwerk") auf, wie dieses Ding in ausgezeichneter Weise den ursprünglichen Raum eröffnet. Dies geschieht durch die Stiftung des Ortes, an dem sich das Geviert versammelt. Die uns geläufigen Raumvorstellungen sind Abstraktionen auf dem Boden dieses ursprünglich eröffneten Raumes als Ortsphänomen. Den Einzelheiten dieser Analyse können wir uns hier nicht zuwenden•. Für uns genügt es zu sehen, daß die Dinge (bzw. hier: ein gebautes Ding) den Wohnraum eröffnen, indem sie das Geviert bergen und austragen. Das Bauen vollzieht sich aus dem Wohnen, und zwar so, daß es den Raum fiir das Wohnen eröffnet: "So prägen denn die echten Bauten das Wohnen in sein Wesen und behausen dieses Wesen."9 Das Bauen selber ist kein "Derivat" des W ohnens, sondern eine wesentliche Weise, wie das Wohnen sich einrichtet: "Das Wesen des Bauens ist das Wohnenlassen." 10 Durch das Bauen kommt das Wohnen an den rechten Ort, der ursprüngliches Wohnen zuläßt. Das Bauen ist eine Vollzugsweise der im Wohnen eröffneten Offenheit, und zumal verdankt sich das Wohnen dem Bauen als der wesentlichen Weise, das Geviert ins Ding zu bergen, wodurch der Mensch einen Ort zum ursprünglichen Wohnen empfangen kann. Das, was sich in bezugaufBauen und Wohnen zunächst wie ein (böser) Zirkel ausnimmt, ist also im Sinne des Bergungsgeschehens zu denken. • Ein etwas ausführlicherer Überblick über Heideggers Raumanalyse (auch in Bezug zu seinem Raumdenken in anderen Schriften) findet sich in meinem Aufsatz: "Einführende Darlegung der Geschichte des Raumverständnisses im Denken von Martin Heidegger" Daseinsanalyse 14, I. Heft, S. 25-39. 9 Vorträge und Aufsätze, S. I 53. 10

Vorträge und Aufsätze, S. 154.

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6. Kap.: Der Vortrag »...dichterisch wohnet der Mensch... «

In diesem Sinne gehört auch das Denken in das Wohnen. Es ist eine Vollzugsweise des Wohnens, durch die der ursprüngliche "Wohnraum" allererst erschlossen wird: "Daß jedoch das Denken selbst in demselben Sinn wie das Bauen, nur auf eine andere Weise, in das Wohnen gehört, mag der hier versuchte Denkweg bezeugen."" Der Titel des Vortrages "Bauen Wohnen Denken" erwähnt also mit Bedacht das Wohnen in der Mitte. Sowohl das Bauen als auch das Denken sind Vollzugsweisen des Wohnens (und somit auf das Wohnen als ihren "zentralen" Ausgangspunkt bezogen), durch die das Wohnen wiederum erst in seinen eigentlichen Bereich gelangt. Jedoch dürfen Bauen und Denken nicht diametral entgegengesetzt stehen bleiben, sondern müssen ins Gespräch kommen, damit beide voneinander lernen können, ihr Gemeinsames, das Wohnen, ursprünglicher zu bewahren: "Beide sind aber auch unzulänglich für das Wohnen, solange sie abgesondert das Ihre betreiben, statt aufeinander zu hören."' 2 Wenn Heidegger in den fiinfziger Jahren sein Denken der Weltoffenheit im Sinne des sich im Orte des Dinges versammelnden Gevierts denkt, dann besteht hier aber kein "Bruch" mit dem Ereignisdenken, sondern es muß als eine Entfaltung des Ereignisgedankens verstanden werden. Der Gedanke, daß das Ding Weltoffenheit birgt und austrägt, ist in den Beiträgen in dem Abschnitt über die "Bergung" schon vorgedacht Die Gliederung der Weltoffenheit ist zwar dort noch nicht im Sinne der vier Weltgegenden eigens beim Namen genannt, jedoch fmden sich im "Welt-Erde-Streit" und der "Ent-gegnung" von Menschen und Göttern die vier Weltgegenden schon im Ansatz gedacht vor und sind dort auch bereits aufeinander bezogen (wobei "Welt" nun fiir das Ganze der vier Weltgegenden steht und nicht mehr wie früher der Erde direkt gegenübergestellt wird). Was möglicherweise als eine vertiefende Verwandlung angesehen werden könnte, ist der Gleichursprünglichkeitscharakter der vier Weltgegenden. Im Zuge der Beiträge wurde das "Welt-Erde"-Streitgeschehen innerhalb der Ent-gegnung gedacht, wobei nun der Bezug von Himmel und Erde gleichursprünglich mit dem Bezug der Menschen und Götter im harmonischen Einklang steht. Daß das Geviert als die Entfaltung der vom Urgrund eröffneten Lichtung des Zeit-Raums zu denken ist und nicht etwa das über den Zeit-Raum bisher Gedachte obsolet macht, zeigt sich ausdrücklich in einem Vortrag Heideggers gegen Ende der fiinfziger Jahre, wo es heißt: "Das Selbe, was Raum und Zeit in ihrem Wesen versammelt hält, kann der Zeit-Spiel-Raum heißen. Zeitigendeinräumend be-wegt das Selbige des Zeit-Spiel-Raumes das Gegen-einander-

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Vorträge und Aufsätze, S. 155. Vorträge und Aufsätze, S. 156.

§ 19. Grundworte Heideggers in den 50er Jahren

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über der vier Welt-Gegenden: Erde und Himmel, Gott und Mensch - das Weltspiel." 13 Das Geviert ist also als Entfaltung des Zeit-Raumes zu verstehen, der in das Ereignis gehört. Heideggers "topologisches Denken", in dem das Dasein in seiner ausgezeichneten Bezogenheit auf den Ort (als Versammlung des Gevierts) im Ding gedacht wird, ist somit also eindeutig keine Verabschiedung, sondern eine Weiterftihrung des Ereignis-Gedankens.

II. Das "Wohnen" im Vortrag " ...dichterisch wohnet der Mensch... " Eingangs wurde bereits zitiert, daß Heidegger in diesem Vortrag im "Bauen" das Stiften des ursprünglichen Wohnens erblickt. In diesen wenigen Worten deutete sich schon an, daß das Dichterische allererst den Grund "baut", auf dem das Wohnen der Menschen sich vollzieht. Das Wohnen bezeichnet also auch hier die Existenzweise des Menschen; das Bauen (als das Wohnenlassen) wird hier als das Wesen des Dichterischen gedacht. Diese Bezüge liegen natürlich keineswegs auf der Hand. Daher nennt Heidegger dieses Geftige bei seiner ersten Erwähnung auch eine "Zumutung", d.h. etwas, das dem gewöhnlichen Meinen absurd erscheint, der wesentlichen Besinnung jedoch Wesenhaftes zumutet: "So stehen wir vor einer doppelten Zumutung: einmal das, was man die Existenz des Menschen nennt, aus dem Wesen des Wohnens zu denken; zum anderen das Wesen des Dichtens als Wohnenlassen, als ein, vielleicht sogar als das ausgezeichnete Bauen zu denken. "14 Im Lichte unserer Vergegenwärtigung von Heideggers Ausftihrungen zu dieser Sache in dem Vortrag "Bauen Wohnen Denken" mildert sich natürlich das scheinbar "Anstößige" dieser Zumutung. Wir können die eingangs zitierte Textpassage nun so erläutern: Das dichterische Bauen ist eine Grundvollzugsweise des menschlichen Existierens. Dichterisch wird diese Existenz vollzogen, wenn ein Mensch die in seinem Wesen angelegte Weltoffenheit eigens erfährt, und zwar in ihrer Bezogenheit auf seine eigene Sterblichkeit, die Götter, den Himmel und die Erde. Diese Weltgegenden jedoch sind keine statischen Gebiete, die einander nichts angehen, sondern sie sind bezogen aufeinander im Ding, welches das Wesen des Gevierts austrägt. Das Ding wiederum stiftet den Ort im Seienden, an dem die Menschen wohnen können. Wenn das Ding rein in seinem Geviert-austragenden Wesen gedichtet wird, dann zeigt sich der Ort des menschlichen Wohnens als ein ausgezeichneter.

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Unterwegs zur Sprache (Pfu1lingen: Günther Neske, 91990), S. 214. Vorträge und Aufsätze, S. 183.

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6. Kap.: Der Vortrag »...dichterisch wohnet der Mensch ... «

Darin liegt aber auch, daß jegliches menschliche Wohnen, selbst das vernutzteste, in Bezug zum Geviert steht, wobei dieser Bezug eben nicht mehr ins Scheinen gelangt. Dort wird das Wohnen zu einem un-dichterischen (im privativen Sinne). Es steht auf dem Boden eines nicht mehr vernehmbaren dichterischen Grundes. Das Dichten vollzieht das Wohnen, die menschliche Existenz, in stiftender Weise. Durch das Dichten kann der Mensch in der eigentlichen Würde seines Wesens zu wohnen beginnen, auf sie aufmerksam werden. Denn obwohl die Wesenswürde ihm mitgegeben ist, so ist sie doch niemals bloße statisch-possessive "Anlage", sondern geschieht augenblicklich, je immer neu als der Empfang des Zuspruchs des eigenen Seins aus dem Ereignis. Das Bauen vollzieht sich als eigentlich-werdendes Wohnen, vollzieht sich als Grundlegung der eigentlichen Wohnräume fiir die Mitmenschen. Wie oben bereits erwähnt, gilt es noch genauer zu klären, wie sich der Austrag des Gevierts im Ding vollzieht. Dieser Austrag ist wesentlich vom Wesen der Sprache mitbestimmt, das ebenfalls im Vortrag ".... dichterisch wohnet der Mensch... " anklingt. Denn die Kunde von dem Wesensgefiige "BauenWohnen" kommt uns zunächst aus Hölderlins Wort entgegen. Aber Hölderlin ist nicht der "Erfmder" ("Hersteller") dieses Wortes. Wir sahen bereits durchgehend, daß der ursprüngliche Dichter sein Zu-Sagendes aus einem Zuspruch empfängt. Im Lichte der Ereignisstruktur wiesen wir immer wieder darauf hin, daß der Zuspruch aus dem ereignenden Zuwurf zu denken ist. Dieser wird hier vor allem in den fiinfziger Jahren in seinem sprachlichen Wesenszug gedacht. Der Zuspruch bzw. Anspruch, der im ereignenden Zuwurf an den Menschen ergeht, ist zumal der Anspruch der Sprache: "Der Mensch kann diesen Anspruch nur dorther nehmen, von woher er ihn empfängt. Er empfängt ihn aus dem Zuspruch der Sprache." 15 Das dichterische Wort hat seine Herkunft aus diesem Anspruch. Sein verlautbarendes "Aussprechen" dieses Anspruches ist das Entsprechen: "Denn eigentlich spricht die Sprache. Der Mensch spricht erst und nur, insofern er der Sprache entspricht, indem er auf ihren Zuspruch hört. "16 Wir sahen bereits, daß sogar schon in Sein und Zeit die Sprache (dort: die "Rede") als die grundlegende Gliederung sowohl in den weltlichen Phänomenen als auch in den Existenzialen gedacht wurde; weiter sahen wir, wie auch in den Beiträgen der sprachliche Charakter des Ereignisses anklingt. Zur vollen Entfaltung des Sprachcharakters des Ereignisses kommt es jedoch - sofern dies nicht bereits in den noch unveröffentlichten Hauptwerken nach den Beiträgen schon geschah - erst in den Vorträgen, die Heidegger am Anfang der fiinfziger

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Vorträge und Aufsätze, S. 183. Vorträge und Aufsätze, S. 184.

§ 19. Grundworte Heideggers in den 50er Jahren

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Jahre hielt. Um einen groben Einblick in dieses Sprachdenken zu gewinnen, wenden wir uns kurz dem Vortrag "Die Sprache" zu, den Heidegger 1950 hielt.

111. Vierzehnter Exkurs: Heideggers ereignishartes Sprachdenken in den 50er Jahren (in den Grundzügen erläutert anband des Aufsatzes "Die Sprache") In dem Aufsatz "Die Sprache" interpretiert Heidegger Trakls Gedicht "Ein Winterabend". Das Wesen der Sprache wird hier als das "Geläut der Stille" gedacht. Um diese Wesensbestimmung zu verstehen, müssen wir ein wenig den Grundgedanken dieses Vortrages nachzeichnen.

a) Die Innigkeit von Geviert und Ding Bedacht wird zunächst der Bezug von Welt und Ding, wobei die Welt hier im Sinne des Gevierts gedacht wird, also als konstituiert durch die vier Weltgegenden des Himmels und der Erde, der Götter und Menschen. Der Unterschied von der seinsmäßigen Gelichtetheit von Welt und Ding wurde bereits in Sein und Zeit im Sinne der "ontologischen Differenz" erstmalig gefaßt. Die Welt als die Ganzheit der Bedeutungsmannigfaltigkeit, deren Gelichtetheit durch das befmdlich-verstehend-besorgende Dasein eröffnet und offen gehalten wird, stand dort in einem fundierenden Verhältnis zum Entdecken des innerweltlich Seienden. Genauer gesagt wurde die weltmäßige Lichtung als die Bedingung der Möglichkeit fiir das Erscheinen von Dingen (vor allem dem Zeug) interpretiert. Mit dem ereignisgeschichtlichen Gedanken der Bergung jedoch bahnt sich ein vertieftes Verständnis des Bezuges von Lichtung und Ding an, in dem die Dinge nicht das lediglich "Ermöglichte" sind, sondern in dem die Dinge das sich-lichtende Ereignis bergen und auf verschiedene Weisen hervorscheinen lassen. Dieses ereignisgeschichtlich gefaßte Verhältnis von gevierthaft-eröffnender Welt und bergend-hervorscheinenlassendem Ding wird in dem Vortrag "Die Sprache" durch das "Gönnen von Dingen" bzw. das "Gebärden von Welt" gefaßt. Die Welt eröffnet (gönnt) den Freiraum fiir das Anwesen der Dinge, die Dinge wiederum nehmen diesen Freiraum so ein, daß sie das gönnerhafte W esen von Welt durch ihr Sein gebärden, d.h. im Seienden austragen bzw. hervorscheinen lassen. Jedoch ist dieser Bezug nicht das Letzte, sondern dieses wechselwendige Wesensgönnen verdankt sich einem Geschehen, das dieses Verhältnis allererst freigibt. Dieses Geschehen wird in dem Vortrag der "Unter-

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6. Kap.: Der Vortrag »... dichterisch wohnet der Mensch... «

Schied" genannt. Dem Namen nach könnte man meinen, es sei eine bloße Übersetzung des aus dem Lateinischen stammenden Wortes "Differenz" (im Sinne der "ontologischen Differenz") ins Deutsche. Jedoch birgt dieses Wort die Vertiefung bzw. Verwandlung der "ontologischen Differenz" in das ereignisgeschichtliche Denken. Denn wurde im fundamental-ontologischen Ansatz der Seinsfrage aus Sein und Zeit besonders das Differente dieser Differenz hervorgehoben, so zielt das Wort "Unter-Schied" wesensmäßig auch darauf ab, das Geschehen aufzuzeigen, das einend unter dem Geschiedenen waltet bzw. das dem Geschiedenen die Einheit seiner Herkunft gibt. Diese Einheit ist die Innigkeit von Welt und Ding, das Einbehaltenbleiben des Geschiedenen im seihen Grundgeschehen. Diese Innigkeit ist natürlich keine verschmelzende Einheit. Ausdrücklich heißt es bei Heidegger: "Die Innigkeit von Welt und Ding ist keine Verschmelzung. "11 Der freigebende Grundzug des Unterschiedes gewährt Welt und Ding ihr jeweils Eigenes, aus dem sie aufeinander bezogen bleiben und in dem, was unter dem Schied waltet, dem ereignishaften Urgrund nämlich, einbehalten bleiben. In dem übereignenden Grundzug ist der transitive Sinn des Ereignisses im Sinne des ereignenden Zuwurfs angesprochen: "Der Unter-Schied für Welt und Ding ereignet Dinge in das Gebärden von Welt, ereignet Welt in das Gönnen von Dingen." 18 Durch das mehrmals kursiv gedruckte Wort "ereignet" wird eindeutig an die Sprache der Beiträge angeknüpft. Auch darin, daß Heidegger den Unter-Schied als Unter-Schied.fiir Welt und Ding (und nicht etwa "von") erläutert, zeigt sich die innige Bezogenheit des Ereignisses zu dem in die jeweilige Geschiedenheit Entlassenen, eine Bezogenheit, die nicht im Sinne einer "Bedingung der Möglichkeit" gefaßt werden kann. Das Ding ist geborgenes Ereignis. Die Bezogenheit des Unter-Schiedes zum Unterschiedenen ist eine gewährend-freigebende. Der Unter-Schied gewährt das Eigene des Unterschiedenen im Sinne seines verbal verstandenen Wesens. Das Ding "dingt", d.h. vollzieht sein Eigenwesen als Gebärden von Welt, die Welt "weitet", d.h. vollzieht ihr Eigenwesen als Gönnen der Dinge: "Der Unter-Schied läßt das Dingen des Dinges im Welten der Welt beruhen. Der Unter-Schied enteignet das Ding in die Ruhe des Gevierts. Solches Enteignen raubt dem Ding nichts. Es enthebt das Ding erst in sein Eigenes: daß es Welt verweilt." 19 Dieser transitivübereignende Zug des Ereignisses erschöpft freilich noch nicht den Sinn des vollen Ereignisgeschehens, bei dem noch das Moment des Sichentziehens in

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Unterwegs zur Sprache, S. 24. Unterwegs zur Sprache, S. 25. Unterwegs zur Sprache, S. 29.

§ 19. Grundworte Heideggers in den 50er Jahren

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jeglichem Übereignen bedacht werden müßte (der ereignete Entwurf hingegen ist hier insofern schon implizit mitgedacht, als im Übereignen von Welt in ihr Eigenes mit der Weltgegend der Sterblichen der Mensch als ereigneter Entwurf mitgenannt sein muß).

b) Das Geläut der Stille Der Unter·Schied läßt Ding und Welt in ihrem bezugsverbundenen Eigenwesen beruhen. Dieses Beruhenlassen wird als "Stillen" gefaßt. Hier beginnt sich nun der Sinn der Rede vom "Geläut der Stille" erstmals zu erhellen: "In die Ruhe bergen ist das Stillen. Der Unter-Schied stillt das Ding als Ding in die Welt. "20 Das Stillen ist also eine Vollzugsweise, in der das Unterschiedene sein jeweiliges Eigenwesen vom Unter-Schied empfangt. Gemäß den zwei Weisen des hier Unterschiedenen (Welt und Ding) stillt der Unter-Schied zwiefach: "Er stillt, indem er die Dinge in der Gunst von Welt beruhen läßt. Er stillt, indem er die Welt im Ding sich begnügen läßt. In dem zwiefachen Stillen des UnterSchiedes ereignet sich: die Stille. "21 Die Stille ist ein lautloses Entspringenlassen. Sie ist keineswegs nur das Lautlose. Das Entspringenlassen behält das Entsprungene aber in der Innigkeit und somit, zurnindestens wesensmäßig, in der Ruhe, die jedoch nicht statisch, sondern als das ereignishafte, augenblickshafte, je immer neue Empfangen der Innigkeit aus dem Unter-Schied zu verstehen ist: "Als das Stillen der Stille ist die Ruhe, streng gedacht, stets bewegter denn alle Bewegung und immer regsamer als jede Regung." 22 Jede Regung von Seiendem ist nur möglich, weil es im Innersten seines Eigenwesens in die Ruhe der Innigkeit gestillt ist, aus der es aufureigenste Weise sich bewegen kann. Dieses Anwesenlassen des Unterschiedenen in seinem jeweiligen Sein, das dennoch in der Innigkeit gesammelt bleibt, nennt Heidegger nun das "Rufen" bzw. "Heißen". Der Unter-Schied läßt den Schied sein, indem er Welt und Ding in ihr Eigenwesen ruft (heißt). "Das versammelnde Rufen ist das Läuten. "23 Das "Läuten" ist also der Name für den versammelnden Wesenszug des UnterSchiedes, der Welt und Ding in ihr Eigenwesen ruft und diese dennoch nicht abgekapselt-monadisch, sondern versammelt sein läßt: "Das bei sich versammelte Rufen, das im Rufen zu sich sammelt, ist das Läuten als das Geläut. "24

Unterwegs zur Sprache, Unterwegs zur Sprache, 22 Unterwegs zur Sprache, 23 Unterwegs zur Sprache, 24 Unterwegs zur Sprache, 20

21

S. 29. S. 29. S. 29. S. 29. S. 30.

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6. Kap.: Der Vortrag »...dichterisch wohnet der Mensch... «

Die sprachliche "Verfaßtheit" des Ereignisses bzw. sein sprachlicher "Grundzug" besteht darin, daß das Wesen der Sprache, das Geläut der Stille, die ereignishafte Wesensweise des Unter-Schiedes bestimmt. Das Sprechen der Sprache besteht im ursprünglichen Rufen des Unter-Schiedes im Sinne des Geläuts der Stille: "Die Sprache spricht, indem das Geheiß des Unter-Schiedes Welt und Dinge in die Einfalt ihrer Innigkeit ruft. Die Sprache spricht als das Geläut der Stille." 25 Die Stille im "Geläut der Stille" besagt nicht nur die Lautlosigkeit, mit der der Schied von Welt und Ding eröffnet wird; die Lautlosigkeit wird auch schon allein vom "Läuten" angesprochen, da Heidegger dieses terminologisch vom lauthaften "Lauten" ausdrücklich abhebt. Daß die "Stille stillt", besagt vielmehr: Sie gibt Welt und Ding frei, läßt sie in ihrem Eigenen beruhen, und zwar in der Weise, daß sie gesammelt als Verschiedene in die Innigkeit gerufen bleiben. So spricht die Sprache. Des Menschen Sprechen ist das Ent-sprechen: "Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. "26 Das tut er nun, ob er eigens darauf achtet oder nicht. In diesem Sinne spricht der Mensch immer und in allem, was er tut. Daher kann Heidegger am Anfang des Vortrages sagen: Der Mensch spricht. Wir sprechen im Wachen und im Traum. Wir sprechen stets; auch dann, wenn wir kein Wort verlauten lassen, sondern nur zuhören oder lesen, sogar dann, wenn wir weder eigens zuhören noch lesen, stattdessen einer Arbeit nachgehen oder in der Muße aufgehen. Wir sprechen ständig in irgendeiner Weise.27

Der Mensch spricht immer, weil sein Sein bereits im Ruf des Sprechens der Sprache steht; aber natürlich entspricht er nicht immer (und wohl sehr selten) eigentlich. Der Ruf der Sprache im Sinne des Geläuts der Stille, d.h. als lautloser Anspruch, der uns in die Würde unseres Wesens hebt, wird nur sehr selten rein als solcher vernommen. Das Phänomen, das wir gewöhnlich als "Sprechen" bezeichnen, nämlich das worthafte Verlautbaren, ist somit nur eine Weise des Entsprechens. Diesem Sprechen liegt immer zuvor schon ein Hören zugrunde (d.h. ein Vernehmen des Zuspruches (auf eigentliche oder uneigentliche Weise), dem der Mensch wesensmäßig zugehört): "Das Entsprechen ist Hören. Es hört, insofern es dem Geheiß der Stille gehört."28 Im Wort kommt das Rufen der im Geläut der Stille entspringenden Phänomene zur Vollendung; ihrem lautlosen Rufen wird im verlautenden Wort entsprochen. Das menschlich gesprochene Wort birgt den Ruf der Sprache ins Seiende. So erscheint das Anwesende als Anwesendes; 25 26 21 28

Unterwegs zur Sprache. S. 30. Unterwegs zur Sprache, S. 33. Unterwegs zur Sprache, S. 11 . Unterwegs zur Sprache, S. 33.

§ 19. Grundworte Heideggers in den 50er Jahren

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durch dieses Sprechen geschieht die Lichtung des Seins. So kann es auch mitgeteilt werden und be-, bzw. gewahrt werden. So kann es aber auch verwesen; das Sprechen kann als die Urdichtung (Urstiftung) des Seins zum alltäglichen Gebrauchsgegenstand vernutzt werden. Auch in solchem Sprechen waltet ein Entsprechen, aber ein vernutztes, seinsvergessenes, verwelkendes, vergehendes, absterbendes. In solchem Sprechen scheint das menschliche Sprechen nicht mehr als das "Dem-Anspruch-des-Sprechens-der-Sprache"-Entsprechen auf. Hieraus erhellt sich aber auch die oben bereits angesprochene Würde des Menschen: Ohne ihn kommt der lautlose Ruf, der in den Phänomenen waltet, insofern sie vom Geläut der Stille durchwaltet sind, nicht ins worthafte Scheinen; ohne ihn wird dem lautlosen Zuspruch nicht im Seienden Stimme verliehen, wird ihm nicht entsprochen. Gleichursprünglich wie der Mensch vom Sein als die Lichtung des Anwesens gebraucht ist, so ist er vom Geläut der Stille (als dem sprachlichen Wesenszug des Ereignisses) gebraucht: Das so Ereignete, das Menschenwesen, ist durch die Sprache in sein Eigenes gebracht, daß es dem Wesen der Sprache, dem Geläut der Stille, übereignet bleibt. Solches Ereignen ereignet sich, insofern das Wesen der Sprache, das Geläut der Stille, das Sprechen der Sterblichen braucht, um als Geläut der Stille für das Hören der Sterblichen zu verlauten. 29

Die Herkunft des Lauthaften im menschlichen Sprechen wird in diesem Vortrag lediglich in Form einer Frage angesprochen: "Wie gelangt die Stille als die gebrochene in das Lauten des Wortes?" 30 Erst ein späterer Vortrag Heideggers31 bringt hierauf eine Antwort: Das Lauthafte des menschlichen Wortes rührt aus dem erdhaften Aufgehen des menschlichen Wortes, d.h. rührt aus der Zugehörigkeit des Menschen zur Weltgegend der Erde, die das Existieren des Menschen in seiner Leibhaftigkeif und dadurch auch als ein tönendes eröffnet. Etwas ausführlicher heißt das: Im Wort lichtet sich das Anwesen als Anwesen. Es wird ins Seiende geborgen, weil das Wort durch den Laut seienden Charakter annimmt. Der Laut aber ist das Tönen des Erdhaften, des Erdverbundenen im Menschen. Der Mensch verdankt sein lautendes Sprechen der Erde. Die Erde birgt das Dasein, insofern sie es leibhaftig aufblühen läßt. Als leibhaftiges Wesen ist das Dasein ins Seiende geborgen und vermag das Seinsverständnis, das seinem Wesen eigen ist, dadurch ins Seiende Iauthaft zu bergen. Unterwegs zur Sprache, S. 30. Unterwegs zur Sprache, S. 319. 31 "Das Wesen der Sprache", Unterwegs zur Sprache, S. 157-216; vgl. auch den Kommentar zu diesem Aufsatz von F.W. v. Herrmann, Wege ins Ereignis (Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1994), S. 246-263. 29

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31 Helling

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6. Kap.: Der Vortrag »...dichterisch wohnet der Mensch... «

IV. Hölderlins Wort vom "dichterisch wohnenden" Menschen im Lichte der Exkurse

Die vorangegangenen Ausführungen waren notwendig, um die äußerst dichten Bemerkungen am Anfang dieses Vortrages zu Hölderlins Wort vom dichterisch wohnenden Menschen besser verstehen zu können. Wir sahen bereits, daß Heidegger dem "Wohnen" einen philosophisch prägnanten Sinn beimißt, indem er es als die Existenzweise des Menschen faßt. Daraufhörten wir, daß uns die Kunde von dem Wesen einer Sache (bzw. hier des "Wohnens") durch die Sprache (bzw. hier vor allem die dichterische Sprache) zuteil wird. Der Exkurs in Heideggers spätere Sprachphilosophie war unurngehbar, um die folgenden, knappen Sätze angemessen auslegen zu können, die Heidegger bezüglich der Sprache schreibt: Denn eigentlich spricht die Sprache. Der Mens>39

I. Die Dimension (der Zeit-Raum des Heiligen) und der in ihr eröffnete Bezug der Sterblichen zu den Göttern Gleich die ersten Zeilen des soeben zitierten Gedichtes weisen darauf hin, daß es dem Menschen gegeben ist, von seinen alltäglichen Beschäftigungen "aufzuschauen", d.h. einen Bezug wahrzunehmen, der nicht unmittelbar im alltäglichen Betreiben sich erschöpft. Diesen Bezug interpretiert Heidegger hier 39

Hölderlin zitiert von Heidegger in: Vorträge und Aufsätze, S. 188.

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als den Bezug zu den Himmlischen: "Aber dem Menschen ist zugleich verstattet, in diesem Bezirk, aus ihm her, durch ihn hindurch zu den Himmlischen aufzuschauen. "40 In diesem Aufschauen bleibt der Mensch jedoch auf der Erde; erdverwurzelt durchmißt er dennoch im Aufschauen den Bereich, die Offenheit, in die er wesensmäßig so eingelassen ist, daß er sie als solche vernehmen kann. Sein Wesen ist eingelassen in die Offenheit des Zwischen von Himmel und Erde (es kommt nicht wie anderes Seiendes nur in dieser "auch vor"): "Das Aufschauen durchmißt das Zwischen von Himmel und Erde. Dieses Zwischen ist dem Wohnen des Menschen zugemessen. Wir nennenjetzt die zugemessene Durchmessung, durch die das Zwischen von Himmel und Erde offen ist, die Dimension."•• Das menschliche Existieren als das Wohnen ist also in einen Bereich eingelassen, der hier als "Dimension" angesprochen ist. Zur näheren Charakterisierung dieser Dimension fiigt Heidegger gleich hinzu, daß sie nicht etwa eine Folge der Bezogenheit von Himmel und Erde sei, sondern vielmehr dieser Bezug in der Dimension beruht: "Sie [die Dimension] entsteht nicht dadurch, daß Himmel und Erde einander zugekehrt sind. Die Zukehr beruht vielmehr ihrerseits in der Dimension. "42 Im Lichte unserer Interpretation legt sich nahe, daß mit dieser Dimension das Heilige zumindestens (mit-) angesprochen ist, und zwar insofern es den Zeit-Raum ursprünglich freigibt, der sich wiederum in die verschiedenen Wesensbereiche des Gevierts gliedert. Die eigentümliche Räumlichkeit der hier genannten Dimension wird sogleich von Heidegger im Sinne einer negativen Abgrenzung von der gewöhnlichen Raumvorstellung angesprochen: "Diese [Dimension] ist auch keine Erstreckung des gewöhnlich vorgestellten Raumes; denn alles Raumhafte bedarf als Eingeräumtes seinerseits schon der Dimension, d.h. dessen, worein es eingelassen wird. "43 Die ursprüngliche Räumlichkeit (sowie die Zeitlichkeit), die wir im Zuge der Auslegung des Zeit-Raums uns vergegenwärtigten, wird hier nicht näher erläutert und im Bezug auf das Heilige erörtert. Das Wesen der Dimension zeigt sich hier lediglich als die Gegebenheit des "Zwischen" von Himmel und Erde, in das der Mensch eingelassen ist: "Das Wesen der Dimension ist die gelichtete und so durchmeßbare Zumessung des Zwischen: des Hinauf zum Himmel als des Herab zur Erde." 44 Die "Dimension" wird von Heidegger in diesem Vortrag ausdriicklich ohne eigentlichen Namen gelassen: "Wir lassen das Wesen der Dimension ohne Namen."45

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Vorträge und Aufsätze, S. 188f. Vorträge und Aufsätze, S. 189. Vorträge und Aufsätze, S. 189. Vorträge und Aufsätze, S. 189. Vorträge und Aufsätze, S. 189. Vorträge und Aufsätze, S. 189.

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Diese Anonymität rührt aber nicht etwa daher, daß das Phänomen des aus dem ereignishaften Walten des Heiligen abgründig gegründeten Zeit-Raums unwichtig geworden wäre, sondern vielmehr daraus, daß in dieser Untersuchung etwas anderes im thematischen Vordergrund steht, nämlich die Weise, wie der Mensch in dieser Dimension wohnt, und zwar in seiner Bezogenheit zum Göttlichen. Dieser Bezug wiederum ist nur auf dem "Hintergrund" der "Dimension" zu verstehen, weil seine Bezogenheit zum Göttlichen ihn gerade letztendlich in das Wesen dieser Dimension, der er selbst zugehörig ist, einweist: "Nach den Worten Hölderlins durchmißt der Mensch die Dimension, indem er sich an den Himmlischen mißt. Dieses Durchmessen unternimmt der Mensch nicht gelegentlich, sondern in solchem Durchmessen ist der Mensch überhaupt erst Mensch."46 Das Wesen des Menschen besteht in seinem Je-immer-schoneingelassen-sein in die Dimension, welche ihm aber erst durch sein Bezogensein zum Göttlichen als solche in dieser Tragweite eigentlich aufzuscheinen beginnt. Wir sahen bereits, daß mit dem Nennen des Heiligen, das sich in Hölderlins Feiertag-Hymne vollzieht, noch nicht der Schritt vollzogen wurde, dem Heiligen auf Erden eine Geschichte zu gründen. Die Auslegungen von "Andenken" und dem "lster" erwiesen eindringlich, daß hierzu eine geschichtliche Begegnung der Menschen mit dem Göttlichen (das Brautfest) notwendig ist. Heideggers Gedanken zum Heiligen knüpfen also in den fünfziger Jahren bruchlos an das vorher bereits Gedachte an und sind als eine weitere Entfaltung dieses zu verstehen. Heidegger wendet sich nun der Frage zu, wie sich dieses Durchmessen vollzieht bzw. was denn hier mit "Messen" überhaupt gemeint sein kann. Da dieses Messen einen Bereich durchmißt, der "vor" den regionalen Seinsbereichen Himmel und Erde waltet, kann damit natürlich keine der vermessenden, positiven Wissenschaften gemeint sein (wie etwa Geometrie oder Astronomie): "Die Vermessung ist keine Wissenschaft. "41 Obwohl dieses Messen also nicht vom Maßstab der Naturwissenschaften her betrachtet werden kann, so fehlt ihm doch keineswegs jegliches Maß: "Dieses Vermessen hat sein eigenes ~ETpov und deshalb seine eigene Metrik."41 Der Mensch durchmißt also den Zwischenbereich, weil sein (dichterisches) Wohnen ursprünglich auf ein Maß bezogen ist. Das Dichten als eine bzw. für Heidegger in Anschluß an Hölderlin hier die ursprüngliche Weise des Wohnens ist ein solches maßbezogenes Messen. Die Bedeutung des Maßes fiir das Messen hebt Heidegger durch eine stringente

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Vorträge und Aufsätze, S. 189. Vorträge und Aufsätze, S. 189. Vorträge und Aufsätze, S. 190.

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phänomenologische Bemerkung zum "Grundakt des Messens" hervor: "Er [der Grundakt] besteht darin, daß überhaupt erst das Maß genommen wird, womit jeweils zu messen ist. "49 Das Dichten ist in seinem wesenserschließenden Vollzug Maß-Nahme: "Das Dichten ist die im strengen Sinne des Wortes verstandene Maß-Nahme, durch die der Mensch erst das Maß fiir die Weite seines Wesens empfangt. "so Die scheinbar phantastische Weite des Menschenwesens, die in der Dichtung zur Sprache kommt, ist gerade keine geniale Einbildung, sondern stammt aus dem Hören auf den Zuspruch, durch den dem Menschen sein Wesen zuteil wird. Dieses Wesen spricht sich in demjenigen Namen fiir den Menschen am klarsten aus, zu dem Heidegger vor allem durch seine Auseinandersetzung mit der Dichtung Hölderlins gelangte: die Sterblichen. Während unseren ganzen bisherigen Untersuchungen machten wir schon Gebrauch von diesem Wort, ohne ihm eine eigene Besinnung zu widmen. Jetzt wird diese aber unumgänglich. Die knappen Worte zu diesem Namen im vorliegenden Vortrag lauten: "Der Mensch west als der Sterbliche. So heißt er, weil er sterben kann. Sterbenkönnen heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt - und zwar fortwährend, solange er auf dieser Erde weilt, solange er wohnt. "SI Um den vollen Gehalt dieser Worte auch nur ein wenig erläutern zu können, wird ein Rückgang auf Sein und Zeit notwendig, wo grundlegende Gedanken zur Sterblichkeit erbracht wurden, die im späteren Denken Heideggers verwandelt immer noch mitschwingen.

II. Fünfzehnter Exkurs: Das Sterblichsein in Sein und Zeit: Vorlaufen zum Tode Im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit wird, wie wir bereits sahen, das ursprüngliche Sein des Menschen durch den Aufweis der ursprünglichen Zeitlichkeit interpretiert. Bis jetzt von uns übergangen wurde der Weg, den Heidegger einschlägt, um von dem Aufweis der primär uneigentlichen Existenzweise im ersten Abschnitt zur eigentlichen Existenzweise zu kommen, in welcher sich die Zeitlichkeitsstruktur eigentlich enthüllt. Dazu muß das Dasein in den Blick genommen werden, nicht insofern es zerstreut in der Alltäglichkeit aufgeht, sondern in der Weise, wie es sich in seiner Ganzheit, d.h. seiner ganzen Wesensspannweite, zeigt. Diese Ganzheit kommt entwurfsmäßig rein ins

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Vorträge und Aufsätze, S. 190. Vorträge und Aufsätze, S. 190. Vorträge und Aufsätze, S. 190.

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Scheinen, wenn die äußerste Grenze (bzw. das Ende) des In-der-Welt-seins, der Tod, erörtert wird. Dieser ist natürlich kein innerweltliches Ding, sondern er muß existenzial, d.h. in bezug auf die Seinsweise des Daseins, gefaßt werden.l2 Der existenziale Todesbegriff bildet sich aus einer existenzialen Interpretation des existenziell-daseinsmäßigen Seins zum Tode: "Daseinsmäßig aber ist der Tod nur in einem existenziellen Sein zum Tode. Die existenziale Struktur dieses Seins erweist sich als die ontologische Verfassung des Ganzseinkönnens des Daseins. "53 In unserem Zusammenhang gilt es vor allem, Heideggers existenzialen Entwurf eines möglichen "eigentlichen Seins zum Tode" zu skizzieren, damit wir sehen können, wie diese Strukturen in das spätere Denken aufgenommen sind, sofern dieses von den Menschen als den Sterblichen, d.h. denjenigen, die den Tod als Tod vermögen, spricht. Das heißt, daß wir Heideggers Ausruhrungen zum alltäglichen Sein zum Tode hier thematisch abblenden können, um uns gleich der entscheidenden Analyse des § 53 von Sein und Zeit zu widmen, die den Titel trägt: "Existenzialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode. "54 Hier wird der vorher erarbeitete existenziale Todesbegriff in Bezug zum eigentlichen Sein zum Tode des Daseins gebracht, d.h. hier wird auf fundamental-ontologischer Ebene untersucht, wie der Mensch den Tod als Tod "vermag": "Der existenziale Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode muß daher die Momente eines solchen Seins herausstellen, die es als Verstehen des Todes im Sinne des nichtflüchtigen und nichtverdeckenden Seins zu der gekennzeichneten Möglichkeit konstituieren. "55 Die vorhergegangene existenziale Charakterisierung des Todes werden wir uns im Zuge der Aufbereitung von Heideggers Analyse des Seins zum Tode schrittweise vergegenwärtigen. Diese "Möglichkeit" des Todes ist unter anderem dadurch in einem ausgezeichneten Sinne gekennzeichnet, daß sie sich nicht auf die Weise verwirklichen läßt, wie wir es aus dem innerweltlich Seienden gewohnt sind. Im "Verwirklichen" von Möglichkeiten des Seienden wird der spezifische Möglichkeitscharakter gleichsam zugunsten des Wirklichkeitscharakters getilgt bzw. "vernichtet", und dasselbe Dasein steht nun in einem anderen Bezug zu dem verwirklichten Seienden, welches jedoch nunmehr andere Möglichkeiten in dem Bewandtniszusammenhang der Welt aufweist: "Es [das Zeug] bleibt, 52 Damit sagt Heidegger auch, daß der in Sein und Zeit behandelte Tod ein menschliches Phänomen ist und nichts über das Verenden von Tieren oder Pflanzen positiv auszusagen vermag. 53 Sein und Zeit (Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 161986), S. 234. 54 Sein und Zeit, S. 260. 55 Sein und Zeit, S. 260.

