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HEGELSTUDIEN BEIHEFT 50
HEGELSTUDIEN Herausgegeben von WALTER JAESCHKE UND LUDWIG SIEP Beiheft 50
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
HEGEL ALS SCHLÜSSELDENKER DER MODERNEN WELT Beiträge zur Deutung der »Phänomenologie des Geistes« aus Anlaß ihres 200jährigen Jubiläums
herausgegeben von THOMAS SÖREN HOFFMANN
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1889-6
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2009. ISSN 0440-5927. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Walter Jaeschke Das Selbstbewußtsein des Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Sören Hoffmann Hegels phänomenologische Dialektik. Darstellung, Zeitbezug und Wahrheit des erscheinenden Wissens – Thesen zur »Vorrede« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ralf Beuthan »Wahrhafte Erfahrung«. Zur Spezifik von Hegels phänomenologischem Erfahrungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tommaso Pierini Sinnliches Bewußtsein und Allgemeinheit der Zeit in Hegels Phänomenologie des Geistes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Annette Sell Vom Spiel der Kräfte zur Bewegung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Theodoros Penolidis Unendlichkeit und Selbstbewußtsein. Bemerkungen zum Prozeß von Bewußtsein und Selbstbewußtsein in Hegels Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gilles Marmasse Hegel und der antike Skeptizismus in den Jenaer Jahren. . . . . . . . . . . .
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Max Gottschlich Technische Wissenschaftlichkeit und Entfremdung. Die beobachtende Vernunft in Hegels Phänomenologie des Geistes . . .
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Inhalt
Luca Illetterati Hegels Kritik der Metaphysik der Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . .
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Klaus Vieweg Das geistige Tierreich oder das schlaue Füchslein – Zur Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft in Hegels Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Wladika Formen moralischer Freiheitsbetrachtung: Gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Höfler Der wahre Geist. Die Sittlichkeit und ihre Auflösung in den Rechtszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245
Stephen Houlgate Phänomenologie, Philosophie und Geschichte. Zu Hegels Deutung der französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Friedrike Schick Der Übergang von der Moral zur Religion im Gewissen . . . . . . . . . . .
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Thomas Sören Hoffmann Präsenzformen der Religion in der Phänomenologie des Geistes . . . . .
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Vorwort
Hegel hat sein erstes Hauptwerk, die Phänomenologie des Geistes, nicht etwa nur als einen akademischen Beitrag zur Philosophie, sondern – wie in der neueren Literatur zu Recht unterstrichen – als selbst eine revolutionäre Tat von epochaler Bedeutung angesehen: in einer »Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« leitet das Buch dem eigenen Selbstverständnis nach einen der Zeit gemäßen Typus des Philosophierens ein, in dem die zentralen Anliegen der Zeit auch angemessenen Ausdruck finden. Es geht darum, auf den Begriff zu bringen, was den unaufgebbaren Gehalt der »Moderne« ausmacht; die Phänomenologie will ihre Leser zu mündigen Zeitgenossen machen und sie eine Sprache der Freiheit sprechen lehren. Die hier vereinigten Beiträge sind für eine Fachtagung entstanden, die aus Anlaß des 200-Jahr-Jubiläums von Hegels erstem Klassiker an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn vom Herausgeber organisiert wurde und die ein erfreulich großes öffentliches Echo gefunden hat. Die Tagung hatte es sich in erster Linie zum Ziel gesetzt, im Detail auszuloten, inwieweit der genannte Hegelsche Anspruch noch immer von Belang, ja vielleicht noch keineswegs ausgeschöpft sein könnte. Damit sollte eine systematisch verantwortete, umfassende und in sich kohärente Interpretationsperspektive eröffnet werden, die nicht zuletzt auch dazu in die Lage versetzen kann, neuere europäische Erfahrungen wie Totalitarismus und postkommunistische Wende, Sinnvakuum und (vermeintliche oder wirkliche) Wiederkehr der Religion, transnationale historische Perspektive und die Gefahr eines »Kampfs der Kulturen« denkend einzuholen und zu dem historischen Erbe des Kontinents insgesamt ins Verhältnis zu setzen. Auf der Tagung setzte sich rasch die Einsicht durch, daß man weder dem Hegelschen Text noch gar der Wirklichkeit Gewalt antun muß, wenn man daran gehen möchte, die Lebenswelt(en) der Moderne erneut im Ausgang von den Hegelschen Impulsen und mit den Denkmitteln seines Ansatzes zu beleuchten. Die hier präsentierten Beiträge sind in diesem Sinne nicht einfach einer bloßen Fortschreibung, Sammlung oder Systematisierung von bekannten Forschungserträgen gewidmet. Unter der Fragestellung »Hegel als Schlüsseldenker der Moderne« werden vielmehr in direkter Auseinandersetzung mit dem Text, im Blick auf die unterschiedlichen Interpretationstraditionen
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Vorwort
wie auch im Blick auf die inzwischen neuen historischen Dimensionen neue Interpretationsansätze entwickelt und damit auch elementare Fragen des Selbstverständnisses der Gegenwart berührt. Es geht weder um eine weitere, rein immanente Werkdeutung noch um eine weiter verfeinerte Einbettung des Werks in den historischen Kontext noch um eine sich selbst genügende, äußere Kritik an Hegel von fremden Standpunkten aus; es geht vielmehr immer um Hegel als gemeinsam neu zu entdeckenden Gesprächspartner. In der Sache kann dabei an eine durchaus lebendige und facettenreiche Wirkungsgeschichte gerade der Phänomenologie des Geistes angeschlossen werden. Das gilt grundsätzlich in doppelter Hinsicht: a) Hegel hat mit diesem Buch, mit dem sich auseinanderzusetzen seit dem 19. Jahrhundert für fast alle Generationen europäischer Intellektueller der verschiedensten Fächer (außer den Philosophen zu nennen sind hier bekanntlich auch Historiker, Literaten, Psychologen, Religionswissenschaftler usw.) eine Selbstverständlichkeit gewesen ist, eine ganze Reihe origineller und weiterführender Deutungsansätze sozialer, kultureller, historischer, religiöser und anderer Phänomene geliefert (das berühmteste Beispiel bildet hier das Kapitel über »Herrschaft und Knechtschaft«, das in den Anerkennungstheoremen auch neuerer sozialphilosophischer Debatten noch immer von größter Bedeutung ist, beispielsweise aber auch für die Auseinandersetzung mit einer phänomenologischen Ethik wie derjenigen von E. Lévinas herangezogen werden kann). b) Hegel hat zudem mit der Phänomenologie des Geistes ein neues Genre des philosophischen Textes geschaffen und der philosophischen Reflexion damit neue Optionen eröffnet: in diesem Sinne sind etwa die existentiellen Alltagsphänomenologien Kierkegaards (etwa im Begriff Angst oder in der Krankheit zum Tode), ist ein Buch wie die Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer, ist auch der Aufstieg der Hermeneutik zu einer philosophischen Zentraldisziplin seit Heidegger und Gadamer ohne die Phänomenologie des Geistes kaum denkbar. Die Phänomenologie hat in dieser letzteren (wirkungsgeschichtlich übrigens noch nicht wirklich untersuchten) Hinsicht durch die in ihrer Nachfolge entstandenen neuen »Typen des philosophischen Texts« gleichsam neue intellektuelle Medien entstehen lassen, in deren Spiegel die Grundprinzipien moderner (Lebens-)Welten ganz neu erkennbar werden konnten. Im Ausgang von diesem Befund geht es in dem vorliegenden Band darum, auf der Grundlage einer präzisen, stets aber aktuelle Dimensionen aufgreifenden Lektüre bzw. »Relecture« der Phänomenologie die Legitimität des Hegelschen Anspruchs, den oder doch einen der »Grundtexte der Moderne« verfaßt zu haben, im allgemeinen wie speziell auch in konkreter Konfronta-
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Vorwort
tion mit der philosophischen Problemkonstellation der Gegenwart zu überprüfen. Die heuristische Ausgangsthese dabei könnte lauten: Hegel, der letzte große Systematiker der europäischen philosophischen Tradition, könnte in der Tat zu den Autoren zu zählen sein, in deren Werk sich in konzentrierter Form ausdrückt, was zu den inneren Bau- und Strukturprinzipien der modernen Welt zählt, was ihre mitunter auch unausgesprochenen Prämissen, ihre letzten Sinnressourcen und entscheidenden Motivationshorizonte sind und wo ihre größten Gefährdungen, wo ihre eigentlichen Chancen liegen. Dem Herausgeber bleibt an dieser Stelle die angenehme Pflicht, der Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf sehr herzlich für alle gewährte Unterstützung zu danken; die Unterstützung durch die Gewährung aller Gestaltungsspielräume war dabei nicht die geringste. Dankbar erwähnt seien darüber hinaus auch die Hilfestellungen von Seiten des Instituts für Philosophie der Universität Bonn, des Bonner Universitätsclubs sowie des Bochumer Hegel-Archivs bei der Durchführung der Tagung wie auch bei der Drucklegung dieses Bandes. Bonn, im Frühjahr 2008
Thomas Sören Hoffmann
Zur Einführung
Wohlverwahrt im Tresor des Bochumer Hegelarchivs findet sich ein Porträtstich des Meisters der neueren Dialektik, auf den dieser eigenhändig eine programmatische Widmung gesetzt hat. Der betreffende Stich von Friedrich Wilhelm Bollinger, wohl um 1818 entstanden, hatte ein verschollenes Gemälde von der Hand Christian Xellers, des schwäbischen Landsmanns des Philosophen, zur Vorlage, das zu den besten Hegelbildnissen gezählt haben dürfte, die zu Lebzeiten noch entstanden. Wir wissen heute nicht mehr, wem das signierte Bochumer Widmungsexemplar zugedacht war. Aber wir wissen, daß es sich bei der durchaus markanten Aufschrift um ein Selbstzitat handelt, das der Heidelberger Antrittsvorlesung vom Herbst 1816 entnommen ist. Dieses Zitat, in dem Hegel sich, wie es scheint, mindestens ebenso gut wie durch Xeller dargestellt sah, lautet: »Das zuerst verborgene und verschlossene Wesen des Universums hat
keine Kraft, die dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse geben«. Das sind gewiß hehre Worte, denen in der Vorlesung andere ihrer Art vorangehen, etwa die folgenden: »Der Mut der Wahrheit, der Glaube an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung der Philosophie. Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten würdig achten; von der Größe und Macht seines Geistes kann er nicht groß genug denken. Und mit diesem Glauben wird nichts so spröde und hart sein, das sich ihm nicht eröffnete«. Aus dem Munde heutiger Denker wird man ähnlich optimistische Töne kaum noch vernehmen, wobei die Hegelianer vom Fach keine Ausnahme machen. Die Ansprüche an die Philosophie, an den menschlichen Geist sind inzwischen durchwegs bescheidenere, als sie bei Hegel sich melden. Dennoch sind die zitierten Worte nicht eben ungeeignet, in einem Gedenkjahr wie dem unseren – 200 Jahre nach dem Erscheinen von Hegels erstem Hauptwerk, der Phänomenologie des Geistes – zitiert zu werden. Denn das Buch, das im Frühjahr 1807 bei dem Bamberger Verleger Goebhardt erscheinen ist, ist zweifellos einer der wichtigsten Schritte Hegels im Sinne einer Verwirklichung des hier ausgesprochenen Programms gewesen; daß Hegel
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Zur Einführung
selbst die Dinge kaum anders sah, geht schon aus der Tatsache hervor, daß ihn das Projekt einer zweiten Auflage bis kurz vor den Tod beschäftigt hat. Allerdings hat das Werk, das zu kennen bis tief ins 20. Jahrhundert hinein für jeden europäischen Intellektuellen zur geistigen Grundausstattung gehörte, auch aus anderen, eher äußeren Umständen rasch einen besonderen Nimbus erreicht. Nicht enden wollende Schwierigkeiten mit dem Verleger, steigende Zeit- und Geldnot des Autors, Abänderungen der Konzeption unter dem Schreiben, zuletzt eine quälende Unsicherheit über den Verbleib des einen und einzigen Manuskripts, das trotz des Krieges im Lande der Post anvertraut worden war – wenige philosophische Leittexte dürften unter so tumultuarischen Umständen entstanden sein wie Hegels Phänomenologie, und immer wieder hat man dann auch die von Eduard Gans geprägte dramatische Formulierung reproduziert, Hegel habe sein Buch »unter dem Donner der Schlacht von Jena« vollendet. In der Tat ist eine entsprechende Erinnerung nicht nur aus biographischen, sondern auch aus inneren Gründen nicht unpassend gewählt. Denn nach Hegel ist seine Phänomenologie selbst das Produkt einer »Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode«, ist sie das Dokument eines weltgeschichtlichen Umbruchs, ja der gedankliche Schlüssel zu der »Erscheinung der neuen Welt«, die sich nicht nur, aber doch immerhin auch mit den napoleonischen Kanonen gemeldet hat. Das Bemerkenswerte daran ist, daß hier zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie ein Autor mit Nachdruck beansprucht, ein Werk im Schnittpunkt von epochalem und wissenschaftlichem Selbstbewußtsein verfaßt zu haben; daß ein Denker sich selbst als Sprachrohr nicht etwa nur des Seins oder der Wahrheit, sondern ebenso sehr auch der Zeit und ihrer mentalen Lage versteht. Die Substanz ist Subjekt, wie Hegel sagt, das Sein ist Zeit: Hegels noch stets provokante These ist schon hier, lange vor der späteren Rechtsphilosophie, daß es ein überhaupt relevantes Denken, das sich nicht selbst als seiner Zeit eingeschrieben, als ihren »Grundtext« denkend, begreift, nicht gibt. Mit Hegel zerbricht die überkommene Vorstellung von der »zeitlosen« Wahrheit als dem Ziel aller Philosophie. Nicht, daß das Denken sich einfach abhängig macht von der Zeit; nicht, daß es einfach ihr »Spiegelbild« wäre und nicht im letzten etwas mit dem Licht zu tun hätte, in dem die Spiegelbilder erscheinen. Aber das Denken marginalisiert nicht einfach die Zeit, es kapituliert nicht vor ihr und es verachtet auch nicht die Aufgabe, die ihm jeweils mit ihr und damit ganz konkret schon gestellt ist. Seine zentrale Aufgabe ist dabei stets, das sich Verschließende in ein Durchschautes, das Unerkannte in die Erkenntnis, die Strukturen und Gestalten der Unfreiheit in eine Freiheitsgegenwart zu verwandeln – kurz: »das zuerst verborgene und verschlossene Wesen des Universums« samt »seinem Reichtum und seinen Tiefen« sich
Zur Einführung
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»vor Augen [zu] legen und zum Genusse [zu] geben«. Die Phänomenologie entfaltet in diesem Sinne die Geschichte eines zu sich selber kommenden Bewußtseins, das einen Weg des Erkennens und Selbsterkennens als den Weg zu maximaler Befreitheit geht. Und die Pointe ist, daß dieser Weg nicht in zeitlosen möglichen Welten, sondern in der wirklichen Zeit, daß er mitten in unserer Geschichte stattfindet. Mit dem Weg des Bewußtseins, den Hegel entfaltet, hängt dann zusammen, was man Hegels »Dynamisierung der Wahrheit« nennen kann, d.h. seine Überwindung einer einfachen, statischen Wahr-falsch-Unterscheidung, mit deren Hilfe wir, wie der gesunde Menschenverstand meint, einfach die Welt abbilden. Hegel hat die Philosophie gelehrt, das Wahre und Falsche nicht ohne strikten Kontextbezug zu denken. So, wie wir eine gegebene Aussage nur dann beurteilen können, wenn wir die Grammatik, in der sie getan ist, stets mit in Rechnung stellen, so verstehen wir auch die Grundaussagen einer historisch fernen Epoche, einer fremden Kultur, die eines anderen philosophischen Standpunktes nicht, wenn wir uns über die einfache Aussage hinaus nicht auf die »Grammatik« dieser Epoche, Kultur oder Philosophie einzulassen vermögen. Jede nur unmittelbare Auseinandersetzung um »wahr« oder »falsch«, so Hegel, wäre hier sinnlos – so sinnlos es etwa wäre, zu sagen, der theoretisch wahre Satz vom Embryo als »bloßem Zellhaufen« sei wahrer als die ebenfalls »wahre« praktische Bestimmung, die den Embryo als Mitglied der Anerkennungsgemeinschaft und daher als Person antizipiert. Mehrere »Wahrheiten« zuzulassen, zielt jedoch nicht auf den Relativismus; es meint eben nicht, daß alle Auseinandersetzung um das Gute und Wahre zu suspendieren sei: Das Ziel bleibt das Höchstmaß an Freiheit, bleibt das sich nicht mehr als Fremdkörper in den Universen von Kultur und Natur wissende Bewußtsein. Und da ist schließlich Hegels neuer Begriff des Geistes, den die Phänomenologie ja schon im Namen führt. Was meint Hegel mit »Geist«, dem Wort, das er als erster leitmotivisch in die Debatten der Idealisten geworfen hat, das jedoch auch zu einer ganzen Reihe von Mißverständnissen geführt hat? Die einfachste Antwort ist: mit »Geist« ist nichts anderes als eine sich nicht verschließende, sondern partizipationsoffene Wirklichkeit gemeint. Geist ist immer sowohl, was Partizipation zuläßt, wie auch das, woran wir schon partizipieren. Sprache zum Beispiel ist »Geist«, und geistig sind wir selbst in einem Maße, wie wir im Sprechen der Sprache uns die Welt, die Wahrheit, die Zeit, uns selbst den anderen erschließen. Recht ist Geist, insofern es uns die äußeren Verhältnisse erschließt und lebbar macht; Kunst, Religion und Wissenschaft ebenso, da es in ihnen um Selbsterkenntnis des Menschen im sinnlichen und der Vernunft zugänglichen Universum geht. Geist ist Verhält-
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Zur Einführung
nismacht, und da nur das, was sich zu sich wie zu anderem wirklich zu verhalten vermag, auch »das Wirkliche« ist, ist, wie die Phänomenologie lehrt, »das Geistige allein das Wirkliche«. Die Heidelberger Antrittsvorlesung Hegels hat davon gesprochen, daß »der Mensch, da er Geist ist, sich selbst des Höchsten würdig achten« soll. Es ist vielleicht nicht zuletzt dieser Appell an eine in der Natur unseres geistigen Daseins gegründete Würde, die Hegel auch 200 Jahre nach der Vollendung der Phänomenologie zu einem Schlüsseldenker der Moderne, wenigstens aber zu einem gültigen Orientierungspunkt gerade auch für eine immer wieder zur Geistlosigkeit neigende Zeit macht. Denn das Vergessen der Würde des Geistes, für das es tausend Namen gibt, hat am Ende weniger mit Bescheidenheit als mit fehlendem Mut des Erkennens zu tun. Die Erinnerung an Hegel hat in dem Maße Sinn, wie sie ein Ansporn zu sein vermag, es mit dem philosophischen Erkennen auch am Beginn des 21. Jahrhunderts neu zu versuchen.
Das Selbstbewußtsein des Bewußtseins Walter Jaeschke (Bochum)
Die »Geschichte des Selbstbewußtseins« ist die »Geschichte des Selbstbewußtseins«. Dies klingt wie eine Tautologie, und formal gesehen ist es auch eine – wenn man nämlich vom Inhalt abstrahiert und annimmt, daß von »Geschichte des Selbstbewußtseins« jeweils in gleicher Bedeutung die Rede sei. Mir geht es jedoch gerade darum, die Differenz der beiden ›Geschichten‹ zu markieren und die Gründe zu erwägen, die dafür sprechen, von der ersten ›Geschichte‹ zur zweiten überzugehen und diese zweite nicht allein als eine andere Gestalt, sondern als die wirkliche »Geschichte des Selbstbewußtseins« zu erkennen. Die »Geschichte des Selbstbewußtseins« in ihrer ersten Bedeutung – dies kann nur die Gestalt sein, die sie in der Transzendentalphilosophie Fichtes und nochmals verändert bei Schelling erhalten hat; in ihrer zweiten Bedeutung – auch dies überrascht ohnehin nicht und schon gar nicht im Blick auf den Anlaß dieses Vortrags – ist sie in Hegels Phänomenologie des Geistes durchgeführt: an einem ›anderen Selbstbewußtsein‹, mit anderer Methode und mit anderer systematischer Funktion. Zunächst möchte ich an diese Herkunft erinnern und die Differenz beider Gestalten kurz skizzieren; dann, in einem zweiten Teil, diese veränderte Form, die der Prozeß des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein in der Phänomenologie gefunden hat, im Blick auf ihre gedanklichen Voraussetzungen und ihre systematische Funktion erörtern und schließlich, in einem dritten Teil, die Frage stellen, wie dieses Konzept einer »Geschichte des Selbstbewußtseins« jenseits seiner Funktion für Hegels »System der Wissenschaft« zu beurteilen ist.
I. Die transzendentalphilosophische »Geschichte des Selbstbewußtseins« 1) Es ist die große, unvergängliche Leistung der Transzendentalphilosophie, daß sie das Ich – oder das »Selbstbewußtsein«, wie es vor allem seit Schelling heißt – ins Zentrum der philosophischen Fragestellungen gerückt hat: nicht als eine für sich stets schon fertige und strukturlose Substanz, sondern als ein Subjekt, das Tätigkeit ist und das durch Tätigkeit konstituiert ist. Dem Ich, dem wir Wissen und Handlungen zuschreiben, liegen Handlungen zu
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Walter Jaeschke
Grunde, notwendige, aber unbewußte Handlungen, die das Bewußtsein allererst konstituieren. In seiner »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« stellt Fichte das »System« dieser notwendigen Handlungen auf. Es bildet das Fundament des Bewußtseins, und deshalb fällt es nicht notwendig und nicht einmal primär in das Bewußtsein. Doch kann es bewußt gemacht, in die »Vorstellung« erhoben werden – freilich nicht durch Introspektion, sondern durch transzendentalphilosophische Reflexion. Diejenige Handlung aber, die das System der notwendigen Handlungen in seiner Vollständigkeit ins Bewußtsein erhebt, ist selber keine notwendige, sondern eine freie Handlung – nämlich diejenige, sie in der »Wissenschaftslehre« durch einen Akt der Reflexion in systematisch geordneter Form aufzustellen und in die Form des Wissens zu erheben. Dies jedoch ist nicht etwa ein einzelner, einmal vorkommender Akt des singulären Individuums Fichte. Vielmehr ist für ihn die gesamte »Geschichte der Philosophie« nichts anderes als eine Sequenz von fortschreitenden Versuchen, das, was allem Bewußtsein – gleichermaßen und unveränderlich – zu Grunde liegt, auch durch Freiheit ins Bewußtsein zu heben, und zwar mit zunehmendem Erfolg: Der menschliche Geist kommt erst »durch blindes Herumtappen zur Dämmerung, und geht erst aus dieser zum hellen Tage über.« Alle Philosophen »haben durch Reflexion die nothwendige Handlungsart des menschlichen Geistes von den zufälligen Bedingungen derselben absondern wollen; alle haben sie wirklich, nur mehr oder weniger rein, und mehr oder weniger vollständig, abgesondert; im Ganzen aber ist die philosophirende Urtheilskraft immer weiter vorgerückt und ihrem Ziele näher gekommen« (GA I/2, 140–143,146). Man kann diese geschichtlich fortschreitende Erhellung der Handlungsart des menschlichen Geistes mit der »Kritik der reinen Vernunft« eine »Geschichte der reinen Vernunft« nennen (B 880) – wenn man es nicht vorzieht, diesen, in der Zusammenstellung von »Vernunft« und »Geschichte« provokanten Ausdruck für eine speziellere Fassung des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte zu reservieren, als sie sich hier bei Fichte findet. Die Wissenschaftslehre stellt das »System des menschlichen Wissens« auf, aber dieses liegt ihr in den notwendigen Handlungen des Geistes voraus; sie steht deshalb unter der Bedingung der Übereinstimmung mit diesem Vorausgesetzten. Die Philosophen, die dieses »System« aufstellen, sind somit »nicht Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern seine Historiographen; freilich nicht Zeitungsschreiber, sondern pragmatische Geschichtsschreiber« (GA I/2, 147). Sie müssen das System des menschlichen Geistes nicht erfinden, sondern finden und beschreiben. Es sind deshalb zwei unterschiedliche ›Geschichten‹, die hier erzählt werden können: zum einen die Geschichte der Beschreibungen des Wissens durch diese pragmatischen Geschichtsschrei-
Das Selbstbewußtsein des Bewußtseins
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ber, und zum anderen die Geschichte, die ›Historie‹ des Beschriebenen, des Wissens selber. Doch andererseits ist das vom Historiographen des menschlichen Geistes Vorausgesetzte kein wirklich Gegebenes; es muß erst ins Bewußtsein gehoben werden, und zwar durch das Bewußtsein selbst. Hierzu bedarf es keiner bloßen Beschreibung eines Vorgefundenen, sondern seiner systematischen Explikation. Die pragmatische Geschichtsschreibung des menschlichen Geistes nimmt deshalb die Form einer transzendentalphilosophischen Rekonstruktion der notwendigen Handlungen des Bewußtseins an. Hier kongruieren der Geschichtsbegriff und der Wissenschaftsbegriff, die sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und auch noch bei Kant unvermittelt gegenüberstehen (AA XX, 340–343): Die Historie des menschlichen Geistes ist seine Wissenschaft, und diese Wissenschaft nimmt den Charakter einer Historie des menschlichen Geistes an – wobei diese ›Historie‹ jedoch noch im alten Sinne zu verstehen ist, als Bericht über einen nicht notwendig temporal verfaßten Gegenstand. Die jeweils freien Handlungen der nachzeichnenden Beschreibung dieses Systems stehen somit im großen Kontext einer die Zeiten übergreifenden »Geschichte der Vernunft« – aber sie entwerfen auch selbst je für sich eine nicht-temporale »Geschichte der Vernunft« – oder eine »Geschichte des Selbstbewußtseyns«, wie Schelling sechs Jahre später im System des transscendentalen Idealismus« prägnant formulieren wird. 2) Im Kontext dieses Systems kommt der »Geschichte des Selbstbewußtseins« eine in der Abgrenzung zwar nicht völlig klare, in jedem Falle aber zentrale Rolle zu. Schelling faßt die Aufgabe dieses Systems ja in den Satz: »Der ganze Gegenstand unserer Untersuchung ist nur die Erklärung des Selbstbewußtseyns« (AA I/9, 152). Und diese Erklärung des Selbstbewußtseins ist auch für ihn wiederum nicht die Erklärung eines fixen, substantialen Objekts von einem äußerlichen Standpunkt aus; sie ist die Beschreibung tendenziell einer »Unendlichkeit von Handlungen« des Selbstbewußtseins und insofern eine »Geschichte des Selbstbewußtseyns«. Da jedoch eine unendliche »Geschichte des Selbstbewußtseyns« erforderlich wäre, um alle diese Handlungen zu beschreiben, sieht Schelling sich zu einer Verkürzung genötigt: »Die Philosophie kann also nur diejenigen Handlungen, die in der Geschichte des Selbstbewußtseyns gleichsam Epoche machen, aufzählen, und in ihrem Zusammenhang miteinander aufstellen. […] Die Philosophie ist also eine Geschichte des Selbstbewußtseyns, die verschiedene Epochen hat, und durch welche jene Eine absolute Synthesis successiv zusammengesetzt wird« (AA I/9, 91). Die »Geschichte des Selbstbewußtseyns«, die Schelling hier erzählt, ist zwar die Geschichte von »Handlungen« – aber nicht von ›Taten‹ oder gar
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Walter Jaeschke
›Erlebnissen des Selbstbewußtseins‹. Sie ist die transzendentalphilosophische Geschichte seiner Genese, also der Bedingungen, unter denen das Ich allererst zu seiner Selbstanschauung kommt: zwar die Geschichte des Fortschritts der Selbstanschauung des Ich, aber als systematisch vollständige Aufzählung einer »Stuffenfolge von Anschauungen […], durch welche das Ich bis zum Bewußtseyn in der höchsten Potenz sich erhebt« (I/9, 25). Auch in dieser sehr pointierten Wendung kommt ein entscheidendes Characteristicum nicht zum Ausdruck: Diese Stufenfolge selbst ist nicht geschichtlich verfaßt, sondern sie ist ein architektonisch gedachtes, statisches Ordnungsgefüge, das nur vom Berichterstatter in Form einer Abfolge präsentiert wird. Schelling verwendet das Wort ›Geschichte‹ jeweils noch im traditionell-subjektiven Sinne von ›Bericht‹, ›Erzählung‹, nicht im damals noch wenig gebräuchlichen objektiven Sinne einer in der Zeit erfolgenden Entwicklung. Die »Geschichte«, die er erzählt, ist nicht die eines zeitlichen Verlaufs, sondern die Historie einer hierarchisch gestuften Ordnung und des funktionalen Zusammenhangs des Systems ›Selbstbewußtsein‹. Damit hängt ein weiterer Aspekt zusammen: Auch wenn »die gesammte Philosophie« für Schelling eine gleichsam auf Denkmale und Dokumente gestützte »fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseyns« ist (AA I/9, 25), so haben diese »Denkmale und Dokumente« doch keinen geschichtlichen Charakter, und deshalb bezeichnet Schelling diese »Geschichte« zugleich als Erklärung des »Mechanismus des Ich« – ohne daß mit dieser Wendung etwas anderes ausgesagt wäre als mit dem Ausdruck ›Geschichte des Selbstbewußtseins‹. Soweit Schellings »Geschichte des Selbstbewußtseins« in den drei »Epochen« entfaltet ist, ist sie eine Erklärung des »Mechanismus des Ich«, lediglich in das Vokabular eines Bereichs gekleidet, der sich damals, Ende des 18. Jahrhunderts, gegen die zuvor herrschende rationalistische Grundströmung des Denkens und ihren Wissenschaftsbegriff durchzusetzen beginnt. 3) Die Entwicklung hingegen vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein und weiter über die Vernunft zum Geist, die Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes entwirft, ist weder eine Stufenfolge von Potenzen noch ein »Mechanismus des Ich«, sondern eine veritable »Geschichte des Selbstbewußtseins« – auch wenn er sie nicht so nennt, vermutlich um ihre Differenz zur transzendentalphilosophischen Konzeption nicht zu verschleifen, die damals die Rede von einer ›Geschichte des Selbstbewußtseins‹ okkupiert hat. Sie ist nicht mehr »Wissenschaft der Handlungen des Ich«, sondern »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«, und Erfahrungen macht erst das Bewußtsein, dem seine transzendentalphilosophisch zu rekonstruierende Konstitution gleichsam im Rücken liegt. Die ›Geschichtsschreibung des menschlichen Geistes‹, auch seine ›pragmatische Geschichtsschreibung‹, setzt erst dort ein,
Das Selbstbewußtsein des Bewußtseins
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wo der transzendentalphilosophische Rahmen überschritten wird und der menschliche Geist einer Geschichte im zeitlichen Sinne unterliegt – oder besser: wo seine Entwicklung, die sich nach seinen eigenen, ihm immanenten Gesetzen vollzieht, Geschichte als Geschichte konstituiert. »Die Geschichte des Selbstbewußtseins ist die Geschichte des Selbstbewußtseins« – das heißt jetzt: Die wirkliche »Geschichte des Selbstbewußtseins« ist nicht der transzendentalphilosophisch rekonstruierbare »Mechanismus« seiner notwendigen Handlungen, sondern sie fällt in die zeitliche Geschichte, oder genauer: sie konstituiert die zeitliche Entwicklung zu einer Pluralität von Geschichten – zur »Geschichte des Selbstbewußtseins« im engeren Sinne wie auch zu den Geschichten der Vernunft und des Geistes, die erst in ihrer Gesamtheit alle Aspekte einer Bewußtseinsgeschichte umgreifen. Was ›Geist‹ ist, kann ohne Geschichte – ohne Geschichte im neuen, prägnanten Verständnis des Wortes! – gar nicht begriffen werden, und dies gilt ebenso für die ›Vernunft‹ und rudimentär auch schon für das ›Selbstbewußtsein‹. Wichtiger als die transzendentalphilosophische Rekonstruktion der notwendigen Handlungen des menschlichen Geistes ist deshalb in Hegels Augen die Erkenntnis der geschichtlichen Entwicklung des Wissens, der Entwicklung des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein, zum Sichwissen letztlich des Geistes. Die Verlagerung der Blickrichtung, die er hiermit vornimmt, impliziert auch eine Kritik an der seinem Ansatz vorhergehenden Ausrichtung des Programms: Ohne die Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung des Geistes bleibt die transzendentalphilosophische Rekonstruktionsarbeit ein Torso. Denn – um die bekannte Wendung Kants hier einmal gegen sein Programm zu wenden – die geschichtliche Entwicklung zählt selber zu den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis wie auch zu den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Gegenstände. Formuliert man die Einsicht, die Hegels Phänomenologie zu Grunde liegt, in dieser Weise, so läßt sein Programm sich an das der transzendentalphilosophischen »Geschichte des Selbstbewußtseins« nahtlos anschließen. Und dennoch: Das transzendentalphilosophische Programm wird durch eben diese Einsicht Hegels zwar nicht in seinem Kern dementiert, doch wird es preisgegeben, zumindest vernachlässigt, und statt seiner wird auf neuem Terrain in neuer Gestalt und mit einer neuen Methode ein Nachfolgeprogramm etabliert. Der zentrale Punkt des Dissenses, die ›Differenz zwar nicht des Fichte-Schellingschen und des Hegelschen Systems‹, aber doch die ›Differenz der Fichte-Schellingschen Transzendentalphilosophie und der Hegelschen Phänomenologie‹, liegt genau in dieser Frage: Beschränkt die ›Geschichte des Selbstbewußtseins‹ sich auf die Historie seines invarianten Aufbaus und auf die sukzessive Synthesis seiner Funktionen, oder findet eine im emphatischen Sinne geschichtliche Entwick-
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lung des ›Selbstbewußtseins‹ statt? Bejaht man letzteres, sieht man Grund, nicht nur eine der Sache äußerliche und gleichgültige Varianz ihrer Erkenntnis anzunehmen, sondern eine geschichtliche Entwicklung, in der allererst die Reihe der notwendigen Bedingungen des Selbstbewußtseins vollständig durchlaufen wird, so betrifft diese Entwicklung notwendig auch die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis und ihrer Gegenstände – sei es in der Weise einer moderaten Modifikation, sei es in der Weise weitgehender, gleichsam ›substantieller‹ Verschiebungen.
II. Die Phänomenologie als »Geschichte des Selbstbewußtseins« 1) Die bisher, im ersten Teil meiner Überlegungen, exponierte Frage steht natürlich nicht nur zwischen Fichte und Schelling auf der einen und Hegel auf der anderen Seite zur Entscheidung an. Sie ist heute nicht weniger brisant, und die Antworten, die man auf sie gibt, sind heute nicht weniger folgenreich als damals – im Gegenteil. Ich möchte mich zunächst aber noch nicht solchen allgemeinen Fragen zuwenden, sondern bei der Phänomenologie des Geistes verbleiben. Sie steht ja im Mittelpunkt dieser wie auch vieler anderer Tagungen. Ich möchte hier auch noch keine Antwort auf die gestellte Frage zu geben suchen. Vielmehr möchte ich nun, in einem zweiten Teil, das Programm, das aus Hegels geschichtlicher Einsicht folgt, in seinen Grundlinien skizzieren, doch zunächst, in Form eines kleinen Exkurses, noch die Frage nach seiner eigenen Genese aufwerfen: Wann und wie gelangt Hegel zu dieser Einsicht, daß die »Geschichte des Selbstbewußtseins« – oder allgemein: des Geistes – in die Zeit falle? 2) Zunächst ein paar Worte zum ›Wann‹ – zumal die Frage nach ihm sich noch als inhaltlich relevant erweisen wird. Die Entstehungsgeschichte der Phänomenologie des Geistes liegt im Dunkeln – so sehr, daß man geneigt sein könnte, zu ihrer Erhellung den apokalyptischen Topos des verborgenen Buches zu bemühen, das nun, am Ende der Tage, offenbart wird. Das Dunkel wird ja auch durch Hegels Biographen Karl Rosenkranz weniger gelichtet als verdichtet. Er teilt zwar mit, Hegel habe in seinen Einleitungen zu Logik und Metaphysik »den Begriff der Erfahrung, welche das Bewußtseyn von sich selbst macht«, entwickelt, und hieraus sei »seit 1804 die Anlage zur Phänomenologie« erwachsen. Diese Angaben lassen sich, wegen des Verlustes der einschlägigen Manuskripte, heute nicht mehr überprüfen, und zudem ist es bekannt, daß Rosenkranz nirgends schwächer ist als in seiner Chronologie der Jenaer Schriften Hegels. Direkte Äußerungen Hegels oder Dritter fehlen. Im Frühsommer 1805 kündigt Hegel zwar – wohl etwas zweckoptimistisch –
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brieflich an, sein »System der Philosophie« werde bereits im Herbst desselben Jahres erscheinen – doch ist daraus nichts für die Konzeption einer Phänomenologie zu entnehmen. Noch in der Vorlesungsankündigung für das Sommersemester 1806 erwähnt er sie nicht; er kündigt ja nur an, daß demnächst sein Buch »System der Wissenschaft« erscheinen und er darauf gestützt die spekulative Philosophie oder Logik vortragen werde. Von einer »Phänomenologie« ist nicht die Rede – und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem der Satz der »Einleitung« beginnt und Hegel die ersten Druckbogen an die Studenten austeilt. Erst in seiner Vorlesungsankündigung für das Wintersemester 1806/07, also im Sommer 1806, als umfangreiche Partien des Buches bereits gesetzt sind, erwähnt Hegel zum ersten und einzigen Mal eine »Phaenomenologia mentis« – aber auch hier kündigt er sie nicht als eine selbständige Veröffentlichung an, sondern als etwas dem ersten Teil des »Systems der Wissenschaft« Vorausgeschicktes. Er ist sich also selbst im Sommer 1806 noch nicht darüber im klaren, daß statt seines »Systems« nur dessen »Voraus« erscheinen werde. Doch in eben diesem Sommer 1806 nimmt dieses »Voraus« so gewaltige Dimensionen an, daß Hegel es schließlich ratsam findet, es auf dem Titelblatt als den ersten Teil des Systems selber auszugeben – wovon zuvor nicht die Rede gewesen ist. Es ist nicht unverständlich, daß diese unübersichtliche Entstehungssituation im letzten Jahrhundert eine Vielzahl werkgeschichtlicher Deutungsversuche hervorgetrieben hat. Ich möchte hier jedoch nicht auf solche Fragen eingehen, sondern allein auf die Bedingungen, unter denen Hegel zu seiner – für die Konzeption der Phänomenologie entscheidenden – Einsicht in die konstitutive Bedeutung des Geschichtlichen für die Erkenntnis gelangt ist. Da die Quellen aber beharrlich schweigen, läßt sich die Frage nach dem »Wie« nicht durch den Verweis auf sie beantworten. Es bleibt nur der Versuch einer nachträglichen Rekonstruktion von Motiven – und ich muß deshalb hier etwas zurückblenden und mich auf zwei solcher Motive beschränken, die in ihrer Verknüpfung mit einander durchaus geeignet sind, die Ausbildung der neuen Konzeption zu erhellen. 3) Überlegungen hierzu müssen ausgehen von dem, was wir über Hegels damalige Konzeptionen zu einer Einleitung in das »System der Wissenschaften« wissen – und dies ist sehr wenig. Aus all den Jenaer Jahren ist nur eine einzige und zudem eine sehr bruchstück- und skizzenhafte Einleitung überliefert: die erste Systemskizze vom Winter 1801/021. Sie ist jedoch kein mögliches Paradigma der späten Jenaer Einleitungskonzeption. Sie schreibt die 1
G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften [=GW], Hamburg 1968 ff. Bd. 5, 257–265.
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Einleitungsfunktion ja einer von der Metaphysik noch unterschiedenen Logik zu, während zur Zeit der Phänomenologie Logik und Metaphysik als spekulative Philosophie den – eigentlichen – ersten Systemteil bilden. Gemeinsam ist der frühesten Einleitung und derjenigen, die Hegel 1806 geplant hat, vermutlich nur dieses, daß er sie beide nicht als didaktische Hinführung, sondern als ›wissenschaftliche Einleitung‹, nämlich als Rechtfertigung des Standpunkts des Systems entworfen hat. Deshalb pariert er die zwar nicht unplausible, aber doch auch etwas boshafte Anschuldigung des Skeptizismus, zum Absoluten der Identitätsphilosophie könne man nicht auf der Leiter der irdischen Dinge hinaufsteigen2, durch die ausdrückliche Bekräftigung, das Individuum fordere mit Recht von der Wissenschaft, daß sie »ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche« (GW 9.23) – und dies ist keine bloß didaktische Leiter. Sie dem Individuum zu reichen, bedeutet zugleich, es zu nötigen, die Leiter hinaufzusteigen und sich mit ihrer Hilfe über sein natürliches Bewußtsein zu erheben. Diese systematische Aufgabe der Einleitung, dem Individuum die Leiter zu reichen, hat entwicklungsgeschichtlich fraglos Priorität gegenüber der Konzeption einer Phänomenologie des Geistes, und die Frage ist, was Hegel bewogen hat, diese Leiter in der Form einer Phänomenologie auszuführen. Hierzu gibt es noch einen weiteren und auch wirklich weiterführenden Hinweis. Rosenkranz spricht ja davon, Hegel habe »den Begriff der Erfahrung, welche das Bewußtsein von sich selbst macht«, entwickelt, und daraus sei »die Anlage zur Phänomenologie« entsprungen3. »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns« – so lautet auch der ursprüngliche, später auf Hegels Anweisung entfernte Zwischentitel, der die am Anfang des Buches stehende ›Einleitung‹ von dem ersten Systemteil trennt, der wiederum selber und als ganzer die Funktion einer Einleitung in das System hat. Dieser Aufgabe einer Einleitung in das »System der Wissenschaft« kann eine »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns« jedoch nur dann gerecht werden, wenn die thematische »Erfahrung«, die das Bewußtsein mit sich und über sich macht, bis an die Schwelle des Systems führt: wenn der Weg der Erfahrung des Bewußtseins zugleich der Weg des »Werdens der Wissenschaft« ist. Die Erfahrung des Bewußtseins muß also nicht weniger als »das ganze System desselben, oder das ganze Reich der Wahrheit des Geistes« in sich begreifen (GW 9.61). Doch wie ist diese »Wahrheit des Geistes«, von der die »Einleitung« spricht, näher zu verstehen? Die später geschriebene »Vorrede« erklärt sich präzi2
[Gottlob Ernst Schulze:] Aphorismen über das Absolute, in: Philosophisch-literarische Streitsachen. Hg. von Walter Jaeschke, Bd. 2/1, Hamburg 1993, 337–355, Zitat 350. 3 Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben, Berlin 1844, 202, 214.
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ser: Um das Individuum »von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen«, ist »das allgemeine Individuum, der Weltgeist, in seiner Bildung zu betrachten« (GW 9.24). Diese – späte – Formulierung setzt die inzwischen gewonnene Einsicht Hegels in die geschichtliche Entwicklung des ›Selbstbewußtseins‹ voraus: seine Einsicht, daß diese Geschichte nicht bloß die Geschichte seiner unterschiedlichen Beschreibungen ist, sondern die Geschichte seiner Herausbildung – seine eigene Geschichte. Um vollständig zu sein, muß eine »Geschichte des Selbstbewußtseins« deshalb über die Beschreibung des »Mechanismus« des individuellen menschlichen Geistes hinausführen und den Weltgeist in seiner »Bildung« – und dies heißt: in seiner geschichtlichen Bildung – betrachten. Um das eben verwendete plastische Bild nochmals aufzunehmen: Eine Leiter, lediglich mit den Sprossen der Transzendentalphilosophie verfertigt und nur bis zu ihr reichend, wäre nicht lang genug, um zum Selbstbewußtsein des Geistes hinaufzusteigen. Sie müßte zumindest historisch verlängert, oder besser: durch eine erheblich höher hinauf reichende, ebenfalls bewußtseinsgeschichtliche, jedoch in einem völlig neuen Sinne von ›Bewußtseinsgeschichte‹ konstruierte Leiter ersetzt werden. Der Aufstieg auf ihr ist dann für das Individuum – heraklitisch – ein »Weg der Verzweiflung« und der Erhebung zugleich. 4) Die Konzeption der Phänomenologie, und gerade die ihrer späteren und deshalb »unförmig« geratenen Partien, beruht auf dieser Einsicht in die Bedeutung der Geschichte des Wissens für das Wissen selbst, in die Bedeutung des geschichtlichen Weges des Geistes, die Hegel im Sommer 1806 gewonnen hat. Doch – ist dies wirklich eine Einsicht, oder ist es nur ein grandioser, dem späteren relativistischen Historismus Vorschub leistender Irrtum, daß die Geschichte des Wissens nicht bloß eine additive oder illustrierende, sondern eine wissenskonstitutive, das Wissen verändernde und begründende Funktion habe? Hegel will ja nicht nur, wie sein Gegner Fries – durchaus zutreffend – damals feststellt, »eine allgemeine philosophische Geschichte des menschlichen Geistes oder der Vernunft geben«4. In einer solchen Geschichte könnten ja die philosophischen Bilder der Beschreibung des Wissens ebensogut Revue passieren, ohne daß das Wissen selber verändert würde. Und es geht auch nicht darum, mit Fichte die variierenden successiven Ansätze zur Identifizierung des aller Geschichte zu Grunde liegenden, invarianten »wahren Systems« der das Ich konstituierenden Handlungen in einem großen Wurf zusammenzufassen. Hegel behauptet vielmehr, eine solche »allgemeine philosophische Geschichte des menschlichen Geistes« sei eine notwendige Voraussetzung des »Systems der Wissenschaft«, 4
W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart 2003, Sp.177b.
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weil das Wissen selber geschichtlich geformt sei – und dies eben nicht nur im Sinne einer bloßen Addition, eines Zuwachses an Erkenntnissen, sondern einer qualitativen Veränderung. Unter der Bedingung dieser Annahme eines geschichtlich sich entfaltenden Systems des Wissens läßt sich dann auch die Unterschiedlichkeit der bisherigen Versuche zur Erkenntnis dieses Systems zwanglos erklären: Es handelt sich nicht bloß um variierende, mehr oder weniger gelungene, vielleicht sogar fortschreitende, aber doch immer wieder mißlingende Darstellungen des invarianten Systems, sondern um geschichtlich differierende Darstellungen des sich selber geschichtlich entwickelnden Systems. Für Hegel beruht die konstitutive Bedeutung der Geschichte des Wissens für die Gestaltung des Wissens auf der spezifischen Verfassung des Geistes, genauer: auf dem für »Geist« überhaupt spezifischen Verhältnis des einzelnen und allgemeinen Geistes. Seiner Einsicht in die geschichtliche Entwicklung des Wissens liegt eine geistesphilosophische Prämisse zu Grunde. Im »allgemeinen Geist« ist das vergangene Wissen ein vergangenes Dasein – aufgehoben, aber zum Moment herabgesetzt; an diesem »allgemeinen Geist« partizipiert das Individuum, oder mit Hegel: Das »vergangne Daseyn ist schon erworbenes Eigenthum des allgemeinen Geistes, der die Substanz des Individuums oder seine unorganische Natur ausmacht«, die das Individuum dann, im Prozeß seiner Bildung, in Besitz nimmt und aufzehrt – ein Bildungsprozeß, durch den der »allgemeine Geist oder die Substanz sich ihr Selbstbewußtseyn gibt« (GW 9.25). Man kann diesen Gedanken aus der uns fremd gewordenen Sprache übersetzen – zunächst in eine spätere Hegelsche Sprache: Hegel sucht hier den Gedanken zu artikulieren, den er später, in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen – und vielleicht ja nicht einmal später, sondern gleichzeitig – als den Gedanken der »Geschichtlichkeit« formuliert. Die Bewegung, die der Geist zu seinem Selbstbewußtsein vollzieht, ist eine geschichtliche Bewegung. In ihr verändert sich, was das einzelne Selbstbewußtsein für wahr hält, und da das Selbstbewußtsein an diesem Geist und seiner Bewegung partizipiert und sich seinen Inhalt als sein Erbe aneignet, ist sowohl sein Gegenstandswissen als auch sein Wissen von sich durch diese Geschichte geprägt. »Was wir sind,« wird es dann heißen, »sind wir zugleich geschichtlich«, denn das »gemeinschaftliche Unvergängliche« der Geschichte des Denkens (also in der Sprache der Phänomenologie: das dem »allgemeinen Geist angehörige Substantielle) sei »unzertrennt mit dem, daß wir geschichtlich sind, verknüpft«5. Man kann Hegels Gedanken – habe
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Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. von Pierre Garniron und
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ich gesagt – aber auch noch in eine andere Sprache übersetzen und ihn als Entdeckung einer Eigentümlichkeit der menschlichen Kognition bezeichnen, die Prozesse kulturellen Lernens ermöglicht. 5) Darauf werde ich noch zurückkommen. Zunächst aber möchte ich die Entstehungsbedingungen und den systematischen Ort dieses Gedankens noch etwas eingrenzen. In Hegels damaligem philosophischen Umfeld ist dieser Gedanke nicht anzutreffen; man muß schon bis zu Herder zurückgehen, um Anstöße für ihn zu finden. Auch in Hegels eigenem Werk begegnet diese Einsicht in die geschichtlich-bewegte Substantialität des Geistes zuvor nirgends. Soweit sich erkennen läßt, stammt sie auch nicht aus dem Umkreis der Einleitungsproblematik – dort hat sie zunächst gar keinen Platz. Sie verdankt sich vielmehr Hegels Ausarbeitung des geistesphilosophischen Ansatzes seit der Mitte der Jenaer Jahre. Insbesondere ist daran zu erinnern, daß Hegel in dem Semester, das der Formulierung seiner neuen Einsicht vorangeht, erstmals über Geschichte der Philosophie vorträgt. Auch wenn wir von dieser Vorlesung außer ein paar Satzfragmenten keine gesicherten Quellen und auch keine Berichte aus zweiter Hand haben: An der inhaltlichen Verschränkung dieser beiden Gebiete kann kein Zweifel bestehen. Noch Hegels Manuskript zur Geschichte der Philosophie aus dem Jahre 1823 weist ja Spuren der Diktion der Vorrede zur Phänomenologie auf. Es ist deshalb keine gewagte These, daß diejenige Einsicht, die für die spezifische Gestaltung der Einleitungsfunktion der Phänomenologie verantwortlich ist, sich Hegels philosophiegeschichtlichen Studien des Winters 1805/06 verdanke; daneben dürften die religionsgeschichtlichen Partien der Geistesphilosophie dieses Semesters stehen. Es bedurfte dann nur noch des Schrittes von einer Einsicht in die spezifische Natur des Geistes, die Hegel sich an der Philosophiegeschichte erarbeitet hat, zu einer allgemeinen Einsicht in die Spezifik geistiger Prozesse, um von einer »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« zu einer »Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes« überhaupt zu gelangen – wobei der bereits in der frühesten Partie des Werks, in der »Einleitung«, häufige Begriff des »erscheinenden Wissens« eine hervorragende Brücke gebildet hat. 6) Angesichts der zeitlichen Koinzidenz der Arbeit Hegels an einer neuen Einleitungskonzeption und an der Geistesphilosophie, zumal an der Geschichte der Philosophie, legt sich der Gedanke nahe, daß eine solche »Einleitung« die geschichtliche Erhebung des Geistes nachvollziehen müsse. Doch vielleicht hat dieser Gedanke ja im Moment seines Aufblitzens eine zu Walter Jaeschke. Teil 1 (= Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 6), Hamburg 1994, 6.
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große Suggestivkraft entfaltet. Ist denn wirklich mit der Nachzeichnung des »erscheinenden Wissens« die Aufgabe einer »Einleitung« in das System – im Sinne der Rechtfertigung der Wissenschaft – schon gelöst, oder muß diese Nachzeichnung unter wohldefinierten, durch die »Wissenschaft« vorgegebenen Bedingungen erfolgen? Bloße Historie wäre ja nicht »Wissenschaft« im emphatischen Sinne, und Hegel beansprucht für die Phänomenologie den Status nicht einer »Geschichte«, sondern einer »Wissenschaft« – wenn auch einer ›Wissenschaft‹, die nicht im gleichen Sinne ›Wissenschaft‹ ist wie die Disziplinen des auf sie erst folgenden »Systems der Wissenschaft«. Und doch: Ihre Wissenschaftlichkeit liegt lediglich darin, daß sie diesen »Weg des natürlichen Bewußtseyns, das zum wahren Wissen dringt« (GW 9.55), in der angemessenen Weise präsentiert und einem natürlichen Bewußtsein, das sich ihm verweigern will, mit Nachdruck vor Augen hält. Das Werden des Wissens ist ein notwendiges Werden, aber nicht im Sinne einer blinden Notwendigkeit, sondern der immanenten Notwendigkeit des Geistes. Die vom ›Wissenschaftsanspruch‹ der Phänomenologie geforderte Notwendigkeit liegt ausschließlich in der adäquaten Rekonstruktion der inneren Gesetzmäßigkeit des dargestellten Prozesses des Wissens. In ihn selbst fällt die Negation des natürlichen Wissens wie auch der geschichtlichen Gestalten des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins: seine ›negative‹ Seite, nach der er ein »Weg der Verzweiflung« ist, und ebenso die ›positive‹, daß er »die vollständige Reihe der Gestalten« des Geistes ist (GW 9.56 f.). Der Ausgangs- und Endpunkt wie auch die Dynamik dieses Prozesses des erscheinenden Wissens werden rein durch die interne Verfassung des Wissens bestimmt. Seine Rechtfertigung liegt lediglich im Erweis, daß die geschichtliche Bewegung wirklich die Bewegung zur Wissenschaft ist und im »Absoluten Wissen« kulminiert6. Es gibt nicht daneben noch einen äußerlichen Erweis, daß es in ihr vernünftig zugegangen sei. Ein anderer Beweis läßt sich auch gar nicht führen; das natürliche Bewußtsein kann ja nicht durch Argumente einer von ihm abgelehnten Wissenschaft überzeugt werden, sondern allein dadurch, daß man ihm die Unwahrheit des erscheinenden Wissens und damit den geschichtlichen Prozeß seiner eigenen Aufhebung vor Augen hält.
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Jaeschke, »Das absolute Wissen«, in: Hegels »Phänomenologie des Geistes« heute. Hg. von Andreas Arndt und Ernst Müller. Berlin 2004, 194–214.