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wenngleich verwirklicht, als Wirkliches ein Mögliches fiir ..., charakterisiert durch ein Um-zu." 56 Auf solche Weise kann der Tod natürlich niemals verwirklicht werden, da er gerade das Dasein aus all seinen weltlichen Bewandtniszusammenhängen endgültig herausreißt und ihm keine weiteren "um-zu" Möglichkeiten mehr offenhält Auch das Denken an die Möglichkeit des Todes im Sinne des Nachdenkens darüber, "wann und wie sie sich wohl verwirklichen möchte" 57 , läßt die Möglichkeit des Todes nicht als Möglichkeit kommen, sondern versucht, ihre Verwirklichung gewissermaßen vorwegzunehmen. Im eigentlichen Sein zum Tode jedoch soll gerade die Möglichkeit als Möglichkeit kommen gelassen werden: "Im Sein zum Tode dagegen, wenn anders es die charakterisierte Möglichkeit als solche verstehend zu erschließen hat, muß die Möglichkeit ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als Möglichkeit ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit ausgehalten werden. "58 Zunächst scheint es, daß im "Erwarten" ein reiner Bezug zur Möglichkeit walte, aber Heidegger lehnt auch dies ab, da alles Erwarten letztendlich doch auf eine Verwirklichung abzielt: "Das Erwarten ist nicht nur gelegentlich ein Wegsehen vom Möglichen auf seine mögliche Verwirklichung, sondern wesenhaft ein Warten auf diese." 59 Terminologisch wird das eigentliche Sein zur Möglichkeit des Todes als das "Vorlaufen in die Möglichkeit" 60 bestimmt, wobei dieses Vorlaufen gerade nicht auf Verwirklichung abzielt, sondern darauf, die Möglichkeit der Unmöglichkeit der eigenen Existenz des Daseins als solche kommen zu lassen. Das besagt gerade nicht, daß das Dasein in Anbetracht seiner Unmöglichkeit gänzlich resignieren würde; dann wäre ja schon wieder der Versuch da, die Möglichkeit zu verwirklichen. Die Möglichkeit als Möglichkeit kommen lassen heißt vielmehr: offen werden fiir eine Möglichkeit, deren Verwirklichung aufkeine Weise vorgedacht bzw. "ausgemalt" werden kann: Im Vorlaufen in diese Möglichkeit wird sie »immer größer«, das heißt sie enthüllt sich als solche, die überhaupt kein Maß, kein mehr oder minder kennt, sondern die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz bedeutet. Ihrem Wesen nach bietet diese Möglichkeit keinen Anhalt, um auf etwas gespannt zu sein, das mögliche Wirkliche sich »auszumalen« und darob die Möglichkeit zu vergessen. Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit ermöglicht allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei. 61

Sein und Zeit, Sein und Zeit, 58 Sein und Zeit, 59 Sein und Zeit, 60 Sein und Zeit, 61 Sein und Zeit, 56 57

S. 261. S. 261. S. 261. S. 262. S. 262. S. 262.

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Die Möglichkeit als solche durch das Vorlaufen "frei machen" heißt: ihr im Dasein den Wesens(zeit)raum geben, in dem sie das Dasein als Möglichkeit ansprechen kann. Das Dasein wird so wenig von dieser Möglichkeit vernichtet, als gerade sie das eigentliche Sein des Daseins zum Vorschein bringen kann. Das Vorlaufen zum Tode ist keine Resignation oder Weltflucht, sondern das Gewahrwerden des je ureigenen In-der-Welt-seins, welches das Selbst in seiner Einzigartigkeit zu verantworten hat und daher eine Aufgabe empfängt, die niemals vom "Man" eigentlich erledigt werden könnte. Die existenzialen Strukturen dieses eigensten, eigentlichsten Seinkönnens des Menschen gilt es jetzt im Lichte des existenzialen Todesbegriffes als der eigensten, unbezüglichen, unüberholbaren, gewissen und als solcher unbestimmten Möglichkeir2 kurz zusammenzufassen und zu interpretieren: 1. Der Tod als die eigenste Möglichkeit des Daseins erschließt dem vorlaufenden Dasein sein eigenstes, eigentliches Seinkönnen. Weil der Tod eines Daseins die unwiederbringbare Einzigkeit eines Menschenwesens aus dem Anwesen reißt, wird deutlich, daß dieses in seinem Seinkönnen nicht durch etwas anderes vertreten werden kann. Daß dem Dasein eine unaustauschbare, einmalige, nie zuvor gewesene und danach nie mehr seiende Wesenswürde zukommt, die auf ihre spezifische Weise nur dem Dasein in seiner Jeweiligkeit zukommt, wird vor allem offenbar in Anbetracht der Möglichkeit ihres Endes. Das vorlaufende Zulassen dieser Möglichkeit tilgt nicht diese Wesenswürde, sondern hebt sie vielmehr in den einmaligen Glanz der noch wesenden Möglichkeiten, das endliche Dasein im Sinne dieser unverwechselbaren Einzigartigkeit zu übernehmen; solcher Glanz enthüllt dem Dasein seine faktische und faktisch gewesene Verlorenheit an das Man und eröffnet so die Möglichkeit der eigentlichen Übernahme einer Existenzweise, die sich nicht einfach im Man treiben läßt. Das Vorlaufen ist freilich ein Geschehen, das nicht "ein für alle mal" vollzogen werden kann, sondern immer wieder und immer ursprünglicher wiederholt werden muß, da die Zeitlichkeit des Daseins sowohl Gelegenheit für das Eigentlichwerden eröffnet als auch die beständige Möglichkeit des Rückfalls in das Man mit sich bringt. Die Einmaligkeit der eigenen Existenzweise trägt in sich schon den Verweis auf die nächste Struktur des Vorlaufens, die die Unaustauschbarkeit des jeweiligen Daseins ausdrücklich thematisiert. 2. Den Tod als unbezügliche Möglichkeit erschließt das Dasein im Vorlaufen dadurch, daß es einsieht, daß einzig es selbst seine eigenen Existenzmöglichkeiten übernehmen kann, was natürlich nicht besagt, daß es auf dem Weg dorthin keine Hilfe zu empfangen vermag. Die Unbezüglichkeit darf nicht mit einer monadischen Abgekapseltheit verwechselt werden. Wir sahen bereits, daß

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Vgl. Sein und Zeit, S. 258f.

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das Dasein immer schon durch das Mitsein konstituiert ist. Heidegger weist auch eigens darauf hin, daß die einmalige Einzigkeit des Daseins, in die das Vorlaufen zum Tode das Dasein (zunächst) vereinzelt, nicht der Aufhebung des Mitseins gleichkommt: Das Versagen des Besorgens und der Fürsorge bedeutet jedoch keineswegs eine Abschnürung dieser Weisen des Daseins [d.h. des Besorgensund des fürsorgenden Mitseins] vom eigentlichen Selbstsein. Als wesenhafte Strukturen der Daseinsverfassung gehören sie mit zur Bedingung der Möglichkeit von Existenz überhaupt. Das Dasein ist eigentlich es selbst nur, sofern es sich als besorgendes Sein bei ... und fürsorgendes Sein mit ... primär auf sein eigenstes Seinkönnen, nicht aber auf die Möglichkeit des Man-selbst entwirftY Daß das eigenste Seinkönnen des Daseins gerade wesentlich auf das fiirsorgende Verhalten zu Mitmenschen in höchstem Grade bezogen bleibt, wird sich bei der Besprechung der folgenden Wesensstruktur erweisen. Aber bereits die Wesensstruktur der Unbezüglichkeit besagt, wie wir eben sahen, nicht die Unmöglichkeit des Mitseins, sondern sie weist lediglich darauf hin, daß letztendlich die jeweilige Einzigartigkeit eines Daseins (als Mitsein) nur dann zum vollen Austrag kommen kann, wenn das jeweilige Dasein sein ureigenstes Sein übernimmt. Diese Übernahme kann einem Menschen durchaus durch die Hilfe anderer erleichtert werden, sie kann aber niemals von diesen fiir ein Dasein bewerkstelligt werden; in dem Falle würde ja auch die Würde der ureigenen Selbständigkeit des jeweiligen Daseins verloren gehen und seine Selbstverantwortung keine radikale sein. Der Mensch kann dem Menschen unbezweifelbar auf seinem Weg in die Eigentlichkeit sehr viel helfen, er kann diesen Weg aber nicht "fiir den anderen" gehen. Der Tod vereinzelt das Dasein, dadurch daß er dem Dasein aufzeigt, daß es als eigenste Möglichkeit existiert, die niemand außer dem jeweiligen Selbst eigentlich vollziehen kann. In diesem Sinne sind Sätze wie die folgenden zu verstehen: Der Tod »gehört« nicht indifferent nur dem eigenen Dasein zu, sondern er beansprucht dieses als einzelnes. Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit desTo-

des vereinzelt das Dasein auf es selbst... Sie macht offenbar, daß alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht.64

3. Die Unüberholbarkeit des Todes bringt das vorlaufende Dasein zur Einsicht, "daß ihm als äußerste Möglichkeit der Existenz bevorsteht, sich selbst

63 64

Sein und Zeit, S. 263. Sein und Zeit, S. 263.

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aufzugeben. "6s Dadurch drängt sich die Endlichkeit, Begrenztheit des Daseins auf, aber in einer Weise, die dem vorlaufenden Dasein zu erkennen gibt, daß das Wählen von faktischen Möglichkeiten nicht beliebig rückgängig gemacht werden kann, sondern daß geschichtlich einmalige Entscheidungen getroffen werden müssen und daß bestimmte Möglichkeiten angesichts der Endlichkeit des Daseins einen Vorrang vor anderen verdienen. Die Endlichkeit und Begrenztheit wird also gerade nicht kontingenzhaft bzw. als ein Mangel gefaßt, sondern als dasjenige Phänomen, das dem Dasein einen Vorblick auf sein "ganzes Seinkönnen" 66 gewährt, d.h. seine Existenz als einen wohlumgrenzten Zeitraum aufweist. Der Bezug zu anderen Mitdaseienden erfährt durch die Endlichkeit ein eigenes Gewicht. Auch diese stehen in einem jeweilig einzigartigen, unbezüglichen und unüberholbaren Bezug zu ihrer äußersten Möglichkeit, der jeweils ein ureigener ist und niemals auf die Möglichkeiten des eigenen Selbst reduziert werden kann und darf. Die Anderen werden somit in ihrer unverwechselbaren Andersheit eigentlicher wahrgenommen (und erst auf diesem Boden kann es zu nicht-vereinnahmenden, ursprünglichen Gesprächen und Beziehungen zwischen ihnen kommen). Daher ist die Vereinzelung des Daseins kein Endzweck, sondern diese öffnet es vielmehr fiir ein gewandeltes Verständnis des Anderen in seiner Andersheit (sowie fiir die Möglichkeiten, auf ureigene Weise die ureigene Weise des Anderen zu fördern): "Als unbezügliche Möglichkeit vereinzelt der Tod aber nur, um als unüberholbare das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Seinkönnen der Anderen."6' 4. Die Gewißheit des Todes erschließt sich dem vorlaufenden Dasein ursprünglicher als jegliche apodiktische oder empirische "Gewißheit" es vermöchte. Denn das Vorlaufen erschließt die Existenz in ihrer ursprünglichen Ganzheit, während das Feststellen von empirischen Todesfällen bzw. das Feststellen von jeglichen, auch apodiktisch gewissen, Einzelgegenständen sich immer schon innerhalb der ursprünglichen Erschlossenheit des Daseins (d.h. der ursprünglichen Wahrheit) vollzieht und daher das Phänomen des Daseins als ein ganzes gar nie in den Blick bekommt. Das ursprüngliche Wahrheitsphänomen ist der Boden fiir die jeweiligen Gewißheiten sachlicher Natur, der gewissermaßen als Boden übersehen werden muß, damit über apodiktische Gewißheiten im strengen Sinne überhaupt geredet werden kann: "Das Dasein muß sich allererst an Sachverhalte verloren haben - was eine eigene Aufgabe und Möglichkeit der Sorge sein kann - um die reine Sachlichkeit, das heißt Gleichgültigkeit der apodiktischen Evidenz zu gewinnen. "68 Das Sicherstellen der Sein und Zeit, S. 264. Sein und Zeit, S. 264. 67 Sein und Zeit, S. 264. 68 Sein und Zeit, S. 264f.

6s 66

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Gewißheit von Sachstrukturen kann also sehr wohl eine Flucht vor dem eigenen Dasein69, also eine Weise des Verfallens sein. Obwohl es innerhalb gewisser Grenzen durchaus sinnvoll sein kann, thematisch den Untersuchungskreis einzuengen (z.B. aus der Sorge um Gewißheit innerhalb der apodiktischen Wissenschaften), so dürfen doch die Maßstäbe solcher Untersuchungen nicht auf den ursprünglich ausgeklammerten Boden rückübertragen werden, da hier andere Erfahrungen maßgeblich sind (weil sie innerhalb eines ursprünglicheren Horizontes gemacht werden). Dieser Horizont ist das endliche In-der-Welt-sein, das jedoch ob seiner Zeitlichkeit niemals so wie gegenwärtiges Seiendes "da" gehabt wird und sich daher nicht theoretisch, sondern nur im Vorlaufen in der Gewißheit seiner endlichen Begrenztheit zeigt: Daher muß die Evidenz einer unmittelbaren Gegebenheit der Erlebnisse, des Ich und des Bewußtseins notwendig hinter der Gewißheit zurückbleiben, die im Vorlaufen beschlossen liegt. Und zwar nicht deshalb, weil die zugehörige Erfassungsart nicht streng wäre, sondern weil sie grundsätzlich nicht das for wahr (erschlossen) halten kann, was sie im Grunde als wahr »da-haben« will: das Dasein, das ich selbst bin und als Seinkönnen eigentlich erst vorlaufend sein kann. 70 Es ist unverkennbar, daß Heidegger hier Kritik an einer Verabsolutierung des Husserlschen Ansatzes für die Evidenz übt. Die in den intentionalen Erfüllungen durch rein vorhandene, eidetische Bewußtseinsstrukturen gegebene Evidenz läßt sich nicht auf das daseinsmäßige Phänomen in seiner Ganzheit übertragen, da dieses in einem Bereich existiert (d.h. ursprünglich Wahrheit erschlossen hält), der wesentlich auch durch Formen des Nicht-Vorhandenen, d.h. des Abwesens charakterisiert ist, die als solche ausgestanden werden müssen (und daher der Möglichkeit der Theoretisierbarkeit vorausgehen). 5. Die Unbestimmtheit des eigenen, unbezüglichen, unüberholbaren und gewissen Todes erfährt das vorlaufende Dasein als Bedrohung. Vor dieser Bedrohung darf das vorlaufende Dasein gerade nicht fliehen, sondern es muß sich auf sie einlassen. Dies vermag es, da es als befmdliches Wesen in der Grundbefmdlichkeit der Angst vor die Möglichkeit seines Nichtseins gebracht wird: "Die Befindlichkeit aber, welche die ständige und schlechthinnige, aus dem eigensten vereinzelten Sein des Daseins aufsteigende Bedrohung seiner selbst offen zu halten vermag, ist die Angst."1' Wenn die Angst ausgestanden wird und das Dasein nicht in einer "feige(n] Furcht"72 vor ihr flieht, dann kann sich die 69 Vgl. hierzu GA 17 (Einfohrung in die phänomenologische Forschung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1994): S. 284ff.

Sein und Zeit, S. 265. Sein und Zeit, S. 265f. 72 Sein und Zeit, S. 266.

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Grundstimmung des Vorlaufens zum Tode eigentlich vollziehen. Dies bedeutet wiederum nicht, daß der Mensch in der Angst verkümmern soll, sondern daß ihm gerade in der Angst die Erfahrung widerfahren kann, daß es in der Tat im unumgehbaren Bezug zur Möglichkeit der Unmöglichkeit seiner Existenz steht, daß aber dadurch die Existenz selber in ihrer einzigartigen Würde aufzuscheinen beginnt, die das Dasein ein Leben lang übernehmen kann und darf. Wie die weiteren Analysen Heideggers, die wir hier nicht ausbreiten können, zeigen, kann das Dasein diese nicht nur übernehmen, sondern es ist dies seinem eigenen Wesen vielmehr schuldig. 71 Daß die Angst also gerade nicht das Dasein verkümmern läßt, sondern es in die eigene Würde seines Wesens hebt, indem es die Freiheit mit sich bringt, das ureigene Dasein im Hinblick auf die Möglichkeit seiner Unmöglichkeit eigentlich zu übernehmen und d.h. die Einzigartigkeit des Sinnbereiches des eigenen Seinkönnens (mit all seinen Bezügen) zu bejahen, zeigt sich auch in der Formulierung "Freiheit zum Tode", welche die einzelnen Strukturen des Vorlaufens zusammenfaßt Im Vorlaufen zum Tode liegt (bekundet sich) die eigentliche (endliche) Freiheit des Daseins; das Vorlaufen zum Tode darf daher nicht mit einer morbiden "spekulativen Selbstvernichtung" verwechselt werden. Die Zusammenfassung Heideggers der erarbeiteten Strukturen lautet wie folgt: Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheil in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den lllusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Fr e i h e i t zu m Tode. 74

Die Freiheit zum Tode ist also keine theoretische Denkmöglichkeit, sondern der ontologische Entwurf einer Seinsmöglichkeit des Daseins, die sowohl von einer Grundstimmung getragen ist ("Angst", "Leidenschaft") als auch das Dasein die Möglichkeiten seines ureigensten Seins verstehen läßt. Die Übernahme des eigentlichen Seins geschieht aus ureigenem "Entschluß", d.h. primär ungestützt auf die Fürsorge; d.h. die Öffnung fiir das eigene Wesen vollzieht sich primär aus dem eigenen Sein, zu dem aber wesenhaft die Mitmenschen gehören, die den Entschluß zur Eigentlichkeit (d.h. das "Sich-aufschließen" fiir die Eigentlichkeit) zwar niemals erzeugen können, wohl aber auf dem Weg dorthin helfen und beistehen können, und die auf dem Grunde der übernommenen eigentlichen Seinsweise gerade erst richtig in ihrer jeweiligen Ureigenheit (d.h. Andersheit) bejaht werden können.

n 74

Diese Analyse wird im 2. Kapitel des 2. Abschnittes von Sein und Zeit vollzogen. Sein und Zeit, S. 266.

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111. Das Sterblichsein der Sterblichen im Vortrag " ...dichterisch wohnet der Mensch..• " im Lichte des Exkurses (unter weiterer Zu-Hilfe-Nahme des Vortrages "Das Ding") Im Lichte der soeben dargelegten Strukturen des Sterblichseins, so wie dieses in Sein und Zeit interpretiert wurde, werden die knappen Bemerkungen zum Sterblichsein der Sterblichen im Vortrag "...dichterisch wohnet der Mensch... " schon etwas einsichtiger. Dort hieß es: "Der Mensch west als der Sterbliche. So heißt er, weil er sterben kann. Sterbenkönnen heißt: den Tod als Tod vermögen. "75 Die Rede vom "den Tod als Tod vermögen" nimmt verwandelt die Möglichkeit des "Vorlaufens zum Tode" auf. Das Vorlaufen zum Tode spricht davon, daß der Mensch den Tod als Möglichkeit näher kommen lassen kann, d.h. sein Wesen im Lichte der Möglichkeit der Unmöglichkeit seiner Existenz erfahren kann und gerade darin der Einzigartigkeit und einmaligen Würde seines Wesens inne wird. Im Lichte der möglichen Unmöglichkeit der Existenz, d.h., durch die Erfahrung der wesensmäßigen Endlichkeit, erhalten Entscheidungen ihr geschichtliches Schwergewicht, erwächst die Einsicht in die unvertauschbare Verantwortung für das eigene Sein, das eigentlich immer schon im Bezug zu Anderen steht und daher auch ihnen gegenüber Verantwortung trägt (nämlich die Verantwortung, diese in ihrem jeweiligen (anderen) Sein sein zu lassen). Den Tod als Tod vermögen heißt also auch: die eigene Existenz in ihrer Einzigartigkeit dadurch erfahren, daß der Tod als Tod, d.h. als Möglichkeit der Unmöglichkeit der Existenz, im eigenen Leben erfahren wird. Aber es heißt nicht nur das; sonst könnte auch hier nicht von einer "Verwandlung" des Sterblichkeits-Gedankens aus Sein und Zeit geredet werden, sondern nur von einer "Wiederaufnahme". Jedoch liegt die Verwandlung hier nicht auf der Hand bzw. sie zeigt sich nicht unmittelbar im Text unseres Vortrages. Als einzige weitere Bestimmung der Sterblichkeit erfahren wir hier, daß nur der Mensch in dem soeben ausgezeichneten Sinne stirbt: "Nur der Mensch stirbt - und zwar fortwährend, solange er auf dieser Erde weilt, solange er wohnt. "76 Aber bereits in Sein und Zeit wurde die menschliche Sterblichkeit schon als ein Existenzial interpretiert, also als eine Seinsweise des Daseins und nicht etwa anderer Lebewesen, die phänomenal verschiedene Weisen des Verendens aufweisen. Daher liegt die Vertiefung nicht in dem "nur der Mensch stirbt", sondern in dem "der Mensch stirbt...solange er wohnt"; hier deutet sich die gewandelte Weise an, wie das In-der-Welt-sein zu verstehen ist. Die Existenz wird aus dem Eingelassensein in die Offenheit gedacht, die sich ursprünglich vierfach gliedert. Jedoch 75

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Vorträge und Aufsätze, S. 190. Vorträge und Aufsätze, S. 190.

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ist in bezugauf den Tod nicht die genauere Untergliederung der Offenheit das Wesentlichste, sondern die Herkunft dieser Offenheit. Hier, wenn irgendwo, wird sich die Verwandlung des Sterblichkeitsverständnisses Heideggers am deutlichsten kundtun. Wir sahen bereits, daß auch die Offenheit, die sich als Geviert öffnet, aus dem Ereignis zu verstehen ist, d.h. aus dem sichentziehenden Urgrund, der die Lichtung freigibt ("zuwirft"). Das Wohnen des Menschen ist wesensmäßig auf diesen Zug des Sichentziehenden bezogen; genauer: Es erfährt diesen als seine Herkunft. Anders als in Sein und Zeit, wo die Geworfenheit des Daseins anonym gedacht wird, ist im ereignisgeschichtlichen Denken die Herkunft der Geworfenheit durch das Ereignis genannt. Im Ereignis kann das geheimnisvolle "Phänomen" des sich schlechthin niemals Zeigenden (bzw. des sich nur als Entzug Zeigenden) als "positives", d.h. als freigebend-gewährender Grundzug im Sein erfahren werden, der jedoch selber nur als "Nichts" erscheint. Das "Nichts", das in Sein und Zeit in dem existenzialen Entwurf des Vorlaufens zum Tode "nur" im Sinne der möglichen Unmöglichkeit der Existenz erfahren wurde (aus dem sich jedoch radikal "positive" Weisungen fiir das noch existierende Dasein ergeben), kann in der ereignisgeschichtlichen Erfahrung als freigebend-bergende Herkunft allen Seins gedacht werden. Die "Unmöglichkeit der Existenz" interpretiert das Todesphänomen ereignisgeschichtlich betrachtet noch zu "flach", da der im Sein als Geheimnis erfahrene Bezug zum "Nichts" (bzw. der Bezug zum Entzug des Urgrundes) mehr zu verstehen gibt als "nur" die Unmöglichkeit der Existenz, indem er auf den freigebenden Grundzug dieses Nichts hinweist, der das jeweilige Sein in dessen ureigenem Sein bejaht und sich daher als haltend-wahrendes Nichts erweist, dem sein bergender Grundzug nicht abgesprochen werden kann (was freilich noch nichts über die Weise des Bergens aussagt, die sich vollzieht, wenn einst freigegebenes Wesen in seine Herkunft zurückkehrt). Die soeben nahegelegte Verwandlung von Heideggers Gedanken zur Sterblichkeit vom fundamental-ontologischen Denken zum seinsgeschichtlichen bleibt aber in dem von uns gegenwärtig untersuchten Vortrag ohne textliche Stütze. Bis jetzt wurde diesbezüglich von uns "nur" von der Sache her gedacht. Jedoch finden sich in dem von Heidegger ungefähr ein Jahr zuvor erstmals gehaltenen Vortrag "Das Ding" etwas deutlichere Hinweise, welche den dargelegten Grundgedanken stützen. Die Hinweise auf die Sterblichkeit beginnen dort in uns bereits vertrauter Weise: "Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt."77 Die einzigartige Weise, wie der Mensch

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stirbt, wird in diesem Vortrag kurz entfaltet, indem sie ausdrücklich vom Verenden der Tiere abgehoben wird: "Das Tier verendet. Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich."78 Der Bezug zum Tod wird also wesentlich durch die ursprüngliche Zeitlichkeit gestiftet, die das Dasein in die Bereiche des nicht gegenwärtig Seienden erstreckt sein läßt, wodurch es Möglichkeiten als Möglichkeiten im Wesen angehen können und es diese zulassen kann; vor allem die Möglichkeit der Unmöglichkeit der Existenz. Dies alles ist aber noch gut auf fundamental-ontologischer Ebene verstehbar. Der eigentliche seinsgeschichtliche Ansatz der Sterblichkeit hebt mit dem folgenden Satz an: "Der Tod ist der Schrein des Nichts, dessen nämlich, was in aller Hinsicht niemals etwas bloß Seiendes ist, was aber gleichwohl west, sogar als das Geheimnis des Seins selbst. "79 Hier wird das Phänomen des Nichts, das der Tod "schreinhaft" birgt, in seinem "positiven", d.h. bezugshaften Charakter angesprochen. Es ist zwar niemals ein bloß-Seiendes, aber nicht "nichts" im bloß nichtigen Sinne. Vielmehr west das Nichts auf das Sein bezogen, und zwar als dessen Geheimnis: Wir können im Lichte unserer Untersuchungen zum Ereignis sagen: Es west als der geheimnisvoll-freigebende Entzug, aus dem Sein in die Offenheit gelangt. Nicht der Tilgungscharakter des Nichts (der noch in Sein und Zeit in bezug auf die Unmöglichkeit der Existenz betont wurde) wird hervorgehoben, sondern sein Bergungscharakter: "Der Tod birgt als der Schrein des Nichts das Wesende des Seins in sich."10 Dieser Schrein birgt nicht bloß verknöcherte Überreste, sondern sogar das "Wesende" des Seins, d.h. er nimmt den Vollzug des Seins als solchen auf geheimnisvolle Weise in sich zurück. Daß mit dem "Wesenden" nicht eine Art "Einheitsbrei" gemeint ist, zu dem die mannigfaltigen Weisen des Seins letztendlich nivelliert werden, verdeutlicht der folgende Satz, der vom Gebirg, also von den versammelndmannigfaltigen Weisen des Bergens des Seins spricht: "Der Tod ist als der Schrein des Nichts das Gebirg des Seins."11 Die Sterblichkeit der Sterblichen bezieht sich nicht mehr nur auf die Endlichkeit ihrer Seinsweise, sondern vor allem auch auf ihren Bezug zum Tod als dem Schrein des Nichts, aus dem das Sein (als Anwesen) hervorgeht und in den das Sein auf mannigfaltige Weise geborgen wird: "Die Sterblichen nennen wir jetzt die Sterblichen - nicht, weil ihr irdisches Leben endet, sondern weil sie den Tod als Tod vermögen. Die Sterblichen sind, die sie sind, als die Sterbli-

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chen, wesend im Gebirg des Seins."12 Insofern die Sterblichen wesen, sind sie schon auf irgendeine (wenn auch oft unbeachtete) Weise auf den Tod bezogen und stehen damit im Bezug zum "Gebirg des Seins", d.h. zur Herkunft und Zukunft allen Anwesens. Aber dieser Bezug tilgt nicht etwa die positive Gegebenheitsweise der Existenz bzw. des Wohnens zugunsten des Nichts. Vielmehr wurde gesagt, daß alle die positiven Weisen der Existenz, die in Sein und Zeit in bezug auf das Todesphänomen gedacht wurden, verwandelt beibehalten werden können. Die Verwandlung besteht eben darin, daß die einzigartige Würde der menschlichen Existenz nicht nur durch den Bezug zum Tod in die Eigentlichkeil gelangen kann, sondern daß sie selbst im Tode in einen uns nur als verborgen-bleibender bekannten Bereich tritt, der jedoch nicht nur als Tilgung aller Möglichkeit gefaßt werden darf, da er bereits im Sein als zukünftig bergende Herkunft anklingt (durch die Erfahrung, daß diese Herkunft Wesen freigibt und in diese Offenheit "ein Leben lang" hält und dadurch sich als ein Geschehen erweist, dem nicht abgesprochen werden kann, daß es durchaus auch Einzigartiges zu wahren vermag13). Der folgende Satz bestätigt, daß die den Tod als Tod vermögenden Menschen in ihrer Sterblichkeit ihre Würde durchaus in ihrer BezogenheU zum Sein erfahren, d.h. daß sie sich als diejenigen Wesen erfahren, die aus dem Nichts freigegeben sind, die Offenheit des Seins zu hüten. Hierin klingt die verwandelte Bedeutung des Todesphänomens für die eigentliche Existenzweise an: "Sie [die Sterblichen] sind das wesende Verhältnis zum Sein als Sein.""

IV. Das "dichterische Wohnen" der Sterblichen als die Maß-Nahme und der in dieser waltende Bezug zum (unbekannten) Gott Das Wesen der Menschen beruht also auf ihrem Bezug zum bergenden Wesen des Todes, durch den aber auch die einzigartige Weise des Gelichtetseins in ihrer jeweilig einmaligen Würde erfahren wird. In dieser durch die Erfahrung der Sterblichkeit erst ins eigentliche Wesen gebrachten Lichtung, die sich vierfaltig differenziert, wohnt der Mensch dichterisch, indem er Maß nimmt (wie oben bereits angedeutet wurde): "Das Wesen des «Dichterischen» erblickt Hölderlin in der Maß-Nahme, durch die sich die Vermessung des Menschenwesens

Vorträge und Aufsätze, S. 171. Vgl. hierzu die Ausführungen zum "Nichts" bei Wucherer-Huldenfeld (Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Band 2. Wien: Böhlau, 1997: S. 305-344 (im besonderen S. 341ff)). 84 VorträgeundAufsätze, S. 171. 82 83

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vollzieht. "85 Im Dichterischen wird der Gelichtetheitsbereich in seiner Weite als solcher offenbar. Der Gelichtetheitsbereich erschöpft sich aber nicht in der Offenständigkeit des Menschen, sondern in ilm sind noch die drei übrigen Weltgegenden eingelassen. Das Maß, durch das der Mensch dichterisch sein Wesen durchmißt, hat er aber nicht aus sich. Es liegt vielmehr im Bereich des Gotthaften, von woher er es empfängt: "Dies [das Maß] ist die Gottheit, womit der Mensch sich misset. "86 Jedoch besteht das Eigentümliche dieses Maßes darin, daß der Maß-gebende Gott unbekannt ist: "Doch - und dies gilt es jetzt zu hören und festzuhalten Gott ist als der, der Er ist, unbekannt für Hölderlin, und als dieser Unbekannte ist er gerade das Maß für den Dichter."87 In diesen Worten spricht der Gedanke vom "Fehl Gottes", den wir bereits im vorigen Kapitel untersucht haben; dieser Fehl ist nicht nichts, sondern selbst er birgt noch ein Maß, auf das der Dichter hören muß, um Kunde vom Gott unter die Menschen zu bringen, damit ein Raum für sein mögliches Erscheinen vorbereitet werden kann. Aber sogar dieses Erscheinen, d.h. die Offenbarkeit Gottes, trägt den Zug der Unbekanntheit, da ja, wie wir immer wieder sahen, das Göttliche den Grundzug des Sichentziehens des Urgrundes am reinsten austrägt: "Die Offenbarkeif Gottes, nicht erst Er selbst, ist geheimnisvoll. Darum frägt der Dichter sogleich die nächste Frage: «Ist er offenbar wie der Himmel?» Hölderlin antwortet: «Dieses/ glaub' ich eher.»" 88 Zunächst scheint sich hier ein Widerspruch anzubahnen. Einerseits ist Gott unbekannt, andererseits so offenbar wie der Himmel. Um diesen Widerspruch aufzulösen, muß gefragt werden, wie denn der Himmel offenbar ist. Damit kein Widerspruch besteht, muß der Himmel in einer Weise offenbar sein, die den unbekannten Gott als den unbekannten erscheinen läßt (und somit das göttliche Maß an den Dichter doch weitergeben kann): Das Maß besteht in der Weise, wie der unbekannt bleibende Gott als dieser durch den Himmel offenbar ist. Das Erscheinen des Gottes durch den Himmel besteht in einem Enthüllen, das jenes sehen läßt, was sich verbirgt, aber sehen läßt nicht dadurch, daß es das Verborgene aus seiner Verborgenheit herauszureißen sucht, sondern allein dadurch, daß es das Verborgene in seinem Sichverbergen hütet. So er-

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Vorträge und Aufsätze, S. 190. Vorträge und Aufsätze, S. 191. Vorträge und Aufsätze, S. 191. Vorträge und Aufsätze, S. 191.

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scheint der unbekannte Gott als der Unbekannte durch die Offenbarkeil des Himmels. Dieses Erscheinen ist das Maß, woran der Mensch sich misset. 89

Der unbekannte Gott erscheint schon in gewisser Weise am Himmel. Die Weise dieses Erscheinens wird Heidegger später noch genauer untersuchen. Auch im Zeitalter der Götterlosigkeit ist es dem Dichter möglich, das Maß, gewissermaßen "gehüllt in Wolken", zu empfangen. Weil der Gott als Unbekannter erscheint, zeigt sich schon ein wenig von seinem Wesen, das durch das Sichentziehen gekennzeichnet ist (wodurch es jeglicher, aus dem Seienden her gewohnten Bekanntheit wesensmäßig widerstrebt). Dieses maßgebende Erscheinen des Gottes in der Offenbarkeit des Himmels darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem Erscheinen Gottes am Tage des Brautfestes, wo das gotthafte Wesen eigens mit Namen genannt wird und geschichtebildend zu walten anhebt (wobei sein Grundzug des Sichentziehens dadurch natürlich nicht gemindert wird, sondern vielmehr auf viel deutlichere Weise offenbar wird. Der Unbekannte wird dann erst in seiner weitherrührenden Verborgenheit mit Namen genannt sein.). Das Dichterische ist somit das ausgezeichnete Messen, das darin beruht, sein Maß für das menschliche Wohnen vom Göttlichen zu empfangen. Dieses Maß bringt aber Kunde vom Heiligen, das allen Weltgegenden zugrunde liegt, und betrifft daher die ganze "Dimension" der Lichtung: "Weil der Mensch ist, insofern er die Dimension aussteht, muß sein Wesen jeweils vermessen werden. Dazu bedarf es eines Maßes, das in einem zumal die ganze Dimension betrifft. "90 Daß dieses Maß am reinsten durch das Göttliche erfahren wird, ist nicht verwunderlich, da dieser Bereich den innigsten bzw. treuesten Bezug zum Heiligen als dem Urgrund von allem aufweist. Obwohl das Dichten als die Maß-Nahme für das Wohnen der Menschen (im Sinne des besprochenen "Schonens" des Gevierts) sich erhellt hat, so bleibt sein Wesen dennoch insofern dunkel, als das Maß bzw. die Weise seines Erscheinens "immer geheimnisvoller wird."91

a) Das Wesen des Maßes: Was ist Gott?

Die Antwort auf die Frage: "Was ist das Maß für das Dichten?"92 birgt eine weitere Frage, die Heidegger durch ein Semikolon unmittelbar an die Antwort Vorträge und Aufsätze, Vorträge und Aufsätze, 9 1 Vorträge und Aufsätze, 92 Vorträge und Aufsätze,

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anknüpft: "Die Gottheit; also Gott?"93 Dadurch, daß die Gottheit nicht einfach mit dem Gott identifiziert wird, sondern der Bezug mit einem Fragezeichen versehen wird, deutet sich an, daß hier vielleicht eine Differenz besteht. Diese Differenz wird in diesem Aufsatz aber nicht eigens als solche weiter ausgelegt, vermutlich, weil sie in Hölderlins Dichtung nicht streng durchgehalten wird. Die folgenden Fragen sind aber von äußerster Wichtigkeit, denn sie deuten auf die Differenz zwischen dem Wesen Gottes und der Einzigartigkeit seines Wesens (die "Wer-Frage", die, traditionell betrachtet, nach seiner "Person" fragt): "Wer ist der Gott? Vielleicht ist diese Frage zu schwer fiir den Menschen und zu voreilig. Fragen wir darum zuvor, was von Gott zu sagen sei. Fragen wir erst nur: Was ist Gott?" 94 Die Was-Frage ist die vor-läufige Frage, die das Wesen Gottes erläutert, ohne auf seine geschichtlich einmalige Wesensweise einzugehen (weil es fiir diese noch zu fiüh ist, da hierfiir im Zeitalter des "Fehls Gottes" der wohlbehütete Erfahrungsgrund fehlt). Die Was-Frage bereitet aber gewissermaßen den Boden dafiir, überhaupt offen zu werden fiir das Gewahren einer geschichtlich-einzigartigen Wesensweise, da sie mit dem Wesensbereich des Göttlichen vertrauter macht. So gesehen, würde die Was-Frage eher an die Gottheit denken, obwohl dies, wie gesagt, in diesem Vortrag nicht ausdrücklich unterschieden wird. Jedoch können wir die Ausfiihrungen Heideggers hierzu in diese Richtung denken. Glücklicherweise sind Gedichtzeilen Hölderlins überliefert, die in den Umkreis von "In lieblicher Bläue blühet..." gehören und die Frage nach dem Wesen Gottes stellen: «Was ist Gott? unbekannt, dennoch Voll Eigenschaften ist das Angesicht Des Himmels von ihm. Die Blize nemlich Der Zorn sind eines Gottes. lernehr ist eins Unsichtbar, schiket es sich in Fremdes...»9s Zunächst sagen diese Zeilen von dem, was dem Gott fremd ist, wohinein er sich aber dennoch schickt. Wir sahen, daß die im Heiligen wurzelnden Phänomene ihr Eigenes nur dann eigentlich übernehmen, wenn sie in Bezug zum Anderen stehen. Das dichterische Wort davon, daß gerade der Gott, der in reinster Weise im Bezug zum Heiligen steht, das ihm Fremde aufsucht und sich diesem übergibt (ohne sich dabei zu verlieren), kommt daher fiir uns keineswegs "überraschend", sondern schmiegt sich vielmehr in den bisherigen Gedankengang. Das dem Gott Fremde, das Angesicht des Himmels, das uns auf ver93 94

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Vorträge und Aufsätze, S. 193. Vorträge und Aufsätze, S. 193.

Hölderlin zitiert von Heidegger in: Vorträge und Aufsätze, S. 194.

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schiedenste Weise entgegenleuchtet, ist den Menschen vertraut (bzw. zumindestens vertrauter als das Wesen Gottes): Was dem Gott fremd bleibt, die Anblicke des Himmels, dies ist dem Menschen das Vertraute. Und was ist dies? Alles, was am Himmel und somit unter dem Himmel und somit auf der Erde glänzt und blüht, tönt und duftet, steigt und kommt, aber auch geht und fällt, aber auch klagt und schweigt, aber auch erbleicht und dunkelt. In dieses dem Menschen Vertraute, dem Gott aber Fremde, schicket sich der Unbekannte, um darin als der Unbekannte behütet zu bleiben.96 Obwohl der Gott sein innerstes Wesen im Sich-ins-Fremde-Schicken nicht verliert, sondern gerade gewinnt, so ist es dennoch Aufgabe des Menschen, Gottes ("anonymes") Erscheinen dort zu hüten. Gerade weil der Gott sich ins Fremde schickt, d.h. nicht dieses zu seinem Eigenturn macht, sondern sich fremden Wesenszügen überläßt, ist es auch möglich, daß dieses Fremde sein Erscheinen nicht gast-freundlich aufnimmt, sondern verfremdet (i.S. von "entstellt") oder überhaupt nicht wahrnimmt, d.h. einfach übergeht (ignoriert, "undichterisch wohnet"). Aber das Rufen des Dichters bleibt dem "Erscheinen Gottes in dem ihm fremden Bereich" zugewandt und sucht dieses Erscheinen so zu hüten, daß es Kunde vom verborgenen Gott bringt, d.h., daß es in dem den Menschen vertrauten Bereich eine Offenheit stiftet, in der das den Menschen Fremde, das Wesen des Gottes, eine freundliche Gaststätte empfangt. Daher "malt" das Dichten nie lediglich Bekanntes ab bzw. imitiert dieses nicht, sondern läßt dieses in der Herkunft seines Seins erglänzen; das bedeutet aber auch, daß es ursprünglich Wesensraum fiir das Erscheinen des Unbekannten stiftet, auf welches das Bekannte ("anonym") bezogen ist: Der Dichter jedoch ruft alle Helle der Anblicke des Himmels und jeden Hall seiner Bahnen und Lüfte in das singende Wort und bringt darin das Gerufene zum Leuchten und Klingen. Allein der Dichter beschreibt nicht, wenn er Dichter ist, das bloße Erscheinen des Himmels und der Erde. Der Dichter ruft in den Anblicken des Himmels Jenes, was im Sichenthüllen gerade das Sichverbergende erscheinen läßt und zwar: als das Sichverbergende.97 Der Dichter sucht das Wesen Gottes in dem gottfremden Bereich dennoch in seinem (d.h. des Gottes) Eigenen erscheinen zu lassen, d.h. genauso wenig, wie der Gott die Menschen zu ihm zwingt, zwingt der Dichter den Gott, sich gänzlich preiszugeben an das ihm Wesensfremde. Er läßt ihn als Fremden im "Heimischen" der Menschen erscheinen. Hierin bekundet sich der Wesenszug

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Vorträge und Aufsätze, S. 194. Vorträge und Aufsätze, S. 194.