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III. Neue Epistemologie 1) Hegel konzipiert die Einleitung in das »System der Wissenschaft« somit – zumindest in den späteren, umfangreichen Partien – in Form einer Genealogie. Die Phänomenologie des Geistes ist eine »Genealogie des Geistes«, aufgefächert in die Geschichten des Selbstbewußtseins, der Vernunft und des Geistes. Sie zeigt die Entwicklung des erscheinenden Geistes auf; sie ›monstriert‹, aber sie demonstriert nicht. Um das schon mehrfach bemühte Bild der »Leiter« ein letztes Mal aufzugreifen: Die »Leiter«, die die Phänomenologie dem natürlichen Wissen reicht, damit es auf ihr zum »absoluten Wissen« als dem Eingangstor zum System emporsteige, ist eine ebenso geschichtliche wie wissenschaftliche – und dies nicht zufällig, sondern weil die Geschichte ja gar nichts anderes als der notwendige Gang der Entwicklung des Geistes ist, dessen Erkenntnis andererseits wieder Gegenstand der Wissenschaft ist. Damit sollen die konstruktiven Züge gerade dieses Buches keineswegs geleugnet sein. Doch das, was an ihm Konstruktion ist, soll lediglich der Rekonstruktion der geschichtlichen Entfaltung des Geistes selbst dienen. Durch diese Konzeption – fraglos eine in Bewegung begriffene, nicht einheitliche, sondern während der Niederschrift gewachsene und wohl auch erst gefundene Konzeption – hat Hegel dem Problem einer Einleitung in seine Philosophie eine neue, an seinen ersten Versuchen gemessen überraschende, aber nicht nur im Rückblick auf sie überzeugende Lösung gegeben. Die Einsicht, die dieser Lösung zu Grunde liegt, hat Hegel nie widerrufen. Sie hängt auch nicht von der Einleitungsfunktion ab, so wie sie sich ihr ja auch nicht verdankt. Wenn Hegels Einsicht zutrifft, daß die geistige Welt eine eigentümliche prozessuale Verfassung hat, durch die der Geist zu seinem Selbstbewußtsein gelangen kann und die deshalb als eine »Geschichte des Selbstbewußtseins« beschrieben werden kann – nämlich als eine Geschichte der fortschreitenden Entfaltung und substantialen Anverwandlung des Wissens und seiner Bildung, seiner Erhebung zum Sichwissen – wenn diese Einsicht zutrifft, dann muß eine Einleitung in ein »System der Philosophie«, streng genommen, diese Form haben, die Hegel ihr gegeben hat. Anders stellte sich dies dar, wenn etwa das bereits erwähnte Modell aus Fichtes »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« zuträfe, daß sich die philosophischen Entwürfe wie unterschiedliche Beschreibungen des stets gleichen Systems der Handlungen des menschlichen Geistes zu einander verhielten. Dann wäre eine bewußtseinsgeschichtliche Heranführung an ein »System« nur ein buntes Kaleidoskop ohne philosophische Relevanz. Ich will hier nicht eine Entscheidung zu Gunsten des einen oder anderen – oder eines dritten – Modells vorwegnehmen, sondern zunächst nur dies festhalten: Solche – nicht eben
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nebensächlichen – Fragestellungen werden erst seit Hegels Entwurf in der Philosophie – und nicht allein in der Philosophie – diskutiert. Frühere Schemata wie etwa Kants Dreischritt von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus haben dagegen nur marginale Bedeutung. 2) Deshalb ist es nur die eine Lesart des Problems, die Tauglichkeit einer »Geschichte des Selbstbewußtseins« zur Einleitung in die Philosophie zu prüfen. Die andere Lesart reicht weit über diesen Zusammenhang und über Hegels Systementwurf überhaupt hinaus. Mit seiner neuen Lösung der Einleitungsproblematik hat Hegel ungewollt ein allgemeines Problem von revolutionärer Neuheit und gigantischen Ausmaßen aufgeworfen – ein Problem, das auch in größerer Distanz zu Hegels systematischen Optionen und Ambitionen, ja ohne jeden Rückbezug auf Hegel verfolgt werden kann und verfolgt werden muß – und leider ein Problem, das auch heute noch weit von seiner Lösung entfernt ist. Auf diese, von der Funktion für Hegels System abstrahierende Lesart der »Geschichte des Selbstbewußtseins« möchte ich nun, in meinem dritten, abschließenden Teil wenigstens noch einen Blick werfen – auch wenn ich nur noch einige Aufgabenstellungen sehr punktuell markieren kann, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und systematischen Zusammenhang. Wenn – und ich sage mit Nachdruck: Wenn – die geschichtliche Veränderung des Wissens nicht bloß als kontinuierlicher Wechsel seiner Gegenstände oder als quantitative Erweiterung durch Einbeziehung immer neuer Inhalte zu beschreiben ist, sondern als qualitative Entfaltung, die das Wissen selber verändert und Rückwirkungen auf seine Konstitution hat, dann muß dies seinen Niederschlag in einer Epistemologie finden, die dieser Verfassung des geschichtlich sich entwickelnden Wissens gerecht wird: in einer Epistemologie, die die geschichtliche Entwicklung des Wissens erfaßt. Unter der eben genannten Bedingung ist dies keine Frage des philosophischen Geschmacks, sondern eine zwingende Forderung. Derjenige, der sich ihr nicht unterwerfen will, müßte diese Hypothese als unzutreffend verwerfen. Aber auch hierzu ist sie zunächst einmal zu prüfen. 3) In seine weit ausgreifende »Geschichte des Selbstbewußtseins« hat Hegel einen Bereich nicht einbezogen – den Bereich, den die Transzendentalphilosophie unter den gleichen Titel gestellt hat. Man kann hierin ein Indiz dafür sehen, daß dieser Bereich der notwendigen Handlungen des Geistes, der »Mechanismus des Geistes«, in seinen Augen keiner Geschichte unterworfen ist – wie Hegel ja auch später die Formen des subjektiven Geistes nicht in Form einer Geschichte aufstellt. Die Geschichte des Bewußtseins umfaßt nicht, gleichsam in einem ersten Akt, vorab eine Geschichte der Genese des Individualbewußtseins und danach seiner geschichtlichen Abenteuer, son-
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dern allein die Geschichte, die es durchläuft. Aber schon die Ausbildung der Erkenntnisformen – Anschauung, Verstand, Vernunft – scheint geschichtlich zu erfolgen, in einem Prozeß der kulturellen Entwicklung der Kognition. Ich verweise nur auf die Fähigkeiten zu Generalisierung und Abstraktion, von denen mit gutem Grund anzunehmen ist, daß sie sich nicht unabhängig von geschichtlich-kulturellen Bedingungen und Leistungen entfalten. Ludwig Feuerbach, übrigens ein begeisterter Leser der Phänomenologie, hat einmal darauf hingewiesen, daß die sinnliche Anschauung, obschon sie doch die einfachste, primitivste Erkenntnisform zu sein scheine, die geschichtlich späteste sei – letztlich deshalb, weil sie die große Abstraktionsleistung voraussetzt, ein Ding als ein Ding zu nehmen. Und diesem Bereich der Dingkonstitution widmet Hegel ja ein ausführliches Kapitel seiner Phänomenologie. Doch scheint es, als sei hier auf der Ebene der Phylogenese noch viel Arbeit nachzuholen, die für die Analyse analoger ontogenetischer Prozesse bereits geleistet wird. Im gleichen Zusammenhang stehen alle Fragen einer kategorialen Entwicklung unserer Weltauslegung. Wenn es zutrifft, was bereits Jacobi behauptet hat und was heute aus dem Kreis der Kognitionswissenschaft bestätigt wird7, daß sich die kausale Deutung von Naturprozessen nicht unserer theoretischen Anschauung eines Zusammenhangs von Ursache und Wirkung verdanke, sondern durch die Erfahrung des eigenen Handelns vermittelt sei, so ist zu fragen, wieweit diese Einsicht die kausalen, insbesondere teleologischen Deutungsmuster unserer Welterklärung tangiere – und weiter, was dies für eine »Geschichte des Selbstbewußtseins« bedeute. Aber auch dies ist nur ein Beispiel von vielen – und es betrifft auch nur einen ersten, basalen Bereich. Daß sich vergleichbare Probleme in der Sphäre des Praktischen stellen, im Blick auf die Ausbildung unserer moralischen und rechtlichen Denkweisen, brauche ich nicht weiter zu betonen. 4) Als einen zweiten und weit komplexeren Bereich möchte ich den inneren Zusammenhang der – mit Hegel gesprochen – Formen des objektiven und absoluten Geistes ansprechen. Es bedarf ja keiner umständlichen Demonstrationen, daß wir es hier mit Bereichen zu tun haben, die geschichtlich ausgebildet worden sind und sich auch weiterhin geschichtlich entfalten. Und auch wenn man dieser Entfaltung eine jeweils immanente Logik konzediert, so gilt dennoch, daß sie alle in die »Geschichte des Selbstbewußtseins« einzubeziehen sind, oder besser: daß die »Geschichte des Selbstbewußtseins« im wesentlichen die Geschichte der Objektivation des Selbstbewußtseins in 7
Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt/Main 2006.
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diesen Formen ist, obwohl sie doch zugleich für das individuelle Bewußtsein einen ›substantialen‹ Charakter haben. In seiner Phänomenologie, die doch so viele different erscheinende Vorgänge auf überraschende Weise vereint und hierdurch Evidenzen erzeugt, hat Hegel dennoch diese Prozesse gegen einander isoliert und sie sukzessiv thematisiert – eine zwar bedauerliche, doch angesichts der ohnehin hinreichend verwickelten Darstellung vermutlich glückliche Entscheidung. Doch ändert dies nichts daran, daß sich hier ein nicht gelöstes Problem für die weitere Forschung verbirgt. Es wird wohl niemand behaupten, die Partialgeschichten dieser Bereiche – der Sprache, des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion und schließlich der Philosophie – hätten nichts mit einander zu tun. Was sie aber mit einander zu tun haben, selbst nur in unserer kulturellen Tradition oder gar in anderen; in welchem Zusammenhang sie in der einen übergreifenden Bewußtseinsgeschichte stehen, ob und wie sie mit einander verzahnt sind, ob und gegebenenfalls wieweit sie sich gegenseitig zur Voraussetzung haben und wie sie sich zu unterschiedlichen Gesellschaftsformen verhalten, zu deren Lebenswelt sie gehören, und schließlich: wie die Dynamik der Bewußtseinsgeschichte zu begreifen sei und welche Verlaufsform sie aufweise: Dies alles sind Fragen, die Hegels Phänomenologie des Geistes im Kontext des von ihm gestellten Einleitungsproblems aufgeworfen und partiell auch zu beantworten gesucht hat, fraglos mit oft unzureichenden Mitteln. Sie sind auch sicherlich keine Scheinfragen, und sie sind auch keine Fragen, die sich lediglich im Kontext der Philosophie Hegels stellen, sondern Fragen, die er aufgeworfen hat, weil sie zentrale Aspekte unseres Welt- und Selbstverständnisses berühren – und doch kann man nicht einmal sagen, daß zwei Jahrhunderte nach dem Erscheinen der Phänomenologie auch nur die erforderlichen Fragestellungen für die heutige Wiederaufnahme der Themen ausgearbeitet seien. Vielleicht könnte man ja das Jubiläumsjahr zum Anlaß nehmen, jetzt endlich damit zu beginnen, die Phänomenologie des Geistes zu lesen.
Hegels phänomenologische Dialektik. Darstellung, Zeitbezug und Wahrheit des erscheinenden Wissens – Thesen zur »Vorrede« Thomas Sören Hoffmann (Bonn) Will man in wenigen Worten angeben, was der Hauptzweck und Inhalt von Hegels famoser »Vorrede« auf das System, wenn auch zunächst immer auf seine Phänomenologie des Geistes ist, wird man dies schwerlich prägnanter tun können als mit dem Hinweis: daß diese Vorrede, in der Hegel nach den Worten von Bruno Liebrucks »auf dem Gipfel seiner Einsichten« und zugleich »im Zenit seiner Diktion«1 steht, eine der energischsten je formulierten Aufforderungen ist, es mit der Philosophie tatsächlich einmal rückhaltlos zu versuchen. Hegel selbst hat in diesem Sinne in der Selbstanzeige der Phänomenologie davon gesprochen, daß er sich in der »Vorrede« darüber »erklärt« habe, »worauf es überhaupt bey [der Philosophie] und ihrem Studium« ankomme2. Worauf es ankommt, ist dabei keineswegs nur ein Philosophieren überhaupt; es geht um ein Philosophieren, das sich als Schlüssel zur eigenen Zeit bewährt, als Schlüssel zu einer Zeit, die Hegel entschieden als »Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode« (14) versteht3. In der Tat ist der letzte Sinn der diversen Erinnerungen und Polemiken, der Emphasen und Proklamationen, die sich auf den original 91 Seiten unseres Textes finden, kein anderer als der, einem dem »Neue[n]« (15) gemäßen »Ernst des Begriffs« die Bahn zu brechen und damit dem akuten »Bedürfnis der Philosophie« zu bestimmter historischer Stunde gerecht zu werden. Nirgendwo sonst als im ganz dem Begriff verpflichteten Denken soll der kongeniale Ausdruck der neuen Zeit gesucht, nirgendwo sonst die authentische Selbstaussage eines welthistorisch neuen Bewußtseins vermutet werden als in jenem ebenfalls neuen Philosophieren, für das eben die Phänomenologie des Geistes steht4. Es ist im Blick auf diesen durchaus praktisch-pragmatischen
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Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein. Bd. 5: Die zweite Revolution der Denkungsart – Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main 1970, 319. 2 G. W. F. Hegel, Selbstanzeige der Phänomenologie, in: Gesammelte Werke, hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften [=GW], Hamburg 1968 ff., 9, 446 f. 3 Seitenverweise im Text beziehen sich im folgenden stets auf die Ausgabe der Phänomenologie (=PhG) in GW 9. 4 Vgl. dazu Michael N. Forster, Hegel’s Idea of a Phenomenology of Spirit, Chicago/ London 1998, bes. 17 ff.
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Thomas Sören Hoffmann
Sinn der »Vorrede« auch 200 Jahre nach ihrem Entstehen wenig erfolgversprechend, sich ihr nähern zu wollen, ohne sich zu ihr eben philosophierend, als hier und heute Denkender ins Verhältnis zu setzen. Auf den folgenden Seiten wollen wir dies vor allem unter dem Gesichtspunkt der Frage nach der Dialektik zu tun versuchen, was sich schon deshalb anbietet, weil mit diesem Thema die Theorie und die Praxis, altes und neues Wissen, reines wie auch dem Bedürfnis der Zeit gemäßes Philosophieren gleichermaßen berührt und im Spiele sind. Wenn irgendwo, dann in der Dialektik fallen die einfachen Gegensätze und Exklusionen dahin, weshalb denn auch am selbstverständlichsten hier das gestern Gesagte das heute Bewegende sein kann.
I. Darstellung als immanentes Moment der Konstitution dialektischer Erkenntnis Daß die »Vorrede«, wenn auch kein Methodenkapitel im engeren Sinne, so doch in jedem Fall ein markanter dialektischer Text mit explizitem methodologischen Bewußtsein ist, muß gewiß nicht eigens erst festgestellt werden. Wir wollen uns hier exemplarisch mit drei Methodenmomenten befassen, wie Hegel sie zunächst für den Rahmen der Phänomenologie herausarbeitet, wie sie jedoch auch über deren Kontext hinaus von nicht geringer Bedeutung sind5. Diese drei Momente betreffen zum einen (1) das dialektische Erkennen als Einheit von Wissen und Darstellung, zum anderen (2), damit in Zusammenhang stehend, das mehr als nur akzidentelle Verhältnis von Wissen 5
Für eine Gliederung der »Vorrede« würde ich (auch im Blick auf die hier zu erörternden Punkte) folgendes Schema vorschlagen: 1. Die Philosophie als dialektische Einheit von Begriff und Darstellung [1–16] »… das schwerste [ist, die] Darstellung hervorzubringen« [3] Philosophie als »wirkliches Wissen« sucht die Bestimmtheit [5, 10] Die »Zeit der Geburt und des Übergangs« [11] 2. Das werdende Wissen als Erzeugung der Einheit von Substanz und Subjekt in der Erscheinung [17–47] »Es kömmt alles darauf an …« [17] Das Absolute als Selbstbewegung [23] Die Phänomenologie als »Werden der Wissenschaft überhaupt, oder des Wissens« [27] Die Macht des Geistes und die Zerrissenheit [32] Die Zeit als der »daseyende Begriff« [46] 3. Die Erkenntnis der Logizität der Welt [48–71] Das »eigene Leben des Begriffs« als das Prinzip aller Wissenschaft [53] Das »unmittelbar logische[] Daseyn« [56] Der spekulative Satz [61] und die dialektische Darstellung [65] Die Notwendigkeit der Arbeit des Begriffs [69].
Hegels phänomenologische Dialektik
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und Zeit, sowie zuletzt (3) die Frage nach jener von Hegel in verschiedenen Wendungen beschworenen absoluten Identität des Wissens, dem Zielpunkt der phänomenologischen Bewegung, in dessen Vergegenwärtigung zuletzt auch der Überstieg über den phänomenologischen Rahmen und Ansatz als solchen begründet liegt. Beginnen wir mit der Frage nach der Einheit von Wissen und Darstellung – mit einer Frage, die mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte, in das Geschäft und Geschehen der Dialektik hineinführt! Hegel, in unserem Text wie auch sonst nicht unbedingt ein Meister der captatio benevolentiae und Schmeichelei, eröffnet die »Vorrede«, wie man weiß, mit der schroffen Zurückweisung aller bequemen Forderung nach einer Inhalts-, Tendenz- oder Ergebnisanzeige eines soeben erst aufgeschlagenen Buches. Das entsprechende Ansinnen ist vielmehr gerade mit der Aufforderung zu einem ernsthaft in Angriff zu nehmenden Philosophieren in die Schranken zu weisen: denn Philosophie läßt sich nicht im Extrakt und Kompendium, sondern nur durchs Philosophieren selber erwerben. Philosophie – diese Einsicht teilen die älteren Dialektiker noch mit den späteren der Existenz – reduziert sich niemals auf fixierte Doxa, sie ist nur als sich selbst im Vollzug begreifender Begriff, ist dabei Herstellung des Horizonts aller Vorstellung und Aufrufung ihres Grundes, nicht nur Bezug der einen oder anderen Position. Philosophie ist entsprechend auch nicht die Utopie eines je schon erreichten Zieles; sie hat ihren Ort nur im wirklichen, den tatsächlich zu tuenden Zwischenschritt nicht überspringenden Gehen eines Erkenntnisweges. Philosophie gibt es so nur »mit einem Weg«, nur »methodisch«, nicht in einfacher Affirmation einer in isolierter Unmittelbarkeit vermeintlich schon gehaltvollen Einsicht. Oder anders: es gibt sie nur im Kontinuum der Gedankenentwicklung, nicht in der Diskretion der behauptenden These. Diese in der Tat urdialektische These, die nicht zuletzt auch dem dynamisierten Wahrheitsbegriff der Phänomenologie, der sich aus der Statarik eines (verstandes-)metaphysisch festgeschriebenen Wahren und Falschen befreit hat6, impliziert einen »nachmetaphysischen« Begriff von Wissen, das seine wahre Bedeutung nicht an einer abstrakt schon vorausgesetzten Ontologie und Ordnung der Dinge bemißt, sondern sie im Vollzug des Begriffs jeweils erst generiert, sie im »Leben des Geistes« selbst erringt und auch lebendig erhält. Sie führt auf einen Begriff des Begriffs, der – wir denken dafür nicht 6
Vgl. zum selbst »dynamischen« Wahrheitsbegriff der PhG in Kürze nur Thomas S. Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, 236– 240.
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zuletzt an die nachfolgende »Einleitung« – den Begriff nicht auf ein formales »Verstehens-« oder »Verständigungsinstrument« reduziert, sondern demzufolge wir selbst als konkret lebendiges Wissen der sich begreifende Begriff sind, was wir freilich – damit sind wir dann beim Hauptpunkt dieses ersten Abschnitts – niemals ohne ein Aussprechen, ohne ein Darstellen unseres wirklichen Wissens hier und jetzt sein können. Nach Hegel nämlich erschließt sich erst in seiner Darstellung, und das heißt immer auch: Veräußerung und Existentsetzung, das Wissen als reelles; es vollendet und totalisiert sich erst, indem es sich in der Darstellung auf eine erste Extension, eine gesetzte Unmittelbarkeit überhaupt einläßt. Bei diesem Erfordernis der tätigen Darstellung unseres Wissens geht es so von vornherein um weitaus mehr als um den (subjektiven) Entschluß, das, was wir »eigentlich« ohnehin wissen, darstellend auch noch zu »kommunizieren«. Es geht vielmehr darum, aus der Darstellung, damit aber der Erscheinung des Wissens gleichsam erst zu erfahren, was wir denn eigentlich wissen, ja wer wir kraft dieses Wissens selbst sind. Es geht insofern auch um mehr als das, was seit alters der Rhetoriker als das Darstellungsproblem kennt, um mehr als ein isolierbares, »technisch« zu meisterndes »Ausdrucksproblem«7. Die »Vorrede« ist an den ungefähr 15 Stellen, an denen sie auf den Begriff und das Problem der Darstellung zu sprechen kommt, diesbezüglich durchaus eindeutig. Denken wir nur etwa an das eingängige Resümee des dritten Absatzes, in der in einer markanten Klimax erstmals die Darstellung als der eigentliche Zielpunkt der philosophischen Arbeit erscheint: »Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurtheilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beydes vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen« (11). In anderen Worten: Am wenigsten Schwierigkeiten macht die Identifikation, mehr schon die bestimmte und begründende Erkenntnis eines wahrhaften Inhalts, am meisten jedoch seine Ableitung bis ins Erscheinen, sein auch empirisches Gesetztsein hinein. Die Phänomenologie übernimmt es jedoch in diesem Sinne insgesamt, eben die Darstellung des »Gehaltvollen« und »Gediegenen«, d. h. des Wahren nicht nur an sich, sondern auch in der Erscheinung zu sein; sie zeigt entsprechend den Weg des Werdens philosophischer Wissenschaft aus dem konkret Gewußten auf, die sich in sich selbst erst aus der Darstellung dessen, was 7
Zur Vorgeschichte des Darstellungsproblems vgl. G. J. Hafner, Darstellung. Die Entwicklung des Darstellungsbegriffs von Leibniz bis Kant und sein Anfang in der antiken Mimesis und der mittelalterlichen Repraesentatio, Düsseldorf 1974; sonst auch A. Kemmann, Art. »Evidentia, Evidenz«, in: Gert Ueding (hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, 33–47, bes. 45 ff. (dort Bezug auf den Begriff der Hypotypose, für den u. a. auch auf Kant, Kritik der Urteilskraft § 59, Akad.-Aus. V, 351 zu verweisen ist).
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sie im einzelnen weiß, d. h. im Bewußtsein hat, reflektiert. In Abschnitt 5 ist entsprechend davon die Rede, daß uns die »befriedigende Erklärung« über die »innere Nothwendigkeit« der Entwicklung des »Wissen[s]« zur »Wissenschaft« »allein die Darstellung der Philosophie selbst« liefern könne; erst die (Selbst-)Vergegenständlichung des philosophischen Gedankens, erst sein Heraustreten aus der abstrakten Identität mit sich – eben der Hervorgang aus seinem einfachen »Idealismus« oder Ansichsein in die Erscheinung – gibt dem Wissen eine dann auch wissenschaftsfähige, dem objektiven Logos und Geist erschlossene Form. Hegel hat immer den Finger darauf gelegt, daß die Philosophie sich von den vorstellenden oder Einzelwissenschaften dadurch unterscheidet, daß in ihr Form und Inhalt nicht auseinander treten, vielmehr beide Momente ein und derselben Totalität (des Begriffs) sind und sich daher auch reflexiv aufeinander beziehen. In diesem Sinne aber – im Sinne einer allererst die spekulative Form-Inhalts-Identität des Begriffs erweisenden Darstellung oder Totalisierung des Inhalts – wird von Hegel für unsere Frage dann auch klargestellt, daß »die Darstellung, der Einsicht in die Natur des Speculativen getreu, die dialektische Form behalten und nichts hereinnehmen« dürfe, »als in so fern es begriffen wird und der Begriff ist« (46). Damit ist noch einmal festgehalten, daß die dialektische, bei der reflexiven Identität beider Seiten ansetzende Darstellung des Wissens oder der Wahrheit nicht auf ein nur äußeres Form-Inhalts-Verhältnis gehen kann, sondern den Prozeß der inneren Differentiierung, der Realisation der Erkenntnis durch die Erzeugung der Beziehung des Wissens auf sein Anderes betrifft. Oder, wie wir vorgreifend auch sagen können: Darstellung als Moment des Erkennens selbst ist immer Aufhebung der noch abstrakten, von ihrem Gegenstand unterschiedenen Vorstellung in den Begriff, ja sie ist selbst die Kritik der Vorstellung als nur ideeller Bestimmtheit und darin deren Fortbestimmung zum Wissen. Hegel ist freilich nicht der erste Dialektiker, der das Darstellungs- als Methodenmoment in der Realisierung des Erkennens, insbesondere als Moment der (Selbst-)Vermittlung philosophischen Wissens begreift. Mit dem Thema der Darstellung als eines für das Wissen als solches konstitutiven Moments sind seit Platons Liniengleichnis vielmehr fast alle dialektisch Denkenden auf die ein oder andere Weise befaßt – jene Denker also, die wußten, daß es so etwas wie Wahrheit und Falschheit niemals im Medium der einfachen Vorstellung, niemals in Unmittelbarkeitsposition, sondern nur als Funktion eines logischen Ganzen, eines Totalitätshorizonts des bestimmenden Denkens gibt8. In einem so bestimmten Sinne ist Dialektik immer 8
Zum Verständnis der Dialektik in diesem Sinne vgl. Thomas S. Hoffmann, »Totalitätsgedanke und Grammatik der Freiheit. Über die bleibende Chance dialektischer Er-
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das Geltendmachen von Darstellungsanforderungen gewesen, unter denen der einfache Gehalt des Gewußten zugleich zu einer Funktion seiner Darstellung zu erheben war: daß der Verstand beispielsweise Verstandesobjekte erkennt, korrespondiert einer Darstellungslogik, die zu erkennen bereits den Schritt über den Verstand hinaus voraussetzt. Hegel freilich überbietet die klassisch-dialektische Frage der Form-Inhalts-Wechselbeziehung in der Erkenntnis noch einmal. Bei ihm wird die Bewegung der Darstellung zum Konstitutionsmoment nicht nur der Sache oder des Gewußten, sondern zugleich des bestimmten erkennenden Subjekts, das die jeweilige Erkenntnishandlung vollzieht und dabei nicht einfach »jenseits« seiner Darstellungshandlungen existiert. Wer ein Wissen zu haben meint, das er nur leider, und sei es aus Gründen sogenannter »Undarstellbarkeit« des Objekts, nicht zu artikulieren vermag, »hat« dieses Wissen nach Hegel in der Tat nicht – er wüßte sonst, was er »darstellend« zu leisten hat9. Schon, weil Wahrheit auf eine Übereinstimmung des Inneren und des Äußeren zielt, weil sie eine lebendige Identität des in der Vorstellung Intendierten mit dem Anderen der Vorstellung oder dem in ihr Absenten meint, muß die darstellende Übersetzung qua Schritt über die unmittelbare Gewißheit hinaus als schlechterdings wahrheitskonstitutiv angesehen werden. Dabei gilt auch der Einwand nicht, daß in der Darstellung wie in aller Übersetzung immer auch etwas anderes zum Vorschein käme als der »eigentliche« und primär gewußte Gehalt. Denn das Begreifen dieses Gewußten meint in jedem Fall die Bewegung des »Übersetzens« oder des »Metabolismus« der Vorstellung selbst. Wir wissen, daß, wer eine Fremdsprache nur »innerlich« spricht, in der Darstellung seines Könnens leicht auch etwas anderes zum Vorschein bringt als ein Beherrschen der Sprache. In der Tat ist dieses Andere, das die Darstellung, die »Ek-Thesis« oder »Ausstellung« unserer Vorstellung stets mitproduziert, wesentlich nicht nur ein akzidentelles Mißgeschick, welches dem »rein Gewußten« in der »Unreinheit« seiner Erscheinung widerfährt. Es ist vielmehr das Erscheinen der inneren Andersheit des nur scheinbar mit sich Identischen selbst, das ohne diese Andersheit gar nicht erschiene. Das Andere ist prinzipiell selbst Moment des sich erweisenden Wissens, ist die Erfüllung des Inneren an seiner Realität, die Bewährung des Wesens in der jetzt die Abstraktion der Innerlichkeit übersteigenden, sich so vollendenden Form. Hegels Forderung, innerung von Metaphysik«, in: Karen Gloy (Hg.), Unser Zeitalter – ein postmetaphysisches?, Würzburg 2004, 121–132. 9 Es gibt entsprechend nach Hegel nicht eigentlich ein »Undarstellbares« in der Philosophie, sondern nur logische Schranken bestimmter Darstellungsweisen, die ebenso viele bestimmte Negationen ihrer eigenen logischen Bestimmtheit sind. Das schlechthin Undarstellbare ist eine Fiktion des undialektischen Denkens oder der Metaphysik.
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alles Erkennen als lebendiges Darstellen und dabei gleichsam als absolutes Übersetzen des Inneren in das Äußere und vice versa zu verstehen, ist mit der Aufforderung, es mit dem Philosophieren tatsächlich einmal zu versuchen, wie sie die Vorrede insgesamt enthält, insofern sogar identisch. Und Philosophie ist – eben darin sind sich alle Dialektiker einig – etwas grundsätzlich anderes als der Versuch, sich im Medium widerspruchsfreier Vorstellungen widerspruchsfrei zu erhalten. Philosophie verflüchtigt sich nicht in nur mögliche Welten, sie hat sich gerade als dialektische einer Bewegung des Begriffs verschrieben, die im Wege der Darstellung, Ausstellung oder Exposition der Vorstellung die Kritik der nur einfachen Idealität ist. Noch einmal: Nur im Metabolismus des Darstellens spricht sich reales Erkennen aus, öffnet sich Realität der Subjektivität des Begriffs und findet sich dieser zugleich an seinem Anderen substantiiert. Kein Denken im Banne des logisch Möglichen oder der Possibilien dagegen erreicht je jene Selbsttranszendenz, mit der dann nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Geschichte der Erkenntnis beginnt10. Der Schritt von der Vorstellung zu ihrer Darstellung im (geschichtlichen) Leben der Erkenntnis als Moment der Verbegrifflichung meint insbesondere unter phänomenologischem Aspekt die Transposition des Wissens in das Medium seiner Erscheinung, damit aber in die als solche auch gewußte, gleichwohl unmittelbare Andersheit. Die phänomenologische Grundthese, daß die logische Struktur des wissenden Bewußtseins und die Struktur der Erscheinung des Wissens (im objektiven Sinne) logisch identisch sind, ist gerade im Begriff des sich-darstellenden Wissens begründet; in diesem Begriff ist dabei die unmittelbar konkrete Einheit von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein gedacht. Der Unterschied beider Seiten, der in der Welt der Erscheinung unmittelbar gleichwohl fortbesteht, ergibt sich nur daraus, daß sich das unmittelbare Bewußtsein gerade auch in seiner (Selbst-) Darstellung nicht in vollständig reflexiver Selbstdarstellung einzuholen vermag und darum auf eine unmittelbare Differenz bezogen bleibt, die für es selbst als ein »undarstellbar« Anderes an seinem Objekt erscheint11. Solange
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Erst das dargestellte und insoweit in die Erscheinung getretene Wissen vermag Gegenstand einer Wissenschaftsgeschichte, aber auch Motor von Geschichte (in der es immer um die Selbstauslegung des Menschen als eines Wissenden überhaupt geht) zu sein. 11 Daher erfordert die phänomenologische Methode, so sehr sie auf die Selbstevolution des Wissens setzt und von einem absoluten Subjekt-Objekt-Kontinuum ausgeht, am Ende immer noch eine methodische »Zuthat, wodurch sich die Reihe der Erfahrungen des Bewußtseyns zum wissenschaftlichen Gange erhebt, und welche nicht für das Bewußtseyn ist, das wir betrachten« (61). Das Bewußtsein bleibt auf sein Sich-Darstellen immer auch unmittelbar bezogen, es überspringt den Darstellungshorizont, in dem es sein Selbstbe-
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die Darstellung des Gewußten und die Selbstdarstellung des Wissens noch auseinanderklaffen, führt dann entsprechend alle Darstellung des Gewußten auf ein Anderes, an dem sich nicht nur das Wissen, sondern auch die gelebte Gestalt des Bewußtseins unmittelbar bricht. Wir begegnen dieser Dialektik so bereits in der sinnlichen Gewißheit, die im Versuch, das von ihr gemeinte Einzelne vollständig darzustellen, anstelle der reinen Einzelheit das rein Allgemeine, nämlich die abstrakte Kategorie des Hier und Jetzt oder Diesen, also das allgemeine Andere des tóde ti, ausspricht, damit aber sich selbst in ihrem logischen Defizit darstellt. Die sinnliche Gewißheit scheitert entsprechend wesentlich nicht etwa daran, daß andere sinnliche Gewißheiten ihr nicht beipflichten – dergleichen müßte ihr sogar noch gleichgültig sein, da ihr eine andere sinnliche Gewißheit ohnehin nicht sinnlich gewiß, also nicht »wahr« sein kann. Sie scheitert so nicht, wie es späterhin beim Gewissen der Fall sein wird, das sich selbst bereits über die fremde Gewißheit vermittelt, an einem unaufhebbaren Dissens, sondern daran, daß die eigene Exposition ihres Wissens, die Darstellung ihres Gedankens, diesen als einen anderen erweist, als er ansich oder darstellungslos zu sein schien. Nur handelt es sich, wie bereits angedeutet, bei dieser darstellungsinduzierten Alteration nicht etwa um einen Unfall des Denkens. Vielmehr beginnt mit ihr dessen eigentliche Schule, sofern es einen Inhalt gewinnen und realen Gehalt besitzen soll. Die strukturelle Differenz des Allgemeinen und des Einzelnen, deren Befestigung und Verobjektivierung gerade das Ergebnis des Versuchs ist, das sinnlich Unmittelbare unmittelbar auszusagen, ist dann, im nächsten phänomenologischen Schritt, unmittelbar die Bedingung der Möglichkeit dafür, das »Ding« der Wahrnehmung mittelbar auszusagen und so eine erste Gegenständlichkeit überhaupt zu fixieren. Das heißt dann, daß durch das Sich-Darstellen des sinnlichen Bewußtseins im Aussprechen seines Wissens hindurch dieses nicht nur selbst (sich selbst und anderen) erschienen ist, sondern darüber hinaus auch den Gegenstand der Erscheinung zur Erscheinung gebracht hat. Einen Gedanken nicht nur haben, sondern ihn äußern, heißt, allgemein gesprochen, eine Äußerlichkeit und einen Verifikationsraum überhaupt gewinnen, damit jedoch auch eine Eigendimensionalität des Gedankens, der sich als ein anderer zeigt, als er gemeint war; eine Eigendimensionalität ferner auch des Gegenstands, die sich gerade in der Macht, den Gedanken zu ändern, zeigt; schließlich eine solche des wußtsein gewinnt, nicht zugleich mit der Darstellung. »Erfahrung« ist der Bezug auf das zunächst »Undarstellbare«, an dem sich aber das Bewußtsein selbst in eine neue Gestalt »umkehrt«. Vgl. dazu auch: Thomas S. Hoffmann, »›Unsere Zutat‹. Zum näheren Verständnis eines methodologischen Motivs der ›Einleitung‹ zu Hegels Phänomenologie des Geistes«, in: Synthesis philosophica 43 (2007), 87–105.
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Denkenden selbst, der sich jetzt erst in seiner Subjektivität als das Andere seines Gegenstands, als das Ungegenständlich-Gegenständliche weiß. Prägnant würde Hegels These über die Darstellung damit lauten können: Nur das sich darstellend vergegenständlichende, d. h. selbst erscheinende Denken hat überhaupt einen Gegenstand; nur das sich in die Bestimmtheit stellende Bewußtsein hat überhaupt, wie auch für sich, Realität. Wir halten an dieser Stelle als Ergebnis des ersten Kreises unserer Überlegungen zur Methodenlehre der »Vorrede« zusammenfassend fest: Hegels phänomenologische Dialektik stützt sich auf die Einsicht in die Unverzichtbarkeit einer Darstellung alles Wissens und des damit verbundenen Erscheinen-Machens des Gedankens, wie sie einem tatsächlich gelebten Wissen bzw. dem Wissen des lebendigen Begriffs entspricht. Die Darstellung des Gedankens ist dabei ebenso der Ort seiner konkreten inhaltlichen Füllung (Realisierung) wie der der Stiftung seiner gegenständlichen Beziehung, seiner Wahrheit. Der Gedanke, der sich in seiner durch die Darstellung erwirkten Erscheinung so zum einen selbst erst bestimmte Gegenständlichkeit gibt, zum anderen dazu bestimmt ist, seine unmittelbare Versenkung in die Bestimmtheit über das Verständnis derselben im Sinne der bestimmten Negation als Funktion der Bewegung des Begriffs zu verstehen, ist nur auf diese Weise tatsächlich Medium der Wahrheit. Mit dem einen, dem Schritt in die unmittelbare Erscheinung, wird der phänomenologische Horizont als solcher eröffnet, mit dem anderen, der Erhebung in die die Erscheinung noch einmal fundierende Bewegung des Begriffs, die Bewegung der »absoluten Übersetzung«, wird zugleich der Schritt über die Phänomenologie hinaus angebahnt. Es kommt dann näherhin darauf an, beide Seiten als Funktionen ein und derselben Selbstbewegung des Begriffs zu verstehen, die der eigentliche »Motor« im Rücken der erscheinenden Bilder der Vorstellung ist. Die nächsten beiden Punkte mögen zu diesem Verständnis beitragen.
II. Werden des Wissens und der Bezug auf die Zeit Mit der Erinnerung an die Selbstbewegung des Begriffs im Medium des sich selbst zur Darstellung bringenden Wissens als entscheidendem Ansatzpunkt für Hegels phänomenologische Unternehmung kommen wir in der Tat leicht zu einem weiteren Methodenmoment, das für das Verständnis gerade einer erscheinungsbezogenen, d. h. phänomenologischen Dialektik von zentraler Bedeutung ist. Hegel selbst hat sich in Sachen Dialektik immer wieder an der Begriffskunst der Alten gemessen, und auch in der »Vorrede« findet Platons Parmenides als das »wohl größte Kunstwerk der alten Dialektik« (48) in die-
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sem Sinne Erwähnung. Dennoch liegt auf der Hand, daß Hegel die Dialektik nicht einfach als überkommene Methode rezipiert, sondern sie auch reformiert, daß er sie, etwa auf dem Gebiet der Kategorienanalyse, entscheidend vorangebracht, vor allem aber, daß er ihr ganz neue Themen- und Aufgabenfelder erschlossen hat – wofür wir nur etwa an die mit der Phänomenologie einsetzende Entwicklung einer historischen Dialektik wie überhaupt an das Unternehmen denken können, jenseits einer »objektiven« Dialektik der Begriffe das konkrete Bewußtsein als den Ort des unmittelbaren subjektiven Wissens in seinen sämtlichen Dimensionen dialektisch aufzufassen. Eine besondere Zuspitzung erreicht diese Neubestimmung der dialektischen Aufgabenstellung dabei mit Hegels Versuch, noch das Verhältnis von Zeit und Begriff dialektisch einzuholen, ja von diesem Punkt aus die Aufgabe der Philosophie insgesamt neu zu bestimmen. Hegels oben bereits erwähntes Selbstverständnis, einer Zeit anzugehören, in der der »Weltgeist« soeben unübersehbar Epoche gemacht hat, korrespondiert nicht nur dem Versuch, gerade diese konkrete Epoche statt einfach nur zu erleben und zu erleiden vielmehr denkend auch auszulegen. Hegel geht noch einen Schritt weiter: bei ihm werden nämlich das reale Erkennen und seine Zeit, der (nach metaphysisch-logischen Grundannahmen stets zeitenthobene) Begriff und die (noch bei Kant der Form nach das Andere des Begriffs darstellende) Temporalität ganz grundsätzlich füreinander geöffnet12. Auf welche Weise aber kann die Zeit als dem Begriff noch mehr als affines, vielmehr ihn realisierendes Moment des Begriffs gedacht werden? Wir müssen zur Beantwortung dieser Frage, die selbstredend mit der Frage nach der Darstellung des Begriffs schon verwoben ist, ein wenig ausholen und betrachten zu diesem Zweck zwei Thesen über die Form des Wissens bzw. der Subjektivität aus der »Vorrede«, die nicht immer in gebührender Weise berücksichtigt worden sind.
1. Das Subjekt als Ungleichheit überhaupt Das allgemeine Thema der Phänomenologie ist, nochmals der »Selbstanzeige« zufolge, »das werdende Wissen«, oder, wie es in der »Vorrede« in Abschnitt 27 heißt, das »Werden der Wissenschaft überhaupt, oder des Wissens« (24).
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Es liegt dabei auf der Hand, daß Kant insbesondere über den Schematismus der reinen Verstandesbegriffe seinerseits bereits eine begriffsaffine Umdeutung der Anschauungsform Zeit in Angriff genommen hat. Hegel wird, wie wir sehen werden, über Kant hinausgehend die Zeit als den gleichsam existierenden Schematismus der erscheinenden Welt und eben darin als den selbst erscheinenden Begriff verstehen können.
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Diese Bestimmung des phänomenologisch untersuchten Wissens durch das »Werden« scheint auf den ersten Blick eine (seins-)logische zu sein, die das unmittelbare Wissen zwischen dem leeren Sein oder Nichts auf der einen, dem Dasein auf der anderen Seite situiert. In der Tat jedoch handelt es sich nicht einfach nur um ein logisches Werden überhaupt, sondern um ein bereits konkretes Werden der Totalität, das zuletzt das Werden des Geistes durch seine Erscheinung zu sich selber meint. Der Unterschied, um den es hier geht, ist der, daß das einfache (logische) Werden als Moment des abstrakten Anfangs gleichsam noch horizontlos auf der Suche nach Bestimmtheit überhaupt ist, während im Falle des (begrifflichen) Werdens der Totalität des Wissens zu sich alle Bestimmtheit schon im Sinne der Selbstbestimmung im Blick ist. Das unmittelbare, einfache Werden des Wissens im Sinne des Themas der Phänomenologie als einer Philosophie des Geistes führt dann zwar einerseits auf ein durchaus daseiendes Wissen überhaupt, auf eine Unmittelbarkeitsposition, die jedoch stets nur eine Bestimmtheit der Selbstvermittlung des Wissens ist, durch welche »an sich« schon alle Unmittelbarkeit seines Daseins als aufgehoben gesetzt ist. Es gibt keine Unmittelbarkeit des Wissens, die nicht zur Gänze der absoluten Vermittlung, mithin aber – auf andere Weise als das einfache Dasein – gegen sich selber ungleich wäre. Wir betrachten zunächst dieses Motiv der Ungleichheit des Wissens oder der Subjektivität näher, in dem in der Tat die erste Korrespondenz zur Zeit als ihrerseits existierender Ungleichheit liegt. Ich zitiere für unseren Zusammenhang zunächst eine wichtige Passage aus dem 21. Abschnitt der »Vorrede«. Hegel spricht hier vom »Perhorreszieren« der Vermittlung, wie es in den forcierten Unmittelbarkeitsstandpunkten der Jacobi, Schleiermacher und anderer Sendboten der darstellungslosen Erkenntnis anzutreffen ist. »Diß Perhorresciren stammt« nach Hegel »aber in der That aus der Unbekanntschaft mit der Natur der Vermittlung und des absoluten Erkennens selbst. Denn die Vermittlung ist nichts anders als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist [1] die Reflexion in sich selbst, [2] das Moment des fürsichseyenden Ich, [3] die reine Negativität oder [4] das einfache Werden. Das Ich, oder das Werden überhaupt [!], dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst« (19). Die Vermittlung als solche oder das Werden des Begriffs ist hier die logische Genese des Ich, die Konstitution des Fürsichseins, die nicht einfach aus einer »unbewegten Sichselbstgleichheit« im Sinne der diversen Identitätsstandpunkte (etwa auch dem Schellingschen) erfolgen kann und die entsprechend, anders als zumal die transzendentale Apperzeption bei Kant, bei Hegel durchaus genetisch einholbar und logisch-geistphilosophisch vermittelt ist. Ich als das »einfache Werden« ist
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niemals nur einfache Tatsache, sondern Funktion einer umfassenden Selbstvermittlung des Wissens, als die es dann »objektiv« oder in der Erscheinung auch seine Geschichte hat. Hegel sagt an unserer Stelle aber noch mehr als dies, daß das Subjekt in geistphilosophischer Perspektive eine »Geschichte« und schon insofern auch »seine Zeit« hat. Er sagt ebenso, als was sich das Subjekt oder das Ich ergreift und findet: als das »einfache Werden«, ja, sofern es sich hier um das Werden des Begriffs handelt, als »reine Negativität«. Die Bestimmung der »reinen Negativität« sagt, daß das Subjekt (qua aktuoses, nicht passives Wissen) nicht einfach abstrakt identisches (dingliches) Selbstsein, sondern als die Vermittlung selbst bzw. die »sich bewegende Sichselbstgleichheit«13 die einfache Ungleichheit und gerade in diesem Sinne zunächst Prinzip des »werdenden Wissens« ist. Daß sich das Subjekt gerade in der Phänomenologie zunächst immer als die einfache Ungleichheit findet, läßt sich an Hand zahlreicher Beispiele leicht in Erinnerung rufen: denken wir nur etwa schon an die Wahrnehmung, in der sich das Subjekt als Prinzip der Täuschung versteht; denken wir an das Selbstbewußtsein, in dem es sowohl als Begierde wie auch in seiner unmittelbaren Stellung gegen das andere Subjekt eine asymmetrische Stellung einnimmt; denken wir daran, daß sich das Selbstbewußtsein eben als das verzweifelte, »unglückliche Bewußtsein« vollendet; daß es sich (auf der Stufe der unmittelbaren Vernunft) ins Ding und das unendliche Urteil hinein projiziert; daß es sich auf der Stufe der Bildung notwendig in der Entfremdung findet usw. In allen genannten Beispielen stößt sich das Subjekt als ihrer selbst bewußte Ungleichheit von der äußeren Erscheinung ab, in der es sich gleich zu sein zwar jeweils hoffte, der gegenüber es sich aber doch nur als »Zweck, der noch ein Innres, nicht als Geist, [sondern] nur erst geistige Substanz« ist (23), findet. Auf das Moment des Zwecks im Subjekt werden wir gleich noch zurückkommen; hier geht es darum, daß in der Negativität der Subjektivität überhaupt das Prinzip der Befreiung des Zwecks aus seiner substantiellen Verborgenheit liegt. Subjektivität ist, was das gleiche heißt, als solche die Antizipation der selbstzweckhaften Vermittlung des absoluten Wissens, ist sich in ihrer gerichteten Selbstvermittlung »sättigende« Forderung, daß absolutes Wissen überhaupt und als unmittelbares sei. Die definitive Erfüllung der Forderung hieße dann im Sinne der berühmten Kernformulierung des 17. Abschnitts, daß »das Wahre nicht als Substanz« (d. h. 13
Hervorhebung vom Verf. Hegels Wendung von der »sich bewegenden Sichselbstgleichheit« bringt präzise zum Ausdruck, daß alles unmittelbare Wissen sich nur als den Widerspruch erfahren kann. Erst das Zugrundegehen der Unmittelbarkeit des Wissens an der Substanz löst den Widerspruch in das Selbstbewußtsein des erfüllten Begriffs hinein auf.
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in einfacher Gleichheit mit sich), »sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«, daß es als sich realisierender Zweck zu denken wäre (18). Im 32. Abschnitt kann Hegel dann davon sprechen, daß das Subjekt selbst »die wahrhafte Substanz« ist, da »es der Bestimmtheit« (und mit dieser eben der Negativität) »in seinem Elemente Daseyn gibt, die abstracte d. h. nur überhaupt seyende Unmittelbarkeit aufhebt« und selbst jenes »Seyn oder die Unmittelbarkeit« ist, »welche nicht die Vermittlung außer ihr hat, sondern diese selbst ist« (28). Zuvor schon war wiederum davon die Rede gewesen, daß »die lebendige Substanz … das Seyn« sei, »welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist«. An dieser Stelle heißt es weiter: »Sie ist als Subject die reine einfache Negativität, ebendadurch [wir verstehen wiederum: als unmittelbare Ungleichheit ihrer selbst] die Entzweyung des Einfachen, oder die entgegensetzende Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist; nur diese wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Andersseyn in sich selbst … ist das Wahre« (18). Der hier ausgesprochene Gedanke ist, daß die Subjektivität qua Negativität auf der einen Seite überhaupt die Dissoziation der einfachen Gleichheit mit sich oder des Seins, auf der anderen Seite aber nicht einfach nur die Zerstreuung des Seins in das Beziehungslose, sondern als Negation eben der bloß beziehungslosen Andersheit (Verschiedenheit) seine Aufhebung in die absolute Beziehung, in die tätige, die Einheit realisierende negative Wirklichkeit des Geistes hinein ist. Ein sprechendes Beispiel für diesen Zusammenhang mag man – wie bei Hegel so oft – auch hier in der Sprache finden, die auf der einen Seite – nämlich als daseiendes Denken, als allgemeine Idealität der Dinge – als Instanz der Negativität so etwas wie die absolute Unruhe ins Sein bringt und sich selbst vom Sein in seiner toten Gleichheit unterscheidet, das Sein jedoch zugleich im Laut oder Schriftzeichen seiner Positivität nach unterläuft, indem sie es zwingt, einem anderen, tätigen Sein, dem Sein des totalisierenden Geistes in ihr, Realität zu geben, einem Sein neuer Stufe, in welchem in der Tat ersprochene Welt und selbstbewußter Zweck, eben Substanz und Subjekt, zusammenfallen. Ein anderes Beispiel mag der Begriff des Lebens abgeben, in dem nicht minder ein Metabolismus von positiver Erstreckung und negativer Beziehung auf sich anzutreffen sind; Hegel spricht so denn auch nicht zufällig vom Subjekt als »lebendige[r] Substanz« (18) oder der »reinen Unruhe des Lebens und absoluten Unterscheidung« (34)14. Aber wie dem auch sei: es ist klar, daß der 14
Vgl. zum Hegelschen Begriff des Lebens und seiner immer auch systematisch-logi-
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Zielbegriff der Phänomenologie eine Wirklichkeit ist, die sich einer sich auf ein »tätiges Sein« hin beständig übersteigenden Subjektivität verdankt, einer Subjektivität, die als Realisierung und selbst Realisat des absoluten Wissens selbst schon Geist und Wissenschaft ist.
2. Autoteleologische Bewegung des Wissens Die Phänomenologie thematisiert nach dem oben herangezogenen Zitat über das werdende Wissen und auch nach den bisherigen Ausführungen das Wissen oder die Wissenschaft als »dynamische« Größen, sie spricht vom Wissen in wesentlich tätig-transitorischer Gestalt. Die Phänomenologie behandelt das Wissen dabei als »absolute Form« (23), als sich selbst erzeugendes Verhältnisganzes, das in seiner Totalität gerade nicht von externen Voraussetzungen oder Bedingungen seiner Möglichkeit her aufgeschlossen werden kann. Indem sie das Wissen, das schlechthinnige Vermitteln und absolute Übersetzen, in diesem Sinne als den eigentlichen Akteur bzw. das absolute Subjekt in allen Wissenswelten thematisiert, versteht sie es als sich rein selbst voraussetzend, als seine eigene Vermittlung, hinter die nicht nochmals in ein Anderes dieser Vermittlung, das dann wesentlich Nicht-Vermittlung wäre, zurückgegangen werden kann. Es gibt so etwas wie einen »ontologischen Wissensbeweis«, der da sagt, daß nach dem Wissen nicht anders als bereits überhaupt wissend gefragt werden kann. Damit ist nicht gesagt, daß sich das Wissen, gerade auch das nur erscheinende Wissen, selbst schon ausdrücklich als sich selbst voraussetzend bzw. gar als absolute, nichts als sich selbst voraussetzende Form verstünde; das Gegenteil ist, wie wir wissen, auf allen Stufen des nicht abschließend schon vermittelten, also des absoluten Wissens der Fall – auch wenn es im Gang der Phänomenologie, wir denken hier nur etwa an den Fall der Vernunft oder des Gewissens, immer wieder zu Antizipationen der reinen Selbstvermittlung kommt. In seinen erscheinenden Gestalten bricht sich jedenfalls stets das Wissen grundsätzlich noch in die Differenz seiner selbst und seiner Voraussetzung, d. h. es versteht sich zumindest auch als passiv oder extern vermittelt – und das eben meint: als auf die ein oder andere Weise gegenständlich bestimmt. Erst auf der letzten Stufe der phänomenologischen Leiter, auf der
schen Bedeutung trotz anderer systematischer Prämissen etwa Pirmin Stekeler-Weithofer, »Gehört das Leben in die Logik?«, in: Helmut Schneider (Hg.), Sich in Freiheit entlassen. Natur und Idee bei Hegel, Frankfurt am Main 2004, 157–188 sowie den Beitrag von Annette Sell in diesem Band!
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Stufe der Überwindung des erscheinenden in das »absolute Wissens« hinein, realisiert sich, wie wir wissen, die vollständige Selbstbeziehung des Wissens in allen, auch den zunächst uneingeholten Momenten desselben, erkennt sie sich zugleich als die bislang verborgene Wahrheit der Erscheinung. Erst auf dieser Vollendungsstufe der Transparenz des Wissens ist dann »das Geistige«15, in dem an sich von allem Anfang an die endliche wie die unendliche Objektivität, das Leben und die Formen seiner inneren Bildung aufgehoben waren, auch für sich selbst »allein … das Wirkliche« geworden; es ist jetzt überhaupt »das sich Verhaltende oder bestimmte … und in dieser Bestimmtheit oder seinem Aussersichseyn in sich selbst bleibende« (22). Das Wissen ist so als reine, sich selbst erhaltende Aktuosität der Totalität des wirklichen Geistes bzw. der Wirklichkeit als der des Geistes gedacht, als eine ungehinderte Tätigkeit, die in keinem ihrer Momente ein noch abstrakt Anderes, Unbegriffliches außer sich hätte. Die Dialektik der Erscheinung bricht so zum einen die Statarik der Vorstellung auf ein überhaupt aktuoses Verständnis des Begriffs hin auf, von dem auch unter dem Stichwort der »einfachen Ungleichheit« schon die Rede war und das sich insoweit auch in der Nachfolge der Kantischen Apperzeption bzw. des Fichteschen Ich befindet. Bei Hegel geht es jedoch nicht alleine um eine (transzendentalphilosophische) Reduktion des faktisch Gewußten auf den Wissensvollzug; es geht nicht um Aktuosität überhaupt, es geht um eine immer schon gerichtete Aktuosität, in deren Kulminationspunkt sich die absolute Totalität als in der Tat autonome, durch sich selber letztbegründete Wirklichkeit erfaßt. Das Wissen ist so auf der einen Seite überhaupt (als sich erkennender Geist) umfassende und autonome Wirklichkeit, in dieser Autonomie jedoch auf der anderen Seite nicht einfach eine seiende Unvermitteltheit gegen das Andere seiner selbst, sondern selbst die Vermittlung der eigenen Autonomie mit seinem Anderen. Wie Hegel in anderem Zusammenhang Geschichte als »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« verstehen kann, ohne doch darum »die Geschichte« zu einer die Autonomie des Bewußtseins von »außen« her beschränkenden Macht zu erheben, ebenso gilt für das Wissen als Tätigkeit, daß es wesentlich »Werden der Wissenschaft«, d. h. Fortschritt im Bewußtsein der Tätigkeit ist, ohne darin die Vollstreckung einer äußeren Notwendigkeit gesehen werden müßte. Oder, in wenigen Worten: das Wissen, wie es die Phänomenologie thematisiert, ist einerseits überhaupt ursprünglich freier Akt, andererseits »entelechial« auf die Realisierung eben der eigenen Freiheit als Vollendung 15
Das hier, wie kaum eigens erwähnt werden muß, natürlich niemals nur als das Subjektiv-Geistige oder Mentale verstanden werden darf, sondern als Letzthorizont der sich vermittelnden Totalität zu nehmen ist.
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von Selbstbestimmung bezogen und steht in diesem Sinne in einer »(auto-) teleologischen« Ordnung, die jedoch kein »metaphysisch« vorgegebenes Gesetz, keine abstrakte »Weltordnung« meint. Tätiges Wissen ist autonome Form, ohne darum in der Formalität seiner Tätigkeit befangen zu sein; es ist Prozeß freier Selbstaneignung des Inhalts schlechthin. »Omne possibile exigit existere«, heißt es in noch ontologischer Meinung bei Leibniz; bei Hegel gilt Analoges für die innere Öffnung des Wissens als (absoluter) Form auf seine Realisierung gerade auch am zunächst unvermittelt erscheinenden Gegenstand hin. Die These, daß alles Wissen in sich schon gerichtetes (und sich daher in seiner unmittelbaren Bestimmtheit auch stets von sich aus richtendes) Wissen ist, ist für den Hegelschen Wissensbegriff in der Tat von größter Bedeutung und hilft uns, den elementaren Zeitbezug des Begriffs näher zu fassen, dessen entscheidender Grund eben in der »autoteleologischen« Bestimmtheitsgerichtetheit des Begriffs liegt. Ein einfacher Ausdruck für diese Bestimmtheitsgerichtetheit des Wissens liegt dabei schon in Hegels Formulierung, »daß die Vernunft das zweckmäßige Thun«, ja daß schon ihr unmittelbarer »Anfang Zweck ist« (20)16. Worum aber geht es bei der Frage nach dem Zweck der Vernunft im Gegensatz gegen Konzepte ihrer »Ateleologie«? Der systematisch entscheidende Punkt betrifft, in Kürze gesagt, in letzter Instanz die Kontroverse zwischen den Eleaten und Platon – die Kontroverse nämlich, ob sich das Wissen als ein »Identitätssystem«17 darstellen lasse oder aber als bestimmtheitsgenerativer, die Differenz erst setzender Prozeß der Suche nach sich selbst zu denken sei. Hegel votiert wie Platon für ein Wissen, für eine Vernunft, die als (unendlicher) Selbstzweck, nicht nur als zuletzt nur abstrakte Form der Wahrheit verstanden ist. Dieses Votum ist dadurch approbiert, daß die unmittelbare Ungleichheit, die Negativität des Wissens nicht einfach als Prinzip der »Chaotisierung« verstanden werden kann, sondern als ein solches der »sich bewegenden Sichselbstgleichheit«, als Prinzip der dynamischen Einheit aufgefaßt werden muß. Gerade als Prinzip der dynamischen Einheit aber erweist sich das Wissen als Zweck, als reflexives Ganzes, als Prinzip der (Selbst-)Gestaltung der Totalität. 16
Die »Teleologielastigkeit« des Hegelschen Denkens, die zuletzt mit Hegels Begriff von Vernunft als »zweckmäßigem Tun« zusammenhängt, ist oft als »metaphysische« Hypothek verstanden und denunziert worden – wobei nur nicht einzusehen ist, wieso eine These von der »Ateleologie« der Vernunft weniger »metaphysisch« sein soll als ihr Gegenteil, im übrigen aber Hegels Pointe, daß alle Teleologie dialektisch als »Autoteleologie« zu entschlüsseln ist, gar nicht gesehen ist. 17 Durchaus auch im Sinne Schellings, der hier prinzipiell auf der Seite des Eleatismus steht.