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des "Schonens", den wir als den Grundzug des eigentlichen menschlichen Wohnens während unserer Besprechung des Gevierts im Aufsatz "Bauen W ohnen Denken" sahen. Im Grunde ist uns dieser Gedanke aber schon seit dem 2. Kapitel vertraut, von wo an immer wieder die schwierige Aufgabe des Dichters angesprochen wurde, im Sagen vom Heiligen (und Göttlichen) das Sichentziehende ins Seiende zu bergen und den Menschen dadurch näher zu bringen, ohne aber das Eigenwesen des Zu-Dichtenden dabei zu verschütten. Auch erhellt sich hier wieder der Sinn des Gedankens, daß der Gott den Menschen braucht. Der Gott braucht, um als Gott, d.h. reinster Hinweis auf das Heilige, zu walten, die ihm fremde Weltgegend des Himmels, der Erde und vor allem die des Menschen. Der Mensch wohnt in diesen Gegenden und kann das Fremde als Fremdes erfahren. Der Dichter bringt dieses Fremde im Vertrauten als Fremdes, Unbekanntes zum Vorschein: "Der Dichter ruft in den vertrauten Erscheinungen das Fremde als jenes, worein das Unsichtbare sich schicket, um das zu bleiben, was es ist: unbekannt." 98 Die ·Maß-Nahme des Dichters besteht darin, daß er vom Erscheinen des Unbekannten im Bekannten sich ansprechen läßt bzw. nicht nur das Vertraute feiert und besingt, sondern sich dem in diesem erscheinenden Fremden fügt: "Der Dichter dichtet nur dann, wenn er das Maß nimmt, indem er die Anblicke des Himmels so sagt, daß er sich seinen Erscheinungen als dem Fremden fügt, worein der unbekannte Gott sich «schiket». "99 In diesem Sinne will Heidegger auch das ursprüngliche dichterische Bild verstehen. Es ist weder bloßes Abbild noch bloße daherphantasierte "Einbildung", sondern Ein-Bildung im eminenten Sinne: Der Dichter birgt in ein scheinbar immer schon bekanntes, vertrautes Bild (nicht im Sinne eines Abbildes, sondern im Sinne eines Anblickes) das Unbekannte, Fremde: "Das dichtende Sagen der Bilder versammelt Helle und Hall der Himmelserscheinungen in Eines mit dem Dunkel und dem Schweigen des Fremden. Durch solche Anblicke befremdet der Gott."' 00 Diese Befremdung verweist aber auf das Sichentziehende, das dem Menschen auf ganz andere Weise als das Seiende immer nahe steht bzw. eigentlich dem Innersten des Menschenwesens noch weitaus näher ist als jegliches Seiende es je vermöchte. Weil das Wesen Gottes in dem urgründigen Zug des Sichentziehens rnitwaltet, indem es diesen am reinsten in die Welt austrägt, ist auch das fremde Wesen des Gottes dem Menschen auf

Vorträge und Aufsätze, S. 194. Vorträge und Aufsätze, S. 194. 100 Vorträge und Aufsätze, S. 195.

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ganz andere Weise als das Seiende eigentlich nahe: "In der Befremdung bekundet er seine unablässige Nähe." 101 In seinem innersten Wesen (das ja auch in direktem Bezug zum sichentziehenden Urzug des Heiligen steht) ist der Mensch also dem Gottwesen immer "nachbarschaftlich" nahe; diese Erfahrung spricht sich in den folgenden Versen des Gedichtes "In lieblicher Bläue blühet..." verdichtet aus: «... Doch reiner Ist nicht der Schatten der Nacht mit den Sternen, Wenn ich so sagen könnte, als Der Mensch, der heißet ein Bild der Gottheit.» 102

Heidegger betont hier weiter, daß der Himmel selbst wenn er im nachthaften Schatten erfahren wird, immer noch im Bezug zu einem anderen "Licht" steht, d.h. daß er auch in seinem schattigen Dunkel auf ein fremdes Geschehen verweist, das in den Himmel das Maß allererst bringt: "die Nacht selber ist der Schatten, jenes Dunkle, das nie bloße Finsternis werden kann, weil es als Schatten dem Licht zugetraut, von ihm geworfen bleibt. Das Maß, welches das Dichten nimmt, schickt sich als das Fremde, worein der Unsichtbare sein Wesen schont, in das Vertraute der Anblicke des Himmels." 103 Der Himmel empfangt also das Maß des unbekannten Gottes, der sein Wesen ins Fremde schont, d.h. entläßt (als verborgenes anwesen läßt), und gibt es in diesem Empfangen durch seine Anblicke an den Dichter weiter. Auch der nächtliche Himmel verleiht solche Anblicke; aber nicht nur er. Die "liebliche Bläue", die am Tag den Himmel erhellt, verweist ebenfalls auf die Tiefe und Weite, deren dunkles, unbekanntes Schwarz hier zu dämmern beginnt (aber nie so, daß es gänzlich im Licht aufgehen würde): Aber der Himmel ist nicht eitel Licht. Der Glanz seiner Höhe ist in sich das Dunkle seiner alles bergenden Weite. Das Blau der lieblichen Bläue des Himmels ist die Farbe der Tiefe. Der Glanz des Himmels ist Aufgang und Untergang der Dämmerung, die alles Verkündbare birgt. Dieser Himmel ist das Maß. 104

Das Maß, das der Dichter empfangt, ist zwar göttlicher Herkunft, jedoch vernimmt er es noch nicht von einem genannten Gott selbst, sondern er vernimmt seine Wesensspuren im Anblick des Himmels, insofern hier das Sichentziehende als das Sichentziehende dämmert.

Vorträge und Aufsätze, S. 195. Hölderlin zitiert von Heidegger in: Vorträge und Aufsätze, S. 195. 103 Vorträge und Aufsätze, S. 195. 104 Vorträge und Aufsätze, S. 195.

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V. Rückblick auf das in diesem Vortrag erhellte Wesen des "dichterisch wohnenden" Menschen und Ausblick in ein vordenkend-andenkendes Wohnen Das menschliche Wohnen ist dichterisch, sofern es das Maß nimmt. Diese Maß-Nahme bedarf des Aufschauens zum Göttlichen, das sich aber noch nicht in einer Geschichte-prägenden bzw. einzigartig-genannten Weise gezeigt hat. Jedoch blitzen Spuren seines Wesens im Anblick des Himmels auf; erst durch die Maß-Nahme kann die Erde als Erde hervorscheinen, d.h., erst durch sie wird die Erde nicht bloß ausgebeutet, sondern auf ihr und mit ihr gebaut, und zwar gemäß dem schonenden Maß des Göttlichen (das den freigebendgewährenden Zug des Heiligen am reinsten austrägt). Daher kann das Gedicht sinnvoller Weise sagen, daß es auf Erden kein Maß gibt. "Warum? Weil das, was wir nennen, wenn wir sagen «auf der Erde», nur besteht, insofern der Mensch die Erde be-wohnt und im Wohnen die Erde als Erde sein läßt."tos Das dichterische Wohnen auf Erden birgt aber göttliches Maß ins Irdische; dieses Maß empfangt es durch die Anblicke des Himmels, die auf noch namenloses Fremdes verweisen. Je ursprünglicher er gemäß diesem Maß wohnt, desto mehr gelangt er in die Entfaltung seines Wesens, d.h. ins Wohnen. Der anfangs von Heidegger noch als "Zumutung" gekennzeichnete Satz hat sich nunmehr im Zuge dieses Vortrags erhellt: "Der Satz: Der Mensch wohnt, insofern er baut, hat jetzt seinen eigentlichen Sinn erhalten. Der Mensch wohnt nicht, insofern er seinen Aufenthalt auf der Erde unter dem Himmel nur einrichtet, indem er als Bauer das Wachstum pflegt und zugleich Bauten errichtet."106 Solches Bauen kann zwar Wohnbauten und die Ernährung sichern, aber es kann von sich aus dem Leben noch keinen "wahrhaften" bzw. tiefgegründeten Sinn verleihen. Weiter ist solches Bauen nur möglich, weil es sich von irgendeiner einstigen, wenn auch noch so verblaßten, Sinnstiftung nährt, die es längst schon vergessen hat bzw. in die Selbstverständlichkeit verwesen hat lassen: "Dieses Bauen vermag der Mensch nur, wenn er schon baut im Sinne der dichtenden Maß-Nahme." 107 Darin liegt zugleich auch, daß das notwendige Bauen nur dann ein eigentliches, ursprüngliches sein kann, wenn es seinen Sinn aus der Maß-Nahme ereignishaft empfangt, d.h. sich von uneigennützigen Maßen in Anspruch nehmen läßt. Solchen Anspruch bergen die Dichter ins Wort:

105 Vorträge und Aufsätze, S. 195. 106 Vorträge und Aufsätze, S. 196. 107 Vorträge und Aufsätze, S. 196.

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"Das eigentliche Bauen geschieht, insofern Dichter sind, solche, die das Maß nehmen fiir die Architektonik, für das Baugefüge des Wohnens." 108 Die Undichterische Weise, in der wir heute bauen und wohnen, ist kein Beweis gegen das dichterische Wort Hölderlins, sondern viel eher ein Beweis für seine Wahrheit. Denn die Privation, d.h. die Erfahrungsmöglichkeit eines Mangels, beruht immer auf einem prinzipiellen Bezug zum Heil: "Denn undichterisch kann ein Wohnen nur sein, weil das Wohnen im Wesen dichterisch ist. Damit ein Mensch blind sein kann, muß er seinem Wesen nach ein Sehender bleiben. Ein Stück Holz kann niemals erblinden. "109 Heidegger legt nahe, daß das heillos dahinrasende Bauen, das aus einem Mangel an urspriinglicher MaßNahme stammt, vielleicht aus dem Übermaß an Rechnen und Messen am Vorhandenen herriihrt, das vor lauter bereits vorhandener, ins Beliebige (d.h. ins Unwesentliche) modiftzierbarer Maße die Not einer ursprungliehen MaßNahme nicht mehr vernehmen kann: "So könnte es sein, daß unser undichterisches Wohnen, sein Unvermögen, das Maß zu nehmen, aus einem seltsamen Übermaß eines rasenden Messens und Rechnens käme."110 Die Grundhaltung für die ursprungliehe Maß-Nahme, d.h. für das Empfangen des Maßes vom Gott, das der Dichter frei ins Seiende entwerfen muß, nennen die Verszeilen 26-29, mit deren Erläuterung Heidegger diesen Vortrag beendet. Sie seien hier noch einmal zitiert: «... So lange die Freundlichkeit noch

Am Herzen, die Reine, dauert, misset Nicht unglüklich der Mensch sich Mit der Gottheit. .. »111

Die reine Freundlichkeit, die auch Hölderlins Übersetzung des griechischen xcipLS' (Huld, Gunst) ist, ist die Grundhaltung, die den Bezug zu dem Gotthaften offenhält Dieser Gedanke schließt freilich an das an, was uns bereits im Zuge der Auslegung der Elegie "Heimkunft" begegnete, wo der Grund für den Fehl Gottes als die Ermangelung der Größe in bezug auf die waltende Freude menschlicherseits gedacht wurde. Einzig das freudig-freundlich gestimmte Herz, das Herz, das sich an seiner reinen Gegeben-heit freut bzw. in seinem Sein den Bezug zum sich-entziehenden Urgrund erfahrt und aus dieser Erfahrung den Bereich des Göttlichen erahnen kann, öffnet sich ursprunglieh für die Maß-Nahme. Die Betonung des Ankommen-Lassens des Maßes durch das Vorträge und Aufsätze, S. 196. Vorträge und Aufsätze, S. 197. 110 Vorträge und Aufsätze, S. 197.

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Hölderlin zitiert von Heidegger in: Vorträge und Aufsätze, S. 197.

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freundlich gestimmte Herz sieht Heidegger auch dadurch bestärkt, daß Hölderlin in diesen Versen nicht "im Herzen", sondern "am Herzen" sagt: "«am Herzen», das heißt angekommen beim wohnenden Wesen des Menschen, angekommen als Anspruch des Maßes an das Herz so, daß dieses sich an das Maß kehrt."''2 Das freudig-freundliche Herz gewinnt diese Grundstimmung nicht aus sich, sondern empfängt sie durch den Anspruch des Göttlichen, der es allerdings wiederum nicht zum Annehmen des Anspruches zwingt, sondern den das Herz ankommen lassen muß, indem es sich ihm freudig-hütend zukehrt. Solange dieser Bezug waltet, ob nun der Fehl Gottes in die Hut genommen wird oder ob der Name des Gottes selbst (in seinem Sichentziehen) am Herzen bewahrt wird, solange besteht ursprüngliche Maß-Nahme: "So lange diese Ankunft der Huld dauert, so lange glückt es, daß der Mensch sich misset mit der Gottheit. Ereignet sich dieses Messen, dann dichtet der Mensch aus dem Wesen des Dichterischen."113 Heidegger schließt diesen Vortrag mit einem der spätesten (wenn nicht gar dem spätesten) Gedicht Hölderlins. Hierin scheint sich ein ursprüngliches Dichten zu bekunden, das trotz des Fehls Gottes, d.h. in der geschichtlichen Epoche, wo keine Erscheinung eines Gottes offenbar das Walten und Verhalten des Menschen geschichtlich mitbestimmt, in die Ruhe des Wohnens gefunden hat - in ein vordenkend-andenkendes Wohnen, das dichterisch das Zu-Sagende in seiner Weite und Feme schicklich im Ankommen bewahrt: "Ereignet sich das Dichterische, dann wohnet der Mensch menschlich auf dieser Erde, dann ist, wie Hölderlin in seinem letzten Gedicht sagt, «das Leben der Menschen>> ein «wohnend Leben» (Stuttg. Ausg. 2, 1 S. 312) Die Aussicht Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben, Wo in die Ferne sich erglänzt die Zeit der Reben, Ist auch dabei des Sommers leer Gefilde, Der Wald erscheint mit seinem dunklen Bilde. Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten, Daß sie verweilt, sie schnell votübergleiten, Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet Den Menschen dann, wie Bäume Blüth' umkränzet." 114

Vorträge und Aufsätze, S. 198. Vorträge und Aufsätze, S. 198. 114 Vorträge und Aufsätze, S. 198.

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7. Kapitel Heideggers Gedanken zum möglichen Kommen des "großen Anfangs" des Heiligen in dem Vortrag »Hölderlins Erde und Himmel« (1959) Im vorangegangenen Kapitel sahen wir, daß das Wort vom Heiligen zwar nicht einmal eigens genannt wurde, Heideggers Gedanken jedoch sachlich immer im Hinblick auf dieses Phänomen vollzogen waren. Ähnlich verhält es sich in seinem Vortrag "Hölderlins Erde und Himmel"; obzwar hier das Heilige einige Male beim Namen genannt wird, so erfährt dieses Wort doch nicht die ausdrückliche Betonung wie in früheren Auslegungen. Nichtsdestoweniger entfalten die vorgetragenen Gedanken genau dieses Phänomen. Bereits im nächsten Kapitel werden wir sehen, wie Heidegger wieder expressis verbis das Heilige als das Grundwort Hölderlins Dichtung bezeichnet. Nachdem wir im ersten Darlegungsschritt (§ 21) von "Hölderlins Erde und Himmel" Heideggers vorbereitende Gedanken zur Gedichtauslegung von Hölderlins Entwurf "Griechenland" erarbeitet haben, wird zu zeigen sein (§ 22), wie Heidegger dieses Gedicht als den Versuch interpretiert, die Entfaltung der vier Weltgegenden (des "Gevierts") aus dem Grunde ihres Geschickes (des Heiligen) dichterisch ins Wort zu stiften, und d.h., das Kommen des Heiligen an einem geschichtlichen Ort vorzubereiten. Besonders auffällig an diesem Vortrag ist, daß er den dichterischen Entwurf kraß dem gegenwärtigen Weltgeschick des Zeitalters der modernen Technik gegenüberstellt und dann aufzuweisen sucht, wie selbst hier noch ein Bezug zum Geschick waltet, obzwar dieser bis ins Äußerste verstellt ist. Mit anderen Worten, Heidegger versucht hier, darauf hinzuweisen, wie in der gegenwärtigen Seinserfahrung (der "Seinsvergessenheit") es dennoch möglich ist, einen Bezug zum Gewährenden im Geschick (dem Heiligen) wahrzunehmen und ein reineres Kommen von diesem vorzubereiten. Ereignisgeschichtlich gedacht, wird also der Anklang des anderen Anfangs in diesem Vortrag in direkten Bezug zur (Vorbereitung der) Gründung dieses Anfangs gebracht. Der Vortrag endet mit einem Ausblick auf das Zukunftsweisende des dichterischen Entwurfs des Kommens dieses großen Anfangs(§ 23).

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7. Kap.: ))Hölderlins Erde und Himmel«

§ 21. Auslegung dreier Sachverhalte als Vorbereitung für die Interpretation des Gedichtentwurfes »Griechenland«

Der erste größere Abschnitt des Vortrages beginnt damit, die eigentliche Auslegung des Gedichtentwurfes "Griechenland" durch die Interpretation dreier Sachverhalte vorzubereiten, welche sich bei Hölderlin in einem von Heidegger zitierten Brief an Böhlendorff 1 angesprochen fmden. Es handelt sich hierbei um jenen von Heidegger öfters zitierten Brief aus dem Jahre 1802, den Hölderlin nach seiner verfrühten Rückkehr aus Frankreich geschrieben hat. Eine Thematisierung des Phänomens des Heiligen wird uns hier bereits während Heideggers Auslegung des zweiten und dritten Sachverhaltes ausdrücklich begegnen.

I. Der erste Sachverhalt: Das Vertrauterwerden Hölderlins mit dem eigentlichen Wesen der Griechen: Das Athletische, die Reßexionskraft, die Zärtlichkeit

Der erste Sachverhalt betrifft Hölderlins Hinweis darauf, daß er durch seinen Aufenthalt in Frankreich "»mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter« wird."2 In diesem Sinne wurde ja auch das Gedicht "Andenken", das scheinbar vom südlichen Frankreich spricht, von Heidegger als das Andenken an das Griechenland interpretiert (vgl. das 3. Kapitel). Zunächst zeigt sich durch die Bemerkung Hölderlins, daß das Fremde, Griechische für ihn also auch nach der sogenannten "abendländischen Wende" (in der er sich scheinbar vom "morgenländischen" Griechenland abwendet, um zu einem hymnenhaften Singen der Heimat und vor allem der heimatlichen Ströme überzugehen) nicht einfach "verabschiedet" bzw. "überwunden" ist, sondern ihn nach wie vor anspricht und ihm zu denken sowie zu dichten gibt. Dies bezeugt allein schon der Titel des Gedichtes "Griechenland"; Heidegger bemerkt hierzu: "Wenn Hölderlin jedoch inständiger als je zuvor so spät noch das Griechenland ruft, dann muß er zuletzt in eine äußerste Zuneigung zu ihm gelangt sein. "3 Bereits während der Auslegung des Fragments "nernlich zu Hauß ist der Geist/ nicht im Anfang ... " im Zuge der Ister-Vorlesung haben wir gesehen•, daß das Eigene, 1 Vgl. GA 4 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1981): S. 157f. 2 GA 4: S. 159. 3 GA 4: S. 157. 4 Vgi.Kapitel4, § 15, IV.

§ 21. Auslegung dreier Sachverhalte als Vorbereitung

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Heimatliche nur im Gespräch mit dem Fremden reifen kann und daß dieses niemals "überwunden" bzw. einfach "aufgehoben" wird, sondern als Fremdes im Eigenen "zu Gast geladen" bleibt, auf daß beide sich gegenwendig in die Würde ihres Wesens verhelfen und dort halten können. Daher kommt für uns dieses späte Andenken (und Anruf) an das Griechenland in Hölderlins Brief und Gedicht nicht als Überraschung, sondern fügt sich vielmehr nahtlos in den bisherigen Gedankengang. Das Wesen der Griechen zeigt sich Hölderlin durch a) "»Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiquen Geistes«" 5 und b) darin, daß der "»höchste Verstand im griechischen Sinne« ... »Reflexionskraft«"6 ist und letztendlich c) in der "»Zärtlichkeit«"7 • Das Athletische bringt Heidegger sogleich mit dem griechischen Verb "a8A.Ew", d.h. "kämpfen, ringen, fassen und tragen"• zusammen. Das Athletische liegt im Ringen, im wohlverstandenen lTOAEI!OS' Heraklits, in dem "für die Götter und Menschen, das Freie und das Knechtische ins Scheinen ihres Wesens herauskommen. "9 Das Offene, Freie liegt nicht vorhanden vor Augen, sondern vielmehr muß der Mensch um sein Wesen ringen. Wir hörten bereits, daß auch im griechischen Wort fiir die Wahrheit, ci.A.ft8Ew (Un-verborgenheit), für den Griechen immer das Moment des Ringens gegen die Irre mitschwang. Das zu erringende Freie, Offene verschwebt aber nicht ins Leere, sondern wird in seiner Offenheit ins Irdische geborgen, wo es ein Maß bildet. Dies zeigt sich im Athletischen des "heroischen Körpers": "Es ist das Scheinen des Geistes, der sich in sein körperhaftes Maß und seine Gestalt herausringt und darin sich faßt."'" Die Reflexionskraft interpretiert Heidegger als "das Vermögen, alles zurückscheinen zu lassen, was rein in ihm selber scheint und dadurch anwest."" Das Reflektieren in diesem Sinne ist also gerade kein gewaltsames Brechen bzw. Unterjochen des Erscheinenden unter höhere Begriffe, sondern ist eine Weise des Anwesenlassens, des in seinem Eigenwesen Zum-Vorschein-kommenLassens. Das reine In-sich-selber-Scheinen des also Hervorscheinenden ist zugleich das Schöne. Durch das Athletische und die Reflexionskraft kommt dieGA 4: S. 160. GA 4: S. 160. 7 GA 4: S. 160. 8 GA 4: S. 160. 9 GA 4: S. 160. 10 GA 4: S. 160. II GA 4: s. 160. 5 6

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7. Kap.: >>Hölderlins Erde und Himmel«

ses ins Scheinen. Das Zusammengehören vom "Athletischen" und der "Reflexionskraft" nennt das Wort "Zärtlichkeit", das "bis in das 18. Jahrhundert und so auch für Hölderlin einen hohen, weitreichenden, unsentirnentalen Sinn" 12 hat. Die Zärtlichkeit trägt also durchaus den Wesenszug des Ringens um das reine Scheinen des Schönen in sich aus, aber es ist kein brutales Vergewaltigen, sondern hat letztendlich das Hervorscheinenlassen des Umrungenen in dessen ureigenem Wesen (d.h. in dessen Schönheit) zum Ziel. Die Zärtlichkeit ringt also um das freie Sein-lassen-Können von Anderem. Durch einen Verweis auf eine spätere Fassung der Patrnos-Hymne (der von uns hier nicht näher verfolgt werden kann) versucht Heidegger zu zeigen, daß die griechisch erfahrene Schönheit nicht etwa ein Phänomen neben der Wahrheit ist (z.B. im Sinne eines "rein ästhetischen" Phänomens), sondern daß die Schönheit vielmehr als eine Anwesungsweise bzw. Entbergungsweise der Wahrheit zu verstehen ist: "Sie ist die griechisch erfahrene Wahrheit, nämlich die Entbergung des von sich her Anwesenden, der 4>\Jols-, jener Natur, in der und aus der die Griechen lebten. "13 Indem Hölderlin mit der "Zärtlichkeit" der Griechen vertrauter wird, lernt er also ihre ursprüngliche Wahrheitserfahrung besser kennen.

II. Der zweite Sachverhalt: Hölderlins Erfahrung seines Ortes in bezug auf das Heilige und dessen Entfaltungen Der zweite Sachverhalt, der im Zuge der vorbereitenden Überlegungen von Heidegger interpretiert wird, betrifft den Ort "aus dem her die jetzt erst erlangte eigentliche Erkenntnis des griechischen Wesens genannt wird." 14 Hölderlins Hinweis auf diesen Ort lautet: "»Daß alle heiligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort...ist jezt meine Freude.«" 15 In diesem Hinweis erkennen wir einen uns bereits bekannten Gedanken, nämlich daß die Erde heilige Orte bergen kann, d.h., daß das Heilige (auch in seinen Entfaltungen) auf ihr und mit ihr geschichtlich wird. Wenn das Heilige so auf Erden west, dann wird sie in ihrer Herkunft sichtbar. "Durch den Ort, den der Dichter jetzt bewohnt, wird ihm die Erde neu zur Erde." 16 Aber nicht nur die Erde ist in das Heilige einbezogen, sondern auch der Himmel, und zwar so, daß er auf Grund seines Bezu-

GA 4: S. 160. GA4: S.161. 14 GA 4: S. 161. 15 Hölderlin zitiert von Heiegger in: GA 4: S. 161. 16 GA 4: S. 161. 12

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§ 21. Auslegung dreier Sachverhalte als Vorbereitung

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ges zum Heiligen auch in einem eigenständigen Bezug zur Erde steht. Von diesem Bezug heißt es: "Sie [die Erde] birgt und trägt als der Bau der Himmlischen das Heilige, d.h. die Sphäre des Gottes. Die Erde ist nur Erde als die Erde des Himmels, der nur Himmel ist, indem er auf die Erde hinabwirkt." 17 Erde und Himmel stehen also auf Grund ihres Bezugs zum Heiligen in solch einem Bezug zueinander, daß sie sich gegenseitig in ihrem Sein sein lassen können. Daher dürfen die "heiligen Orte der Erde" nicht als ihr possessiver Besitz verstanden werden; "unirdische Orte" können sich auf Erden bergen und dort hervorscheinen, ohne aber ihr unirdisches Eigenwesen dadurch zu verlieren. Auch der verborgene Bezug der Erde zu den Himmlischen bzw. zum Gott klingt in diesem Zitat an. Die Erde vermag nicht einzig nur den Himmel als Himmel erscheinen zu lassen, sondern auch das Göttliche kann sie ansprechen und sie zum Austragen seiner bewegen. D.h., daß auch das Göttliche auf Erden geborgen werden kann, so daß dieses aus ihr zum Vorschein kommt. Dieses Göttliche spricht jedoch gegenwärtig höchstens mit unbekannter Stimme in der Sprache des Himmels (wie wir schon im 6. Kapitel sahen): "Das Gewitter heißt darum das »Daseyn Gottes«. "18 Das Geschichte-prägende Erscheinen eines Gottes bleibt auch dem Dichter noch im Heiligen gespart. Der Dichter vernimmt zwar freudig das Heilige in Himmel und Erde und hört die verborgene Stimme des Gottes vor allem im Blitz, aber der Gott selbst bleibt im Heiligen verborgen: "Erde und Himmel und die im Heiligen verborgenen Götter, alles ist fiir die still-freudige Stimmung des Dichters im Ganzen der ursprünglich aufgehenden Natur gegenwärtig." 19 Die "ursprünglich aufgehende Natur" ist, wie wir im Kapitel2 ausfuhrlieh sahen, ein anderes Wort fiir das Heilige. Diese Natur erscheint Hölderlin in einem "philosophischen Licht", d.h., dem Licht der "Reflexionskraft", welche "alles Anwesen mit der Helligkeit des Anwesens begabt. "20 Die Bezüge innerhalb des Heiligen, die sich in Hölderlins Dichtung angesprochen fmden, dämmern Hölderlin also auch im philosophischen Licht, woran er seine Freude hat ("»und das philosophische Licht um mein Fenster ist jezt meine Freude.«"21 ). Heidegger hebt in bezug auf das GA 4: S. 161. GA 4: S. 161. 19 GA 4: S. 161. 20 GA 4: S. 161. 21 Hölderlin zitiert von Heiegger in: GA 4: S. 161. Die Art und Weise, wie Heidegger in diesem Vortrag auf das "philosophische Licht" Hölderlins aufmerksam macht, könnte als ein Hinweis darauf gelesen werden, daß Heideg~er hiermit Hölderlin eine vertiefte Denkerfahrung (gegenüber seinen theoretischen Auslegungen vor 1800) zutraut, die ihn nicht nur dichterisch, sondern auch denkerisch in eine Nähe zu dem von Heidegger ge17 18

33 Helling

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7. Kap.: »Hö1derlins Erde und Himmel«

"philosophische Licht" eigens hervor, daß durch die Philosophie wieder ein Bezug zum Griechenland besteht. An den Gedanken der sich dort zeigenden Wahrheit und Schönheit (aus der Auslegung des ersten Sachverhalts) wieder anknüpfend, sagt Heidegger: "Hier [in Griechenland] hat sich die Wahrheit des Seins als die scheinende Entbergung des Anwesenden anfanglieh gelichtet. Hier ist die Wahrheit die Schönheit selbst gewesen." 22

III. Der dritte Sachverhalt: Hölderlins Bemerkung zum Höchsten der Kunst als dem Erscheinenlassen des Unsichtbaren Durch die zuletzt genannte Schönheit ist der Bezug zum dritten Sachverhalt gegeben: "Die Kunst ist als das zeigende Erscheinenlassen des Unsichtbaren die höchste Art des Zeichens. "2) Der dichterische Gesang entfaltet die Schönheit im Sinne des reinen Anwesenlassens von Anwesenden aus seiner verborgenen (und d.h. unsichtbaren) Herkunft. Weil solche Schönheit nicht einfach "herumliegt", sondern des "Anwesenlassens" bedarf, bedarf es der Kunst und damit auch des künstlerischen Menschen: "Darum braucht es die Kunst, das dichtende Wesen des Menschen. "24 Das stiftende Anwesenlassen des Heiligen samt seinen differenzierten Bereichen bedarf des Menschen: "Der dichterisch wohnende Mensch bringt alles Scheinende, Erde und Himmel und das Heilige, in den für sich stehenden, alles verwahrenden Vorschein, bringt es in der Gestalt des Werkes zum sicheren Stehen."25 Der hier angesprochene Sachverhalt begegnete uns während der vorangegangenen Untersuchungen immer wieder. Das Heilige ist nicht bezuglos, sondern steht in einem ursprünglichfreigebenden Bezug zu Anderem, wobei es dieses Andere (vor allem den Menschen) mit der Freiheit würdigt, diesen Bezug eigens hervorscheinenlassen zu können oder aber ihn zu verdecken. In ereignisgeschichtlichen Worten könnte dies so gefaßt werden: Das Ereignis als ereignender Zuwurf braucht den Menschen als ereigneten Entwurf, und zwar vor allem im Modus der (weitgefaßten) dachten Phänomen bringt; besonders wenn das "jetzt" in Hölderlins "das philosophische Licht um mein Fenster ist jezt meine Freude" betont wird, könnte dies so verstanden werden, daß Hölderlin sein Aufenthalt im südlichen Frankreich und sein dortiges Vertrauterwerden mit dem eigentlichen Wesen der Griechen tatsächlich in ein ursprünglicheres Denken verholfen hat (das nicht mehr nur durch das Gedankengut des deutschen Idealismus faßbar ist). 22 GA 4: S. 161. 2) GA 4: S. 162. 24 GA 4: S. 162. 25 GA 4: S. 162.

§ 21. Auslegungdreier Sachverhalte als Vorbereitung

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besinnlichen Offenheit, damit das Ereignis als Ereignis ins Anwesen gelangen und ins Seiende gegrundet werden kann. In solcher Grundung empfangt das Ereignis den Boden, auf dem es "sicher", d.h., im Werk gegrundet, zum Stehen, d.h. zum bodenständigen, jedoch immer verbal-verstandenen, Anwesen kommen kann.

IV. Die drei Sachverhalte als Anzeige eines "reicheren Verhältnisses", in das Himmel und Erde gehören (Vorblick auf das Geviert) All diese Gedanken, die Hölderlin durch sein Vertrauterwerden mit dem Wesen der Griechen aufgehen, verdankt er dem Bezug zu dem für ihn Fremden. "So spricht denn Hölderlins Brief nicht nur über Griechenland. "26 Das Fremde ist vielmehr im Kommen, geht ihn in seinem Sein auf verwandelnde Weise an. Dadurch gelangt aber auch das Fremde, Griechische in eine eigene Weise der Anwesenheit, die es allein von sich aus nicht mehr haben würde. Das Andenken an das Griechenland verwandelt beide in ihr eigentlicheres Wesen, ohne die Wesensdifferenz dabei zu verwischen: "Dieses [das Griechenland] selbst kommt im Scheinen von Erde und Himmel, im Heiligen, das den Gott verhüllt, im dichtend-denkenden Menschenwesen auf ihn zu, auf ihn an dem einen Ort, wo seine dichterische Wanderschaft die Ruhe gefunden hat, um hier alles in das Andenken zu verwahren. "27 Die Ruhe der Wanderschaft ist nicht eine Art regloser "Ruhestand", in der die in der Wanderschaft gesuchte Begegnung mit dem Fremden nunmehr gescheut werden würde; vielmehr kann erst jetzt aus dieser Ruhe, in der das Heimische nicht mehr verleugnet werden muß, weil es durch das Gespräch mit dem Fremden wesentlich näher gekommen ist, das Fremde selber als solches in der Ruhe seines Wesens kommen gelassen werden. In diesem Kommenlassen wird das Fremde als Fremdes nicht mehr zugunsten einer Heimkunft verlassen, sondern als Fremdes im Heimischen gastfreundlich verwahrt. Diesen Gedanken wird Heidegger gleich zu Beginn der eigentlichen Gedichtauslegung wiederholen. Die von Heidegger in bezug auf diese drei Sachverhalte interpretierten Bezüge des Heiligen, die in seinem Denken den Namen des Gevierts tragen, werden zwar nicht ausdrucklieh von Hölderlin in dieser Klarheit gesagt, aber sie schwingen doch in allem Sagen mit. Hölderlins "Erde und Himmel" gehören

26 27

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GA 4: S. 162. GA 4: S. 162.

7. Kap.: >>Hö1der1ins Erde und Himmel«

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also "in ein reicheres Verhältnis. "2" Die hier vollzogene Vorbereitung für die Auslegung von "Griechenland" zielte wesentlich auf diesen Gedanken des reicheren Verhältnisses ab, um für das Hören auf dessen Stiftung im dichterischen Wort achtsamer zu werden: "Es überrascht nicht mehr, daß dem, was sich im Brief vorbereitet, spät noch ein Gesang folgt, der >Griechenland< heißt und der dieses reichere Verhältnis in das stiftende Wort bringen möchte. "29 Dieses Verhältnis, dessen dichterischer Stiftung wir uns im folgenden zuwenden werden, nennt Heidegger auch im Anhalt an die ">Philosophischen Fragmente< Hölderlins aus seiner ersten Hornburger Zeit, das »Zartere unendliche Verhältniß«" 30 • Die Unendlichkeit dieses Verhältnisses negiert nicht die jeweiligen Grenzen, sondern besagt, daß diese gerade erst in ihrem Bezogensein auf das Andere ihren Sinn empfangen, d.h., die jeweilige Begrenztheit ist nicht im Sinne einer bezuglosen Abgekapseltheit zu verstehen: "Un-endlich besagt, daß die Enden und Seiten, die Gegenden des Verhältnisses nicht abgeschnitten, einseitig für sich stehen, sondern der Einseitigkeit und Endlichkeit enthoben, un-endlich zueinander gehören im Verhältnis, das sie »durchgängig« aus seiner Mitte zusammenhält. "3 ' Die Mitte selber ist natürlich schon gar nicht mit einer der Weltgegenden zu identifizieren, sondern hält diese alle in ihrem Zueinander-Bezogensein: "Die Mitte, die so heißt, weil sie mittelt, ist weder die Erde, noch der Himmel, weder der Gott, noch der Mensch. "32 Das un-endliche Verhältnis ist schließlich auch kein endloses Gleichförmiges, das "kein Wachstum zuläßt." 33 Es ist gerade das Auszeichnende dieses Verhältnisses, daß es sich gegenwendig zu immer reinerem Hervorkommen verhelfen kann. Auf diese Weise ist es gewissermaßen ein "dynamisches" bzw. "lebendiges" Verhältnis, in dem das Bezogene sich in der jeweiligen Differenz bejaht und dadurch die eigentümliche Einheit des einigenden Grundes (als Viel-Einheit bzw. Innigkeit) zum Vorschein gelangen läßt: "Dagegen kann das »zartere Verhältniß« von Erde und Himmel, Gott und Mensch un-endlicher werden. Denn das Nicht-Einseitige kann reiner aus der Innigkeit zum Vorschein kommen, in der die genannten Vier zueinander gehalten werden. "34 Der dichterisch gestifteten Erscheinungsweise dieser vier und ihrer Mitte denkt Heidegger nun im Zuge der Auslegung von Hölderlins Gedichtentwurf

GA 4: S. 162. GA 4: S. 162. 30 GA 4: S. 163. 28

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GA 4: GA 4: 33 GA 4: 34 GA 4:

3'

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S. 163. S. 163. S. 163. S. 163.

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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"Griechenland" weiter nach. Das Heilige wird hier also in bezug auf die vier aus ihm hervorgehenden "Hauptbezirke" hin gedacht.

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland« Im Laufe dieser Arbeit hat sich gezeigt, daß die aus dem Heiligen epochal gewährte Lichtung des Seins von Heidegger in zunehmendem Maße differenzierter gedacht wird; in seiner Spätphilosophie begegneten wir für die vierfach in sich gefiigte Lichtung dem Namen "Geviert". Den Gedanken des "Gevierts" kann Heidegger in diesem Vortrag natürlich nicht gleich von Anfang an voraussetzen, und schon allein daher mußte dieser in den Vorüberlegungen dieses Vortrages wenigstens im Ansatz angedeutet werden, um die Hörer durch diesen "hermeneutischen Leitfaden" für die Auslegung der im Gedichtentwurf "Griechenland" ertönenden Weltgegenden (1.) vorzubereiten. Nachdem sich diese Weltgegenden im Zuge der Auslegung deutlicher in ihrem Wesen gezeigt haben, wird der Bezug zum sich-entziehenden Urgründigen im ereignenden Zuwurfbzw. zum "Geschick" (das von uns als das Ereignis des Heiligen interpretiert wird) thematisiert werden (II.}. Den Namen des Heiligen erwähnt Heidegger im Zuge der Auslegung zwar an einigen Stellen, aber dieser Name erfährt nicht die Betonung wie in den Auslegungen Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre. Dies heißt jedoch wiederum nicht, daß das Phänomen des Heiligen zu einem "Randthema" in Heideggers Hölderlin-Auslegung geworden wäre; wie schon erwähnt, werden wir im nächsten Kapitel sehen, daß er am Anfang der 60er Jahre ausdrücklich am "Heiligen" als dem Grundwort der Dichtung Hölderlins festhält Durch die betonte Thematisierung der aus dem Heiligen gestifteten Bezüge des Gevierts verliert daher das Heilige nicht an Bedeutung, sondern sein Kommen soll dadurch in seiner ganzen geschichtlichen Tragweite (111.) denkerisch vorbereitet werden. Für uns besteht zusammen mit der Durchdenkung von Heideggers Auslegung des Gedichtes also auch die Aufgabe, die eher verhalten gegebenen Hinweise auf das Heilige selbst im Lichte der bereits erarbeiteten Gedanken durchsichtiger zu machen.

I. Das "Geviert" im Gedichtentwurf "Griechenland": Die Stimmen des Geschicks Heidegger beginnt seine Auslegung damit, die in der ersten Verszeile von "Griechenland" anklingenden "Stimmen des Geschicks" zu durchdenken, die sich als die Wesensweisen des Gevierts erweisen werden: "»0 ihr Stimmen des

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7. Kap.: >>Hölderlins Erde und Himmel«

Geschiks, ihr Wege des Wanderers«"35 • Im Wort "Geschick" west freilich das Heilige bereits verborgen mit an; dieses wird aber von Heidegger am Anfang der Untersuchung thematisch umwillen einer Untersuchung der "geschickten Stimmen" abgeblendet. Zunächst betont Heidegger, daß die "Stimmen des Geschicks" den in der ersten Zeile angesprochenen Wegen "des Wanderers", d.h. des Dichters, vorausgehen. In bezugauf diese Wege wiederholt Heidegger noch einmal den während der vorbereitenden Überlegungen bereits sich anbahnenden Gedanken, daß die in den vorangegangenen Wanderjahren erfahrenen Begegnungen des Dichters mit dem Anderen, Fremden im Andenken des Dichters bleiben, obschon dieser "an seinem Ort"36 angekommen ist. Mit dem Enden der vorangegangenen Wanderschaft bzw. der Wege hat es seine eigene Bewandtnis: "Allein solche Wege enden nicht dadurch, daß sie aufhören. Die Wege enden, indem sie ruhen, dies aber dadurch, daß sie sich sammeln im Gesang der Ruhe der Vollendung. "37 Die vollendete Ruhe sammelt sich in der von uns bereits erwähnten "eigentlichen" Wanderung, die das Fremde weiterhin bejaht, aber nunmehr aus der Erfahrung des eigenen Wesens, welches den Wanderer fiir das Würdigen des Wesens des Anderen wie nie zuvor öffnet. In diesem Sinne interpretiert Heidegger die Schlußzeilen des Gedichtes: .............Reisenden aber, wem, Aus Lebensliebe, messend immerhin, Die Füße gehorchen, blühn Schöner die Wege, wo das Land 31

Der jähe Abbruch dieses Gedichtes verweist auf das noch nicht ins Wort gestiftete eigentlichere Wesen des Griechenlandes, das den Dichter wie nie zuvor angeht, jetzt, wo er den Stimmen des Geschicks in seinen eigenen Ort gefolgt ist: Hier bricht der Entwurf j äh ab; zufällig oder weil die Landschaft des unendlichen Verhältnisses sich dem Dichter, ihn überwältigend, eigentlicher geöffnet hat, weil das Griechenland jetzt in seinem Eigensten dem Dichter nahekommt und zwar in der Weise, wie es der so überschriebene Gesangentwurf singt?39

Heideggers Interpretation des "aber" in "Reisenden aber", das Bezug nimmt auf den in den vorhergehenden Versen genannten "Weg zur Kirche", kann von uns Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 164. GA 4: S. 164. 37 GA 4: S. 164. 38 Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 164. 39 GA 4: S. 164. 35

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§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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hier übergangen werden, da diese Thematik in der vorliegenden Arbeit weitgehend bewußt ausgeklammert wird. Es kann höchstens angedeutet werden, daß Heidegger hier nicht mehr gegen die Kirche polemisiert, sondern sie in ihrer "Nachbarschaft" zum Dichter anspricht. 40 Das Gedicht selber, das in den reineren Ausblick in das Fremde mündet, stiftet das Gefiige, aus dem sich dieser Ausblick öffnet, d.h. nennt die Stimmen des Geschicks, die den Wegen des Wanderers vorangehen. Heidegger beginnt die Interpretation dieses Geschicks mit der Frage nach dem jeweils Tönenden dieser Stimmen. Die Antwort sollen die Verse des Gedichtes geben: "Was tönt? Die Verse 2ff. sagen: Denn an der Augen Schule Blau, Fernher, am Tosen des Himmels Tönt wie der Amsel Gesang Der Wolken heitere Stimmung gut Gestimmt vom Daseyn Gottes, dem Gewitter. 41

Die erste tönende Stimme in den oben zitierten Zeilen ist hier die des Himmels. Sie begegnet uns aber auch zugleich zusammen mit der "Wolke", die bereits während unserer Untersuchung im 5. Kapitel eine eigene Betonung in bezug auf das Heilige erfuhr. Hier wird sie als die Stimme des Himmels gedeutet, in dessen verborgenem Innersten die Stimme des Gottes sich verhüllt: Das Tönende ist der Himmel. Seine Stimme ist die heitere Stimmung der Wolken. Was die Wolken ins Aufgeschlossene stimmt, ist gerade jenes, was sie in sich bergen: die »höchste Erscheinung des Gewitters«, den Blitz, den Donner, den Sturm und die Pfeile des Regens. Darin verbirgt sich die Anwesenheit des Gottes.42

Die Wolken verdecken zwar einerseits den Himmel, aber sie bleiben auf ihn bezogen, und dieser tönt durch sie. Wie sich in Kürze zeigen wird, steht gerade der Himmel durch die Wolken in einem einzigartigen Bezug zur Erde, indem er sie so zum Wider-Tönen bringt. In dieser Stimme des Himmels, der durch die Wolke in den Bezug zur Erde kommt, mitoffenbart sich auch die "Freude des Gottes", der sich offenbar im Verborgenen dieses Bezuges erfreut. Daher sind die Wolken "gut gestimmt": "Wenngleich die Gewitterwolken den Himmel verhüllen, gehören sie zu ihm und zeigen die Freude des Gottes. Daher sind die Aus dieser Nachbarschaft ist auch das späte Gedicht "In lieblicher Bläue blühet... " geschrieben, dem Heidegger einen Hinweis für die Interpretation der am Ende von "Griechenland" erwähnten "Lebensliebe" entnimmt, welche den Tod nicht ausschließt, sondern ihn in das Leben miteinbezieht Vgl. GA 4: S. 165. 41 GA 4: S. 165f. 42 GA 4: S. 166. 40

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7. Kap.: ))Hölderlins Erde und Himmel«

Wolken »gut gestimmt«, d.h. in ihrer rechten Bestimmung."43 Weil die Wolken in ihrer Bestimmung sind, d.h. die Stimmen ertönen lassen, ruhen sie in ihrem Wesen und "sind ... bei allem Tosen ruhig."44 Wie oben angedeutet, bringt die Stimme des Himmels gerade durch die Wolke die Erde zum Tönen. In den Versen 9ff. heißt es: ............. Wo darauf Tönend, wie des Kalbs Haut Die Erde,45

Heidegger legt diese Zeilen so aus: "Wie das Fell der geschlagenen Trommel auf seine Weise donnernd die Trommelschläge widerhallt, so tönt auf die Schläge des Blitzes und des »Pfeilenregens« (Griechenland, I. Fassung, StA II, S. 254, 6) hin die Erde wider."46 Der befruchtende Regen, der vom Himmel durch die Wolken auf die Erde fällt, bringt diese zum Erblühen bzw. zum "Widerhall". Das Tönen der Erde wird so von der Stimme des Himmels zwar "angestimmt", jedoch "singt" die Erde ihr ureigenes Lied, das sich nicht aus dem des Himmels ableiten läßt: "Das Tönen der Erde ist das Echo des Himmels. Im Widerhall erwidert die Erde dem Himmel ihren eigenen Gang." 47 Die Erde erwidert ihren, nicht etwa seinen "eigenen Gang". Die Rede vom "Echo" darf hier also nicht im Sinne einer bloßen "Reproduktion" gedacht werden, sondern das Echo hallt auf ureigene, ve1Wandelnde Weise den Zuspruch wider. Deutlich sehen wir hier den Eigenständigkeits-gewährenden Grundzug im Bezugsgefiige des Gevierts gedichtet und gedacht. Die nächste Frage, die Heidegger stellt, ist die nach dem Weg, auf dem die Erde die Stimme des Himmels wiedergibt: "Wohin geht die Erde und auf welchen Wegen? ............ Wo darauf Tönend, wie des Kalbs Haut Die Erde ............... (V. 9ff.) Großen Gesezen nachgehet, die Wissenschaft Und Zärtlichkeit.. ... (V. 13f.)"41

GA 4: S. 166. GA 4: S. 166. 45 Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 166. 46 GA 4: S. 166. 47 GA 4: S. 166. 48 GA 4: S. 166f. 43

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§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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Die "großen Gesetze" interpretiert Heidegger hier im Sinne des "Geschicks" bzw. der auch im 4. Kapitel bereits besprochenen Weisungen49, denen Antigone folgt, wenn sie sagt: "Nicht von heut denn und von gestern, doch während je und je/ Aufgehet sie (die Weisung) und keiner hat dorthin/ Geschaut, von wo aus sie ins Scheinen kam. "50 Die Erde nähert sich also wieder dem "unsichtbaren" Ursprung, aus dem die Stimmen allesamt allererst ertönen. Obwohl Heidegger es an diesem Punkt nicht sagt, dürfen wir im Lichte des ganzen Gedankenganges sagen, daß hier das Heilige beginnt, im ereigneten Entwurf ins Wort gehoben zu werden. Der Weg, den die Erde geht, ist also einer, der zum Hervorscheinen des Heiligen führen kann. Ihre Stimme, die der Stimme des Himmels antwortet, gilt dem Heiligen. Wie gibt die Erde dem Heiligen ihre Stimme? Die Erde leiht dem Heiligen ihre Stimme, indem sie dem menschlichen Dasein seinen erdenhaften Körper verleiht, durch den das Dasein selbst eine Stimme bekommt, die verlautbarend aufweisen kann. Diesem Sachverhalt nähert sich Heidegger so: "Die Erde schickt sich in die großen Gesetze. Auf welchen Wegen? Sie sind genannt (V. 13f.}: »Die Wissenschaft und Zärtlichkeit«"''. Die "Wissenschaft" nennt hier das "Denken der Denker" 52 • Daraus entnehmen wir, daß auch die Philosophie ihre Stimme der wesenhaften ZuStimmung der Erde verdankt, die das Dasein als leibhaftiges stimmt. Die Philosophie wird dadurch nicht auf die Erde reduziert; sie bleibt die einzigartige Stimme des Daseins. Aber die Philosophie wird in ihrem Bezug zur Erde53 gegründet. Die "Zärtlichkeit" erläutert den Weg der Erde zum "großen Geschick" weiter. In dem eingangs erwähnten Brief an Böhlendorff, dem die vorbereitenden Überlegungen galten, wurde sie die Popularität der Griechen genannt54 • Popularität erläutert Heidegger hier als den bejahend-offenen Bezug des Einheimischen zum Fremden: "Die popularitas ist das Vermögen der höchsten Zuneigung zu dem, und der äußersten Mitteilung an das, was als das Fremde ein Volk in seinem Einheimischen geschicklieh trifft. "55 Die so verstandene Popularität, welche die Erde auf ihrem Weg anstimmt, verbürgt das wahrhaft offene Bzw. der einen vielessagenden Weisung. GA 4: S. 167. 51 GA 4: S. 167. 52 GA 4: S. 167. 53 Sowie sie natürlich immer auch in ihrem Bezug zum Himmel und zum (sich verbergenden) Gott denkerisch gegründet werden soll. 54 Gemäß einer von Heidegger übernommenen Konjektur Becks; vgl. GA 4: S. 158, Anm.l. 55 GA 4: S. 167. 49

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7. Kap.: »Hölderlins Erde und Himmel«

Geben und Empfangen in echter Begegnung. Die eigene Weise, wie die Griechen dies vermochten, nennt das Wort Zärtlichkeit. Wie durch die Zärtlichkeit die errungene Offenheit dem Erscheinenden freudig gereicht wird, um dieses in seinem eigentlichen Sein einfach zu empfangen, so zielt auch die "Wissenschaft'' auf denkerischem Wege dem reinen Erscheinenlassen des Sichzeigenden entgegen: "Die Zärtlichkeit, ihr erfreuend-reichendes und zugleich einfachempfangendes Wesen, hält mit der Wissenschaft, dem denkenden Zurückscheinenlassen, die Erde dem Himmel offen. "s6 Die "großen Gesetze" bzw. das Geschick sind/ist nicht mit einer der Weltgegenden zu identifiZieren, aber sie alle verleihen ihnen/ihm in ihrem Aufeinanderbezogensein Stimmen. Daher ist es nicht inkonsequent, daß die Erde den "großen Gesetzen" nachgeht, indem sie sich dem Himmel öffnet. Gerade erst wenn alle vier Weltgegenden sich in ihrem jeweiligen Wesen offen gegenwendig bejahen und d.h. füreinander offen sein lassen, kann das Eröffnende von Lichtung überhaupt in seiner bejahenden Verborgenheit gewahrt werden. Die Wissenschaft und die Zärtlichkeit stiften also zunächst den offenen Bezug zwischen Himmel und Erde: "Beide bilden den Bezug der Erde zum Himmel und sind dadurch zugleich himmlisch. "s7 Durch den Bezug lassen sie das Bezogene in seiner Eigenheit in ihr jeweiliges Wesen ein. Zu beachten ist, daß dem Geschick gerade entsprochen wird, indem das Geschickte, wie wir gerade sahen, sich gegenseitig in die Offenheit seines jeweiligen Wesens verhilft. Geschick und Geschicktes (bzw. die Stimmen) stehen also in keinerlei "Konkurenzverhältnis. "Die Erde tönt, gestimmt in das »Echo des Himmels«. Sie tönt durch »die Wissenschaft und Zärtlichkeit«, die, erdig beide, dem Geschick entsprechen. "ss Aber die Sprache dieses Entsprechens erschöpft sich noch nicht im Bilden des Bezugs von Himmel und Erde. Zur Sprache gebracht werden muß noch jenes Phänomen, das sich zunächst in den Wolken verhüllt hat, obgleich seine Freude sie bereits durchstimmte. Vorsichtig nähert sich Heidegger in seiner Interpretation nun dem Phänomen des Göttlichen als der vierten Weltgegend. Zuvor wiederholt er noch einmal das Bezugsgefüge der anderen drei. Himmel und Erde gründen durch ihre Stimmen das Anheben des dichterischen Gesanges: "Erst tönt der Himmel. Darauf tönet die Erde. Und nachher? Die Verse 14ff. sagen: » .....und den Himmel breit lauter Hülle nachher/ Erscheinend singen Gesangeswolken.«"s9 Der Gesang erscheint "nachher", indem er sein Wes6 GA 4: GA 4:

S?

58 59

s. 167f. s. 168.

GA 4: S. 168. GA 4: S. 168.

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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sen im Bezug zu den Stimmen des Himmels und der Erde erfahren hat, d.h. diese als Himmel und Erde in sein Wesen mitaufgenommen hat, und aus dieser Sammlung das noch Verborgene ruft: "Nachher kann dieses Singen nur der Gesang sein, der von der Erde her den Hinunel ruft und so hinunlisch-irdisch zugleich ist. V. 7f:. »Und Rufe, wie hinausschauen, zur I Unsterblichkeit und Helden;«" 60 • Mit der "Unsterblichkeit", die im hinunlisch-irdischen Gesang der Menschen angerufen wird, zeigt sich für Heidegger der Bezug zum Göttlichen: "Das Rufen der Sänger ist ein Hinausschauen zur Unsterblichkeit, d.h. zur Göttlichkeit, die sich ins Heilige birgt."61 Zugleich mit der Göttlichkeit, welche als letzte Weltgegend des Gevierts thematisiert wird, wird nun das Heilige wieder ausdrücklich beim Namen genannt. Das Heilige birgt Göttlichkeit, d.h. einerseits, daß Göttliches sich noch im Heiligen verbirgt, und andererseits, daß das Heilige das Göttliche für ein Geschichte-prägendes "Erscheinen" noch gespart hält. Daher ergehen an das Göttliche "Rufe", die solchem Kommen entgegenblicken. Solch ein Kommen würde das Verborgene als Verborgenes erscheinen lassen. Varbereitet wird diese Erfahrung durch die Rufe, die wie eine Art "Hinausschauen zum Himmel" sind: "Die Rufe sind wie ein Hinausschauen, hinaus von der Erde in die Weite des Himmels ... Dieser ist als der tönende »der Augen Schule Blau«. Das nach den Stimmen des Geschicks ausblickende Rufen geht bei der Bläue des Himmels in die Schule."62 Dieser Gedanke wird verständlicher, wenn dem Phänomen der himmlischen Bläue nachgedacht wird: Einerseits bekundet sich in ihr ein Lichtes, andererseits aber auch das Dunkle, Verborgene. Die Bläue verweist auf das Schwarz, welches am Umkreis der Erde bläulich zu dämmern beginnt"' Aus diesem Geschehen lernt das Rufen den Zug des Verborgenen besser kennen und kann somit in ein eigentlicheres .Rufen des Göttlichen kommen, das ja ebenfalls auf ein Verborgenes verweist. Die Rufenden selber sind hier vor allem die Dichter, denen das Ins-WortHeben des Göttlichen, umwillen des Geschichtlichwerdens des Heiligen, aufgegeben ist. "Die also Rufenden werden dadurch selber zu einer Stimme des Geschicks." 64 Weil sie eine Stimme des Geschicks sind, d.h. in bezugauf ihre Wesensherkunft aus demselben Bereich stammen, von wo auch der von ihnen GA 4: S. 168. GA 4: S. 168. 62 GA 4: S. 168f. 63 Vgl. hierzu auch Heideggers zweite Trakl-Auslegung in Unterwegs zur Sprache (Pfullingen: Günther Neske, 91990, S. 42) und die Erläuterung hiervon in meinem Buch Heidegger und Meister Eckehart (Berlin: Duncker & Humblot, 1997: S. 43f.). 64 GA 4: S. 169. 60 61

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7. Kap.: »Hölderlins Erde und Himmel«

wesensmäßig unterschiedene Gott stammt, gehört zwar die Liebe dem Gott, d.h. gilt ihm, aber so, daß sie nicht gänzlich in ihm aufgeht, sondern den Bezug zum Heiligen wahrt, umwillen dessen Erscheinens der Gott gerufen wird (wobei der Gott im Erscheinen des Heiligen ja gerade sein ureigenes Wesen erst empfängt und von daher dieses Rufen zumal umwillen des Gottes erfolgt). Dadurch bleibt diese Liebe für Gott gewissermaßen auch "ein Fremdes", d.h. "etwas", das nicht zu seinem possessiven Eigentum wird, sondern durch das sein Wesen ergänzt wird: Ihre [d.h. der Rufenden] »Liebe zur Unsterblichkeit«, d.h. zur Göttlichkeit >>ist eines Gottes«. (>Was ist Gott?Was ist Gott?< »Jemehr ist eins/ Unsichtbar, schiket es sich in Fremdes.«65

Aber gerade weil der Gott sich in das Fremde schickt, weil er in den durch die Liebe der Rufenden gestifteten Offenständigkeitsbereich, der das Heilige geschichtlich werden lassen soll, die verborgene Wesensherkunft so rein austrägt, daß er im Vollzug seines "Erscheinens" sich immer schon dem Fremden gefügt und gewidmet hat, ist er selbst nicht "erblickbar": "Darum kann das schauende Rufen der Sänger das Angesicht des Gottes selbst nicht erblicken. "66 Da der Gott der reinste Hinweis auf das Heilige als das Sichverbergende ist, west er selbst auch nur an, indem er sich verbirgt: "Der Gott west nur an, indem er sich verbirgt. "67 Er verbirgt sich, indem er dem Heiligen rein angehört und daher sein Wesen in die Bejahung des Anderen, Fremden schickt, d.h. den anderen Weltgegenden des Gevierts seine unscheinbare Wesensoffenheit schenkt. Das Heilige verbirgt demnach den Gott durch das reine Wesen des freigebenden Entzugs, welches es den Gott austragen läßt. So kann es für den Dichter gewissermaßen schwerer sein, die geschichtlich einmalige Anwesungsweise des Heiligen im Gott zu nennen als das Heilige selbst anzusprechen, das sich vermittelt auch in den anderen Weltgegenden bekundet (z.B. in der "heiligen Erde"), aber eben noch nicht auf eine Weise, die das ganze Geviert im Heiligen geschichtlich ruhen lassen könnte: "Der Gedanke, den das Dichten des Sängers bildet, gehört dem heiligen Bilde, d.h. dem Anblick des Heiligen, das den Gott verbirgt. Aber der Gesang, der von der Erde aus zum Himmel ruft, wäre nicht

GA 4: S. 169. GA 4: S. 169. 67 GA 4: S. 169f.

65

66

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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Stimme ohne die Stimme des Gottes, die jedoch die Menschen vor dem »Schröklichen« (V. 30) schont."68 Hier zeigt sich also ein Sinn des "Fehls Gottes": Er schont die Menschen. Wovor er sie schont, deutet Heidegger nur mit dem Verweis auf die Verszeile 30 an, wo von dem "Schröklichen" gesprochen wird. Die weiteren Gedichtzeilen fügen noch hinzu: »Den Schröklichen, daß zu sehr nicht eins I Ihn liebet mit Gebeten oder/ Der Seele.«69 Dies erinnert uns an Heideggers Auslegung derjenigen "Gefahr", von der in der Hymne »Wie wenn am Feiertage ... « gesprochen wird, nämlich daß der Anblick eines Gottes den Menschen zu sehr vom eigenen Bezug zum Heiligen abbringen kann, indem der Mensch eine geschichtliche Erscheinungsweise des Heiligen verabsolutiert, d.h. sich an ein "Gegenüber" verliert und dadurch das Gleichgewicht im Geviert zerstört, wobei dann das urgründig verborgenbleibende Heilige nicht mehr hervorscheinen kann. Der Gott schont in seinem Fernbleiben die Menschen, indem er das freudig-gewährende Wesen des Heiligen nicht in der reinen Helle des Anblicks eines Gottes aufgehen läßt, damit die Menschen erst mit ihrem eigenen Wesen in dem Maße vertraut werden, daß sie beim Erblicken eines Gottes nicht die Gier danach packt, sich seiner immer mehr zu bemächtigen und dadurch ihres eigenen Wesens (das ja gerade nicht im possessiven "Bemächtigen", sondern im Vollzug des "Sein-Lassens" beruht) verlustig zu gehen. Diese zur Schonung gewährte Vorbereitungsphase steht natürlich nicht im Gegensatz zu dem uns von Heidegger her bereits bekannten Gedanken, daß die Menschen durch die einstmalige echte Begegnung mit dem Göttlichen ihr Wesen noch echter bejahen können, d.h. ursprünglich sich in das Sein-lassen des Anderen "schicken" können. Die Weise, wie sich der Gott verbirgt, wurde bereits angedeutet. Dadurch, daß er seinen gewährenden Wesenszug ins Fremde, d.h. in alles Andere schickt, ist er gewissermaßen zwar überall mitanwesend, aber so, daß er nicht sein Wesen in den Vordergrund stellt, sondern unscheinbar sein Wesen als das Geschehen des verborgenbleibenden Entbergens bzw. Sein-lassens des Anderen (innerhalb der Lichtung) vollzieht. Der Gott ist zwar "weit umher", d.h. gewissermaßen immer schon gegenwärtig, aber so unscheinbar, daß die Rufenden ihn noch nicht mit seinem Namen ansprechen können: "Daß der Gott »alltag« und »weit umher« sich zeigt, indem er für das rufende Schauen sich in die Verdeckung schickt, ist das Wunderbare dieser Stimme des Geschicks. V.

68 69

GA 4: S. 170. Hölderlin zitiert von Heidegger in GA 4: S. 155.

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25ff.: »Alltag aber wunderbar zu lieb den Menschen/ Gott an hat ein Gewand... «"70 Zusammenfassend betont Heidegger noch einmal die Zusammengehörigkeit der vier soeben besprochenen Weltgegenden. Sie sind vier differente Stimmen, die jedoch nicht ohne die jeweils anderen zu verstehen sind. Nur in dieser Zusammengehörigkeit sind sie: Vier Stimmen sind es, die tönen: Der Himmel, die Erde, der Mensch, der Gott. In diesen vier Stimmen versammelt das Geschick das ganze unendliche Verhältnis. Doch keines der Vier steht und geht einseitig ftir sich. Keines ist in diesem Sinne endlich. Keines ist ohne die anderen. Un-endlich halten sie sich aneinander, sind, was sie sind, aus dem un-endlichen Verhältnis, sind dieses Ganze selbst. 71

Heidegger sagt an dieser Stelle noch nichts darüber, ob und inwiefern diese Vier geschichtlich gegenwärtig ihr Wesen vollziehen können. Er bedenkt hier lediglich den gegenwendigen wesensgewährenden Zug, durch den sie sich austragen und dabei gegenseitig ins Sein bringen können. Nachdem die Vier in ihrem eigenen, bezugsverbundenen Wesen gedacht wurden, stellt sich nun die Frage nach ihrer Herkunft.

II. Das Geschick des Gevierts. Das Kommen des großen Anfangs Gezeigt hat sich, daß das Geschick vier Stimmen hat. Deren Wesen wurde erhellt. Wie steht es nun um das "Geschick" selbst? "Was sagen uns seine Stimmen vom Geschick?" 72 Aus den vorhergegangenen Untersuchungen dieser Arbeit wissen wir, daß das Geviert die Lichtung differenziert, die jedoch in ihr Wesen allererst aus dem "Urverborgenen" (dem Ereignis des Heiligen) entborgen, freigegeben, sein-gelassen bzw. "geschickt" wird. Diesen Sachverhalt bedenkt Heidegger nun an dieser Stelle des Vortrages, wobei er selber das Schikkende in diesem Geschick hier nicht mit dem Namen des Heiligen nennt. Die Stimmen des Geschicks bekunden, daß sie einerseits in ihr gegenwendiges Zueinander übereignet sind und zumal gesammelt in dem einen Geschick gehalten werden: "Es schickt die Vier zueinander, indem es sie, das ganze Verhältnis, bei sich versammelt hält." 73 Wieder erweist sich, daß das "Halten" des Geschicks gerade kein possessives Festhalten ist, sondern ein Schicken, das GA 4: S. GA 4: S. 72 GA 4: S. 73 GA4:S. 70 71

170. 170. 170f. I71.

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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dem Geschickten einen Halt, eine Mitte gewährt, auf Grund derer das Geschickte sich aus seinem ureigenen Wesen zueinander verhalten und dieses Verhältnis wahren kann. "Dann wäre vermutlich das Geschick »die Mitt«, die mittelt, insofern sie die Vier allererst in ihr Zueinandergehören ermittelt, sie in dieses schickt. "74 Im Geschick fängt das Geviert an, d.h. empfängt es sein Wesen aus ihm und trägt es in die Lichtung ein {wo es ins Seiende geborgen werden kann). Das sich entfaltende Geviert bleibt somit in der Innigkeit versammelt, die nicht verschmilzt, sondern in der und durch die der Austrag des Verschiedenen anfängt: "Das Geschick holt die Vier in seine Mitte zu sich ein, ninunt sie an sich, fängt sie an in die Innigkeit. Unter der Überschrift >Gestalt und Geist< sagt Hölderlin: »Alles ist innig« (StA II, S. 321; Hell IV2, S. 381)."75 Damit ninunt Heidegger seine Gedanken zur Innigkeit wieder auf, die wir im Zuge des 2. Kapitels(§ 7. II.) bereits kennengelernt haben. Weil die Stilrunen des Geschicks alle aus dem Geschick ihr Wesen empfangen, welches sie in die zeit-räumliche Lichtung austragen dürfen, kann das Geschick (bzw. die "Mitte") der "große Anfang" genannt werden: "Als die Mitte des ganzen Verhältnisses ist das Geschick der alles versammelnde An-fang. Die Mitte ist als das tönende große Geschick der große Anfang. "76 Bis jetzt wurde das Wesen des Gevierts und das Ereignis des Geschicks noch relativ ungeschichtlich thematisiert. Mit dem nächsten Absatz beginnt Heidegger die Frage nach der geschichtlich-zeitlichen Wesungsweise des "großen Anfangs" (bzw., wie wir interpretierend sagen können, des Heiligen) zu stellen; hiermit wird auch die Frage nach dem geschichtlichen Wesen des Heiligen in unserer Epoche vorbereitet. "Doch auf welche Weise ist ein Anfang?"77

a) Das Kommen des "großen Anfangs" zum "Geringen". Vorbereitende Überlegungen zum Geschichtlichwerden des Heiligen

Wie wir schon während der Analyse des "Anfangs" in Kapitel 3 sahen, betont Heidegger auch hier wieder den ursprünglich zeitlichen Charakter des Anfangs, der sich niemals (wie der Beginn) im Moment des ersten InErscheinung-Tretens von etwas erschöpft, sondern das Sich-Entfaltende bis zu seinem Ende trägt. Daher ist der Anfang in der Wesensentfaltung auch nie verGA4: S.171. GA 4: S. 171. 76 GA 4: S. 171. 77 GA4: S. 171. 74

75

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7. Kap.: >>Hölderlins Erde und Himmel«

gangen, sondern bleibt vielmehr im steten Kommen: "Anfang ist anwesend, sofern er im Kommen bleibt. Denn das Ermitteln, das die Vier in die Mitte der Innigkeit versammelt, ist ein erstes Kommen. Anfang bleibt als Ankunft. "78 Der Anfang schwindet also nicht dadurch, daß er erst im Kommen ist, sondern der Möglichkeitscharakter des Kommenden bringt zukünftigen Entfaltungsraum ftir das Gegenwärtige, das sich dem Kommenden so immer mehr öffnen kann. Es ist nicht nur so, daß der Anfang in seinem Kommen nicht verschwindet, sondern gerade dort bleibt er reiner Anfang, d.h. einer, der immer wieder neu das Geviert (d.h. das "unendliche Verhältnis") in sein Wesen entlassen kann und damit die Möglichkeit mit sich bringt, daß dieses immer reiner zu seinem Wesen fmde: "Der Anfang ist umso bleibender, je näher er sich in der Möglichkeit hält, daß er kommen kann und in seinem Kommen das bringt und schickt, was er bei sich hält: das unendliche Verhältnis. "79 Die Möglichkeit des Anfangs ist dem gegenwärtig Wirklichen also nicht fern, sondern wesentlich nahe, d .h., eröffnet ihm den Raum ftir seine reinere Wesensentfaltung. Damit der große Anfang immer reiner kommen kann, muß er aber im Wesen der Angefangenhabenden immer ursprünglicher zugelassen werden. Daher muß dem "großen Anfang" auch eine Art "große Grundhaltung" im Angefangenhabenden entsprechen, d.h. eine, die sich ihm entsprechend öffnet: "Dann muß aber dem Kommen des großen Anfangs auch ein Großes entsprechen, das ihn groß zu fassen, d.h. zuvor groß zu erwarten vermag. Doch Hölderlin sagt es anders (V. 23/24) »Zu Geringem auch kann kommen/ Großer Anfang.«" 80 Heidegger sagt hier nicht: Hölderlin sagt ein anderes, d.h. etwas, das dem soeben dargelegten Gedankengang widersprechen würde, sondern er sagt es, d.h. den selben Gedanken, anders, d.h. auf eine andere Weise. Es gilt also aufzuzeigen, wie "das Geringe" dem großen Anfang groß entsprechen kann. Heidegger fragt zunächst: "Wo ist das Geringe?" 81 Als ersten Hinweis auf seinen Ort, antwortet Heidegger: "Es ist der eine Ort, an dem ftir ihn [d.h. Hölderlin] alle heiligen Orte versammelt sind. "82 Dieser Satz bezieht sich auf den in den Vorüberlegungen bereits angesprochenen Satz Hölderlins (aus dem von Heidegger eingangs zitierten Brief an Böhlendorft). Diesen Ort, an dem sich die "heiligen Orte" versammeln, nennt Hölderlin in einem Hymnenentwurf auch den "armen Ort": "In dem Hymnenentwurf, der beginnt: »Wenn aber die Himmlischen haben/ Gebaut, still ist es/ Auf Erden, und wohlgestalt stehnl Die GA 4: S. GA4: S. 80 GA4: S. 81 GA 4: S. 82 GA 4: S. 78

79

171. 171. 171. 171. 171.

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland((

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betroffenen Berge« (StA II, S. 222, lff.) sagt Hölderlin: »Jezt aber blüht es/ Am armen Ort. Und wunderbar groß will! Es stehen (V. 18ff.)."13 Am "armen Ort", um den sich die "heiligen Orte" versammeln, "blüht es." Was ist mit den "heiligen Orten" gemeint? Sind es Ortschaften auf der gleichen "Ebene" wie der "arme Ort"? Vermutlich nicht. Die "heiligen Orte" sind u.a. Bauwerk der "Himmlischen", d.h. sie entstehen im Bezug von Himmel und Erde, der, wie wir sahen, in ein reicheres Verhältnis gehört. Also ist mit den "heiligen Orten" (welche die Erde birgt, aber nicht "besitzt") das Bauwerk des Gevierts bzw. des "unendlichen Verhältnisses" genannt: "Es ist der Bau des unendlichen Verhältnisses. "84 Als dieser Bau entfaltet sich allererst die Lichtung, und nur in ihr kann jeglicher dinghaft-seiende Ort in sein Sein kommen. Der "arme Ort" wäre somit ein gegenwärtig seiender Ort, den Hölderlin nun (auch in dem "philosophischen Licht um sein Fenster") als einen erfährt, der die "heiligen Orte" um sich versammelt. Mit anderen Worten, Heidegger fängt hier an, das Verhältnis von Geviert und Ding bzw. den durch die seienden Dinge gestifteten Ort zu bedenken. Das Seiende zeigt sich hier also nicht als das starre, bloß Vorhandene, sondern beginnt sich in seinem wesensversammelnden Grundzug zu erhellen. Noch ist zwar das Geviert nicht so an diesen Ort gegründet, daß es schon rein aus ihm hervorscheinen kann, aber erste Regungen in diese Richtungen machen sich bemerkbar: "Jetzt »blüht es am armen Ort«. Blühen ist das freudig-wartende Bereiten von Reife und Frucht. Das unendliche Verhältnis wartet dem entgegen, daß es einmal am armen Ort groß stehe und so dem großen Anfang entspreche. "85 Hier sehen wir wieder, daß nicht der Mensch dazu "verdammt" ist, auf eine eigentlichere Anwesenheitsweise des Seins rein "passiv" zu warten, sondern daß gewissermaßen der "große Anfang" wartet auf das Wesentlichwerden der Menschen (das einer freien Ent-scheidung bedarf). Hölderlin erfährt diesen Anfang an dem gegenwärtigen Ort seines Aufenthaltes. Die folgende Frage, die Heidegger im Zuge des Aufweises stellt, lautet: Wie gehört dieser Ort in das Geringe, an dem das Heilige (im großen Anfang) sich zeigen kann? Durch diese Frage ist implizit belegt, daß der eine Ort Hölderlins nicht der einzige ist, zu dem das Heilige kommen kann, sondern daß dieser in das Geringe gehört, d.h., daß es sich auch (aber nicht nur) im heimatlichen Gefilde Hölderlins zeigen kann: "Gehört der »eine Ort«, den der Dichter in seinem heimischen Land gefunden, als der arme (und heimliche) in jenes Geringe, zu dem >>auch großer

GA 4: S. 171 f. GA 4: S. 172. 85 GA 4: S. 172. 83

84

34 Helting

7. Kap.: »Hölderlins Erde und Himmel«

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Anfang kommen kann«? Wie aber kommt dieser?"16 Es wird sich zeigen, inwiefern dieser Ort etwas Besonderes zu diesem Kommen beizutragen hat, wobei dieser Beitrag nur im Gespräch mit dem Eigentümlichen anderer in dieses Geringe gehörender Orte vollbracht werden kann. Aber zuvor muß Heidegger noch klären, wie Hölderlin das Kommen des großen Anfangs zum Geringen dichtet und warum das Geringe als "Geringes" bezeichnet wird. Dieses Kommen des Anfangs zum Geringen wird eingeleitet durch zwei Verszeilen »Aber wie der Reigen/ Zur Hochzeit,«". Heidegger bemerkt sogleich: "Das klingt befremdend. Der Reigen soll das Große und die Hochzeit das Geringe sein? Man möchte das Umgekehrte meinen!"" Nach Hölderlins Wort kommt der große Anfang als Reigen zum Geringen der Hochzeit. Was heißt hier Hochzeit und was Reigen? Die kommende Hochzeit bringt Heidegger hier mit dem Wort des "Brautfestes" zusammen, das uns vor allem aus dem 3. Kapitel schon bekannt ist: "Hölderlin sagt von ihr [der Hochzeit] am Beginn der 13. Strophe der Rheinhymne (StA II, S. 147, 180): »Dann feiern das Brautfest Menschen und Götter,«."" Die "Braut" dieses "Brautfestes", das Menschen und Götter feiern, indem sie sich begegnen, wird in diesem Vortrag von Heidegger eigens genannt: "Die Braut ist die Erde, zu der das Lied des Himmels kommt. So sagt es der späte Entwurf (StA II, S. 253, 44): »Dann kommt das Brautlied des Himmels.«"90 Alle vier Weltgegenden werden hier gleichursprünglich in das Geschehen des Geschichtlichwerdens des Heiligen, in das Kommen des großen Anfangs, miteinbezogen. Wurde in den vorhergegangenen Auslegungen des Brautfestes immer die Begegnung von Mensch und Gott betont und das "Streitgeschehen" von Himmel (bzw. Welt) und Erde erst in dessen Lichte thematisiert, so nennt die Auslegung des Wortes von der "Hochzeit" nun alle vier in ihrem gleichursprünglichen Bezug zur Innigkeit (des Heiligen), durch welche sie in ihrem ureigenen Sein zusammengehörig gehalten werden: "Die Hochzeit ist das Ganze der Innigkeit von: Erde und Himmel, Menschen und Göttern. Sie ist Fest und Feier des un-endlichen Verhältnisses."91 Das Geringe der Hochzeit ist also im Sinne des Kostbaren zu verstehen (so wie "klein" ursprünglich "»fein« und kostbar [heißt], wie es noch das Wort Kleinod sagt."92 ). GA 4: S. 172. Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 172. 88 GA 4: S. 172. 89 GA 4: S. 172. 90 GA 4: S. 173. 91 GA 4: S. 173. 92 GA 4: S. 174.

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§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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Damit ist deutlich geworden, daß die Hochzeit als das Geringe, zu dem der große Anfang kommt, ganz und gar nichts "Geringschätziges" ist. Auch der Reigen, in dem dieser Anfang kommt, muß in einer ursprünglichen Bedeutung gedacht werden: "So wenig wir das im Entwurf gesagte »Geringe« geringschätzig vorstellen dürfen, so sehr müssen wir dem Wort »Reigen« jenen Reichturn lassen, dadurch es dasselbe nennen kann wie die Rede vom großen Anfang. "93 Heidegger schließt diesem Satz eine kurze Besinnung auf den griechischen xop6~ an, die wir hier nicht zu untersuchen brauchen. Wichtig ist fiir uns, daß der Reigen das Kommen des großen Anfangs ist, in dem sich die vier Weltgegenden gewissermaßen "die Hand reichen" bzw. sich in der Begegnung gegenseitig beschenken und dadurch den schenkenden Grundzug ihrer gemeinsamen Wesensherkunft (der sie allererst schenken läßt) hervorscheinen lassen: "Nur als der Reigen der Himmlischen, die aus ihrem Feuer auf die Erde und die Irdischen zu tanzen im Gesang, kann der Reigen groß und als der große der aufgehende Anfang des großen Geschicks sein. "94 Heidegger faßt den ganzen Gedanken des Kommens des großen Anfangs noch einmal zusammen, um danach unsere gegenwärtige geschichtliche Epoche im Lichte dieses Kommens zu bedenken: "Das Kommende ist das ganze un-endliche Verhältnis, in das mit dem Gott und mit den Menschen Erde und Himmel gehören. Das Kommen des großen Anfangs erbringt erst das Geringe in sein Geringes. "95 D.h., der geschichtlich seiende Ort empfängt seine Würde dann eigentlich, wenn er als der hochzeitliche Ort der Trauung der vier Weltgegenden erfahren wird, die im großen Anfang im Kommen sind. Indem der Ort im Ereignis dieses Geschehen gewahrt wird, nimmt er dieses Geschehens in sein Wesen eigentlich auf (bzw. läßt dieses als sein eigentliches Wesen zu) und trägt es auf verwandelte Weise ins Seiende aus. Diese Verwandlung ist im ereignisgeschichtlichen Denken im Sinne der ausgezeichneten Bergung zu denken, wo das Seyn im Seienden eigens her-vor-zuscheinen beginnt (Gründung). Jeder ursprüngliche Ort trägt auf seine ureigene Weise dieses Geschehen im Seienden aus. Auch der Ort des Dichters: "Dieses [das Geringe] ist- auf seine gewandelte Weise- selber das un-endliche Verhältnis und gehört an den armen, heimlichen Ort im heimischen Gefild des Dichters."96

GA 4: S. GA 4: S. 95 GA 4: S. 96 GA 4: S.

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94

34*

174. 174. 175. 175.