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3. Das logische Dasein Damit jedoch zurück zu der Frage, von der wir in diesem Abschnitt ausgegangen sind: wie genau ist die dialektische Affinität von Philosophie und Zeit, die Konvergenz von Denken und epochaler Gestaltung, wie Hegel sie in der Phänomenologie behauptet, zu verstehen? Die Antwort auf diese Frage ist mehrschichtig, läßt sich unseres Erachtens aber ohne zu große Gewaltsamkeit auf einige wesentliche Punkte reduzieren. Mit der Zeit meinen wir im Kontext der Phänomenologie zunächst niemals nur eine quantitative Dimension, niemals nur eine äußere Metrik des Daseins. »Zeit« denkt Hegel qualitativ als das erscheinende Negative, die existierende Unruhe und Unterscheidung, »in« welcher oder als welche der Begriff, die Bewegung des Übersetzens, da ist. »Zeit« ist entsprechend nach der wiederum sehr bekannten Formulierung des 46. Abschnitts »der daseyende Begriff« selbst (34) – was nicht heißt, daß sie uns (wie mitunter der naive Gegenwartsoptimismus meint) kraft ihrer eigenen Autorität das Denken abnimmt, wohl aber, daß wir es in ihr mit einem dialektischen Schema der Logizität des Daseins überhaupt zu tun haben. Dergleichen klingt solange merkwürdig, wie man die Zeit nur als abstrakte, (vermeintlich) positive »Naturtatsache«, nicht jedoch (wie gesagt: qualitativ) als jenes innere Ändern der Erscheinung selbst versteht, in dem sich diese mitten in ihrer Unmittelbarkeit negiert, aufhebt und auf ihr Anderes hin übersteigt. Das Ändern der Erscheinung, als welches die Zeit erscheint, ist – im Sinne des logischen gedoppelten Gegensatzes oder der Selbstanwendung der Differenz – zum einen das Ändern der konkreten Erscheinung oder ihr Werden zu einer überhaupt anderen Erscheinung – so, wie »im Laufe der Zeit« die Knospe erblüht und die Blüte zur Frucht wird. Das Ändern der Erscheinung ist jedoch ebenso und zum andern das Manifestwerden des Anderen der Erscheinung, die sich von der Erscheinung abstoßende Erweisung der lebendigen Substanz, die selbst nicht erscheint, aber die negative Einheit etwa des organischen Rhythmus von Knospe, Blüte und Frucht, des Rhythmus der Jahreszeiten, nicht zuletzt aber auch der »Rhythmen« der geschichtlichen Welt bildet und insofern auch erst die Richtung des Bestimmtheitsprozesses bestimmt. Ganz allgemein gesprochen ist die Zeit so die Instanz der Negativität auf der Ebene der Erscheinung, der Ort ihrer absoluten Ungleichheit mit sich, an der doch zugleich ihr Grund und in diesem die Totalität aufgeht. Insofern aber kommt mit der Zeit dem Subjekt von Seiten des Objekts gleichsam entgegen, was es auch in sich selbst ist18 – 18
Vgl. entsprechend etwa aus der Jenenser Philosophie des Geistes (GW 8, 287): »Die Zeit ist der reine Begriff – das angeschaute leere Selbst in seiner Bewegung …«. Für den
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die Bewegung des Begriffs überhaupt, die Äußerlichkeit als negierte, als als aufgehoben gesetzte. Die Zeit ist, wenn man so will, der dialektische Schematismus der Welt, in dem diese gleichsam auf erster Stufe idealisiert, damit jedoch auch an sich selbst dem Begriff vindiziert ist. Es ist der entsprechende zeitliche Schematismus der Dinge, auf den sich sozusagen von Seiten der Substanz das phänomenologische Versprechen stützt, dem Bewußtsein seine »vollständige Weltlichkeit« zu erschließen (29). Und es ist diese verborgene logische Funktion der Zeit als des (sit venia verbo!) objektiv Negativen, die dem Subjekt überhaupt das Entree zu den Dingen gewährt. Was zeitlich ist und so immer auch nicht, sondern idealisiert ist, ist eben darum nicht nur an sich, sondern für anderes und also – verständlich. Das ist jedoch noch nicht alles. Nach Hegels Auffassung über die Rolle der Phänomenologie ist die Zeit nicht nur das dialektische Schema oder das Medium, durch das sich die Substanz als dem Subjekt erschlossen erweist und beide ihre Entsprechung finden. Die Zeit ist in dem dargestellten Sinne vielmehr auch das Medium des Selbstverhältnisses der Substanz, damit aber die Form ihrer Selbstbestimmung oder der Ort ihres Manifestwerdens als bestimmter. Zeit, verstanden wiederum nicht als quantitative Formbestimmung, sondern als »der daseyende Begriff«, setzt stets auch reale, qualitative Schnitte und Existenzen. Zeit »tilgt« nicht einfach nur das Erscheinende, sie setzt vielmehr überhaupt Bestimmtheit, was vor allem für den historischen Kairos, den logischen Wendepunkt einer objektiv-geistigen Konstellation gilt. Hegel hat, wie man weiß, im Gang der Phänomenologie auf mehrere solcher »Kairoi« angespielt, der bekannteste ist der der Revolution, in dessen Zeichen das Seiner-selbst-Gewißwerden des Geistes beginnt. Im Kairos tut der Geist oder die geschichtlich-erscheinend tätige Substanz nach Hegel einen »qualitative[n] Sprung« (14), stellt er, »ein Blitz[,] in einemmahle das Gebilde der neuen Welt« hin (15). Im Kairos meldet sich, wie man auch sagen kann, die Totalität als Grund der Erscheinung, und zwar auf die Weise eines Knotenpunktes, von dem aus eine neue Kette von Erscheinungen anhebt. Für eine Phänomenologie ist eine entsprechende Kairologie selbstverständlich von großer Bedeutung, markiert sie doch die Punkte, in denen sich die endlichen Semantiken des erscheinenden Wissens jeweils neu organisieren, von denen her darum auch das Bestimmtheitsbedürfnis unseres Wissens zunächst befriedigt ist. In letzter Instanz aber ist der Kairos wohl das entscheidende Beispiel in der Erscheinung für das, was Hegel das »unmittelbar logische[] Daseyn« nennt (41): der Knoten in der Erscheinungsfolge, in dem Zusammenhang vgl. u. a. St. Majetschak, Die Logik des Absoluten. Spekulation und Zeitlichkeit in der Philosophie Hegels, Berlin 1992, 266–290.
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der Logos selbst präsent, das Wissen Gegebenes, das Subjekt Objekt und auch umgekehrt ist. Es geht hier darum, daß der bewegte »Stoff« der Erscheinung, die Zeit, sich bis zum Punkt der inneren Umwendung und der Aufhebung der Erscheinung, bis zur Präsenz ihres Telos oder eben zum logischen Dasein erhebt. So, wie alles (erscheinende) Denken von einem logischen Kairos her und wieder auf ihn zu denkt, so lebt der Geist in der Erscheinung auch von den Momenten der Transparenz her und auf sie zu. Was historisch, d. h. in objektiver Bestimmung des Kairos, dabei notwendig ambivalent, weil der unmittelbaren Richtungslosigkeit der Erscheinung verhaftet bleibt, hindert doch nicht, daß zugleich die Philosophie sozusagen den »ewigen Kairos« in sich birgt und zur Geltung bringt, indem sie die Aufhebung aller Erscheinung in die reine Selbstbewegung des Begriffs hinein betreibt. Insofern ist dann freilich auch der bestimmte historische Kairos – auch der Kairos der Phänomenologie – für die Philosophie niemals mehr als das Beispiel oder der Anstoß, sich auf den Weg zu sich, d. h. zum in sich begründeten Erkennen zu machen. Philosophie produziert ja stets selbst das »unmittelbar logische Dasein«, indem sie Erscheinung ins Denken und dieses in die Erscheinung setzt, dabei aber den Punkt absoluten Fürsichseins erreicht, der nicht der Zeit, sondern dem Wissen als solchen gehört. Fassen wir auch diese Überlegungen thetisch zusammen, so lautet das Ergebnis: als Ungleichheit überhaupt, d. h. als Vollzugsform, wie auch als (selbst-)zweckhafte Bewegung holt sich das Wissen nur als auf Bestimmtheit gerichteten, Differenz produzierenden Prozeß, nicht als einfaches Gleichsein mit sich ein. Das Wissen hat insofern gerade in seiner Darstellung in der Erscheinung notwendig Zeitbezug, es ist konstitutiv nicht einfach zeitenthoben. Die Philosophie weiß dabei die Zeit – die Ungleichheit in der Erscheinung, die doch zugleich den Grund des Erscheinens und damit auch die Totalität und Richtung desselben evoziert – als die äußere Form ihrer eigenen Selbstübersteigung auf den sich selbst transparenten Geist hin. Sie erkennt in der Zeit als dem dialektischen Schematismus der Welt sowohl den »objektiven« Begriff, welcher dem Erscheinen den Rhythmus und die Bestimmtheit gibt, wie überhaupt das Medium ihrer Idealität. Zugleich ist die Koinzidenz von Denken und Zeit im Augenblick der äußersten Transparenz jene entscheidende, das Erscheinungswissen überwindende Erfahrung, die das Denken sowohl mit dem »logischen Dasein« wie auch mit der Möglichkeit seiner reellen Erfüllung macht. Das Denken, das sich auf sie, die Erfüllung, hin übersteigt, ist auf der phänomenologischen Leiter zugleich zum ewigen Kairos des absoluten Wissens gelangt.
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III. Dialektische Identität Die mit Hegels Kairologie angesprochene Lehre vom »logischen Dasein«, die man durchaus als prägnanten Ausdruck des Hegelschen Idealismus insgesamt nehmen kann, führt uns auf einen letzten Aspekt aus der »Vorrede«, der hier, wenn auch nur noch in Kürze, zur Sprache gebracht werden soll. Wir haben eingangs gesagt, daß die »Vorrede« eine entschiedene Aufforderung zum Philosophieren darstellt, und wir haben auch einiges darüber gehört, was nach Hegel dann im einzelnen unabdingbar für alles dialektische Philosophieren ist: die Vollendungsbewegung des Wissens durch seine eigene Darstellung hindurch und damit in seine Alteration hinein; das Begreifen des Subjekts als eines tätigen logischen Werdens hin zur Bestimmtheit und zugleich als des Zwecks der Vernunft; schließlich die kairologische Koinzidenz als Beispiel und Vorschein der absoluten, nicht mehr der Erscheinung und Fremdvermittlung verhafteten Transparenz. Nicht schwer ersichtlich ist, daß es hier überall – in der Darstellung wie in dem Zeitbezug alles Wissens – um eine dialektische Einheit von Sein und Denken geht, die Hegel selbst an zentraler Stelle der »Vorrede« thematisiert und die wir uns zum Schluß noch etwas genauer vergegenwärtigen wollen. Ich gehe dabei auf den überaus wichtigen 54. Abschnitt der »Vorrede« ein, in welchem Hegel seinen (insoweit) »parmenideischen« Grundansatz der Identität von Denken und Sein erläutert; es ist dann übrigens von diesem Ansatz her, daß zwei Abschnitte weiter die Lehre vom »unmittelbar logischen Dasein« eingeführt werden kann19. Der genannte Abschnitt beginnt mit einer Anknüpfung bei der Koinzidenz von Substanz und Subjekt, die in der absoluten Negativität aller Art Selbstbeziehung – der Selbstbeziehung der ansichseienden Selbigkeit einerseits, der Selbstbeziehung des fürsichseienden Selbstseins andererseits, der notwendigen und der freien Identität mit sich – wurzelt: »Dadurch überhaupt«, so lesen wir, »daß … die Substanz an ihr selbst Subject ist, ist aller Inhalt seine eigene Reflexion in sich«, d. h. das bestimmte Sein überhaupt ist seiner substantiellen Bestimmtheit nach eo ipso auch als Fürsichsein (als Selbstbeziehung z. B. im Sinne der Selbsterhaltung) gesetzt – substantielles Bestehen meint ja nichts anderes als ein Bestehen aus eigener Macht, in sich selbst bewährender Identität. In diesem Sinne aber kann Hegel in spekulativ-logischer 19
Die hier in Kürze angesprochene Problematik rückt in jüngerer Zeit wieder verstärkt in den Aufmerksamkeitsschwerpunkt der Hegelinterpretation; vgl. hier nur Urs Richli, »Gedanke und Sache«, in: Synthesis philosophica 43 (2007), 33–58, sowie Wilhelm Lütterfelds, »Hegels Identitätsthese von der Substanz als Subjekt und die dialektische Selbstauflösung begrifflicher Bestimmungen«, ebd. 59–85.
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Bestimmung fortfahren: »Das Bestehen oder die Substanz eines Daseyns ist die Sichselbstgleichheit« – es ist ein objektives Identischsein, welches keine die Substanz antastende Differenz zuläßt, »denn seine Ungleichheit mit sich wäre seine Auflösung« – ein Argument, das wir beispielsweise von der leibnizschen Metaphysik der Monade her kennen. Wenn Substantialität auf diese Weise aber die tätige Überwindung der Differenz, besser: die Umkehrung der erscheinenden Differenz in die negative Einheit identischen Seins hinein ist, dann ist, was wir mit der Substanz meinen, nichts anderes als das Prinzip der Negation der differenten Erscheinung, ist sie in dieser Negation »die reine Abstraction« von der Differenz und als diese, wie Hegel nur scheinbar kühn, in Wahrheit aber ganz parmenideisch sagt: »das Denken« (39). Es ist klar, daß hier weder »Abstraktion« noch »Denken« als psychologisch zu fassende Akte verstanden sind. Beide sind vielmehr nur als Funktionen der Bewegung »ein und desselben« Begriffs, d. h. der logischen Versammlung der Erscheinung in ihren Grund verstanden, die aus sich selbst heraus ebenso idealitätswie identitätsproduktiv ist. Die vorgetragene Überlegung gilt freilich nicht erst für das bereits komplexe System der Substanz, sondern, worauf Hegel im nächsten Beispiel aufmerksam macht, bereits für die einfach bestimmte Qualität, also die unmittelbare Bestimmtheit. Qualitative Bestimmtheit, sagen wir die Bestimmtheit dieser Farbe, setzt zum einen den Unterschied (der Farben), zum anderen das Dasein (dieser Farbe), es setzt damit das unterschiedene Dasein, dieses jedoch als »in sich« in aller Differenz identisches – mithin aber einen Gedanken, denn der Gedanke ist, absolut oder spekulativ genommen, das seiende Fürsichsein, die existierende Abstraktion, gleichgültig zunächst, ob (psychologisch) in jemandes Kopf oder (in logischer Betrachtung) schlicht und einfach als Abstraktion als solche. »Hierin ist es begriffen«, sagt Hegel kurz und bündig, »daß das Seyn Denken ist« (ebd.). Alles Sein ist selbst die Rückführung in seine Idealität; es ist etwas nur, insofern es mehr ist als etwas, und der philosophische Idealismus ist daher auch nicht ein Denken, das dem Sein »von außen« eine bestimmte Interpretation zumuten will, sondern das es bei seiner eigenen inneren Sammlung auf die eigene Idealität hin ergreift. Wiederum gilt hier, um auf den vorigen Abschnitt zurückzukommen, daß das erscheinende Schema dieser Sammlung des Seins zunächst die Zeit ist, weshalb man die Zeit auch als eine Aufhebung alles Seienden in den Gedanken (eben als Idealismus) verstehen kann, die durchaus nicht nur unser eigenes akzidentelles Tun ist, sondern eine Funktion der Identität des Objekts, eine Funktion seiner Natur und Substanz. Hegel spricht im Blick auf die entsprechende – wie wir sagen können – »Selbstidealisierung« des Gegenstands, an Anaxagoras anknüpfend, vom »Verstand des Daseyns«, der sich, sofern er
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sich vom logischen »Werden« des Objekts her zu explizieren vermag, noch zur »Vernünftigkeit« steigert (40). Als Werden aber und Selbstbewegung des Begriffs aufgefaßt ist das Objekt dieselbe Ungleichheit gegen sich, dasselbe Sich-Übersetzen in seine Differenz, die auch das Subjekt ist. Diese Ungleichheit, in der das Subjekt wie auch das Objekt gleich sind, ist als die Ungleichheit ihrer Natur oder des Begriffs eine absolute, und so lautet die Grundlegung des Idealismus der Phänomenologie zuletzt: es ist das reine Selbstsein in aller Selbigkeit, das negative Selbstverhältnis als Realgrund objektiver wie subjektiver und daher absoluter Identität, welches auch die letztinstanzliche Selbigkeit alles objektiven und subjektiven Moments ausmacht. Was immer ein Selbes ist, d. h. sich als solches bewährt, ist dies notwendig nicht nur als abstraktes Identischsein, sondern in jeder Hinsicht, also gerade jenseits der Differenz der Erscheinung. Die Reflexion der Sache in sich (ihre reelle Identität) ist nicht einfach nur der Grund unserer Reflexion, sondern auch der Grund unserer Reflexion in uns gegen die Sache, und der Begriff, der als unmittelbare Selbstdisjunktion die eine wie auch die andere Reflexion ist, ist eben darin der Grund einer Wahrheit, die aus ihrer Darstellung in der Erscheinung über diese hinaus in das Selbstverhältnis des Erkennens führt. Eine Identität der Sache, die eine andere als die Identität des tätigen, sich darstellenden Begriffs der Sache wäre, die also nicht aus der Selbstunterscheidung der Sache oder des Selben stammte, ist nur dazu bestimmt, in der Erscheinung mit dieser selbst zu verschwinden. Die Identität der Sache dagegen, welche die des Begriffs, d. h. eine Funktion seines Lebens ist, ist dann auch die Macht, die über die Erscheinung hinaus einen umfassenden Partizipationszusammenhang stiftet. Der Name, den Hegel diesem umfassenden Partizipationszusammenhang gibt, ist, wie wir wissen, »Geist«. Die Phänomenologie des Geistes ist, von ihrem Ende her gelesen, eine Konstitutionstheorie dieses Partizipationszusammenhangs. Auch die hier dargestellten Schritte durch die Darstellung als Moment der spekulativen Erkenntnis, die Zeit als Bestimmtheitsmoment des Wissens und die reine Identität des Wissens hindurch zeigen Momente der Konstitution einer auf Partizipation hin sich öffnenden Totalität auf. Ihr eigentlicher Kern ist dabei das in sich selbst begründete Wissen, von dem die Philosophie anhebt und auf das die Phänomenologie führt. Die Dialektik dieser Hinführung wird sich im näheren Gang von Hegels erstem Klassiker in concreto ergeben.
»Wahrhafte Erfahrung«. Zur Spezifik von Hegels phänomenologischem Erfahrungsbegriff Ralf Beuthan (Jena)
I. Idealismus und Erfahrung Es ist eine verbreitete Auffassung, daß idealistische Positionen kaum oder gar keinen Sinn für Erfahrungswissen haben. Denker wie Fichte, Schelling und Hegel standen und stehen in dem Ruf, die Welt apriori (›vor aller Erfahrung‹) allein aus einer selbstgenügsamen Subjektivität heraus zu entwikkeln. Und insbesondere bei Hegel, der Anspruch auf ein »absolutes Wissen« macht, kann es den Anschein haben, als ob Erfahrung epistemologisch irrelevant sei. Man mag noch einräumen, daß wohl auch Hegel zumindest für bestimmte Bereiche – im alltäglichen Leben oder in den Naturwissenschaften – die Rolle der Erfahrung akzeptierte, aber im Bereich der Philosophie, in der doch die »Vernunft«, nach Hegel, »nur mit sich selbst beschäftigt« ist, scheint Erfahrung ortlos. Gegen diesen Anschein eines erfahrungslosen, selbstgenügsamen Wissens idealistischer Philosophie ließe sich wohl in vielerlei (systematischer und historischer) Hinsicht argumentieren. Ein besonders interessanter Fall für die Frage nach dem Status der Erfahrung in der Philosophie ist Hegels Phänomenologie des Geistes [PhG]1. Dieser sowohl idealistische als auch idealismus-kritische Text thematisiert nicht nur in vielfältiger Weise Erfahrung, sondern er entwickelt einen eigenen Erfahrungsbegriff. Ich will im Folgenden nur einen bestimmten Punkt innerhalb der Problematik fokussieren. Es soll gezeigt werden, daß der nahe liegende Schluß von (1) dem Erfahrungsprimat nicht-philosophischen Wissens und (2) dem Vernunftprimat der Philosophie auf (3) die Exklusion der Erfahrung aus der philosophischen
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Siglen und Zitierweise: Für die beiden hier hauptsächlich behandelten und zitierten Hegeltexte führe ich folgende Siglen ein: »SE II« für die Jenaer Systementwürfe II (1804/05); »PhG« für die Phänomenologie des Geistes. Die Nachweise werden direkt im Text gegeben. Zitiert wird nach: G. W. F. Hegel: Jenaer Systementwürfe II. Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, hg. von R.-P. Horstmann [auf der Grundlage von: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 7], Hamburg: Meiner 1971. – G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. von H.-F. Wessels und H. Clairmont [auf der Grundlage von: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 9], Hamburg: Meiner 1988. – Zusätzlich zu den Seitenangaben aus diesen Ausgaben gebe ich noch die Seitenausgabe aus den Gesammelten Werken an.
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Theorie zumindest für Hegel ungültig ist. Dafür ist zunächst die Frage nach dem Status der Erfahrung durch die Frage zu ergänzen: Welcher Erfahrungsbegriff ist der leitende? Die folgenden Überlegungen zur Spezifik des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs beanspruchen nicht, jeden Erfahrungsaspekt zu sondieren; es soll vielmehr die These plausibilisiert werden, daß Hegel ein Konzept von einem Vernunftwissen vertritt, welches nicht nur kompatibel mit Erfahrung ist, sondern in dem Erfahrung ein intrinsisches Merkmal der Vernunft ist. Ich werde grob in drei Schritten vorgehen: Im ersten Schritt soll im Rekurs auf seine sogenannten Jenaer Systementwürfe II [SE II] eine für Hegel grundlegende Erfahrungskonzeption skizziert werden (Kapitel II). Vor dem Hintergrund dieser Konzeption soll im zweiten Schritt die Spezifik des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs herausgearbeitet werden (Kapitel III–V). Im dritten Schritt werden zentrale Probleme dieses Erfahrungsbegriffs sondiert und eine Lösungsperspektive entwickelt; eine zentrale Rolle wird dabei die Stellung der Vernunft spielen. Im Ausgang von der systematischen und architektonischen Rolle der Vernunft wird abschließend die Verbindung von Vernunft und Erfahrung in ihren Grundzügen diskutiert (Kapitel VI–X).
II. Hegels Grundüberzeugung: Erfahrung als »wahrhafte Erfahrung« Im Kontext der sogenannten Jenaer Systementwürfe – d. h. noch vor der PhG in unmittelbarer Nähe zu ihrer Entstehungszeit – hatte Hegel bereits einige grundlegende systematische Weichenstellungen vorgenommen. So hatte er schon hier die Überzeugung entwickelt, daß Erfahrungswissen und philosophisches Wissen prinzipiell kompatibel sein müssen. Und eine solche Erfahrung, die sich als widerspruchsfrei mit der philosophischen Erkenntnis ausweisen läßt, gilt ihm als eine »wahrhafte Erfahrung« (SE II, 370/347). Mit dem Konzept der »wahrhaften Erfahrung« weist Hegel vor allem den Gedanken zurück, daß »der Gegenstand des Erfahrens für sich unabhängig« (SE II, 369/347) vom Erkennen bestehe. Das zunächst wenig überraschende Argument gegen den Verdacht eines erfahrungsfernen Idealismus und für die These der Kompatibilität von Erfahrungs- und begrifflichem Wissen ist also ein im weitesten Sinne transzendentalphilosophisches: Erfahrungswissen ist wesentlich begriffsdependent. Mit Hegel formuliert: es gibt keine »reine unmittelbare Erfahrung«, sondern immer nur eine »begriffene Erfahrung« (SE II, ebd.). Die Überzeugung, daß Erfahrung nicht ohne Begriffe denkbar ist, sagt aber noch wenig darüber aus, was Erfahrung (positiv) ist. In Auseinandersetzung mit Hume und Kant konturiert Hegel seinen Grundgedanken: Erfahrung
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ist für ihn ein komplexes Beziehungssystem. In diesem gibt es keine primär voneinander unabhängigen Entitäten (»Substanzen«, einzelne »Empfindungen« oder »Gegenstände«), welche erst sekundär in Beziehung gesetzt (bzw. begriffen) würden. In der Erfahrung treten nicht »Bezogene« (»Erscheinungen«) und »Beziehung« (»Begriffe«) (vgl. SE II, 51/50) in ein äußerliches Verhältnis, sondern Erfahrung ist das »unendliche Verhältnis« (SE II, 51/51) (auch: »absolute Verhältnis«, ebd.) dieser Seiten. Das »für sich« Bestehen der Seiten – das »Objektive« und das »Subjektive« – sind innerhalb dieser Konzeptionen bloße Abstraktionsprodukte; »an und für sich« kann für Hegel aus bestimmungslogischen Gründen weder die Gegenstandsseite noch die Subjektseite bestehen, sondern nur das »absolute Verhältnis« selbst. Diese Konzeption widerspricht, wie Hegel hervorhebt, im Kern der »gewöhnlichen« Auffassung von der Erfahrung: Während Erfahrung üblicherweise auf die Seite des Subjekts geschlagen wird, gilt sie hier als die anundfürsichseiende Relation von Subjekt und Objekt. Doch auch, wenn diese Konzeption im Kern dem Common Sense widerspricht, ist sie dennoch geeignet einige Intuitionen in sich aufzunehmen, ohne welche man bei dieser Beziehungsstruktur wohl kaum von Erfahrung sprechen wollte. Es sind vor allem vier Aspekte hervorzuheben, die für Hegel fortan von Bedeutung bleiben und die Möglichkeit bieten, sein ungewöhnliches Erfahrungskonzept dennoch nicht als kontraintuitiv behaupten zu müssen: (i) Der erste Aspekt ergibt sich daraus, daß diese absolute Beziehungsstruktur als Subjekt/Objekt-Beziehung bestimmt bleibt, in der zwar der Gedanke der Primordialität der Bezogenen, nicht aber diese (Bezogenen) selbst aufgegeben werden. D. h. zunächst: Erfahrung ist auch in dieser Konzeption Erfahrung bestimmter Objekte. Vereinfacht gesagt: Erfahrung hat mit Wirklichkeit zu tun. Den Aspekt eines empirischen und nicht konstruktivistischen Verhältnisses zu seinen Objekten wird Hegel später unter anderem gegen dogmatisch-metaphysische Positionen stark machen, in denen sich Objektbegriffe in Verstandesabstraktionen auflösen (vgl. Enzyklopädie §§ 37–39). (ii) Korrelativ zum ersten Aspekt ist auch der zweite zu betonen: Erfahrung ist wesentlich eine Beziehungsstruktur, die nicht ohne die kognitive Tätigkeit eines Subjekts sein kann. Zum Begriff der Erfahrung gehört auch für Hegel, daß etwas für ein individuelles Bewußtsein ist, d. h. daß etwas nicht nur ist, sondern etwas für jemanden ist bzw. daß jemand ›bei der Sache ist‹. Das Gegebensein ist nicht ohne ein Fürsichsein oder Erkanntsein – und das Fürsichsein ist nicht ohne Tätigkeit des Subjekts. (iii) Der dritte, von Hegel besonders betonte Aspekt betrifft den Charakter dieser Beziehungsstruktur: Erfahrung ist die ihre Relata vollständig mit-
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einbegreifende Relation, so daß hier weder eine prinzipiell unzugängliche Sachhaltigkeit (»Ding an sich«) noch ein in leeren Möglichkeiten rotierendes Denken angenommen wird. (iv) Der vierte Aspekt betrifft die besondere Dynamik der Erfahrungsrelation. Der unmittelbare Anschein gegeneinander »gleichgültiger Substanzen«, welcher für die »gewöhnliche« Erfahrungsauffassung zentral ist, wird in der Dynamik der Relation aufgelöst. Erfahrung ist für Hegel nicht nur wesentlich relational, sondern auch Ausdruck eines Transformationsprozesses. D. h. sie gilt zugleich als eine Aktivität, in der die vordergründig für sich bestehenden Entitäten in ihrer konstitutiven Beziehungsstruktur beginnen durchsichtig zu werden – ein »Mobilmachen der gleichgültigen Substanzen« (SE II, 51/50). III. Der phänomenologische Erfahrungsbegriff Alle mit der Rede von der »wahrhaften Erfahrung« verbundenen Thesen – die (relativ schwache) Kompatibilitätsthese, die (transzendentalphilosophische) Dependenzthese und die (hegelspezifische) These von der Erfahrung als relationalem System – vertritt Hegel auch in der PhG; alle sich daraus ableitenden Erfahrungsaspekte sind ebenfalls hier zu finden. Doch die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« (PhG 68/61) erschöpft sich nicht darin, ein schlichter Anwendungsfall einer vorangegangenen Erfahrungskonzeption zu sein. Die phänomenologische Erfahrungskonzeption geht einen entscheidenden Schritt weiter – entscheidend für den Gedanken von der Erfahrung als intrinsischem Moment der Vernunft. Zunächst: Was ist der Problemkontext, innerhalb dessen der phänomenologische Erfahrungsbegriff entwickelt wird? Ausgangssituation ist ein epistemologischer Streitfall. Strittig ist die Frage nach der Art und Reichweite eines Erkennens, welches beansprucht das »Absolute« zu erkennen. Der Streitfall offenbart ein Rechtfertigungsproblem der »Wissenschaft«, d. h. derjenigen Position, die entschieden die Erkennbarkeit des »Absoluten« behauptet. Der Standpunkt der »Wissenschaft«, so macht Hegels Einleitung zur PhG deutlich, ist rechtfertigungsbedürftig und ist in dieser Situation nur dadurch zu rechtfertigen, daß sie sich auf den Boden des »natürlichen Bewußteins« stellt und im (Nach-)Vollzug des bewußtseinsspezifischen Fürwahrhaltens ihren eigenen Standpunkt als unausweichlich erkennen läßt2.
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Dergestalt fungiert die PhG insgesamt als Einleitung bzw. Hinführung zur eigentlichen, »freien« Wissenschaft.
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Im Rahmen dieser Problemaufstellung bestimmt sich »Erfahrung« vor allem als Erfahrungsweg des »natürlichen Bewußtseins«. Hegel skizziert in der Einleitung folgendes Bild: Erfahrung ist der »Weg«, den das Bewußtsein durch selbstkritische Prüfung seiner Grundannahmen gehen wird. Dieser Weg wird »zum wahren Wissen« führen3. – Wichtig an diesem Bild ist, daß Hegel Erfahrung als einen zielgerichteten, mehr noch: zielführenden Weg charakterisiert. In diesem Sinne spreche ich von einem methodischen Erfahrungsbegriff. Dabei ist vor allem festzuhalten, daß auf der Ebene der funktionalen Bestimmung der PhG (als »Einleitung« zur Wissenschaft) »Erfahrung« als ein kontinuierlicher (ein alle Bewußtseinsgestalten durchziehender) und teleologisch definierter Weg gedacht wird.
IV. Das Strukturmodell des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs Bevor auf zwei (ebenso nahe liegende wie grundsätzliche) systematische Schwierigkeiten dieses methodischen Erfahrungsbegriffs eingegangen werden kann, soll noch kurz das Strukturmodell betrachtet werden, anhand dessen Hegel den Erfahrungsbegriff genauer ausführt. Das zugrunde liegende Modell liefert der in der Einleitung der PhG entwickelte Bewußtseinsbegriff. Der dabei zentrale Gedanke – das Unterscheiden-und-Beziehen des Bewußtseins – impliziert die These, daß das Bewußtsein nur vordergründig als eine äußerliche Beziehung voneinander unabhängiger Seiten (»Begriff« und »Gegenstand«) erscheint, tatsächlich aber ein geschlossenes, den Gegenstand mit einbegreifendes Beziehungssystem ist. Auf der Grundlage dieses Gedankens wird Hegel dafür argumentieren, daß das Bewußtsein selbstkritisch, ohne externe Beurteilungsinstanz, und ohne äußerliche Anlässe (wie z. B. das empirisch-kontingente Auftreten neuer Gegenstände) seine Wahrheitsannahmen prüfen und korrigieren kann. Die anhand des Strukturmodells des Bewußtseins entwickelte Erfahrungskonzeption läßt unschwer jene Struktur wiedererkennen, die Hegel zuvor mit der Idee einer »wahrhaften Erfahrung« verbunden hatte: Wieder denkt Hegel Erfahrung als ein »absolutes Verhältnis«, welches nun aber nicht mehr von einer »gewöhnlichen« Auffassung zu einseitig interpretiert und daher mißdeutet wird, sondern die Verstellung der verbindenden relationalen Struktur liegt jetzt wesentlich in der Natur des Bewußteins selbst, welches zwar seine »Wahrheit« (»Gegenstand«) setzt, sie aber nur als etwas anderes 3
Die »vollständige Erfahrung« aller möglichen Stationen gleicht einer vollkommenen Selbsterkenntnis.
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als es selbst (als etwas ›Vorausgesetztes‹) zu erfassen vermag. Das Bewußtsein ist diejenige Struktur, in der die umfassende Relationalität (interne Relation) perspektivisch verzerrt und als ein festes Gegenüberverhältnis (externe Relation) erscheint. Doch gerade die bewußtseinsspezifische Perspektivik garantiert, daß alle im Vorfeld erwähnten Erfahrungsaspekte thematisch werden können: (i) Der Aspekt einer subjektunabhängigen Wirklichkeit; (ii) der Aspekt einer kognitiven Tätigkeit des Subjekts, durch welche die Wirklichkeit Moment eines Erkenntnisprozesses ist; (iii) der (vom Bewußtsein vergessene) Aspekt einer alle Sachhaltigkeit tragenden Beziehungsstruktur; (iv) der Aspekt der Dynamik eines Transformationsprozesses, in der sich das Gegenüberverhältnis von Subjekt und Objekt auflöst.
V. Die Spezifik des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs Bis jetzt hat sich vor allem gezeigt, daß der phänomenologische Erfahrungsbegriff im Einklang steht mit der von Hegel im Vorfeld (in seiner Jenaer Zeit) formulierten Grundüberzeugung, daß Erfahrung im Sinne eines Beziehungssystems zu begreifen sei. Doch was kommt hinzu? Was ist das Spezifikum des methodischen Erfahrungsbegriffs der PhG? – Entscheidend ist der Aspekt der Dynamik von Erfahrung, der Gedanke eines Transformationsprozesses. Anders als zuvor kulminiert das »Mobilmachen« der Relata nicht mehr im Verschwinden des Gegenüberverhältnisses von Subjekt und Objekt, sondern vor allem im Produzieren eines neuen Objektbegriffs und damit eines neuen Subjekt/Objekt-Verhältnisses (= neue Bewußtseinsgestalt). D. h. die methodische Erfahrung ist wesentlich produktiv: Das Resultat der Destruktion eines bewußtseinsperspektivisch verstellten Subjekt/Objekt-Verhältnisses ist die Generierung einer neuen Objektkonzeption. Hegel erläutert diesen produktiven Charakter der methodischen Erfahrung mittels einiger berühmt-berüchtigter Gedankenfiguren, in denen der spezifische Bewegungssinn, das Umschlagen in ein neues Verhältnis bzw. »die Entstehung des neuen Gegenstandes« (PhG 67/61), zum Ausdruck kommt. So spricht er in diesem Kontext von der »bestimmten Negation« (PhG 62/57), der »dialektischen Bewegung« (PhG 66/60) und der »Umkehrung des Bewußtseins« (PhG 67/61). Es soll hier darauf verzichtet werden, diese ebenso zentralen wie schwierigen Termini näher zu untersuchen. Denn es kommt hier zunächst nur darauf an, den grundlegenden Unterschied hervorzuheben: Die methodische Erfahrung ist weder ein alltägliches Verhältnis des Subjekts zu einem empirischen Gegenstand noch eine wissenschaftlich
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kontrollierte Reihe von Experimenten mit verschiedenen Gegenständen, sondern ein generativer Prozeß, welcher sich zu einer Reihe von Bewußtseinsgestalten (bestimmten Subjekt/Objekt-Relationen) entfaltet. Genauer: Methodische Erfahrung ist der Weg, der durch den Reflexionsprozeß der Bewußtseinsgestalten gegangen wird; die Bewußtseinsgestalten machen sich dabei gleichsam durch ihre eigene Reflexion selbst den Prozeß und legen dabei jeweils eine komplexere Struktur frei, welche als neuer Objektbegriff (und korrelativ dazu: als neue Bewußtseinsgestalt) ausgefällt wird.
VI. Probleme des methodischen Erfahrungsbegriffs Das phänomenologische Konzept der methodischen Erfahrung als der eine generative Prozeß, welcher die verschiedenen Bewußtseinsgestalten sowohl über sich hinaus treibt als auch zu einem Weg verbindet, ist mit grundlegenden Schwierigkeiten behaftet. Diese sind nicht zuletzt der Grund dafür, daß es zahlreiche, zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze der Phänomenologie-Interpretation gibt. Vereinfacht gesagt, sind es vor allem zwei Schwierigkeiten, welche sich dann zu verschiedenen Fragen und systematischen Problemen ausfächern und insgesamt dazu führen können, den methodischen Erfahrungsbegriff als unhaltbar (inkonsistent) erscheinen zu lassen: (i) Die erste Schwierigkeit betrifft die phänomenologische These von der Erfahrung als »Weg« (d.i. der Fortgang von einer zur nächsten Bewußtseinsgestalt); (ii) die zweite Schwierigkeit betrifft die phänomenologische These, daß der »Weg« auch zu einem Ziel führt, d. h. daß die Erfahrung eine Bewegung ist, die sich nicht im Unbestimmten verliert, sondern auch ankommt. (i) Zunächst zur ersten Schwierigkeit, dem Problem des Wegs bzw. Fortgangs: Die Schwierigkeit wird deutlich, wenn man sich klarmacht, daß die methodische Erfahrung eine solche ist, deren Sinn sich nicht der jeweiligen Bewußtseinsgestalt erschließt. Zwar generiert die jeweilige (eigene) Reflexion des Bewußtseins eine neue Struktur (einen neuen Objektbegriff ), doch das Bewußtsein erfährt dabei nur die Destruktion seines eigentlichen Objektbegriffs; seine Prüfungs- und Korrekturbestrebungen lassen es die Erfahrung einer aporetischen Situation und gerade nicht die eines Fortgangs oder Wegs machen. Die Sicht auf die jeweils neue Objektstruktur ist dem Bewußtsein (i. S. der Bewußtseinsgestalten) konstitutiv verwehrt (denn es definiert sich gerade durch seinen Objektbegriff; der Schritt zu einem neuen ist das Ende der alten Bewußtseinsgestalt). D. h. das Bewußtsein macht zwar jeweils seine Erfahrungen, aber die ganze Dimension der Erfahrung vermag es nicht einzusehen. – Damit sind zwei Typen von Erfahrung im Spiel: Einer-
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seits die Erfahrung i. S. der Erfahrungen der Bewußtseinsgestalten, welche ich zur leichteren Unterscheidung stationäre Erfahrungen nennen möchte. Diese stationären Erfahrungen sind entsprechend den Bewußtseinsgestalten wesentlich im Plural aufzufassen. Die methodische Erfahrung steht in dieser Hinsicht gerade im Gegensatz zu den vielen stationären Erfahrungen: Entgegen der Pluralität der Erfahrungen des Bewußtseins ist die methodische Erfahrung wesentlich eine, Erfahrung im Singular. Sie ist Erfahrung im Sinne des einen generativen Prozesses bzw. im Sinne des einen Weges. – Nun hat man mit der typologischen Unterscheidung freilich keine Problemlösung, sondern nur eine Problembeschreibung: Wenn (1.) das phänomenologische Programm ein Rechtfertigungsprogramm ist und (2.) die eine methodische Erfahrung eine Begründungsfunktion soll erfüllen können, aber (3.) ein nur äußerliches Verhältnis zwischen stationären Erfahrungen und methodischer Erfahrung besteht, dann sieht es so aus, daß (4.) Hegel sein Rechtfertigungsprogramm nicht erfüllen kann. Die Differenz der Erfahrungstypen scheint eine Inkonsistenz der PhG zu implizieren. – So verwundert es nicht, daß viele Interpreten dazu tendieren, die methodische Erfahrung auszublenden, um so mit Hegel betonen zu können, daß das Bewußtsein selbst seine Erfahrungen macht; andernfalls scheint es nur die Option zu geben, die Eigendynamik der einzelnen Erfahrungen zu unterblenden und einen vor- oder übergeordneten logischen (apriorischen) Gesamtzusammenhang in Kauf zu nehmen. – Die Auflösung dieser Probleme, welche sich aus der Schwierigkeit ergeben, wie der Erfahrungsweg, der Fortgang zu verstehen ist, soll hier nicht versucht werden. Doch ich will gleichwohl versuchen, den Grundgedanken zu skizzieren, ohne den es m. E. keine Auflösung im Sinne der Hegelschen Theorie geben kann. Die Lösungsperspektive wird jedoch erst erkennbar, wenn man auch die zweite Schwierigkeit mit einbezieht. Denn die Frage nach dem »Weg« ist – zumindest für Hegel – wesentlich auch die Frage nach dem »Ziel«. (ii) Worin aber besteht die Schwierigkeit, wenn man nach dem Zielpunkt des phänomenologischen Erfahrungswegs fragt? Das Ziel ist doch klar benannt: der Standpunkt des »absoluten Wissens«. Und Hegel gibt gleich in der Einleitung Hinweise auf ein notwendiges Kriterium, welches erfüllt sein muß, damit das Ziel als erreicht gelten kann: ein Wissen, welches sich nicht mehr äußerlich – d. h. bewußtseinsartig – durch seine Begriffe auf den Gegenstand bezieht – kurz: ein Wissen, in dem Begriff und Gegenstand identisch sind. Aber damit ist nur ein notwendiges (und nur formales) Kriterium, kein hinreichendes Kriterium angegeben. Allerdings gehört es zum Konzept der PhG daß im Vorfeld auch nicht mehr nötig ist, als eine formale Andeutung der Zielperspektive. Denn im Sinne der Rechtfertigungsfunk-
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tion soll das anvisierte Wissen erst im Horizont und nach Maßstab desjenigen Wissens (dem »natürlichen Bewußtsein«) vollständig bestimmt werden, welches sich strukturell aus dem »absoluten Wissen« ausschließt (und um dieses Ausschlußverhältnis und mithin die Rechtfertigungsproblematik deutlich zu machen, reicht ein formales Kriterium). Das, was das »absolute Wissen« ist, wird also erst am Ende geklärt. – Aber damit tritt eben jene Problematik hervor, welche besonders im Kontext der Diskussion über die konzeptionelle Einheit und logische Geschlossenheit der PhG eine zentrale Rolle spielt. Nimmt man z. B. an, daß Hegel im Entstehungsprozeß der PhG seine Konzeption geändert hat, so wird man – bestärkt durch die eigentümliche Gliederung (vgl. die verschiedenen Zählungen im Inhaltsverzeichnis) – dafür argumentieren, daß es verschiedene Kandidaten für den Zielpunkt gab (etwa der Standpunkt des »Selbstbewußtseins« oder der »Vernunft« oder der Standpunkt des »absoluten Wissens«). Es scheint geradezu ganz natürlich anzunehmen, daß Hegel im Schreibprozeß zu grundlegend neuen Einsichten kam und deshalb ursprüngliche Gliederungspläne verworfen bzw. durch vorher unbeabsichtigte Erfahrungsdimensionen (z. B. die geschichtlichen Erfahrungen im »Geist«) ergänzt haben könnte. Vor allem aus einer primär entstehungsgeschichtlich orientierten Perspektive liegt dann die Vermutung nahe, daß Hegels anfängliche Behauptung der Perfektibilität des Erfahrungswegs unhaltbar ist. Die These von der Vollendung der methodischen Erfahrung als notwendige und vollständige Reihe stationärer Erfahrungen, welche sich in einem unüberbietbaren Wissen beschließt, erscheint ohne ein hinreichendes Kriterium für den Zielpunkt und angesichts des geschichtsphilosophischen Neustarts in der Mitte des Werks (»Geist«-Kapitel) sehr fraglich. Insbesondere die Überführung der Erfahrungen des Bewußtseins in den Horizont des »Geistes« (Erfahrungsgeschichte als geschichtliche Erfahrungen des Bewußtseins), läßt eher eine historische Abrißkante denn einen perfekten Schlußpunkt vermuten. D. h. die Frage nach dem Ziel rührt an Fragen der konzeptionellen Konsistenz des Werks.
VII. Problemlösungsperspektive und die Stellung der Vernunft Beide Schwierigkeiten – einerseits die Problematik des Wegs (Verhältnis Aporetik der stationären Erfahrungen/Kontinuität und Produktivität der methodischen Erfahrung?) und andererseits die Problematik des Ziels (z. B. »Vernunft« oder »Geist«?) – sind letztlich nicht isoliert zu behandeln. Bereits Hegels wenige Bemerkungen in der Einleitung lassen erkennen, daß der eine Erfahrungsweg als ein Ganzes konzipiert ist. D. h. die Weg- und Zielbe-
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stimmungen gehen zusammen in dem Gedanken des ganzen Wegs. Hegels holistische Konzeption des Wegs impliziert zweierlei: Erstens, daß es sich dabei um ein Ganzes von »Momenten« handelt, d. h. daß der Einheitssinn ein solcher ist, welcher eine Vielzahl von Bestimmungen als Momente eines organischen Zusammenhangs begreifen läßt; zweitens, daß der Weg der methodischen Erfahrung eine ganze Bewegung mit Anfang, Mitte und Ende darstellt, d. h. eine im engeren Sinne teleologische Bewegung, in der der Anfang erst durch das realisierte (vermittelte) Ende und das Ende erst im Rückbezug auf (vermittelt durch) den Anfang bestimmt sind. Diese mit Hegels Vorstellung des einen Erfahrungswegs (welcher sich zum »ganzen System« entfaltet) verknüpften Bestimmungen des Ganzen geben den Rahmen dafür ab, um zu verstehen, warum Hegel die genannten Schwierigkeiten nicht für unüberwindlich halten mußte. – Ich möchte die Lösungsperspektive vor allem anhand der zweiten Schwierigkeit (die Frage nach dem Zielpunkt) diskutieren.4 Fokussiert man die Frage des Zielpunktes bzw. die Frage, welche Kriterien Hegel zur Identifikation der letzten Station bereits zu Beginn seiner PhG bereitstellt, so kann jetzt etwas mehr angegeben werden als bisher: Das Ziel des Wegs ist nicht dann erreicht, wenn sich einfach eine nicht-aporetische Situation einstellt (eine solche Situation erreicht ohnehin keine der Bewußtseinsgestalten) oder eine Form der Subjekt/Objekt-Identität erreicht ist, sondern erst dann, wenn der Schlußpunkt auch als Ende des ganzen Wegs erkennbar wird. Zum Gedanken, daß der Zielpunkt sich als Ende des ganzen Wegs (und nicht als eine Situation, in der die reflexive Unruhe beigelegt ist) bestimmt, gehört, daß von ihm aus auch erst die vollständige Bedeutung von Anfang und Mitte (als Elemente des Wegs) einsehbar sind. Die Fragen, die bei einem Kandidaten für das erreichte Ziel zu stellen sind, lauten: Ist hier der ganze Weg abgeschlossen? Oder: Was sind Anfang und Mitte zu dieser Schlußgestalt? – Daß Hegel über die Differenzierung der verschiedenen Bewußtseinsgestalten (Momente des Ganzen) hinaus von Beginn an eine 4
Eine kurze Bemerkung zur ersten Schwierigkeit (der Frage nach dem Weg): Innerhalb des von Hegel angedeuteten organologischen Strukturmodells ist es möglich, die Vorstellung zu plausibilisieren, daß die Pluralität von »Gestalten des Bewußtseins« (PhG 68/61) – und damit der stationären Erfahrungen – den Einheitssinn (der methodischen Erfahrung) nicht unterlaufen und zwar deshalb nicht, weil sie eben nicht unter eine allgemeine Vorstellung subsumiert werden, sondern ihrerseits den Ganzheitscharakter zum Ausdruck bringen (das Ganze in der Perspektivik eines Moments; Gestalten als Instantiierungen des Ganzen). Innerhalb dieses Gedankens liegt des weiteren die Möglichkeit zu verstehen, daß das Ganze der methodischen Erfahrung, obwohl in der Perspektivik der einzelnen stationären Erfahrung strukturell unzugänglich, dennoch nichts anderes ist als der Prozeß aller stationären Erfahrungen.
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dreigliedrige Differenzierungsebene gemäß dem teleologischen Wegkonzept mit Anfang, Mitte und Ende im Sinn hat, deutet er in der Einleitung mit folgender Phasenunterscheidung an: Die erste Phase (= Anfang) ist zunächst nur dadurch charakterisiert, daß das für sich unwahre Bewußtsein zu seiner »wahren Existenz« (PhG 68/61) forttreibt; in der zweiten Phase (= Mitte) wird darüber hinaus die »Erscheinung dem Wesen gleich« (PhG 68/62); in der dritten Phase (= Ende) erfaßt schließlich das Bewußtsein »sein Wesen« (PhG 68/62).5 Folgt man diesem zusätzlichen Hinweis aus der Einleitung, dann ergibt sich als erster Kandidat für die Schlußgestalt die »Vernunft«, was zunächst auch formal dadurch plausibel ist, daß Hegel sie anhand der Nummerierung mit Großbuchstaben als dritte Gestalt (»C«), nach dem »Bewußtsein« (»A«) und dem »Selbstbewußtsein« (»B«) ausgewiesen hat. Und der nahe liegende Verdacht ist infolgedessen, wie schon angedeutet, daß die PhG ursprünglich auch mit der »Vernunft« schließen sollte. Inhaltlich scheinen dann vor allem zwei Probleme, die sich aus dem Fortgang zum »Geist« (und dann ferner zur »Religion« als Erscheinung des absoluten Geistes) ergeben, dafür zu sprechen, daß Hegel seine Konzeption grundlegend verändert hat: Zum einen hat es den Anschein, daß die Einführung des »Geistes« einen Wechsel des Erfahrungssubjekts impliziere. Denn anstelle des Bewußtseins (im engeren Sinn) erscheint nun der Geist als Subjekt der Erfahrung. Zum anderen wird mit dem Geist scheinbar aus dem bisherigen Bewegungstypus – eine gleichsam transzendentalphilosophische Genealogie von epistemischen Einstellungen – ein vollkommen anderer Bewegungstypus: ein weltgeschichtlicher Prozeß. Es sieht also so aus, als ob sich Hegel beide Probleme hätte ersparen können, wenn er nur bis zur »Vernunft« gegangen wäre6. Es ist hier nicht der Ort, diese Probleme und Einwände gegen eine durchgängige Konzeption der PhG ausführlich zu diskutieren. Ich will mich darauf beschränken, meine These für eine durchgängige Konzeption anhand der Überlegungen zur methodischen Erfahrung zu skizzieren. – Dabei ist
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Dabei weist auch die Phasenunterscheidung solche Merkmale auf, welche auch für die Reihe der stationären Erfahrungen gelten: Jede Phase (bzw. Erfahrung des Bewußtseins) ist von doppelter Bestimmtheit, beginnt mit einem terminus a quo und endet mit einen terminus ad quem. 6 Nach dem in dieser Debatte wegweisenden Aufsatz von Otto Pöggeler (»Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegel-Studien Bd. 1, Bonn 1961, 255–294), wird gegenwärtig von Eckart Förster die These einer grundlegenden Konzeptionsänderung erneut – wenn auch aufgrund anderer Prämissen – vertreten (sein 2006 in Jena gehaltener Vortrag »Hegels Entdeckungsreise« wird 2008 erscheinen in dem Sammelband »200 Jahre Phänomenologie des Geistes«, hg. von W. Welsch und K. Vieweg).
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zunächst hervorzuheben, was mit der »Vernunft« Entscheidendes hinsichtlich des Erfahrungsbegriffs hinzukommt: Nachdem zuvor das »Bewußtsein« daran gescheitert war, daß es die auch für den Objektbegriff letztlich notwendige Struktur des Selbstbewußtseins ausblendete, und sodann das »Selbstbewußtsein« daran gescheitert war, daß es den auch für das Wissen von sich notwendigen Objektbegriff nicht mit seinen Grundannahmen vereinbaren konnte, tritt die »Vernunft« als eine epistemische Einstellung auf, die dadurch, daß sie Fremd- und Selbstbeziehung integriert hat, im engeren Sinn als ein Erfahrungswissen gelten kann. Entscheidend ist hierbei, daß das Gegenstandsverhältnis – oder allgemeiner: das Weltverhältnis – der Vernunft ein solches ist, in dem (a) die für den Objektbegriff notwendige kategoriale Struktur als Struktur der Wirklichkeit selbst und (b) das Verhältnis zur Wirklichkeit als Selbstverhältnis angenommen wird. Erst die Vernunft hat – als »Gewißheit alle Realität zu sein« (PhG 162/136) – ein »Interesse an der Welt« (PhG 164/137). Und erst die Vernunft erfüllt wesentliche Aspekte dessen, was es heißt eine »wahrhafte Erfahrung« zu haben, nämlich: (i) überhaupt ein Verhältnis zur objektiven Realität zu haben, welches aber (ii) wesentlich ein bewußtes Verhältnis, d.i. nicht ohne die Tätigkeit des Subjekts ist; ferner (iii) ein Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt zu sein, welches erst als ganzes Verhältnis – als »absolutes Verhältnis« bzw. als anundfürsichseiende Vernunft – den Realitätsanspruch einlöst. Der besondere Realitätssinn der Vernunft, die Überzeugung von einer begrifflich verfaßten Wirklichkeit (d. h. objektiven und vollständig zugänglichen Wirklichkeit), in der die Trennung von subjektiven Begriffen und objektiver Realität überwunden scheint, spricht sehr für die Sonderstellung der Vernunft im Verlauf der einen methodischen Erfahrung. Sollte hier schon der Punkt einer Subjekt/Objekt-Identität erreicht worden sein, mit der der Standpunkt der Wissenschaft legitimiert wäre? Welchen Sinn hat es, über diese Identität zum »Geist« (und noch weiter) hinauszugehen? Der Hinweis, daß auch die »Vernunft« nur als eine aporetische Position innerhalb des ganzen Erfahrungswegs erscheint, wäre kein gutes Argument für den Fortgang, solange nicht erklärt werden kann, warum und woran die »Vernunft« scheitern mußte. Vielleicht hatte Hegel ja zuvor geglaubt, eine Vernunftposition rekonstruieren zu können, die den Endpunkt des Wegs markiert. – Meine These lautet: Die Vernunft nimmt tatsächlich eine Schlüsselrolle innerhalb der methodischen Erfahrung ein; sie markiert aber nicht das Ende, sondern die Mitte der PhG. Was aber spricht dafür, daß die Vernunft von Beginn an nur als Mitte des Wegs geplant war?
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VIII. Peripetie des Erfahrungswegs Es sind vor allem zwei Punkte, die dafür sprechen, daß die »Vernunft« zwar eine zentrale Position einnimmt, aber keine Abschlußgestalt sein kann. Zum einen moniert Hegel bereits in der Exposition des Vernunftkapitels ihr entscheidendes Defizit: Die Vernunft-Gewißheit macht Anspruch darauf, »alle Realität zu sein« (PhG 163/137), hat ihre Gewißheit aber noch nicht bewahrheitet. Etwas salopp gesagt: Die Wirklichkeit der Vernunft erscheint noch als Realitätssuche, aber noch nicht als Wirklichkeit. Zum anderen hat Hegel bereits in seiner Einleitung ein Wirklichkeitskonzept im Auge, zu dem nicht nur gehört, daß, wie bereits gesehen, die »Erscheinung dem Wesen gleich wird« (PhG 68/62),7 sondern darüber hinaus auch, daß es eine Wirklichkeit ist, welche im Wissen von sich aufgeht (»sein Wesen erfaßt«, ebd.). Schaut man nun auf den Verlauf des gesamten Vernunftkapitels – ausgehend vom theoretischen Weltverhältnis der »beobachtenden Vernunft« über das praktische Weltverhältnis des »vernünftigen Selbstbewußtseins« bis hin zum »Tun« der von der Wirklichkeit durchdrungenen »Individualität« – dann fällt eine doppelte Argumentationsstrategie auf: Einerseits betont Hegel, daß es ohne die Kategorie der Einzelheit bzw. ohne das Prinzip der »Individualität« (PhG 257/212) keinen Begriff von Wirklichkeit geben kann. »Individualität«, so hebt Hegel hervor, »ist das Prinzip der Wirklichkeit« (ebd.). Und die Struktur der Vernunft, die Einheit von Bewußtsein (Gegenstandsbeziehung) und Selbstbewußtsein (Selbstbeziehung), wird als epistemologische Voraussetzung dafür angesetzt, eine solche »Individualität« denken zu können, welche sich nicht im »Allgemeinen« verliert, sondern »die Realität des Allgemeinen« (PhG 258/213) ermöglicht. D. h. erst mit der Vernunft ist eine Bewußtseinsgestalt erreicht, innerhalb derer man überhaupt erst sinnvoll von Wirklichkeit sprechen kann. Aber andererseits ist es zugleich die Auffassung der Einzelheit, die das Grunddefizit aller Vernunftgestalten ausmacht: Die unverzichtbare Bedeutung der Einzelheit für den Wirklichkeitsbegriff vermag die Vernunft bis dato nur so zu fassen, daß sie sich als einzelne (beobachtende oder tätige) Vernunft zugleich immer wieder aus der Wirklichkeit ausschließen muß. D. h. der Primat der Einzelheit blockiert zugleich die Möglichkeit der Vernunft, sich als Wirklichkeit »zu ergreifen«. Damit läuft die Argumentation auf ein ambivalentes Ergebnis hinaus: ›Keine Wirklichkeit ohne die Vernunft, aber (noch) keine Wirklichkeit der Vernunft.‹ 7
Diese Identität des Äußeren (Erscheinung) mit dem Inneren (Wesen) ist gleichsam der Minimalbegriff von Wirklichkeit.
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Stärke und Defizienz der Vernunft in Bezug auf die Frage, ob die epistemischen Einstellungen nur abstrakte Merkmale der Gegenständlichkeit oder eben die Wirklichkeit erfassen können, machen die Vermittlungsfunktion des Vernunftkapitels sichtbar. Rückblickend auf die Bewußtseins- und Selbstbewußtseinskapitel (A und B) zeigt die »Vernunft« (C), daß erst mit ihr die Wirklichkeit (und d. h. im Sinne des zugrunde liegenden Erfahrungsbegriffs: die Erfahrungsrelation von Begriff und Gegenstand als Verhältnis der Wirklichkeit und nicht nur als Verhältnis zur Wirklichkeit) thematisch werden kann. Die Entwicklung des Vernunftkapitels zeigt – im Kontrast zur wirklichen Vernunft qua »Geist« –, daß die »Vernunft« nur die Struktur einer substantiellen Wirklichkeit (das »geistige Wesen«) freilegt, welche sie voraussetzt, aber eben nicht zu erfassen vermag, weil sie sich als einzelne immer wieder aus dieser Wirklichkeit ausschließt. Das ›Erfassen ihres Wesens‹ bleibt derjenigen Vernunft vorbehalten, die nicht nur die Wirklichkeit anvisiert, sondern selbst wirklich ist. Damit ist zugleich gesagt: Die Vernunft ist von vornherein als Mitte bestimmt, indem sie die abstrakten Weisen des Fürwahrhaltens (Anfang) in die Dimension der Wirklichkeit transformiert, welche aber erst als Wirklichkeit der Vernunft (»Geist«) jenes Wissen erreichen kann, welches die externe Relation auf Gegebenes überwindet (Ende). Würde die Vernunft nicht über das hinaus, was sie im »Vernunft«-Kapitel war, als wirkliche (d. h. als »Geist«) ausgewiesen, so könnte Hegel keinesfalls davon ausgehen, ein Wissen entwickelt und legitimiert zu haben, welches nicht in einem bewußtseinsspezifischen Gegenüberverhältnis zur Wirklichkeit verbliebe. Die Besonderheit des Übergangs von der »Vernunft« zum »Geist«, die Wendung von einer nur anvisierten Wirklichkeit hin zur Wirklichkeit der Vernunft, hätte Hegel kaum deutlicher machen können. Er betont gerade das Modalitätsgefälle, den Übergang von bloßen Abstraktionsprodukten (»Momenten« des »absoluten realen Wesens«, PhG 289/239) zur Wirklichkeit (»Existenz«, ebd.). D. h. die Vernunft ist der Wendepunkt, an dem der Erfahrungsweg von den »Gestalten nur des Bewußtseins« (PhG 290/240) zu »Gestalten einer Welt« übergeht. Das Ende des Erfahrungswegs konnte nicht die »Vernunft« sein, insofern das Ende eine »Realität der Vernunft« voraussetzt. Die Identitätsstruktur, welche mit dem »absoluten Wissen« angekündigt wird, ist erst denkbar, wenn zuvor die Wirklichkeit selbst als Vernunftrealität ausgewiesen wurde.8
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Unter dieser Bedingung kann Hegel dann die epistemische Struktur des Geistes, das ›Beisichsein im Anderen‹, plausibel machen.
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IX. Ausblick: Die geschichtlich unterschiedene Vernunft zeigt den Grund des Bewußtseinsproblems Schaut man makroperspektivisch auf die gesamte Wegstrecke der PhG und zentriert man das Ganze auf die Vernunft-Problematik, den Status der Wirklichkeit, dann ergibt sich folgendes Bild: Der Erfahrungsweg wurde initiiert durch eine Rechtfertigungsproblematik eines bestimmten Vernunftwissens (dem »absoluten Wissen«) und beginnt deshalb mit abstrakten Gestalten des Wissens, die sich strukturell notwendig (durch die leitende Bewußteinsstruktur) aus einem solchen Vernunftwissen ausschließen. Der höchste Punkt dieser Entwicklung abstrakter Wissenspositionen und gleichzeitig die Peripetie des gesamten Wegs ist dort erreicht, wo eine begrifflich verfaßte Wirklichkeit unabweisbar geworden ist (»Vernunft«). Aber erst die »Realität der Vernunft« selbst, wie sie zunächst als Weltgeschichte von der Antike bis zur Moderne (»Geist«) und dann als Religionsgeschichte (»Religion«) entwickelt wird zeigt: Die Resistenz gegen den Vernunftanspruch auf ein »absolutes Wissen« (Identität von Denken und Sein) liegt nicht in den abstrakt rekonstruierbaren epistemischen Einstellungen von »Bewußtsein«, »Selbstbewußtsein« und »Vernunft« beschlossen, sondern ist das Ergebnis der »Realität der Vernunft« (= Geist) selbst. Die Pointe der Hegelschen Rekonstruktion der geschichtlichen Entfaltung ist die, daß es die wirkliche Vernunft selbst ist, welche in zweifacher, nämlich in praktischer und in theoretischer Weise ihren Wissensanspruch sabotiert. Zum einen kulminiert ihre geschichtliche Entwicklung in einer modernen Position der Subjektivität, die alle Wirklichkeit in sich aufgelöst hat (»Moralität«); zum anderen kulminiert ihre Geschichte in der Vorstellung einer Substantialität (»Offenbare Religion«), in der alle Vernunftwirklichkeit nur als Vorgestellte, d. h. dem einzelnen Selbstbewußtsein letztlich gegenüberstehende »Intellektualwelt« (PhG 526/430) erscheint. Die zweite Hälfte der PhG – nach dem »Vernunft«-Kapitel – macht also letztlich deutlich: Es ist der Widerspruch der geschichtlich wirklichen Vernunft selbst (die zur absoluten Subjektivität verinnerlichte und zur absoluten Substantialität veräußerlichte Vernunftrealität), welche ihren Wissensanspruch der wirklichen Einheit ihre Selbstbewußtseins und ihres Bewußtseins (»absolutes Wissen«) blockiert. Und es ist erst die ganze Erinnerung ihrer Realität, welche die darin gedachte Einheit der Vernunft und damit die Möglichkeit eines »absoluten Wissens« zum Vorschein kommen lässt.
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X. Die unendliche Erfahrung der Vernunft Ich komme damit zurück zu meinen beiden Hauptthesen: (1.) der These von der Erfahrung als intrinsischem Moment der Vernunft und (2.) der These von der Spezifik des phänomenologischen Erfahrungsbegriffs (der methodische Erfahrungsbegriff bzw. Erfahrung in singulärer Bedeutung). Die abschließende Frage lautet: Trägt die Fokussierung des methodischen Erfahrungsbegriffs der PhG und die Problematik der »Vernunft« tatsächlich etwas im Sinne der allgemeinen These (1.) aus? – Zunächst wird man festhalten können, daß Hegels phänomenologische Vernunftkonzeption einen gegenüber den vorangegangen Bewußtseinsgestalten emphatischeren Erfahrungsbegriff (vgl. »das Interesse an der Welt«) beinhaltet. Erfahrung ist nicht nur der Prozeß einer reflexiven Prüfung von Wahrheitsbehauptungen; vielmehr ist sie jetzt vor allem auch Erfahrung von Welt. Darüber hinaus – nämlich im Schritt von der »Vernunft« zum »Geist« – beinhaltet die Konzeption der ›wirklichen Vernunft‹ (»Geist« etc.) auch eine geschichtliche Erfahrung, nämlich die Entfaltung der Vernunft im Sinne des objektiven und des absoluten Geistes. Doch die Betonung dieser beiden Erfahrungsaspekte der Vernunft (Erfahrung von Welt und geschichtliche Erfahrung) reicht noch nicht aus, um die These von der vernunftintrinsischen Erfahrung zu verstehen. Der volle Sinn erschließt sich erst, wenn man eben den methodischen Erfahrungsbegriff mit einbezieht, also gerade die Erfahrungskonzeption, die im Verdacht steht, den Erfahrungsbegriff (wegen der Geschlossenheit der Erfahrung) ad absurdum zu führen. Es reicht aber schon deshalb nicht aus, den mit dem »Geist« auftretenden geschichtlichen Erfahrungshorizont, von dem bereits die vorangegangenen Bewußtseinsgestalten zehrten (vgl. z. B. die religionsgeschichtlichen Anspielungen im »unglücklichen Bewußtsein«), zu betonen, weil Hegel selbst die zweite Hälfte der PhG ja keineswegs einfach als fortlaufende Geschichte rekonstruiert. Auch für die zweite Hälfte gilt, daß hier letztlich epistemische Stufen entwickelt werden, entsprechend der Ausgangsproblematik der PhG (Rechtfertigungsproblem des Standpunktes der Wissenschaft). Das Geschichtsbild, das Hegel hierbei entwirft, folgt nur zum Teil (innerhalb bestimmter Sequenzen von stationären Erfahrungen im Rahmen der einen methodischen Erfahrung) einer chronologischen Ordnung; es folgt aber vor allem einer epistemologischen Problemstellung (Explikation der Erkenntnisgrenzen). Dabei dient das Gesamt der Geistesgeschichte als Grundlage für eine stratifizierte Problemgeschichte ›wirklicher Vernunft‹ mit dem bereits skizzierten Resultat. Die Pointe dieser nach systematischen Gesichtspunkten stratifizierten Geschichte ist negativ ausgedrückt die: Der prinzipiell offene Erfahrungs-
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horizont einer geschichtlich wirklichen Vernunft ist nicht das Erfahrungsmodell der PhG. – Folgende Punkte sind hierfür im Blick zu behalten: (i) Hegel rekonstruiert die Geschichte wesentlich als Geschichte der Vernunft; (ii) und die Vernunftgeschichte wird nicht nach Maßgabe ihrer zeitlichen Folge, sondern nach Maßgabe der Problemstellung eines vernunftresistenten Wissens strukturiert. (iii) Die derart rekonstruierte Geschichte zeigt – zwar in der Zeit, aber nicht primär nach einer zeitlichen Logik des Vorher/Nachher –, die Wirklichkeit der Vernunft als die Wirklichkeit ihres Widerstreits mit sich in epistemologischer Hinsicht. (iv) Damit ist die erinnerte Vernunftgeschichte wesentlich in ihrer Totalität – als Totalität der epistemologischen Antinomie der Vernunft – erinnert. (v) Damit gilt ferner, daß die geschichtlich wirkliche Vernunft und die nur mit sich selbst beschäftigte Vernunft nicht in einem Gegensatz stehen: Der Prozeß der sich in der Vollständigkeit ihres Widerstreits mit sich geschichtlich artikulierenden und am Ende der methodischen Erfahrung eben vollständig erinnernden Vernunft ist nichts anderes als die Beschäftigung der Vernunft mit sich selbst. (vi) D. h. das Ganze der methodischen Erfahrung strukturiert sich als Erinnerung der einen Vernunft (genitivus subiectivus) bzw. als Erinnerung der mit sich im Widerstreit stehenden Vernunft (genitivus obiectivus); d. h. das Ganze ist nicht nur eine Folge von im einzelnen kontingent erscheinenden stationären Erfahrungen, sondern das Ganze ist die eine Erinnerung der durch nichts Äußeres beschränkten Vernunft. Die Pointe der ganzen Geschichte ist also positiv ausgedrückt die: Das Erfahrungsmodell der PhG ist die Unendlichkeitsstruktur der mit sich selbst beschäftigten Vernunft, welche schrittweise durch die methodische Erfahrung hervortritt (und dann als ganze erinnert wird). Kurz: Erfahrung als intrinsisches Moment der Vernunft bedeutet ›unendliche Erfahrung‹. – Es ist nicht anzunehmen, daß der Gedanke einer ›unendlichen Erfahrung‹ der Vernunft heutzutage, da man Erfahrung weitgehend nicht als ›unendliche‹, sondern eher als ›offene‹ verstanden wissen will, unmittelbar überzeugen kann; aber davon abgesehen und auf Hegels Grundüberzeugung zurückgesehen, wird man sagen müssen: der phänomenologische Erfahrungsbegriff setzt den Gedanken einer »wahrhaften Erfahrung« um, oder besser: setzt ihn in Bewegung: (i) der Aspekt der Sachhaltigkeit bzw. des Wirklichkeitsbezugs der Erfahrung ist zunächst in der Bewußtseinsstruktur und der jeweiligen Wahrheitsannahme aufgenommen und erweist sich vom Ende her als in der wirklichen Vernunft fundiert; (ii) der Aspekt eines in der Erfahrung aktiven Subjekts ist im Gedanken der jeweiligen Reflexionsbewegung (= stationären Erfahrung) aufgenommen und erweist sich schließlich als Grundzug der Geistdynamik; (iii) der Aspekt der Erfahrung als relationalem System, wel-
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ches die Subjekt/Objekt-Trennung übergreift, ist implizit in der Bewußtseinsstruktur enthalten, explizit aber in der Vernunft ausgeführt und schließlich als »Geist« realisiert; und (iv) der Aspekt der Erfahrung als eines transformatorischen Prozesses, in dem der Eindruck für sich stehender Relata aufgehoben wird und die begriffliche Dynamik hervortritt, in der »kein Glied nicht trunken ist« – dieser Aspekt geht vollständig in dem auf, was hier als »methodische Erfahrung« tituliert wurde. Denn in ihr lösen sich nicht nur die Gegenstände, sondern alle Bewußtseinsgestalten im Sinne einer durchgängigen Dynamik der Vernunft auf.
Sinnliches Bewußtsein und Allgemeinheit der Zeit in Hegels Phänomenologie des Geistes Tommaso Pierini (Jena)
Hegels Aussagen über die Phänomenologie des Geistes haben die Interpreten oft dazu bewegt, die Einheit und Kohärenz des Werks in Frage zu stellen. Das berührt freilich nicht Hegels Sicht bezüglich des propädeutischen Charakters der Phänomenologie, wenn es darum geht, sie als Einleitung in die prinzipielle, logische Wissenschaft zu verstehen. Dabei ist es auch nicht zu bezweifeln, daß ihm das Projekt einer Einleitung in die systematische Philosophie besonders am Herzen lag. In der Jenaer Zeit galten alle Hauptveröffentlichungen Hegels, von der Differenzschrift über Glauben und Wissen bis zur Phänomenologie des Geistes, der Einleitungsfrage. Er zielte offenbar auf einen Begriff des Denkens und des Idealismus ab, der nicht nur in sich schlüssig, sondern auch gegenüber anderen Denkansätzen gerechtfertigt ist. Dieser Aspekt ist von unbestrittener Wichtigkeit, wenn man unter Hegels Idealismus die allgemeine Theorie eines Denkens versteht, das sowohl subjektiv als auch objektiv ist. Insofern sie beabsichtigt, Objektivität umfassend einzuholen, zeigt sich auch in dieser Theorie das prinzipielle Bedürfnis nach allgemeiner Zugänglichkeit. Die Phänomenologie des Geistes als Einleitung in die logische Wissenschaft des Denkens hat zwei Aufgaben zu bewältigen: Einerseits muß sie eine innere Kohärenz besitzen, die durch die Veränderungen der Wissensperspektive hindurch nicht unterbrochen wird; andererseits hat die Phänomenologie zu zeigen, in welcher Hinsicht sie der Objektivität fähig ist. Um diese Aufgaben zu erfüllen, bedürfte es langwieriger Ausführungen über verschiedene Kapitel der Phänomenologie. Hier werde ich mich auf die sinnliche Gewißheit und auf die Wahrnehmung, also auf diejenigen Abschnitte konzentrieren, die das sinnliche Bewußtsein behandeln1. Dies hängt einerseits mit der die Objek1
Bewußtsein ist Hegel zufolge als Bewußtsein des Gegenstandes zu beschreiben. Mit dem Ausdruck »sinnliches Bewußtsein« wird hier die Bewußtseinsform bezeichnet, die den Gegenstand als einen sinnlichen versteht. Die Beschränkung auf die »sinnliche Gewißheit«, die Hegel explizit als das »sinnliche Bewußtsein« bestimmt (PhG 529), und auf die Wahrnehmung ist sachlich bedingt, insofern die ersten zwei Kapitel der Phänomenologie des Geistes in ihrem Kern die Sinnlichkeit thematisieren. Die Phänomenologie des Geistes (PhG) wird nach der Meiner-Ausgabe der Philosophischen Bibliothek (Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988) zitiert.
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tivität betreffenden Aufgabe zusammen, insofern das sinnliche Bewußtsein seinen Gegenstand als Realität und nicht als Erscheinung nimmt. Andererseits erörtert dieser Beitrag auch die erste Aufgabe, insofern eine systematische Kontinuität zwischen dem Bewußtseinskapitel und den anderen Kapiteln der Phänomenologie des Geistes bestehen muß, wenn diese eine innere Kohärenz besitzen soll. Hegels Gedankengang im Bewußtseinskapitel führt zu einer Thematisierung von Raum und Zeit, wobei dieser Beitrag besonders auf den Begriff der Zeit eingeht2. Die Zeit wird zum einen als die allgemeine Form verstanden, in der die Realität steht, zum anderen wird durch die Pointierung der Zeit eine Brücke zur Geschichtlichkeit geschlagen, wie Hegel sie im Geistkapitel entfaltet. Es geht um eine objektive Allgemeinheit, die auf gegenständliche Weise durch eine Zeitdynamik dargestellt wird. Die ersten Schritte auf dem Weg zu diesem Begriff des Allgemeinen werden nachgezeichnet, indem vom Begriff der Identität ausgegangen wird. Zuerst soll jedoch auf den hermeneutischen Ansatz kurz eingegangen werden.
I. Die Einheit der Phänomenologie des Geistes als methodisches Problem Das Problem der Einheit des Werks gehört zu den Interpretationsschwierigkeiten der Phänomenologie des Geistes. Die philologische Hypothese lautet, das Werk falle in zwei von einander abgelöste Teile auseinander. Haering entwarf ein entsprechendes Phänomenologie-Bild, das durchaus eine breite Akzeptanz gefunden hat, indem er erklärte, der eine Teil bestehe aus den Kapiteln bis zur Vernunft, der andere aus den übrigen Kapiteln3. Wenn auch Pöggeler die Mängel in Haerings Argumentation aufgezeigt hat, hielt er doch an dieser Idee fest4. Er verfestigte sogar dieses Phänomenologie-Bild, indem er einen Auflösungsprozeß des ursprünglichen Plans zur Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins beschrieb. Dieser Prozeß beginne beim Auftre-
2
Eine umfangreiche und instruktive Behandlung der Gesamtproblematik der sinnlichen Gewißheit bei Hegel liefert B. Bowman, Sinnliche Gewißheit. Zur systematischen Vorgeschichte eines Problems des deutschen Idealismus, Berlin 2003. 3 Siehe Th. Haering, »Die Entstehungsgeschichte der Phänomenologie des Geistes«, in: B. Wigersma (Hg.): Verhandlungen des dritten Hegelkongresses, Tübingen 1934. 4 »Im überlangen Vernunftkapitel zerbricht endgültig Hegels ursprünglicher Plan, der schon bei der Darstellung des Selbstbewußtseins nicht mehr in aller Strenge befolgt worden war« (O. Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg/München 19932, 221).
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ten der Geschichtlichkeit mit den Gestalten des Stoizismus und des Skeptizismus im Selbstbewußtseinskapitel5. Mit dem Geist- und dem Religionskapitel wird dann schließlich der Gedanke der Geschichtlichkeit methodisch hervorgehoben. Als Indizien für dieses Einheitsproblem gelten die späteren Äußerungen Hegels, in denen er die Bezeichnung der Phänomenologie des Geistes als Ersten Teil des Systems zurücknimmt6, des Weiteren die verwickelte Angelegenheit, die sich auf den anderen Titel »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« bezieht7, sowie die architektonische Verlegenheit, die aus der anscheinend doppelten Behandlung derjenigen Themen entsteht, die sowohl im Abschnitt der praktischen Vernunft als auch im Geistkapitel diskutiert werden. Vor allem aber wächst die Schwierigkeit, wenn man versucht, sich Klarheit über die Entstehungsgeschichte der Phänomenologie zu verschaffen. Besonders das Verhältnis zu den Logik-Entwürfen 1804/05 steht zur Debatte. Es scheint, daß Hegel diese Logik bei der Ausführung der ersten Kapitel der Phänomenologie zugrundegelegt habe8, wobei freilich nicht deutlich wird, wie dieses Zugrundelegen mit der phänomenologischen Einstellung vereinbar sein kann, die Kategorien im Zuge eines eigenständigen Gedankengangs entwickeln zu wollen. Schließlich aber stellt das Problem der Werk-Einheit eine methodologische Frage dar. Es geht darum, ob die methodischen Richtlinien, die Hegel in der Einleitung feststellt, für den gesamten phänomenologischen Weg ausreichen. Die Spaltung des Werks würde notwendigerweise eine Doppelung der Methode mit sich bringen. Als einen philologischen Hinweis für den methodologischen Bruch kann man den Übergang von den Gestalten des Bewußtseins zu den Gestalten einer Welt (PhG 290) nehmen. Da aber das Problem, das die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung formuliert, methodologischer Art ist, stellt sich die weitere Frage, ob die Methode der Entwicklungs5
»Bald läßt die Strenge der Darstellung nach; sie wird breiter, konkrete geschichtliche Gestalten wie Stoizismus und Skeptizismus tauchen auf« (O. Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 216–217). K. Vieweg hat jedoch in einem neueren Aufsatz darauf hingewiesen, daß jenes ›Auftauchen‹ des Skeptizismus durchaus systematische Bedeutung für die gesamte Phänomenologie hat. K. Vieweg, »Hegels lange Rochade – Die ›Umkehrung des Bewußtseins selbst‹«, in: K. Vieweg, Skepsis und Freiheit, München 2007, 85–108. 6 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), Hamburg 1990, 8. 7 Vgl. Fr. Nicolin, »Zum Titelproblem der Phänomenologie des Geistes«, in: HegelStudien 4 (1967), 113–123. Er bestätigt Pöggelers These, die hier in Frage gestellt wird. 8 Auch diese Auffassung geht auf Pöggeler zurück (O. Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 268–270).
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geschichte dem Gang der Phänomenologie gerecht werden kann. Denn die methodischen Richtlinien der Einleitung betonen, daß der phänomenologische Weg als ein sich selbst konstituierender Werdegang verstanden werden muß sowie daß die Methode der Bewußtseinserfahrung die Möglichkeit vorsieht, daß auch ihre Kriterien vom Wissen in einem begründeten Gang verändert werden können. Im Prinzip sollte diese Methode zur Veränderung der Struktur (etwa von der Bewußtseins- zur Welt-Gestalt) befähigt sein9. Es geht also um die methodische Einheit des phänomenologischen Wegs. Das Problem der Methode hängt jedoch mit der Frage nach dem Maßstab des Wissens (PhG 63–64) zusammen, die für den Aufbau der Phänomenologie zentral ist. Die Untersuchung der Methode ist zugleich ein Hauptanliegen des Werks. Daher kann man die Interpretation der Methode nicht von der inhaltlichen Auslegung trennen. Die Frage nach der Einheit des Werkes kann nur von einer Untersuchung entschieden werden, die Hegels methodische Richtlinien ernst nimmt, die die inhaltlich mitbestimmte Veränderung der Methode berücksichtigt und argumentativ rekonstruiert. Dieser hermeneutische Ansatz kommt einer inneren Werkinterpretation gleich. Damit sollen die Verdienste der Entwicklungsgeschichte nicht in Zweifel gezogen werden. Nur durch sie ist man in der Lage, das Werden des Werkes zu rekonstruieren.10 Dennoch läuft die Entstehungsgeschichte gerade durch ihr chronologisches Verfahren, das Hegels Texte vom Duktus der Phänomenologie ablöst und gewissermaßen isoliert betrachtet, Gefahr, das Werk zu zerstückeln. Das methodologische Risiko begünstigt einen Verdacht bezüglich des Resultats, daß die Phänomenologie des Geistes uneinheitlich sei11. Mit der inneren Werk-Interpretation ist gewiß keine erläuternde Paraphrase gemeint. Sie besteht eher im Versuch, Hegels Text, ausgehend von 9
Der letzte Absatz der Einleitung scheint gerade den Gang der Phänomenologie von der anfänglich unzureichenden Bewußtseinsgestalt zum »Reich der Wahrheit des Geistes« bis hin zum »absoluten Wissen« (PhG 68) zu antizipieren. 10 Eine erste, aber detaillierte Beschreibung der Hauptetappen findet sich in der Einleitung von Bonsiepen zu: G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988. Die Entwicklungsgeschichte der Phänomenologie muß als um so wichtiger erachtet werden, wenn man an die turbulenten Zeiten der Entstehung denkt. Gerade von diesen Zeiten (die Jenaer Konzeptionsveränderungen, die wiederholten Verzögerungen bei der Textanfertigung, die Auseinandersetzung mit dem Verleger und ihr Einfluß auf das Werk, die Chronologie der Textstücke und die Schwierigkeiten bei der Erstellung eines sinnvollen Inhaltsverzeichnisses) ist auszugehen. 11 Das Verfahren der Entwicklungsgeschichte kann Probleme suggerieren, deren Lösung eines anderen methodologischen Ansatzes bedarf. In dieser Richtung hat bereits D. Henrich, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976 argumentiert; siehe seine Vorrede.
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den aufgestellten methodologischen Vorüberlegungen, durch die Diskussion der konkreten Kapitel-Struktur und -Argumentation und im Hinblick auf den die einzelnen Kapitel übergreifenden Gedankengang zu rekonstruieren. Dabei wäre es zu erwarten, daß sich eine aus den einzelnen Argumentationsschritten entwickelnde Folge des übergreifenden Gedankengangs aufzeigen ließe. Von einer solchen dargestellten Folge her wäre es dann möglich, zu beurteilen, ob und inwiefern die Phänomenologie des Geistes einheitlich und schlüssig sein kann. Es leuchtet von selbst ein, daß eine solche Interpretation nicht im Rahmen dieses Beitrags eingelöst werden kann. Ausgehend von Hegels Erfahrungsmethode, soll hier versucht werden, die Auslegung des sinnlichen Bewußtseins in eine argumentative Linie mit dem späteren Geistkapitel zu bringen.
II. Die Identität des Gegenstandes und der Idealismus des Denkens Die sinnliche Gewißheit und Die Wahrnehmung bilden den anfänglichen Abschnitt der Phänomenologie des Geistes, in dem Hegel die ganze Problematik des sinnlichen Wissens entfaltet. Dieser anfängliche Abschnitt hat eine strukturelle Bedeutung für den Aufbau des gesamten Gedankengangs in der Phänomenologie. An der Realität der äußeren, sinnlichen Gegenstände des Bewußtseins entscheidet sich die Richtung derjenigen Fragen, welche die Wahrheit des Idealismus betreffen. Dieses Problem wird am besten erläutert, wenn man den folgenden Satz aus der Vorrede bedenkt: »Das Bestehen […] eines Daseins ist die Sichselbstgleichheit. […] Die Sichselbstgleichheit aber ist die reine Abstraktion; diese aber ist das Denken«12. Es handelt sich keineswegs um ein bloßes cogitare im Sinne eines Im-Bewußtsein-Habens von bestimmten Inhalten. Hegel verbindet den Ausdruck »Denken« direkt mit der Abstraktion. Dabei handelt es sich vielmehr um ein Denken der Identität, um logisches, kategoriales Denken. Hegel äußert damit die These, daß das Denken der Identität eine fundierende Rolle für die Identität der realen, daseienden Gegenstände spielt. Das Denken wird zum Prinzip der Gegenständlichkeit13. Mit dieser These weiß Hegel sich in der Nähe Fichtes, der die Ich-Identität als Grundstruktur auch für die Gegenstandsidentität ansah, als auch in der 12
PhG 40–41. Um eine Stelle aus der späteren Wissenschaft der Logik einzuflechten, so denkt der Stein nicht selbst, wir müssen die Mühe auf uns nehmen, ihn zu denken. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff (1816), Hamburg 2003, 231. 13
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Nähe Kants, der das kategoriale Denken bei der Konstitution der äußeren Gegenstände tätig sah. J. McDowell hat in einem neueren Aufsatz die konstitutive Rolle des Denkens bei Kant als eine mögliche Einleitung zu Hegels idealistischem Standpunkt nachweisen wollen14. Diese Denkrichtung sucht jedoch den Zugang auf eine Weise, die Hegels Unternehmen einer Phänomenologie des Geistes größtenteils für unnötigen Aufwand erklären muß. Man sucht den Schlüssel zum Idealismus allein im Subjektiven. Nicht Kants Konstitution der äußeren Gegenstände ist eine Einleitung zu Hegels Phänomenologie, sondern Hegels phänomenologische Behandlung der äußeren Gegenstände soll eine Einleitung zu einem idealistischen Standpunkt bilden, der Kant gerade unzugänglich ist. Der Grund dafür liegt bekanntlich im Dualismus von Denken und Ding. McDowell hält Hegels Überwindung dieses Dualismus für eine konsequente Weiterführung von Kant als »einfache« Einleitung zu Hegel, von der jedoch McDowell die weitläufigeren Begründungsversuche zu unterscheiden weiß, die Hegel in der Phänomenologie unternommen hat15. Das Problem bei dieser Lektüre McDowells besteht gerade darin, daß diese weit komplexeren Gedankengänge der Phänomenologie erst verständlich werden können, wenn man die kantische Perspektive fallen läßt. Es dürfte klar sein, daß Hegel einen anderen Begriff der Identität und des Denkens formulieren muß, wenn er die subjektivistische Einstellung Kants durch eine komplexere ersetzen will. Insofern Hegel ein anderes, nicht von vornherein subjektiv gefärbtes Bewußtsein der Gegenständlichkeit thematisieren möchte, geht er vom Bewußtsein der äußeren Gegenstände aus. Aus der Behandlung des sinnlichen Bewußtseins ergibt sich das rationale Bedürfnis eines Standpunkts, durch den die Gegenstandsidentität, das Ding als »das Gegenteil seiner selbst« und das Ich als Allgemeines begriffen werden kann. Die sinnliche Gewißheit und Die Wahrnehmung liefern jedoch keine direkten Antworten auf dieses Bedürfnis, sie können aber einen ersten systematischen Grund dafür angeben, daß die Einleitung zum idealistischen Standpunkt so lang und komplex sein muß.
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J. McDowell, »Hegel and the Myth of the Given«, in: W. Welsch/K. Vieweg: Das Interesse des Denkens, München 2003. 15 Vgl. auch den folgenden von McDowell auf Italienisch veröffentlichten Aufsatz: «L’idealismo di Hegel come radicalizazzione di Kant«, in: L. Ruggio/I. Testa (Hgg.), Hegel Contemporaneo: la ricezione americana di Hegel a confronto con la tradizione europea, Mailand 2003.
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III. Das Indexikalische als Genese der Identität Der erste Absatz der sinnlichen Gewißheit zeigt Hegels Versuch, mit der Hinwendung zum sinnlich unmittelbar Gegebenen einen idealistischen Anfang zu vermeiden. Hegel geht von einer Bewußtseinsform aus, in der »das Begreifen« (PhG 69) zurückgenommen werden soll. Dieses Zurückziehen der allgemeinen Tätigkeit bedeutet aus einer systematischen Perspektive den Versuch, die Gefahr des subjektiven Idealismus, die Voraussetzung der Geltung der allgemeinen Kategorien zu vermeiden. Das Bewußtsein spricht zwar, aber wegen der in der Sprache bereits enthaltenen Allgemeinheit wird es von Hegel dazu angehalten, seine Sprachfähigkeit auf die Verwendung von indexikalischen Ausdrücken zu reduzieren. Das Bewußtsein wurde von Hegel primär als Bewußtsein des Gegenstandes definiert. Die Suspendierung des Allgemeinen geht aus dem Anspruch hervor, das Bewußtsein des Gegenstandes als solches rein und ohne weitere Vermischung von Denken und Gegenstand zu beschreiben. Was diese Bewußtseinsform charakterisiert, ist ein Gegenstandstyp, an dem nichts verändert werden soll. Er soll nicht nur genommen werden, wie er sich zeigt, sondern auch wie er ist, in seinem Sosein. Daraus scheint sich zwangsläufig zu ergeben, daß das Bewußtsein nur auf den Gegenstand zu verweisen braucht. Dabei verwendet das Bewußtsein indexikalische Ausdrücke. »Dieses«, »dieser«, »hier«, »jetzt« und »Ich« gelten als solche Ausdrücke, mittels deren der Gegenstand identifiziert werden soll. Man kann hier dieses Verhalten des Bewußtseins wohl als »Identifikation« bezeichnen. Damit ist freilich weder ein Erkennen dessen gemeint, was vorher verborgen war und nun identifiziert werden kann, noch ist die Anwendung eines vorhandenen Musters oder Schemas auf einen Gegenstand intendiert, denn es findet hier keine Anwendung statt. Der Gegenstand ist ein sinnlicher, ein unmittelbar gegebener. Anzunehmen, daß der Gegenstand der sinnlichen Gewißheit auch verborgen sein könnte, würde heißen, daß er keine Evidenz besäße. Hegel insistiert darauf, daß aus diesem Gegenstand nichts weggenommen wurde und er von der sinnlichen Gewißheit her als vollständig angesehen werden muß. Identifizierbar muß der Gegenstand jedoch sein, insofern er erkennbar ist. Dabei versichert dieses Bewußtsein, daß sein Gegenstand ein Einzelnes ist, die Deutlichkeit der Gegenstandsaufnahme soll vollständig im einzelnen Gegenstand liegen, ohne daß er durch Vergleichung und Unterscheidung erst konturiert werden sollte. Die indexikalische Form soll diese Identifizierbarkeit ausdrücken, die noch nicht als Gegenstandsidentität thematisiert werden kann. Die Erfahrung des Bewußtseins führt jedoch zum umgekehrten Resultat, daß es, statt durch die indexikalischen Formen einen einzelnen Gegenstand
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auszudrücken, die Allgemeinheit des Indexikalischen hervorbringt und eigentlich allgemeine Gegenstände meint, auf die es verweist. Die Erfahrung stellt einerseits das Kommen und Gehen der einzelnen Gegenstände und das Bleiben der Bezeichnung fest, andererseits konkretisiert das Bewußtsein durch sie seine Auffassung, indem es die Gegenstände als einen Zusammenhang bildend ansieht. Bestand gewinnen die einzelnen Gegenstände durch die Kontinuität des Hier und Jetzt. Erst dadurch, daß der einzelne Gegenstand verortet wird, kann man auf ihn zeigen. Dies bezeichnet eine Komplexität des Indexikalischen, die das Explikationsvermögen dieses Bewußtseins übersteigt. Drei Aspekte sind bei der Beschreibung dieser Erfahrung zu berücksichtigen. Zuerst soll auf die Form der Erfahrung, dann auf das Herantreten der Reflexion, endlich auf die gewonnene Allgemeinheit eingegangen werden. (1) Zu dieser Erfahrung gehört zuerst diejenige des Vorübergehens des Einzelnen, die Anschauung der Veränderung. Das Vergehen des Gegenstandes als eines Einzelnen ist jedoch keine Erfahrung, die dieses Bewußtsein selbst hervorbringt, wie es später das skeptische Bewußtsein vollzieht, denn die sinnliche Gewißheit möchte den Gegenstand nicht vernichten. Dieses unmittelbare Bewußtsein stellt auch nicht wie das vernünftige Bewußtsein selbst den Gegenstand als ein Allgemeines her. Beides geschieht ihm. Das Vergehen des einzelnen Gegenstandes und die Genesis des Allgemeinen erfährt es als eine empirische Veränderung. Hegel spricht von einer »Geschichte« (PhG 76) und »[…]die sinnliche Gewißheit selbst[…]« ist »[…]nichts anderes als nur diese Geschichte[…]« (PhG 76). Dieses Geschehen als ein Aufeinanderfolgen und eine Kontinuität des Hier und Jetzt ist konstitutiv für die einzelnen Gegenstände. (2) Diese Kontinuität in der Veränderung weist eine erste Form von Reflexion auf. Die Reflexion des Bewußtseins präsentiert sich durch das Zurückgehen auf den Gegenstand in der Bewegung des Zeigens. Das Bewußtsein verweist auf den Gegenstand. Dieser aber ist transitorisch, so negiert es diese Vergänglichkeit des Gegenstandes und zeigt erneut auf ihn, der wiederum ein bloß einzelner, ein vergänglicher ist, und so fort. Die sinnliche Gewißheit bleibt in diesem unendlichen Prozeß und sieht nicht ein, daß der einzelne Gegenstand erst durch das wiederholte Verweisen auf ihn zu einem Identifizierbaren wird. Der Gegenstand wird jetzt als ein in der Veränderung Beharrliches, als ein Allgemeines angeschaut. Diese Anschauung ist aber eine Möglichkeit, die dem unmittelbaren Bewußtsein verwehrt bleibt, obwohl sie für seinen Gegenstand konstitutiv ist. Daher zeigt das Zurückgehen auf den Gegenstand eine doppelte Weise der Reflexion in sich. Der Gegenstand ist selbst in sich reflektiert, d. h. er geht für das Bewußtsein aus einer Summe
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von Einzelheiten hervor. Aber nicht nur der Gegenstand ist in sich reflektiert, sondern auch das Bewußtsein des Gegenstandes, das Ich, ist es. Um den Gegenstand identifizieren und erkennen zu können, kann das Bewußtsein kein Einzelnes sein. Es trägt unterschiedliche Einzelheiten zusammen. Das Ich bleibt in der Veränderung der Einzelheiten bestehen, es ist nicht nur in diesem Sinne kein unmittelbares Bewußtsein. Tatsächlich gibt es viele, die »Ich« meinen, die sehen, hören, schmecken. Das Ich wird genau so wie der Gegenstand des Bewußtseins als Allgemeines generiert. (3) Man muß von einer Genese des Allgemeinen für das Bewußtsein sprechen, denn das unmittelbare Bewußtsein ist Bewußtsein vom einzelnen Gegenstand und daher ist Allgemeines für es nicht von vornherein im Spiel. Aus der Behandlung der sinnlichen Gewißheit hat es sich ergeben, daß das Bewußtsein den Gegenstand erst als einen Allgemeinen wahrnehmen muß, um ihn überhaupt identifizieren, auf ihn zeigen zu können. Durch das Zurückgehen auf den Gegenstand stellt sich eine neue Form der Gegenständlichkeit dar. Der in sich reflektierte Gegenstand ist sich selbst gleich, hat eine Identität. Auf ihn kann jetzt als ein Einzelnes gezeigt werden, weil er »für sich« ist, von anderen unterschieden werden kann. Implizit aber kommt hier ein Feld der Zusammenhänge in den Blick, das als eine Verallgemeinerung des Hier und Jetzt, als Raum und Zeit angesehen werden kann, das aber als solches ein Feld der Medialität ist, da es sich um Relationen zwischen Gegenständen handelt. Identität und Medialität konstituieren den Gegenstand als ein sinnliches, wahrnehmbares Ding. Das Ding befindet sich in einem Zusammenspiel von Identität und Medialität, aber auch von Fürsichsein und Allgemeinheit. Die sinnliche Gewißheit stellt keine theoretischen Mittel zur Verfügung, um dieses Zusammenspiel zu beschreiben, sie gibt es der neuen Bewußtseinsform nur als Problem weiter. Es lassen sich zusammenfassend drei Aufgabenstellungen formulieren: Erstens soll eine Denkweise gefunden werden, in der Allgemeinheit und Einzelheit zusammengedacht werden können. Zweitens soll über eine Form der Gegenstandserfahrung nachgedacht werden, die das einzelne Ding als »Geschichte« zuerst in der eher unverdächtigen, dennoch aber folgenreichen Bedeutung eines Geschehnisses zu verstehen wüßte. Verkennt man diese anfängliche Andeutung, indem man hier »Geschichte« als eine bloße Metapher wegdenkt, so übersieht man die Anschlußmöglichkeit an die spätere phänomenologische Thematisierung von geschichtlicher Wahrnehmung und geschichtlichem Bewußtsein. Gerade im Abschnitt über die sinnliche Gewißheit, wo Hegels Argumentation strenger und näher am ursprünglichen Plan einer Wissenschaft der Bewußtseinserfahrung gewesen sein soll (Pöggeler), befindet sich eine systematische Öffnung zur Geschichte.
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Drittens begründet die sinnliche Gewißheit die Frage nach der Verfaßtheit des Ich. In dem ersten Kapitel ist man mit einem Ich konfrontiert, das gar als ein indexikalisches eine ganz punktuelle Einzelheit darstellt, mit der gleichzeitig die ganze sichtbare Welt intendiert wird. Diese Einzelheit des Ich ist Hegel zufolge als ›Meinung‹ zu beschreiben. Das Ergebnis besteht darin, daß mit dem indexikalischen Ich eigentlich ein allgemeines Ich formuliert wird. Diese Allgemeinheit kann als die Einheit der Person und als Denken verstanden werden, oder auch als die Gemeinschaft interpretiert werden, wenn man auf den im ersten Kapitel Die sinnliche Gewißheit gewonnenen Gedanken der Pluralität des Ich16 acht gibt und darin eine Anspielung auf die kommende Geist-Struktur sieht, welche ›Ich und Wir‹17 zusammennimmt. Gleichzeitig steht die vom vereinzelten Ich intendierte, ›gemeinte‹ Welt in enger Verbindung mit der allgemeinen Intentionalität, die sich im indexikalischen Tun des Ich zeigt. Somit kündigt sich im Ergebnis des ersten Kapitels ein Verhältnis von Ich, Wir und Welt an, dessen Verfaßtheit erst geklärt werden soll.
IV. Identität und Medialität des Gegenstandes Während die zuletzt genannte Frage nach der Verfaßtheit des Ich gar nicht in das Blickfeld des sinnlichen Bewußtseins rücken kann, wird das Geschehnis, die Bewegung der Entstehung des Ding-Bewußtseins als die nur subjektive Konstitution des Dings selbst interpretiert. Operationen der Verallgemeinerung sind Teil dieser Konstitution. Das wahrnehmende Bewußtsein bedient sich so einer verallgemeinernden Sprache bei der Beschreibung seines Gegenstandes. Es stellt das Ding aus sinnlich und sprachlich verfaßten Bestimmtheiten zusammen, wobei dieser Dynamik die Bedeutung einer für das Ding unwesentlichen Tätigkeit zukommen soll. Das Ding weist eine Vielfalt von Bestimmtheiten in sich auf. In diesem Zusammen von Bestimmtheiten am Ding zeigt sich das grundlegende Problem des Verhältnisses von Allgemeinheit und Einzelheit. Bekanntlich zeigt es sich aus einer doppelten Perspektive. Das Ding als die Nachfolgegestalt des gemeinten Diesen ist ein mit sich Identisches und bleibt in der Vielfalt seiner Bestimmtheiten oder auch seiner Zustände bestehen.
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»[…] indem ich sage, Ich, dieser einzelne Ich, sage ich überhaupt, alle Ich; jeder ist das, was ich sage; Ich, dieser, einzelne, Ich« (PhG 73). 17 Man denke an Hegels Beschreibung des geistigen Wesens, »dessen Sein das Tun des einzelnen Individuums und aller Individuen […] ist« (PhG 276).
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Hegel geht hier vom Begriff der Eigenschaft aus. Diese kann nicht, wie aus der sinnlichen Gewißheit ersichtlich, als eine bloße Einzelheit ohne Relationen verstanden werden. Diese Relationalität läßt sich in zwei Weisen der Beziehung ausbuchstabieren. Erstens gelten die Eigenschaften hier als allgemeine, das Süße als die Süße, das Scharfe als die Schärfe, das Schwere als die Schwere, und so fort. D. h. sie enthalten in sich eine gewisse Kontinuität und Beharrlichkeit, von der aus sie allein wahrnehmbar werden. Zweitens müssen sie voneinander unterschieden werden können, wenn sie identifizierbar, erkennbar sein sollen. Sie stehen im Horizont der Wahrnehmung »nebeneinander«. Dies drückt Hegel als das berühmte »Auch«, als die Medialität des Hier und Jetzt aus. Man kann ja von Raum und Zeit nur in einem besonderen Sinn sprechen. Die Raumzeitlichkeit gilt hier als die Medialität, wie sie aus der sinnlichen Gewißheit generiert wurde. Es handelt sich um die Allgemeinheit des Raums und der Zeit, die sich aus den einzelnen sinnlichen Eindrücken hergestellt hat, daher um eine sinnlich durchtränkte Raumzeitlichkeit. Eine Mathematisierung derselben kann hier noch keine Rolle spielen. Die Allgemeinheit besteht vielmehr in der Kontinuität des Mediums angesichts der Veränderungen der Umstände. Während diese Medialität das raumzeitliche Nebeneinander der sinnlichen Eigenschaften ausdrückt, bleibt der Gegensatz der Eigenschaften zueinander im Hintergrund. Durch ihre Unterschiedlichkeit treten jedoch die Eigenschaften in Gegensatz zueinander und können einander nicht ersetzen. Es kommt z. B. zu sinnlosen oder gar zu widersprüchlichen Sätzen, wenn man sagte, dieser Zucker wäre süß, insofern er weiß oder gar sauer wäre, während der Satz »Dieses Stück Papier ist hell, insofern es weiß ist«, aus dem Standpunkt des wahrnehmenden Bewußtseins eher unproblematisch ist. Die Medialität der Wahrnehmung zeigt also Brüche, Trennungen in sich auf. Die sinnliche Raumzeitlichkeit organisiert sich in einer Vielfalt von sich ausschließenden Zentren. Das Medium enthält identifizierbare Dinge. Das Ding beschreibt Hegel als Eines, das sich in seinen Eigenschaften kontinuiert und dennoch von anderen Eigenschaften und Dingen trennt. Insofern die sinnlichen Eigenschaften sich am Ding befinden, sind sie auf dieses zurückzubeziehen und gelten als Eigenschaften des Dinges. Insofern sie bezüglich des »gemeinschaftlichen« Mediums dargestellt werden, nennt sie Hegel »Materien«. Im ersten Fall wird die Gegensätzlichkeit, im zweiten die Relationalität der Eigenschaften betont. Von denselben Eigenschaften wird ausgesagt, daß sie aufeinander bezogen und voneinander unterschieden sind. Vom Medium wird die sich kontinuierende Allgemeinheit, vom Ding die sich kontinuierende Einzelheit behauptet. Sowohl für das Begriffspaar »Ding« und »Eigenschaft« als auch für dasjenige »Medium« und »Mate-
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rie« gilt die Zusammengehörigkeit von Unterscheiden und Beziehen. Dieser Gesamtzusammenhang ist es, der aus der Behandlung des Indexikalischen folgt. Wenn sich in der sinnlichen Gewißheit das Problem des Zusammengehens von Einzelheit und Allgemeinheit in der Kontinuität des Gegenstandes ergeben hatte, thematisiert das wahrnehmende Bewußtsein die Kontinuität, die Reflexion in sich, die Sichselbstgleichheit des Gegenstandes und behandelt so das problematische Verhältnis von Allgemeinheit und Einzelheit mittels einer Unterscheidung der Hinsichten, durch das »Insofern«, das Prinzip des Nichtwiderspruchs. Dabei wird die Gleichheit mit sich auf doppelte Weise, als allgemeines Medium und zugleich als einzelnes Ding und Gegenstandsidentität interpretiert. Diese Grundunterscheidung der Wahrnehmung stiftet nicht nur bei der Bestimmung des Sich-selbst-Gleichen Verwirrung, sondern baut auch Extreme auf, deren Bezogenheit sich als unvermeidlich zeigen wird. Im Unterschied zur sinnlichen Gewißheit macht die Wahrnehmung durch ihr Prinzip der Hinsichtlichkeit jedoch sinnvolle Unterscheidungen und Vergleiche, bildet Horizonte und Gegenstandsidentitäten, formt damit eine ganze Welt, welcher der »Reichtum des sinnlichen Wissens« angehört (PhG 80). Erst von diesen Operationen der Wahrnehmung aus kann man von einer Sphäre der Sinnlichkeit sprechen. Dieses Unterscheiden und Beziehen gelten als Operationen, die im Wahrnehmen inbegriffen sind. Hegel selbst bezeichnet den Zusammenhang dieser Operationen als eine »Logik des Wahrnehmens«.18 Nur kann das wahrnehmende Bewußtsein sie nicht begreifen, sondern es verwendet sie nur, indem es schließlich darauf ausgeht, die Haltbarkeit seines Operierens nur durch das Unterscheiden der Hinsichten zu sichern.
V. Das Ding als das Gegenteil seiner selbst Der Gang des Kapitels Die Wahrnehmung folgt dem Versuch des Bewußtseins die Elemente der Wahrnehmung in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Der Gegenstand soll sich nicht widersprechen. Die Gegensatzelemente, das Allgemeine und das Einzelne, die Medialität und die Gegenstandsidentität, das Beziehen und das Unterscheiden, werden auf das Bewußtsein und den Gegenstand selbst verteilt. Diese Verteilung geschieht nach dem strukturellen Primat des Gegenstandes, der das Wesentliche bleiben soll. Das Bewußtsein bzw. Ich hat hier nicht mehr die Bedeutung eines Indexikalischen, gilt selbst 18
PhG 90. Diese Logik bezieht sich offenbar nicht auf Hegels eigene Entwürfe, sondern auf diejenige des Nichtwiderspruchs.
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als ein sich kontinuierendes Bewußtsein im Zusammenhang seiner einzelnen Bewußtwerdungen. Wenn das, was einem bewußt wird, nicht stimmig ist, geht das Bewußtsein nicht zu einem anderen einzelnen Gegenstand über, sondern nimmt den Fehler auf sich und unterstellt, daß es selbst sich täusche. Die Nicht-Stimmigkeit besteht in einem Fehler in der Wahrnehmung des Identischen. Das Ding als Identitätsträger soll sich selbst gleich sein. Die Erfahrung des wahrnehmenden Bewußtseins gliedert sich in drei Abschnitte. (1) Im ersten nimmt das Bewußtsein das Ding als Einheit wahr und bezieht die Medialität auf sich, auf die Sinne. Diese bestimmen die Eigenschaften des Dinges. Hegel betont im Einklang mit dem Prinzip der Wahrnehmung, daß ein Ding als Eines bezeichnet werden kann, wenn es sich durch seine Eigenschaften von einem anderen unterscheidet. Daher sind seine Eigenschaften zugleich am Ding selbst. Sie sind bestimmte Eigenschaften eines einzelnen Dinges. Dabei gelten sie als einzelne, als »gleichgültig gegeneinander« (PhG 83). Das eine Ding setzt sich aus Eigenschaften zusammen, die unvermittelt nebeneinander bestehen. Sie strukturieren die Einheit des Dinges nur als eine Sammlung. Diese »gemeinschaftliche« (PhG 83) Sammeleinheit hat Hegel im Wahrnehmungskapitel als das Medium beschrieben. Nun vollzieht sich die Umkehrung, der zufolge nicht mehr das Bewußtsein, sondern der Gegenstand die Beschreibung als Medium erfüllt. (2) Das Bewußtsein erkennt dabei, daß es selbst das einheitskonstituierende Element ist. Denn das Ding ist eine Einheit, weil es sich in seinen einzelnen Zuständen kontinuiert, in sich reflektiert ist. Diese Reflexion in sich kommt auch dem Ich zu, wie es aus der sinnlichen Gewißheit entstanden ist. So darf das Bewußtsein auf den Gedanken kommen, es habe die Gegenstandsidentität des Dinges durch seine Identität ersetzt, es habe dem Ding seine Einheit verliehen. Das Ding wäre dadurch die Summe der unabhängigen Materien, das allgemeine Auch, das Medium. Eingangs wurde die subjektiv-idealistische Hypothese erwähnt, daß das Ich das identitätsstiftende Element sein könnte. Man sieht, wie Hegel diese Hypothese schon hier im Prozeß der Korrektur des Bewußtseins des Gegenstandes aufnimmt und für einseitig hält. Auf diese Weise enthält die Erfahrung das Bewußtsein und das Ding sowohl als Medium als auch als Identität. So läßt sich der Satz vom Anfang: »Das Bestehen […] eines Daseins ist die Sichselbstgleichheit. […] Die Sichselbstgleichheit aber ist die reine Abstraktion; diese aber ist das Denken«, nicht in der Weise einer einfachen Identitätsstiftung seitens des Ich verstehen. Die entscheidende Wendung der Erfahrung liegt hier im Adverb »abwechslungsweise« (PhG 86). Denn es ist nicht hinreichend, daß dem Bewußtsein und dem Ding die gleichen Rollen zugesprochen werden können. Sie über-
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nehmen sie wechselseitig. Indem das Ding Einheit ist, gilt das Bewußtsein als Medium, und indem das Ding als Medium verstanden wird, so wird die Identitätsstiftung zur Aufgabe des Bewußtseins. Dadurch zeigt sich, daß zwischen Identität und Medialität ein logischer Zusammenhang besteht. Dieser aber präsentiert sich in der Wahrnehmung erst negativ, nämlich so, daß »das Ding […] an ihm selbst eine entgegengesetzte Wahrheit hat« (PhG 87). (3) Der dritte Abschnitt der Erfahrung geht von einer neuen Beschreibung des Gegenstandes aus, die dem Wechselverhältnis Rechnung tragen soll. Der logische Zusammenhang zeigt sich jetzt dem Bewußtsein als ein solcher von unterschiedlichen Dingen, zwischen denen die Entgegensetzung liegen soll. Damit wäre der Widerspruch entschärft, insofern der Gegensatz nicht mehr zwischen Bewußtsein und Ding, sondern im Zusammenhang der Dinge selbst anzutreffen wäre. Die Wahrnehmung schreitet damit zur Bildung eines Gesamtzusammenhangs fort, in dem die Dinge in ihrer Einheit, aber auch in der Beziehung zueinander stehen. In diesem Kontext faßt die Wahrnehmung die Identität und die Medialität ihres sinnlichen Gegenstandes zusammen. Aber bis zum Begreifen dieses Kontextes reicht die Gegenstandstruktur, die das wahrnehmende Bewußtsein anfangs definierte, nicht. Wurde am Anfang der Wahrnehmung der Versuch unternommen, eine Grundunterscheidung zwischen Einzelheit und Allgemeinheit zu treffen, so bricht sie im Gesamtzusammenhang der Sinnlichkeit zusammen. Die Gegenstandsidentität sollte eine das Andere ausschließende Einheit bedeuten, jetzt zeigt sich, daß das Ding vielmehr, das »Gegenteil seiner Selbst« ist. Es besteht wesentlich nur im Zusammenhang mit anderen Dingen. Der Gegenstand ist »[…] für sich, insofern er für anderes, und für anderes, insofern er für sich ist« (PhG 89). Er ist »für sich« durch die Bezüglichkeit der Eigenschaften auf sich. Durch dieselben ist er gleichzeitig »für anderes«, denn die Eigenschaften die das eine Ding auszeichneten, bedeuten jetzt zugleich seine Grenze, die Bestimmtheit, welche Negation ist. Zudem ist der Gegenstand »für anderes« in der Beziehung zur allgemeinen Medialität. Das Medium besteht wiederum nicht unabhängig von einzelnen Dingen, sondern allein im Zusammenspiel der Dinge. Insofern ist der Gegenstand »für anderes«, nur soweit er seine Bestimmtheit bewahrt, d. h. »für sich« ist. Mit der sinnlichen Gewißheit stellte sich das Problem eines Verhältnisses von Einzelheit und Allgemeinheit. Die Wahrnehmung operierte mit der Unterscheidung der Perspektiven, sie führt letztendlich zur Verschärfung des Problems, denn dieser Widerspruch besitzt jetzt eine eigene Notwendigkeit für die gesamte Sinnlichkeit.