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7. Kap.: »Hölderlins Erde und Himmel«

111. Das Geschiehtliebwerden des Heiligen. Der große Anfang des Geschicks und sein Bezug zur gegenwärtigen gescbicbtlicben Epoche Das Geringe, von dem aus Hölderlin spricht, wird nun von Heidegger konkretisiert: "Das Geringe ist das Abendländische. "97 Dieser Übergang vom Gedanken des im großen Anfang kommenden Gevierts zum Gedanken seines konkret geschichtlichen Werdens bedarf sorgfältiger Auslegung, da es sonst zu groben Mißverständnissen kommen muß. Der Angelpunkt dieser Auslegung liegt in dem Wort "ist"; wenn Heidegger sagt, daß "das Geringe" das Abendländische ist, dann darf dies nicht als eine glatte Identifikation gelesen werden; das ontologische Geschehen des Ankommens des Gevierts kann niemals mit einer rein ontischen Gegebenheit einfach gleichgesetzt werden. Vielmehr sagt das "ist": Das Geringe trägt sich im Abendland aus bzw. ist dahin unterwegs. Das Abendland ist der geschichtlich gegenwärtige Ort, an dem der Dichter das Geringe vernimmt. Warum Heidegger hier gerade das Abendland betont, wird ein wenig später untersucht werden. Ebensowenig wie das ontisch seiende Abendland restlos mit dem Geringen identifiziert werden kann, kann der geschichtliche Ort der antiken Griechen glatt mit dem "großen Anfang" identifiziert werden. Der folgende Satz Heideggers muß also ebenso vorsichtig ausgelegt werden: "Das Griechenland aber, das Morgenländische, ist der möglicherweise kommende große Anfang."•' Dies will nicht sagen, daß der "große Anfang" das Privateigentum bzw. der Kulturschatz des griechischen Volkes wäre, den es im Maßstab 1: 1 in das Abendland zu übertragen gälte. Auch hier muß das "ist" ereignisgeschichtlich im Sinne der Bergung gedacht werden: Der "große Anfang" birgt sich bzw. spricht sich im Griechentum, im Wesen der Griechen, aus und spricht uns (als Gewesenes) an, ruft uns auf, dem, was dort angefangen hat, eine ursprünglichere Zukunft zu geben. Es geht nicht um eine Renaissance der antiken Kultur, sondern darum, daß das, was bei den Griechen groß angefangen hat, immer reiner sich am gegenwärtigen Ort zukünftig entfalten darf. Die Griechen selber sind Gesprächspartner, die uns, in ihrem Wesen bedacht, den Hinweis auf den großen Anfang überliefern. Wenn dieser Sachverhalt bezüglich des "ist" nicht so verstanden wird, kommt es zu den absurdesten Folgerungen. Dann wäre der "große Anfang", der vorher im Vortrag als der Ursprung (die "Mitte") aller Lichtungsgegenden ausgelegt wurde, innerhalb derer Seiendes erst zu seinem Eigenstand kommen kann, plötzlich mit einem seienden Land identifiziert. Daher zeigt sich in der Rede vom "großen Anfang", so wie ihn Heidegger jetzt nennt, eine geschichtliche Bergungsweise der verborgenbleibenden Mitte (des "Uranfangs") der Lichtung. 97

98

GA 4: S. 176. GA 4: S. 176.

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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Weil das Geringe nicht einfach mit dem Abendland gleichzusetzen ist, sondern eben das "ist" des Abendlandes im Sinne von "ist der Gründung faltig" zu verstehen ist, kann Heidegger im nächsten Satz betonen, daß das Wesen des großen Anfangs erst kommen gelassen werden muß. Das betonte "ist" in diesem Satz will im Sinne des betonten "wird" sagen: Das Geringe ist keine ontische, bereits vorhandene Eigenschaft des Abendlandes, sondern seine Wesenszulassung ist Aufgabe: "Das Geringe ist jedoch nur, indem es das wird, zu dem großer Anfang kommen kann."99 Dieser Satz ist nur dann verständlich, wenn das "ist" so wie in den vorhergegangenen zwei Sätzen nicht als blanke bzw. starre Identifikation gelesen wird, sondern als Geschehen der Bergung eines ontologischen Zugs des Seins ins Seiende. Mit anderen Worten: Das "ist" bedeutet hier kein mathematisch-univokes "=", sondern spricht das Bergungsgeschehen des Seyns selbst an.

a) Der große Anfang und das Seinsgeschick des gegenwärtigen technischen Zeitalters

Heidegger stellt nun betont die Frage in den Raum, ob das Abendland überhaupt fahig ist, das Wesen des Geringen auszutragen und den Anfang in sich aufzunehmen: "Kann er [der Anfang] noch kommen? Ist das Abendländische noch?" 100 Bruchartig wechselt Heidegger jetzt von der Besinnung auf den möglichen Bezug des Abendlandes zum Wesen des Geringen zu einer Erläuterung derjenigen Wesensweise über, in der das Abendland sich zunächst uns gegenwärtig zeigt: "Es ist Europa geworden. Dessen technisch-industrieller Herrschaftsbezirk überzieht schon die ganze Erde. Diese wiederum ist bereits als Planet in den interstellaren kosmischen Raum eingerechnet, der zum geplanten Aktionsraum des Menschen bestellt wird." 101 In dieser Wesensanalyse zeigt sich nichts mehr von der Lichtung in ihrer gegenwendig wesensgönnenden Entfaltung: "Erde und Himmel des Gedichtes sind entschwunden. Wer wagte zu sagen wohin?" 102 Im Vergleich zu den "farbigen" Auslegungen des vielgliedrigen Geringen, so wie es sich im Gedicht zeigt, muß die gegenwärtige fahle, lineare Begegnungsweise der europäischen Welt mit dem Seienden, die sich über den ganzen Erdball ausbreitet, sich wie eine Zerstörung des Gevierts anmuten: "Das un-

GA 4: S. 176. GA 4: S. 176. 10 1 GA 4: S. 176. 102 GA 4: S. 176.

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7. Kap.: ))Hölderlins Erde und Himmel«

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endliche Verhältnis von Erde und Himmel, Mensch und Gott scheint zerstört."103 Hier könnte man meinen, daß Heidegger der Technik (im Sinne eines dämonischen Widersachers) den Sieg im Kampf gegen das Dichterische zugesteht und daß dieser zerstörten Welt nur noch nachgetrauert werden kann. Aber Heidegger hält an diesem Punkt inne und wendet die Blickrichtung, indem er fragt, ob es die im Gedicht angesprochene Welt schon jemals gab: "Oder ist es als dieses un-endliche Verhältnis noch niemals rein gefiigt in unserer Geschichte aus der Versammlung des stimmenden Geschicks erschienen, noch nie Gegenwart geworden, noch nie als das Ganze gestiftet ins Höchste der Kunst?" 104 Wenn dem so ist, dann ist auch die Technik kein Zerstörer, sondern hat in ihrer konkreten Ausformung höchstens einen hinderlichen Zug, der das Stiften der Welt des Gevierts erschwert. Dann steht es aber auch nicht in der Macht der Technik, das Kommen des großen Anfangs im unendlichen Verhältnis gänzlich zu zerstören. Die uneingeschränkte Technik kann sein Kommen zwar erschweren und verstellen, aber nicht im Wesen tilgen: "Dann könnte es [das un-endliche Verhältnis] auch nicht zerstört, sondern im äußersten Fall nur verstellt und in seinem Erscheinen verweigert sein." 105 Das Denken Heideggers trauert nicht romantischen Vorstellungen von gewesenen "Paradiesen" nach und "verteufelt" auch nicht die Technik als deren Zerstörer; der Mensch ist nicht dazu verdammt, einem vermeintlichen "Sieg" der modernen Technik passiv zu obliegen. Vielmehr legt Heidegger die Betonung darauf, daß der Mensch die Aufgabe wahrnehmen kann, das Kommen eines ursprünglicheren Existierens auf der Welt vorzubereiten, welches sich um diese in ihrem Wesen eigentlicher sorgt. "Dann stünde es mit bei uns, dieser Verweigerung des un-endlichen Verhältnisses nachzudenken."~>Hölderlins Erde und Himmel«

ursprünglichen werden kann (wodurch das im Denken Gedachte auch Geschichte-prägende Gestalt annehmen kann).

d) Der stille Zuspruch des Heiligen in unserem Zeitalter der modernen Technik (das Rettende) Heidegger nimmt in seinem Vortrag "Hölderlins Erde und Himmel" Gedanken zum Wesen der Technik, die er grundlegend erstmals in dem soeben besprochenen "Technik-Vortrag" dargelegt hat, mit auf, um zu zeigen, wie das Sein den Menschen gegenwärtig angeht. Zunächst betont er die in ihm waltende Herausforderung: Der Mensch dieser Erde ist nämlich durch die unbedingte Herrschaft des Wesens der mode.rnen Technik samt dieser selbst herausgefordert, das Ganze der Welt als einen einförmigen, durch eine letzte Weltformel gesicherten und von daher berechenbaren Bestand zu bestellen. Die Herausforderung zu solchem Bestellen verfugt alles in einen einzigen Fortriß. 139

In diesem Fortriß streben alle Bemühungen danach, wesensmäßige Unterschiede einzuebnen, sie auf "einen Nenner" zu reduzieren, von wo aus sie berechenbar und d.h. beherrschbar werden. Dadurch kann sich das Geviert in seiner wesensmäßigen Differenz, die gerade das Differente braucht, um sich gegenseitig ins Wesen erheben zu können, nicht mehr zeigen: "Dessen [des Fortrisses] Machenschaft ebnet das Gefüge des unendlichen Verhältnisses ein. Das Zueinander der vier »Stimmen des Geschiks« tönt nicht mehr." 140 Was hier nicht anklingen kann, ist, daß Unterschiede sich im Sinne des "Zueinander" gegenseitig bejahen können, um dadurch gerade ein Gemeinsames hervorscheinen zu lassen, das eint, indem es Differenzen sein läßt. Das Einigende dieser Wesensherkunft ist aber kein berechenbarer Fixpunkt im Seienden. Schrittweise nähert sich Heidegger diesem Gedanken. Diese aufeinander bezogenen Differenzen werden vom herausfordernden Wesen der Technik verstellt: "Die Herausforderung in das rechnende Bestellen von allem, was ist und sein kann, verstellt das un-endliche Verhältnis."141 Aber darin erschöpft sich das Walten des Gestells nicht. Vielmehr wendet es sich im unermüdlichen heraus-

"nach der wir [d.h. die philosophisch Denkenden] fragen." Vorträge und Aufsätze, S.

39.

GA 4: S. 178. GA 4: S. 178. 141 GA 4: S. 178. 139 140

§ 22. Die Auslegung des Gedichtentwurfes »Griechenland«

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fordernden Entbergen stets gegen die verborgene Wesensherkunft alles Entbergens und kann das Erscheinen dieser nicht zulassen: Mehr noch: Die in der Herrschaft des Wesens der modernen Technik waltende Herausforderung hält allem zuvor Jenes im Unerfahrbaren, von woher die verfugende Gewalt der Herausforderung ihre Schickung empfangt. Was ist dies? Es ist die Mitte des ganzen unendlichen Verhältnisses. Sie ist das reine Geschick selber. 142 Obwohl diese Mitte sich wegen des herausfordernden Waltens des Wesens der Technik nicht im Geviert entfalten kann und obwohl das Gestell die Herkunft des Gevierts, nämlich die Mitte (das Geschick, das verborgene Herz der Wahrheit, das Heilige), im Unerfahrbaren hält, d.h. es nicht in das Seiende gründet, so steht das Gestell dennoch in einem unmittelbaren Bezug zu dieser Mitte: "Das Unheimliche umkreist den Erdball, daß jetzt das Geschick den Menschen dieses Weltalters unmittelbar trifft, nicht erst durch ein Tönen seiner Stirnmen."t•J Die Unmittelbarkeit, in der das Geschick den Menschen angeht, liegt also darin, daß es nicht durch das wechselwendige wesensgönnende Geschehen der vier Weltgegenden vernommen wird; dessen Wesen ist verstellt. Aber dennoch kann das in der Lichtung waltende Wesen des Gestells sich nicht des Urbezuges zum verborgenen Herz (der Mitte) entledigen, von dem es als eine Weise des Lichtens (Entbergens) lebt. Die Weise, wie es von ihm lebt, ist die des herausfordernden Ansichreißens, ohne den lebensspendenden Grund dabei zum Wort kommen zu lassen. Im Tönen durch die Stimmen des Geschicks nicht zugelassen, ist dieser Bezug still: "Tonlos geht das Geschick den Menschen an eine rätselhafte Art von Stille." 144 Im Stillen gewährt der Urgrund dem herausfordernden Bestellen seine Wesensweise, die ein Hervorscheinen ihrer Herkunft und deren wesensgewährenden Grundzug nicht zuläßt. Aber nichts desto trotzspricht sich in der Stille tonlos das "Rettende in der Gefahr" zu. Das Walten der Technik hat nicht den Urgrund des Seyns vernichtet: Es hält ihn "nur" im Unscheinbaren. Auch im Wesen der Technik kann aber der Bezug zum Ursprung eines reineren Bezuges, zum Ursprung des un-endlichen Verhältnisses vernommen werden. Wegen der Stille des in der Verweigerung des Gevierts waltenden Bezugs zur Herkunft (zum Anfang, zum Heiligen) läßt sich dieser leicht überhören: "Der Mensch wird sie [die Stille] vermutlich noch lange Zeit hindurch überhören. So kann er dem Geschick der Verweigerung noch gar nicht entsprechen. Er weicht ihm vielmehr aus durch die immer hoffnungsloseren Versuche, mit GA 4: S. 178. GA 4: S. 178. 144 GA 4: S. 178. 142 143

35 Helling

7. Kap.: »Hölderlins Erde und Himmel«

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seinem sterblichen Willen die Technik meistem zu wollen." 145 Die von uns schon einmal angesprochene "Sinnleere", als welche die Verweigerung anklingen kann, öffnet den Menschen gegenwärtig nicht für ein verhaltenes Hören auf den stillen Zuspruch in dieser Leere, sondern fordert ihn vielmehr dazu heraus, diese Leere mit noch mehr (bestellbaren) seienden Hilfsmitteln zu "beheben." Heidegger geht im folgenden ausdrücklich dazu über, das anzudeuten, was in dem Technik-Vortrag das "Rettende" genannt wurde, aus dem eine Wandlung der Verweigerung geschehen kann. Es liegt in dem schon angesprochenen Bezug des Wesens der Technik zum Urgrund bzw. zur "verfügenden Fuge": "Sobald wir uns mühen, dem nachzudenken, erwacht eine Vermutung, es könnte in der Gewalt jener Herausforderung, d.h. in der unbedingten Wesensherrschaft der modernen Technik, das Verfügende einer Fuge walten, aus der sich und durch die sich das ganze un-endliche Verhältnis in sein Vierfaltiges fügt. " 146 Dies heißt natürlich gerade nicht, daß mit Hilfe eines ontischen "technischen Instruments" diese Fuge bewerkstelligt werden könnte, sondern daß das Wesen, das in allen technischen Einrichtungen waltet, auf etwas verweist, das an sich ganz und gar nichts Technisches ist, aber als Wesensgrund alles Technische erst "ermöglicht" (zuläßt). Kürzer gefaßt: Der Wandel der Verweigerung in das Erblühen des Gevierts wird nicht durch die Technik bewerkstelligt, sondern geschieht durch die verfügende Fuge, die selbst im Wesen der Technik sich bekunden kann. Um aber fiir das stille Sprechen des Zuspruches achtsam zu werden, das an uns im Wesen der Technik ergeht, insofern es als eine Weise des Entbergens den Bezug zum urgründig Verborgenen im Herzen trägt, bedarf es natürlich der Vorbereitung. Das Wesen dieser Vorbereitung wurde im Zuge des Vortrages (und im Zuge dieser ganzen Arbeit) zu erhellen versucht: "Die lautlose Stimme dieser Fügung hören wir am schwersten. Denn dafür müßten wir zur Vorbereitung erst wieder lernen, eine ältere Sage zu hören, in der einst das große Geschick des Griechenlandes tönte." 147 Hier sehen wir wieder: Das Finden und Bejahen des Eigenen in seinem Bezug zur Wesensherkunft bedarf des Gespräches mit dem Anderen. Der im Gewesenen gegebene Hinweis auf eine einstmals sprechende "Stimme" kann uns heute dazu verhelfen, diese selbe (obzwar geschichtlich verwandelte) "Stimme", die uns gegenwärtig im Wesen der Technik still anspricht, zu hören, wodurch ihr eine neue Zukunft eröffnet wer-

GA 4: s. 178. GA 4: S. 179. 147 GA 4: S. 179.

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§ 23. Ausblick auf das Zukunftsweisende des dichterischen Entwurfs

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den könnte. Diesen Gedanken haben wir bereits im Zuge des 3. und 4. Kapitels ausfiihrlich untersucht. Heidegger zitiert als solch einen grundlegenden Hinweis hier ein Fragment Heraklits, in dem auf das unscheinbare Wesen der ursprünglicheren Fuge hingewiesen wird: "Wir müßten jeder alltäglichen Erfahrung vorausnehmen und in sie einbeziehen, was Heraklit im Fragment 54 sagt:' Apllov(11 aavi]S' avEpf}S' Kpdaawv. Fuge, die ihr Erscheinen versagt, ist höheren Waltens/ als eine, die zum Vorschein kommt."••• In einer Marginalie hierzu bemerkt Heidegger, daß dieses Fragment den "entscheidenden Wink" gibt, "wie wir alles griechische Wesen, die Natur, den Menschen, Menschenwerk und die Gottheit erfahren müssen; alles Sichtbare aus dem Unsichtbaren - alles Sagbare aus dem Unsäglichen - alles Scheinen aus dem Sichverbergen. Das Sichverbergende ist dem griechischen Wesen näher als das Unverborgene; dieses lebt von jenem. "149 Zu beachten ist hier, daß Heidegger nicht sagt, daß die Alltäglichkeit ignoriert werden soll, sondern vielmehr soll ihre Herkunft in sie hineingeborgen ("gegründet") werden bzw. sie soll im Lichte des sich in ihr Nichtzeigenden erfahren werden. Durch solch ein Hineinbergen wäre es möglich, das Seiende, das sich gegenwärtig nur im Geschick des Ge-stells zeigt, zum Seienden des Ge-vierts werden zu lassen, indem der Entfaltung des gewährenden Grundzuges des Verborgenen Zeit und Raum gegeben wird.

§ 23. Ausblick auf das Zukunftsweisende des dichterischen Entwurfs des Kommens des großen Anfangs (des Heiligen) Nach dieser Besinnung auf die gegenwärtige Weise, wie sich in Europa das Tönen des Geschicks verweigert und dennoch dessen Mitte still uns anspricht und darauf wartet, daß wir ihr entsprechen lernen, kehrt Heidegger nun wieder zum Gedichtentwurf "Griechenland" zurück. Durch ihn lernten wir vom Wesen der Stimmen des Geschicks. Durch die Besinnung auf die gegenwärtige Epoche

GA 4: S. 179. GA 4: S. 179. Es ist wichtig zu bemerken, daß Heidegger hier vom griechischen Wesen redet, d.h. nicht unbedingt davon, wie zunächst und zumeist die Menschen im antiken Griechenland ihre Welt erfahren haben. Ihr Leben und Denken vollzog sich aus diesem Wesen, wobei die Frage offen bleibt, wie rein siefaktisch dieses Wesen vollzogen haben. In der denkerischen Auseinandersetzung, d.h. im Gespräch mit dem Gewesenen, ist es jedoch wichtig, die Anderen gerade in die Würde ihres Wesens einzulassen und ihnen nicht faktische Un-wesentlichkeiten ihres Daseins vorzurechnen. 148

149

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7. Kap.: >>Hölderlins Erde und Himmel«

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und das in ihr waltende Wesen der modernen Technik lernten wir von unserem Bezug zum Geschick selbst, dessen reineres Erscheinen wir vorzubereiten zu vermögen, indem wir auf das Wesen dessen achten, was uns gegenwärtig bestimmt. Indem wir auf dieses Wesen achten und beginnen, auf die in ihm urgrundig waltende verfUgende Fuge aufzumerken, werden wir vertrauter mit dem Grundzug, der auch das Geringe in sein Wesen zu fiigen vermag, d.h., durch dessen Tönen in den gevierthaften Stimmen ein Ort wachsen kann, an dem es zur "Hochzeit" kommt, d.h., zum gegenwendigen Verhelfen des Gevierts in das In-sich-Ruhen der Weltgegenden im Geschick an einer geschichtlichen Stätte: Insofern wir dieses alles bedenken, könnten wir dem Gedicht Hölderlins, d.h. dem Geringen, darin er am einen Ort wohnt, ein Gering-Fügiges vorausdenken. Umgestimmt auf diesen Gedanken, könnten wir hörender werden für den Gesang, der unter der Überschrift >Griechenland< den großen Anfang ruft in seinem möglichen Kommen zum Geringen. Es ist die Hochzeit von Erde und Himmel, da die Menschen und >>irgend ein Geist«, d.h. ein Gott, gemeinschaftlicher die Schönheit auf der Erde wohnen lassen. lso Wichtig ist fiir uns hieraus zu lernen, daß ein Bezug des Menschen zum Heiligen immer möglich ist; selbst im Zeitalter der allesbeherrschenden Technik. Für die reine Entfaltung dieses Bezuges im Geviert, d.h. dafiir, daß die Menschen in ihrem Wesen mit dem Heiligen so vertraut werden, daß sie "dichterisch wohnen" können auf Erden, d.h. Geschichte-prägend das sanfte Gesetz des Heiligen ins Seiende mitgründen können, bedarf es des Kommens und Kommenlassens des großen Anfangs im Geviert. Der Bezug zwischen Mensch und Gott steht also im Vordergrund, wenn es um das Geschichtlichwerden des Heiligen im Seienden geht, das die Menschen in ihrem Wesen wohnen läßt. Die Erscheinung eines Gottes ist nicht unabdingbare Voraussetzung dafiir, daß die Menschen mit dem Grundzug des Heiligen auf vorbereitende Weise schon vertrauter werden. Die Begegnung mit dem Gott vertieft diese Vertrautheit und verhilft in das Stiften dieses Bezugs in die Geschichte. Wir hörten soeben, daß ein solch gestifteter Bezug die "Schönheit" auf Erden wohnen lassen würde. Die "Schönheit" ist also nicht die Bezeichnung fiir ein "ästhetisches Erlebnis", das nur die menschliche "Gefiihlswelt" betrifft und im Grunde gänzlich "wirklichkeitsfremd" ist, sondern wird von Heidegger aus dem Scheinen des Gevierts in ihrer Herkunft verstanden: "Die Schönheit ist das reine Scheinen der Unverborgenheit des ganzen unendlichen Verhältnisses samt der Mitte. "ISI Die Mitte, wie wir in bezug auf das Heilige immer wieder

ISO ISI

GA 4: s. 179. GA 4: s. 179.

§ 23. Ausblick auf das Zukunftsweisende des dichterischen Entwurfs

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betonten, waltet als freigebender Bezug, d.h. ihr Grundzug ist das vermittelnde Fügen: "Die Mitte aber ist als das mittelnd Fügende und Verfügende."152 Dieses Fügen ist ein freigebendes, weil es das Verfügte nicht possessiv beherrschen will, sondern dessen Sein ins Scheinen bringt und selber hinter ilun zurücktritt, d.h., mit dem eigenen Erscheinen spart: "Sie [die Mitte] ist die ihr Erscheinen sparende Fuge des Verhältnisses der Vier." 153 Durch dieses Sparen eröffnet sich die Möglichkeit, auch zukünftig Wesen schenken (übereignen) und so der Grund und Halt für alles Erscheinende sein zu können. Das Kommen des großen Anfangs hat sich schon seit dem Erscheinen des ersten Aufgangs in der ucrts im Abendland vorbereitet: "Seit dem Aufgang des großen Anfangs- Aufgang ist ucrts, »die Natur«- hat sich das ganze Verhältnis zum Kommen bereitet. Die Schönheit ist ins Werk gerufen, um alles in sein unversehrliches Eigenes zu entlassen und zu bergen." 154 Heidegger zitiert die Verse 32-45 von "Griechenland", um auf das "heilige Bild" hinzuweisen, das in Vorbereitung ist: ............ Denn lange schon steht offen Wie Blätter, zu lernen, oder Linien und Winkel Die Natur Und gelber die Sonnen und die Monde, Zu Zeiten aber Wenn ausgehn will die alte Bildung Der Erde, bei Geschichten nemlich Gewordnen, muthig fechtenden, wie auf Höhen ftihret Die Erde Gott. Ungemessene Schritte Begränzt er aber, aber wie Blüthen golden thun Der Seele Kräfte dann der Seele Verwandtschaften sich zusammen, Daß lieber auf Erden Die Schönheit wohnt und irgend ein Geist Gemeinschaftlicher sich zu Menschen gesellet. m

Das Stiften des Wohnens der Schönheit auf Erden ist Auf-gabe der Dichter. Dies sagt dasselbe, was wir in den vorangegangenen Kapiteln bereits hörten. Der Dichter muß das Heilige ins Werk stiften, damit es von dort aus die Menschen ansprechen und in ein dichterisches Wohnen geleiten kann. Obwohl Heidegger in diesem Vortrag das Wort vom Heiligen nur sehr sparsam erwähnt, so nennt er es jetzt durch einen Verweis auf den eingangs zitierten Brief HölderGA 4: S. 179. GA 4: S. 179. 154 GA 4: S. 179f. tss Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 180. 152 153

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7. Kap.: >>Hölderlins Erde und Himmel«

lins, in dem dieser vom "heiligen Bilde" spricht, das zu bilden ist: "Dieses Andenken der Vollendungsruhe ist der Gedanke, der »dem heiligen Bilde gehöret«, das Hölderlin mit den dichtenden Freunden »bilden« möchte." 156 Das Stiften des Koromens des großen Anfangs durch die vier Stimmen seines Geschicks, damit die Schönheit auf Erden wohne, ist das Stiften des Geschichtlichwerdens des Heiligen, dem das Lebenswerk des Dichters gehört Weiter ist zu beachten, daß Hölderlin diesen großen Anfang, der sich seit den Griechen im Abendland vorbereitet, mit seinen Freunden bilden möchte. Wir sahen in den vorangegangenen Kapiteln, daß das Gespräch mit den Freunden dem Andenken des gewesenen Fremden gilt. Wir hörten in diesem Vortrag weiter, daß das Geschick des Abendlandes nicht in seiner Vereinzelung bleiben darf, soll der Anfang wahrhaft kommen. Vielmehr müssen die geschichtlichen "großen Anfänge", durch welche die Herkunft der Lichtung spricht, alle zusammen im Gespräch mit dem Anfang der Griechen den Ort für das Wohnen der Schönheit auf Erden stiften. Solch ein gemeinsames Stiften bleibt schwer: "Aber Hölderlin weiß auch, wie das Geringe zum Großen sich verhält (Bruchstück einer späten Fassung von >PatmosGriechenland< und die Unterschrift Scardanelli; ein fremdländischer Name, gleich als müßte auch der Dichter sich und sein Eigenstes in ein Fremdes schicken, d.h. bringen und fiigen." 165 Das KornGA 4: GA 4: 164 GA 4: 165 GA 4: 162 163

S. S. S. S.

181. 181. 181. 181.

§ 23. Ausblick auf das Zukunftsweisende des dichterischen Entwurfs

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men des großen Anfangs am Ort, an dem der Dichter wohnt, bleibt also auf das Fremde wesenhaft bezogen. Sein Kommen geschieht nur mit dessen Hilfe und bleibt auch im Kommen immer auf Anderes bezogen. Wir sahen, daß der sich vorbereitende andere Anfang zwar wesentlich auf das Griechenland bezogen sein dürfte, jedoch nur, um sich dem Gespräch mit den anderen "großen Anfangen" auf Erden angemessener öffnen zu können. Die Frage bleibt offen, ob Hölderlin in seinem Todesjahr immer noch oder schon wieder auf der Wanderung in die Fremde war, weil er das Eigene noch nicht gefunden hatte - oder ob er nicht gerade in seinem Eigenen wesend den Bezug zum Anderen bejahte, weil er aufgrund der Erfahrung mit dem Eigenen und seiner Herkunft wußte, daß dieses ihn gerade zum immer reineren Sichöffnen dem Anderen gegenüber aufruft, um mit diesem gemeinsam das Fest des Heiligen zu feiern. Heideggers "gleich als müßte der Dichter" anstelle von "der Dichter muß" könnte auf die letztere Möglichkeit verweisen. Dann würde "gleich als müßte der Dichter" in Wahrheit bedeuten: "der Dichter erfahrt, daß er in seinem Eigensten aufFremdes bezogen sein daif. .. "

8. Kapitel Heideggers Hinweise zur Vorbereitung des Geschichtlichwerdens des Heiligen durch das Hören auf Hölderlins Dichtung: Das »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten« (1963) sowie der Vortrag »Das Gedicht« (1968)

Obwohl der Name des Heiligen in den 50er Jahren in den von uns untersuchten· Hölderlin-Auslegungen Heideggers in den Hintergrund getreten war, so sahen wir, daß es sachlich doch immer mitzudenken war und oft "anonym" auch angesprochen wurde. In den 60er Jahren nennt Heidegger das Heilige wieder betont beim Namen. In dem Vorwort zu seiner Lesung von HölderlinGedichten, die auf einer Schallplatte aufgenommen wurde, bezeichnet er das Heilige als das Grundwort Hölderlins, das alle anderen wesentlichen Worte seiner Dichtung trägt (bzw. welches alle anderen Worte dieser Dichtung austragen). Nachdem die Hinweise zum Heiligen in diesem Vorwort untersucht wurden(§ 24) und sich der enge Bezug von Hölderlins Dichtung zu diesem Phänomen abermals bekundet haben wird, werden wir uns im zweiten Teil dieses Kapitels (§ 25) dem Bezug des Heiligen (und des Gotthaften) zum eigentümlichen Wesen des Gedichtes (Hölderlins) näher widmen, indem die Grundzüge von Heideggers Vortrag "Das Gedicht" durchdacht werden. In beiden Unterabschnitten wird sich zeigen, wie Heidegger Hölderlins Dichtung in ihrer Bedeutsamkeit ftir das Geschichtlichwerden des Heiligen zu erhellen sucht, um uns in ein urprünglicheres Hören auf diese zu verhelfen.

§ 24. Die Hinweise zum Heiligen im »Vorwort« von Heideggers Hölderlin-Lesung Heideggers Vorwort zu seiner Lesung von Hölderlin-Gedichten beginnt mit einer Frage. In Frage steht, ob die zukunftsweisenden Winke, die in Hölderlins Dichtung verwahrt sind, von den Menschen noch jemals gehört werden: "Ob wir es einmal noch erkennen? Hölderlins Dichtung ist ftir uns ein Schicksal. Es

§ 24. Die Hinweise zum Heiligen im »Vorwort«

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wartet darauf, daß die Sterblichen ihm entsprechen."' "Schicksal" ist natürlich nicht so zu verstehen, als ob Hölderlin fatumshafte Wahrheiten besäße, die nur darauf warten, daß die Menschen einsehen, daß sie sich ihnen zu beugen haben. "Schicksal" meint natürlich auch nicht, daß der Dichter Hölderlin mit dem Geschick selber identisch wäre; viel eher gehört er in das Schicksal, indem er das Ereignis des freigebenden Entzugs, d.h. seinen Bezug zum Heiligen, erfahren hat und aus dieser Erfahrung das sich den Menschen zusprechende Heilige auf dichterische Weise ins Wort geborgen hat. Die Worte Hölderlins sind nicht notwendigerweise die einzigen Worte, die solches vermögen, aber sie sind Dichtungen, in denen die Kunde vom Heiligen zu uns spricht. Indem das Geschick des Heiligen sich in diesen Worten birgt, in ihnen gegründet ist, ist Hölderlins Dichtung ein Schicksal, d.h., es trägt das Geschick auf schickliche Weise aus. Dieser Austrag ist kein "Aufzwang" und daher "machtlos", wenn und solange die Menschen diesen Anspruch überhören. Von sich aus kann die Dichtung nur darauf warten, daß die Menschen sich dem in ihr Gesagten öffnen und es in ihr Wesen einlassen, d.h. ihm entsprechen. Es gilt nun zu sehen, wie Heidegger das in Hölderlins Dichtung Gesagte näherhin interpretiert.

I. Das Grundwort des Heiligen

Ausdrücklich nennt Heidegger im folgenden nun das in Hölderlins Dichtung Gesagte, das wir vorgreifend schon als das Heilige ansprachen, beim Namen: "Was sagt Hölderlins Dichtung? Ihr Wort ist: das Heilige. "2 Das Heilige ist das Grundwort der Dichtung Hölderlins. In ihm schwingen alle anderen Worte mit. Dieses Grundwort macht nicht alle anderen Worte "überflüssig", sondern läßt gerade den Reichtum an es explizierenden Worten "ausfließen" bzw. verweist auf den Reichtum, welcher aus dem verborgenen Wesen des Heiligen in die Lichtung hinüber- bzw. einfließt. Daher ist das Wort vom Heiligen vielsagend ("mehr-deutig"); einerseits sagt: "Dies Wort ... von der Flucht der Götter." 3 Bereits im ersten Kapitel sahen wir im Zuge der »Germanien« Vorlesung, daß das Heilige im Bezug zu dem Göttlichen steht, das gegenwärtig sich aber gerade durch seine Abwesenheit bekundet. Aber dem Menschen ist durch sein ursprünglich zeitliches, gestimmtes Wesen ein Bezug zu den Göttern dennoch möglich. In der "heiligen Trauer" werden die gewesenen Götter als die gewesen(d)en in ihrem Wesen bewahrt. 1 GA 4 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1981): s. 195. 2 GA 4: S. 195. 3 GA 4: S. 195.

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8. Kap.: ))Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

Aus der andenkenden Erfahrung mit gewesenen Begegnungen von Göttern und Menschen entspringen, wie wir im dritten und vierten Kapitel sahen, wesentliche Hinweise auf das Wesen des Heiligen und auf seinen Vorbeigangscharakter, der aber gerade immer wieder neue Ankunftsmöglichkeiten des Heiligen eröffnet. Wir sahen auch (Kapitel 2), daß ein Vertrauterwerden mit dem Heiligen sowie eine Treue zu diesem unabdingbare Voraussetzung für eine geglückte Begegnung mit dem Göttlichen sind. Denn sonst besteht die Gefahr, daß sich der Mensch an einen Gott verliert und damit seines Wesens verlustig geht, wodurch auch der Gott nicht mehr ins Scheinen kommen kann. Daher gewährt die Flucht der Götter zugleich einen Zeitraum, in dem sich der Mensch wieder auf sein Wesen besinnen kann und erste Grundzüge des Heiligen zu erahnen lernen kann. Die Flucht der Götter eröffnet einen Entscheidungsraum für das Heilige, in den der Mensch eingelassen ist. In diesem Sinne schützen uns die Götter durch ihre Flucht auch vor einem Wesensverlust: "Es [das Wort vom Heiligen in Hölderlins Dichtung] sagt, daß die entflohenen Götter uns schonen. Bis wir gesonnen sind und vermögend, in ihrer Nähe zu wohnen."• In der Nähe der Götter wohnen die Menschen, wenn sie - aufgrund ihres Vertrauterwerdens mit dem Wesensbezug ihres jeweils eigensten Wesens zum Heiligen (wozu wesentlich das Gespräch mit dem Fremden gehört)- das Göttliche am Tage des "Brautfestes" geschichtlich einmalig als in die Lichtung scheinenden Boten des Heiligen wahr-nehmen, d.h. bejahen und ansprechen (Kapitel 3 und 4). Zu solch einem Brautfest gehören auch Himmel und Erde, die wesentlich den Ort für dieses Fest mitbereiten (Kapitel 7). Den Ort, an dem sich Himmel und Erde, Menschen und Götter als eigenständige "Stimmen" des Heiligen im Seienden versammeln, denkt Heidegger in bezug auf die Heimat: "Der Ort der Nähe ist das Eigentümliche der Heimat."5 Die Heimat wird hier also nicht "patriotisch" verstanden, sondern eindeutig aus dem Bezug zum Heiligen gedacht. Nur wo das Heilige so west, daß sich das Geviert gegenseitig in sein Wesen schont und im Ding versammelt, ist wahre Heimat. Noch ist solche Heimat nicht. Deswegen kann der Mensch nicht in ihr wohnen (sondern wohnt "undichterisch" (Kapitel6)). Jedoch kann er solche Heimat vorbereiten. Dies ist sogar notwendig, wenn er in den vollen Vollzug und Austrag seines Wesens kommen soll (wobei der Austrag des eigenen Wesens in der Heimat wesensmäßig-bejahend immer auf das Fremde und dessen Heimat bezogen bleibt): "Nötig bleibt deshalb, den Aufenthalt in dieser Nähe vorzubereiten."6 Solch eine Vorbereitung kann dem Menschen niemand abnehmen, auch kein Gott. GA 4: S. 195. GA 4: S. 195. 6 GA 4: S. 195.

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§ 24. Die Hinweise zum Heiligen im »Vorwort«

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Solch eine Vorbereitung des "Brautfestes" zwingt aber auch nicht das Kommen des Göttlichen im Lichte des Heiligen herbei. Es ist vielmehr ein erster Schritt in die Richtung einer Grundhaltung, in der wir dieses Ereignis von sich her auf uns zukommen lassen können. Dieses Ereignis ist in Hölderlins Dichtung schon angesprochen, wobei sogar hier (wie wir im 5. Kapitel sahen) der Gott selbst noch ungenannt bleibt. Hölderlins Dichtung nennt das Heilige und fängt an, den Bau des Gefiiges des Gevierts zu stiften (Kapitel 7), wobei dieser Bau noch wesentliche Aufgaben fiir Zukünftige in sich birgt. Daher ist ein Entsprechen in bezug auf das Heilige, so wie es sich in Hölderlins Dichtung uns entgegenschickt, zwar durchaus ein erster Schritt in die Richtung des Brautfestes; allein dieses Entsprechen bleibt immer noch an einem Vorort (einem "Feiertag"), der auf die Ortschaft (der "anonym" genannten Gottheit) verweist, aus der ein Geschichte-prägender (letzter) Gott genannt werden könnte: "So vollziehen wir den ersten Schritt auf dem Weg, der uns dorthin fiihrt, wo wir dem Schicksal, das Hölderlins Dichtung ist, schicklich entsprechen. Aber dadurch gelangen wir erst in den Vorort der Ortschaft, in der vielleicht »der Götter Gott« erscheint. "7 Das "vielleicht" in bezug auf das Erscheinen des Gottes bezieht sich nicht auf eine "Willkür"-Handlung des Gottes, der nur dann kommt, wenn es ihm gerade "paßt"; in den Beiträgen haben wir ausdrücklich erfahren, daß eher der Gott darauf wartet, daß Menschen ihm einen Erscheinungsraum gründen, als daß die Menschen auf ihn warten müßten (Kapitel 2). Vielmehr bezieht es sich darauf, daß solche Erscheinung kein menschliches Gernächte sein kann. Heidegger begründet dieses "vielleicht" bzw. den "Vorortscharakter", zu dem menschliches Entsprechen gelangen kann, mit dem folgenden Satz: "Denn kein menschliches Rechnen und Machen kann von .sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch seiner Herr werden?"' Mit diesem Satz knüpft Heidegger an seine Wesensanalyse des Zeitalters der modernen Technik an. Das herausfordernde Wesen des Ge-stells prägt die menschlichen "Maßnahmen" so wesentlich, daß sie im Versuch einer Änderung des Weltzustandes das unveränderte Grundprinzip in die "neue Welt" hineintragen würden. Dieses Wesen zeichnet sich dadurch aus, daß es in der fortreißenden Entbergungssucht das Verborgene als solches nicht mehr zulassen kann; der Bezug zum Heiligen fordert aber gerade dieses Vertrauterwerden mit dem eigentümlichen Wesen des "Unentbergbaren", damit die Ent-bergung in ihrer gewährenden Herkunft aufscheinen kann. Der Mensch kann das Erscheinen Gottes also

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GA 4: S. 195. GA 4: S. 195.