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VI. Die Zeit als Genese und Erscheinung des Allgemeinen Worin besteht nun das Resultat der Betrachtung des sinnlichen Bewußtseins? Es handelt sich um ein komplexes Ergebnis mit vielen Aspekten. Hegel behandelt die Nichtigkeit des Sinnlichen und das Aufkommen der Thematisierung des unbedingt Allgemeinen. Es soll nicht übersehen werden, daß sich die Schlußpassagen des Kapitels Die Wahrnehmung in polemischer Absicht gegen die Philosophie des common sense wenden. Daher insistiert Hegel besonders auf den negativen Aspekt des Resultats. Der Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins kann nicht als das Wahre angesehen werden, die Erfahrung zeigt vielmehr seine Nichtigkeit. Statt das einzelne Ding wahrzunehmen, generiert die Sinnlichkeit nur das Allgemeine. Diese Allgemeinheit versteht Hegel jetzt als eine unbedingte und nicht mehr als sinnliche. Jedes Sich-Berufen auf das Sinnliche erzeugt einen Widerspruch, mit dem das sinnliche Bewußtsein nicht fertig wird. Daß das Allgemeine weiter Bestand hat, läßt sich aus dem Prozeß der Reflexion in sich erschließen. Das Allgemeine besteht in der Vergänglichkeit des Einzelnen und dessen Übergangscharakter. Dieser zeigt sich an der Übergänglichkeit der Jetzt-Feststellung, insofern das Jetzt in die Dynamik der Zeit involviert ist19. So muß an die Genese des Allgemeinen gedacht werden. Spricht man aber von einer solchen Genese, so müßte von einem vermittelten, dadurch bedingten Allgemeinen die Rede sein. Dies ist aber das Verständnis der Wahrnehmung, die das Wahre für ein Ding hält. Dieses wird jedoch von Hegel für nichtig erklärt. Bei der Genese geht es also um einen Gang, der seine Stellung als Voraussetzung negiert, um eine sich aufhebende Vermittlung. Es handelt sich um einen Gang der Negation, den jedes sinnliche Ding durchläuft und daher ist dieser Gang nicht Nichts, sondern die allgemeine Bewegung des Sinnlichen, das Allgemeine selbst, das erst durch die Verän19
Die Sprache hat Hegel zufolge die Fähigkeit (»göttliche Natur«, PhG 78), diese Umkehrung, die sich aus dem Gesamtzusammenhang des sinnlichen Bewußtseins ergibt, unmittelbar zu vollziehen. Dabei handelt es sich nicht um ein Argument, mit dem die Sprache als der eigentliche Gegenstand der Philosophie behauptet werden soll. Allein um Sprache geht es hier nicht, denn wir haben es in der Phänomenologie auch mit Hegels Kritik an den leeren Worten und wie im Wahrnehmungskapitel mit Unterscheidungen zu tun, die »nur noch in den Worten« (PhG 89) liegen. Auch die Sprache wird der phänomenologischen Kritik und Korrektur unterzogen. Die Thematisierung der Sprache fängt mit der sinnlichen Gewißheit an, aber in ihrer entfalteten Form wird die Sprache erst die späteren Abschnitte des vernünftigen Selbstbewußtseins, des Geistes und der Religion prägen. Dort geht es darum, die Geschichtlichkeit des Menschen zu verstehen, wie sie besonders durch die sprachlichen Formen der Literatur, der Sittlichkeit und der Religion ausgedrückt wird.
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derung besteht. Die Rede vom Begriff am Beginn des Verstandeskapitels ist auf diese Genese des Allgemeinen zurückzuführen (PhG 93). Jedes Sinnliche geht in dieses Allgemeine zurück. Daher könnte man im Falle des sinnlichen Bewußtseins den Spruch von Novalis umkehren: Das sinnliche Bewußtsein sucht die Dinge und findet immer nur das unbedingte Allgemeine. Ein solches Konzept ist freilich ohne die Operation der Reflexion in sich nicht zu denken. Diese wäre jedoch nicht hinreichend, wenn man nicht unterschiedliche Komplexitätsstufen der Reflexion annimmt. Hegel spricht diese Reflexion im Sinne einer Fähigkeit, die Negativität auszuhalten, selbst den Gegenständen zu. Im Unterschied zur Reflexion in sich der sinnlichen Gegenstände erstreckt sich die Negativität des unbedingten Allgemeinen auf die gesamte sinnliche Sphäre. So kann z. B. auch nach dem Vergehen des Sinnlichen in seiner Wahrheit weiter die Rede vom Ich sein. Das Ich erträgt oder befördert gar – wie bei dem Skeptiker, indem er sich seiner selbst gewiß glaubt – die Nichtigkeit des Gegenständlichen. In dieser Genese des unbedingt Allgemeinen zeigt Hegel eine gänzliche Negation der Sphäre des Sinnlichen auf. Es geht letztendlich weder um eine einzelne Täuschung, noch um bloßen Schein, sondern um die Negation einer Totalität, um ein Ganzes von Schein. Damit ist schon der Begriff der Erscheinung impliziert, wie ihn Hegel im anschließenden Verstandeskapitel definiert. Betrachten wir diesen Begriff bezüglich der Wahrnehmung näher, so ist Folgendes zu bemerken: Das Sinnliche ist Erscheinung, weil es eine sich in sich widersprechende Struktur aufweist. Der Widerspruch wird nicht aus einem Bestimmungsfehler erzeugt. Die Wahrnehmung besteht, Hegel zufolge, zwangsläufig aus diesen widersprechenden Elementen, dem »für sich« und dem »für ein anderes«, der Gegenstandsidentität und der Medialität. So konstituiert sich die Wahrnehmung aus den Dingen und ihrer Medialität, aber nur insofern diese als Weisen der Erscheinung verstanden werden. Es liegt nahe, die Zeit als Grundelement des Sinnlichen zu bestimmen. Denn die Zeit drückt erstens die Einzelheit, zweitens die bestimmte Kontinuität des Dinges in seinem Medium, drittens die allgemeine Bewegung des Entstehens und Vergehens und viertens das genetische Werden des Allgemeinen aus. D. h., diese Dynamik ermöglicht (1. u. 2.) eine zeitweilige Identifikation des Sinnlichen, (3.) stellt sie dessen Vergänglichkeit und Übergänglichkeit dar und (4.) ist sie noch, insofern sie auch als eine Genese verstanden wird; wie auch in Bezug auf das Ergebnis, als das Allgemeine zu denken. Das Ende der Wahrnehmung antizipiert einen Begriff der Erscheinung, der nicht nur Schein, sondern das Werden eines Anderen impliziert. Dieser Begriff gewinnt damit die zusätzliche Bedeutung von Erscheinung als Manifestation des Allgemeinen. Die Dynamik der Zeit, die mit Hegels Begriff der Erschei-
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nung zusammengedacht werden muß, erweist sich als die Kehrseite des Allgemeinen. Was von einem allgemeinen Standpunkt aus die sich gleichbleibende Identität ist, erscheint dem sinnlichen Bewußtsein als die zeitliche Unruhe der gesamten gegenständlichen Sphäre. Blicken wir jetzt auf die Beschreibung der sinnlichen Gewißheit als einer »Geschichte« zurück, so versteht man die Tragweite dieser Anspielung. Der Kern der sinnlichen Gewißheit vom Gegenstand lag im Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit. Dem Bewußtsein erschien das als Gegenstand, was eigentlich Geschehnis und Geschichte war. Das wahrnehmende Bewußtsein war in der Lage, die gesamte gegenständliche Sphäre als eine Welt von Dingen und Eigenschaften zu ordnen. Es konnte jedoch nicht das Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit systematisch durchdringen und erweiterte das Problem zur Nichtigkeit der gesamten Sphäre. Was bleibt, ist eben die »Geschichte«, d. h. das Werden, die Dynamik der Zeit, die Erscheinung eines Anderen. Die Behandlung des sinnlichen Bewußtseins bildet die Einleitung zum weiteren Weg der Phänomenologie des Geistes, insofern Hegel dabei zeigt, daß das Sinnliche als Schein und zugleich als Manifestation eines zu präzisierenden wahrhaft Anderen zu verstehen ist. Damit möchte er eine systematische Perspektive gewinnen, die den Anfang mit der Voraussetzung des Ich in doppelter Hinsicht vermeidet. Einerseits geht er vom Sinnlichen aus und zeigt, daß es als solches nichtig, Schein ist. Andererseits konzipiert er diesen Schein als Manifestation des zu definierenden Allgemeinen und rechtfertigt dadurch eine Denkrichtung, die dieses Allgemeine zu bestimmen trachtet und den idealistischen Standpunkt des Geistes erst gewinnen soll. Die gesuchte allgemeine Struktur muß komplex genug sein, um den Erscheinungsbegriff, der das Allgemeine generierte, somit auch die Dynamik der Zeit von sich aus explizieren zu können. Das Resultat von Hegels Darstellung des sinnlichen Bewußtseins ist die Begründung einer komplexen Problemlage, die sich auftut, sobald ein »Ich« auf etwas hinweist. Dieses »Ich« ist mehrdeutig. Es muß als Individuum, als Gemeinschaft, als allgemeines Denken oder aber als intendierte Welt verstanden werden. Jedoch ist diese Welt so aufzufassen, daß sie wiederum sowohl als eine allgemeine Welt, eine Welt aller, als auch als eine besondere Welt der Person, als meine Welt beschrieben werden kann. Subjektiv und objektiv, bezüglich des Ich sowie der Welt, zeichnet sich das Bedürfnis der Klärung des Verhältnisses von Einzelheit und Allgemeinheit ab. Ohne diese Klärung kann weder die Welt noch das Ich konsistent gedacht werden. Von dieser Problemlage behandelt die Partie über das sinnliche Bewußtsein nur die Seite der Gegenständlichkeit, der Welt. Dabei zeigt sich, daß das Verhält-
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nis von Einzelheit und Allgemeinheit in der Sphäre der Sinnlichkeit allein als allgemeine Negativität der ganzen Sphäre gedacht werden kann. Das Allgemeine erscheint also einmal als sinnlich durchtränktes, ›bedingtes‹ Allgemeine und als das ›unbedingte‹ Allgemeine, das der Negativität der Sphäre entspricht. Diese Negativität ist die Dynamik der Zeit. Was kann nun als ein solches Allgemeines gelten, das nicht als ein Ding beschrieben werden darf? Mit dieser Frage beschäftigt sich der weitere Gang der Phänomenologie des Geistes. An dieser Stelle kann nur ein Ausblick gegeben werden. Das Allgemeine kann einerseits wieder die Form der Gegenständlichkeit annehmen und wie im Verstandeskapitel als Substanz gedacht werden oder als die kategoriale Form der Vernunft gedeutet werden. Andererseits kann das Allgemeine die Bedeutung des Ich gewinnen. Dabei wird es als Selbstbewußtsein, als Individualität, als Gemeinschaft, als Geschichte oder aber wiederum als Vernunft interpretiert. In jedem Fall ist bereits die Mehrdeutigkeit des Allgemeinen im Sinne von Ich, Wir und Welt vorgeprägt. Jedes Verständnis soll freilich in seiner eigenen Erfahrungsstruktur untersucht werden und dennoch auch daran gemessen werden, ob der jeweils in Frage kommende Kandidat im Stande ist, als Allgemeinheitsform die Dynamik der Zeit von sich aus explizieren zu können. Der Gang der Phänomenologie des Geistes ist nicht eher abgeschlossen, bis der Zusammenhang von Ich, Wir, Welt und Zeit im Hinblick auf das Allgemeine angemessen strukturiert ist. Das spekulative Denken ist Hegel zufolge diese Struktur. Sie ist diejenige Form der Subjektivität, die zugleich individuell und allgemein ist, deren kategoriale Struktur ermöglicht, die Welt in ihrer Objektivität zu begreifen, d. h. die Zeitlichkeit der objektiven Prozesse der Natur sowie der Kultur einzuholen. Wenn nun, wie eingangs erwähnt wurde, »das Bestehen […] eines Daseins die Sichselbstgleichheit […]« ist, so ist diese Identität als Einzelheit und als Allgemeinheit zu denken, deren Verhältnis unausweichlich ist. Wird dieses Verhältnis von der Einzelheit her konstituiert, so besteht es in der Erscheinung, in der objektiven Dynamik, welche die Zeit ist. Wird dieses Verhältnis vom Allgemeinen her konzipiert, dann muß diese allgemeine Identität die Negativität der Zeit in sich fassen, und so ist die auf diese Weise verstandene »Sichselbstgleichheit […] die reine Abstraktion […]«, indem Allgemeinheit und Negativität, Begriff und Zeit zusammenfallen. Diese Einheit aber ist »das Denken« (PhG 40–41). Die Phänomenologie des Geistes kann nicht eher enden, bis das Denken diese seine Natur erfaßt hat. Die Kapitel über die sinnliche Gewißheit und die Wahrnehmung initiieren die Entfaltung dieses weit ausgreifenden Themenkomplexes. Es ist nicht abzusehen, wie dieser auf angemessene Weise vor dem absoluten Wissen ausgeschöpft werden könnte.
Vom Spiel der Kräfte zur Bewegung des Lebens Annette Sell (Bochum)
Wie läßt sich ein Ding denken, wenn davon ausgegangen wird, daß es sich aus einer Einheit, also dem Ding selbst, und seinen Eigenschaften zusammensetzt? Oder wie ist die Erkenntnis der vielen unterschiedlichen Materien überhaupt möglich? Welcher Voraussetzung bedarf es zu dieser Erkenntnis? Ist diese etwa an das Leben gebunden? Hiermit ist sowohl das Verhältnis von Einheit und Vielheit als auch die Frage nach der Erkenntnis angesprochen. Diesem Problem sieht sich Hegel in der Phänomenologie des Geistes1 gegenübergestellt, wenn er die Vielheit der Eigenschaften, die im Wahrnehmungskapitel Gegenstand war, nun in einer Einheit zu finden sucht. Das Bewußtsein muß sich also zu einem neuen Gegenstand umkehren, der den Inhalt des »Kraft und Verstand-Kapitels« bildet. Die Kommentare zu diesem Kapitel äußern sich zumeist über die Schwierigkeit oder Kompliziertheit dieses Abschnitts der Phänomenologie2. Dabei sind sowohl die inhaltliche Seite als auch die schwer nachzuvollziehenden dialektischen Schritte gemeint. Nun kann man dieses Kapitel unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Ein für das Verständnis des Abschnitts unbedingt erforderlicher Aspekt ist seine Funktion innerhalb des gesamten Werkes. Hierauf wird im folgenden kurz einzugehen sein. Dann könnte das Kapitel in seinen logischen Schritten bzw. seinen dialektischen Argumentationen aufgezeigt und in der logischen Stimmigkeit überprüft werden. Hegels Denken in diesem Werk hat ja den Anspruch, notwendig von einer zur nächsten Gestalt zu führen, und so könnte diese logische Notwendigkeit im Nachvollzug erschlossen oder auch widerlegt werden. Diese Nachzeichnung der einzelnen Schritte soll an dieser Stelle aber nicht vorgenommen werden. Schließlich lassen sich
1
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede. Gesammelte Werke Bd. 9, Hamburg 1980. Im folgenden werden die Zitate aus diesem Werk mit der Sigle GW 9 und Seitenzahl angegeben. 2 Vgl. Hans-Georg Gadamer, »Die verkehrte Welt«, in: Materialien zu Hegels »Phänomenologie des Geistes«, hg. von Hans Friedrich Fulda und Dieter Henrich, Frankfurt am Main 1973, 106. – Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels »Differenzschrift« und »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt am Main 2000, 91. – Thomas Sören Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, 251.
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die philosophiegeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Hintergründe, auf denen Hegels Argumentation basiert, im einzelnen erforschen. In erster Linie wären hier Kant, Newton und Leibniz zu nennen. Ansatzweise klingen diese Hintergründe im folgenden an3. Das Kapitel kann schließlich auch als Ausdruck eines allgemeinen philosophischen Problems gedacht werden. In der Forschungsliteratur ist besonders die Überwindung eines endlichen Subjekts in diesem Kapitel hervorgehoben und damit auch die Überwindung des Kantischen Standpunkts diskutiert worden4. Auch Martin Heidegger formuliert in seiner Vorlesung über die Phänomenologie des Geistes vom Wintersemester 1930/31 pointiert. »Dieser Abschnitt ist die systematische Darstellung und Begründung des Übergangs der Metaphysik aus der Basis und Fragestellung Kants in die des Deutschen Idealismus, des Übergangs von der Endlichkeit des Bewußtseins zur Unendlichkeit des Geistes«5. Damit ist die Problematik von Endlichkeit und Unendlichkeit, deren Lösung ein Ergebnis der logischen Bewegung in dem »Kraft und Verstand-Kapitel« ist, von Heidegger angedeutet. An dieser Stelle soll nun eine Fragestellung im Vordergrund stehen, die im Titel des Beitrags bereits genannt wird. Wie gelangt Hegel von der Kraft, die sich als Spiel der Kräfte erweist, zum Leben? Welche Argumentationsschritte führen Hegel zu dem Ergebnis, daß Leben und Selbstbewußtsein die Grundlage für die Bestimmung eines Dinges sind? Zur Beantwortung dieser Frage sei – wie oben angekündigt – kurz auf den Stand der Argumentation, der im »Kraft und Verstand-Kapitel« erreicht ist, eingegangen. Den Anfang nahm die Bewußtseinsgeschichte beim unmittelbaren Wissen, das sich schließlich als vermittelt erwies und das Allgemeine als Wahrheit hervorbrachte. Das Allgemeine besteht aus einem Ding mit verschiedenen Eigenschaften, die sich untereinander gleichgültig sind. Hegel betrachtet nun – wie immer in
3
Zu den philosophiehistorischen Hintergründen des Kapitels vgl. auch Hans-Georg Bensch: Perspektiven des Bewußtseins. Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes. Würzburg 2005, 130 ff. Benschs Arbeit setzt sich insbesondere mit dem Problem des Anfangs der Phänomenologie sowie mit den ersten drei Gestalten des Werkes auseinander. 4 Joseph C. Flay erkennt in dem Übergang von der ersten zur zweiten übersinnlichen Welt einen »phenomenological counterpart« (670) zu Kants Kopernikanischer Wende. Dieser Weg ist als Parallele zu Kants Weg von seiner Kritik an Leibniz und Hume zu seiner eigenen transzendentalen Position zu verstehen. So legt für Flay Kant den Grundstein für Hegels Übergang vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein. Joseph C. Flay, »Hegel’s ›Inverted World‹«, in: The Review of Metaphysics 23 (1970), 652–678. 5 Martin Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes. Wintersemester 1930/31, hg. von Ingtraud Görland. Gesamtausgabe Bd. 32, Frankfurt am Main 21988, 161. Im folgenden werden die Zitate aus diesem Band mit der Sigle GA 32 und Seitenzahl angegeben.
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seinen Argumentationen – zwei Seiten. Es stehen sich auf der einen Seite das Wahrnehmen, das die Einheit des Dinges sowie dessen Vielheit umfaßt, und auf der anderen Seite das Ding, das die Einheit sowie die Vielheit ist, gegenüber. Das Ding ist sowohl Eins als auch das Viele von anderen. Es soll aber zu einer Einheit von Für-sich und Für-Anderes kommen. Das ist recht schwer für das Ding, denn es muß den Widerspruch in ihm selbst anerkennen, weil es ja sein Anderssein von sich selbst nicht fernhalten kann. Das Ding ist zwar Für-sich-Sein, aber es ist auch Negation gegen das Anderssein. Der Gegenstand ist nun »vielmehr in einer und derselben Rücksicht das Gegentheil seiner selbst; für sich insofern er für anderes, und für anderes insofern er für sich ist«6. Hier liegt also ein Widerspruch vor, denn ein Gegenstand kann ja nicht er selbst und zugleich nicht er selbst sein. Das Allgemeine, zu dem sich die »sinnliche Gewißheit« umgekehrt hatte, ist also auch nicht das Wahre. Da die »Wahrnehmung« den Widerspruch in sich nicht denken kann, muß sie sich auch umkehren, und zwar zu einer Gestalt, die nicht mehr wahrnimmt, sondern reflektiert. Diese Gestalt ist der »Verstand«, da das Bewußtsein wissen muß und nicht wahrnehmen kann, daß es den Widerspruch in sich hat. Das Bewußtsein ist also in »das Reich des Verstandes«7 eingetreten, und damit hat es sich zu der neuen Gestalt umgekehrt. Hier soll der Widerspruch, der zuvor unlösbar das Ding quasi zerstörte, in eine Einheit zurückgeführt werden8. Das Bewußtsein muß jetzt in einem Beispiel daraufhin geprüft werden. Die Materien, die den Inhalt des unbedingten Allgemeinen ausmachen, sind selbständig, durchdringen sich, ohne sich dabei zu berühren, wie das Wahrnehmungskapitel gezeigt hat. Die Bewegung, wie die Materien sich ausbreiten und dann wieder in einer Einheit verschwinden, nennt Hegel Kraft. Nach dem Aufbau der Phänomenologie, wie er sich in der Logikskizze von 1805/06 zeigt, sind im »Kraft und Verstand-Kapitel« die Relationskategorien der Gegenstand der Prüfung. Es geht hier um »Seyn, das sich andres (Verhältniß wird)«, daran schließen sich das »Leben und Erken6
Hegel, GW 9, 79. Ebd. 8 Durch die Einheit zeigt Hegel, daß die Trennung zwischen dem Ding und dem Bewußtsein nicht mehr existiert. »Und auch hier überführt er das Bewußtseinsverhältnis, also die Trennung zwischen Bewußtsein und einem ›Ding‹, seiner inneren Unwahrheit. Das Bewußtsein steht vielmehr auf beiden Seiten der Relation, so daß ›nicht allein das Bewußtseyn vom Dinge nur für ein Selbstbewußtseyn möglich ist, sondern daß diß allein die Wahrheit jener Gestalt ist.‹« Jaeschke interpretiert in seinem Hegel-Handbuch daraufhin das Selbstbewußtsein, das sich als neue Gestalt aus dieser dialektischen Bewegung ergibt. »Das ›Selbstbewußtsein‹, das hier entsteht ist somit nicht individualpsychologisch zu fassen, sondern als epistemisches Prinzip.« Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben - Werk – Schule, Stuttgart/Weimar 2003, 186. 7
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nen« an, das in der Phänomenologie von 1807 im Selbstbewußtseinskapitel und das heißt besonders im Abschnitt über »Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst« behandelt wird9. Nun dient die Kraft Hegel als Beispiel dafür, wie Verhältnisse oder Relationen gedacht werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang Martin Heideggers Bezug auf die Kantischen dynamischen Kategorien. Mit diesem Verweis erklärt Heidegger Hegels Wahl des Beispiels Kraft, um die Relationskategorien zu prüfen oder auch einzuüben. Um den Hegelschen Kraftbegriff vor Kantischem Hintergrund zu lesen, zeigt Heidegger auf, wie die Kategorien bei Kant einerseits das Wassein des Vorhandenen, die essentia, bestimmen, andererseits, wie sie das Wiesein, die Wirklichkeit bestimmen. Letzteres, also das Wiesein, ist das Verdienst der dynamischen Kategorien. Heidegger beruft sich dabei auf die Kantische Klassifizierung der Kategorien, wie Kant sie in der transzendentalen Analytik im Rahmen einiger »artiger Betrachtungen« zur Kategorientafel nennt. Die erste Klasse weist auf die Gegenstände der (reinen und empirischen) Anschauung, und diese Kategorien werden von Kant »mathematische« genannt; die zweite Klasse bezieht sich auf die Existenz der Gegenstände und zwar sowohl in Beziehung aufeinander als auch in Beziehung auf den Verstand. Diese Kategorien werden »dynamische« genannt10. Nun folgert Heidegger: »Dynamis ist hier das Wirkende, die Kraft«11. Die direkte Identifizierung der »dynamischen« Kategorien mit der Kraft ist so bei Kant selbst aber nicht gedacht, und diese Verbindung muß Heideggers eigener, an Hegel orientierter, Kant-Interpretation zugerechnet werden. Mit diesem Kraftbegriff sieht Heidegger die dynamischen Kategorien bei Kant »erst eigentlich von Grund aus gefaßt und spekulativ durchdrungen«12. So dient Heidegger der Hegelsche Hintergrund, um 9
G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III, hg. von Rolf-Peter Horstmann unter Mitarbeit von Johann Heinrich Trede. Gesammelte Werke Band 8, Hamburg 1976, 286. 10 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 110. Werkausgabe Bd. III, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, 121. Auch Otto Pöggeler argumentiert mit den dynamischen Kategorien, wenn er den Übergang vom Wahrnehmungskapitel zum Kraft-und-Verstandkapitel denkt. »Vielleicht hat das Wissen, das mit Relationskategorien oder ›dynamischen‹ Kategorien operiert, immer schon so etwas wie die ›Idee‹ der Relation in ihrem wirklichen Wissen: es faßt die Substanz auf als Kraft, die aus der Einheit des Dinges heraus sich entfaltet zu jenem Medium, das den vielen Eigenschaften Raum gibt, die sich auch umgekehrt als ein Spiel der Kräfte und ein ständiges Sichinsichverkehren aus dem Medium der Vielheit zurücknimmt in die Einheit« (Otto Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg/München 21993, 242). 11 Heidegger, GA 32, 148. 12 Ebd. Auch Hans-Georg Gadamer, der das »Kraft und Verstand«-Kapitel als das zentrale Kapitel der Phänomenologie betrachtet, stellt den Bezug zu Kant heraus. Hans Georg Gadamer, Neuere Philosophie I. Hegel-Husserl-Heidegger. Gesammelte Werke Bd. 3, Tübingen 1987, 29.
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eine Interpretation der dynamischen Kategorien Kants vorzulegen, sie durch Hegel sogar erst grundsätzlich bestimmt zu haben. Es ist überaus selten, daß Heidegger Hegels Argumentation den Vorzug gibt oder daß durch Hegel ein Kantischer Gedanke erhellt wird. Die Idee des Verhältnisses als Kraft zu denken, ist nicht erst in der Phänomenologie von Hegel ausgeführt, sondern bereits im Jenaer Logikfragment von 1804/05 zu lesen13. Hier drückt die Kraft auch das Verhältnis, nämlich das Kausalitätsverhältnis aus, und auch hier besteht sie aus zwei Teilen, aus der Kraft selbst und aus ihrer Äußerung. Auch in der »Wesenslogik« von 1813 stellt Hegel im Abschnitt über das »wesentliche Verhältnis« innerhalb des Kapitels über die »Erscheinung« die Kraft im Zusammenhang des Verhältnisses von Ganzem und Teilen dar14. »Die Kraft ist die negative Einheit, in welche sich der Widerspruch des Ganzen und der Theile aufgelöst hat, [...]«15. Dabei entwickelt Hegel das Bedingtsein der Kraft, ihre Sollizitation und schließlich ihre Unendlichkeit, in der dann die Innerlichkeit und die Äußerlichkeit identisch sind. Ein Rückblick auf die Seinslogik zeigt, daß der Kraftbegriff im Abschnitt über das Für-sich-sein im Hinblick auf Eines und Vieles, genauer im Hinblick auf Repulsion und Attraktion, relevant wird. Damit zeigt sich Hegels Kritik am Kantischen Kraft- und Materiebegriff, da bei Kant die zwei Kräfte für sich selbständige bleiben und nicht ein und derselben Kraft angehören. Daß es nur eine Kraft gibt, die sich als Spiel der Kräfte zeigt, ist ja auch Hegels Idee in der Phänomenologie des Geistes. Nun weiß Hegel selbst, daß er mit diesen Gedanken zur Materie und Kraft über die Logik, die sich ja als eine reine versteht und sich auf keine äußeren objektiven Dinge beziehen soll, hinauszugehen scheint. Doch das Verhältnis von Einem und Vielen steht auch in der Logik im Hintergrund bei der Bestimmung der beiden Kräfte. So heißt es in einer Anmerkung innerhalb der Seinslogik: »Eine solche Existenz, wie die sinnliche Materie, ist zwar nicht ein Gegenstand der Logik, eben so wenig als der Raum und Raumbestimmungen. Aber auch der Attractiv- und Repulsiv-Kraft, sofern sie als Kräfte 13
G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe II, hg. von Rolf-Peter Horstmann und Heinrich Trede. Gesammelte Werke Bd. 7, Hamburg 1971, 51 ff. 14 Zum »wesentlichen Verhältnis« vgl. den Kommentar zur »Wesenslogik« von Klaus J. Schmidt, G. W. F. Hegel: »Wissenschaft der Logik – Die Lehre vom Wesen«, Paderborn 1997. Hierzu besonders: 160–177. Schmidt bezeichnet die Kraft als »nächstes Modell des wesentlichen Verhältnisses« (166) und entwickelt logisch fortschreitend den Kraftbegriff, bis sich das wesentliche Verhältnis »in dieser Identität der Erscheinung mit dem Innern oder dem Wesen zur Wirklichkeit« bestimmen kann. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik, hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke. Gesammelte Werke Bd. 11, Hamburg 1978, 368. 15 Ebd. 359.
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der sinnlichen Materie angesehen werden, liegen die hier betrachteten reinen Bestimmungen vom Eins und Vielen, und deren Beziehungen aufeinander, die ich Repulsion und Attraction, weil diese Nahmen am nächsten liegen, genannt habe, zu Grunde«16. Vom Leben wird im Zusammenhang der Kraft in den Logik-Entwürfen und in der Wissenschaft der Logik aber noch nicht gesprochen. Der kurze Hinweis auf die Logik Hegels sollte zeigen, daß die Problematik des Verhältnisses auch dort vor dem Hintergrund des Kraftbegriffs gedacht ist. Um nun dem Ziel dieses Beitrags, den Übergang von der Kraft zum Leben in der Phänomenologie des Geistes zu denken, näherzukommen, soll im folgenden die Argumentation Hegels anhand des Kraftbegriffs näher betrachtet werden. Grundlegend ist dabei Hegels Darstellung der Kraft, die aus zwei Momenten besteht17. Wie schon die Wahrnehmung in zwei Seiten aufgeteilt wurde, so besteht auch die Kraft aus zwei Teilen, da die beiden Seiten, also das Eine und das Viele noch getrennt voneinander sind. Die Kraft ist also nicht nur das Eine und nur im Gedanken zu finden, sondern sie soll ja auch wirklich sein und das Viele enthalten. Das kann sie aber nur in dieser Zweiheit. Sie ist einerseits das ausschließende Eins, die zurückgedrängte Kraft oder das, was man eigentlich unter Kraft verstehen kann. Somit ist sie zunächst das Medium der Materien, die in ihr aufgehoben sind. Dann ist sie auf der anderen Seite aber auch Äußerung, in der die ausgebreiteten Materien, also die Vielen bestehen bleiben. Die Kraft muß sich äußern, um Kraft zu sein. Festzuhalten aber ist, daß die Kraft dem Verstand angehört, der der Begriff ist und die unterschiedlichen Momente trägt. Die Kraft besteht also aus diesen zwei entgegengesetzten Seiten, wobei beide Seiten aber in einer Bewegung sind. Es sind also nicht zwei Bewegungstypen, die die Kraft in unterschiedliche Bereiche separieren. Dann bestimmt Hegel die Art dieser Bewegung, die für den Übergang zum Leben entscheidend ist. Ohne die Bewegung, die sich zwischen den beiden Seiten abspielt, ist der Übergang zum Leben nicht denkbar. Zeichnet sich doch gerade das Leben durch Bewegung, genauer durch Selbstbewegung aus. Ohne die Bewegung gibt es für Hegel überhaupt keine Erkenntnis. Erkenntnis ist nur in und als Bewegung, d. h. dialektische Bewegung möglich An dieser Stelle in der Phänomenologie wird aber noch das eine Moment der Kraft durch ein anderes bewegt; es 16
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band: Die Lehre vom Sein (1832). Gesammelte Werke Band 21, Hamburg 1985, 167. Zu Hegels Kritik in der Logik an Kants Kräftekonstruktion vgl. Renate Wahsner, Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus. Kant und Hegel im Widerstreit um das neuzeitliche Denkprinzip und den Status der Naturwissenschaft, Hürtgenwald 2006, 199 f. 17 Hegel, GW 9, 83 ff.
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herrscht also noch keine Selbstbewegung. Die eine Seite, die als eigentliche Kraft oder als Eins bestimmt wurde, braucht nun eine andere Seite, die sie sollizitiert, d. h. erregt und anstößt. Diese Kraft braucht wiederum die sollizitierde Kraft, und diese Bewegung des Anstoßens und Angestoßenwerden ist die Kraft, die bis jetzt noch aus zwei Seiten besteht. Die Kraft ist das Verhältnis, und dabei ist sie eben noch nicht die ruhige Einheit der Vielen, sondern sie ist die Bewegung, die beide Seiten zum Verschwinden bringt18. Wenn die Kraft nämlich wirklich wird, dann verliert sie sich. Sie ist dann nur die Mitte zwischen zwei Extremen und wird im Begriff aufgehoben. In diesem Spiel können die Seiten (d. h. das Sollizitierte und das Sollizitierende) wechseln, denn eine ist nur dadurch, daß die andere da ist. Es kann nun gesagt werden, daß die Wahrheit der Kraft also das Spiel der Kräfte und die Mitte ist, die zwischen ihnen liegt. Das Spiel der beiden Kräfte ist also das Negative, aber es bringt etwas Positives, nämlich ein Allgemeines, hervor. Dieses Allgemeine ist jetzt im Inneren, das für den Verstand schon Begriff, also nicht mehr das getrennte Verhältnis zweier Kräfte ist. Mit Blick auf den Stand der Bewußtseinsgeschichte ist zu sagen, daß der Verstand die Natur des Begriffes an dieser Stelle aber noch nicht kennt. Diese Reflexion auf den Begriff und auf sich selbst wird erst im folgenden Kapitel mit der Gestalt des Selbstbewußtseins vollzogen. Das Spiel der Kräfte hat die Bewegung der beiden Kräfte, die sich miteinander vertauschen lassen, gezeigt, so daß sich deren Inhalt (was sie sind) und Form (wie sie sind) entsprechen. Diese Entsprechung bzw. Einheit ist das Gesetz, welches als Beständiges nicht verschwindet und deshalb nicht ein unbeständiges Sinnliches, sondern ein Übersinnliches ist. Diesem Übersinnlichen steht aber noch ein Veränderliches gegenüber, denn das Gesetz oder auch das Übersinnliche ist ja nur da, weil es das Spiel der Kräfte, also das Veränderliche, Sinnliche gibt. Ohne die empirischen Vorkommnisse in der Natur gäbe es auch keine Naturgesetze. Außerdem gibt es nicht nur ein Gesetz, sondern es sind viele Gesetze. Über diesen steht dann ein »Begriff des Gesetzes«19. Hegel ringt hier also mit dem Gegensatz des Einen und Vielen und damit auch mit dem Übersinnlichen und Sinnlichen, so daß er dieses Problem, wie das Sinnliche, Erscheinende in ein Inneres geführt werden kann, mit dem Begriff der »übersinnlichen Welt«20 faßt. Deren Wahrheit ist die aufgehobene, in das Innere gesetzte Erscheinung. Das Innere ist für den Verstand aber noch unerfüllt, denn er erkennt zwar dieses Innere, findet sich 18 19 20
Vgl. Hegel, GW 9, 87. Ebd. 92. Ebd. 89.
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darin aber noch nicht selbst, so daß es ihm noch als Fremdes gegenübersteht. Ziel soll ja sein, daß sich Verstand und Äußeres entsprechen. Die Beziehung des Gegenstandes zum Inneren ist bis jetzt die Bewegung. Wie gesagt ist auch das Gesetz, wie die Kraft, auf zweifache Weise vorhanden. Es gibt den einen Begriff der Gesetze und die vielen Gesetze, etwa der verschiedenen Naturerscheinungen. Mit der ständigen Teilung von Begriffen in zwei Seiten werden Hegels Argumentationsweise und sein Ziel deutlich. Er sucht nach der Möglichkeit für das Bewußtsein, den Widerspruch in sich zu denken, so daß es für sich selbst Begriff wird und nicht nur deswegen ist, weil auch ein anderes ist. Im Hintergrund steht dabei immer die Formulierung der »Einleitung«, die das Ziel der gesamten Bewußtseinsgeschichte als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand bestimmt21. Mit dem Reich des Gesetzes ist nun zwar eine Wahrheit des Verstandes erreicht, aber eben noch nicht die ganze Wahrheit. Nun zeigt Hegel eine weitere Bewegung, die als »Erklären«22 gefaßt wird. Erklären vollzieht sich nur im Gedanken bzw. im Verstand und nicht an den Gegenständen selbst, so daß diese hierdurch nicht verändert werden. Durch das Erklären sind das Veränderliche und der Wechsel nun auch im Verstand und nicht in den Dingen selbst, so daß der Inhalt derselbe bleibt. »Indem aber der Begriff als Begriff des Verstandes dasselbe ist, was das Innre der Dinge, so wird dieser Wechsel als Gesetz des Innern für ihn. Er erfährt also, daß es Gesetz der Erscheinung selbst ist, daß Unterschiede werden, die keine Unterschiede sind; [...]«23 So führt Hegels argumentativer Weg zum Begriff der »verkehrten Welt«. Alles ist nun im Verstand und der Unterschied, der zuvor als unüberbrückbar erschien, zeigt sich nicht mehr als ein solcher, sondern beide Seiten sind im Verstand, und es besteht kein Unterschied mehr. Die übersinnliche Welt ist die Umkehrung der sinnlichen Welt der Erscheinungen. Die Prüfung ist nun an den Punkt gekommen, wo das erste Übersinnliche, also das ruhige Reich der Gesetze bzw. das Abbild der wahrgenommenen Welt, ins Gegenteil verkehrt wird, wobei die »verkehrte Welt« aber auch schon an der ersten übersinnlichen Welt vorhanden war. Die übersinnliche Welt ist also die verkehrte in Bezug auf die wirkliche sich verändernde Welt, und die verändernde Welt ist verkehrt in Bezug auf die übersinnliche, in der nur die reinen Gesetze gelten. Was zuvor als das Gleiche galt, wird sich jetzt
21
Ebd. 57. Ebd. 95. 23 Ebd. 96. Zur Interpretation und Problematik des »Gleichnamigen« vgl. Hans-Georg Bensch, Perspektiven des Bewußtseins. Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 138 ff. 22
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ungleich. Was vorher ungleich war, wird jetzt gleich. Der Unterschied ist nun an sich selbst, und es werden nicht mehr zwei getrennte Seiten gebraucht, um den Gegensatz zu zeigen. So hebt sich auch der Unterschied der Kraft auf, die zuvor aus zwei Gegensätzen bestand. »Nach dem Gesetze dieser verkehrten Welt ist also das Gleichnamige der ersten das ungleiche seiner selbst, und das Ungleiche derselben ist eben so ihm selbst ungleich, oder es wird sich gleich«24. Das Sinnliche und das Unsinnliche sind sich also gegenseitig verkehrte Welten. Hierdurch meint Hegel den Unterschied beider Bereiche in einer einzigen Bewegung gefaßt zu haben, die die Kluft von Endlichkeit und Unendlichkeit überwunden hat. Diese logisch-dialektische Herleitung der »verkehrten Welt« führt Hegel also dazu, daß der innere Unterschied an sich selbst und die »verkehrte Welt« somit als Unendlichkeit ist. Mit dieser Unendlichkeit ist für Hegel auch das Leben gegeben. Das entscheidende Zitat lautet: »Diese einfache Unendlichkeit, oder der absolute Begriff ist das einfache Wesen des Lebens, die Seele der Welt, das allgemeine Blut zu nennen, welches allgegenwärtig durch keinen Unterschied getrübt noch unterbrochen wird, das vielmehr selbst alle Unterschiede ist, so wie ihr Aufgehobenseyn, also in sich pulsirt, ohne sich zu bewegen, in sich erzittert, ohne unruhig zu seyn«25. Hegel faßt dann die Überlegungen zu »Kraft und Verstand« zusammen und leitet zum Selbstbewußtsein über. Die Unendlichkeit ist jetzt für sich frei geworden, sie ist für das Bewußtsein Gegenstand. Das Bewußtsein des Unterschiedes ist aufgehoben; »es ist Unterscheiden des Ununterschiedenen, oder Selbstbewußtseyn. Ich unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, daß diß unterschiedene nicht unterschieden ist«26. Somit ist der absolute Begriff oder das unbedingte Allgemeine gefunden, das die Unendlichkeit ist. Die Unendlichkeit ist zwar nun vorhanden, das Bewußtsein findet sich aber immer noch nicht in ihr. Der Gegenstand des Bewußtseins ist nun der innere Unterschied, aber eben noch nicht es selbst. 24
Hegel, GW 9, 97. Ebd. 99. Herbert Marcuse versucht in seinem Buch, die Hegelsche Philosophie »in ihrer ursprünglichen Orientierung am Seinsbegriff des Lebens und seiner Geschichtlichkeit aufzuweisen« (3). Dabei wendet er sich auch der Phänomenologie des Geistes zu. Den dialektischen Weg vom Spiel der Kräfte zur Bewegung des Lebens, wie er im vorliegenden nachgezeichnet werden soll, verfolgt Marcuse aber nicht. Er bezieht sich auf den Lebensbegriff in der Phänomenologie innerhalb des Selbstbewußtseinskapitels und im Abschnitt über die »beobachtende Vernunft« und widmet sich nur andeutend dem Kraft-und-Verstandkapitel, wo »das ›Wesen des Lebens‹ einmal vorgreifend charakterisiert« wird (259). Dabei stellt er die Bewegtheit als Charakteristikum des Lebens sowie die Unendlichkeit als Seinscharakter des Lebens heraus. Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt am Main 1931. 26 Hegel, GW 9, 101. 25
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Im folgenden Kapitel – also im Selbstbewußtseinskapitel – muß sich dann erweisen, wie sich diese Wahrheit für das Bewußtsein selbst zeigt, d. h. wie das Bewußtsein sich selbst weiß. Und auch im Selbstbewußtseinskapitel sieht sich das Selbstbewußtsein dem Leben gegenüber, mit dem es in einen dialektischen Prozeß eintritt, so daß Hegel vom lebendigen Selbstbewußtsein und selbstbewußten Leben spricht. Der Begriff des Lebens ist in der Phänomenologie des Geistes in verschiedenen Bedeutungen und Kontexten präsent. Dabei geht es etwa um das Leben der Natur, des Geistes, besonders des sittlichen Geistes sowie um das Leben in der Religion. Festzuhalten bleibt vor dem Hintergrund des Lebensbegriffs am Ende des »Kraft und Verstand-Kapitels«, daß hier das Leben als eine Selbstbewegung zu verstehen ist. Einheit und Vielheit bewegen sich in einem unendlichen, lebendigen Prozeß, der gliedert und zugleich wieder zusammenführt. Es bedarf hierzu keines äußeren Anstoßes, um den Prozeß anzufangen. Das Lebendige stellt Hegel über das Mechanische, das den Anstoß von außen braucht, um bewegt zu werden und somit der Autonomie entbehrt. Ein paralleler Gedankengang läßt sich auch in der Wissenschaft der Logik finden, wenn sich Mechanismus und Chemismus in der Teleologie zusammenschließen, womit eine höhere spekulative Wahrheit erreicht ist. Das Leben selbst erhält in der Logik aber einen noch höheren Ort im spekulativen Gedankengang, denn es ist die erste, das heißt unmittelbare Stufe der Idee. In seiner Darstellung des Lebens in der Logik orientiert sich Hegel primär am Leben der Natur und zwar am tierischen Organismus. Ob Hegel nun in der Phänomenologie oder in der Logik seine logisch-dialektische Deutung des Mechanismus bzw. des organischen Lebens in der Weise wiedergibt, die der gegenwärtigen Forschung der Naturwissenschaft entspricht, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden.27 Die Idee, die der Hegelschen Auffassung von Kraft und Leben zugrunde liegt, ist, daß Hegel der Kraft eine spekulative Wahrheit zuspricht, da sie die Fähigkeit hat, sich zu teilen und gleichzeitig eine Einheit zu sein und durch diese Bewegung die Voraussetzung für die Unendlichkeit und das Wesen des Lebens bilden kann. Diese logische Bewegung anhand der naturwissenschaftlichen Phänomene zu prüfen und gegebenenfalls zu falsifizieren, wäre eine andere Aufgabe. Im Zusammenhang 27
Bei Renate Wahsner heißt es, daß Hegel einem Mißverständnis unterliegt, wenn er auf der einen Seite nur dem Organischen die Selbstbewegung zuschreibt und auf der anderen Seite den Gedanken von organischen Gesetzen zurückweist. Schließlich resümiert Wahsner in ihrem Buch. »Doch wie gezeigt werden konnte, beruht die neuzeitliche Naturwissenschaft schon in ihrer elementaren Form als klassische Mechanik auf dem Prinzip der Selbstbewegung der Natur«. Renate Wahsner, Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus, a. a. O. 227.
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mit diesen Überlegungen steht auch das Problem einer mechanistischen und teleologischen Ansicht der Welt. Zur wahren Erkenntnis eines Dinges ist der unendliche Prozeß des Lebendigen mitzudenken; eine mechanistische Sicht der Welt führt nicht zu einer wahren Erkenntnis. Das Lebendige wird hier als das der Selbstbewegung fähige genommen, das sich zu sich selbst verhalten und somit den Widerspruch in sich selbst zu denken vermag. Diese Fähigkeit sieht Hegel in einer mechanischen Betrachtungsweise nicht gegeben. Durch die dialektische Struktur der Kraft, die sich durch die Bewegung auszeichnet, wird der Übergang zum Unendlichen und zum Leben ermöglicht. Erst das Leben oder der Organismus bewirkt das Denken dieses Selbstverhältnisses und somit das Ding in seiner Ganzheit und widersprüchlichen Vielheit zu erfassen. Dabei soll das Leben hier nicht als das höchste Moment der logischen Bewegung in der Phänomenologie angesehen werden. Bekanntermaßen schließt sich an dieses Ergebnis das Selbstbewußtseins-Kapitel an, wo sich Leben und Selbstbewußtsein dialektisch auseinander entwickeln. Nach dieser Bewegung wird sich zeigen, daß das Leben vom Selbstbewußtsein her bestimmt ist, und daß das Selbstbewußtsein schließlich die bestimmende Gestalt ist. Jedoch braucht das Selbstbewußtsein das Leben, um zu sich selbst zu kommen.28 Durch die dargestellte logische Eigenschaft des Lebens, sich zu sich selbst zu verhalten und Gattungen zu bilden (wie sich dann im Selbstbewußtseinskapitel zeigt), kann das Leben für Hegels gesamtes logisches Denken als Modell geltend gemacht werden.29 So sagt Hegel etwa in der »Vorrede« der Phänomenologie des Geistes, daß sich die Philosophie nicht in einem abstrakten und unwirklichen Raum bewegt, sondern sie ist »das Wirkliche, sich selbst setzende und in sich lebende, das Daseyn in seinem Begriffe«30. Hegel bestimmt also das Leben als das Bewegende, sich selbst Erhaltende zu einem Grundmoment seiner Philosophie. An anderen Stellen der »Vorrede« spricht Hegel vom Leben der Wahrheit oder auch vom Leben des Begriffs, 28
Vgl. hierzu Hans-Georg Gadamer, »Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins«, in: Materialien zur »Phänomenologie des Geistes«, a. a. O., 222. 29 Dieser Auffassung ist auch bei Thomas Sören Hoffmann zu finden. Im Kontext der Problematik von Unendlichkeit und Endlichkeit innerhalb der Seinslogik heißt es: »Auch hier können wir auf unser Grundmodell für Hegels dialektisches Denken, auf den Begriff des Lebens, zurückkommen. Das Leben (und nur es) enthält zum einen den Tod, das heißt das Verschwinden der Lebendigen. Es enthält ferner aber nicht nur das Verschwinden, sondern ebenso die Reproduktion, und zwar die zunächst schlecht unendliche Reproduktion der Lebendigen, die immer neue Individuen, die aber ebenso eine immer neue Verdinglichung des Lebens selbst und nur das Sollen der Darstellung des ganzen Lebens ist.« (306, vgl. in dieser Hinsicht auch 118, 344). 30 Hegel, GW 9, 34.
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durch den sich die Philosophie erst organisieren kann31. Wie dieses Leben gedacht werden muß und wovon es sich unterscheidet, hat Hegel auch im Kraft und Verstand-Kapitel sowie im Selbstbewußtseins- und VernunftKapitel erarbeitet. Vor diesem Hintergrund läßt sich mit lebendigem Blick auf das gesamte Hegelsche Werk schauen.
31
Ebd. 38.
Unendlichkeit und Selbstbewußtsein Bemerkungen zum Prozeß von Bewußtsein und Selbstbewußtsein in Hegels Phänomenologie des Geistes Theodoros Penolidis (Thessaloniki) I. Der Prozeß des Bewußtseins Hegels Phänomenologie des Geistes ist entscheidend von dem Motiv einer tätigen Umkehr des Wissens in sich selbst in der Entäußerung seiner selbst getragen. Das Vermittlungsgeschehen der Wissensgestalten beruht entsprechend nicht auf äußerlichen Konstruktionen eines Subjekts, das an ihm selbst zwar auch geteilt wäre, jedoch in der Differenz und Vielheit zugleich ein gleichgültiges Sein bliebe. Vielmehr vollzieht sich das Vermittlungsgeschehen des Wissens als Vollzug totaler Bestimmtheit; sie ist, heißt dies, eine in sich reflektierte Beziehung auf sich wie zugleich auch die Darstellung von Selbstbeziehung im Anderen ihrer selbst, dem Beziehungslosen. Bestimmtheit ist so die Herstellung der Beziehung als des Totalen, das sich selbst sowohl in der selbsthaften Form als auch in einer »entformten« Äußerlichkeit dargestellt hat. Diese Paradeixis der Totalität als des Zusammenfallens von Innen und Außen, von Idealität und Realität ist die vermittelnde und zugleich verändernde Tat des Wissens. Das »Fortwälzen«1 des Wissens durch seine Entäußerung »ist auf diese Weise eine in sich zurückkehrende Bewegung«2. Wie die Handlung des Ödipus, des tragischen Königs von Theben, die zunächst das Intendieren der Wahrheit als eines Äußeren ist, sich mit einer zweiten Handlung überkreuzt, welche das Sich-nach-außen-Richten hemmt und es nach innen umwendet, so wird das bewußte Sich-Richten auf das Äußere von der immer schon vollzogenen Einkehr ins Selbstbewußtsein erkannt, die das Wissen des Bewußtseins um den Gegenstand als ein entfremdetes Selbstwissen auf seinen Grund zurückführt. Die Phänomenologie des Geistes ist bei dem allen methodisch von der spekulativen Logik unterschieden. Die rein sich mit sich selbst vermittelnde Mitte des Wissens, das Logische, ist phänomenologisch nur erst als die tätige, noch nicht beruhigte Unendlichkeit aufzufassen; sie ist noch durch das unmittelbare Umschlagen in das Andere ihrer selbst geprägt. Im Bewußtsein 1
Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, in: Theorie Werkausgabe (ThW) Bd. 7, Frankfurt/Main 1971, 114. 2 Ibd.
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erscheint das Wissen am Sein und zugleich das Sein am Wissen. Die logische Mitte dieses Wissens ist aber offen und noch nicht mit sich selbst zusammengeschlossen. Das erscheinende Wissen ist die Erfahrung der Selbstentfremdung; es lebt im Widerspruch eines offenen Schlusses, der zu seinen Extremen das Selbsthafte und das Sich-Richten auf das Äußere hat. Die unmittelbare Gestalt des Selbstbewußtseins, die die sich totalisierende Form der Vermittlung zunächst von sich ausschließt und der sinnlichen Gewißheit des Bewußtseins auch insofern korrespondiert, ist die Begierde. Die Begierde verhält sich zum Anderen ihrer selbst zunächst als zu einem bloßen Bewußtseinsgegenstand. Als die einfache Gewißheit ihrer selbst ist sie nur unmittelbare Form. Deshalb muß sie zu ihrer Wahrheit noch gelangen, d. h. den Inhalt herstellen, der ihrer Form gemäß ist. Am Ende der dritten Stufe des Bewußtseins erreicht das Bewußtsein die innere Form seiner Selbstgewißheit. Diese manifestiert sich als der unendliche Wechsel zwischen einer ersten Gesetzlichkeit, die sich als ruhige Einheit konstituiert (erste übersinnliche Welt), und einer zweiten Gesetzlichkeit, die das reine Umschlagen der Totalität in die Individualität ist (zweite übersinnliche Welt). Diese aktuale Unendlichkeit als die sich in ihrem Unterschied gleichbleibende Bewegung nennt Hegel den absoluten Begriff an und für sich, das einfache Wesen des Lebens. Das Bewußtsein als solches kann jedoch nicht die Unendlichkeit als die schlechthinnige Identität des Begriffs und des Lebens erreichen. Es wird aber durch die Erfahrung der Unendlichkeit ein Anderes als es ist, das Selbstbewußtsein. Die Wahrheit des Selbstbewußtseins ist die Verdoppelung seiner selbst. Das andere Selbst ist dabei nicht wie etwa bei Fichte nur postuliert3, sondern es ist reell vermittelt durch die Unendlichkeit, durch die Welt des Lebens.
1. Der Übergang des Bewußtseins ins Selbstbewußtsein Den Übergang des Bewußtseins ins Selbstbewußtsein kann man kurz wie folgt skizzieren: 3
»Es schweben mir vor Erscheinungen im Raume, auf welche ich den Begriff meiner selbst übertrage: ich denke sie mir als Wesen meinesgleichen. Eine durchgeführte Spekulation hat mich ja belehrt, oder wird mich belehren, daß diese vermeinten Vernunftwesen außer mir nichts sind, als Produkte meines eigenen Vorstellens… Aber die Stimme meines Gewissens ruft mir zu: was diese Wesen auch an und für sich seien, du sollst sie behandeln, als für sich bestehende, freie, selbständige, von dir ganz und gar unabhängige Wesen« (J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Hamburg 1979, 95).
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A) Das Bewußtsein ist der Unterschied zwischen der ideellen Identität mit sich (Ich) und dem Gegenstand. B) Das Bewußtsein als dieses Urteil zerbricht nur dann, wenn es einen Gegenstand vor sich findet, welchen es von seiner eigenen intelligiblen Selbstbeziehung nicht unterscheiden kann. C) Dieser Gegenstand ist das Gesetz als der innere Unterschied oder als die Unendlichkeit. Der Verstand als das bewußte Sich-Richten auf das Andere vermag jedoch an dem Gesetz seine eigene intelligible Tätigkeit nicht zu erfassen. Das geschieht erst in der zweiten übersinnlichen Welt, in der sich das Allgemeine als eine sich individualisierende Tätigkeit oder als ein Zugleichsein von Selbstbeziehung und Fremdbeziehung bestimmt. Der Gegenstand, an dem das Bewußtsein sein eigenes Gleichnis erkennt und damit Selbstbewußtsein wird, ist das Leben. D) Methodologisch ist der Übergang des Bewußtseins ins Selbstbewußtsein eine Darstellung des Absoluten4. Denn an diesem Übergang zerbricht die endliche Reflexion des Bewußtseins schlechthin wie auch das Sich-Kon4
Josef Simon deutet Hegels Satz aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, daß das Bekannte überhaupt darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt sein kann (28) im Hinblick auf die eben erwähnte Darstellung des Absoluten wie folgt näher: »In der Phänomenologie des Geistes ist das ›Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens‹ dargestellt. Wissenschaft ist wesentlich als werdende begriffen, und das Werden ergibt sich damit, daß ›das Bekannte überhaupt … darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt‹ ist. Wissenschaft ist das ›Aufheben‹ der Form des Bekanntseins einer Vorstellung, und zwar jeder Vorstellung, so daß sie als empirische an kein Ende kommen kann. Ihr Begriff treibt sie immer über sich hinaus. ›Das Analysieren einer Vorstellung‹ legt sie in ›ihre ursprünglichen Elemente‹ auseinander, aber das ist ›das Zurückgehen zu ihren Momenten, die wenigstens nicht die Form der vorgefundenen Vorstellung haben, sondern das unmittelbare Eigentum des Selbst ausmachen‹. Wissen ist also Aneignen, Zerlegen des Bekannten in Elemente, die Produkte des Geistes sind oder Gedanken. Wesentlich für Hegels Wissensund Wissenschaftsbegriff ist die Übersetzung ins ›Unwirkliche‹, durch eine ›Zauberkraft‹, die es in das Sein umkehrt. Das, als was die zunächst nur bekannte Vorstellung gedacht oder gewußt ist, gilt im demgegenüber sich für besser haltenden ›Wissen‹ als das wahrhaft Seiende und ist dann auf einer neuen Stufe des Wissens das Bekannte. Das Bekannte, der jeweilige Stand des Wissens, ist also immer schon etwas geistig Vermitteltes und darin unmittelbar etwas, das dem endlichen Subjekt zugehört, so daß das Subjekt im Wissen dieser Bedingtheit seines Wissens immer auch über das je Gewußte hinausgewiesen ist und bleibt. Es kommt bei keinem Inhalt zur Ruhe, denn man kann nicht sagen, daß es sich allmählich einer objektiven Wahrheit annähere. Das würde schon bei Kant dem kritischen Begriff von Objektivität widersprechen. Es kann immer nur von den jeweiligen geistigen Voraussetzungen aus, d. h. in einer jeweiligen Lage des Bewußtseins als einem vorhandenen, aber selbst schon vermittelten Wissen das Bekannte auf ›seine Wahrheit‹ hin transzendieren, so daß man ebensogut sagen könnte, das Wissen würde immer subjektiver« (Josef Simon, »Hegels idealistischer Wissenschaftsbegriff«, in: W. Marx [Hg.], Zur Selbstbegründung der Philosophie seit Kant, Frankfurt am Main 1987, 27–49).
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tinuieren aller bewußten Reflexionsbilder (Hegel hat sie in drei transzendentallogischen Metakategorien erfaßt: sinnliche Gewißheit, Wahrnehmung, Verstand) hier sein Ende erreicht. Das Denken ist somit nicht mehr ein SichRichten nach dem und auf das Vorstellungsbild; denn die intendierende Reflexion als Struktur des Bewußtseins wird in dem seinsproduktiven und durchaus nicht bewußten Begriff eines Gegenstandes aufgehoben, für dessen Realität die Subjekt-Objektidentität als eine sich selbst erfüllende Idee konstitutiv ist. Das Selbstbewußtsein ist die absolute Wirklichkeit des Bewußtseins. Wirklichkeit, auch im logischen Sinne, heißt: Identität von Innen und Außen, von Materialität und Idealität, von Unmittelbarkeit und Vermittlung. An der Wirklichkeit des Selbstbewußtseins verliert das Bewußtsein seinen abbildenden Charakter und erhält jetzt die Bedeutung einer sich aus sich selbst erfüllenden totalen Bestimmtheit. Der Inhalt dieses Totalitätsbegriffs ist nicht die endliche Andersheit (Gegenstand), sondern seine Inhaltserfüllung ist nunmehr Funktion seiner absoluten Formalität. Die Individualisierung dieser totalen Bestimmtheit ist daher nur als jene Selbstentäußerung zu denken, in der alle Alterität aus dem unendlichen Fürsichsein einer selbstaffirmativen Wirklichkeit entsteht. Es liegt auf der Hand, daß hier vom Leben die Rede ist. Das Leben ist nichts anderes als die aktuale Unendlichkeit. Methodologisch erfaßt, ist es die reelle Selbsthaftigkeit, die das Bewußtsein als Konstitution des Gegenstandes gemäß der intelligiblen similitudo der Reflexion mit sich selbst dadurch vereitelt, daß sie sich der Logik der »Emphantasis« (Einbildung) und der »Eneikonisis« (Repräsentation) des Gegenständlichen als die absolut wirkliche, sich in der Differenz vollbringende Idee der Bestimmtheit entgegensetzt5. Beim Übergang ins Selbstbewußtsein haben wir nach Hegel schon den Begriff des Geistes erreicht; es bleibt nur, diesen Begriff als den Prozeß des gesetzten Erkennens auch wirklich darzustellen.
2. Die Erscheinung als Mitte Das Ansichsein des Bewußtseins kann sich gegen die Erfahrung, die es von sich macht, nicht erhalten. Der Begriff des Gegenstandes, der das Bewußtsein erfüllt, hebt sich an dem wirklichen Gegenstand auf. Dieser Begriff ist wesentlich die intendierende Reflexion eines Anderen, d. h. das Erkennen, welches sich als nur subjektiv voraussetzt und sich zugleich bemüht, 5
27.
Nach Aristoteles ist die Wirklichkeit des Geistes Leben; vgl. Metaphysik Λ 7, 1072 b
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die Wahrheit »linear« als sein Anderes abzubilden. Um dieses Sich-Richten nach dem Anderen als nach seiner Wahrheit aufrechtzuerhalten, hat das Bewußtsein das sinnlich Seiende zu einem Ding, schließlich aber zu einem an und für sich Inneren modalisiert. Alle drei Definitionen des Gegenstandes bezogen sich auf ein in ihnen seine Selbsterhaltung anstrebendes Bewußtsein. Deshalb zeigte sich die Dialektik des Bewußtseins in der immanenten Bewegung der Erfahrung, welche das lineare Sich-Richten des Bewußtseins nach dem Gegenstand dadurch vereitelte, daß sie alle Alterität aus dem Sichbestimmt-Finden eines unendlichen Selbstverhältnisses hervorkehrte. Das Bewußtsein, d.i. die sich nach einem fremdursprünglichen Wahren richtende Gewißheit, hat, wie eben erwähnt, in drei verschiedenen Gängen versucht, seinen Begriff von der Wahrheit als dem Intendieren des äußeren Gegenstandes gegen seine Erfahrung zu behaupten. Das Wahre wurde zuerst als das unmittelbar Seiende ausgesprochen. Die an und für sich allgemeine Sprache hat jedoch das Bewußtsein dazu gebracht, statt dem unmittelbaren Seienden vielmehr das Allgemeine zu sagen. So wurde zweitens als das Wahre das allgemeine Ding der Wahrnehmung gesetzt, welches seine vielen Eigenschaften in sich selbst resümiert. Zuletzt wurde das Wahre als die Kraft intendiert. In diesem dritten Moment kehrte die Welt des Wahren zu einem schlechthin Inneren, d. h. in ein Reich von Gesetzen ein, das von aller Zufälligkeit frei blieb. Als Verstand dringt das Bewußtsein in den Grund des Gegenständlichen ein und setzt diesen in sich reflektierten Grund mit dem schlechthin Allgemeinen gleich. Das in sich Reflektierte ist die Kraft, die das Ding und seine Eigenschaften in dasselbe Innere absorbiert. Das Ding und die Eigenschaften sind jetzt nur noch die Äußerung eines Inneren, und der Verstand schaut nur aufgrund dieser Äußerung in das Innere selbst. Als Gegenstand des Verstandes ist dieses Innere nicht sinnlich gegeben, sondern vielmehr intelligibel. An diesem Resultat zerbricht das Bewußtsein als das Intendieren eines Äußeren. Denn es zeigt sich am Ende des dialektischen Weges des Bewußtseins, daß der Gegenstand des Verstandes nur das Intelligible selbst ist. Der Gegenstand fällt insofern in eine Einheit mit seinem Begriff. Das Innere der Dinge ist wohl an sich selbst der Begriff. Der Verstand aber begreift hier nicht den Begriff an und für sich, sondern er verhält sich zu ihm immer auch auf die Weise des bewußten Intendierens eines Äußeren. Weil er sich nur auf ihn richtet, erfaßt er ihn als die Erscheinung eines Inneren. Das Intendieren trennt dadurch den Begriff (das an und für sich seiende Intelligible) in ein äußeres Gegenständliches und in ein übersinnliches Ungegenständliches. Hierbei fungiert die Erscheinung als die gesetzte Mitte; isoliert von ihr ist das Innere das schlechthin Leere. Das Innere überwindet seine abstrakte
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Wesentlichkeit nur in der Vermitteltheit6 durch die Erscheinung. So ist die Erscheinung ein Äußeres, aber nicht ein Fremdes, sondern die eigene Äußerung des wesentlichen Inneren, d. h. des Gesetzes. In diesem Zusammenschluß des Äußeren und des Inneren erhält das Innere die Bestimmtheit des Äußeren, es bestimmt sich als das Andere seiner selbst, wodurch es erst faßbar wird. »Das Innere oder das übersinnliche Jenseits ist aber entstanden, es kommt aus der Erscheinung her, und sie ist seine Vermittlung; oder die Erscheinung ist sein Wesen und in der Tat seine Erfüllung. Das Übersinnliche ist das Sinnliche und Wahrgenommene, gesetzt, wie es in Wahrheit ist; die Wahrheit des Sinnlichen und Wahrgenommenen aber ist, Erscheinung zu sein. Das Übersinnliche ist also die Erscheinung, als Erscheinung«7. Das Wesen oder das Allgemeine der Erscheinung ist das Gesetz. Die Erscheinung ist hier nicht das Unwesentliche, sondern das Wesentliche des Gegenstandes an und für sich. Der Unterschied der besonderen Erscheinung gegenüber je anderer Erscheinung ist aber zugleich auf dieser Ebene der Dialektik des Bewußtseins dem Gesetz innerlich geworden, d. h. dieser Unterschied reflektiert sich nun an der Allgemeinheit des Gesetzes selbst. Das Gesetz produziert sich als ein »allgemeiner Unterschied«8 und stellt sich daher als ein »absoluter Wechsel«9 dar, in welchem die Negation zu einem wesentlichen Moment des Allgemeinen wird. Als »stilles Abbild«10 ist das Gesetz nicht mehr das unruhige an dem Spiel der besonderen Kräfte, auch nicht dasjenige, was in der Äußerung vergeht; es ist vielmehr der sich selbst gleichbleibende Grund, der sich durch seine innere Differenz manifestiert.
3. Die zweite übersinnliche Welt Das Gesetz bezieht sich innerlich auf das Viele, wenn es die jeweilige Bestimmtheit der Erscheinung in sich aufnimmt. Insofern gibt es viele Gesetze. Die Tätigkeit des Verstandes reduziert aber alle Vielheit der Gesetze auf Einheit. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von der Vereinheitlichung des
6
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. J. Hoffmeister, 6. Auflage, Hamburg 1952, 111; im folgenden zitiert als »PhG«. 7 PhG 113. Als Beleg für diese tautologische Verdoppelung könnte man das Vorbild (Paradeigma) der Welt aus dem Platonischen Timaios nennen. Denn das Weltall als Vorbild »umfaßt und schließt alles denkbare Lebende (noeta zoa) in sich, wie dieses Weltall uns und alle außer uns sichtbaren Geschöpfe (orata thremmata)« (Timaios, 30 c–d). 8 Vgl. PhG 114. 9 Ibd. 10 PhG 115.
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Gesetzes, so etwa bezüglich der Identifikation des Fallgesetzes auf der Erde mit dem Gesetz der Himmelsbewegungen (das Galileische Fallgesetz und das Newtonsche Gravitationsgesetz). In diesem Sinne schreibt auch nach Kant der Verstand der Natur in einem elementaren Sinne Einheit vor. Eine der wesentlichsten Einsichten der kritischen Philosophie besteht bekanntlich in der Rückbeziehung aller Naturerkenntnis auf die transzendentale Einheit der Apperzeption. Nach Hegel ist dabei der Einheitsgesichtspunkt, unter den alle Naturerkenntnis zu stellen ist, gegen das gedankenlose Vorstellen gerichtet11. In einer solchen allgemeinen Attraktion aller Gesetze ist der Gedanke der Unendlichkeit des Unterschieds schon mitgedacht. Der Verstand begegnet dem unendlichen Unterschied z. B. »darin, daß das Gesetz einesteils das Innere, Ansichseiende, aber an ihm zugleich Unterschiedene ist«12. Die Innerlichkeit der Kraft erhält durch das Gesetz eine intelligible Form, d. h. sie wird als ein Einfaches gesetzt. In der Einheit des sich selbst disjungierenden Gesetzes ist aller Unterschied ein Unterschied des Begriffs. »Aber dieser innere Unterschied fällt nur erst noch in den Verstand; und ist noch nicht an der Sache selbst gesetzt«13. Das Aufweisen der Gesetze an der Erscheinung, und ebenso die Vereinigung aller Gesetze unter ein Prinzip, erscheinen nur als eine Tätigkeit des Verstandes, welche das Erklären ist. Auf diese Weise aber trennt der Verstand das Gesetz von der Erscheinung ab und bringt es in Beziehung zur Kraft. »Die einzelne Begebenheit des Blitzes z. B. wird als Allgemeines aufgefaßt und dies Allgemeine als das Gesetz der Elektrizität ausgesprochen«14. Das Erklären als die Tätigkeit des Verstandes, welche das Innere reflektiert, »faßt alsdann das Gesetz in die Kraft zusammen, als das Wesen des Gesetzes«15. Das Erklären wird jedoch hier tautologisch. In der Tautologie des Erklärens, in der das Subjektive vom
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»Die Vereinigung aller Gesetze in der allgemeinen Attraktion drückt keinen Inhalt weiter aus als eben den bloßen Begriff des Gesetzes selbst, der darin als seiend gesetzt ist. Die allgemeine Attraktion sagt nur dies, daß alles einen beständigen Unterschied zu anderem hat. Der Verstand meint dabei ein allgemeines Gesetz gefunden zu haben, welches die allgemeine Wirklichkeit als solche ausdrücke; aber er hat in der Tat nur den Begriff des Gesetzes selbst gefunden; jedoch so, daß er zugleich dies damit aussagt: alle Wirklichkeit ist an ihr selbst gesetzmäßig. Der Ausdruck der allgemeinen Attraktion hat darum insofern große Wichtigkeit, als er gegen das gedankenlose Vorstellen gerichtet ist, welchem alles in der Gestalt der Zufälligkeit sich darbietet, und welchem die Bestimmtheit die Form der sinnlichen Selbständigkeit hat« (PhG 115 f.). 12 PhG 118 f. 13 PhG 119. 14 Ibd. 15 Ibd.
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Objektiven nicht mehr zu trennen ist, scheitert das bewußte Intendieren ein letztes Mal. Das Gesetz der »einzelnen Begebenheit«16 bzw. der Erscheinung ist hier das Gesetz der Kraft, des Grundes und des intelligiblen Sich-in-sichReflektierens. Das Gesetz als das Gleichnamige der Erscheinung und das Ungleiche der Erscheinung (etwa das Vorbild des Weltalls und das wirkliche Weltall im Platonischen Timaios oder das Gravitationsgesetz und die einzelne Begebenheit der Gravitation) machen in der Tat den unendlichen Unterschied aus. In diesem Unterschied ist das Allgemeine die umkehrende Bewegung des SichIndividualisierens, der unendliche Wechsel in sich selbst. Das Gleichnamige ist darin die Abstoßung von sich selbst, und ebenso ist das Ungleiche das mit sich selbst Gleiche. Das Bewußtsein hat sich insofern nicht auf ein wahrhaft Wirkliches des Erkennens bezogen, denn es hat die Totalität des Individuellen und Ungleichen nicht aus der allgemeinen Form des Gleichnamigen produziert. »Das Innere ist damit als Erscheinung vollendet. Denn die erste übersinnliche Welt war nur die unmittelbare Erhebung der wahrgenommenen Welt in das allgemeine Element; sie hatte ihr notwendiges Gegenbild an dieser, welche noch für sich das Prinzip des Wechsels und der Veränderung behielt; das erste Reich der Gesetze entbehrte dessen, erhält es aber als verkehrte Welt«17. Diese verkehrte Welt nennt Hegel die zweite übersinnliche Welt. Hier zeigt sich, daß der Bewußtseinsbezug einem absoluten Sich-Beziehen entstammt. Als die gegenseitige Durchdringung von Allgemeinheit und Einzelheit ist die zweite übersinnliche Welt schon das Selbstbewußtsein. Denn das Selbstbewußtsein ist wesentlich der sich totalisierende Logos des an sich seienden zu dem gesetzten Erkennen seiner selbst. Das unendliche Verhältnis des Selbstbewußtseins zu sich selbst ist durch sein Ansichsein das Leben so wie es durch sein Fürsichsein ein sich in seiner absolut individuellen Wirklichkeit erkennendes Selbst ist. Die zweite übersinnliche Welt ist das unendliche Erkennen, welches sich selbst in sein Ansichsein und in sein Gesetztsein, in sein Leben und in sein Erkennen disjungiert. Das Leben ist das unmittelbare Bestehen des intelligiblen Selbst. Deshalb spielt das Selbst nicht neben dem Leben, sondern bringt dieses zur Darstellung. Als eine die materielle Selbsthaftigkeit des Intelligiblen ermöglichende Einheit von Idealität und Realität ist das Leben die reine Idiasis (das Fürsichsein) des intelligiblen Selbstverhältnisses, d. h. des Selbstbewußtseins.
16 17
Ibd. PhG 121.
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4. Der Begriff des unendlichen Unterschieds in der Jenaer Logik von 1804/5 Hegel faßt in der Phänomenologie des Geistes das Selbstbewußtsein auf die Weise eines Unendlichkeitsbegriffs, welchen er bereits zwei Jahre vor der Phänomenologie des Geistes in der Jenaer Logik von 1804/5 entwickelt hatte. Die Unendlichkeit ist hier die Kategorie des Übergangs von der »einfachen Beziehung« zum »Verhältnis« (Logos). Da die Unendlichkeit ein Begriff des analogischen Bestehens ist, setzt sie die unmittelbar differente Beziehung als aufgehoben. Die Unendlichkeit negiert alle Bestimmtheit. Verfolgen wir zumindest in seinen groben Zügen diesen Begriff von Unendlichkeit. Die einfache qualitative Entgegensetzung der Realität und der Negation (Realität versus Negation) wird zu einer reflektierten, wenn die Realität als Beziehung gesetzt wird: [R=(R:N)], und wenn entsprechend die Negation an ihr selbst – im Verhältnis des Ansichseins (Leben) und des Fürsichseins (Erkennen) des Selbstbewußtseins wird diese Selbstvollbringung der Negation den Gedanken der Erfahrung des Selbstbewußtseins mit einem an und für sich Selbständigen, sich selbst negierenden anderen Selbst darstellen – das Bezogensein auf die Realität ausdrückt: [N= (N:R)]. Durch diese Differentiation wird der anfängliche Unterschied (R non N) zu einem Unterschied von zwei differenten Beziehungen: R qua R:N ist das Verhältnis zu N qua N:R. Das Verhältnis ist hier ein sich totalisierendes, denn die den Inhalt der Differenz liefernde Entgegensetzung ist diejenige von zwei Verhältnissen, welche das Allgemeine zu ihrem Element haben. Auf diese Weise ist die ursprüngliche Differenz von R und N zu einem einheitlichen Verhältnis von zwei Verhältnissen geworden. Sowohl die Negation als auch die Realität sind hier Darstellungen eines sich totalisierenden Verhältnisses. Das Sein ist die Darstellung des Nebeneinander (Raum) der Bezogenen bzw. der Verhältnisse. Das Nichts aber ist die tätige Nichtung (Zeit) der Selbständigkeit der disjungierten Beziehungen oder Verhältnisse in der Totalität des Sich-auf-sich-Beziehens-im-Anderen-seiner-selbst oder des Sich-zu-sichVerhaltens-im-Negativen-seiner. In ihrer totalisierten Form werden also das Sein und das Nichts der qualitativen Realität und der qualitativen Negation zu einer Analogie (Gleichheit von Beziehungen oder Verhältnissen), welche das Bezogensein (Nichts) und das Nichtbezogensein (Sein) ihrer Momente jeweils als in sich reflektierte Allgemeine setzt [R=(R=N):N=(N non R)]. Als ein sich totalisierendes Verhältnis ist das unendlich Analogische die Einheit, welche das Verhältnishafte und das Nicht-Verhältnishafte oder das Sichselbstgleichsein und das
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Sichungleichsein als allgemeine Bestimmungen aus sich selbst freisetzt. Das ist bereits die Kategorie der Quantität. In der Quantität ist das Eine und das Viele als wesentlich aufeinander bezogen, und zwar ein Mal als die alle quantitative Kontinuität erzeugende Gleichheit des Einen und Vielen und das andere Mal als die jede quantitative Diskretion produzierende Ungleichheit des Einen und Vielen. Die Quantität ist die tätige Einigung dieser beiden Momente. Sie ist ein Und, welches das Zugleichsein von Gleichheit und Ungleichheit des Einen und Vielen bezeichnet. Aber dadurch ist die Quantität noch nicht die Unendlichkeit, sondern nur eine die Idealität des Verhältnisses erzeugende Gleichung aller Bestimmtheit. Das absolute Und oder das unendliche Verhältnis als der aktuale Logos der Analogie ist das Ereignis der Idiasis (des abgesonderten Fürsichselbstseins) des ideellen Verhältnisses der Quantität. Das unendliche Verhältnis ist nicht eine träge Mitte zwischen dem »weder … noch« (erste These des Platonischen Parmenides), d. h. der Idealität produzierenden Einung, und dem »sowohl … als auch« (zweite These des Platonischen Parmenides) als dem Positionalität erzeugenden Und, welches den Widerspruch zu seiner unmittelbaren Konsequenz hat. Das unendliche Verhältnis ist also nicht die mesotes zwischen der Einung der Unterschiedenen und dem positiven »sowohl… als auch«, das aus der tätigen Uneinung entsteht. Als ein aktualer Begriff ist das unendliche Und in dem Gegensatz des »weder … noch« und des »sowohl… als auch« enthalten. Es ist also weder das Eine noch das Viele (das Bezogensein) und zugleich sowohl das Eine als auch das Viele (das Nichtbezogensein). In seiner Totalität erfaßt ist das Unendliche nur das Und, welches sich dem obigen Gegensatz selbst entgegensetzt. Die bloße Sichselbstgleichheit des unendlichen Und in dem Gegensatz des »weder … noch« und des »sowohl … als auch« bedeutet nicht nur die Vernichtung der differenten Bestimmtheit, sondern ist zugleich die Herstellung eines Selbst, welches sich gegen seine eigene Idealität als ein Bestehendes behauptet. Es wird hierbei erkannt, daß aus seiner allgemeinen Hypostasis die zwei Entgegengesetzten als kontradistinguierte Momente erst herkommen und daß die Entgegensetzung hier nur das Sich-Hypostasieren einer sich selbst vernichtenden, schlechthin flüssigen Bewegung des Sich-Unterscheidens ist. In diesem Sinne wird Hegel etwa sagen, daß die Konstruktion der Materie aus entgegengesetzten Kräften, aus leeren Richtungen, nicht gedacht werden kann, wenn nicht ein aktualer Punkt (d. h. das Unendliche) existierte, in welchem alle Entgegensetzung als immer schon vollbracht anzusehen wäre. »Die Materie ist schlechthin nur jenes Eins …, in welchem sie weder Entgegengesetzte noch Kräfte, und außer welchem sie ebensowenig sind«18. 18
Jenaer Logik 1804/5, GW Bd. 7, 4.
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Unendlich ist das Und, wenn es die Idiasis, d. h. die substantielle Eignung der negativen Beziehung auf sich als aktual setzt. Hier wird die Bestimmtheit (Unterschiedenheit) der Beziehung vernichtet und das Und ist nicht nur ein Medium des positiven Nebeneinanderseins, und zwar auch dann nicht, wenn dieses Nebeneinandersein das Bezogensein und das Nichtbezogensein eines Verhältnisses ist. »Die wahrhafte Unendlichkeit ist die realisierte Forderung, daß die Bestimmtheit sich aufhebt; a-A=0; sie ist nicht eine Reihe, die ihre Vervollständigung immer in einem Anderen, aber dies Andere immer außer sich hat, sondern das Andere ist an dem Bestimmten selbst, es ist für sich absoluter Widerspruch, und dies ist das wahre Wesen der Bestimmtheit, oder nicht daß ein Glied des Gegensatzes für sich ist, sondern daß es nur in seinem Entgegengesetzten, oder daß nur der absolute Gegensatz ist, das Entgegengesetzte aber, indem es nur in seinem Entgegengesetzten ist, vernichtet sich in ihm, so wie dieses Andere, so [sich] selbst; der absolute Gegensatz, die Unendlichkeit ist diese absolute Reflexion des Bestimmten in sich selbst, das ein Anderes als es selbst ist, nämlich nicht ein Anderes überhaupt, gegen das es für sich gleichgültig wäre, sondern das unmittelbare Gegenteil, und indem es dies, es selbst ist… Die Unendlichkeit als dieser absolute Widerspruch ist hiermit die einzige Realität des Bestimmten und nicht ein Jenseits, sondern einfache Beziehung, die reine absolute Bewegung, Das Außersichsein in dem Insichsein; indem das Bestimmte mit seinem Entgegengesetzten eins ist und beide nicht sind, so ist ihr Nichtsein oder das Anderssein derselben ebenso nur in der Beziehung auf sie, und es ist unmittelbar ebenso das Gegenteil seiner selbst oder ihr Sein; beides setzt sich ebenso unmittelbar als es sich aufhebt«19. 5. Die Unendlichkeit des Selbstbewußtseins Kehren wir zur Unendlichkeit als dem Resultat der phänomenologischen Bewußtseinsdifferenz zurück! Zuletzt hat sich die Verkehrung des Abbilds der wahrgenommenen Sache in sein Gegenteil ergeben. Darin zeigte sich ein Unterschied zwischen dem Gesetz als dem Gleichnamigen der Erscheinung und der einzelnen Sache der Erscheinung selbst, der aber aus der unendlichen Abstoßung des Gesetzes von sich selbst herkommt. Das Abgestoßene ist eine zweite übersinnliche Welt und sie ist die Verkehrung der ersten Welt; »und dieser absolute Begriff des Unterschieds, als innerer Unterschied, Abstoßen des Gleichnamigen als Gleichnamigen von sich selbst, und Gleich-
19
Jenaer Logik 1804/5, a. a. O. 33/34.
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sein des Ungleichen als Ungleichen« »ist« »rein darzustellen und aufzufassen«20. Es ist die Individualität des Erscheinenden, welche das Anderssein gegenüber dem Gesetz definiert. Dieses Anderssein aber entsteht aus dem inneren Differieren des Verstandes selbst. »Der Begriff als Begriff des Verstandes ist dasselbe, was das Innere der Dinge ist«21. Die Erscheinung ist das innere Sichungleichsein des Verstandes oder das Sichungleichsein ist die Unendlichkeit des Verstandes selbst. Das Bestehen aber, welches dieses Sichungleichsein erhält, ist das eigene Bestehen des unendlichen Unterschieds, welcher der Verstand ist. Die Negativität des unendlichen Unterschieds besteht darin, daß der Verstand sein Sichselbstgleichsein von seinem Sichungleichsein abtrennt. So ist er sowohl in einem Unterschied enthalten, und zwar als das Allgemeine, Sichselbstgleiche gegenüber dem Individuellen der Erscheinung, als auch ihm als die Totalität des aktual unendlichen Selbstbewußtseins entgegengesetzt. Hegel hat diese Unendlichkeit des Selbstbewußtseins beim Begriff des »Erklärens« klar ausgesprochen. Das Erklären, dialektisch erfaßt, ist die Beschreibung des sich selbst bewußt werdenden Verstandes22. Das Erklären ist nicht die Bewegung, welche das Sichselbstgleichsein und das Sichselbstungleichsein als Eines setzt – eine Vergleichung, die nach wie vor außer dem Sichselbstgleichsein und dem Sichselbstungleichsein vorgeht. Beim Unendlichen entsteht die Erweisung23 des Einsseins des Differenten aus dem Gegensatz an und für sich. Der Erweis ist hierbei nichts anderes als die aktuale Selbsthaftigkeit des Gegensatzes. Das Sein und das Erkennen fallen im Unendlichen zusammen. Das Unendliche ist die Aufhebung des Gegensatzes in der Herstellung eines absoluten Sich-Entgegensetzens, durch welches die Totalität des unendlichen Selbstverhältnisses seine Selbsthaftigkeit in zwei Verhältnisse darstellt. Erkennen und Leben sind das Sich-Entgegensetzen der Totalität des Selbstbewußtseins. Sein Sich-Herstellen als allgemeine Gattung ist das Erkennen, welches sich gegenüber seinem wesentlichen Anderen individualisiert, d. h. als das Moment seiner selbst qua Totalität erkennbar wird. Das Erkennen in seiner Sichselbstgleichheit ist immer schon als ein Hypostasiertes verdinglicht (das abstrakte Allgemeine), wenn es nicht als individualisiert gesetzt, d. h. wenn seine Allgemeinheit nicht an ihr selbst als das Andere ihrer selbst (Leben) erkannt wird. 20
PhG 124. PhG 120. 22 Vgl. PhG 126 f. 23 Vgl. Jenaer Logik 1804/5, a. a. O. 35; vgl. auch Th. Penolidis, »Logos als Theoria«, in: Synthesis philosophica 43 (2007), 175 ff. 21
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Das unendliche Sich-Entgegensetzen ist nicht von der Art einer Hyperoche (eines Übertreffens). D. h. dem Prozeß der analogischen Einung des Gegensatzes schwebt nicht das Ideal des absoluten Einsseins vor, zu dem die Analogie sich als ein Streben verhielte (der platonische Eros als wesentliches Moment der Konstitution der eidetischen Allgemeinheit). Das Unendliche ist nicht die Darstellung der ins Leere projizierten, herausragenden (hyperechousa) Einheit. Es ist vielmehr jener absolute Horos (sich aufhebende Bestimmtheit) als die Gegenwart des absoluten Und, welches in den Gegensatz enthalten und zugleich den Gegensatz an und für sich herstellt, dadurch daß es sich ihm als ein präsentes, alle ideelle Form von sich abstoßendes Selbst entgegensetzt. Das Unendliche ist der selbsthafte Horos oder das individuelle Sich-Verhalten der Analogie als das absolut Andere der sich momentaneisierenden Bewegung ihrer Idealität. Insofern ist es das absolute Sich-Abstoßen, die Koinzidenz der Herstellung des negativen SichBeziehens (als selbsthafte Idealität oder Erkennen) und der unmittelbaren Präsenz dieses Sich-Beziehens (als Leben). Sowohl das Gesetz als auch die mannigfaltigen Bestimmungen der Erscheinung entstehen aus der Unendlichkeit des Verstandes, d. h. aus dem Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein ist das absolute Und. Als solches steht es dem Unterschied von Gesetz und kontingenter Erscheinung gegenüber und ist zugleich dieser Unterschied selbst. Aus seiner Unendlichkeit schöpft das Selbstbewußtsein das Gleichsein mit sich selbst, welches als ein Individuelles sich von seiner Idealität (Verstand) abstößt. Das unmittelbare Gegebensein, welches die Bestimmungen der Erscheinung gegen das Gesetz charakterisiert, ist das eigene Reflektiertsein der idealisierenden Tätigkeit des Verstandes in das unmittelbar Individuelle. Aber diese unmittelbare Individualität ist nicht diejenige der sinnlichen Gewißheit, sondern das in sich reflektierte Individuelle; sie ist, heißt dies, die Bestimmtheit des Individuellen gegen die es herstellende, momentaneisierende Idealität – das einzelne Sein als Moment der Analogie oder als Moment des unendlichen Selbstverhältnisses. Diese beiden Momente, das reine Innere (Gesetz), aber als sich zeigend in der Erscheinung des einzelnen Seins und das ideelle Innere (Verstand), das in das reine Innere schaut, sind die Momente des Selbstbewußtseins, die in seiner Unendlichkeit zusammengeschlossen sind. Weder das reine Innere, das Gesetzmäßige oder der wesentliche Hintergrund der Gegenständlichkeit, noch der Verstand, der in dieses Innere schaut24, sind hier auseinandergehalten. 24
Vgl. PhG 128.
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Das Selbstbewußtsein ist in sich selbst bestimmt und dadurch von seiner absoluten Einheit mit sich unterschieden. Seine absolute Einheit ist Beziehung auf sich, Sichselbstgleichheit. So ist sie das an sich Allgemeine. Aber diese Einheit ist negative Beziehung auf sich, abstoßendes Negieren ihrer selbst. So ist das Allgemeine das Negative gegen die Einheit des Selbstbewußtseins. Aber dieses alle Bestimmtheit aus der tätigen Nichtung produzierende Sich-Diszernieren des Selbstbewußtseins ist das tätige Sich-Unterscheiden eines unendlichen Selbstverhältnisses, welches sich dadurch absolut besondert, daß es seine abstrakte Allgemeinheit zum Individuellen umkehrt. Der Gegensatz des Bewußtseins wird hier zum ersten Mal als eine Bewegung geistiger Selbstbestimmung gedacht. In dieser Bewegung wird nicht von der Unmittelbarkeit des Bewußtseinsgegensatzes ausgegangen. Vielmehr ist die Unmittelbarkeit dieses Gegensatzes erst aus der Rückkehr der geistigen Selbstbestimmung in sich selbst hergestellt. Die Unmittelbarkeit des Bewußtseinsgegensatzes ist also die Bewegung des inneren Unterschieds selbst. Und diese Bewegung, indem sie die Rückkehr ist, ermöglicht erst die »Dinge«, die anfangen oder die zurückgehen. Sowohl das Ich wie auch der Gegenstand sind im Bewußtsein Dinge. Das Selbstbewußtsein dagegen ist der Akt der Setzung der Selbsthaftigkeit, d. h. es ist das Werden der Glieder eines Gegensatzes, die in der sie schlechthin verflüssigenden Bewegung eines intelligiblen Selbstverhältnisses aufgehoben sind. Oder vom Selbstbewußtsein her werden die Dinge des Bewußtseinsgegensatzes als Logoi, d. h. als Bestimmtheit erzeugende Verhältnisse manifest, die in der Aktualität eines Selbstverhältnisses erst erzeugt werden. Die Erscheinung als das Sich-Zeigen des Inneren ist in Wahrheit das reine Bild des aktualen Sich-Bestimmt-Findens des Selbstbewußtseins.
6. Das Selbstbewußtsein an sich und für sich Das aktuale Selbstverhältnis oder das Selbstbewußtsein ist eine Gestalt der sich auf sich beziehenden Negativität. Was sich hier gegenübersteht, sind zwei Verhältnisse, die aus der Rückkehr des unendlichen Selbstverhältnisses zu sich selbst entstehen. Die Gegensätze sind im Selbstbewußtsein überhaupt nur als Rückkehr. Denn das Selbstbewußtsein ist der Schein eines Anfangs vom Ansichsein des Selbst (die epithymia des Lebendigen), das sein gesetztes Erkennen noch von sich ausschließt. Dieser Anfang wird durch die Rückkehr des Selbstverhältnisses negiert. Aber die Rückkehr des Selbstverhältnisses ist das Erreichen des sichselbstgleichen Ansichseienden und dadurch das Sich-Abstoßen von sich selbst in das Ansichsein des Selbst (Leben). In dieser
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absoluten Reflexion des Selbstbewußtseins ist erkannt, daß die Rückkehr erst das Voraussetzen des Ansichseins ist. Hegel hat das Selbstbewußtsein in der Begegnung des Bewußtseins mit dem Leben entstehen lassen. Das Leben als das Logische der Natur ist die vollständige Überwindung jenes theoretischen Erkenntnisbegriffs, der im bewußten Intendieren des Anderen aufging. Denn das Leben zeigt sich hier als das unmittelbare Dasein des Logischen selbst und kann daher dem logischen Erkennen nicht unmittelbar Gegenstand sein. Am Anfang des Selbstbewußtseinskapitels wird entsprechend eine identische Einheit von Bewußtsein und Leben gesetzt. Beide kommen aus dem unendlichen Selbstverhältnis, d. h. sie entstehen erst aus der Rückkehr des Unendlichen. Deshalb ist die Darstellung des Selbstbewußtseins z. B. im Begriff der Begierde von Anfang an in einer spezifischen Vermitteltheit mit dem intelligiblen Sich-Verhalten der logischen Idee25 gehalten. Wie die sinnliche Gewißheit tritt die Begierde als Unmittelbarkeit auf. Darin ist sie das bloße Trachten des Tieres nach Befriedigung. Zugleich aber ist die Begierde immer schon im Selbstverhältnis der Gewißheit seiner selbst aufgehoben und dadurch selbst als ein Verhältnishaftes, Logisches verwirklicht. Das Selbstbewußtsein ist als Selbstbewegung gedacht, d. h. als Bewegung, die aus sich kommt, insofern die Rückkehr in das Selbstverhältnis des Unendlichen den alle Bestimmtheit erzeugenden Gegensatz voraussetzt. Dieser ist erstens die Allgemeinheit des Selbstverhältnisses, die Gattung als solche, und zweitens das unendliche Umschlagen des Allgemeinen in das Andere seiner selbst (die Verkehrung der ersten Welt in die zweite übersinnliche Welt). Das ununterschiedene Selbstverhältnis als die Verkehrung der ersten Gesetzmäßigkeit ist die Unendlichkeit. Sie ist jetzt der Gegenstand des Verstandes. Aber der Verstand hypostasiert sich selbst wie auch seinen Gegenstand! Insofern verfehlt er wieder die unendliche Einheit von Erkennen und Leben, indem er »das Sichselbstabstoßen des Gleichnamigen«26 und die Perichorese der Ungleichen als ein Geschehen27 zwischen zwei Welten verdinglicht. Das Selbstbewußtsein ist die Wahrheit der Stufen des Bewußtseins, aber es ist sie nur unmittelbar. Hegel sagt: das Selbstbewußtsein ist nur für es noch nicht für das Bewußtsein geworden. Als Unterschied des Ununterschiedenen ist das Selbstbewußtsein für sich »noch nicht als Einheit mit dem Bewußtsein überhaupt«28. Das ansichseiende Selbstbewußtsein qua ansichseiendes 25 26 27 28
Vgl. Enzyklopädie (1817), Philosophie des Geistes, § 348. PhG 127. Vgl. PhG 127. PhG 128.
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Erkennen ist das Leben. Das Selbstbewußtsein »weiß um sich nur als um den Widerspruch, sich in seinem Gegenstand gefunden zu haben. Um diesen zu vermeiden, wird es in die stultitia des unmittelbaren Selbstbewußtseins hinabfallen, das zwar die höhere Stufe gegenüber Bewußtsein, damit aber auch die größere Unwahrheit ist. Es wird sich ans Töten begeben … Das Selbstbewußtsein ist darin noch abstrakt ›für sich geworden‹. Es hat sich im Gegenstand gefunden. So wird es unmittelbar auf sich pochen, ohne die Anerkennung eines ihm Fremden. Sein Fortschritt ist zugleich sein Irrtum. Es hat sich im Gegenstand gefunden. Wie soll es da noch einen Gegenstand als einen Anderen anerkennen?«29.
II. Der Prozeß des Selbstbewußtseins 1. Die Dialektik des Selbstbewußtseins Das Selbstbewußtsein ist ein Widerspruch. Das positive Auseinandersein seines Unterschieds liegt in der Macht des »erscheinenden Begriffs«30 selbst, welcher es durch zwei gegeneinander inkommensurable Bewegungen definiert. Die eine stellt sich als ein lineares Sich-Richten nach dem äußerlichen Objekt dar, das dem Zweck der Zerstörung des letzteren dient. Diese lineare Bewegung ist zugleich in ein anderes Bewegungssystem integriert, dessen Macht sich in der Verkehrung aller Linearität in gesetzte Selbstbezüglichkeit manifestiert. In der Bewegung des Trachtens nach der Zerstörung des äußerlichen Objekts vollzieht sich insofern ein anderes Tun, welches alle Repräsentation des tierischen Lebens im Selbstbewußtsein innerlich hemmt. Die Dialektik des Selbstbewußtseins demonstriert im Zusammensinken der Sehnsucht des Lebendigen in ihren unendlichen Grund den praktischen Logos selbst31. Der Sinn der vom Selbstbewußtsein vollzogenen Handlungen ist daher nicht im intendierenden Bewußtsein gegründet, sondern er ereignet sich vielmehr durch die Manifestation des vernünftigen Selbstverhältnisses im erscheinen-
29
Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, Die zweite Revolution der Denkungsart, 70. 30 Vgl. Enzyklopädie (1830), § 427, Zusatz. 31 So glaubt z. B. Franz Ungler, in: Organismus und Selbstbewußtsein. Untersuchungen zur naturbeobachtenden Vernunft bei Hegel, hg. v. Michael Wladika und Michael Höfler, Frankfurt/M. 2006, den Prozeß des Selbstbewußtseins als eine Tragik interpretieren zu müssen. »Die Tragik dieser Stufe, das unmittelbare Leben, die Sehnsucht, zu versuchen, die Tierwelt zu repräsentieren, sie aber notwendig nicht erreichen zu können, ist der – logisch gesprochen – Triumph der absoluten Idee über ihre Unmittelbarkeit« (75).
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den Begriff selbst, d. h. in der Befriedigung der epithymia des Lebendigen an einem äußerlichen Objekt, und zugleich im Zerbrechen dieser erscheinenden Seite an der Totalität des logischen Selbstverhältnisses. Die Tierwelt, die durch das Leben repräsentiert ist, zerbricht darin, daß sich in ihr die negative Einheit des praktischen Logos offenbart. Das Praktische ist die Vernunftoffenbarung im Lebendigen; es beginnt mit dem Widerspruch der epithymia des Lebendigen, die sich nur im Verhältnis zum anderen Selbst auf sich selbst beziehen kann. Der praktische Logos vollbringt also die Totalisierung der Momente des Selbstbewußtseins in einem allgemeinen Selbstbewußtsein.
2. Das Selbstbewußtsein als die bestimmte Negation des Bewußtseins In der unmittelbaren Identität mit dem Lebendigen ist das Selbstbewußtsein die Begierde. Die Begierde ist ein Widerspruch. Das Selbstbewußtsein soll seinem Begriff nach die Subjekt-Objektidentität darstellen, welche formell auf sich selbst bezogen bleibt und in ihrer Idealität alles Gegenständliche als aufgehoben setzt. In der Begierde ist das Selbstbewußtsein aber auf ein äußerliches Objekt gerichtet. Dennoch ist es kein Bewußtsein; denn es setzt seine Wahrheit nicht mehr in das Objekt. Es richtet sich vielmehr nach seinem Objekte in der praktischen Gewißheit, daß es selbst die Wahrheit ist und daß das Objekt dagegen jeder wahrhaften Realität ermangelt. Die Unendlichkeit entsteht also im Selbstbewußtsein als ein Trieb, den Widerspruch zwischen seiner Subjektivität und seiner Objektivität aufzuheben. Dies führt erst zur Begierde. Die Begierde ist der Trieb des Selbstbewußtseins nach seiner Befriedigung an einem Anderen; sie ist die Identität von Selbstbewußtsein und Leben als reine Tätigkeit. Die Begierde ist einerseits das Subjektiv-Setzen aller Objektivität. Andererseits aber entsteht aus dem Widerspruch des Selbstbewußtseins der Trieb nach der Realisierung dieser seiner subjektiven, d. h. nur inneren Totalität (Begriff ). Die Begierde ist also zugleich von einem Trieb nach Existenz getragen, welche das Selbstbewußtsein erst durch die Entwicklung seiner reellen Bestimmtheitsdifferenz für sich erlangen wird. Der Widerspruch des Selbstbewußtseins kann nicht anders gelöst werden als durch die Realisierung des unendlichen Selbstverhältnisses, das das Selbstbewußtsein ist, durch seine eigene Bestimmtheit. In einem solchen Realisierungsprozeß wird in der formellen Idealität des Selbstbewußtseins das sie erfüllende Objektive erzeugt (Bewußtsein), so wie umgekehrt das Objektive an sich selbst von der Tätigkeit des Selbstbewußtseins immer schon vertilgt wird.
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Den Realisierungsprozeß des Selbstbewußtseins könnte man durch folgenden Gedanken skizzieren: Die ichhafte Identität des Selbstbewußtseins ist in Wahrheit die unmittelbare Präsenz der Unendlichkeit; sie ist der sich zur Identität herstellende absolute Unterschied. Das Unterscheiden des Selbst von dem Negativen seiner ist das Setzen des Nichtseins dieses Negativen (das Aufzehren des Negativen). Damit hebt sich das Unterscheiden auf, d. h. das Unterscheiden ist auf der Grundlage der unendlichen Identität von Selbstbewußtsein und Leben die sich nur auf sich beziehende Negativität. In der Begierde kündigt sich die Wirklichkeit dieser absoluten Nichtidentität an. Denn die Begierde bezieht sich nicht auf das Andere als auf eine ihr äußerliche Qualität; das Andere ist ihr immanent. Begierde heißt: gefühlter (verinnerlichter) Mangel der unmittelbaren Subjektivität und Trieb nach dessen Aufhebung. In der Begierde ist also die Realisierung des nur Subjektiven an seinem eigenen Anderen angestrebt. Die Identität ist in der Unendlichkeit absolute Nichtidentität (absolute Form). Als Bestimmtheit aber ist die Identität ein gegen die Nichtidentität Gesetztes. Dank der Reflexion in sich setzt sich also das Selbstbewußtsein als das Andere seiner selbst; es ist das Ganze, das sich selbst als sein eigenes Moment setzt. So ist es ein Ich, das die Erfülltheit des Selbstverhältnisses, welches es aber selbst ist, von sich ausschließt, als ein zu Negierendes setzt. Damit allein ist die oben erwähnte Bestimmtheitsdifferenz hergestellt. Der unendliche Realisierungsprozeß des Selbstbewußtseins enthält diese beiden Momente: Erstens, es ist ein Selbst, welches sein Anderes negiert – das Andere »selbstsüchtig«32 als ein an sich Nichtiges setzt. Dieses Vernichten des Anderen geschieht auf der Grundlage der Unendlichkeit. Das Andere ist nicht das abstrakte Andere, sondern das Andere, das sich an der Welt des Lebens reflektiert hat. Dieses Andere ist das im Eigenen Anwesen der Totalität – das Leben. Also speist sich das Andere von der Totalität des Selbstverhältnisses oder von seinem schlechthin unmittelbaren Affirmiertsein. Der Gegensatz ist hier hartnäckiger als im Bewußtsein. Denn das Andere ist aus dem Selbstverhältnis entstanden; es ist das andere Selbst und als solches die tätig affirmierende unendliche Form an und für sich. Durch die resultierende Tätigkeit des Sich-Wendens der absoluten Negativität gegen ihr individuelles Affirmiertsein verwirklicht sich nur die Totalität des Selbstbewußtseins als die unendliche Form. In der resultierenden Tätigkeit des unendlichen Sichzu-sich-Verhaltens entsteht der praktische Trieb und mit ihm wird erst der Prozeß des Anerkennens eingeleitet.
32
Enzyklopädie (1830), § 428.
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Kraft seiner Unendlichkeit ist das Selbstbewußtsein zum reellen Verhältnis geworden. In ihm setzt sich das Objekt der Begierde als sich aufhebend. Sein qualitatives Dasein ist nur als sich beziehend auf das Andere seiner selbst. Also ist sein Fürsichsein ideell – ein Verschwindendes in der absoluten Momentaneität der resultierenden Tätigkeit selbst. Dieses Verhältnis als das Selbstbewußtsein des Lebendigen ist dasjenige, was die tierische Befriedigung der Begierde und das permanente Wiederkehren derselben (Lebensprozeß) hemmt. Die Begierde wird in der absoluten Idealität eines Selbstverhältnisses aufgehoben, welches sich der Realität seiner unendlichen Bestimmtheit entgegensetzt. Hier ist die Differenz nicht analytisch, sondern vielmehr das Produkt des Sich-Diszernierens des unendlichen Selbst. Das Sich-nach-außen-Werfen eines in sich reflektierten Selbst, d. h. die Darstellung des realisierten Begriffs des Selbstbewußtseins in äußerlicher Reflexion fällt mit der Bestimmtheitsproduktion im Selbstverhältnis zusammen. Bestimmtheit ist immer nur das Zusammenfallen des asymmetrischen Verhältnisses von Reflexion in sich und Reflexion in Anderes. Das Selbstbewußtsein als ein bestimmtes Selbstverhältnis33 ist beides: das mit sich identische Selbst und das sich durch die wahre Befriedigung der Begierde realisierende Selbstbewußtsein. Die Begierde des Selbstbewußtseins befriedigt sich aber wahrhaft, wenn sie im Sinne der praktischen Vernunft zur Anerkennung des anderen Selbstbewußtseins führt. Nach dem oben Gesagten ist die Identität des Selbst nicht nur eine leere Form. In dieser Identität betätigt sich der Widerspruch des unendlichen Begriffs, demgemäß das Selbstbewußtsein die Totalität und selbst die individuelle Präsenz ist, gegen die sich das Selbstbewußtsein als gegen das äußerliche Objekt richtet. Das Andere fällt hier also in den unendlichen Begriff, und zwar als das absolute Resultat des Selbsterkennens dieses Begriffs. Diese Befreiung des Begriffs von sich selbst in der Macht seiner absoluten Negativität, die Individuation des Begriffs, gedacht als eine Entleerung von wesentlicher Beziehung, durch welche absolute Äußerlichkeit hergestellt wird, ist das In-sich-selbst-Freiwerden des Begriffs durch den Schwund seiner Idealität; mit ihm fällt die Bestimmtheitsdifferenz zusammen. Also ist, so folgert Hegel, die Identität des Selbstbewußtseins als ein Trieb zu fassen, die Formalität seiner selbst zu überwinden und sich selbst in der gesetzten Unendlichkeit der Beziehung herzustellen. Die Begierde als ein negierendes Sich-Richten nach dem Objekt bewirkt zugleich das praktische Sich-Öffnen der abstrakten Iden33
In der Enzyklopädie (1830), § 429 gebraucht Hegel den Begriff eines allgemeinen Selbstgefühls, welches das tätige Selbst und den selbstlosen Gegenstand zusammenhält. Vgl. hierzu auch Josef Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart 1966, 92.
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tität des Selbstbewußtseins. Das negierende Moment der Begierde geht aus demselben Widerspruch hervor. Sie ist der Drang des Selbstbewußtseins als der lebendigen Einheit nach Vereinigung, d. h. nach Subjektiv-Setzung aller unmittelbaren Gegenständlichkeit. Die Begierde ist also sowohl Bewußtsein als auch Selbstbewußtsein. Als Bewußtsein eröffnet sie die an und für sich verschlossene Identität des Ich mit sich selbst, dadurch daß sie ihr ein Objekt entgegenstellt. Als Selbstbewußtsein aber ist die Begierde ein Vernichten dieses Entgegengestellten und ein Sich-Befriedigen an ihm. Durch das bloße Aufzehren des Objekts wird das letztere »ebenso subjektiv gesetzt als die Subjektivität sich ihrer Einseitigkeit entäußert und sich objektiv wird«34. Hier scheint das vernichtete Objekt einer fremden Macht zu unterliegen. In Wahrheit aber liegt in der Notwendigkeit des Begriffs des selbstlosen, toten Objekts sich selbst aufzuheben35. Denn der Widerspruch des Selbstbewußtseins mit sich selbst qua Bewußtsein setzte die Unmittelbarkeit des Objekts als subjektiv und objektivierte entsprechend dessen bloße Identität mit sich. Im Begriff des Selbstbewußtseins liegt also das SubjektivWerden des unmittelbaren Objekts. Vom Selbstbewußtsein her ist die Vernichtung des Gegenstandes durch die Begierde dessen eigenes Sich-selbstNegieren. Durch die Aufhebung, d. h. durch das Subjektiv-Setzen des Objekts wird das intelligible Selbstverhältnis restituiert. Das Selbstbewußtsein ist nicht mehr dasjenige, welches seinen Mangel in sich fühlt oder dasjenige, welches eines Objekts bedarf, um sich zu sättigen. Ebenso ist es nicht mehr die bloße Identität mit sich. Sondern die Subjektivität erfüllt sich hier mit Objektivität sowie die Objektivität in Subjektivität aufgehoben wird. Somit endet die tierische Begierde, die selbstsüchtig immer auf Zerstörung des Anderen geht. Der tierische Trieb hat nur der Idealisierung des unmittelbar Objektiven gedient (der Triumph der Idee über das unmittelbare Leben!) und wird jetzt in sein Gegenteil, in praktische Vernunft, umgewendet. Die Unmittelbarkeit der Identität des Selbstbewußtseins und des Lebens, die Begierde, geht sonach in deren Urteil über. Hier ist das Selbstbewußtsein das rein Nichtidentische, das Andere seiner selbst oder die Unendlichkeit. Das Andere, das aus der Selbstdisjunktion des unendlichen Begriffs hervorgeht, reflektiert sich an dieser Unendlichkeit und ist das selbsthafte Andere, das andere Selbst. Dadurch erscheint das Selbstbewußtsein sich selbst gegenüber.
34 35
G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) § 427. Vgl. Zusatz zu § 427, ThW Bd. 10, Frankfurt am Main 1970, 217.
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3. Der unendliche Gegenstand des Selbstbewußtseins Im Selbstbewußtsein ist der Begriff an dem wirklichen Gegenstand zu sich selbst gekommen oder die Gewißheit, sagt Hegel, hat sich im Selbstbewußtsein ihrer Wahrheit gleichgesetzt. Dieses Verhältnis sprach sich als die Unendlichkeit des Unterschieds aus. Der Unterschied ist identisch mit der Herstellung der intelligiblen Grenze in der Totalität der Selbsthaftigkeit, welche Hegel Unendlichkeit nennt. Der Unterschied ist daher gesetzt als aufgehoben; denn er ist in der Analogie des intelligiblen Selbsthaften zu sich selbst hergestellt. Die Idee der unendlichen Selbsthaftigkeit (Geist), die mit dem Selbstbewußtsein schon erreicht ist, ist das erste Resultat der Dialektik des Bewußtseins. In der unendlichen Selbsthaftigkeit ist: A) Das Ansich des Gegenstandes außerhalb des Seins desselben für ein Anderes. B) Das Ansich des Gegenstandes, das als das Außerhalb der intelligiblen Beziehung dargelegt wird und zugleich als bezogen auf die intelligible Beziehung gesetzt ist. So wird in der unendlichen Selbsthaftigkeit Realität produziert, die sich aber als reiner Prozeß präsentiert. Das Außerhalb ist hier immanent. Die Beziehung enthält nun einen Inhalt, wenn sich die resultierende Tätigkeit der Negativität gegen das eigene individuelle Affirmiertsein kehrt (Ansich). Diese Reflexion ist absolut. Der Inhalt ist nicht für ein äußerliches Bewußtsein, sondern »es ist für es [scil. für das Bewußtsein], daß das Ansich des Gegenstandes und das Sein desselben für ein Anderes dasselbe ist«36. Der Inhalt ist nur die resultierende Tätigkeit des Selbstbewußtseins, die sich gegen die Indifferenz seiner selbst wendet. Insofern ist »Ich der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst«37. C) Das Zusammenfallen des Außereinanderseins (A) und der immanenten Selbstäußerung (B) ist die Definition des Selbstbewußtseins. In diesem dritten Moment ist das Selbstbewußtsein absolute Negativität, die Bewegung als das Andere ihrer selbst oder das Umschlagen der Tätigkeit in die schlechthin seiende Allgemeinheit. Das Allgemeine ist nicht eine abstrakte Mitte zwischen dem Nichterkennen (Außereinandersein) und dem Erkennen (innerer Unterschied), sondern dasjenige, welches die Beziehung des Nichterkennens auf das Erkennen aufhebt und in dieser absoluten Nichtidentität das Sein als ein substantielles Bestehen erzeugt. Dies ist das Leben. Das Leben ist die Präsenz der nicht identischen, absoluten Kontinuität des intelligiblen Sich36 37
PhG 134. Ibd.
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zu-sich-Verhaltens. Das Selbstbewußtsein erhält somit ein Sein, das in einen Gegensatz gegen es selbst tritt. Aber dieser Gegensatz entsteht in Wahrheit daraus, daß es als ein unmittelbares Sein sich gegen sich selbst qua tätiges Negieren zeigt. Indem aber das Selbstbewußtsein sowohl unmittelbares Sein als auch tätiges Negieren ist, zeigt es sich nicht nur einem unmittelbaren Sein gegenüber, sondern es wird sich selbst offenbar (objektiv). So wird das Sein vielmehr als das eidos (Gesicht) des Selbstbewußtseins erkannt, das nur in dem Gegensatz zwischen seinem tätigen Negieren und seinem schlechthin unmittelbaren Affirmiertsein, seiner Individualität, sich selbst offenbar ist. Das Sein, das das Sich-Zeigen des Selbstbewußtseins ist, ist nicht nur absolute Negativität, sondern auch ruhige Allgemeinheit. Es ist rückkehrendes Sein in die unmittelbare Anwesenheit seiner unendlichen Form. Dieses an und für sich allgemeine Anwesende ist das Leben. Die Allgemeinheit des Lebens ist nur als die sich sich selbst rein durch ihre Individualität offenbarende Unendlichkeit.