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8. Kap.: »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

nicht bewirken; aber er kann sich wohl darauf einüben, sein Erscheinen zulassen zu können (wobei dieses "Erscheinen" immer in bezugauf das (geschichtlich einmalige) Sichzeigen des Verborgenen als Verborgenen gedacht werden muß). Aber wie kann der Mensch dies einüben? Wie kann der Mensch, der gegenwärtig wesensmäßig vom Walten des Ge-stells ständig herausgefordert wird, dem Heiligen entsprechen lernen? Heidegger wiederholt hier die Eingangsworte: "Hölderlins Dichtung ist fiir uns ein Schicksal. Es wartet darauf, daß die Sterblichen ihm entsprechen."' Diese Wiederholung soll gleichsam "Ruhe" in die scheinbar "hoffnungslose Lage" bringen. Es gibt Winke, die in ursprünglichere Weisen, die menschliche Existenz zu vollziehen, verweisen. Der gegenwärtige Weltzustand ist kein Fatum. Er entstammt einem Geschick, das anderes bereit (gespart) hält. Hölderlins Dichtung erzählt uns hiervon. Wenn wir dem hier Gesagtem entsprechen lernen, können wir im gegenwärtigen Zeitalter der scheinbar allesbeherrschenden Technik den Raum erfahren lernen, der uns zur Schonung von den fliehenden Göttern überlassen ist: "Die Entsprechung fiihrt auf den Weg einer Einkehr in die Nähe der entflohenen Götter: in den Raum ihrer uns schonenden Flucht. "10 Es gibt also gegenwärtig schon den Anklang einer ursprünglicheren Erfahrung der im technischen Zeitalter waltenden Seinsverlassenheit Um diesen Anklang als solchen zu hören, kann es helfen, daß wir auf das hören, was in Hölderlins Dichtung gesagt ist (und diesem nachdenken).: "Doch wie sollen wir dies alles erkennen und behalten? Dadurch, daß wir auf Hölderlins Dichtung hören."" Damit ist das Anliegen geklärt, aus dem Heidegger Hölderlins Gedichte liest. Es geht in dieser Lesung darum, achtsamer zu werden fiir das, was ist, um eine ursprünglichere Seinserfahrung (das Kommen des vierstimmigen Geschicks des Heiligen) vorzubereiten. Bezüglich der Auswahl der Gedichte merkt Heidegger folgendes an: "Indes können nur wenige Gedichte hier gesprochen werden. Das Wenige beschränkt sich auf eine Auslese. Sie bleibt mit dem Anschein der Willkür behaftet. Er mildert sich, wenn wir durch ein öfteres Hören williger den Leitworten folgen, die der Dichtung Hölderlins entnommen sind." 12 Im folgenden bespricht Heidegger diese Leitworte, die in ein

GA 4: S. 195. GA 4: S. 195. II GA 4: s. 195. 12 GA 4: S. 195.

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§ 24. Die Hinweise zum Heiligen im »Vorwort((

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ursprünglicheres Hören auf denjenigen Weg verhelfen sollen, der durch die gesprochenen Gedichte angezeigt wird13•

II. Die drei Leitworte für das Hören der gelesenen Hölderlin-Gedichte Das erste der drei Leitworte ist das einzige, das einem Entwurf Hölderlins entstammt, der nicht bei der Lesung vorgetragen wird. Dennoch enthält gerade er einen sehr wichtigen Hinweis darauf, welches Einheitsverständnis Heidegger bei der Interpretation der vier Weltgegenden leitet, die sich vor allem in Hölderlins späteren Entwürfen und Gesängen dichterisch eröffnen. "Das erste Leitwort lautet: Alles ist innig (Entwurf »Gestalt und Geist« Stuttg. Ausg. II, 1, S. 321)." 14 Dieses Innigsein legt Heidegger nun dahingehend aus, daß jedes in seinem Eigenen auf das Andere bezogen ist, aber gerade auf eine Weise, die nicht alles wie in einem Schmelztiegel zu einem Einheitsbrei werden läßt, sondern in der das jeweils Eigene aufgrund dieses Bezugs in seiner Eigenheit sein darf: Dies will sagen: Eines ist in das Andere vereignet, aber so, daß es dabei selber in seinem Eigenen bleibt, sogar erst in dieses gelangt: Götter und Menschen, Erde und Himmel. Die Innigkeit meint kein Verschmelzen und Verlöschen der Unterscheidungen. Innigkeit nennt das Zusammengehören des Fremden, das Walten der Befremdung, den Anspruch der Scheu.15

In der Innigkeit darf das Fremde fremd bleiben, ohne dadurch des Bezuges verlustig zu gehen. Es wird in seiner Fremdheit nicht ausgestoßen, sondern als das Fremde im eigenen Wesen bejaht. Diese Bejahung vollzieht sich als Antwort auf den Anspruch der Scheu, welchen die Innigkeit des Fremden erhebt. Die entsprechende Scheu ist offen gegenüber dem Geheimnis des Fremden, das auf seine (andere) Weise den Ursprung, das Heilige austrägt. Das Heilige ist, wie wir hörten, das Grundwort von Hölderlins Dichtung, dessen Verständnis diese Leitworte entfalten sollen. Gerade weil die Scheu kein verzwingendes Vergewaltigen des Anderen in seiner Andersheit ist, kann sich ihr der unverzwingbare Ursprung im Fremden zeigen- etwas, das nie mit Gewalt geschehen 13 Auf der Schallplatte (Neske Verlag) gesprochen werden die folgenden Gedichte in der angegebenen Reihenfolge: "Ermunterung", "Die Wanderung", "Heimkunft", "Friedensfeier", "Der lster", "Was ist Gott?", "Was ist der Menschen Leben?", "Aber in Hütten wohnet", "Wie Meeresküsten", "Heimath". 14 GA 4: S. 196. I S GA 4: s. 196.

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8. Kap.: »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

könnte. Ausdrücklich hieß es bereits in Heideggers Gedenkschrift "Andenken" aus der Mitte der 40er Jahre: "Die Scheu bestimmt zum Gang an den Ursprung. Sie ist bestimmender als alle Gewalt. "16 Dieses Anklingen der Erfahrung der Innigkeit, aus der alles Sein sich gegenwendig hält und auf den Ursprung verweist, leitet in die Frage nach der Grundhaltung über, wie diesem Geschenk des Seins entsprochen werden kann: "Das zweite Leitwort ist eine Frage: wie bring' ich den Dank? (Heimkunft, letzte Strophe)."17 Dieser Dank vollzieht sich im Sinne der oben schon vorweggenommenen Scheu als Zulassen des Ursprungs in der Besinnung auf das, was gegenwärtig gewährt ist: "Der Dank ist das scheu verehrende, zustimmende Andenken an das Gewährte, sei es auch nur ein Zeichen in die Nähe zur Flucht der uns schonenden Götter." 11 Das An-denken an das Gewährte ist also selber eine Weise des Dankens. Das (denkerische oder dichterische) Erscheinenlassen des Anwesens in seinem Bezug zum Ursprung läßt diesen - auf welche bescheidene Weise auch immer- in das sich-lichtende Wesen ein. Es geht nicht darum, ein möglichst eigentliches Anwesen des Heiligen im Geviert unter allen Umständen herbeizuzwingen, sondern es geht um das Achtsamerwerden fiir die Spuren, die gegenwärtig bereits da sind. Der Fehl Gottes ist nicht nichts, sondern ein Hinweis auf den dennoch gewährten Zeit-Raum, in dem sich die Menschen auf ihr Wesen besinnen können und so eine ursprünglichere Zukunft des Gewesenen vorzubereiten lernen. Zunächst mag es scheinen, als ob das scheue Zustimmen des jeweils Gewährten nur allzu leicht wäre; aber dieses Zustimmen darf nicht mit einem gedankenlosen "alles was passiert, ist ohnehin in Ordnung" verwechselt werden. Der Dank besteht nicht darin, zu leben als ob alles verzwungen prädeterminiert wäre und Glückseligkeit im besinnungslosen Sichdahintreibenlassen bestünde, sondern es geht vielmehr darum, das eigene Wesen daraufhin zu prüfen, ob es das Gewährte aus seinem Grunde her zuläßt, oder nur fiir seine eigenen Zwekke und Absichten gutheißt. Daher bedarf es der rigorosen Selbstprüfung: "Das dritte Leitwort sagt: Tiefprüfend ist es zu fassen (Friedensfeier, fünfte Strophe)."19 Dies heißt in Heideggers Auslegung gerade nicht, daß das Heilige zu prüfen wäre, ob es zu irgendeinem vorgestellten Zweck auch wirklich tauge, sondern zu prüfen ist, ob der Eigensinn sich (zugunsten der gelassenen Bejahung des Zugesprochenen) "gebeugt" hat: "Die Prüfung muß durch die Knie gegangen sein. Der Eigensinn muß sich beugen und wegschwinden. Dem Sinnen und Denken liegt nur das eine ob, dem Dichten vorzudenken, um dann vor 16 GA 4: S. 132. 11 GA 4: S. 196. 18 GA 4: S. 196. 19 GA 4: S. 196.

§ 24. Die Hinweise zum Heiligen im »Vorwort«

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ihm zurücktreten zu können. -"20 Der Dank besteht in der Läuterung des eigenen Wesens auf den Urgrund (das Heilige) hin; es sollen keine Vorstellungen vom Heiligen zurechtgeschmiedet werden, sondern das Andenken an das Heilige soll ein ursprünglicheres Hören des Gedichtes vom Heiligen vorbereiten, das wiederum in ein ursprünglicheres Wohnen auf Erden ruft. Solch ein Wohnen wäre noch weitaus reicher als eine Denkerfahrung, weil sie den ganzen geschichtlich einmaligen Menschen in seiner personalen Leibhaftigkeit angeht. Zum Abschluß des Vorwortes bemerkt Heidegger, daß wir durch das wiederholte Hören der Gedichte nicht nur auf das in ihnen Gesagte achtsamer werden können, sondern auch auf den Tonfall, in dem es gesagt werden will. Der Tonfall ist keineswegs nur eine Nebensache, sondern er ist die Weise, wie das Heilige auf erdhafte Weise im Wort erklingt: Durch das wiederholte Hören werden wir hörender. Aber auch achtsamer auf die Weise, wie das Gesagte des Dichters gesprochen sein möchte. Denn schwieriger noch als die Auswahl der Gedichte ist das Treffen des Tones. Es kann in dem einen Augenblick des technisch festgehaltenen Sprechens glücken, es kann ebenso leicht mißglückt sein.zt

Die Frage nach dem Tonfall ist also bereits eine Frage nach dem Vollzug der Bergungsweise des Heiligen ins Seiende. Heidegger weist darauf hin, daß Hölderlin selber um diese Schwierigkeiten wußte. Im Zuge dieses Hinweises betont Heidegger noch einmal das Zukunftsträchtige in Hölderlins Dichtung, das danach ruft, daß ihm Raum fiir ein ursprüngliches Kommen gegeben werde: Der Dichter selbst weiß es, weiß es wie niemand sonst, daß der rechte Ton des Sagens leicht verfehlt wird. In späten Versen heißt es: »Von wegen geringer Dinge/ Verstimmt wie vom Schnee war/ Die Glocke, womit/ Man läutet/ Zum Abendessen.« In diesen Worten wird durch das geringe Tägliche das Ungewöhnliche, das Große genannt: Das Abendessen ist der Abend der Zeit, wo es sich wendet. Der Schnee ist der Winter: »Weh mir, wo nehm' ich, wenn/ Es Winter ist, die Blumen, und wo/ Den Sonnenschein,/ Und Schatten der Erde?« (Hälfte des Lebens) Die Glocke aber - ihr Klang- ist der Gesang des Dichters. Er ruft in die Wende der Zeit. 22

GA 4: S. 196. GA 4: S. 196. 22 GA 4: S. 197.

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36 Helling

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8. Kap.: »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

§ 25. Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag »Das Gedicht«

In dem späten Vortrag "Das Gedicht" besinnt sich Heidegger noch einmal auf das Wesen des Gedichtes, so wie es in Hölderlins Dichtung rein zur Sprache kommt. Dieses Wesen ist natürlich nicht eine "Erfmdung" des Dichters, sondern seine Bestimmung, sein Be-ruf: "Das Eigene seines Gedichtes hat der Dichter sich nicht erdacht. Es ist ihm beschieden. Er fiigt sich der Bestimmung und folgt der Berufung. "23 Während all den bis jetzt vorgebrachten Untersuchungen zeigte sich der Bezug des Dichterberufes zum Heiligen sowie zu den Göttern immer deutlicher. Daher verwundert es uns keineswegs, wenn Heidegger im Zuge des Vortrages als Aufgabe des Dichters das Nennen dieser beiden hervorhebt. Zunächst heißt es: "Es [das Wort der Dichter] muß ))Das große Geschick« rufen." 2• Bereits im vorangegangene~ Kapitel sahen wir, inwiefern das Heilige als das "große Geschick" von Heidegger gedacht wird. Das "große Geschick" ist das Ereignis, in dem das Heilige sich durch die Stimmen des Gevierts mitteilt (bzw. das stimmlos selbst noch im Wesen des Ge-stells waltet und den Menschen in seinem Wesen hält). Im thematischen Vordergrund steht in diesem Aufsatz zunächst die Weise des "be-rufsmäßigen" Nennens der Götter, die dem großen Geschick entspringen können, wobei sich zeigen wird, daß dieses Nennen aus dem Heiligen genötigt ist (1.). Gegen Ende des Vortrages wird sich aus dieser Besinnung das gesuchte Eigentümliche des Gedichtes zeigen, das den Bezug zum Heiligen und zu den Göttern (auf die zu klärenden Weisen) versammelt (II.) und fiir das gesammelte Hören bereit hält.

I. Der Beruf des Dichters als das Nennen des Göttlichen (aus dem Heiligen) und die zwiefach genötigte Bestimmung seines Wesens

Wie wir hörten, bringt der Beruf des Dichters mit seinem Bezug zum Heiligen auch die Aufgabe des Nennens der Götter. Wie aber, wenn das Zeitalter des Dichters ein götterloses ist? Es scheint, als ob hier kein Nennen von gegenwärtigen Göttern möglich sei. Und dennoch sagt Heidegger: "Es [das Wort der Dichter] muß die Ankunft der gegenwärtigen Götter dichten. "25 Dieses scheinbare Paradoxon beginnt sich aufzulösen, wenn die zeitliche Spannweite bedacht wird, in die das (dichterische) Dasein eingelassen ist. Denn die "Zeit" GA 4: S. 183. GA 4: S. 184. 25 GA 4: S. 184.

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§ 25. Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag ))Das Gedicht«

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erschöpft sich nicht in der Gegenwart, d.h. im gegenwärtigen götterlosen Zeitalter, sondern sie ist gemäß einem Wort Hölderlins (aus "Mnemosyne") "lang". "Wie lang denn, fragen wir. So lang, daß sie auch über unser gegenwärtiges, götterloses Zeitalter hinwegreicht."26 Daher ist auch das Dichten der "Ankunft der gegenwärtigen Götter" nicht auf gegenwärtige, im Sinne von bereits "jetzt" irgendwo "vorhandene", Götter zu beziehen, sondern die Gegen-wart, das Entgegenkommen der Götter, ist zukünftig bzw. an-künftig. "Allein »Ankunft« meint hier nicht: schon angekommen sein, sondern das Geschehnis des frühen Ankommens. Die so Ankommenden zeigen sich in einem eigentümlichen Nahekommen. In diesem Kommen sind sie auf ihre Weise gegenwärts zum Dichter: die Ankommenden sind gegen-wärtige Götter. "27 Die Götter sind keine Projektionen ("Einfälle") des Dichters, sondern sie gehen ilm von ihrem eigenen Wesen aus an. Weil sie nicht ontisch ankommen wie Seiendes, sondern wesentlich, ist ihre Ankunft eine frühe Ankunft, d.h. ontologisch früher. Auf diese Weise kommen sie dem Dichter zu-künftig entgegen; mit der Betonung der Zu-künftigkeit bzw. "An-künftigkeit'' wird auch deutlich, daß es sich bei den kommenden Göttern, deren Ankunft der Dichter gegenwärtig vorzubereiten hat, nicht um eine bloße Wiederbelebung der alten Götter des Griechenlandes handelt: "Die so ankommenderweise Gegenwärtigen sind freilich nicht die wiederkehrenden entflohenen Götter des alten Griechenlandes, obzwar auch diese fiir Hölderlin als die entflohenen auf ihre Weise gegenwärtig bleiben und den Dichter angehen."21 Im ersten Kapitel sahen wir bereits, wie der Dichter in der "heiligen Trauer" zu den gewesenen Göttern Griechenlands in einen Bezug gelangt, der ilm aber auch gerade fiir das Kommen von zukünftigem Göttlichen in der Zukunft öffnet (und dieses Kommen in der gegenwärtigen götterlosen Zeit auszustehen hilft). Dadurch bleiben die gewesenen Götter als gewesene gegenwärtig und tragen zur Zukunft von Göttlichkeit bei, indem sie Hinweise auf die Erscheinungsweise dieser bergen. Wir sahen im zweiten Kapitel, daß das stiftende Wort vom Heiligen erst die Grundlage fiir ein geschichtliches Begegnen mit dem Göttlichen erbringen kann. Ab dem fiinften Kapitel wurden wir mit dem Phänomen des Ausbleibens des Gottes zunehmend vertrauter; obzwar das Heilige ins Wort geborgen ist, so kann es dennoch nicht auf Geschichte-prägende Weise erscheinen, da es hierzu der Begegnung von Mensch und Gott bedarf, wobei der Name, der solch einen Gott nennt, noch fehlt. Dieser kann nicht "frei

GA 4: S. 184. GA 4: S. 184. 28 GA 4: S. 184. 26

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36*

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8. Kap.: »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

erfunden" werden, sondern muß dem "Erscheinen" eines gotthaften Phänomens entsprechen. In diesem Aufsatz bedenkt Heidegger die Weise des Nennens der zukünftigen Götter weiter, um einen Einblick in das Eigentümliche von Hölderlins Gedicht zu gewinnen (in dem sich solches Nennen bereitet). Als Hilfe für diese Besinnung wählt Heidegger eine siebenzeilige Variante Hölderlins zu dem Gedicht "Der Archipelagos": Aber weil so nahe sie sind die gegenwärtigen Götter Muß ich seyn, als wären sie fern, und dunkel in Wolken Muß ihr Nahme mir seyn, nur ehe der Morgen Aufglänzt, ehe das Leben im Mittag glühet Nenn' ich stille sie mir, damit der Dichter das seine Habe, wenn aber hinab das himmlische Licht geht Denk' ich mir des vergangenen gern, und sage- blühet indeß. 29

Die Bestimmung des Dichters, in die er sich fiigt, wird in diesen Zeilen durch das zweifache "muß" angesprochen. "Das eine »muß« betrifft das Verhältnis des Dichters zur Anwesenheit der gegenwärtigen Götter. Das andere »muß« betrifft die Art der Namen, durch die der Dichter die gegenwärtigen Götter nennt." 30 Der Dichter muß im Bezug zu den Göttern "sein als wären sie fern", und sein Nennen muß der wolkenhaften "Dunkelheit" ihres Namens entsprechen. Bevor Heidegger die Zusammengehörigkeit dieser zwei "Nötigungen" in bezug auf das Eigentümliche des Wesens des ursprünglichen Dichtens bedenkt, widmet er sich zunächst der Erläuterung des Wesens dieser "Nötigungen". Diese Erläuterung wird durch eine Frage eingeleitet: "Woher kommt die Nötigung?"31 Aus ihrer Beantwortung soll sich dann eine weitere Frage zu klären beginnen: "Warum dieses zwiefältige Geheiß?"32 a) Die Herkunft der Nötigung des dichterischen "Fem-sein-lassenMüssens" sowie des "Sti/1-(dunke/)-nennen-Müssens" der Götter: das Heilige ("Das Heiliggenötigtsein'')

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die einzelnen Frageschritte dieses Vortrages, um ein klares Auge fiir das Gesamtgefiige zu behalten. Gesucht wird das Eigentümliche des Gedichtes. Um dieses zu fmden, werden einige Zeilen 29

Hölderlin zitiert von Heidegger in: GA 4: S. 185.

30 GA 4: S. 186. 31 GA 4: S. 186. 32

GA 4: S. 186.

§ 25. Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag »Das Gedicht«

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aus einer Variante zu einem Hölderlin-Gedicht interpretiert. Diese Verse sprechen von einer zwiefältigen Nötigung. Bevor diese zwei Weisen der Nötigung in ihrem jeweiligen Eigenwesen und ihrer Zusammengehörigkeit erläutert werden (b ), wird die Frage nach ihrer gemeinsamen Herkunft gestellt. Einen Hinweis auf die grundlegende Antwort auf die Frage nach der Herkunft der Nötigung entnimmt Heidegger der ersten Zeile des hier untersuchten Gedichtabschnittes: "Der erste der sieben Verse gibt die alle folgenden übergreifende Antwort: »Weil so nahe sie sind die gegenwärtigen Götter«" 33 • Daraus ergibt sich zunächst die seltsame Überlegung, daß der Grund für das Fernsein-lassen-Müssen der Götter gerade in ihrer Nähe liegen soll; und auch der Grund für das geforderte "dunkle" Nennen ihrer Namen läge somit in dieser Nähe. Heidegger bemerkt selber im nächsten Satz: "Seltsam - man möchte meinen, wenn die gegenwärtigen Götter dem Dichter so nahe sind, dann ergäbe sich das Nennen ihrer Namen von selbst und bedürfe keiner besonderen Weisungen an den Dichter. "34 Das Unwegsame dieser Überlegung wird gangbarer, wenn das "so nahe" ursprünglich interpretiert wird: "Allein das »So nahe« bedeutet nicht »genügend nahe« sondern »zu nahe«." 35 Die Götter sind also in gewisser, zu klärender Weise zu nahe, als daß sie leicht genannt werden könnten und als daß ein Bezug zu ihnen ein allzu direkter sein könnte. Wie ist diese Nähe zu verstehen? Zunächst ist negativ festzuhalten: Die Nähe der Götter ist nicht im Sinne einer vollen gegenwärtigen Anwesenheit zu verstehen. Die nahen Götter sind ja, wie Heidegger betont, im Kommen: "Zu nah, zu nahegehend sind die in der Richtung auf den Dichter zu, gegenwärts zu ihm, ankommenden Götter. Offenbar dauert dieses Ankommen lange Zeit, ist darum noch bedrängender und deshalb noch schwerer zu sagen als die vollendete Anwesenheit. "36 Das Ankommen der Götter kann dem Dichter nahegehen, weil dieser wesensmäßig nicht nur auf einen gegenwärtigen Punkt fixiert ist, sondern sich ursprünglich zeitlich auch ins Künftige erstreckt. Weil die Götter den Dichter in seinem Wesen angehen, sind sie so nahe. Er kann sie nicht in ein dinghartes Gegenüber versetzen, worüber es leichter wäre, etwas auszumachen. Aber die Aufgabe des Dichters ist es nicht, über die Götter zu dichten, sondern ihr Wesen in seinem geschichtlichen Kommen zu nennen. Deshalb würde selbst die "vollendete Anwesenheit" eines Gottes, obwohl sie ein Nennen vielleicht leichter machen

GA 4: S. 186. GA 4: S. 186. 35 GA 4: S. 186. 36 GA 4: S. 187.

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8. Kap.: »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

würde37, solch ein Nennen nicht einfach "leicht" machen, da auch seine "vollendete" Anwesenheitsweise keine dinghafte ist, die es nur "abzuschreiben" gälte. Erst wenn von dinghaften Vorstellungen abgelassen wird und der Mensch sich in seinem Wesen auf den Gott bezogen erfährt, können aus dieser Erfahrung Worte erwachsen, die sich auf nichts unmittelbar Ontisches beziehen (aber alles Seiende im Glanz des Genannten wie neu erstrahlen lassen). In diesem Sinne zitiert Heidegger Verse aus der "Brod und "Wein"-Elegie: "Denn auch diese [die vollendete Anwesenheit des Gottes] vermag der Mensch nicht geradehin unmittelbar zu vernehmen und das durch sie gespendete Gut zu empfangen. Darum heißt es am Ende der fünften Strophe von »Brod und Wein« (StA II, s. 92/93 V. 87ff.): So ist der Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit Gaaben Selber ein Gott für ihn, kennet und sieht er es nicht. Tragen muß er, zuvor; nun aber nennt er sein Liebstes, Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn."38 Weder die Gegenwart (im Sinne der "vollendeten Anwesenheit") eines Gottes und schon gar nicht das Kommen solcher Gegenwart ist ein Phänomen, das auf der Hand liegt. Der Gott ist kein Ding, sondern ein Geschehen in der Lichtung des Seins (aus dem Bezug zu welchem Dinge ihre Würde entfalten können). Dem Menschen ist dieses Geschehen zugänglich, weil er wesensmäßig auf seinsvernehmende Weise ebenfalls dieser Lichtung zugehörig ist. Aber dieses Wesen zu erfahren, ist nicht das einfachste. Bis der Mensch sich seinem Wesen so geöffnet hat, daß er seine Bezogenheit zum Gott erfährt, muß er sich, wie wir im Zuge dieser Arbeit sahen, sowohl auf "Wanderschaft in die Fremde" (Kapitel 3 und 4) begeben, als auch bei der "Heimkunft" den "Gang an die Quelle" wagen. Erst hier kann ein ursprüngliches Nennen glücken. "Bis das Wort gefunden ist und erblüht, gilt es, Schweres auszutragen. Dieses Schwere bringt das dichterische Sagen in die Not. Sie nötigt."39 Das Schwere liegt zunächst darin, die Seinsverlassenheit des gegenwärtigen Zeitalters als solche zu vernehmen. Immer wieder sahen wir: Die Not der Seinsverlassenheit ist kein starres Fatum, sondern sie nötigt in die tiefere Besinnung auf das Gewesene, um von dort das gegenwärtig arg verstellte Geschick des Heiligen als solches zu erkennen und zukünftig ursprünglicher ankommen lassen zu können. Denn erst wenn der Bezug zum Heiligen geahnt wird, öffnet sich die Einsicht in das mögliche Kommen des Gevierts; in diesem erfahren sich Mensch und Gott einander wesensmäßig zugehörig. Was auf ontischer Ebene zum Nennen zu nahe ist - nämlich die wesensmäßige Zugehörigkeit von Mensch und Gott - kann 37

D.h. leichter als das Nennen des sich erst entfaltenden Göttlichen.

GA 4: S. 187. 39 GA 4: S. 187. 38

§ 25. Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag »Das Gedicht«

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aus der Erfahrung des bezughaften Eigenwesens ( d.h. des auch auf Göttliches bezogenen Eigenwesens) in Worten verlautbart werden.

Die schwere Not, die zu solcher Wesensfmdung aufruft, klingt in der Erfahrung der in ihrer (äußersten) Verstellung dennoch waltenden Zugehörigkeit des Menschen zum Heiligen an. Die Not in der götterlosen Zeit, in der das Ankommen eines Gottes erst erwartet wird, nötigt aus dem Grund, dem selbst der Gott noch zugehört und aus dem er bei gemäßer Vorbereitung wieder erscheinen kann. Die Not, die zu solcher Vorbereitung nötigt, kommt aus dem Grund, dem "Element", Gottes. Obwohl die Not im "Zu-nahe-sein" der Götter auf scheint, weist sie in einen Grund ein, aus dem Göttliches allererst hervorgeht (der also selbst kein Gott ist). Diesen nötigenden Grund, aus dem eine Erscheinung von Göttlichem sich ereignen kann, nennt Heidegger nun beim Namen: "Sie [die Not] kommt aus der »Sphäre des Gottes«. Das Element des Göttlichen ist das Heilige. Darum sagt Hölderlin im Gesang »Am Quell der Donau« (StA II, s. 128, V. 89 ff.): Wir nennen dich, heiliggenöthiget, nennen, Natur! dich wir, und neu, wie dem Bad entsteigt Dir alles Göttlichgebome. "40

Die Not, die den Dichter in seine Bestimmung nötigt, erweist sich also als das Heilige selbst, das danach ruft, in die Geschichte geborgen zu werden, wozu es der Wesensfmdung der Menschen bedarf. Hieraus geht eindeutig hervor, daß Heidegger - wie auch sonst - das Heilige in diesem Aufsatz als das Grundwort der Hölderlinschen Dichtung denkt. Aus dem Heiligen wird der Dichter "heiliggenötigt", die "nahen", gegenwärtigen Götter fern sein zu lassen, sie "dunkel" und "stille" zu nennen. Die Wesensweise der zwiefachen Nötigung, die dem Heiligen entstammt, bedarf nun weiterer Erläuterungen. b) Das stille (dunkle) Nennen der Götter als Nahe-sein-Lassen des Fernen in seiner Ferne (zum vorbereitenden Kommenlassen der Geschichte des Heiligen)

Die Götter bleiben die Kommenden, wenn sie nicht in eine ihnen ungernäße Nähe gezogen werden, sondern sich in ihrer Feme dem Menschen öffnen dürfen. Durch diese Feme verweisen sie den Menschen aber wiederum auf seinen wesensmäßigen Bezug zu dieser Feme. Die Feme der Götter kommt so den Menschen als Feme wesensmäßig nahe und zeigt den Menschen dadurch die Weite derjenigen Gegend eigens auf (d.h. ihre "Entrücktheit" in die Gegend), in 40

GA4: S. 187.

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8. Kap.: »Vmwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

die sie (auf Grund des Heiligen) in ihrem Bezug zu den Göttern eingelassen sind. Dieses Fern-sein-Lassen der Götter geschieht dadurch, daß der Dichter sie "still nennt": "Damit diese Feme sich als Feme öffne, muß der Dichter sich aus der bedrängenden Nähe der Götter zurücknehmen und sie »nur stille nennen«. "41 Einerseits sahen wir, daß die Götter in dem Sinne "zu nahe" sind, daß sie enger auf das Menschenwesen bezogen sind als gegenwärtige Dinge es jemals sein könnten; schon daher sind sie wegen ihrer Nähe schwer zu nennen (weil sie zwar wesensmäßig nah, auf ontischer Ebene aber unendlich fern sind). Ein weiterer Sinn des "Zunaheseins" der Götter (und damit der Notwendigkeit der Feme, die hier im "Nur-still-Nennen" angesprochen wird) ist uns auch aus dem zweiten Kapitel bekannt, wo die Gefahr thematisiert wurde, welcher der Dichter aus einer zu großen Nähe zu Göttlichem unterliegen kann; diese klingt in Heideggers Rede von der "bedrängenden Nähe der Götter" auch in diesem Vortrag an. Denn die Menschen dürfen sich nicht in ihrem Wesen an die Götter verlieren, da sie dadurch ihres eigentlichen Urgrundes, der im Heiligen liegt, verlustig gehen würden. Es ist nicht Aufgabe des Menschen, mit dem Gott zu verschmelzen, sondern aufgrund der Erfahrung seiner Wesensherkunft aus dem Heiligen kann der Mensch in die Begegnung mit dem Gott gelangen und in solcher Begegnung zumal der gemeinsamen Herkunftsgegend, d.h. dem Heiligen, auf Erden eine Geschichte stiften. Der auf den Menschen bezogene Gott bringt das Heilige rein in die Lichtung (des Gevierts) und läßt den Menschen dadurch in dieser Lichtung seine Würde (als der im Bezug zum Heiligen stehende "Hirte der vierfältigen Lichtung") geschichtlich einzigartig erfahren - aber nur wenn der Gott als Gott, d.h. in seiner (bezogenen) Feme genannt wird, wozu es des Fem-sein-Lassens der Götter dichterischerseits bedarf. Damit wäre angezeigt, wie das Heilige den Dichter in dieses Fern-sein-Lassen nötigt. Dadurch daß der Dichter erfährt, daß seine eigene Herkunft im Heiligen liegt, darf er diese nicht durch ein verschmelzungsgieriges "Naheseinwollen" bei Göttlichem verschütten. Das Heilige entläßt den Menschen vielmehr in eine ureigene Seinsweise, die wesentlich zum Sichöffnen der Lichtung gehört und die ihm erlaubt, auf menschliche Weise den Göttern zu begegnen; er ist so wesensmäßig auf sie bezogen (d.h. für deren Erscheinen und Pflege offen), aber er ist nicht einfach wesensidentisch mit ihnen - in diesem Sinne bleiben sie (bezugsverbunden) fern. Das Fernseinlassen ist vom Heiligen genötigt, damit jedes Gelichtete auf ureigene Weise dem jeweils Anderen in die Wesensentfaltung verhelfen kann, und somit auch der Grundzug des Heiligen selbst ins Scheinen kommt. Der Dichter muß die Götter fern sein lassen, weil er seine heiliggenötigte Bestimmung erfahren hat, d.h. weil er sich dem ihm aus dem Heiligen zuteil werdenden Sinn geöffnet hat.

41

GA 4: S. 188.

§ 25. Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag »Das Gedicht«

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Um diesen Sinn noch einmal mit anderen Worten zusammenzufassen: Das Heilige ruft den Dichter dazu auf, das Göttliche als Göttliches anwesend sein zu lassen, ohne aber danach zu streben, die wesensmäßige Ferne, die zum Nahesein der Götter gehört, zu tilgen. Die Götter sind eigentlich nahe, wenn sie als Götter, und d.h. als den Menschen gegenüber andere Wesen, fern sind, wobei den Menschen aus dieser Andersheit (Ferne) der Götter gerade "etwas" (d.h. eine Geschichte-prägende Erfahrung des Heiligen) geschenkt wird, welches die "Sterblichen" allein nicht zu stiften vermögen; in diesem Schenken sind die Götter wiederum auf innige Weise auf das Wesen des Menschen bezogen und so "nahe". Damit die Götter also in diesem eigentlichen Sinne "nahsein" können, müssen sie in ihrer Ferne gewahrt und genannt werden. Wie aber vollzieht sich solches Nennen? Wir kommen nun zur zweiten Frage: Wie nötigt das Heilige das Fern-sein-Lassen der Götter durch das dichterische Nur-still-Nennen ihrer? Bevor Heidegger auf die spezifische Weise dieses Nennenseingehen kann, kommt er auf eine Vorfrage zu sprechen: "Welcher Art ist solches Nennen? Was heißt überhaupt »nennen«?"42 Bevor also das Eigentümliche des Still-Nennens der Götter aus der heiligen Nötigung durchdacht wird, gilt es zuvor zu klären, was denn überhaupt das Wesen des Nennens ist. Das Nennen interpretiert Heidegger hier wieder im ursprünglichen Sinne des "Aufzeigens", "Aufweisens" und somit In-die-Offenbarkeit-der-ErscheinungBringens: "Nennen ist ein Sagen, d.h. Zeigen, das eröffnet, als was und wie etwas in seiner Anwesenheit zu erfahren und zu behalten sei. Das Nennen enthüllt, entbirgt. Nennen ist das erfahren-lassende Zeigen. "43 Indem das Nennen etwas in dessen ureigenem Sein zum Vorschein bringt, verhilft es denjenigen, die den Namen hören, in das entsprechende Gewahren des Genannten. Das Nennen des Fernen ist das Rufen, das dieses in seiner Ferne der Aufmerksamkeit näher bringt. Wenn nun das Rufen etwas wesenhaft Nahes in seiner Ferne aufzeigen soll (damit das Wesentliche nicht "allzu alltäglich" (d.h. verdinglicht) vernommen wird), dann muß dieses Rufen den Zug des Verborgenen im (wesentlich) Nahen als Verborgenen (Fernen) erscheinen lassen: "Wenn aber das zu Rufende zu nahe ist, muß, damit das Gerufene in seine Feme gewahrt bleibt, [das Zu-Rufende] als Genanntes seines Namens »dunkel« sein. Der Name muß verhüllen. Das Nennen ist als entbergendes Rufen zugleich ein Verbergen."44 Es "verbirgt" nicht, indem es etwas auf ontischer Ebene versteckt

GA 4: S. 188. GA 4: S. 188. 44 GA 4: S. 188.

42 43

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8. Kap.: >>Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

und den Mitmenschen vorenthält, sondern indem es im lichtenden Wort den Zug des Verborgenen wahrt. •s Die auf solche Weise "lichtend-verbergenden" Namen, welche aus der Erfahrung mit dem Heiligen genannt werden (und das heißt hier vor allem: die Namen der Götter), sind "heilige Namen": "Wenn gar das Nennen »heiliggenöthiget« ist, dann müssen die Namen, in denen es ruft, heilige Namen sein. "46 Ausdrücklich werden bei Hölderlin solche "heiligen Namen" angesprochen, und zwar in bezug auf ihr Fehlen: "In der Schlußstrophe der Elegie »Heimkunft« ...heißt es (StA II, S. 99, v. 101): »Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen,«" 47 • In diesen Zeilen spricht der Fehl Gottes (vgl. Kapitel 5). Der Fehl heiliger Namen fordert zwar das Schweigen, aber dieser Fehl und dieses Schweigen sind nicht nichtssagend. Auch der Fehl heiliger Namen sagt etwas; er läßt die aus dem Heiligen ankommenden Götter als noch unbekannte erscheinen. Das Schweigen sagt durch das Ungesagte schon von ihrer Ankunft. Heidegger bringt diesen Gedanken in Form einer Frage: "Oder kann wahrhaft schweigen erst, wer etwas zu sagen hat? In diesem Falle würde im höchsten Maße schweigen, wer es vermöchte, in seinem Sagen und gerade einzig durch dieses das Ungesagte, und zwar als ein solches erscheinen zu lassen."•s Die Antwort auf diese Frage erblickt Heidegger in Hölderlins Bekenntnis, das sich in der hier untersuchten Gedichtvariante so ausspricht: "Hölderlin bekennt ... , nur ehe der Morgen Aufglänzt, ehe das Leben im Mittag glühet Nenn' ich stille sie mir... "49

45 Ein Nennen kann noch auf eine andere Art verhüllen; es kann auf ein Grundwort durch ein Leitwort hinweisen; durch diesen Hinweischarakter ist es wiederum enthüllend. Auf diese Weise wird das Verständnis des Grundwortes durch das bedachtsame Folgen des Leitwortes vorbereitet. Das Leitwort verhüllt so zunächst das Grundwort (wobei selbst das Grundwort noch den oben angesprochenen Sinn des Verborgenen in sich trägt). In den oben zitierten drei Verszeilen, die uns den Sinn der Nötigung im Sinne des "Heiliggenötigtseins" erschlossen, wird das Grundwort vom Heiligen durch das Leitwort der Natur angesprochen: "Das soeben gehörte Wort »Natur« ist der wahrhaft dunkle, verhüllend-enthüllende Name in Hölderlins Dichtung." (GA 4: S. 188). Der Bezug der ursprünglich verstandenen Natur zum Heiligen wurde von uns bereits am Beginn des zweiten Kapitels ausführlich untersucht. ~GA 4: S. 188. 47 GA 4: S. 188. 48 GA 4: S. 189. 49 GA 4: S. 189.

§ 25. Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag »Das Gedicht«

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Hier werden die Götter genannt- aber in schweigsamer Stille, ehe es tagt. Wie ist diese heiliggenötigte Stille und dieses Tagen zu verstehen? Die "Stille" könnte zunächst nahelegen, daß der Dichter zwar die eigentlichen Namen der künftigen Götter schon weiß bzw. "schon hat", sie aber für sich hortet und niemanden daran teilhaben lassen will: "Soll dies heißen, daß der Dichter das zu Nennende bloß für sich behält und nichts davon gegenüber den Mitmenschen verlauten läßt?"50 Das wäre äußerst absonderlich, da sich uns ja immer wieder gezeigt hat, daß die Aufgabe des Dichters gerade darin besteht, das Heilige in seinem Kommen den Mitmenschen auf ihnen zugänglichere, d.h. gemilderte, Weise nahezubringen. Das Heilige entfaltet sich ursprünglich erst durch die Stimmen des Geschicks, zu denen die Stimme des Gotthaften gehört. Daher wäre ein mutwilliges Verschweigen der Götternamen, die wesentlich zum Geschichtlichwerden des Heiligen beitragen, mit der Aufgabe des Dichters unvereinbar. In der Tat bemerkt Heidegger auch sogleich: "Geschähe dies, dann wäre er seinem Dichterberuf untreu geworden. "51 Indes interpretiert Heidegger das "stille Nennen" als ein Nennen, das gestillt ist vom Heiligen, d.h. im Heiligen ruht und die zukünftigen (verlautbarungsfähigen) Namen des aus dem Heiligen erscheinenden Göttlichen in dieser Ruhe vorbereitet. Die Namen der Götter sollen nicht vorweggenommen werden; die Götter sollen nicht "um jeden Preis" in eine ungöttliche (dinglich-vorgestellte) Nähe gerissen werden, sondern ihr Fehl soll ausgestanden werden. Diesem wird im Schweigen entsprochen; dieses Schweigen sagt von der "heiliggenötigten", vernehmend-hörenden Offenheit für das Erscheinen des Gottes, ohne ihn dadurch in eine ungöttliche Nähe zu reißen. Die Ruhe des schweigsamen Nur-still-Nennens nährt sich aus der Erfahrung mit der heiligen Nötigung: "Der Dichter nennt sich »die gegenwärtigen Götter« »stille«. »still« bedeutet: gestillt, zur Ruhe gekommen, zu jener Ruhe, in der das Sichfügen in das Bescheiden beruht, indem es der heiligen Nötigung entspricht und damit zufrieden ist. "52 Dieses stille Nennen geschieht vor dem Tagen des Heiligen, d.h. vor dem Aufgang seines Geschichte-prägenden Waltens, zu dem die Begegnung der Menschen mit den Göttern gehört. Das ent-sprechende Nennen des Heiligen und das schweigsame, stille Nennen der Götter (in ihrem Fehl) geschieht als Vorbereitung für das Erscheinen des Gottes: "Das heiliggenötigte Nennen muß geschehen, bevor die wahrhafte Ankunft am Morgen des Göttertages beginnt und sich am Mittag vollendet, wenn das Feuer am Himmel glüht. Zu dieser Zeit erscheint »Der Gott gehüllt in so GA 4: S. 189. SI 52

GA 4: GA 4:

s. 189.

s. 189.