4. Die Idee der lebendigen Selbsthaftigkeit Die Momente des Bewußtseins (das Sein der Meinung, die Einzelheit und die ihr entgegengesetzte Allgemeinheit der Wahrnehmung, das leere Innere des Verstandes) sind im Selbstbewußtsein keine Wesen mehr, sie stellen vielmehr Funktionen des Wissens von sich selbst dar. Insofern sind sie verschwindende Wesen, nichtige Unterschiede oder Erscheinungen. »Es scheint also nur das Hauptmoment selbst verloren gegangen zu sein, nämlich das einfache selbständige Bestehen für das Bewußtsein«38. Insofern der Unterschied nicht die Gestalt des Selbst hat, ist das Selbstbewußtsein auch nicht. Aber wenn es nichts ist, bleibt das Aufgehobensein des Unterschieds in seiner Idealität nur gesollt. Das intendierte Andere des Bewußtseins ist im Selbstbewußtsein als ein Moment enthalten. Aber alles Anderssein ist in der tätigen Einheit mit sich selbst erloschen, und die momentaneisierende Tätigkeit dieser Einheit ist jetzt das eigentliche Bestehen. Der Unterschied ist hier also nur Erscheinung (Moment), und das Bestehen hat somit kein Sein oder die Einheit geht hier nicht in die sich-in-sich-resümierende Bestimmtheit über. Insofern aber die Einheit noch der nötigen Realität ermangelt, ist im Selbstbewußtsein das Aufgehobensein allen Unterschieds in der tätigen Einheit seiner selbst noch gesollt. Damit schlägt das Selbstbewußtsein zum bloßen praktischen Trieb 38
Ibd.
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um, d. h. es strebt nach der Aufhebung seiner bloßen Idealität (Momentaneität) und somit nach der Realisierung von sich selbst qua Einheit. Die tätige Einheit mit sich selbst kann sich aber nicht realisieren, ohne das Sich-Unterscheiden als ein reelles in sich zu setzen. Nur wenn das Sich-Unterscheiden die Einheit mit sich in schlechthin in sich selbst gestalteten Gliedern verwirklicht, kann von einer Realisation oder Darstellung der Einheit in den Gegensatz hinein die Rede sein. Das Bestehen des Selbstbewußtseins, welches nur Erscheinung ist, und die Wahrheit seiner Einheit mit sich selbst, fallen hier auseinander. Deshalb ist das Selbstbewußtsein Begierde, d. h. Streben nach der Wiederherstellung der Wesentlichkeit seiner tätigen Einheit mit sich selbst. Daher ist der Gegenstand des Selbstbewußtseins nunmehr ein doppelter. Er ist erstens der unmittelbare Gegenstand des bewußten Intendierens, der jedoch von der unendlichen Selbstbeziehung immer schon absorbiert ist und den Charakter eines wahrheitslosen Negativen, bloß Scheinenden erhält. Der zweite Gegenstand des Selbstbewußtseins ist aber sein eigenes Selbst, das als ein wahres Wesen sich gegen den ersten Gegenstand richtet. Zugleich ist, wie schon angemerkt, das Selbstbewußtsein das Setzen dieses Unterschieds. Denn der Unterschied entsteht nur in der Sichselbstgleichheit seiner unendlichen Negativität. Es ist nur die Sichselbstgleichheit dieser Negativität, die ein Bestehen gegen den erscheinenden Gegensatz hat. »Das Wesen ist die Unendlichkeit als das Aufgehobensein aller Unterschiede, die reine achsendrehende Bewegung, die Ruhe ihrer selbst als absolut unruhiger Unendlichkeit; die Selbständigkeit selbst, in welcher die Unterschiede der Bewegung aufgelöst sind; das einfache Wesen der Zeit, das in dieser Sichselbstgleichheit die gediegene Gestalt des Raumes hat. Die Unterschiede sind aber an diesem einfachen allgemeinen Medium ebensosehr, als Unterschiede, denn diese allgemeine Flüssigkeit hat ihre negative Natur, nur indem sie ein Aufheben derselben ist; aber sie kann die Unterschiedenen nicht aufheben, wenn sie nicht ein Bestehen haben. Ebendiese Flüssigkeit ist, als die sichselbstgleiche Selbständigkeit, selbst das Bestehen, oder die Substanz derselben, worin sie also als unterschiedene Glieder und fürsichseiende Teile sind. Das Sein hat nicht mehr die Bedeutung der Abstraktion des Seins, noch ihre reine Wesenheit [die] der Abstraktion der Allgemeinheit; sondern ihr Sein ist eben jene einfache flüssige Substanz der reinen Bewegung in sich selbst. Der Unterschied dieser Glieder gegeneinander aber als Unterschied besteht überhaupt in keiner anderen Bestimmtheit als der Bestimmtheit der Momente der Unendlichkeit oder der reinen Bewegung selbst«39. 39
PhG 136.
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Für das Selbstbewußtsein als die Totalität des Verhältnisses ist das wesenlose Andere nicht. Wie das Bewußtsein hat das Selbstbewußtsein nun auch einen Gegenstand. Das Selbstbewußtsein setzt jedoch die Wahrheit nicht in den Gegenstand, sondern ins Verhältnis dieses Gegenstandes auf »die reine achsendrehende Bewegung«, die gerade durch das Ausgelöschtsein der Idealität die bestimmte Totalität der Unendlichkeit produziert. Hierbei wird das Selbstbewußtsein als das Differieren seiner Unmittelbarkeit und seiner Reflexion in sich zugleich gesetzt. Das Selbstbewußtsein macht die Erfahrung der Selbständigkeit des Anderen. Denn das Andere entsteht aus der Disjunktion des Einen Selbstverhältnisses. Es ist nur das Eine Selbstverhältnis, das sich selbst in der Doppelung der verhältnishaften Selbstheit und der verhältnishaften Andersheit bestimmt. Das aufzuhebende Andere ist also das Selbstverhältnis als solches oder an und für sich. Das Andere ist hier der in sich freie Begriff, der durch seine unmittelbare Anwesenheit, aufzufassen als die konkrete Hemmung aller ideellen Projektion des erkennenden Bewußtseins, zugleich als die Offenbarung des Gegenstoßes des bewußten Erkennens zu sich selbst, als die Offenbarung des Sich-Andersseins der unendlichen Negativität des Selbst präsent ist. Der Gegenstand der Begierde ist der Grund dafür, daß die Begierde überhaupt ist. Das Streben nach Aufhebung stellt zugleich her, was aufgehoben werden soll. Die idealisierende, d. h. rein nach Aufhebung des Anderen strebende Begierde, und der aufzuhebende Gegenstand der Begierde sind in Wahrheit nur die Reflexion eines Selbstverhältnisses in die zwei Momente seines Sich-zu-sich-Verhaltens, welche die Totalität des Selbst jeweils an ihnen selbst darstellen. Diese sind das Erkennen und das Leben.
5. Erkennen und Leben Das Selbstbewußtsein als die negative Einheit seiner eigenen Objektivität entwickelt sich als ein Trieb, alles Unterschiedene in diese negative Einheit zurückzuführen. In diesem Sinne ist die Begierde negative Einheit, die auf Vernichtung alles Anderen geht; sie ist dadurch der Trieb nach Konstitution der Allgemeinheit des Selbst. Die Einsicht, daß das Selbstbewußtsein an und für sich ein Erkennen ist, wird nicht von einer äußeren Reflexion hergestellt, sondern an ihm selbst, d. h. durch die Art und Weise wie das Selbstbewußtsein existiert, zeigt es sich als ein Erkennen. Sein Wesen ist, daß es lebendige, intelligible Selbstbeziehung, in sich reflektierte Unendlichkeit ist. Als seiende Beziehung auf sich selbst ist es nur ein Formelles, nicht aber eine sich selbst erkennende Seele. Es ist unendlich an ihm selbst, aber noch nicht für sich
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selbst. Sein Sich-Beziehen gestaltet sich jetzt als ein vernichtendes Negieren des Anderen. Damit es aber intelligibel wird, muß es sich an einem Selbsthaften reflektieren. Der Urausdruck aller praktischen Zwecksetzung sowie aller Ausführung eines Zwecks ist die Begierde. Denn der praktische Zweck negiert alles Gegebene, indem er nur die eigene Selbstgewißheit verwirklicht. Entsprechend ist die Begierde die Negation des bestehenden Lebendigen, zunächst nur als die tierische Sehnsucht, die das aufzuhebende Negative auf dem Altar der flüssigen Allgemeinheit des Lebens opfert. Obwohl die Begierde sich negativ gegen das Andere richtet, stellt sich ihr Anderes wieder her. Denn sie ist durch das Andere ihrer selbst durchaus bedingt. Die Aufhebung des Lebensprozesses (das Wiederkehren der Begierde) ist nur in der Selbstfindung oder im Selbstgefühl der Ichheit erreicht. Das ist schon, wie eben gesagt, der Anfang einer praktischen Beziehung des Ich zu dem Gegenstand. Praktisch bedeutet hier: ein Sich-Behaupten der Gewißheit seiner selbst durch die Vernichtung seines Anderen. Das Praktische beinhaltet aber auch ein Setzen von ichhaften Objekten (Zwecken), in deren Verwirklichung das Selbstbewußtsein sich erkennt und genießt. Die unendliche Einheit des Selbstbewußtseins ist ihr Abstoßen von sich selbst; ihr Ankommen bei sich ist das Setzen eines vorgefundenen Sichselbstgleichen, von dem das bei sich selbst Ankommen ausgeht. Insofern entzweit sich die unendliche Einheit in den Gegensatz des Erkennens und des Lebens. Das Erkennen ist das tätige Beziehen, die Reflexion oder dasjenige, für welches die unendliche Einheit der Unterschiede ist. Das Leben dagegen ist nur das individuelle Affirmiertsein jener unendlichen Einheit, ihre allgemeine Präsenz. Dieselbe unendliche Einheit wird einmal als tätiges, den Inhalt schlechthin produzierendes Beziehen, und dann auch als substantielle, allgemeine Präsenz zur Geltung gebracht. Der Gegensatz wird also von zwei Selbsthaften konstituiert, die die unendliche Einheit als ein Besonderes, gegen Anderes Gerichtetes, sich im Anderen seiner selbst Erkennendes individualisieren. Das Selbstbewußtsein ist die Herstellung des Inhalts und die Beziehung selbst. Als sich herstellender Inhalt ist es tätig gekehrt gegen das Leben. Diese Differenz ist aber nur der kognitive Reflex der Inkommensurabilität des wahren Selbst oder vielmehr nur das logische bzw. spekulative Außen des sich als sich inkommensurabel vermittelnden Selbst. Dagegen steht das Leben, gedacht als das absolute Affirmiertsein des inkommensurablen Selbstverhältnisses, das zuerst das abstrakt Allgemeine und sodann das Lebendige ist. Als die Beziehung an und für sich ist das Selbstbewußtsein das allgemeine Erkennen selbst, das sich in zwei Selbsthafte dirimiert und sie zugleich als die
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Inhalte seiner sich selbst totalisierenden Tätigkeit reflektiert. Das Erkennen und das Leben sind ein Gegensatz, der in Wahrheit aus der Rückkehr der Analogie des Selbstbewußtseins zu sich selbst entsteht. In diesem Verhältnis ist die Dialektik des Selbstbewußtseins verborgen. Das Selbstbewußtsein als ein Tätiges, das sich gegen ein Indifferentes wendet, wird erfahren, daß sein Gegenstand die unendliche Einheit selbst ist. Erst dies wird die Begierde befriedigen, d. h. sie zum anerkennenden Geist umwenden. Das Erkennen erkennt das Leben dadurch, daß es es als sein Anderes setzt. Durch das Sich-Beziehen-auf-sein-Anderes wird das Erkennen an und für sich individualisiert. Das Erkennen ist jetzt nur die eine Art des Selbstverhältnisses. Hierdurch wird erst das Selbstverhältnis als Bestimmtheit produziert. Das andere Moment der Totalität des Selbstbewußtseins ist das Leben, gegen das sich die Begierde richtet. Das Leben repräsentiert zunächst eine materielle Allgemeinheit – Hegel nennt sie die allgemeine Flüssigkeit oder auch das einfache allgemeine Medium der Unterschiede40, wie etwa das Licht als das Medium der Unterschiede der in ihm gesehenen Gegenstände angesehen werden kann. Allgemein ist dieses Medium, sofern es den Übergang in das Andere nur in der Bewegung des Sich-selbst-Bestimmens erzeugt. Das Auseinandersein des Lebens ist das »Aufgehobensein aller Unterschiede«41, denn das Leben ist »die reine achsendrehende Bewegung«42, d. h. die Differenzproduktion ist beim Leben identisch mit der Selbstgestaltung eines in sich ruhenden materiellen Selbst. Alle Ausgestaltung des Lebens ist immer schon seine Vermittlung mit sich. Die Gestalten des Lebens sind in seiner flüssigen Allgemeinheit immer schon verschwunden. Zugleich aber sind sie die Bestimmungen seiner an sich gestaltlosen Allgemeinheit; sie sind die durch das materielle Selbstsein vermittelten Manifestationen des Selbstseins und daher mit derselben Notwendigkeit auftretend wie dieses. So ist die Unendlichkeit des Lebens das konkrete Lebendige43. Die ruhige Allgemeinheit des materiellen Selbstseins oder das Ansich des Lebens wird durch das unendliche Sich-in-sich-Entgegensetzen als Lebendiges individualisiert. Die Gestalt individualisiert »die unorganische Natur«44 40
Vgl. PhG 136. Ibd. 42 Ibd. 43 Bruno Liebrucks verweist in diesem Zusammenhang auf das Apeiron des Anaximandros (a. a. O. 77). Nach Aristoteles hat Anaximander gelehrt, daß das Apeiron die Gegensätze in seiner Einheit vereinigt. Die Gegensätze entstehen aber aus seiner Einheit durch die biologische Funktion der Ekkrisis (Ausscheidung), vgl. Physik 187 a 20. 44 PhG 137. 41
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des Lebens, sein bloßes Ansichsein. Das Lebendige also, das die ruhige Allgemeinheit des Lebens zur Besonderheit umkehrt, ist die Einzelheit des organischen Individuums. Diese Idiasis des einfachen Allgemeinen konstituiert erst die Idee des Organischen, die Gattung. Die Idee des Organischen (die Gattung) ist die absolute Differentiierung, d. h. das reine Umschlagen der einfachen Allgemeinheit des Lebens ins Individuelle und die damit einhergehende Wiederherstellung der Allgemeinheit im Individuellen selbst. Als Gattung ist das Lebendige schon, was die Begierde nur unbefangen erreichen will, ein rein aus der Rückkehr ins Erkennen praktisch zu verwirklichendes Leben. Hierdurch wird das Leben absolute Selbstnegation, d. h. es wird an und für sich selbst als das Erkennen gesetzt. Darin liegt der Grund für die Selbständigkeit des Gegenstands der Begierde; er verkehrt sich an sich selbst zum Anderen seiner selbst, zum Erkennen. Das Zusammenfallen der Gegensätze ist die reine Unendlichkeit, die Analogie der Verhältnisse der Allgemeinheit und der Einzelheit, die sich gegen die abstrakte Entgegensetzung verwirklicht. Das Leben ist hier das Unendliche, d. h. das absolute Umkehren als die reine Idiasis des Logos oder als das Selbstsein des sich widersprechenden Einen. Dieses Selbstsein ist kein Sein, das dem Erkennen ein Gegenüber darstellte, sondern es ist das Erkennen des Lebens an und für sich, die reine Intelligibilität des Lebens, die erst zum anderen Selbstbewusstsein führen wird. Das Lebendige als die Einzelheit des Organischen ist das unendliche Und zwischen der Idealität des Erkennens und der Substantialität des Lebens, die Mitte ihrer gegenseitigen Individualisierung. Daher kann man sagen, daß im Vergleich zum Selbstbewußtsein das Bewußtsein nur die Abstraktion des unmittelbar ideellen Erkennens ist, welches, sofern es der nötigen reellen Selbsthaftigkeit ermangelt, auch nur das Tote (Gesetzmäßige) zu seinem Gegenstand hat. In der einfachen Einheit der Gattung wird das Leben dem Bewußtsein Gegenstand; als Totalität kehrt es aber ins Selbstbewußtsein zurück. Die Vergegenständlichung des selbständigen Lebens im Selbstbewußtsein bedeutet deshalb unmittelbar die Vergegenständlichung des Selbstbewußtseins an und für sich, seine wesentliche Entfremdung. Durch den Begriff der Begierde definiert Hegel die Position des Selbst in der Welt des Lebens. Die nur gesollte Einheit des Selbstbewußtseins wendet das Selbsthafte, das sich selbst nicht verlieren will, gegen die Welt des Lebens. Seine Selbstfindung ist unmittelbar bedingt durch diese Welt. Deshalb ist es Begierde – praktischer Trieb. Es kann sich nicht in reiner Selbstreflexion erfassen, denn es ist seiner selbst gewiß nur durch das Aufheben der Alterität des lebendigen Individuums.
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Sein Selbstbegriff existiert hier nur in der Haltung eines Begehrenden, und zwar durch das Vernichten des anderen die Verwirklichung seines eigenen Sich-zu-sich-Verhaltens Begehrenden. Die Begierde ist hiermit zerstörend; sie zehrt das Andere, d. h. das Leben auf. In dem begehrenden Negieren des Anderen meldet sich aber schon der praktische Wille nach Selbstbestimmung, die nur in der Welt des Lebens möglich ist.
6. Die wahre Befriedigung der Begierde Als Leben ist das Selbstbewußtsein zugleich das unendliche Erkennen, d. h. das Für-es-Sein seiner unendlichen Beziehung auf sich selbst. Das Selbstbewußtsein ist als Erkennen der Prozeß, dessen Momente an und für sich jene Selbsthafte sind, die in einem tätig gesetzten Anerkennungsverhältnis erst verwirklicht sind. Das ist das Ergebnis der gesamten Deduktion des Anerkennungsverhältnisses. Wie gelangen wir aber zu diesem Resultat? Die unendliche Einheit des Lebens geht aus den Unterschieden des Bewußtseins in sich selbst zurück. Als das Aufgehobensein aller Differenz ist das Leben das Wesen. Zugleich ist es das Selbst, in welchem die Unterschiede ineinander umschlagen, dadurch, daß sie durch seine rein umkehrende Mitte individualisiert sind. Diese unendliche Einheit des Lebens nennt Hegel die sich vernichtende Zeit, welche durch ihre Selbstheit die Gestalt des positiven Nebeneinander, des Raumes hat. Das Leben entwickelt seine negative Natur, nur indem es die bestehenden Unterschiede aufhebt. Aber das wahre Bestehen ist die sichselbstgleiche Unendlichkeit des Lebens. Seine Selbsterhaltung ist das Sich-Aufheben der Unterschiede. Dadurch sind die Einzelheit und die Entzweiung immer schon zur aufgehobenen Einzelheit geworden. Die Unterschiede bringen das Leben hervor; das Leben aber bringt in sich selbst diese seine Unterschiede hervor. Die Unterschiede setzen etwas voraus, das schon gewesen ist, weil sie nur aus der Rückkehr seiner Analogie (Unendlichkeit) herkommen. Alle unterscheidende Tätigkeit ist nur die Reflexion des Lebens in sich selbst. Weil die Einheit das Bestehen ist, so hat auch der Unterschied Selbständigkeit nur an ihr. Die erste Realisierung des Lebens ist das Bestehen der selbständigen Gestalten. Hier ist das Leben tätiges Sich-Unterscheiden, sich selbst diszernierende Bestimmtheit gegen die Indifferenz seiner selbst (allgemeine Flüssigkeit). Das Leben ist aber nicht nur Gestaltung, sondern auch das Sich-Bewegen der Gestaltungen oder der Prozeß, bei welchem die Gestaltungen sich selbst in der Allgemeinheit der Gattung verlieren. »Die einfache Substanz des
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Lebens also ist die Entzweiung ihrer selbst in Gestalten und zugleich die Auflösung dieser bestehenden Unterschiede; und die Auflösung der Entzweiung ist ebensosehr Entzweiung oder ein Gliedern«45. Im Lebensprozeß ist das Leben nicht eine sich ins Andere einfach kontinuierende Einheit, sondern es wird zur sich selbst gleichen Gestalt gegen die Indifferenz seiner Einheit mit sich selbst. Das Leben ist Lebendiges. Das Lebendige ist die Individualität, die sich selbst gegen das indifferente Wesen des Lebens erhält. Durch den Reproduktionsprozeß der Gattung kehrt jedoch die sich selbst erhaltende Gestalt zur tätigen Einheit des Lebens mit sich selbst zurück, welche die Bewegung der Individualisierung des Lebens in sich aufhebt. Das Sich-Entzweien und die Auflösung der Unterschiede fallen im Lebensprozeß zusammen. Die Einheit des Lebens ist hier das Insich-Reflektierte, welches das Zugleichsein von Individualität und Totalität, von Unmittelbarkeit und Vermittlung ist. »Dieser ganze Kreislauf macht das Leben aus, weder das, was zuerst ausgesprochen wird, die unmittelbare Kontinuität und Gediegenheit seines Wesens, noch die bestehende Gestalt, und das für sich seiende Diskrete, noch der reine Prozeß derselben, noch auch das einfache Zusammenfassen dieser Momente, sondern das sich entwickelnde und seine Entwicklung auflösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze [zu sein]«46. Die Einheit des Lebens, die sich durch den Lebensprozeß entwickelt hat, ist also zugleich als in sich reflektierte Einheit zu nehmen. Denn sie ist nicht nur die seiende Einheit des Unendlichen mit sich qua Leben. Die zweite, in sich reflektierte Einheit ist die einfache Gattung als die schlechthin umkehrende Mitte zwischen der Allgemeinheit und der Einzelheit ihrer selbst. Die Gattung nimmt wesentlich Bezug auf das Individuelle, und die Vollendung der Individualität ist ihr Aufgehobensein in der Gattung, welche in der Geschlechterdifferenz das Andere ihrer selbst und in diesem Anderssein sie selbst ist. In der ›Wissenschaft der Logik‹ schreibt Hegel: »Das ursprüngliche Urteil des Lebens besteht … darin, daß es sich als individuelles Subjekt gegen das Objektive abscheidet und, indem es sich als die negative Einheit des Begriffs konstituiert, die Voraussetzung einer unmittelbaren Objektivität macht«47. Hier ist das Leben ebenfalls lebendiges Individuum, Lebensprozeß und zuletzt Prozeß der Gattung. »Das Leben ist … Prozeß der Gattung, seine Vereinzelung aufzuheben und sich zu seinem objektiven Dasein als zu sich selbst zu verhalten. Dieser Prozeß ist hiermit einerseits die Rückkehr 45 46 47
PhG 137 f.. Ibd. Wissenschaft der Logik II, a. a. O. 473.
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zu einem Begriffe und die Wiederholung der ersten Diremtion, das Werden einer neuen und der Tod der ersten unmittelbaren Individualität; andererseits aber ist der in sich gegangene Begriff des Lebens das Werden des sich zu sich selbst verhaltenden, als allgemein und frei für sich existierenden Begriffes, der Übergang in das Erkennen«48. Wie auch in der Wissenschaft der Logik ist in der Bewegung des Lebens die einfache Gattung nicht für sich. Die Realisierung der Unendlichkeit im Leben hat sich noch nicht von der Besonderheit der lebendigen Geschlechter befreit. Damit die Unendlichkeit auch für sich wird, muß sie sich eine Realität geben, welche selbst einfache Allgemeinheit ist49. Die Unendlichkeit, die sich zu sich als Unendlichkeit verhält, hat das Allgemeine zu ihren Gliedern; sie ist die Unendlichkeit der Analogie oder der Idee und insofern ist sie das Erkennen, in welchem sie für sich selbst ist. Dieses Resultat beschreibt Hegel als eine Rückkehr des Bewußtseins ins einfache Bestehen des Unendlichen und als eine Wiederherstellung der Idealität der unendlichen Beziehung auf sich. Damit kehren wir auf das Bewußtsein zurück, »für welches es (scil. das Leben) als diese Einheit oder als Gattung ist«50. Das Selbstbewußtsein ist jetzt dieses andere Leben, welches das unmittelbare Verhältnis des Seins der lebendigen Gestalten umkehrt, die Gestalten absolut individualisiert, sie zu lebendigen Individuen macht, um sich damit zur Allgemeinheit der Gattung zu erheben. Die gebrochene Mitte zwischen den sich selbst in der Gattung aufhebenden Gestalten und dem Medium der einfachen Allgemeinheit oder dieses Zugleichsein von Realität und Idealität ist das Fürsichsein der Unendlichkeit, d. h. das Erkennen. Dieses Selbstbewußtsein oder das reine Ich entwickelt sich nun nach dem Begriff des ersten Lebens. Es zeigt sich als das Zentrum des Sich-Disjungierens in Individualität und Totalität. Das erste Leben setzte sich als die Indifferenz seiner wesentlichen Einheit mit sich, sodann als das Gebrochensein dieser Einheit in lebendige Gestalten und zuletzt als der Prozeß, d. h. als das unmittelbare Umschlagen der Individualität und der Totalität ineinander. Die lebendige Individualität kann das Leben nicht zum Gegenstand haben, denn sie lebt das Leben unmittelbar und ist dadurch von Anfang an in ihm involviert. Weil sich das Selbstbewußtsein als das sich erkennende, sich zum Gegenstand habende Leben dem ersten Leben entsprechend fortbestimmt, wen48 49 50
Ibd. Vgl. Wissenschaft der Logik II, 486. PhG 138.
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det es die unmittelbare Kontinuität seines einfachen Wesens (Ich=Ich) ins Individuelle um und momentaneisiert seine individuellen Gestaltungen in einem unendlichen Prozeß – im Prozeß der Umkehrung der Besonderheit in die Totalität ihrer selbst. Im Gange der oben erwähnten Individualisierung erscheint ein Selbstbewußtsein einem Selbstbewußtsein gegenüber. Dieser Prozeß ist der Anfang des Anerkennungsverhältnisses. Das andere Leben ist das Selbstbewußtsein, das zunächst die reine Sichselbstgleichheit des Ich ist. Die Wiederherstellung des Bewußtseins in ihm fängt mit der Vergegenständlichung des Lebens an. Die Vergegenständlichung des Lebens in der Form des selbständig Lebendigen macht den Anfang der Vergegenständlichung des Selbstbewußtseins an und für sich aus. Das einfache Ich ist die Gattung, in welcher alle Andersheit des selbständigen Lebens aufgehoben ist. Insofern negiert das Ich alles selbständige Leben und erhält seine Selbstgewißheit durch das Aufheben seines Anderen. Das Ich ist Begierde. Aber das Selbstbewußtsein lebt in der Welt des Lebens und partizipiert an diesem. Das gilt auch von der Vergegenständlichung, die es vornimmt. Das Selbstbewußtsein und sein Gegenstand existiert nicht neben dem Leben. Das Gattungssein des Selbstbewußtseins zeigt sich in ihm als Begierde, d. h. als ein seinsollendes Aufgehobensein alles Andersseins in der Totalität der Gattung. Das Selbstbewußtsein erkennt sich selbst nur dadurch, daß es das Andere vernichtet. Diese Vernichtung ist die Erfahrung, daß die lebendige Individualität an und für sich in der Allgemeinheit aufgelöst wird. Als Begierde zehrt das Selbstbewußtsein das lebendige Andere auf. Was ist aber in Wahrheit die Befriedigung der Begierde? Die befriedigte Begierde kann nicht nur in der Vernichtung des selbständigen Lebens liegen. Denn dieses Leben ist die notwendige Bedingung der Begierde. Durch sein Vernichtetwerden entsteht die Begierde wieder. Also ist die wahre Befriedigung des Hungers nach Totalität eine andere! Mit der bloßen Vernichtung des Anderen zehrt das Selbstbewußtsein sich selbst auf; es empfindet den Mangel seiner selbst und ist auf die Aufhebung dieser Entfremdung gerichtet. Dadurch aber ist es nicht die Gattung, sondern selbst ein Individuelles, das begehrt. In dieser unruhigen Beziehung ist es nicht ein Allgemeines und sein Gegenstand ebenso nicht ein Allgemeines für es. Die wahrhaft gesättigte Begierde kann nur in der Einheit seiner und seines von ihm unterschiedenen Anderen liegen. Als diese Einheit ist das Selbstbewußtsein ein Ganzes. Das lebendige Ganze (Geist) ist nur die Einheit zweier Selbst. Der Prozeß des Lebens am Erkennen reflektiert erscheint als ein Zerfallen der Gattung in zwei Individuen. Die Gattung ist erstens als Ich, welches in der negierenden Begierde sich selbst
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fühlt51. Dieses Selbstgefühl entwickelt die Gattung erst nur als begehrendes Ich. Zweitens ist die Gattung die Totalität, die das abstrakte Ich von sich ausschließt, für welches ein anderes Abstraktes ist. Die Gattung steht aber hier nicht nur gegenüber dem mit sich identischen Ich, sondern sie ist dieselbe Einheit als das Nichtidentische, als das Andere seiner selbst. Hier ist das Anderssein unmittelbar in sich reflektiert, es ist Begriff des Andersseins überhaupt, so daß, was ist, unmittelbar dies Gedoppelte ist: einmal das an sich frei begehrende Selbstbewußtsein und dann das seinige Andere, das Andere, das durch das Selbst der Gattung hindurchgegangen ist. Der Satz des Selbstbewußtseins »ich bin der Gegenstand meiner selbst« vermittelt sich nun durch die Unendlichkeit dieses Gegenstandes. Das andere Selbstbewußtsein als diese Einheit des Sichselbstgleichen und des Unendlichen ist die sich erkennende Gattung. Es ist unendlich als sich selbst negierend und beruhigt seine Unendlichkeit in seiner eigenen Selbständigkeit. So ist es Bewußtsein52. Es ist nicht nur sich selbst gleich, sondern wird sich selbst gleich durch die Selbstnegativität. Sein Werden zu sich selbst ist durch die Begierde des einfachen Ich vermittelt, denn in ihm findet das einfache Ich das Seinige, d. h. es begreift in ihm die Andersheit als Sichselbstgleichheit. Dieses lebendige Selbstbewußtsein ist also nicht nur das Andere des einfachen Ich, sondern das Andere seiner selbst. Das Andere ist hier nur das an sich Negative. »Indem ein Selbstbewußtsein der Gegenstand ist, ist er ebensowohl Ich wie Gegenstand«53. Die Antwort auf die Frage nach der Befriedigung der Begierde ist also die folgende: Die wahre Befriedigung der Begierde ist das sich selbst Erkennen in seinem Anderen oder die Erreichung der in sich reflektierten Allgemeinheit des sich tätig in den Gegensatz von Leben und Erkennen manifestierenden Logos. Das Bewußtsein hat diese Koinzidenz der Gegensätze niemals erreicht. Die Rückkehr des Bewußtseins in sich hat nur den Mangel an Allgemeinheit und ebenso an Einzelheit hervorgebracht. Dieser Mangel behebt sich nur durch das sich selbst totalisierende Verhältnis des ansichseienden zum gesetzten Selbstbewußtsein, d. h. durch die Selbstdifferentiierung der geistigen Analogie, welche mit der Unendlichkeit des Lebens zusammenfällt. Dem Selbst tritt als Gegenstand das Selbst entgegen. Hierbei realisiert sich das wahre Wesen der Unendlichkeit, das Verhältnis (Logos). Das Selbst kann hier nicht begehren, aber auch nicht töten und in der Tötung sich selbst 51 52 53
Vgl. Enzyklopädie (1830), § 431. Vgl. PhG 139. PhG 140.
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befriedigen. Denn das partizipatorische Wesen des Lebens führt es dahin, daß es sich im Anderen seiner selbst erkennt54. Das Ich in seinem Plural, welcher sich durch die umkehrende Mitte des Selbstverhältnisses zum unendlichen Und, zur Einheit in der Vielheit umkehrt, ist jetzt das wahre Selbst. Nach Hegel ist hier schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden. Geist meint: in der Welt des Lebens erreicht das Selbstbewußtsein seine ichhafte Substanz nur wenn es sich am anderen Selbstbewußtsein reflektiert. Sein Reflektiertsein an der äußeren Natur hatte als Resultat nur die Entfremdung des Selbst. Die wahre Selbstvermittlung der Intelligenz und damit die Begründung ihrer Geschichtlichkeit liegt in der Praktizität der interpersonalen Beziehung, die sich notwendig im Horizont (Welt) des Lebens entfalten muß. In dieser Beziehung bestimmt sich die Begierde weiter zu einer Aneignung des in der Welt des Lebens gemeinschaftlich Erarbeiteten. Wie auch Kant den Willen als das Prinzip des Praktischen mit der tierischen Willkür beginnen läßt, beschreibt Hegel den praktischen Trieb erstens als die tierische Sehnsucht, zweitens als den Totschlag und drittens als die Unterjochung des Anderen, die der wahrhafte Anfang des unendlichen, inkommensurablen Anerkennungsverhältnisses55 zwischen zwei Lebenden ist.
54
Die Rede von einer »partizipatorischen Struktur« des Begriffs führt Thomas Sören Hoffmann, »Reflexion, Begriff und spekulative Erkenntnis. Über Weisen des Wissens im Blick auf Hegels Logik«, in: Von der Logik zur Sprache, Stuttgarter Hegel-Kongreß 2005, hg. v. Rüdiger Bubner und Gunnar Hindrichs, Stuttgart 2007, ein. »Der Begriff, der sich am Leben bricht, ist nicht ein Begriff, der sich einer äußeren Welt nur zweckmäßig assimiliert. Er ist der Begriff, der vielmehr als das vermittelnde Band seiner unmittelbaren Form und seiner Realität, d. h. als den eigenen inneren Grund seiner wesentlich partizipatorischen Struktur, das Leben (und in diesem natürlich die Idee) weiß und erkennt« (105 f.). 55 Für den Begriff der asymmetrischen Anerkennung vgl. Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip praktischer Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/München 1979, 125.
Hegel und der antike Skeptizismus in den Jenaer Jahren* Gilles Marmasse (Paris)
Der Skeptizismus stellt für Hegel einen Gegenstand ständiger Auseinandersetzung dar, wie denn die Thematik schon in den Jenaer Schriften hervortritt und danach in allen großen Werken des Philosophen als Haupt- oder Nebenproblem zu finden ist. Die antike Fassung des Skeptizismus – als Position der Neueren Akademie und als Skeptizismus im strengen Sinne – wird zum Beispiel in zwei der umfangreichsten Kapitel der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie analysiert. Daß Hegel sich für den Skeptizismus interessiert, ist dabei keineswegs erstaunlich, handelt es sich doch, wie der Historiker der Philosophie Carl Friedrich Stäudlin 1794 sagte, um die »Krankheit der Epoche«. Seit Humes Traktat über die menschliche Natur und Kants Kritik der reinen Vernunft ist der Skeptizismus als Negation der Fähigkeit des Geistes, das Wahre zu erkennen, eine theoretische Stellung, der gegenüber sich jeder Denker positionieren muß. In der Epoche Hegels fühlt sich sozusagen jeder Philosoph verpflichtet, die prinzipielle Frage nach der Möglichkeit des theoretischen Zugangs zur Wahrheit zu behandeln. Kurz: Als Figur der Anfechtung zwingt der Skeptizismus jede Philosophie, Stellung zu nehmen zur Frage nach den Bedingungen und dem Umfang gültigen Wissens. Man kann das Verhältnis zum Skeptizismus als Index der Entwicklung des Hegelschen Denkens behandeln: vielleicht nicht deswegen, weil seine Deutung sich sehr verändern würde, sondern weil die Stelle und die Darstellungsweise dieser Interpretation von einem Werk zum anderen variieren. Zum Beispiel gehört die skeptische Figur in der Phänomenologie des Geistes zum Selbstbewußtsein, während sie in der Berliner Zeit bis zur Geschichte der Philosophie, d. h. bis zum absoluten Geist reicht. In Anbetracht der Hegelschen Behandlung des Skeptizismus tritt zuerst die Frage ihrer Haltbarkeit hervor, insofern man Hegel grobe Mißverständnisse vorgeworfen hat. In der französischen Sekundärliteratur findet man heutzutage fast nur die Vorrede des Historikers der antiken Philosophie Jean-Paul Dumont zur französischen Übersetzung des Aufsatzes über das Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Diese Vorrede ist durchaus eine Anklageschrift, die die Interpretation Hegels von * Der Verfasser dankt Annette Sell und Bruno Haas, die die deutsche Fassung dieses Artikels verbessert haben.
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A bis Z im Namen der antiken Texte selbst anprangert. Wir müssen also die Haltbarkeit der Interpretation Hegels prüfen. Daraufhin ist jedoch auch eine immanente Analyse unentbehrlich. Wenn man nämlich zugesteht, daß Hegel sich nicht nur als Historiker, sondern auch als Philosophen versteht, muß die eigene Notwendigkeit und vielleicht sogar die eigene Rechtfertigung des Skeptizismus als Figur der Entwicklung des Geistes bestimmt werden. Drei Themen werde ich also hier behandeln: zuerst (I.) die Debatte zwischen dem alten und dem modernen Skeptizismus im Aufsatz von 1802, dann (II.) die Frage der philosophischen Behandlungsweise der Geschichte der Philosophie, auch anhand des Beispiels der Geschichte des Skeptizismus, endlich (III.) die Frage der Rechtfertigung des Skeptizismus, die vor allem in der Ökonomie der Phänomenologie des Geistes untersucht werden wird.
I. Der Aufsatz von 1802: das Problem der Haltbarkeit der Hegelschen Interpretation Die erste Stellungnahme Hegels zum alten Skeptizismus liegt – wie bekannt – mit einer kritischen Analyse des modernen Skeptizismus in der Schrift von 1802 über das Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie vor. Es handelt sich dabei um eine Rezension der im Jahre 1801 erschienenen Kritik der theoretischen Philosophie von Ernst Gottlob Schulze (1761–1833) – der Autor des bekannten Änesidemus, dessen Vorlesungen Schopenhauer in Göttingen gehört hat. Schulze vertritt hier einen Skeptizismus mit empirischer Orientierung, der die Tatsachen des Bewußtseins, die er für einwandfrei hält, dem unerkennbaren Grund der phänomenalen Erkenntnis entgegensetzt. Darüber hinaus und in der Kontinuität des Änesidemus prangert der Autor den latenten Dogmatismus aller Philosophie – auch der Kantischen – an und verkündet zum Schluß die Eitelkeit der Philosophie und alles Anspruches des vernünftigen Wissens. Das Verfahren Hegels ist dann doppelt: Auf einer Seite rügt er direkt den Skeptizismus Schulzes als widersprüchlich, auf der anderen Seite weist er ihn auf indirekte Weise dadurch zurück, daß er unterstreicht, was ihn dem alten Skeptizismus entgegensetzt. Das Paradoxon besteht aber darin, daß Schulze sich selbst auf den Skeptizismus der Alten beruft, um seine eigene Stellung zu unterstützen. Die Hegelsche Analyse des antiken Skeptizismus erscheint also – wenigstens dem erstem Anschein nach – als taktisch motiviert: dient sie ihm doch dazu, die Schrift Schulzes in Mißkredit deswegen zu bringen, weil dessen Berufung auf die Alten auf einem Mißverständnis beruhe und weil andererseits nur der alte Skeptizismus konsistent und philosophisch fruchtbar sei. Schließlich versucht Hegel zu zei-
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gen, daß der moderne Skeptizismus auf Grund dessen, was ihn dem antiken Skeptizismus entgegensetzt, ohne Interesse sei. Nun kann man gewiß den Eindruck haben, daß Hegel ein schwerer Deutungsfehler bezüglich des alten Skeptizismus unterläuft, und dies besonders in bezug auf seine wichtigste Ausprägung, den Pyrrhonismus. Man gewinnt nämlich den Eindruck, daß für Hegel der antike Skeptizismus alle Erkenntnis für unwahr erkläre, und zwar insbesondere die sinnliche Erkenntnis. Das Motto des antiken Skeptizismus wäre so: Ich weiß nichts. Er wäre am Ende nichts anderes als ein Nihilismus. Freilich: Unabhängig davon, ob Hegel in der Tat dieser Fehleinschätzung erliegt, muß man wohl zugestehen, daß dieser Irrtum »klassisch« ist. Er besteht darin, den Skeptizismus im strengen Sinne, d. h. den pyrrhonischen Skeptizismus, mit dem akademischen Skeptizismus zu verwechseln. Diese Verwirrung stammt allem Anschein nach aus Ciceros Academica und ist von Augustinus überliefert worden. Auch Hume ist in gewissem Sinne ein Vertreter dieses Mißverständnisses, da er bekanntlich die Skeptiker als eine »phantastische Sekte« kritisiert. Diese Interpretation ist historisch jedoch ein Fehler, da der pyrrhonische Skeptizismus eigentlich vor allem ein Phänomenalismus ist. Er mißt den Sinnesdaten (phainomena) Glauben bei, aber er verbietet es sich, diesen Daten dogmatische Bedeutung zu geben. Der eigentliche pyrrhonische Skeptizismus, weit davon entfernt, daß er eine Haltung aggressiver Negation aller Erkenntnis wäre, zielt auf einen Zustand der Seelenruhe. Er leugnet die Erscheinungen nicht, entschließt sich aber, sich auf die Erscheinungen zu beschränken. Hier ist also eine Eigentümlichkeit des Pyrrhonismus, die Hegel, so der Vorwurf, nicht gesehen habe. Man könnte darauf zwar zur Ehrenrettung Hegels erwidern, daß er mit Cicero, Pascal oder Hume in guter Gesellschaft ist. Die Sache ist aber dennoch mißlich, da die Schrift von 1802 gerade darin besteht, eine Interpretation des Pyrrhonismus, und zwar die Interpretation Schulzes, zu widerlegen, die ihrerseits zutreffend zu sein scheint. Schulze beruft sich nämlich auf den alten Skeptizismus, um den Unterschied zu erklären zwischen dem Kredit, den man den Sinnesdaten gewähren, und dem Zweifel, den man gegenüber den philosophischen Urteilen haben solle. Mehr noch: Zu allem Überfluß läßt es Hegel nicht bei einer lapidaren Bemerkung bewenden, sondern verschlimmert seinen Mißgriff noch dadurch, daß er seine Position noch durch zahlreiche Argumente und Zitate unterstützt. Das Lesen der Schrift von 1802 ist deswegen unerfreulich, weil sie, wenigstens auf den ersten Blick, einen Hegel zeigt, der dadurch in Mißkredit gerät, daß er eine unhaltbare Stellung systematisch vertritt. Geben wir ein Beispiel der – wenigstens scheinbaren – Nähe zwischen Schulze und Sextus Empiricus, wie sie im Bericht Hegels selbst erscheint: für
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Schulze könne »nichts von dem, was die Erfahrung lehrt, und insbesondere nicht der Inbegriff der äußeren Empfindungen, (…) ein Objekt der skeptischen Zweifel sein«1. Weiter: »Nur die Philosophie« kann »ein Objekt der skeptischen Zweifel sein«. Sextus Empiricus nun sagt: »Wenn wir aber bezweifeln, ob das Unterliegende so ist, wie es erscheint, so geben wir einerseits zu, daß es erscheint, bezweifeln aber andererseits nicht das Erscheinende, vielmehr das, was über das Erscheinende ausgesagt wird« 2. Betrachten wir nun, wie Hegel, der Sextus Empiricus von Anfang bis zum Ende des Aufsatzes zitiert, das Verhältnis zwischen Schulze und dem Pyrrhonismus auslegt: Schulzes Skeptizismus, »der den Tatsachen des Bewußtseins eine unleugbare Gewißheit zuschreibt, stimmt wenig mit dem Begriff von Skeptizismus überein, den uns die alten Skeptiker geben«3. Und eine weitere Belegstelle: »Die Auslegung aber, als wenn der Skeptizismus nicht die sinnlichen Wahrnehmungen selbst, sondern nur die hinter und unter dieselben von den Dogmatikern gelegten Sachen angegriffen habe, ist durchaus ungegründet«4. Alle diese Erklärungen sind dem Anschein nach durch den Wortlaut bei Sextus Empiricus selbst genau widerlegt. Am Ende hätte so entweder Hegel den alten und modernen Skeptizismus nicht verstanden oder man müßte die gröbste Unwahrhaftigkeit unterstellen. Der Aufsatz von 1802, so könnte man meinen, sollte deswegen in die Liste der philosophischen Werke im allgemeinen und der Werke Hegels im besonderen aufgenommen werden, die die Nächstenliebe zu vergessen gebietet. Sein einziges Interesse könnte nur darin bestehen, uns zu zeigen, was eine philosophische Abhandlung nicht sein soll. Die Frage ist jedoch folgende: Welchen Sinn hat für Hegel die Kritik der phänomenalen Erkenntnis, die er dem alten Skeptizismus zuschreibt? Nachdem wir nämlich mit Verlegenheit oder eventuell auch mit Spott Hegels Erklärungen gelesen und nachdem wir die Argumente der gegen Hegel gerichteten Anklage gehört haben, sollten wir doch bestimmen, welcher 1
Verhältnis der Philosophie zum Skeptizismus, in Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt/Main 1986 (=ThW), 2, 223. 2 Sextus Empiricus, Pyrrhoneische Grundzüge I, 10 [19], aus dem Griechischen übersetzt und erläutert von E. Pappenheim, Leipzig 1877, 28. 3 ThW 2, 222. 4 ThW 2, 225.
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Natur der Zweifel ist, den, so der Philosoph, der alte Skeptizismus gegen sinnliche und rationale Erkenntnis erhebt. Man kann dieses Problem durch eine nähere Betrachtung der Einwände untersuchen, die Hegel gegen Schulze erhebt, indem er die Tragweite des alten Skeptizismus anläßlich der Kritik des modernen Skeptizismus definiert. Für Schulze betrifft die philosophische Forschung den Grund der Erkenntnis. Diese Forschung soll ihm zufolge die Verbindung zwischen der phänomenalen Erkenntnis und der nicht-phänomenalen Bedingung der Erkenntnis erläutern: »Vermöge einer ursprünglichen Einrichtung unseres Gemüts haben wir nämlich ein Verlangen, zu allem, was nach unserer Einsicht nur bedingterweise existiert, den letzten und unbedingten Grund aufzusuchen«5 [Hegel als Wortführer Schulzes]. Indem aber dieser Grund kein Erfahrungsobjekt sein kann, ist die philosophische Forschung eitel: Sie ist ohne Gültigkeit nicht nur, weil sie von den Erscheinungen keine Rechenschaft geben kann, sondern auch, weil sie unfähig ist, ihre eigenen Versicherungen zu rechtfertigen: »Ist also dasjenige, was die Vernunftkritik von den Gründen der Erfahrung zu wissen vorgibt, eine reale Erkenntnis, so ist die Behauptung derselben, daß alle wahre Einsicht unseres Geistes bloß auf die Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt sei, durchaus falsch. Sollte hingegen diese Behauptung richtig sein, so muß alle Einsicht von den Quellen der gesamten Erfahrung für einen leeren Schein gehalten werden«6. Es ist klar, daß diese Analyse sehr viel der Bemerkung von Jacobi über das Ding an sich im Anhang seines David Hume (1787) verdankt: Das Ding an sich mache das Kantische System unakzeptabel. Auf analoge Weise sei für Schulze die Kritik der reinen Vernunft widersprüchlich, da ihre Ontologie ihre Epistemologie unsicher mache und umgekehrt. Der Kantianismus sei widersprüchlich, indem er zeige, daß alle Erkenntnis subjektiv sei, zu gleicher Zeit aber behaupte, objektiv zu sein. Nun, wie legt Hegel Schulzes Skeptizismus aus? Er bemerkt, daß dieser den Grund der Erkenntnis nach dem Modell des einzelnen Dinges faßt, eines Dinges freilich, das von genau der Erkenntnis verborgen werde, die es gerade ermöglicht: »Die obersten und unbedingten Ursachen selbst aber, oder besser das Vernünftige, begreift Herr Schulze auch wieder als Dinge, die über unser 5 6
ThW 2, 221. Schulze, Kritik der theoretischen Philosophie, Hamburg 1801, Bd. 2, 578.
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Bewußtsein hinausliegen, etwas Existierendes, dem Bewußtsein schlechthin Entgegengesetztes; (…) das Vernünftige, das Ansich kann sich Herr Schulze gar nicht anders vorstellen als wie einen Felsen unter Schnee«7. Diese Position ist jedoch für Hegel unakzeptabel, insofern für ihn die wahrhafte Grundlage nicht eine einzelne Ursache, sondern ein allgemeiner Grund ist, der im Vollzug der Erfahrung nicht verborgen, sondern im Gegenteil offenbart wird. Was Schulze voraussetzt, um die Philosophie im allgemeinen zu diskreditieren, ist nichts anderes als eine dogmatische Stellungnahme. Näher handelt es sich hier, so Hegel, um einen Dogmatismus des Dinges an sich. Hegel wirft dann Schulze heftig vor, die Widersprüche seiner Ansicht nicht zu sehen. Erstens: Wie kann man behaupten, daß die phänomenale Erkenntnis wahr ist, wenn sie nach dem Autor selbst nicht innerlich begründet ist, da sie eine nur äußerliche Ursache hat? Zweitens: Wie kann man einer Sache den Status einer Ursache zuschreiben, wenn man sie nicht erkennen kann? Drittens: Wie kann man ein Ding an sich »vernünftig« nennen, wenn man es für unerreichbar hält? Dagegen findet man, so Hegel, diesen Widerspruch im alten Skeptizismus nicht. In der Hegelschen Deutung prangert so zuletzt der alte Skeptizismus die wesentliche Zerbrechlichkeit der sinnlichen Erkenntnis an, jedoch nicht wegen eines hypothetischen Dinges an sich, sondern wegen der Widersprüche des Sinnlichen selbst: »Was der neueste Skeptizismus immer mitbringt, ist, wie wir oben gesehen haben, der Begriff einer Sache, die hinter und unter den Erscheinungssachen liege. Wenn der alte Skeptizismus sich der Ausdrücke u™pokeímenon, uçparcon, a¢dhlon usw. bedient, so bezeichnet er die Objektivität, die nicht auszusprechen sein Wesen ausmacht; er für sich bleibt bei der Subjektivität des Erscheinens stehen. Diese Erscheinung ist ihm aber nicht ein sinnliches Ding, hinter welchem von dem Dogmatismus und der Philosophie noch andere Dinge, nämlich die übersinnlichen behauptet werden sollten«8. In der Hegelschen Deutung setzt der alte Skeptizismus keine Grundlage voraus, die außerhalb der Erfahrung ist. Der Begriff adelon deutet im eben erwähnten Passus nicht das verborgene Ding an sich, sondern die zugehörige Erkenntnis, das normative Ideal des objektiven Wissens – ein Wissen, das eben für unerreichbar im Rahmen der bloß sinnlichen Erkenntnis gehalten
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ThW 2, 220. ThW 2, 247–248.
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wird. Der Pyrrhonismus, so Hegel, prangert die Erscheinungen nicht im Namen des Übersinnlichen, sondern im Namen der wesentlichen Schwäche der Erscheinung an: »Das Bewußtsein aber, das mit diesen notwendigen Bedürfnissen zusammenhängt, war der alte Skeptiker weit entfernt, zu dem Rang eines Wissens, das eine objektive Behauptung ist, zu erheben; auf das Erscheinende achtend, leben wir, sagt Sextus (…). Von einer Überzeugung von Dingen aber und deren Eigenschaften ist in diesem Skeptizismus nicht die Rede«9. »Wenn der Skeptiker sagte, der Honig sei ebenso wohl bitter als süß und sowenig bitter als süß, so war da kein hinter den Honig gelegtes Ding gemeint«10. Steht eine solche Interpretation in Widerspruch zu den antiken Texten? Zuerst, wenn man die berühmte Stelle des Grundrisses der pyrrhonischen Skepsis berücksichtigt, die daran erinnert, daß die skeptische Schule als »zetetisch«, »ephetetisch«, »suspensiv«, »aporetisch« oder »dubitativ«11 bezeichnet wird, muß man den Erklärungen Hegels eine gewisse Glaubwürdigkeit zuerkennen, nach denen die sinnliche Erkenntnis kein Prinzip der Wahrheit im emphatischen Sinne ist. Wenn die Hegelsche Deutung falsch wäre, wäre der antike Skeptizismus ein Dogmatismus des Sinnlichen, er würde die Erscheinung mit der Natur der Dinge identifizieren, die phänomenale Erkenntnis mit der wahren Erkenntnis verwechseln. Zwar strebt der Pyrrhonismus zur Seelenruhe, er hat diese aggressive und zum Schluß verzweifelte Haltung nicht, die zum Beispiel Augustinus in seinem Contra Academicos dargestellt hat. Nichtsdestoweniger ist die phänomenale Erkenntnis, so der alte Skeptizismus, keine absolute, sondern eine mangelhafte Erkenntnis, obwohl sie in sich unleugbar ist. Auch wenn sie nicht trügerisch ist, so ist sie doch nur phänomenal: »Wer aber über die der Natur nach schönen oder schlechten Dinge sich bestimmungslos hält, flieht weder noch sucht er etwas mit Anstrengung; deshalb bleibt er unbeirrt”12. »Die Hauptsache aber ist, beim Vorbringen dieser Redensarten sagt er das, was ihm selbst erscheint, und meldet seinen eigenen Zustand ansichtslos, ohne über die außerhalb zugrunde liegenden Dinge etwas fest zu versichern«13. 9 10 11 12 13
ThW 2, 224. ThW 2, 225. Sextus Empiricus, Pyrrhoniae Institutiones I, 3 [7]. Ibd., I, 12 [28], 28. Ibd., I, 7 [15], 31.
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Obwohl der antike Skeptiker den Erscheinungen folgt, setzt er wirklich die Erscheinungen und die Natur der Dinge entgegen. Wenn man darüber hinaus die Tropen des Ainesidemos betrachtet, stellt man in der Tat fest, daß die Kritik der Dogmata, die auf dem Sinnlichen beruhen, aus deren Widersprüchen selbst herkommt und nicht im Namen eines Übersinnlichen entfaltet wird. In gleicher Perspektive setzt Sextus Empiricus den scheinenden Honig nicht einem etwaigen übersinnlichen Honig entgegen, sondern er setzt den scheinenden Honig dem entgegen, was wir von dem Honig sagen. Ich erinnere an den schon erwähnten Passus: »Wenn wir aber bezweifeln, ob das Unterliegende so ist, wie es erscheint, so geben wir einerseits zu, daß es erscheint, bezweifeln aber andererseits nicht das Erscheinende, vielmehr das, was über das Erscheinende ausgesagt wird«14. Das Zweifelhafte ist hier nicht die verborgene Ursache der Erscheinungen, sondern was von den Erscheinungen ausgesagt wird. Zwar handelt es sich hier nicht darum zu behaupten, daß die Hegelsche Interpretation des Pyrrhonismus richtig ist. Ich werde im zweiten Teil das Problem der Haltung Hegels als Historiker der Philosophie genauer kommentieren. Nur möchte ich hier zeigen, daß Hegel mit überzeugenden Argumenten im Rahmen seiner eigenen Problematik die Meinung vertreten kann, daß es einen gründlichen Unterschied zwischen dem alten und dem modernen Skeptizismus gibt, und daß seine eigene Problematik von echtem Interesse ist. Betrachten wir also noch einmal den Satz, der oben lächerlich erscheinen konnte: »Die Auslegung aber, als wenn der Skeptizismus nicht die sinnlichen Wahrnehmungen selbst, sondern nur die hinter und unter dieselben von den Dogmatikern gelegten Sachen angegriffen habe, ist durchaus ungegründet«15. Wenn dieser Satz bedeuten sollte, daß auf einer Seite die Wahrnehmungen für den alten Skeptizismus zweifelhaft seien, in dem Sinne, daß sie eine Fata Morgana sein könnten, und auf der anderen Seite, daß der Skeptizismus die dogmatischen Versicherungen, die mit den Wahrnehmungen in Verbindung stehen, nicht angreift, wäre der Satz in der Tat absurd. Aber wir verstehen nun, daß es nicht der Fall ist. Eigentlich vertritt Hegel hier folgende Ansicht: Es ist falsch zu behaupten, daß die Wahrnehmungen für den alten Skeptizis14 15
Ibd., I, 10 [19], 28. ThW 2, 225.
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mus eine Erkenntnis im strengen Sinne liefert, und zu behaupten, daß die Wahrnehmungen vom alten Skeptizismus auf dem Grund eines nicht-phänomenalen Substrats angeprangert werden. Nach der Hegelschen Deutung ist die phänomenale Erkenntnis für die Skeptiker unbefriedigend, nicht weil sie trügerisch sei, sondern weil sie endlich oder subjektiv sei: »Das Kriterium des Skeptizismus, drückt sich Sextus aus, ist das Erscheinende (fainómenon), worunter wir in der Tat seine Erscheinung (fantasían au¬toû), also das Subjektive verstehen«16. Was soll man unter dem Begriff des Subjektiven verstehen? Tritt dieser Begriff im Rahmen der Problematik der Übereinstimmung des Gedankens mit dem Gegenstand auf? Eigentlich wissen wir, daß bei Hegel diese Problematik durch die Übereinstimmung des Gegenstandes mit sich selbst, d. h. durch seinen Begriff ersetzt wird. Für Hegel bedeutet »nur subjektiv« nicht »trügerisch«, sondern »ohne objektiven Inhalt«, d. h. ohne objektive Differenzierung. Nicht zufällig erklärt er in Glauben und Wissen, daß für Kant die Verstandeskenntnisse »subjektiv« sind, weil sie nur Erscheinungen betreffen. Die Frage ist für Hegel nicht, ob die sinnliche Erkenntnis gewiß oder ungewiß ist, sondern ob sie eine wirkliche Erkenntnis ist. Die Größe des alten Skeptizismus besteht darin, die Endlichkeit der sinnlichen Erkenntnis gesehen zu haben, und gesehen zu haben, daß diese sich selbst durch ihre Widersprüche ins Wanken bringt. Der wahrgenommene Honig erscheint sowohl mild als auch bitter. Schulzes Irrtum dagegen ist, zu behaupten, daß die sinnliche Erkenntnis im strengen Sinne wahr und durch eine verborgene Ursache erzeugt sein soll.