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8. Kap.: ))Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

Stahl«." 53 Der Mittag ist somit im Sinne des "Brautfestes" zu verstehen, an dem die Menschen dem Gott begegnen und er in seiner geschichtlichen Einmaligkeit (in der er das Heilige ins Scheinen bringt) beim Namen genannt wird und die Menschen mit ihm dem Heiligen auf Erden eine Geschichte stiften. Das "Erscheinen" Gottes darf natürlich nicht so verstanden werden, als erschiene eine ontische Gestalt (in Ritterrüstung z.B.). Der Gott nennt ein Geschehen in der Lichtung, das einzigartig auf den freigebenden Zug des Urgrundes verweist, indem er diesen Zug als den verborgenbleibenden hervorscheinen läßt. Der Gott selber bleibt auch in seinem Erscheinen von diesem Grundzug durchwaltet und wird daher auch in seinem geschichtlichen Anwesen nie so sichtbar wie anderes Gelichtetes. Heidegger betont dies ausdrücklich in bezug auf den (in der Schlußstrophe der Rheinhymne von Hölderlin genannten) in Stahl gehüllten Gott: "»Der Gott gehüllt in Stahl« bedeutet: der Gott ins Feuer des Himmels gehüllt, oder in Wolken. Das die Augen blendende Himmelsfeuer ist nicht minder verhüllend als das Dunkel der Wolken." 54 Das stille Nennen der Götter wird vom Heiligen genötigt, damit die Menschen durch das schweigsame Rufen der Götter mit dem Fehl Gottes vertrauter werden und darin die eröffnete zeit-räumliche Ankunftsstätte für ein kommendes Erscheinen von Göttlichem erfahren zu lernen beginnen. In solcher Ankunft sind die Götter auf die Menschen bezogen und bleiben doch fern, d.h. andere Wesen. Das stille Nennen der Götter wird aber nicht nur vom Heiligen genötigt, sondern auch von ihm gestillt. Die nötige Ruhe, um den Fehl Gottes auszustehen, verleiht die Erfahrung, daß der Mensch selbst im Zeitalter, in dem der Gott fehlt, auf das Heilige bezogen bleibt, wobei dieses das Wiedererscheinen von Göttlichem gespart hält. Das vom Heiligen genötigte und gestillte Nurstill-Nennen bereitet das Erscheinen des Göttlichen in seiner Feme vor, die eine wesensmäßige Nähe, d.h. Bezogenheit auf den Menschen, mit sich bringt.

11. Das Eigentümliche des Gedichts: Das reine Sicheinlassen auf das Gebrauchtsein (von den Göttern), umwillen des Geschichtlichwerdenlassens des Heiligen (im Geviert) Nachdem sich die Herkunft der zwiefachen Nötigung des Dichters als das Heilige erwiesen hat und das Wesen der jeweiligen Nötigung in bezugauf die Vorbereitung der ursprünglichen Begegnung mit dem Göttlichen (die ein GeGA4: s. 189. GA 4: S. 189f. Der Stahl zeugt ftir Heidegger vom "Sprühen der Funken" und wird in diesem Sinne aufdas "Feuer des Himmels" bezogen. Vgl. GA 4: S. 189. Sl

54

§ 25. Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag »Das Gedicht«

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schichtliehwerden des Heiligen eröffnet) erläutert wurde, gilt es nun wieder auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Worin liegt das Eigentümliche des Gedichtes? Fragen wir zuerst: Worin liegt die eigentümliche Aufgabe des Dichters? Die gegenwärtige Aufgabe des Dichters liegt darin, die ankommenden Götter im stillen Rufen, d.h. im Schweigen (bezüglich ihres Namens), in derjenigen Feme erscheinen zu lassen, aus der sie den Menschen in seinem Wesen angehen können. Diese Aufgabe ist keine einfache. Wie schon in der Auslegung der Feiertag-Hymne zitiert Heidegger auch in diesem Vortrag wieder die Zeilen aus »Mnemosyne«, die von der "Last von Scheitern" sprechen, die dem Dichter auf die Schultern gelegt ist. Der ferne Ort, von dem aus die Götter den Menschen angehen, weitet den Menschen in seine Wesenswürde, die er nur im Bezug zu den Göttern voll erfahrt. Der Mensch ist wesenhaft auf etwas bezogen, das sich niemals auf eine vorhandene Weise zeigen kann (so wie er es aus dem dinghaften Bereich her gewohnt ist). Diese Erfahrung raubt ihm (und vor allem den Dichtem, welche diese Erfahrung zulassen) zunächst seinen gewohnten Grund, weitet ihn dafür aber in seinen Wesensgrund. Dieser ist von der geläufigen Erfahrung her betrachtet ein Abgrund: "Die Feme des nahenden Gottes verweist die Dichter in die Richtung nach jener Gegend ihres Daseins, wo diesem der Boden, der tragende Grund, wegsinkt "55 Im Exkurs zur Zeit-RaumAnalyse der Beiträge im zweiten Kapitel sahen wir, daß im Wort Abgrund stets zwei Sinne mitzuhören sind: Zunächst das Ausbleiben des gewöhnlichen, ontischen Grundes, dafür aber das Gründen der Offenheit für das Erscheinen von Ontischem überhaupt. Die Erfahrung in der Begegnung mit Göttlichem weitet Geschichte-prägend die Menschen in ihr abgründiges Wesen und hilft diesen, ihr Wesen im Seienden dem Heiligen entsprechend zu gründen (was nur im offenen Bezug zu den anderen Weltgegenden geschieht). Daher schreiten die Dichter in ihrer Vorbereitung solcher Begegnung in die Richtung dieses Abgrundes: "In der angefiihrten Variante zur Elegie »Brod und Wein«, die beginnt: »Lang und schwer ist das Wort von dieser Ankunft«, sagt Hölderlin von den »Dienern der Himmlischen«, d.h. von den Dichtem: »Ihr Schritt ist gegen den Abgrund/ Der Menschen.« »gegen« bedeutet: in der Richtung nach dem Abgrund. "56 Die Dichter gehen einem Ereignis entgegen, dessen Grundzug sie kaum erahnen können; dieses ist daher auch niemals ihre bloße "Erfmdung" ("Einbildung"). Weil der Dichter dem abgründigen Wesen der Menschen entgegengeht, das er nicht aus sich selbst erfunden hat, kann das Eigentliche des Gedichts, "das

55 56

GA 4: S. 190. GA 4: S. 190.

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8. Kap.: »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten«

Seine" des Dichters, nicht ein Besitz des Dichters sein; vielmehr entspricht der Dichter im Gedicht seiner Bestimmung: "Aber das Seine gehört dem Dichter wiederum nicht als ein selbsterworbener Besitz. Das Seine besteht vielmehr darin, daß der Dichter dem gehört, wofiir er gebraucht ist."" Mit dem "Gebrauchtsein" (als der Bestimmung des Dichters) klingt schon derjenige Sachverhalt an, der in den Beiträgen in bezug auf die Notschaft der Götter, die des Seyns und damit des Menschen bedürfen, gedacht wird. Denn die Götter brauchen, um erscheinen zu können, die Offenheit des Seyns, die der Mensch daseinsmäßig aussteht. Diese Lichtung kann jedoch von dem Menschen zugunsten des bloßen Betreibens von Seiendem vergessen werden. Besonders im Zeitalter der Seinsverlassenheit bedarf es derjenigen Menschen, welche die gegenwärtige Not als Not ausstehen und d.h. sich öffnen fiir das Ankommen des "Rettenden" und damit auch des Gottes, der Geschichte-prägend die Menschen in ihr Wesen ruft, indem er sie auf ihren Urgrund (das Heilige) verweist. Der Dichter muß mit dem Heiligen vertraut sein, die Ankunft des Göttlichen aus ihm erwarten und Kunde hiervon unter die Menschen bringen; er muß dieses Geschehen im Wort enthüllen, ohne aber dabei das Verborgenbleibende im Lichte der Enthüllung untergehen zu lassen: "Denn das Sagen des Dichters ist in den Gebrauch genommen, zeigend, verhüllend-enthüllend, die Ankunft der Götter erscheinen zu lassen, die das Wort des Dichters fiir ihr Erscheinen brauchen, dafiir daß sie im Erscheinen erst sie selbst sind. "58 Heidegger führt an dieser Stelle weitere Gedichtstellen an, wo Hölderlins Gedanke der "Bedürftigkeit" der Götter sich zeigt. Das Brauchen der Götter (in bezug auf die fiihlenden Menschen), das in der Rhein-Hymne anklingt, wurde bereits von uns untersucht. Zusätzlich zitiert Heidegger hier noch zwei Verse aus dem "Archipelagus": "»Immer bedürfen ja, wie Heroen den Kranz, die geweihten/ Elemente zum Ruhme das Herz der fiihlenden Menschen.«" 59 Dieses Rühmen versteht Heidegger auch hier im Sinne Pindars als "Erscheinenlassen."60 Der Dichter, der in seiner Grundstimmung sich dem Göttlichen am weitesten öffnet, fühlt den Mitmenschen gewissermaßen "voraus", wie Heidegger sagt, und ist damit der von den Göttern am ausgezeichnetsten Gebrauchte. Er verlautet die Kunde ihrer Ankunft im Wort. Allerdings ist nicht nur der Dichter der Gebrauchte. Bereits in der Kunstwerkabhandlung zeigt sich deutlich, daß das Gewahren des Kunstwerkes ebenso wesentlich ihm zugehörig ist wie sein Geschaffensein durch den Künstler. Der Dichter kann zwar das Wort von den Göttern vorbereiten und am Tage des "Brautfestes" verlautbaren, aber GA 4: s. 191. GA 4: s. 191. 59 GA 4: s. 191. 60 GA 4: S. 191.

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SB

§ 25. Heideggers Auslegung des Heiligen im Vortrag »Das Gedicht«

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die Offenheit der Menschen (d.h. ihr Hören auf das Wort), derer es wesentlich zum Geschichtlichwerden des Heiligen bedarf, kann er niemals erzwingen. Auch sie sind von den Göttern daher als freie Wesen gebraucht, die von sich aus den Göttern ihren Erscheinungsraum einräumen. Daß die Götter der Menschen bedürfen und die Würde der Menschen wiederum sich in ihrem "Gebrauchtsein" (also in ihrem Bezugscharakter zum Lichtungsgeschehen) bekundet, sind Gedanken, die aus dem Gedankengut der Beiträge her verständlicher werden. Auf dem Boden des ontotheologischen Denkens, das Eigenständigkeit als autarke Selbstverursachung (und das heißt Bezuglosigkeit) denkt, müssen sie sich jedoch unverständlich darbieten; zum Zeitpunkt des Vortrages, wo die Beiträge noch nicht veröffentlicht waren, betont Heidegger daher, daß das bisherige Denken diesem Sachverhalt noch nicht gewachsen ist: "Mit diesem scheu gewagten Wort vom Bedürfen der Götter und dem entsprechenden Gebrauchtsein des Dichters rührt Hölderlin an die Grunderfahrung seines Dichtertums. Dieses Erfahren sachgerecht zu denken, dem Bereich nachzufragen, in dem es spielt, dem ist das bisherige Denken noch nicht gewachsen. "61 Aufgrund unserer Untersuchungen können wir aber sagen, daß Heidegger mit dem hier genannten "Bereich", ereignisgeschichtlich gedacht, das "Heilige" (als den Urgrund) anspricht, innerhalb dessen gewährter Lichtung Gott und Mensch in ihrem Bedürfen bzw. Gebrauchtsein sich gegenwendig in ihr Wesen erheben und dadurch das Heilige ins "Scheinen" bringen. Das Eigentümliche des Gedichtes Hölderlins, nach dem in diesem Vortrag gefragt wurde, hat sich somit etwas erhellt. Das Eigentümliche besteht darin, aus der Erfahrung des Heiligen gesprochen und von diesem "genötigt" zu sein, d.h. die Bestimmung zu erfahren, fiir das Ankommen der eines Anwesungsraumes bedürftigen Götter gebraucht zu sein, wobei der Dichter dieser Bestimmung entspricht, indem er die Ankunft der Götter zunächst dadurch vorbereitet, daß er dichterisch die Kunde von dieser Ankunft unter die Mitmenschen bringt. Diese Kunde birgt das Geschehen des im Verborgenen sich bereitenden Anwesens von Gotthaftern ins seiende Wort, von wo aus dieses Geschehen auf verwandelte Weise die Menschen ansprechen kann. Diese Kunde nennt Heidegger hier die "gefügte Sage": "Das Gedicht, das Gedicht Hölderlins versammelt das Dichten als heiliggenötigtes, himmlisch gebrauchtes Nennen der gegenwärtigen Götter in die gefügte Sage, die, seitdem Hölderlin sie gesprochen hat, in unserer Sprache spricht, gleichviel, ob sie gehört wird oder nicht. "62 Die Sage vom Heiligen spricht, indem sie ins Wort geborgen ist und von dort her auf ein Vernehmen wartet. Obschon diese Art des Sprechens nicht abhängig ist

61 62

GA 4: S. 191. GA 4: S. 192.

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8. Kap.: »Vorwort zur Lesung von Hölderlins GedichtenuaLc;-. Obwohl bei Bohlen an dieser Stelle Sein deutlich sowohl in seinem sichlichtenden als auch in seinem sichverbergenden Zug aufgewiesen wird, so bleibt bei ihr auch hier unthematisch, wie das Heilige differenzierter als der verborgene und dadurch freigebende Grundzug des Seins von Heidegger gedacht wird, aus dem sich Anwesen lichtet. Der Bezug des Anwesens zum menschlichen Gewahren wird wiederum treffend erkannt. In ihren Schlußbetrachtungen kommt Bohlen noch einmal darauf zu sprechen, daß Heidegger irmerhalb des fundamental-ontologischen Frageansatzes das Heilige noch eher mit der Übermacht des Seins zusammenbringt, der die Ohnmacht des Daseins entspricht, wobei das Heilige vom Göttlichen hier streng unterschieden wird. 102 Wir sahen, daß im seinsgeschichtlichen Denken das Heilige gerade als der Urgrund gedacht wird, auf dem die bezugsverbundene und bezugsoffene Eigenständigkeif des Daseins (und des Gottes) gerade wachsen kann. Dieser vertiefende Wandel wird durch Bohlens Ausführungen zu Heideggers frühem Verständnis des Heiligen besonders deutlich erkennbar. Am Schluß ihrer Arbeit angekommen, merkt Bohlen noch an, daß uns die wichtige Aufgabe bleibt, Heideggers Ansatz in bezug auf das Mitsein weiterzudenken. Sie erblickt bei Heidegger die Gefahr, daß das Fremde nur umwillen des Eigenen zugelassen wird: Zwar gibt schon der Ansatz des seinsgeschichtlichen Denkens Heideggers zu erkennen, daß auch flir ihn das Gespräch der dem Sein und dessen geschichtlicher Wesung gemäße Modus des Sprechens ist, wobei die Zuwendung zum Fremden, die im Gespräch mit der Geschichte stattfindet, bei ihm stets um der Aneignung des Eigenen willen geschieht und insofern auch Gefahr läuft, im Fremden nur das Eigene zu suchen.103 Aufgrund unserer Untersuchungen können wir sagen, daß sich das "Eigene", so wie es von Heidegger letztlich entworfen wird, gerade erst im Bezug zum Anderen (Fremden) vollendet, so daß das Eigene mit Hilfe des Anderen gesucht wird, damit es möglich wird, aufureigene Weise den Anderen in seiner Fremdheit (auch als "Gast" im Eigenen) sein lassen zu können.

101 Bohlen, S. 353. 102 Vgl. Bohlen, S. 361. 103 Bohlen, S. 369.

§ 33. Iris Buchheim: Wegbereitung in die Kunstlosigkeit

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§ 33. Iris Buchheim: Wegbereitung in die Kunstlosigkeit (1994) Der Untertitel der Dissertation "Wegbereitung in die Kunstlosigkeit" von Iris Buchheim lautet: "Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Hölderlin". Buchheim will im Zuge ihrer Untersuchungen herausarbeiten, daß "Heidegger durch seine Begegnung mit Hölderlin zur Einblicknahrne in das Wesen der Technik gebracht wurde. "104 Auf den ersten 120 Seiten untersucht sie Heideggers Auslegung der Germanien-Hynme, wobei ihr Hauptinteresse darin liegt, die Bedeutung von Hölderlins theoretischen Schriften fiir ein angemesseneres Verständnis von Heideggers Auslegungen zu gewinnen. Hölderlins theoretisches Verständnis soll sich als ein viel näheres zu Heideggers Denken erweisen als allgemein angenommen wird. Sie meint so aufzeigen zu können, daß Heidegger nicht sein eigenes Denken bloß auf Hölderlin überträgt, sondern daß dieses sich gerade in der Begegnung mit Hölderlin wandelt. los In unserem Zusammenhang können wir nicht ihre sehr detaillierten und fachkundigen Ausfiihrungen zum philologischen Verhältnis Hölderlin-Heidegger näher verfolgen, da wir die Frage nach dem theoretischen Selbstverständnis Hölder/ins in unserer Arbeit explizit ausgeklammert haben. Auf das Heilige kommt Buchheim ausdrücklich in bezug auf die FeiertagHynme zu sprechen. Der entsprechende Abschnitt heißt: "3. Das Erdenken des Seyns und das dichterische Wort des Heiligen." 106 Buchheim bringt das Heilige dort mit der Offenheit der Lichtung so zusammen, daß fiir sie der Wesensunterschied zwischen "Sein" und "Heiligem" von Heidegger nur dem Namen nach, "aber nicht dem Gedachten nach" 107 durchgehalten wird. Buchheim unterscheidet hier nicht klar genug zwischen dem urgründigen Heiligen, aus dem sich jede geschichtliche Lichtung ereignet (in der Mensch und Gott sich begegnen oder aneinander vorbeigehen können), und der geschichtlichen Erfahrung der verschiedenen Epochen des Anwesens des Seyns; daher kommt sie in die Versuchung, keinen sachlichen Unterschied mehr zwischen Sein und Heiligem zu erblicken. Das Heilige erwies sich uns aber keineswegs als einfach identisch mit dem Sein, sondern als der verborgene Grundzug des Seins, der Anwesen in die Lichtung erscheinen läßt.

Buchheim, Iris Wege in die Kunstlosigkeit. Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Hölder/in. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1994: S. 3. 10s Vgl. Buchheim, S. 108. 106 Buchheim, S. 214. 107 Buchheim, S. 214. 104

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II. Kap.: Sekundärliteratur aus den 90er Jahren

Weiter besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem dichterischen Nennen und dem denkerischen Auslegen, der bei Buchheim verloren zu gehen droht: Das dichterische Nennen vermag ein Stiften, welches Mitmenschen anders ansprechen kann als das Denken und so zum Geschichtlichwerden des Heiligen Konkreteres beitragen kann als ein denkerischer Entwurf. Buchheim erblickt in diesem Gedanken aber eine lächerliche Utopie 108 und versucht Heidegger davor zu bewahren, indem sie fiir ihn geltend machen will, die Dichtung habe lediglich geschichtegründende Macht fiir ein anderes Denken. 109 Aber Heideggers Hoffnung in die Dichtung (und in die Kunst im allgemeinen) liegt darin, daß sie (durchaus zusammen mit einem anfangliehen Denken) Grunderfahrungen den Menschen auf eine Weise nahebringen kann, die weit größere Bevölkerungsschichten zu erreichen vermag als das Denken allein. Buchheim ist natürlich vorbehaltlos darin recht zu geben, daß Heidegger hierbei nicht an eine vulgäre, propagandamäßige Popularisierung denkt, durch die alle Menschen plötzlich gedankenlos Hölderlin-Verse aufsagen würden. Aber die Geschichte-gründende Macht, die Heidegger der Kunst zutraut, geht sicherlich über einen bloßen "Denkanstoß" hinaus - auch wenn diese sich gegenwärtig nicht entfalten kann. Die Unterscheidung zwischen dem Heiligen (Natur) und den Göttern trifft Buchheim wiederum klar. 110 Die einzelnen Wesenszüge in Heideggers Auslegung der Feiertag-Hymne werden dann von Buchheim besprochen und immer wieder mit den theoretischen Grundlagen Hölderlins verglichen. Den Einzelheiten können wir hier nicht nachgehen. Ganz allgemein ist aber folgendes zu ihrem hermeneutischen Ansatz zu sagen. Es ist sicherlich ein fiir die Forschung sinnvoller und wertvoller Beitrag, Hölderlins theoretische Schriften heranzuziehen, um nach Entsprechungen zwischen Heideggers und Hölderlins Denken zu suchen. Aber die allentscheidende Rolle, die Buchheim diesem Verfahren zumißt, ist durchaus fraglich. So sagt sie z.B.: "Denn die Frage, ob Hölderlin wirklich so verstanden werden kann, ist keine andere als die, ob Heidegger schlichtweg Unsinn sagt, wenn er von der Unumgänglichkeit Hölderlins fiir sein Denken spricht. Denn ist alles nur hineinphantasiert durch dieses Denken, dann gilt der unumgängliche Bezug einem Phantasieprodukt dieses Denkens selbst." 111 Mit diesem Ansatz wird vorausgesetzt, daß einem Gedicht im Wesentlichen einzig und allein der theoretische Entwurf des Dichters zugrundeliegt und daß, wenn dieser sich als inkompatibel Vgl. Buchheim, S. II!. Vgl. Buchheim, S. l!Of. 110 Vgl. Buchheim, S. 218. 111 Buchheim, S. 219. 108

109

§ 33. Iris Buchheim: Wegbereitung in die Kunstlosigkeit

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mit Heideggers Denken erweisen sollte, alles in Hölderlins Dichtung von Heideggers Denken Gefundene nur Einbildung, Phantasterei ist. Diese "poeta faber"-mäßige Auffassung der Dichtung ist sicherlich fragwürdig. Heidegger würde sie bestimmt in dieser Form ablelmen; der Wesensunterschied zwischen Dichten und Denken würde hier wegschwinden und alles nur noch zur Frage der "Einkleidung" werden. Gleich zu Beginn von Buchheims Studien zu Heideggers Auslegung des "Isters" und von "Andenken" spricht sie das Heilige an, indem sie sagt, daß für Heidegger das Gedicht "Andenken" das Heilige zwar verschweigt, aber nur, um "das im Heiligen zu gründende Vaterland...verborgen sein zu lassen." 112 Obwohl bei Buchheim der Bezug des Heiligen zum Sein, dem Stromwesen und den Menschen an verschiedenen Stellen anklingt113, so wird es im Zuge ihrer Überlegungen zum "Ister" nirgends eigens einer differenzierten Thematisierung unterzogen, sondern eher nur im Anschluß an spezifische Auslegungen als ein weiterer Name für das Sein aufgewiesen. Dadurch tritt die Bedeutung, die Heidegger diesem Wort zurnißt, zunächst etwas in den Hintergrund; hierzu ist zunächst ein Zweifaches anzumerken: Solch eine Abblendung kann natürlich im Hinblick auf ein eingegrenztes Forschungsvorhaben durchaus legitim sein, und zweitens kommt sie am Ende ihrer Dissertation noch einmal ausdrücklicher auf das Heilige zu sprechen. Sachlich problematisch hingegen muß uns ein Grundzug ihrer Auslegung des Fragmentes "nemlich zu Hauß ist der Geist nicht im Anfang ... " erscheinen, obwohl sie in dieser Auslegung gerade auch sehr wichtige und treffende Einsichten vorbringt. So betont sie z.B. mit massiver Klarheit, daß das Schicksal bzw. das Schickliche bei Heidegger kein Fatum ist: "Das Schickliche ist, um dies ein letztes Mal gegen alle Unterstellungen zu betonen, bei Heidegger nie das unvermeidliche Verhängnis, das über den ohnmächtigen Menschen hinwegrollt, sondern, wie die Anmerkungen zur Antigone zeigten, das was sowohl ein höchstes Seinkönnen als auch den tiefsten Verfall gewährt ... ".114 Dies stimmt genau mit unseren Forschungseinsichten überein, wo das Geschick sich als ein eröffnendes erwies, aus dem Freiheit und die Spannweite der Möglichkeiten sich ergeben. Auch betont sie die Wichtigkeit des Fremden für das Aneignen des Eigenen. Aber in dem näheren Verständnis dieses Sachverhaltes divergieren, wie oben schon angedeutet, unsere Interpretationen.

Buchheim, S. 237. Vgl. z.B. Buchheim, S. 269. 114 Buchheim, S. 311.

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II. Kap.: Sekundärliteratur aus den 90er Jahren

Zunächst insistiert Buchheim wieder darauf, daß das "Heirnischwerden" niemals seine Erfiillung fmden kann. Sie zitiert hier Ziegler115 als paradigmatisch fiir Auslegungen, denen sie einen "kitschigen, oder zumindest zutiefst unzeitgemäßen und naiven Zug" 116 zuschreibt. Zuvor hat sie auf Biemel verwiesen117, um zu zeigen, wie in der Heidegger-Forschung der notwendige Bezug zum gegenwärtigen Zeitalter zugunsten "erbaulicher Passagen" mehr oder weniger übergangen wird. Ganz allgemein ist zu Buchheims Anliegen zu sagen, daß sie nicht unrecht hat, wenn sie betont, daß das Ernstnehmen der technischgeprägten gegenwärtigen Epoche unabdingbar fiir einen lebendigen Bezug zum Entzug ist; denn einzig aus solchem Ernstnehmen kann eine Wende sich ereignen. Aber in ihrer radikalen Ablehnung der Möglichkeit eines ursprünglichen geschichtlichen "Heimischseins" wird sie Heideggers Entwurf (und der sich hierauf berufenden Literatur) m.E. nicht gerecht. Wir sahen, daß auch in den späteren Vorträgen Heidegger die Hoffnung auf ein künftiges "Brautfest" (das mehr als eine Denkerfahrung sein kann) nicht aufgibt. Das Faktum, daß Heidegger das "Heimischwerden" im "Unheirnischsein" notwendig verwurzelt sieht, spricht nicht (wie Buchheim es gegen Ziegler konstruieren möchte) dagegen, daß der Grundzug des Unheimischseins (nämlich als das im Verborgenen waltende Heilige) fiir eine Weile auf Erden so geborgen wird, daß eine wohlverstandene "Heimat" und ein "Heimischsein" sein können. Das Heimischsein wird natürlich niemals zu einem "statischen Besitz", aber kann als verbal verstandene augenblickliche Erfiillung eines "dichterischen Wohnens" angesprochen werden (das natürlich kein permanent vorhandener Endzustand ist und auch wieder verfallen kann). Dieser Gedanke Buchheims wird bedeutsam in bezug auf ihre ausdrückliche Thematisierung des vom Ister "zu Gast geladenen" Herkules, der sich in unserer Auslegung als zentral dafiir erwies nachzuweisen, daß fiir Heidegger das Fremde selbst am Quell des Heimischen (also nach "der Rückkehr aus der Fremde") bejaht wird (wobei das ursprünglich "Heimische" freilich den Bezug zum Unheimlichen (Heiligen) gerade immer in sich birgt und austrägt). Da Buchheim, wie wir oben sahen, jegliche Form des ausgeglichenen "Heimischseins" aufgeschichtlicher Ebene (und dessen Vorbereitung) ablehnt, kann sie auf diesen Sachverhalt gar nicht stoßen. So interpretiert sie auch tatsächlich das Gespräch mit dem Gast noch ganz im Sinne des Gesprächs mit dem Fremden umwillen der Aneignung des Eigenen, d.h. mit dem Gespräch, so wie es noch

m Buchheim, S. 314, n. 93.

116 Buchheim, S. 314. 11 7

Buchheim, S. 314, n. 92.

§ 33. Iris Buchheim: Wegbereitung in die Kunstlosigkeit

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während der "Ausfahrt" in die Fremde geführt wurde.U 8 Aber Heidegger redet ausdrücklich davon, daß das Fremde hier (d.h. in der Nähe der Quelle) eine gewandelte Zuwendung erfährt. Nach unserer Interpretation erfährt gerade das Eigene des Griechischen im Gespräch mit dem zur Quelle heimkehrenden Dichter eine neue Zukunft, die es aus sich allein nicht mehr hätte. Ist das Eigene der Griechen wirklich abgeschlossen oder wird ihm im Gespräch mit uns Heutigen eine Würde zuteil, die es in seiner verborgenen Wesensherkunft hervorscheinen läßt? Erfahren wir uns hierbei von einem Glanz angegangen, der uns wiederum an unseren eigenen Bezug zur verborgenen Herkunftsgegend immer wieder erinnert? Dann wäre gerade das Gespräch zwischen dem Gegenwärtigen und Gewesenen eines, durch das beide so aufeinander bezogen sind, daß sie sich gegenseitig im Eigenen sein lassen (und so wäre das gewandelte Gespräch nicht mehr bloß "umwillen des Eigenen", sondern umwillen des gegenwendigen Bezugs, in dem sie sich aufgrund der Erfahrung mit der verborgenen Wesensherkunft, an die sie sich gegenseitig erinnern, ins Eigene erheben und halten). Es soll aber noch einmal ausdrücklich betont werden, daß Buchheim in ihrem Insistieren auf der Bedeutung der gegenwärtigen Situation der Seinsverlassenheit etwas Wichtiges sagt. Das Unheirnischsein im Sinne des Aufenthaltes in einer durch das "Gestell" bestimmten Welt darfnicht einfach durch romantische Ausflüchte zur Poesie geflohen werden (was aber ganz und gar nicht eine andenkende Besinnung auf das Kommen des Gevierts ausschließt). Denn einzig hier kann sich lebendig der Entzug als ein freigebender erweisen. Aber das besagt für Heidegger gerade, daß ein gewandelter Bezug zu diesem Entzug geschichtlich durchaus möglich werden kann, in dem die Menschen in dem Sinne im Unheimlichen wohnen, daß sie ihr Wesen aus dem nie besitzbaren Heiligen übereignet erfahren und dieses Wesen dichterisch auf Erden zu bergen versuchen. Der dritte Paragraph von Buchheims Untersuchungen zu Heideggers "Andenken"-Auslegung trägt die Überschrift: "Der Geburtstag des Dichters oder der Gruß des Heiligen"" 9 • Dort weist sie zu Anfang daraufhin, daß es dem Dichter in "Andenken" darum geht, "dichtend dem im gewesenen Fest, also dem in der Tragödie, noch nicht herausgelegten Wesen und Bestimmungsgrund der 'Begegnung' selbst" 120 anzugehören und d.h. das Heilige verschwiegen zu nennen. Damit wird das Heilige als der "Wesen und Bestimmungsgrund" 121 von Vgl. Buchheim, S. 315, 319,323. Buchheim, S. 340. 120 Buchheim, S. 341. 121 Buchheim, S. 341.

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Buchheim klar angezeigt. In ihren Überlegungen zu dem in diesem Gedicht genannten "dunklen Licht" zeigt sich ebenfalls, daß sie dem Heiligen einen Verweigerungs- bzw. Entzugscharakter zuspricht122 ; das freigebende Moment des Entzuges klingt zwar an, wenn sie von dem Zeit-Raum bzw. der Offenheit in bezugauf das Heilige spricht 123, aber es bleibt fraglich, ob sie diesen Gedanken radikal genug durchdacht hat. Denn aus dem gewährenden Charakter des Entzugs wird nach Heidegger gerade die Wende in andere geschichtliche Epochen möglich. Die Möglichkeit des lebendigen Bezugs zum Heiligen selbst in seiner äußersten Verstelltheil ist der Grund für die Nennbarkeit des Heiligen im Gedicht und zumal der Grund für die Hoffnung auf so etwas wie "zukünftige Versöhnung", deren Möglichkeit von Heidegger in bezugauf die Erfahrung mit dem noch "sparenden" Heiligen gedacht wird. Diese Hoffnung kann sich einzig aus der Erfahrung des im Entzug Sich-Zusprechenden nähren, wobei eine Besinnung auf diesen Zuspruch den Blick auf eine ursprünglichere Weise, wie diesem Zuspruch zukünftig entsprochen werden könnte, eröffnet. Wichtig ist hierbei zu betonen, daß in solchem Entsprechen niemals ein gesicherter, paradiesischer Endzustand ins Sein tritt, wohl aber ein festlicher geschichtlicher Augenblick, durch den der verschwiegene Bestimmungsgrund als verborgengewährender in seiner Tragweite hervorscheint Nach Buchheim ist aber gerade solche Hoffnung auf einen geschichtlichen Ausgleich von den Auslegungen Heideggers fernzuhalten. Das vehemente Insistieren auf diesen Punkt bei Buchheim wird dann verständlicher, wenn der Entzugscharakter so aufgefaßt wird, als ob geschichtliche Bergung des Verborgenen prinzipiell unmöglich wäre. Dies verkennt aber den radikalen (freigebenden) Bezugscharakter, der sich im Entzug bekundet und den Heidegger, wie wir immer wieder bei unseren Darlegungen sahen, zu würdigen weiß. Das dunkle Licht wird niemals gänzlich Licht. Aber das Dunkle der Verweigerung (des Entzugs) kann als Eröffnungsmoment des Lichtes erfahren werden und die Weise, wie dieser Wesensgrund im Gelichteten geborgen wird, kann durchaus eine ursprünglichere sein als das heute waltende Gestell es zuläßt.

122 123

Vgl. Buchheim, S. 346. Vgl. Buchheim, S. 347.

Einleitung zum dritten Hauptteil In der allgemeinen Einleitung zur vorliegenden Arbeit wurde gesagt, daß sich das Ziel dieser Untersuchung nicht darin erschöpfe, Heideggers Gedanken zum Heiligen darzulegen, sondern daß es letztlich um einen Beitrag zum Kommenlassen des Phänomens selbst geht. Es wurde sogleich hinzugefügt, daß ein Durch- und Mitdenken von Heideggers Gedankengängen hierzu uns eine unentbehrliche Hilfe sein wird. Bis jetzt haben wir zwar schon genaue Heidegger-Studien dargelegt, aber es fehlt noch jeglicher Hinweis darauf, wie uns die hierbei gewonnenen Einsichten weiterhelfen sollen, einen Ansatz zu erarbeiten, der zum Kommenlassen des Phänomens selbst etwas beizutragen vermag. Die Grundlegung für diesen Beitrag soll in dem abschließenden dritten Hauptteil nun geleistet werden; die Ausarbeitung dieses Ansatzes bleibt späteren Arbeiten vorbehalten. Zuerst wollen wir uns aber noch einmal in knappen Zügen die bis jetzt herausgearbeiteten Grundgedanken vergegenwärtigen. Dazu soll zunächst im 12. Kapitel Heideggers Denken des Heiligen mit einigen traditionellen Bedeutungen dieses Wortes kurz verglichen werden. Nachdem im einzelnen der Sinn, den Heidegger diesem Wort zumißt, von traditionellen Bedeutungen abgegrenzt wurde (und auch Dialogmöglichkeiten mit einigen der traditionellen Ansätze aufgezeigt wurden), werden am Beginn des 13. Kapitels die wichtigsten Grundzüge des ganzen von Heidegger gedachten Bezugsgefüges des Heiligen auf kleinstem Raum gesammelt noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Im Anschluß an diese Darlegung ist es Aufgabe des 13. Kapitels zu zeigen, daß und inwiefern Heideggers Gedanken zum Heiligen für eine philosophische Grundlegung der daseinsanalytischen Therapie auf dem Boden des EreignisDenkens fruchtbar gemacht werden können. In solch einer Grundlegung werden wir den Beitrag zu dem (noch näher zu klärenden) Kommenlassen des Phänomens selbst suchen.

42 Helting

12. Kapitel Traditionelle Verständnisweisen des Wortes vom "Heiligen" im Vergleich mit Heideggers Denken des "Heiligen" Im folgenden kann es nicht darum gehen, eine detailierte Vergleichsstudie zwischen den verschiedenen traditionellen Gestalten des Verständnisses des "Heiligen" und demjenigen Heideggers zu vollziehen. 1 Wir müssen uns hier damit begnügen, in wenigen Hauptzügen Un!erschiede und Dialogmöglichkeiten anzuzeigen. Selbstverständlich kann eine solche grobe schematische Darlegung niemals der noch ungehobenen Fülle des in der Tradition bereits Gedachten gerecht werden, aber es können dennoch aus einer solchen Gegenüberstellung einige richtungsweisende Anstöße zum dialogischen Weiterdenken gegeben werden, im Zuge dessen auch der Schatz der Tradition immer ursprünglicher ans Licht kommen kann. An eine solche Würdigung denkt Heidegger selber im ereignisgeschichtlichen Denken, indem er den Anspruch des Gewesenen das "Zuspiel" nennt, ohne dessen Hilfe kein anderer Anfang gegründet werden kann. Der erste Punkt(§ 33) widmet sich in knappesten Zügen einem fragenden Vergleich von Heideggers Denken des Heiligen mit dem biblischen Verständnis des Heiligen sowie dem Gottesverständnis bei Thomas von Aquin. Hierbei müssen natürlich, wie auch während der folgenden Untersuchungen, die im 1. Hauptteil erarbeiteten phänomenologischen Aufweise Heideggers zum Heiligen als bekannt vorausgesetzt werden. Die weiteren Punkte der Darlegung(§ 34, 1.-V.) sind in ihrer Schrittfolge einer Vorlesung von Bernhard Casper (mit dem Titel: "Das Heilige- Zugänge zu einem Problem") entnommen2• Auch die inhaltliche Darlegung des jeweiligen

1 Bezüglich einer ausführlichen Darlegung des religionswissenschaftliehen Begriffs vom Heiligen vgl. die Habilitationsschrift von Wolfgang Gantke Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung. Marburg: dialog-Verlag, 1998. 2 An dieser Stelle möchte ich Prof. Casper meinen Dank dafür aussprechen, daß er mich auf die Idee zu dieser kurzen Darlegung des Heideggerschen Gedankenguts zum Heiligen im Vergleich mit den traditionellen Ansätzen gebracht hat und mir zu diesem

§ 33. Vergleich mit dem biblischen Verständnis des Heiligen

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traditionellen Verständnisses der folgenden Punkte verdankt sich wesentlich dieser Vorlesung. Unsere Arbeit versucht, den dort geleisteten Gedankengang dadurch zu ergänzen, daß die einzelnen traditionellen Interpretationen mit den von uns erarbeiteten Gedanken Heideggers zu diesem Thema verglichen werden. Untersucht werden sollen in diesem Zusammenhang das "Heilige" in der Dichtersprache des 18. und 19. Jahrhunderts (1.), das Verständnis des Heiligen in der Religionswissenschaft (vor allem) des 19. Jahrhunderts (II.), bei Rudolf Otto (III.), dem französischen College de Sociologie (IV.) und letztlich bei Jürgen Habermas (V.).

§ 33. Heideggers Denken des Heiligen im Vergleich mit dem biblischen Verständnis des Heiligen sowie dem Gottesverständnis bei Thomas von Aquin Besonders in bezug auf das biblische Verständnis des Heiligen gilt es zu betonen, wie komplex die Frage nach Unterschieden zu und Gemeinsamkeiten mit Heidegger hier ist. Im folgenden wäre schon viel gewonnen, wenn allein einige Fragen diesbezüglich wachwürden. Daher ist das Gesagte immer nur als ein erster Versuch anzusehen, die Vielschichtigkeit dieser Frag-würdigkeit erahnen zu lassen. Ein Unterschied zu Heidegger scheint darin zu bestehen, daß in der Bibel das Heilige aufs engste auf Gott bezogen wird. Gott ist der Heilige und steht nicht "unter" dem Heiligen wie bei Heidegger. Ferner ist bei Heidegger nicht nur der Gott, sondern genauso der Mensch in das Heilige eingelassen. Allerdings werden auch in der Bibel die (gläubigen) Menschen "heilig" bzw. "Heilige" genannt3 ; und das ist nicht nur in einem moralischen Sinne zu verstehen: Die Menschen sind heilig, insofern sie sich dem Heiligen geöffnet haben und ihnen dadurch zuteil wird, daß Heiligkeit auch in ihnen hervorzuscheinen beginnt. Aber liegt in der Identifizierung des Heiligen mit Gott und der totalen Abhängigkeit des Menschen von Gott nicht gerade der zentralste Unterschied zwischen Heidegger und dem biblischen Verständnis? Ist es nicht gerade dieser Gedanke des allein von Gott abhängigen Menschen, den Heidegger in seinem Zwecke eine Kopie seiner im Sommersemester 1992 an der Universität Freiburg gehaltenen Vorlesung zur Verfügung gestellt hat. 3 Vgl. z.B. I. Corinther I, 2. Für eine detailierte Darlegung der Verwendung des Wortes "heilig" im alten und neuen Testament siehe: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Band: I (begr. von Gerhard Kittel. Hrsg. von Gerhard Friedrich; Stuttgart: Kohlhammer, 1933) s. v. ä-yws. 42*

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12. Kap.: Traditionelle Verständnisweisen des Wortes vom "Heiligen"

Andenken des Heiligen verabschieden will zugunsten des wechselwendigen Brauchens von Gott und Mensch in dem vom Ereignis des Heiligen eröffneten Bezug? Diese Fragen sind schon alleine deshalb schwer zu beantworten, weil sie viel differenzierter gestellt werden müßten. Zunächst ist eine fundamentale Unterscheidung zu beachten: Wenn sich Heidegger wiederholt und dezidiert gegen das ontotheologische Gottesverständnis ausspricht (und diesem sein Denken des Heiligen gegenüberstellt), so richtet er sich primär gegen die metaphysisch verfaßte (Schul-)Philosophie und nicht gegen das biblische Gottesverständnis. An einer bekannten Stelle betont er sogar ausdrücklich, daß auch "im Prophetisch-Jüdischen, in der Predigt Jesu" eine noch ungehobene verborgene "Fülle des Gewesenen"• (auch für das Denken) liegt. Daher bezieht sich Heideggers Kritik am traditionellen Gottesverständnis vornehmlich auf die Scholastik; das heißt aber zugleich, daß noch so gut wie nichts darüber ausgemacht ist, inwiefern der biblisch verstandene Gott von dieser Kritik tangiert wird. s Fraglich ist also, ob dieser Gott sich überhaupt mit dem Phänomen deckt, welches Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit dem traditionell-scholastischen Gottesbegriff untersucht; fraglich ist auch, ob der biblisch verstandene Gott sich mit dem deckt, was in Heideggers eigenem Denken "Gott" genannt wird, oder ob er nicht vielmehr (auch) demjenigen Phänomen nahesteht, welches Heidegger das Heilige nennt. Auch das Neutrum "das Heilige" muß vielleicht nicht kontradiktorisch dem Gott (im Maskulinum) gegenübergestellt werden; ein aus Ehrfurcht gewahrtes geheimnisvolles "Es" kann durchaus mit der Erfahrung seiner einzigartigen, bezugsverbundenen hautnah erfahrenen (und d.h. "persönlichen") Zuwendung einhergehen; auch in echten zwischenmenschlichen Beziehungen hebt die persönliche Nähe des Geliebten dessen unausschöpflich geheimnisvolles Dasein nicht auf, sondern läßt es im Lichte der Liebe sich immer reiner zeigen. Die im jüdischen Glauben selbstverständliche Scheu vor dem Aussprechen des Namen Gottes klingt auch bei Jesus stellenweise im Neuen Testament an (in der Grammatik wird dieses Phänomen das "theologische Passiv" ("passivum theologicum" bzw. "passivum divinum") genannt6). Unfaßba4 Vorträge und AufSätze ((Einzelausgabe, 6. Aufl.) Pfullingen: Günther Neske, 1990), s. 177. 5 Selbst wenn Heidegger das Prophetenturn des Alten Testamentes kritisiert (vgl. GA 4 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1981 ): S. 114), ist hierbei noch nichts über den biblischen Gott ausgesagt; ferner bleibt natürlich die Frage, inwiefern diese Kritik an den Propheten überhaupt stichhaltig ist. Vgl. das 4. Kapitel, Anm. 189.

6 So steht z.B. statt: Gott wird euch trösten: ihr werdet getröstet werden, oder statt: Gott wird euch geben: es wird euch gegeben werden usw ... Vgl. z.B. Hoffmannl von

§ 33. Vergleich mit dem biblischen Verständnis des Heiligen

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resGeheimnisund dessen "persönliches" Antlitz dürfen somit vielleicht durchaus zusammengedacht werden. Dann aber wäre auch die biblisch gedachte Beziehung von Gott und Mensch nicht von vornherein unvereinbar mit dem Bezug des Heiligen zum Menschen bei Heidegger. Fraglich ist sogar ferner, ob Heideggers Kritik am scholastischen Gottesbegriff wirklich die gesamte mittelalterliche Scholastik trifft, oder nur einen bestimmten Traditionszweig, den der junge Heidegger in einer noch dazu neuscholastisch verfestigten Form kennenlemte. Dieser Frage können wir hier kaum nachgehen. Gleichsam als Denkanstoß können wir lediglich einige der Grundgedanken zusammenfassen, die diesbezüglich in einem Aufsatz von Wucherer-Huldenfeld bereits erarbeitet worden sind7 : Für Heidegger wird im mittelalterlichen Denken Gott als ein höchstes, vollkommenes Seiendes begriffen, zu dem ein unfehlbarer Intellekt sowie ein allmächtiger Wille gehören. Seiendes wird vom unfehlbaren Intellekt in seinem Wesen festgestellt und vom allmächtigen Willen im poietischen Schöpfungsakt mit einer Vorhandenheil (Existenz) versehen, wodurch es als Geschaffenes in die Welt gesetzt ist. Das auf diese Weise von Gott verursachte Seiende ist im Vergleich zu Gottes Sein immer das Abhängige, Endliche, Kontingente, dem nur insofern eine eigene Wahrheit zukommt, als sein Wesen von Gott richtig gedacht (festgestellt) wird. Leitend ist hier also ein rein rationalistischer Gottesbegriff (d.h. ohne Erfahrungsbezug), ein rationalistischer, Essenz-zentrierter Begriffvom endlichen Seienden (d.h. unter Ausklammerung seines verbal verstandenen Anwesens) und ein am Herstellungsparadigma orientiertes Schöpfungsverständnis (ontische (unendliche) Ursache bewirkt ein ontisch (endlich) Erwirktes). Dieses Gottesverständnis entspricht durchaus demjenigen der skotistisch geprägten Neuscholastik, mit der Heidegger in seiner Jugend vertraut wurde. Siebenthal Griechische Grammatik zum neuen Testament. Rieben: Immanuei-Verlag, 1985: § 296 b (!, a). Einige diesbezügliche Bibelstellen werden auch von WuchererHuldenfeld in seinem Buch Personales Sein und Wort (Wien: Böhlau, 1985) auf der Seite 285 angeführt. Bezüglich der Seltenheit von unpersönlichen Passivkonstruktionen im Griechischen vgl. : Blaß, F./ Debrunner, A. Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 14)975: § 130. Ebenso: Schwyzer, E./ Debrunner, A. Griechische Grammatik I!. München: Beck'sche Verlagsbuchandlung, 1950, S. 239 (4). "))Fußfassen im anderen Anfang«. Gedanken zur Wieder-holung der denkgeschichtlichen Überlieferung philosophischer Theologie". In: Herkunft aber bleibt stets Zukunft. Martin Heidegger und die Gottesfrage (Hrsg. P.-L. Coriando). Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1998. 7

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12. Kap.: Traditionelle Verständnisweisen des Wortes vom "Heiligen"

Demgegenüber zeigt Wucherer auf, daß solch ein Gottesverständnis nicht für das gesamte Mittelalter geltend gemacht werden kann. Für Thomas ist ein univoker Gottesbegriff unmöglich. Gott ist kein ontisch Seiendes unter anderem, das sich durch gewisse Attribute (Vollkommenheit, Unendlichkeit) auszeichnet. Gott ist nach Thomas eher "über" dem Seienden und so in gewisser Weise eher ein Nichtseiendes als ein Seiendes ("licet verius sit, Deum esse super ornnes ens quamesse ens"'). Wir können hinzufügen, daß bei Eckehart Gott sogar ausdrücklich als "Nichts" angesprochen wird, um jegliche Ontiftzierbarkeit auszuschließen; Gott ist nicht "ontisch transzendent", sondern dem Ontischen gegenüber der ganz Andere (ein abgründiger Urgrund), der aber dennoch in einem Bezug zu allem Seienden steht. Dieser Bezug ist ein freigebender. Schöpfung ist für Thomas keine "Setzung", sondern ein Frei-geben (Schenken) ("creare autem est dare esse rei creatae"•). Zum Phänomen des Gebens gehört gerade das Ansichhalten, Zurücktreten hinter dem Gegebenen, damit sich das Gegebene eigenständig-frei entfalten kann. Dadurch, daß Gott sich dem Sein des Seienden entzieht, wird dem Seienden eine ganze Entfaltungsebene zu eigen gegeben, die nicht einfach Gottes "Eigentum" ist (im Sinne eines Pantheismus), sondern von Gott in ihrer Eigenständigkeit gehalten wird. Das übergebene Sein wird überdies bei Thomas nicht als bloße Wesenheit bzw. starre V orhandenheit gedacht, sondern als verbal zu verstehendes Geschehen des Seins ("processus essendi a divino Principio in omnia existentia" 10). Das übergebene Sein des Seienden vollzieht das Seiende umwillen seiner selbst (es ist sui causa (selbst eine Mücke ist dies!)); der Mensch (nicht Gott!) ist für Thomas darüber hinaus noch causa sui, d.h., er kann sein Handeln in Freiheit bestimmen und verantworten. 11 Von einer bloßen Setzung in die vorhandene Abhängigkeit kann also keine Rede sein. Das "Erkennen" Gottes (intellectus divinus) kann folglich kein starres Festlegen einer Wesensstruktur sein, sondern eher ein eröffnendes "Anlegen" von verbal zu entfaltendem Wesen'2 • Der "göttliche Intellekt" legt vielmehr den in-

8 Thomas Aquin, "De natura generis", caput I, nr. 476. In: Opuscula philosophica. Turin/ Rom: Marietti, 1954. • Thomas Aquin, Super Evangelium S. Ioannis, caput I, lectio V, nr. 133. Turin/ Rom: Marietti, 1952. 10 Thomas Aquin, In librum Beati Dionysii De divinis nominibus Expositio. caput V, lectio I, nr. 610. Turin/ Rom: Marietti, 1950. 11 Vgl. Bemhard Casper "Der Gottesbegriff »ens causa sui«" In: Philosophisches Jahrbuch. 76. Jahrgang. 2. Halbband, München: 1968/69: S. 317. 12 Wobei dieses Wesen so reichhaltig ist, daß nach Thomas kein Philosoph auch nur das Wesen einer Mücke jemals zu erschöpfen vermocht hat. Vgl. Thomas Aquin, "In

§ 33. Vergleich mit dem biblischen Verständnis des Heiligen

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nigen Grund fiir den ureigenen Seinsvollzug des Geschaffenen (hieraus legt sich nahe, daß das mittelalterliche "Intellekt"-Verständnis im Grunde vielleicht viel eher aus dem biblischen "Erkennen" zu denken ist als aus einem rationalistischen Intellektbegriff; bei Eckehart wird der menschliche Intellekt im letzten Grunde ausdrücklich aus seinem Geborenwerden gedacht13). Die Wahrheit, die dem Seienden zukommt, insofern es vom göttlichen Intellekt gedacht wird, ist somit eine, die demSeienden zugedacht wird. Die Offenbarkeit (Wahrheit) des Seienden ist nicht Gottes possessives Eigentum, sondern das von Gott dem Seienden Zu-eigen-Gegebene. Um die Relevanz des hier Angedeuteten fiir ein neues Bedenken des Verhältnisses von Heideggers Philosophie zu noch ungehobenen Schätzen der hochscholastischen Tradition zu zeigen, bietet es sich an, einen Satz bezüglich der mittelalterlichen Transzendentalienlehre beispielhaft zu untersuchen. Dort heißt es: ornne ens est verum. Dieser Satz ist fiir uns schon deshalb besonders wichtig, weil das Heilige bei Heidegger ja sehr eng mit dem Wahrheitsdenken einhergeht (das Heilige nennt, wie wir später (13. Kapitel (§ 35)) kurz noch einmal genauer darlegen werden, den verborgenen Zug im Ereignis der ci.A.i]8ELa). Heidegger grenzt aber das mittelalterliche Wahrheitsverständnis sogleich von seinem eigenen ab und bemerkt scharf, daß der zitierte Satz einen "ganz anderen Sinn" als der von ihm gedachte Sachverhalt habe. Er erklärt diese Abgrenzung folgender Maßen: omne ens est verum, jedes Seiende ist wahr. Dieser Satz hat aber einen ganz anderen Sinn, nämlich daß jedes Seiende, sofern es ist, von Gott geschaffen ist; sofern es aber von Gott geschaffen ist, ens creatum, muß es von Gott gedacht sein. Sofern es von Gott als dem, der nicht irrt, von der absoluten Wahrheit gedacht ist, ist es als von Gott Gedachtes wahr. Weil jedes Seiende geschaffenes ist, ist es als Seiendes ein Wahres, verum qua cogitatum a Deo. 14

Symbolum Apostolorum", Prologus, nr. 864. In: Opuscula theologica II. Turinl Rom: Marietti, 1954. 13 Vgl. hierzu meinen Aufsatz "Aristotelische Intellekttheorie und die 'Sohnesgeburt' bei Meister Eckehart". In: Theologie und Philosophie 71 (Heft 3, 1996: S. 370-389). 14 GA 27 (Einleitung in die Philosophie Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1996), S. 78. Zu Heideggers Transzendentalienverständnis vgl. auch GA 17 (Einfiihrung in die phänomenologische Forschung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1994): S. 176ff. Allerdings verweist Heidegger auch auf einen "eigentlichen Sinn" der Transzendentalien, der von der Scholastik nicht verwirklicht wurde (vgl. GA 24 (Die Grundprobleme der Phänomenologie. Frankfurt: Vittorio Klostermann, Z1989): S. 269). Jedoch betont er in den 30er Jahren, daß ein fundamentaler Unterschied zwischen seinem Wahrheitsdenken und dem mittelalterlichen Wahrheitsverständnis (in der Transzendentalienlehre) besteht:

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12. Kap.: Traditionelle Verständnisweisen des Wortes vom "Heiligen"

Hier sehen wir deutlich das oben bereits kritisch beleuchtete neuscholastisch geprägte Vorverständnis Heideggers anklingen. Der Satz lautet in dieser Fassung wie eine leblose logische Schlußfolgerung aufgrund von dogmatisch angesetzten Prämissen. Derselbe Satz: "ornne ens est verum - qua cogitatum a Deo" läßt sich von uns im Lichte des gegenüber diesem Vorverständnis geltend gemachten hochscholastischen Gottesverständnis (des Thomas und des Meister Eckehart) so übertragen: "Aus einem verborgenen Quellgrund wird Seiendes zu ureigenem, verbal zu vollziehendem Sein ereignishaft freigegeben, so daß es sich in der Offenbarkeit seines Anwesens auf ureigene und unaustauschbare Weise zeigen und entfalten kann, d.h. wahr-sein-kann." Um dem Anschein einer groben sprachlichen Gewaltsamkeil bei dieser Übertragung entgegenzusteuem, muß stark betont werden, daß die scholastischen Schulformeln nicht in der Muttersprache der jeweiligen Autoren geschrieben wurden; dieses Faktum ist in seiner Bedeutsamkeil nicht zu unterschätzen. Bei Meister Eckehart zeigt sich z.B. ganz deutlich, daß seine lateinischen Werke oft einen recht traditionellen Anklang haben15, während die Worte und Gedanken, die er in seine Muttersprache über-setzt, sprachschöpferisch und denkerisch auf höchstem Niveau stehen und zeigen, welche Bedeutungsebenen in den lateinischen Worten und "Schulformeln" mitgedacht worden sind (ohne daß sie dort eigens zur Sprache kommen) und so auch von uns mitgedacht werden dürfen (bzw. müssen). Es muß in diesem Zusammenhang aber auch festgehalten werden, daß fiir uns heute zum Verflüssigen der scholastischen Terminologie Heideggers Denken und Sprache von unschätzbarer Hilfe sind. Um nun zu unserer Ausgangsfrage bezüglich des Verhältnisses von Gott und dem Heiligen zurückzukehren, kann gesagt werden: Ein so verstandener Gott würde eher dem nahekommen, was Heidegger das Heilige nennt, als daß er sich in dem erschöpfen würde, was Heidegger den Gott bzw. die Götter nennt. In diesem Zusammenhang ist es auch nicht unwichtig, sich daran zu erinnern, daß Heidegger in seiner Auslegung von "Heimkunft" ausdrücklich darauf hinVgl. GA 45 (Grundfragen der Philosophie. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 2!992): S. 116ff. Eine tiefgehende Interpretation der mittelalterlichen Transzendentalienlehre findet sich bei Wucherer-Huldenfeld: "Zur Bedeutung des Lehrstücks von den Transzendentalien in der abendländischen Philosophie im Blick auf das andere Ufer frühen indischen Daseinsverständnisses". In: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Band 2. Wien: Böhlau Verlag, 1997: S. 347-378. 15 So denkt Eckehart in den lateinischen Werken Gott durchaus als "Sein" oder sogar als "Substanz", wohingegen er in den deutschen Predigten Gott oft (im Sinne der negativen Theologie) als "Nichts" anspricht. Weite versucht in seinem Buch Meister Eckhart. Gedanken zu seinen Gedanken. (Freiburg: Herder, 1992: S. 97ft) zu zeigen, inwiefern hier kein direkter Widerspruch besteht.

§ 33. Vergleich mit dem biblischen Verständnis des Heiligen

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weist16, daß viele Phänomene, die Hölderlin vormals als "göttlich" ansprach, später von ihm treffender als "Engel" bezeichnet werden. In einer noch unveröffentlichten Besinnung aus ungefahr derselben Zeit heißt es deutlich: "Das Scheiden der Götter ereignet sich zugunsten der Engel;"". Die Engel bringen die Botschaft aus dem sich-entziehenden Urgrund. Bei Heidegger steht aber wohl auch der letzte Gott noch unter diesem Geschick; in scholastischer Terminologie wäre er so noch eher als ein Engel zu bezeichnen (und nicht als Gott). Untersucht werden müßte aber, inwiefern im scholastisch sowie im rein biblisch gedachten Gott beide phänomenalen Züge des Ereignisses zusammen angesprochen werden, die Heidegger als das verborgenbleibende Heilige und den Gott (als Geschichte-prägender Austrag, der auf das Verborgenbleibende rein hinweist) namentlich unterscheidet. Der Sinn einer namentlichen Einheit bzw. Trennung dieser phänomenalen Züge im seihen Ereignis könnte dann im Gespräch näher erörtert werden. Ein für uns wichtiger Unterschied zwischen dem scholastischen Gottesdenken und dem Denken des Heiligen bei Heidegger besteht aber letztlich darin, daß Heideggers Analysen nicht einen Offenbarungstext einer bestimmten religiösen Tradition zum Zentrum der Auslegung machen. Heideggers Denken bezieht sich daher auf ein Phänomen, das jedem Menschen unabhängig von seiner religiösen bzw. a-religiösen Tradition prinzipiell zugänglich ist, d.h. zugänglich ist, ohne "Mitglied" einer bestimmten religiösen Gemeinschaft zu sein. Es soll damit nicht gesagt werden, daß in der biblischen und scholastischen Tradition eine "natürliche Gotteserkenntnis" geleugnet wurde, aber es soll betont werden, daß Heideggers Gedanken zum Heiligen als von einer spezifischen religiösen Offenbarung unabhängig zu betrachten sind. Im Vorangegangenen sollte versucht werden anzuzeigen, daß aber durchaus Dialogmöglichkeiten auch zu solchen Traditionen bestehen, die sich auf eine spezifische Offenbarung berufen. Was Heideggers Denken uns zu sagen hat, erschöpft sich aber nicht in einem interreligiösen Gespräch; wir werden Heideggers Gedanken zum Heiligen in dieser Arbeit sogar ausdrücklich in einem Sinn fruchtbar zu machen suchen, der traditionell als durchaus "weltlich" gelten muß.

16 Vgl. GA 4 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 1981 ): S. 20. 17 Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, 1997 (unveröffentlicht), S. 9.

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12. Kap.: Traditionelle Verständnisweisen des Wortes vom "Heiligen"

§ 34. Heideggers Denken des Heiligen im Vergleich mit dem Verständnis des Wortes vom "Heiligen" während der letzten Jahrhunderte I. Das "Heilige" in der deutschen Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts im Vergleich mit Heidegger Wir sahen, daß in der biblischen Sprache das Wort vom "Heiligen" vornehmlich in bezug zu dem Heiligen (Gott) und den sich diesem im Glauben öffnenden Menschen gebraucht wird. Die fiir uns heute üblichere "sächliche" Verwendung des Wortes "das Heilige" ist historisch gesehen eine relativ junge Erscheinung. Die Dissertation "Das Wort HEILIG in der deutschen Dichtersprache von Pyra bis zum jungen Herder" von Isabella Papmehl-Rüttenauer gibt Hinweise, wie der Bedeutungswandel des Wortes "heilig" zu verstehen ist. In bezlig auf die Vorbedingungen fiir diesen Wandel erfahren wir dort, daß in der vorreformatorischen Glaubenssprache eine "Verkirchlichung des Heiligkeitsbegriffes" dominant war, gegen welche die Reformation ankämpfte: Für die mittelalterlich-kirchliche Auffassung war die Qualität des Heiligen in gewisser Weise gebunden, z.B. an kirchliche Handlungen, an bestimmte Orte, Zeiten, Personen; Luther hingegen lehnt jede solche Bindung des Heiligkeitsbegriffes ab. Es gibt nach ihm keine 'verfügbare' Heiligkeit, d.h. nichts, was einmal geheiligt und nun ein flir alle Mal heilig wäre; sondern es gibt nur den Akt der Heiligung; .. .l 8

Hierbei ist zu beachten, daß der Heiligende dieser Heiligung fiir Luther natürlich Gott ist; im unmittelbaren Anschluß heißt es auch bei Papmehl: "was heilig ist, wird es erst je und je durch Gottes Tat" 19• Dieser reformatorische Gegenzug zu einer allzu "verobjektivierenden" Tendenz, durch welche die "Heiligkeit" immer mehr zu einem possessiven Besitz von einer Institution und deren Angehörigen zu werden drohte, eröffnete die Möglichkeit einer "Subjektivierung" des "Heiligen", die sich schrittweise auch in der Dichtersprache nachweisen läßt. Die Ausgangssituation für die Dichter des 18. Jahrhunderts beschreibt Papmehl so: So bietet sich HEILIG im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts der Dichtersprache in zwei verschiedenen Möglichkeiten der Verwendung an, die sich gleichwertig sind, aber verschiedenen, ja entgegengesetzten Geisteshaltungen entspringen: die eine einer gesteigerten Religiosität, welche die Leidenschaften und Gemütskräfte des Menschen ergreift; die andere einem Bewußtsein sittlicher Verantwortlichkeit vor verPapmehl-Rüttenauer, Isabella Das Wort HEILIG in der deutschen Dichtersprache von Pyra bis zumjungen Herder. Weimar: Böhlau, 1937: S. 7. 19 Papmehl, S. 7. 18

§ 34. Heideggers Denken des Heiligen im Vergleich

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nunftgemäßen Forderungen, das vor allem die Verstandeskräfte ftir sich in Anspruch nimmt. 20

Die letztere Bedeutung fmden wir im philosophischen Bereich vor allem bei Kant durchdacht, wo das Heilige (in seinem innerweltlichen Aspekt) nicht den Dingen zukommt, sondern in bezug auf den moralischen Willen in seiner (in diesem Leben nie vollendbaren) Erfüllung des moralischen Gesetzes gedacht wirdY Die Dichter rezipieren stark die stimmungsmäßigen Schwingungen des Wortes "heilig". Pyra führt es im 18. Jahrhundert in die deutsche Dichtersprache ein, wobei es bei ihm aber noch sehr stark im religiösen Bereich eingebettet bleibt. Dieser Bereich ist auch bei Klopstock noch überaus lebendig, aber Papmehl weist in ihtem Buch nach, wie sich bei ihm die Subjektivierung immer mehr vollzieht, die sich beim jungen Herder gewissermaßen vollendet. Die Vollendung dieses Bedeutungswandels faßt sie so zusammen: Die Beziehung auf das jenseitige Heiligende ist bei Herder verlorengegangen, der religiöse Akzent aber, den die Dinge diesem Heiligenden verdankten, erhalten geblieben; die Begründung des Heiligkeitscharakters eines Dinges wird also ins Innerweltliche selbst verlegt ... Das Wort HEILIG hat auf seinem Wege von Pyra zu Herder einen schwerwiegenden Bedeutungswandel durchgemacht: aus einem Verhältnisbegriff ist ein Eigenschaftsbegriff geworden.22

Nicht mehr ist also der Bezug zum Transzendenten der Ausgangspunkt für die Heiligkeit von etwas, sondern Heiligkeit eignet der Dichtung; die Dichtung heiligt: "indem bei ihm [Herder] die Begründung des Heiligkeitscharakters einer Dichtung von etwas, was außerhalb von ihr liegt, in sie selbst verlegt wird, wird aus der abgeleiteten, verliehenen Heiligkeit einer Dichtung eine eignende Heiligkeit." Die "heilige Dichtung" wird aber als Akt des obersten Vermögens des Subjekts, des Genius, verstanden: "die Dichtung ist ihm [Herder] heilig als unmittelbar Entspringendes, als Tat des Genius, als Werk der Natur."23 Das Heilige meint nun nicht mehr "den Heiligen" (den transzendenten Gott) und auch nicht das Verhältnis der Menschen und der Dinge zu ihm, sondern es ist "Besitz" der dichterischen Natur, des Genius, des Subjekts: "war es ursprünglich Ausdruck einer Beziehung, so wird es nun zum Ausdruck einer Ei-

Papmehl, S. I 0. Vgl. z.B. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft V, I, 2. Buch, 2. Hauptstück, V. 22 Papmehl, S. 99. 23 Papmehl, S. 91. 20

21

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12. Kap.: Traditionelle Verständnisweisen des Wortes vom "Heiligen"

genschaft" 24 betont Papmehl immer wieder. Primär zeigt sich das Heilige in der genialen Tat des Subjekts, dem es eigen ist und das seine Gegenstände durch "Begeisterung"2s heiligt. Um das "Resultat" dieses Wandels noch einmal zusammenzufassen: Das Heilige ist zu etwas "Subjektivem" und "Innerweltlichem" geworden, dem ein abgründiger Transzendenzbezug abgeht. Heideggers Verständnis des Heiligen hebt sich gegenüber dieser Verwendung des Wortes vom "Heiligen" grundlegend ab: Dieses ist weder verobjektivierend noch subjektivierend gebraucht, noch geht in ihm das bezughafte Transzendente verloren. Weil das Heilige bei ihm als der "transzendente" Urquell gedacht wird, der zur Welt in einem einzigartigen freigebenden Bezug steht, so ist unter Beachtung dieses Bezugscharakters eine Rede sowohl von "heiligen Dingen" als auch von einer "heiligen Grundhaltung" des Menschen sinnvoll, ohne daß sich das eine aus dem anderen kontingent ableitet. Obwohl es durchaus auch einen innerweltlichen Sinn von "heilig" bei Heidegger gibt, kann das wohlverstandene Heilige aber niemals zu einem possessiven Eigentum der Welt werden; weder besitzt das Ding ("ein fiir alle Mal") die Eigenschaft, heilig zu sein, noch ist der Mensch der einzige innerweltliche Hort des Heiligen (obgleich er auf ganz ausgezeichnete Weise in einem Bezug zum Heiligen steht). Vielmehr birgt sich das Heilige (auf verschiedene Weise) in den Dingen und im Menschen, wobei diese Bergung ereignishaft-jäh sich vollzieht (d.h. jeden Augenblick "wie neu" sich austrägt) und vom Menschen in diesem Austrag zugelassen werden muß, damit das Sichbergen des Heiligen nicht vom Eigenwillen verdeckt und verstellt wird; der Mensch ist zwar nicht der letzte Urheber des Heiligen, aber durchaus alsfreies Wesen miteingelassen in dieses Geschehen. Durch den Gedanken der Bergung wird die "Dialektik" von "objektivierenden" und "subjektivierenden" Tendenzen im Grunde unterlaufen. Es muß an dieser Stelle allerdings betont werden, daß das Phänomen der Säkularisierung, das Papmehl durch die Untersuchung des Bedeutungswandels des Wortes "Heilig" beleuchtet, noch weit komplexer ist als es in ihrer sicherlich heute immer noch wichtigen Dissertation aufscheint. Vor allem bei Dichtern des 19. Jahrhunderts zeigt sich die Eröffnung einer gewissen Abgründigkeif der Welt. Die Immanenz verliert nicht jegliche Art des Transzendenzcharakters, sondern wird selbst abgründig. Gerhard Kaiser hat z.B. anband von Gottfried Kellers Gedicht "Der Narr des Grafen von Zimmern" nachgewiesen, Papmehl, S. 90. Vgl. Papmehl, S. 88: "nicht der Gegenstand als solcher, die 'heilige Begeisterung', mit der er erfaßt wird, macht den Heiligkeilscharakter von Pindars Dichtung [flir Herder] aus. Diese Begeisterung braucht nicht auf die Gegenstände der christlichen Religion beschränkt zu sein ... " 24

2s

§ 34. Heideggers Denken des Heiligen im Vergleich

669

wie Aspekte des Wundersamen, Unverfiigbaren des transzendenten Gottes plötzlich inne1Weltlich erfahren und gefeiert werden: "Gefeiert wird hier das Eingehen des jenseitigen Gottes in die Immanenz als Hingabe Gottes an die Gestaltenfülle der Welt, wo er überall momenthart wunderbar aufblitzen kann... "26 • Gerade dieses im Zuge der Säkularisierung aufkommende Ernstnehmen der Welt in ihrem abgründigen Glanz ist durchaus auch ein Grundzug, der sich in Heideggers Denken fmdet, wobei es Heidegger gelingt, durch den Gedanken der Bergung den Glanz der Welt auf Grund (und nicht in Ablehnung) des "transzendenten" bzw. "nicht-immanenten" Heiligen zu denken. Ein Dialog über den Bezug von weltzugewandter Säkularisierung in der Dichtung des 19. Jahrhunderts und Heideggers Gedanken der Bergung könnte sicherlich weitere sehr fruchtbare Einsichten zeitigen.

II. Das "Heilige" in der Religionswissenschaft (vor allem des 19. Jahrhunderts) im Vergleich mit Heidegger Die Tendenz zu einer "Verobjektivierung" des Heiligen zeigt sich deutlich in den Anfängen des religionswissenschaftliehen Gebrauches dieses Wortes. Der Begründer der Religionswissenschaft, Max Müller, edierte in Oxford die bekannte Schriftensammlung: "The Sacred Books of the East". Hier war es Aufgabe des Religionswissenschaftlers, das, was in vielen Religionen als "heilig" gilt, anhand ihrer Texte zu erfassen, diese zu übersetzen, nebeneinanderzustellen und miteinander zu vergleichen. Dieses "Heilige" wurde aber oft einfach als eine mythische "Macht" verstanden. Durch den Briefwechsel von Max Müller und dem englischen Missionar Codrington verbreitete sich die Idee einer "Mana-Vorstellung", welche zunächst allen melanesischen Kulturen und Kulten zugrunde zu liegen schien27, zu der man aber bald auch in vielen anderen Religionen Parallelen aufzudecken vermeinte (z.B. das "Orenda" bei zahlreichen indianischen Religionen). Damit meinte man auf einen gewissen "Kern" der Religionen gestoßen zu sein, dessen machtvolle Erscheinungen in den verschiedenen Religionen religionswissenschaftlich aufgezeichnet und verglichen werden konnten. Dazu kommt, daß hierbei oft die Religionswissenschaftler eine sehr "weltliche", bisweilen fast "mechanische" Auffassung von dieser Macht hatten. Sogar noch in diesem Jahrhundert heißt es in der Religionsphänome-

Kaiser, Gerhard "Der Narr des Grafen von Zimmern". In: Zeitschriftfür Theologie und Kirche. 94. Jahrgang, Heft 2, 1997: S. 253-262. 27 Auch Heidegger erwähnt diese "Mana-Vorstellung" in bezug auf das, was er das "mythische" Dasein nennt; vgl. GA 27, S.l63. 26

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nologie van der Leeuws: "... die Macht ... reagiert, wie der elektrische Strom denjenigen trifft, der den Draht unvorsichtig berührt." 28 • Zunächst ist hierzu zu bemerken, daß diese Auffassung einer "Mana-Vorstellung" ein recht theoretisches Konstrukt der damaligen Religionswissenschaftler war. Bernhard Casper vermerkt hierzu: Nun ist allerdings auch die religionsgeschichtliche Forschung mittlerweile darauf aufmerksam geworden, daß eine solche, allen Religionen angeblich zugrundeliegende Vorstellung von einem Mana sich nicht halten läßt, sondern daß sie eher ein sehr zeitbedingtes, aus dem 19. Jahrhundert stammendes Konstrukt von Theoretikern der Religion war. 29

Wir können hier also nicht Heideggers Denken des Heiligen mit detjenigen Erfahrung vergleichen, die sich möglicherweise ursprünglich in dem Wort "Mana" ausspricht, sondern nur zu dem Unterschied zwischen Heidegger und der westlich-religionswissenschaftliehen Rezeption dieses "Mana" Stellung nehmen. Das Heilige ist bei Heidegger niemals ein "Kernbegrif}'' wie das "Mana", der sich herausschälen läßt, um "objektiv" in seinen Manifestationen wissenschaftlich untersucht werden zu können. Es gibt ursprünglich kein "Gegenüber" zum Heiligen, von wo aus man über es Untersuchungen anstellen könnte; solche Untersuchungen stehen immer schon auf dem Boden des sich-ereignenden Zuspruchs vom Heiligen, der als solcher aber nicht in eine objektive Untersuchung eingeholt werden kann. Dadurch wird Heideggers Denken natürlich nicht einfach bloß "subjektiv", da der Zuspruch des Heiligen diesseits der Subjekt-Objekt Spaltung liegt. Das Heilige kann daher auch keine "Vorstellung" eines Subjektes sein, sondern im lebendigen Zuspruch des Heiligen empfangt der Mensch allererst sein Wesen (auf dessen Grund er überhaupt erst "vorstellen" kann). Dieser Bezug ist zu innig, als daß er verobjektivierbar wäre, da dies einen Ort voraussetzen würde, der außerhalb des Geschehens des Zuspruches liegt; ursprünglich aber wird jeder Ort nur in diesem Zuspruch. "Objektive" Betrachtungen sind daher immer "abgeleitete" Phänomene innerhalb eines zuvor aus dem Urbereich des Daseins theoretisch abgegrenzten Bereichs (innerhalb dieser Grenzen bewahren sie natürlich durchaus ihr Recht). Das Heilige kann nicht von einem "sicheren" Ort aus begriffen, d.h., von etwas immer schon Bekanntem gesichtet und ihm untergeordnet, werden.

Leeuw, Geradus van der Phänomenologie der Religion. Tübingen: J.C.B. Mohr, s. 31. 29 Casper, Das Heilige (unveröffentlichte Vorlesung}, S. 14. 28

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§ 34. Heideggers Denken des Heiligen im Vergleich

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Das Heilige spricht sich also dem Menschen immer schon zu und entzieht sich zumal in diesem Zuspruch, so daß es begrifflich uneinholbar bleibt. Gerade im "desinteressierten" ("objektiven") Vergleich von bestinunten Manifestationen hat sich der Sinn des lebendigen Zuspruchs im Grunde schon entzogen, da der eigene Wesensort unbeachtet bleibt. Das heißt natürlich nicht, daß Gespräche zwischen Religionen und "Kulturen" sinnlos seien; gerade im ursprünglichen und d.h. nicht-objektivierenden Gespräch kann sich das Heilige als der gemeinsame, letzte Grund bekunden. Aber solch ein Gespräch zielt nicht darauf ab, eine vermeintlich bereits im eigenen Besitz gewähnte Vorstellung vom Heiligen mit derjenigen des Anderen zu vergleichen, sondern hier geht es darum, sich fiir das zu öffnen, was sich dem jeweils Anderen lebendig zuspricht, um gegenseitig von einander lernen zu können. Selbst im Gespräch mit Gewesenem geht es, wie wir in Heideggers Analysen immer wieder sahen, auch darum, diesem eine neue, gewandelte Zukunft miteinzuräumen. Mit anderen Worten, der Hauptunterschied zwischen Heidegger und der oben angesprochenen religionswissenschaftliehen Deutung des "Heiligen" bzw. des "Zentrums der Religionen" (der "Mana-Vorstellung") liegt darin, daß es bei Heidegger gilt, das nie begrifflich faßbare Heilige immer ursprünglicher innerweltlich kommen zu lassen (und dies vor allem auch in Bereichen, die traditionell nicht "religiös" genannt wurden), während die "Mana-Vorstellung" eine Idee ist, die den Kern der Religionen zu einer objektiv-vergleichbaren Angelegenheit fiir den wissenschaftlichen Zugriff ohne "existenzielle" bzw. "geschichtliche Relevanz" zu machen droht; bei Heidegger gilt es, das Heilige in seiner Ereignishaftigkeit geschichtlich ins Seiende zu bergen bzw. dies vorzubereiten, bei der Untersuchung der "Mana-Vorstellung" hingegen geht es aber darum, das statisch Gleichbleibende vom Ereignis der jeweiligen Religiosität zu abstrahieren und spezifische (akzidentelle) Unterschiede und Verschiebungen in bezug auf das festgestellte Gleichbleibende zu konstatieren.

111. Das "Heilige" bei Rudolf Otto im Vergleich mit Heidegger Gegenüber der eher Machtzentrierten, objektivierenden Auffassung des Wesens der Religionen ("dem Heiligen"), die wir in der religionswissenschaftliehen Vorstellung des "Mana" ("Orenda") fanden, wird bei Rudolf Otto das Heilige stärker in seinem vielschichtigen Bezug zum Menschen gedacht. Das Heilige erschöpft sich fiir ihn niemals in rationalen Kategorien, sondern ist wesentlich auch durch das Numinose gekennzeichnet, dessen schauererregendes und zugleich faszinierendes Walten der Mensch gefiihlsmäßig vernimmt. Wichtig ist zu bemerken, daß bei Otto, obwohl er ganz innerhalb der traditionellen Subjekt-Objekt-Theorie denkt, das Gefiihl des Heiligen nie zu einem

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bloß "subjektiven" Begleitphänomen rationaler Strukturen wird; das Gefiihlsmoment geht "zweifellos zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir"30• Die aus dem Numinosen erfahrenen Stimmungen eröffnen also wesentlich niemals bloße innere Gemütsbewegungen, sondern wesentliche Züge des "objektiven" Heiligen. Allerdings faßt Otto das Heilige im Anschluß an eine psychologisierende Kanttradition theoretisch letztlich wieder als eine Kategorie a priori, die ideenmäßig im menschlichen Geist verwurzelt ist. Natürlich bezieht sich diese Idee fiir ihn auf etwas Außer-Menschliches, aber dieses als solches zu denken bleibt in der ihm vertrauten Sprache schwer - wenn nicht unmöglich. Ein großes Verdienst Ottos liegt sicherlich darin, die rational niemals faßbaren Züge des Heiligen überhaupt so sorgfältig zu thematisieren. Indem er sie das "Irrationale" nennt, will er damit keiner bloßen Willkür im Bedenken dieser Züge Vorschub leisten. Ausdrücklich trennt er sein Verständnis des "Irrationalen" von diesen Bedeutungen ab und betont, daß er damit ein seltsames, "dem verständigen Deuten sich durch seine Tiefe" entziehendes Ereignis nennt31 • In dieser allgemeinen Formulierung könnte diese Explikation auch fiir Heidegger geltend gemacht werden. Das "Irrationale" tendiert in dieser Formulierung eher in das non-rationale, das nicht privativ der Rationalität entbehrt, sondern zunächst außerhalb des Bereiches der ratio und deren Abarten anzusiedeln ist. Allerdings wird bei Otto in gewisser Weise letztlich doch das Rationale wieder stark in das Heilige miteingebracht; denn das Numinose wird erst als schematisiertes zum Heiligen. Otto zweifelt die traditionelle verstandesmäßige Auslegung des menschlichen Denkens niemals an; er wendet sich nur gegen einen puren Rationalismus und will ihn in seiner Einseitigkeit durch das (im wohlverstandenen Sinne) "Irrationale" ergänzen bzw. untermauern. Dies ist es wohl, was der junge Heidegger in einer geplanten Rezension von Ottos Buch so anspricht: "Das Irrationale wird immer noch als Gegenwurfbzw. Grenze, aber nie in seiner Originarität und Eigenkonstitution betrachtet; daher immer wieder das Zugeständnis von irgendwelchen Gerechtsamen der Vernunft und >Vernunftkritik