II. Was ist die Haltung Hegels der Geschichte des Skeptizismus gegenüber? Betrachten wir nun eine zweite Behauptung Hegels, die dem ersten Anschein nach nicht weniger anstößig zu sein scheint als die erste. Sie besteht, wie schon erwähnt, in der These, daß der alte Skeptizismus die Philosophie nicht widerlegt. Wiederum ist diese Meinung nur schwer anzunehmen, wenn man die antiken Texte liest. Nun erlaubt sich aber hier Hegel, die Texte, die seiner Auslegung widersprechen, als irrelevant zu beseitigen. Seine Haltung besteht
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ThW 2, 224.
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nämlich sonderbarerweise darin, die alten Skeptiker, die die Philosophie kritisieren, für unechte Skeptiker und schließlich für moderne Skeptiker zu halten: »Aus der Gestalt, in welcher uns Sextus den von der Philosophie abgetrennten und gegen sie gekehrten Skeptizismus gibt, läßt sich auffallend der alte echte Skeptizismus aussondern. (…) Dem alten Skeptizismus gehören die zehn ersten der siebzehn Tropen an – (…) Diogenes nennt den Agrippa, der gegen fünfhundert Jahre nach Pyrrhon lebte – fünf hinzugefügt haben; die zwei, die noch dazukamen, [er]scheinen wieder später«17. Wenn es richtig ist, daß Agrippas Tropen das logische Räsonnement in Frage stellen, während Ainesidemos’ Skeptizismus vor allem die Sinne und die Einbildungskraft in Frage stellt, mit welchem Recht faßt Hegel den alten Skeptizismus bloß aus den zehn ersten Tropen zusammen? Ist diese Haltung nicht unakzeptabel, insofern der Historiker der Philosophie von den Philosophien Rechenschaft geben soll, wie sie sind, und sicher nicht, wie er sie träumt? Im Grunde aber verhält sich Hegel nicht als Historiker der Philosophie, sondern als Philosoph. Er übernimmt nicht die Aufgabe, den historischen Inhalt einer Lehre zu berichten, sondern die Aufgabe, ihr Wesen und näher ihren Begriff darzustellen. Darüber hinaus stellt sich ihm die Frage, ob die betreffende Philosophie ihrem eigenen Begriff treu ist. Eine Sache, die ihrem Begriff nicht angemessen ist, ist für Hegel bekanntlich eben insofern mangelhaft. Die Philosophie Hegels ist bewertend: Doch bewertet sie ihren Gegenstand nicht aus einem abstrakten Wunsch – aus einem bloßen »Sollen« – sondern aus dem Begriff der Sache, d. h. aus dem heraus, woraus die Sache ist, wenn sie wirklich ist, was sie ist. Zwar ist es verständlich, daß der Leser einen solchen Anspruch der philosophischen Geschichte der Philosophie kritisiert. Ferner kann man sich fragen, ob der Begriff Skeptizismus wirklich durch Ainesidemos’ Tropen ausgedrückt ist. Aber es ist ein Mißverständnis, Hegels Neigung, bestimmten Philosophen einen Vorrang zu geben, für bloß der Willkür folgend und opportunistisch zu halten. Ein weiterer Punkt! Man kann mit Hegel einverstanden sein, daß Ainesidemos und Schulze gar nicht dieselbe Problematik behandeln. Schulze prangert das philosophische Denken an, während Ainesidemos die Widersprüche der bloß sinnlichen Erkenntnis unterstreicht. Warum ist es aber 17
ThW 2, 237–238.
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für Hegel so wichtig, den echten Skeptizismus von aller Kritik der Philosophie zu entlasten? Warum ist es – so Hegel – unentbehrlich, daß der alte Skeptizismus die Schwäche der phänomenalen Erkenntnis und gar nicht die Schwäche der rationalen Erkenntnis betont? Die Antwort kommt unmittelbar: Die phänomenale Erkenntnis ist wirklich widersprüchlich, während die rationale Erkenntnis den skeptischen Einwänden widerstehen kann. Die von Hegel dargelegte Interpretation des alten Skeptizismus ist wesentlich eine scharfsinnige Kritik der Endlichkeit der endlichen Erkenntnis. Schulzes Skeptizismus ist – so Hegel – dagegen widersinnig, indem er die sinnliche Erkenntnis aufwertet und die rationale Erkenntnis herabwürdigt. Kurz, der Leitfaden der Hegelschen Analyse des alten Skeptizismus ist die Überzeugung, daß er als solcher wahr ist. Für Hegel genauso wie für die Skeptiker ist die sinnliche Erkenntnis endlich. Für Hegel, anders als für Schulze, ist die philosophische Erkenntnis wesentlich gültig. Am Ende ist der alte Skeptizismus im Aufsatz von 1802 so eben nicht nur ein taktischer Alliierter. Er erscheint nämlich als der Begriff des Skeptizismus im Sinne seiner wahren Natur. Man kann die Hypothese aufstellen, daß wir mit der Schrift von 1802 sozusagen vor einem dialektischen Prozeß stehen, weil der Gegenstand der Untersuchung –der moderne Skeptizismus – wegen seiner Nicht-Übereinstimmung mit seinem Wesen – dem alten Skeptizismus – verschwinden muß. Schulze wird nicht durch Hegels Meinung verurteilt, sondern durch sich selbst, sowie näher durch den immanenten normativen Begriff des Skeptizismus. Es ist sicherlich Hegels Deutung des alten Skeptizismus sehr vieles vorzuwerfen. Er verfehlt zum Beispiel ganz den doch wesentlichen Unterschied zwischen Erscheinung und dogmatischer Versicherung, den man in den Pyrrhoniae Institutiones findet. Doch ist seine Interpretation nicht die gleiche wie die von Augustinus oder Hume. Er untersucht eigentlich das Verhältnis zwischen dem alten Skeptizismus und Schulze am Leitfaden einer für ihn zeitgenössischen Problematik. Die alte Frage – welche Beziehung gibt es zwischen der Erscheinung und deren Ursache? – ersetzt er durch die moderne Frage – inwiefern ist unsere Erkenntnis begründet? Die Antwort, die eigentlich nicht im Aufsatz von 1802, aber, wie man weiß, in der Phänomenologie des Geistes vorgeschlagen wird, ist, daß eine Erkenntnis nur durch sich selbst und auf systematische Weise gegründet sein kann. Schulze stellt selbst seine Analyse in eine moderne Problematik, da er sich fragt, ob es möglich sei, aus den Gedanken herauszugehen und zu den äußeren Dingen zu gelangen. Für ihn ist es nämlich das einzige Mittel, die Erkenntnis zu gründen. Schulzes Antwort ist natürlich negativ:
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»Das menschliche Erkenntnisvermögen ist ein Ding, das Begriffe hat, und weil es nichts hat als Begriffe, kann es nicht zu den Dingen, die draußen sind, hinausgehen; es kann sie nicht ausforschen noch auskundschaften, – denn beide sind (I. Teil, 69) spezifisch verschieden; kein Vernünftiger wird in dem Besitze der Vorstellung von etwas dieses Etwas zugleich selbst zu besitzen wähnen«18. Es ist legitim, Hegel vorzuwerfen, sich nicht in die ursprüngliche Problematik zu vertiefen. Aber es ist dabei festzuhalten, daß er das auch nicht behauptet. Wie gesagt hat seine Diskussion mit Schulze als Horizont die damals zentrale Problematik der Bedingung der Möglichkeit der vernünftigen Erkenntnis. Man kann sich gleichwohl fragen, inwiefern der alte Skeptizismus in sich selbst wahr sei. Wie kann der Hegelianismus, trotz des evidenten Abstandes, den alten Skeptizismus für so ehrenwert halten?
III. Welche Wahrheit hat der alte Skeptizismus? Nach dem ersten Anschein gibt es einen Widerspruch zwischen dem Skeptizismus und dem Hegelianismus, so daß die positive Beurteilung des alten Skeptizismus bei Hegel nur schwer zu verstehen ist. Aus diesem Grunde dürfte es hier angebracht sein, die Frage nach der Wahrheit in der Geschichte der Philosophie im allgemeinen noch einmal zu stellen. Worin kann für Hegel die Gültigkeit einer philosophischen Lehre der Vergangenheit bestehen? Die Geschichte des Geistes vollzieht sich wie bekannt für Hegel in der allmählichen Aufhebung der Einseitigkeit der verschiedenen Stufen, die er durchgeht. Der Geist erreicht dann seinen Kulminationspunkt in einer unendlich konkreten Figur. Die letzte Figur ist unendlich konkret in dem Sinne, daß sie von sich dadurch Rechenschaft gibt, daß sie die Idealisation ihrer Voraussetzungen leistet – der Meinungen, Wahrnehmungen, Begierden… mit einem Wort der Einsichten, die ihrer Vollendung vorausgehen. Bedeutet aber nicht dieses Verhältnis des absoluten Wissens zu dem, was vorausgeht, daß dieses nach Hegel völlig wertlos ist, auch wenn es eine unentbehrliche Rolle im Auftauchen der letzten Figur gespielt haben mag? Indem der Hegelianismus sich auf negative Weise zu dem, was ihm vorangeht, verhält, ist man geneigt zu behaupten, daß die nicht-hegelschen Einsichten per definitionem blind und täuschend seien. Ich möchte dazu die Hypothese vertreten, daß die philosophische Wahrheit nicht, so Hegel, ihrer historischen Darlegung 18
ThW 2, 53–54.
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voran geht, indem die philosophische Wahrheit sich in ihrer Geschichte konstituiert. Philosophie besteht für Hegel darin, ihren Sinn aus einem inneren Anspruch auf Rationalisierung zu erzeugen. Der Sinn ist nicht vorausgesetzt, sondern gesetzt, und er ist nicht von einem Äußeren aufgenommen, sondern im freien Verhältnis des Gedankens zu sich selbst gesetzt. Dieses Verständnis können wir unter anderem aus den Aussagen der »Vorrede« der Phänomenologie des Geistes über das Absolute als Resultat und als freies Subjekt entnehmen. Die »Einleitung« der Phänomenologie zeigt darüber hinaus die Sinnwidrigkeit eines Absoluten, das vom Wissen unabhängig wäre. Wie bekannt bedeutet das nicht, daß es für Hegel nichts außer dem Wissen gäbe, sondern daß nichts einen philosophischen Sinn außer der philosophischen Tätigkeit haben kann. Man darf zum Beispiel nicht sagen, daß es für Gott eine ewige Wahrheit gäbe, die aber in dem einen oder anderen Moment vom menschlichen Geist ignoriert würde. Es gibt nichts, was immer schon einen philosophischen Sinn hätte, einen ewigen Sinn, den jede Philosophie schon anerkennen müßte. Daß Hegel den alten Skeptizismus positiv bewertet, ist daher keine diplomatische oder taktische Konzession. In der Epoche des alten Skeptizismus wäre es sowohl absurd als auch einfach unmöglich gewesen, den Skeptizismus im Namen des Hegelianismus zu verwerfen. Das Interessante dabei ist, daß der Hegelianismus schon im vorhinein den Historizismus im Sinne des historischen Relativismus und den dem Gang der Geschichte gleichgültig gegenüberstehenden Rationalismus zugleich kritisiert und in gewissem Sinne synthetisiert. Insofern der Inhalt der Philosophie durch das philosophierende Subjekt erzeugt wird, ist er historisch. Insofern aber dieser Inhalt auf autonome Weise und durch Idealisation seiner Voraussetzung erzeugt wird, ist es vernünftig. Alles philosophische Wissen ist also zugleich historisch und vernünftig. Deswegen soll man die Wahrheit – die unbestreitbare, obwohl nur momentane Wahrheit – des Skeptizismus anerkennen. Betrachten wir näher, inwiefern der Skeptizismus glaubwürdig sein kann. Eigentlich ist die Beglaubigung des Skeptizismus nicht außerhalb der Philosophie, sondern in ihr zu suchen. Wir haben nicht, in Hegelscher Perspektive, das Universum zu untersuchen, um seine eventuelle Übereinstimmung mit der philosophischen Lehre zu verifizieren, sondern wir haben zu prüfen, ob der Skeptizismus immanent gegründet ist. Die Lösung scheint dann folgende: Die Lehre, die behauptet, daß alle Erkenntnis endlich sei, ist wahr, insofern – und nur insofern – die Bildung des Geistes nicht über die Stufe der Endlichkeit hinausgegangen ist. Der Skeptizismus ist gültig, insofern der skeptische Geist nur ein endlicher Geist ist, und zwar endlich auf diejenige
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Weise, die eben die Stufe des Skeptizismus definiert. In dieser Hypothese ist das Urteil des Skeptizismus über die Erfahrung nichts anderes als der Ausdruck seiner eigenen Natur als Stufe der Bildung des Geistes. Hegel kritisiert zuletzt die Meinung, als hätte der Geist im historischen Moment des Skeptizismus sich bis zum spekulativen Wissen erheben können. Nach dieser Meinung hätte der Geist zu Unrecht geglaubt, daß das spekulative Wissen unzugänglich gewesen sei. In der Tat, denkt Hegel, bildet der Skeptizismus ein solches Moment der Bildung des Geistes, in dem dieser strukturell an die endliche Erkenntnis gefesselt bleibt. Als philosophische Lehre besteht er nur, um zu sagen, was er ist. Da er darüber hinaus als Geist sein Prinzip in sich hat – der Geist ist, so Hegel, per definitionem frei, als Tätigkeit seine natürliche Voraussetzung aufzuheben –, da er also auf bestimmte Weise von seiner Überzeugung selbst Rechenschaft gibt, ist seine Überzeugung wahr. Betrachten wir nun näher die Hegelsche Analyse des Skeptizismus in der Phänomenologie des Geistes. In der systematischen Ordnung der Phänomenologie tritt der Skeptizismus vor der Vernunft auf, und zwar im Selbstbewußtsein. Wie bekannt ist es besonders riskant, eine Interpretation der Struktur der Phänomenologie zu geben. Ich würde die Hypothese vorschlagen, daß die Vernunft in der Phänomenologie im reflexiven Verhältnis des Individuums zum Allgemeinen besteht. Das vernünftige Bewußtsein bezieht sich nämlich reflexiv auf das, was in der Erfahrung allgemein ist: So erzeugt es zum Beispiel die Kategorien der Natur oder die Gesetze des moralischen Gewissens. Hingegen bleibt die vorhergehende Figur, und zwar das Selbstbewußtsein, an die abstrakte Einzelheit gebunden. In der Begierde, in der Herrschaft und Knechtschaft und in den Haltungen des »freien« Bewußtseins negiert es zwar die endliche Einzelheit, doch leistet es nicht deren Aufhebung. Es schafft das Zufällige ab, zeigt sich aber unfähig, etwas Notwendiges zu erzeugen. Deswegen ist die Haltung des Selbstbewußtseins wesentlich zerstörend, entfremdend, auflösend usw., aber nicht idealisierend: Der Begriff »hat keinen Inhalt an ihm selbst, sondern einen gegebenen. Das Bewußtsein vertilgt den Inhalt wohl als ein fremdes Sein, indem es ihn denkt; aber der Begriff ist bestimmter Begriff, und diese Bestimmtheit desselben ist das Fremde, das er an ihm hat«19. Das Selbstbewußtsein kann sich von der Entfremdung nicht losmachen, denn diese ist für seine Identität konstitutiv. Im Selbstbewußtsein bildet sich näher das Individuum dadurch, daß es der Gegebenheit seinen eigenen In-
19
ThW 3, 158.
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halt entgegensetzt. Zum Beispiel zerstört das begehrende Subjekt den Gegenstand, um seine besonderen Begierden zu befriedigen. Im Moment der Herrschaft und Knechtschaft unterjocht das herrschende Individuum durch seinen willkürlichen Willen den Anderen. Zum Schluß beseitigt das endliche Denken im Moment der Freiheit des Selbstbewußtseins – zu dem der Skeptizismus gehört – die Reihe der sinnlichen Vorstellungen im Namen seiner eigenen endlichen Vorstellungen. Die skeptische Figur als Moment des Selbstbewußtseins ist individuell: Der Skeptiker benimmt sich nicht als Wissenschaftler oder als moralisches Subjekt, sondern als Peter oder Arthur. Darüber hinaus verhält er sich nicht zum Allgemeinen, sondern zur zufälligen Gegebenheit: zum Beispiel nicht zu den Gesetzen der Physiognomik oder zum moralischen Gebot, sondern zu dieser oder jener Sinnesempfindung. Das Subjekt läßt seinen eigenen Inhalt gegen den Inhalt des gegebenen Gegenstandes gelten. Der Inhalt des Subjekts ist daher nicht vernünftig, sondern besonders, indem er vorausgesetzt wird. Daher wird das Objekt nicht zur Allgemeinheit erhoben, sondern in seiner ursprünglichen Zufälligkeit erhalten: Es wird als nicht-wahr widerlegt, doch nicht zu einer vernünftigen Kategorie erhöht. In diesem Kontext erfaßt man, warum der Skeptizismus für Hegel wesentlich auflösend ist: »der Gedanke wird zu dem vollständigen, das Sein der vielfach bestimmten Welt vernichtenden Denken«20. Wenn das Bewußtsein vernünftig wäre, würde es sich als der Grund seiner endlichen Momente ausweisen. Aber es konstituiert sich nicht so, daß es die Notwendigkeit seiner gegebenen Objekte erfaßt, sondern es konstituiert sich nur negativ, als die Tätigkeit der intellektuellen Vertilgung der gegebenen einzelnen Objekte: »[Es] fällt wieder in jene Zufälligkeit und Verwirrung zurück, denn eben diese sich bewegende Negativität hat es nur mit Einzelnem zu tun und treibt sich mit Zufälligem herum. Dies Bewußtsein ist also diese bewußtlose Faselei, von dem einen Extreme des sichselbstgleichen Selbstbewußtseins zum andern des zufälligen, verworrenen und verwirrenden Bewußtseins hinüber- und herüberzugehen«21. Das skeptische Bewußtsein drückt also aus, was es ist. Wie die sinnliche Gewißheit nicht zu Unrecht behauptet, daß das Wahre dieses oder jenes ist – wenn auch eine solche Behauptung unendlich beschränkt ist –, behauptet das skeptische Bewußtsein nicht zu Unrecht, daß es keine allgemeine Erkenntnis
20 21
ThW 3, 159. ThW 3, 162.
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gibt – denn die sinnliche Erkenntnis ist in der Tat schwankend. Nichtsdestoweniger ist für Hegel der Skeptizismus eine mangelhafte Gestalt der Entwicklung des Geistes. Übrigens zeigt der Skeptizismus seine Unzulänglichkeit selbst dadurch, daß er seine Endlichkeit selbst zum Thema macht. Das skeptische Bewußtsein ist eine Figur der Selbstbestimmung des Geistes und daher wahr, wenn es auch nur momentan wahr ist. Während das begehrende Selbstbewußtsein eine unreflektierte Endlichkeit ist, während das herrschende oder unterjochte Selbstbewußtsein von einem Anderen abhängig ist, ist das »freie« Selbstbewußtsein, unter anderem als skeptisches Bewußtsein, an und für sich endlich, indem es sich selbst endlich macht und als endlich erkennt. Während Hume von der »Extravaganz« der Skeptiker sprach, ist für Hegel der Skeptizismus eine grundlegend notwendige Haltung, so daß es widersinnig wäre, diese nicht ernsthaft zu betrachten. Der Skeptizismus ist am Ende nichts anderes als die Erfahrung des Unbehagens der endlichen Erkenntnis.
IV. Schluß Ich habe versucht, drei Hypothesen zu vertreten. Erstens kann die Hegelsche Interpretation des alten Skeptizismus nicht für eine Reihe grober Mißverständnisse gehalten werden. Denn sie unterstreicht den enttäuschenden Charakter der phänomenalen Erkenntnis. Zweitens kann die Debatte zwischen altem und modernem Skeptizismus in der Schrift von 1802 für eine Debatte des Skeptizismus mit sich selbst gehalten werden. Hegel ist prinzipiell mit dem alten Skeptizismus einverstanden, weil dieser die sinnliche Erkenntnis als endlich kritisiert. Darüber hinaus ist die Schrift eine bemerkenswerte Reflexion über das Problem der Erkenntnis des Grundes. Eine wahre Erkenntnis ist, so Hegel, eine Erkenntnis, die in sich selbst gründet; eine falsche Erkenntnis ist dagegen eine Erkenntnis, die ihrer Endlichkeit halber von etwas anderem abhängig ist. Drittens führt uns die Hegelsche Interpretation des Skeptizismus – eigentlich die Hegelsche Aufhebung des Skeptizismus – zur Frage nach der Wahrheit in der Geschichte der Philosophie. Hegel vertritt hier eine singuläre These: Die Wahrheit konstituiert sich in der Geschichte, sie erzeugt sich durch eine zeitliche Selbstbildung und ist trotzdem keine einfache Meinung. Deswegen kann man sagen, daß der alte Skeptizismus, wie er in der Phänomenologie des Geistes thematisiert wird, gültig ist, da er sich ideell zum Gegenstand verhält und daher wesentlich frei ist. Jedoch kann der Skeptizismus als endliches Moment des Geistes nicht das letzte Wort desselben sein. Indem er nicht den Anspruch des Geistes auf Übereinstimmung
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mit sich selbst erfüllt, muß er unvermeidlich einer vernünftigeren Gestalt des Geistes Platz machen. Der Skeptizismus ist an sich gültig, wenn auch nur momentan gültig.
Technische Wissenschaftlichkeit und Entfremdung Die beobachtende Vernunft in Hegels Phänomenologie des Geistes Max Gottschlich (Wien/Linz)
Von Vernunft ist in der gegenwärtig mit neuer Heftigkeit geführten Auseinandersetzung zwischen naturwissenschaftlich formierten Weltbildern einerseits und der Philosophie bzw. Theologie andererseits um die Erst- und Letztfragen des Menschseins viel die Rede. Ist Vernunft »in« der Natur oder nicht? Regiert Zweckförmigkeit das natürlich Seiende oder das zufällige Spiel von Selektion und Mutation? Ist der Mensch als existierende Freiheit »Krone der Schöpfung« oder bloß ein Naturding unter anderen? Daß sich jener Konflikt um Schöpfung oder Evolution, der sich an Fragen wie diesen entzündet, keineswegs dem Zufall verdankt, sondern vielmehr in der Verselbständigung einer Form abstrakter Selbstinterpretation bzw. Selbstvergegenständlichung gründet, dies erweist sich in dem nun zu betrachtenden Abschnitt der Hegelschen Phänomenologie. Die beobachtende Vernunft eröffnet uns nämlich als erste und unmittelbare Vernunftgestalt der Phänomenologie den weiten Bereich der platonischen Dianoia, also desjenigen, was in Abhebung von der Episteme bzw. aristotelischen Theoria als technische oder verständige Wissenschaftlichkeit, ja instrumentelle Vernünftigkeit bezeichnet werden kann. Der beobachtenden Vernunft geht es, wie wir sehen werden, nur scheinbar um die Erkenntnis der Logizität des betrachteten Gegenstandes. In der Tat zielt sie – und dies wird sich in ihrem Tun zeigen – auf Anwendung, Beherrschung und Nutzbarmachung des betrachteten Gegenstandes im weitesten Sinne. So zeigen sich im Rahmen dieser ersten Vernunftgestalt die grundlegenden Formen und Voraussetzungen technischer Wissenschaftlichkeit, deren innere Bestimmung – und damit prinzipielle Schranken1. Denn die beobachtende Vernunft lebt als technische Wissenschaftlichkeit von Abstraktionen – das abstrakt-verständige Betrachten des Vernünftigen ist im Zeichen des Operationalisierungsprimates der sich als instrumentell interpretierenden Vernunft relativ notwendig: Soll etwa das Lebendige beherrschbar und nutzbar gemacht werden, so muß es als biochemischer Funktionskomplex betrachtet werden. 1
Christoph Hubig etwa faßt dagegen das Herr-Knecht-Kapitel als primären phänomenologischen Ort für das Bedenken der Voraussetzungen des Technischen; vgl. »Macht und Dynamik der Technik – Hegels verborgene Technikphilosophie«, in: R. Bubner (Hg.), Die Weltgeschichte – Das Weltgericht? Stuttgart 2000, 335–343.
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Dabei kann zugleich nicht stehen geblieben werden. Denn diese Abstraktionen sind nichts anderes als Formen abstrakter Selbstinterpretation der Vernunft. Dies erweist sich im Gang der Phänomenologie an der beobachtenden Vernunft selbst, und zwar an ihrem Scheitern im Erklären vor allem des Lebendigen und der existierenden Freiheit. Sie faßt nämlich den Naturzweck nicht als das, was er in Wahrheit ist, nämlich »Bedingung der Selbstverwirklichung der Vernunft«2, sondern als Ding unter Dingen. In diesem Scheitern erfährt die beobachtende Vernunft, daß sie keinen Selbststand hat, sondern Moment zunächst der praktischen Vernunft, mithin in bestimmter Weise Mittel der Freiheitsverwirklichung ist. So wird auch die Berechtigung des Operationalisierungsprimates der beobachtenden Vernunft eine nur relative, nur momentane sein – nämlich relativ zunächst auf die praktische Vernunft. Allerdings wird sich zeigen, daß der technischen Wissenschaftlichkeit eine Tendenz zur Verselbständigung eignet. Diese Tendenz – wir werden in diesem Zusammenhang gar von einer unsittlichen Dynamik dieser Vernunftgestalt zu sprechen haben – nimmt zumindest ein Moment dessen vorweg, was im Geistkapitel »Entfremdung« bedeuten wird3, nämlich das der Herrschaft des Werkes über seine Hervorbringer. Die Kategorie »Entfremdung« im Rahmen der ersten Vernunftgestalt bedeutet wesentlich die Herrschaft einer abstrakten, weil verdinglichenden Selbstinterpretation der Vernunft. Solange die Vernunft dabei nicht erkennt, daß sie als beobachtende noch von Abstraktionen im Sinne des Verstandesdenkens geleitet ist, solange sie meint, sich in den Modellwelten der ersten übersinnlichen Welt adäquat finden und dinglich festhalten zu können, solange verharrt sie zugleich im Widerspruch zu sich selbst und ist sich selber entfremdet. Vor diesem Hintergrund erhellt die besondere Bedeutung dieses Abschnittes der Phänomenologie für die moderne Welt. Denn in der Moderne tritt – spätestens mit der völligen Ausgliederung der Einzelwissenschaften der Natur aus der Philosophie in der Mitte des 19. Jahrhunderts – der instrumentelle Charakter der beobachtenden Vernunft akzentuiert hervor – so auch das Stigma der beobachtenden Vernunft als wissenschaftlich-technischer Vernunft, sowohl Moment der Vernunft als freiheitsverwirklichender wie auch Moment einer lebens- und freiheitsvernichtenden Verständigkeit und Technik zu sein. Die sich verselbständigenden Einzelwissenschaf2
Franz Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein. Untersuchungen zur »Naturbeobachtenden Vernunft« bei Hegel, Dissertation an der Philosophischen Fakultät Wien, 1972, 34. 3 Zu den vier Momenten im Begriff der Entfremdung vgl. Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels »Differenzschrift« und »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt/Main 2000, 189 f.
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ten (vor allem von der Natur) heben dabei auf Totalität ab und bilden in (naiver) Ontologisierung ihrer Voraussetzungen und Resultate wissenschaftliche Weltbilder aus, die an die Stelle der philosophischen bzw. theologischen Sinnvermittlung treten sollen4 – denken wir an den Physikalismus, vor allem an den Naturalismus. So finden sich in der Moderne denn auch besonders entwickelte Formen szientifischer Entfremdung: Es ist den modernen Formen beobachtender Vernunft vorbehalten geblieben, den Menschen im Sinne gerade des strikten Empirismus dieser Vernunftgestalt, der selbst freilich nicht »empirisch« begründet sein kann, »wissenschaftlich« als Tier, ja als Ding dargestellt zu haben – Beispiele dafür gibt es zuhauf 5, außerhalb der Naturwissenschaften übrigens auch in der Verhaltensphysiologie, der Psychoanalyse und auch der Soziologie. Die sich hier zeigende Spitze szientifischer Entfremdung wird – und da arbeiten diese Wissenschaften und die unaufgeklärte Aufklärung einander zu – sogar als »Befreiung« begrüßt, während die Dialektik aller Aussagen des Typs »Das Ich ist ein Ding«, auf die Hegel zielt, in methodischer Blindheit konsequent ausgeblendet bleibt. Beginnen wir aber mit einem kurzen Blick auf die Genesis der Vernunft aus dem unglücklichen Bewußtsein!
I. Zur Genesis der Vernunft aus dem unglücklichen Bewußtsein Der Übergang vom unglücklichen Bewußtsein zur Vernunft in der Phänomenologie kann zunächst einen Gesichtspunkt in Erinnerung rufen, den die moderne Welt beinahe vollständig vergessen hat. Alle Formen theoretischer und praktischer Vernunft beruhen auf die eine oder andere Weise auf ursprünglich religiösen Voraussetzungen – denn das »unglückliche Bewußtsein« im Sinne Hegels ist die phänomenologische Grundgestalt des religiösen Bewußtseins6. Das unglückliche Bewußtsein hat in der Erhebung seines Unwesens zu seinem Wesen das »Hervortreten der Einzelheit am Unwandelbaren und des Unwandelbaren an der Einzelheit«7 erfahren. Denn:
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Vgl. Thomas S. Hoffmann, Philosophische Physiologie, Stuttgart 2003, 549 ff. Eine Aufstellung der »wissenschaftlichen« Argumentationsformen zum Nachweis dessen, daß das Ich ein Ding ist, findet sich etwa bei: Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt/Main, 2. Aufl. 1998. 6 Wenngleich sich im unglücklichen Bewußtsein erst das »Wesen der unangeeigneten Religion« ausspricht, »gegen welche sich die »reine Einsicht« erheben muß!« (Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 44.) 7 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe (=ThW) Bd. 3, 5
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»Das Unwandelbare, das in das Bewußtsein tritt, ist ebendadurch zugleich von der Einzelheit berührt und nur mit dieser gegenwärtig;« (165) Darin hatte das unglückliche Bewußtsein »von fern die Ahnung des Unwandelbaren als des erschienenen Christus«8: das Unwandelbare nimmt selbst die »Gestalt der Einzelheit« (165) an. Die Erfahrung des unglücklichen Bewußtseins ist es also, kurz gesagt, die Extreme der Einzelheit des Bewußtseins und des reinen Denkens zusammenzuhalten (168), die Mitte von Einzelheit und Allgemeinheit zu sein (174 f.) – und zwar gerade in der »Verzichtleistung auf sich« (176), darin also, daß das Selbstbewußtsein seinen Fluchtpunkt außer sich setzt und sich in diesen hinein aufhebt. Diese Erfahrung selbst in die Reflexion aufgenommen, ist die Geburtsstunde des vernünftigen Selbstbewußtseins. Dieses weiß sich als absolut negativer Selbstvollzug in die reale Möglichkeit gesetzt, absolutes Wesen zu sein – eben darin aber gründet die konstitutive Gewißheit der Vernunft, »alle Wahrheit zu sein« (178). Allerdings wird das vernünftige Selbstbewußtsein zunächst die Tatsache, daß es sich als unmittelbare Gestalt der absoluten Negativität nicht unmittelbar festhalten kann, vergessen und damit als scheinbar glückliches9 Bewußtsein auftreten. Diesen Schein an sich gründlich abzuarbeiten, wird es des langen phänomenologischen Weges zur Einsicht in das Gesetztsein des objektiven Geistes insgesamt bedürfen, welche sich erst in der Versöhnung als dem Übergang in den absoluten Geist ereignet (494). Die beobachtende Vernunft wird somit die erste und unmittelbare, mithin auch abstrakteste Form des unmittelbaren Sich-Festhalten-und-Fixieren-Wollens des Vernünftigen selbst darstellen, die an ihrem eigenen Anspruch notwendig scheitern wird.
II. Die beobachtende Vernunft Der Geist erfährt sich, allgemein gesprochen, dort als Vernunft, wo er sich als Identität des Subjektiven und Objektiven gegenständlich wird, mithin in einem Weltumgang, der in gewisser Weise theoretisch und praktisch in einem ist. Der Vernunft geht es, wie Franz Ungler festhält,
Frankfurt am Main 1986, 165. In der Folge wird im Text mit Angabe der Seitenzahl in Klammern zitiert. 8 Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1970, 129. 9 Der Begriff des Glücks ist gefaßt als die Gewißheit der Einheit »seiner Wirklichkeit mit dem gegenständlichen Wesen« (268; vgl. auch 266 ff.). Die aristotelische Eudaimonia ist damit ausgesprochen als das Innesein der Entsprechung des Subjektiven und Objektiven. Dies ist in wahrhafter Weise zunächst in der sittlichen Welt erreicht (vgl. 339).
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»um eine Wahrheit, die sie weder als ›Bewußtsein‹ (Erfahrung in der kantischen Bedeutung dieses Wortes), noch als abstrakte Freiheit (Selbstbewußtsein) erreichte. Sie ist weder als theoretisch nur theoretisch, noch als praktisch nur praktisch, indem sie darauf geht, die Freiheit als Welt zu erfahren. Indem sie beobachtend ist, geht es ihr nicht um Gegenstände schlechthin, sondern darum, in der Gegenständlichkeit sich selbst zu erfahren und indem sie praktisch ist, geht es ihr nicht darum, schlechthin zu handeln, sondern Freiheit zu interpretieren. Sie ist also nicht vom kantischen Begriff der Vernunft, als vielmehr von der reflektierenden Urteilskraft her zu verstehen, als es Kant bei dieser um die Vereinigung von Freiheit und Natur geht«10. Das vernünftige Selbstbewußtsein hat so den Boden der Einheit von subjektiver und objektiver Logizität, von Denken und Sein erreicht. Diese Einheit muß jedoch noch für das Bewußtsein werden. Entscheidend ist dabei, wie sich die Identität von Denken und Sein nun auslegt: Die Vernunft interpretiert sich nämlich zunächst als subjektive Vernünftigkeit, die sich als objektive Vernünftigkeit (gegenständlich) zu finden hat, um die Identität von Denken und Sein darzustellen. Darin liegt zunächst ein Fortschritt über das Selbstbewußtseinskapitel hinaus: »Es ist ihm, indem es sich so erfaßt, als ob die Welt erst jetzt ihm würde; vorher versteht es sie nicht; es begehrt und bearbeitet sie, zieht sich aus ihr in sich zurück und vertilgt sie für sich und sich selbst als Bewußtsein – als Bewußtsein derselben als des Wesens sowie als Bewußtsein ihrer Nichtigkeit. Hierin erst, nachdem das Grab seiner Wahrheit verloren, das Vertilgen seiner Wirklichkeit selbst vertilgt und die Einzelheit des Bewußtseins ihm an sich absolutes Wesen ist, entdeckt es sie als seine neue wirkliche Welt, die in ihrem Bleiben Interesse für es hat wie vorhin nur in ihrem Verschwinden; denn ihr Bestehen wird ihm seine eigene Wahrheit und Gegenwart: es ist gewiß, nur sich darin zu erfahren« (178 f.). Das »bisher negative[] Verhältnis zu dem Anderssein«, wie es das Selbstbewußtseinskapitel gekennzeichnet hatte, ist also in ein »positives« (178) umgeschlagen. Erst jetzt kann das betrachtete Bewußtsein überhaupt von »Welt« sprechen11: Es hat nun eine Welt, in die es hinausgeht, dies allerdings in der, wie Hegel betont, erst instinktiven Gewißheit, nur sich selbst »dort draußen« zu finden. Das Sein hat ihm, wie es hier heißt, von vornherein »die Bedeutung des Seinen« (185). Es geht hier also um die (affirmative) »Erfahrung sei10 11
Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 42 f. Vgl. Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 55 f.
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ner selbst im Anderssein, die Vernünftigkeit der Natur«12, die Erfahrung der »Entäußertheit des Geistes«13 – deshalb auch wird, wie wir vorwegnehmend sagen können, dem Lebendigen in dieser Stufe eine zentrale Bedeutung zukommen. Denn im Lebendigen »manifestiert sich der Begriff als entäußerter«14. Also: Voraussetzung der Beobachtung der Natur ist die Gewißheit, daß dasjenige, was ihr als Realität erscheint, Begriffsgestalt hat und als solche auch transparent gemacht zu werden vermag. Dem Beobachten kommt daher eine besondere Dignität zu, die man mit Ungler folgendermaßen auf den Punkt bringen kann: »Indem die Vernunft beobachtend ist, unterscheidet sich ihr Tun von der Wahrnehmung des Bewußtseins. Beobachtung ist nach Kant ›methodisch angestellte Erfahrung’. Darin ist auch im Sinne Hegels zweierlei enthalten: während der Wahrnehmung das Werden des Gegenstandes geschieht, indem sich durch die notwendige Selbstbewegung des Ichs die sinnliche Gewißheit zum Wissen von Gegenständen fortgestaltet, intendiert hier das Ich den Gegenstand seiner Gewißheit. Zweitens geht es ihm nicht um das Wahrnehmen irgendwelcher Erscheinungen (›Fortlaufen an der Wahrnehmung‹), sondern um die Wahrheit des Einzelnen, der sinnlichen Gewißheit. Die Haecceitas des ›Hier und Jetzt-Daseienden‹ soll sich als absolut aufgehoben darstellen – damit ist ihm das Allgemeine zur Wahrheit des Einzelnen geworden, eine Erfahrung, die das Bewußtsein in praktischer Hinsicht als unglückliches Bewußtsein gemacht hat.«15 So geht das Bewußtsein als beobachtende Vernunft daran, das Sein als das Seine auch darzustellen, sich in seiner Welt auch wirklich zu finden. »Zuerst sich in der Wirklichkeit nur ahnend oder sie nur als das Ihrige überhaupt wissend, schreitet sie in diesem Sinne zur allgemeinen Besitznehmung des ihr versicherten Eigentums und pflanzt auf alle Höhen und in alle Tiefen das Zeichen ihrer Souveränität. Aber dieses oberflächliche Mein ist nicht ihr letztes Interesse; die Freude dieser allgemeinen Besitznehmung findet an ihrem Eigentume noch das fremde Andere, das die abstrakte Vernunft nicht an ihr selbst hat. Die Vernunft ahnt sich als ein tieferes Wesen, denn das reine Ich ist und muß fordern, daß der Unterschied, das mannigfaltige Sein, ihm als das Seinige selbst werde, daß es sich als die Wirklichkeit anschaue und sich als Gestalt und Ding gegenwärtig finde« (186). 12 13 14 15
Ebd., 44. Ebd. Ebd. 80. Ebd., 55.
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Die Freude an dieser nun möglich gewordenen »allgemeinen Besitznehmung« macht das Glück dieser Bewußtseinsgestalt aus, in der Welt nicht fremd, sondern elementar »einheimisch« zu sein. Die Erfahrung des unglücklichen Bewußtseins, die Zerrissenheit in sich selbst, scheint hier zunächst vergessen. Das vernünftige Selbstbewußtsein tritt, wie gesagt, unmittelbar als glückliches auf; Hegel aber zeigt, daß das Glück, ein positives Verhältnis zu dem Anderssein gewonnen zu haben, zugleich den Mangel dieser Stufe darstellt, an dem sie zugrundegehen wird. Der Widerspruch des unglücklichen Bewußtseins wird sich erneut herstellen – und zwar ganz allgemein gesagt darin, daß sich die beobachtende Vernunft unmittelbar in den Dingen sucht, anstatt, wie Hegel sagt, in ihre »eigene Tiefe« (186) hinabzusteigen, um von »da heraus wieder an die Wirklichkeit gewiesen« (187) zu werden (dies vollzieht sich erst im philosophischen System). Die Vernunft ist also – ob ihres Glückes, eine Welt gewonnen zu haben – zunächst gegenständlich gerichtet; sie ist erst Vernunftinstinkt, d. h. das Sich-Suchen der Vernunft in den Dingen. Die Vernunft steht zwar an sich bereits auf dem Boden der Einheit von objektiver und subjektiver Logizität, vergißt aber sogleich sich selbst als die Einheit des Subjektiven und Objektiven, als die Vermittlung und legt die Wahrheit wiederum in dem Gegenstand. So manifestiert die beobachtende Vernunft zugleich den grundlegenden Widerspruch des kantisch-frühfichteschen Idealismus, der nach Hegel darin besteht, » […] ein Gedoppeltes, schlechthin Entgegengesetztes als das Wesen zu behaupten, die Einheit der Apperzeption und ebenso das Ding, welches, wenn es auch fremder Anstoß oder empirisches Wesen oder Sinnlichkeit oder das Ding an sich genannt wird, in seinem Begriffe dasselbe jener Einheit Fremde bleibt« (185)16. Diesen fundamentalen Widerspruch gilt es im folgenden näher zu entfalten, um den Begriff der hier gegebenen Vernunftgestalt zu entwickeln. (1) Ansichsein und Fürsichsein dieser Stufe widersprechen einander. Alle Wissenschaftlichkeit, auch die neuzeitliche Naturwissenschaft, beginnt an sich mit der Voraussetzung der Einheit der subjektiven und objektiven Logizität. Die Seite des Fürsich, d. h. die Selbstinterpretation der beobachtenden Vernunft, jedoch entspricht dieser Voraussetzung nicht. Die Selbstinterpretation dieser Wissenschaftlichkeit meint: Die Natur (= das Wahre) soll genommen werden wie sie ist. In diesem »ist« spricht sich die Abstraktheit dieser Selbstinterpretation der Vernunft aus. So »sehen wir« nach Hegel die16
Vgl. dazu die Ausführungen in: Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 46–54.
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ses Bewußtsein »wieder in das Meinen und Wahrnehmen hineingehen«, und dies nun »mit der Gewißheit, dies Andere selbst zu sein« (185). Wahrnehmung ist nun wörtlich zu verstehen: Man meint, das Wahre, d. h. das SubjektObjekt, könnte »genommen« werden. »Das Bewußtsein beobachtet; d. h. die Vernunft will sich als seienden Gegenstand, als wirkliche, sinnlich-gegenwärtige Weise finden und haben« (186). Darin liegt der erste Punkt, den wir festhalten: Ansichsein und Fürsichsein der Vernunft widersprechen auf der Stufe der Beobachtung einander, und die beobachtende Vernunft besitzt keinen adäquaten Begriff ihres Tuns. In ihrem Begriff der Einheit von Denken und Sein ist sie einseitiger Eleatismus. (2) Nachdem die beobachtende Vernunft nicht weiß, daß sie sich auf dem Boden der Einheit der subjektiven und objektiven Logizität bewegt, hat sie auch nicht den adäquaten Begriff ihres eigenen Tuns: Sie meint, daß sie es mit Dingen zu tun habe und tritt als Empirismus, ja Positivismus auf. In der Tat hat sie es in ihrem Gegenstand nur mit sich selbst zu tun17. Die Vernunft geht »als beobachtendes Bewußtsein an die Dinge, in der Meinung, daß sie diese als sinnliche, dem Ich entgegengesetzte Dinge in Wahrheit nehme; allein ihr wirkliches Tun widerspricht dieser Meinung, denn sie erkennt die Dinge, sie verwandelt ihre Sinnlichkeit in Begriffe, d. h. eben ein Sein, welches zugleich Ich ist, das Denken somit in ein seiendes Denken oder das Sein in ein gedachtes Sein, und behauptet in der Tat, daß die Dinge nur als Begriffe Wahrheit haben« (187). Die Selbstinterpretation des Tuns dieser Wissenschaftlichkeit widerspricht also ihrem tatsächlichen Tun. Dies wird schon an folgendem Aspekt deutlich: Der Wissenschaftlichkeit geht es nicht um das Wahrnehmen bzw. einzelne Daseiende als solches, sondern es geht um ein Modell-Allgemeines18. Das Einzelne qua Exemplar ist da schon ein durch das Experiment ermitteltes Einzelnes eines Modell-Allgemeinen19. »Wenn es diesem Suchen und Beschreiben nur um die Dinge zu tun zu sein scheint, so sehen wir es in der Tat nicht an dem sinnlichen Wahrnehmen fortlaufen; sondern das, woran die Dinge erkannt werden, ist ihm wichtiger als der übrige Umfang der sinnlichen Eigenschaften, welche das Ding selbst wohl nicht entbehren kann, aber deren das Bewußtsein sich entübrigt« (189). 17
Ebd., 56. Vgl. Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 55. 19 »Das Wahrgenommene soll wenigstens die Bedeutung eines Allgemeinen, nicht eines sinnlich Diesen haben« (188). 18
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So schaut die beobachtende Vernunft – ihrem empiristischen Selbstverständnis entgegen – nur auf ihre Modellvorstellungen, auf ihre Wahrnehmungsfähigkeit – nicht schaut sie auf das Individuelle als Individuelles20. Das ist das eine: Das Wahrnehmen ist, anders als auf der Stufe des Bewußtseins, in der Beobachtung in der Tat zur Funktion der Vernunft geworden, zum Mittel, das Wesen der Dinge als das mit sich identische Allgemeine, näher dann als Gesetzeswelt zu fassen. Daß es darum geht, das weiß diese Wissenschaftlichkeit. Aber sie weiß in ihrer gegenständlichen Gerichtetheit nicht, daß sie es in ihrem Gegenstand nur mit sich selbst zu tun hat, sie faßt die »gedoppelte Wesentlichkeit« (189) nicht. »Das Bewußtsein dieses Beobachtens meint und sagt wohl, daß es nicht sich selbst, sondern im Gegenteil das Wesen der Dinge als der Dinge erfahren wolle. Daß dies Bewußtsein dies meint und sagt, liegt darin, daß es Vernunft ist, aber ihm die Vernunft noch nicht als solche Gegenstand ist. Wenn es die Vernunft als gleiches Wesen der Dinge und seiner selbst wüßte, und daß sie nur in dem Bewußtsein in ihrer eigentümlichen Gestalt gegenwärtig sein kann, so würde es vielmehr in seine eigene Tiefe steigen und sie darin suchen als in den Dingen« (186 f.). Die Vernunft ist als beobachtende sich nicht wissender Idealismus – eben darum kann Hegel von einem instinkthaften Tun der Vernunft sprechen. Die beobachtende Vernunft glaubt, daß ihr Inhalt von außen komme; tatsächlich bestimmt sich ihr Gegenstand durch die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins. Die kantische Einsicht, daß die Objektivität des Objektiven durch die Vernunft selbst gesetzt ist, liegt noch hinter dem Rücken des betrachteten Bewußtseins. Das »natürliche System« wird also nur vermeintlich an der Natur abgelesen. In Wahrheit handelt es sich um eine bestimmte Positivierung der logischen Form (welche dann in der Selbstbeobachtung, den logischen und psychologischen Gesetzen, selbst zum Gegenstand werden wird). Das ist der zweite Punkt, den wir festhalten müssen: Die Vernunft als beobachtende ist sich nicht wissender Idealismus, bloßer Vernunftinstinkt. Das betrachtete Bewußtsein weiß nicht, daß – und dies erinnert ja gerade die Phänomenologie in Vollendung des transzendentalen Gedankens der Gegenstandskonstitution – aller Gegenstand eine bestimmte Form der Selbstvergegenständlichung darstellt.
20
Es ist kein Zufall, daß im Positivismus und den ihm in ihrem Wirklichkeitsbegriff verpflichteten Geschichtsutopien (Comte, Feuerbach, Marx etc.) das Individuum als bloßes Mittel des Gattungsallgemeinen, als ein Ver- und Gebrauchbares gilt.
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(3) Daher weiß die beobachtende Vernunft auch nicht, daß die Vernunft sich in der Form dieser Selbstinterpretation selbst widerspricht. Denn das Selbstbewußtsein hat als vernünftiges an sich bereits die Gewißheit, alle Realität zu sein, d. h. nicht bloß ein Gegenstand neben anderen, sondern Grund der Gegenständlichkeit des Gegenstandes zu sein. Wenn aber die beobachtende Vernunft meint, sich selbst unmittelbar in den Dingen vernehmen zu können, so hat sich die absolute Form als das mit sich identische, ruhende, bestimmte Allgemeine, mithin selbst als Ding interpretiert – sie fällt in ihrer Selbstinterpretation in die erste übersinnliche Welt und deren Aporien zurück; sie ist erst verständige Vernunft, die sich von der formalen Logik her interpretiert und damit auf den Boden der ersten Stellung des Gedankens zur Objektivität zurückgesunken ist. Die Vernunft interpretiert sich nicht als der Begriff, der sich seine Wirklichkeit gibt, d. h. als Idee im Sinne der Logik, nicht als »Entelechie der absoluten Vermittlung«21, als das wahrhaft Allgemeine, welches sich selbst bestimmt bzw. begrenzt oder besondert, sondern als formallogisch gefaßte Subjektivität, d. h. als leere, ruhende Form, welcher der Inhalt von außen gegeben wird (darin besteht der Zusammenhang zur Kant- und Fichtekritik am Anfang des Vernunftkapitels). Die Subjektivität faßt sich also als ruhende Form – diese Selbstinterpretation selbst in die Reflexion aufgenommen, wird dann die Stufe der Selbstbeobachtung im Sinne der logischen und psychologischen Gesetze resultieren lassen. Die dieser Selbstinterpretation korrespondierende Objektivität ist die Vorstellung der Welt als einer positiven Einheit verschiedener Seiender, eines bloßen Nebeneinanders von Anorganischem, Organischem und der Ichheit. So besteht das Tun der beobachtenden Vernunft zunächst wesentlich darin, Ordnung in jenes Nebeneinander der Seienden in der Weise der Begriffspyramide zu bringen. Die Beziehung der Seienden gegeneinander soll dann – vermittelt durch das Experiment – in der Form der Gesetzes festgehalten werden, die wiederum zurückgeführt werden sollen auf ein oberstes Gesetz (»Weltformel«). Und in diesem Tun meint sie sich selbst als Vernunfttotalität, als das wahrhafte Allgemeine zu finden. Sie kommt aber in diesen »Systemen des allgemeinen Sichgleichbleibenden« (190) nicht zu sich als Begriff bzw. als Idee, kann daher auch nicht ihre Gewißheit, alle Wahrheit zu sein, selbst zur Wahrheit erheben. Sie kommt nur zu sich als bestimmtes, begrenztes Allgemeines, d. h. zu sich als ruhend interpretierter Form22. 21
Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 90. Im Gesetzgeben spricht sich die Vernunft dann näher als ein Sein, das ein Allgemeines ist, d. h. als Materie aus (195). 22
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Die Aporie der beobachtenden Vernunft ist also diese: sich als ruhendes Allgemeines, ruhende Form, mithin als Ding zu interpretieren und sich aber in dieser Unmittelbarkeit nicht finden zu können. Die verständige Vernunft kann daher im Lebendigen letztlich nicht das Bild ihrer selbst erblicken, nämlich absolute Vermittlung, Negativität zu sein23. Hegels Hinweise sind da angemessen drastisch: Auch »[…] wenn die Vernunft alle Eingeweide der Dinge durchwühlt und ihnen alle Adern öffnet, daß sie sich daraus entgegenspringen möge, so wird sie nicht zu diesem Glücke gelangen, sondern muß an ihr selbst vorher sich vollendet haben, um dann ihre Vollendung erfahren zu können« (186). Diese Wendungen unterstreichen, daß sich die beobachtende Vernunft in ihrem Beobachten und Erklären nur scheinbar theoretisch zu ihrem Gegenstand verhält. Das »Durchwühlen der Eingeweide« und »Öffnen der Adern« verweist auf das Tun des abstrakten, analytisch sezierenden Verstandes in Bezug auf den existierenden Begriff. Hegel wird hier wohl die Passagen der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft vor Augen gehabt haben, in welchen Kant auf die Anatomie im Zusammenhang mit dem Verstandesbegriff hinweist: »Verstandesbegriffe müssen, als solche, jederzeit demonstrabel sein (wenn unter Demonstrieren, wie in der Anatomie, bloß das Darstellen verstanden wird); d.i. der ihnen korrespondierende Gegenstand muß jederzeit in der Anschauung (reinen oder empirischen) gegeben werden können […]«24. »So sagt man von einem Anatomiker: er demonstriere das menschliche Auge, wenn er den Begriff, den er vorher diskursiv vorgetragen hat, vermittelst der Zergliederung dieses Organs anschaulich macht.«25 Hegel spricht in den zitierten drastischen Wendungen entsprechend nur das Resultat der kantischen Kritik in positiver Wendung aus, wonach dasjenige, was Kant »Vernunftidee« nennt, »indemonstrabel« sei, d. h. ihr niemals eine angemessene Anschauung gegeben werden kann. Es war gerade die große Errungenschaft der transzendentalen Dialektik Kants gezeigt zu haben, daß die notwendigen Vernunftideen Seele, Welt und Gott nicht als raum-zeitliche Gegenstände gefaßt werden dürfen. Interpretiert sich die Vernunft selbst als Ding unter Dingen, so verliert sie sich gerade in jenen Aporien, die Kant 23
Vgl. dazu: Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 90, 94. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Frankfurt/Main 1974, 284. 25 Ebd. 285. 24
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aufgezeigt hat. Die transzendentale Dialektik zeigt also nichts anderes als die notwendige Selbstwidersprüchlichkeit der im Modus des Beobachtens noch verständigen Selbstinterpretation der Vernunft auf. Genau diese noch verständige Vernunft ist uns im Gang der Phänomenologie nun aber gegenständlich. Ihr geht es um das Erklären aus Material- und Wirkursachen, wofür sie den Zirkel von Modell und Experiment benötigt. Die beobachtende Vernunft sieht nicht, daß im Wie des Funktionierens von Etwas das Was und das Worumwillen des funktionierenden Etwas noch nicht enthalten ist, denn in ihrem Erklären geht es nur scheinbar um das Begreifen der Vernünftigkeit des Gegenstandes. Auch der Hinweis Hegels darauf, daß die Selbsterkenntnis des Geistes der sich vollendet habenden Vernunft vorbehalten ist, deutet darauf hin, daß die momentane Bedeutung dieser Stufe des Bewußtseins nicht in der eigentlichen Wissenschaftlichkeit liegt. Diesen entscheidenden Punkt werden wir gleich näher verfolgen. Zunächst halten wir fest: Jenes »positive Verhältnis zu dem Anderssein«, welches die Vernunft zunächst im Hervorgang aus dem unglücklichen Bewußtsein gewonnen hat, ist zugleich der Ausdruck dessen, daß die Vernunft sich unmittelbar selbst verdinglicht hat. Darin besteht der Irrationalismus, die Selbstwidersprüchlichkeit dieser Vernünftigkeit: die Ichheit neben das Lebendige bzw. das Lebendige neben das Anorganische als verschiedene Seiende zu stellen26. So kommt die beobachtende Vernunft nicht dazu, Natur und Geist »nach der Form der Idee«27 aufzufassen. Mit Blick auf die Natur bedeutete dies gerade, das Reich des natürlich Seienden nicht einfach (empiristisch) als Dingwelt zu fassen, sondern es als eine in sich konkrete, d. h. nicht-beliebige Formen durchlaufende Bewegung der Anamnesis der Idee zu begreifen – beginnend vom mechanischen Objekt über das Physikalische, Chemische bis hin zum Organischen28. Jenes systematische Erfassen der Auf-
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Wobei man von dieser Voraussetzung her dann dazu kommen muß, das »Komplexe« aus dem »Einfachen« im Sinne des Evolutionismus »ableiten« zu wollen. 27 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ThW 17, 235f: Die Natur und der endliche Geist ist Produkt Gottes, es ist also Vernünftigkeit in ihnen; daß es von Gott gemacht ist, enthält, daß es in sich Wahrheit, die göttliche Wahrheit überhaupt, d.i. die Bestimmung dieser Idee überhaupt hat. Die Form dieser Idee ist nur in Gott als Geist; ist die göttliche Idee in Formen der Endlichkeit, so ist sie nicht gesetzt, wie sie an und für sich ist – nur im Geist ist sie so gesetzt –, sie existiert da auf endliche Weise. Aber die Welt ist ein von Gott Hervorgebrachtes, also macht die göttliche Idee immer die Grundlage aus dessen, was sie überhaupt ist. Die Wahrheit von etwas erkennen heißt, es nach der Form dieser Idee überhaupt erkennen, bestimmen. 28 Diese anamnetische Bewegung der Überwindung von Äußerlichkeit, die in der Monadizität des Lebendigen kulminiert, ist niemals mit dem Evolutionismus zusammenzubringen, der nichts anderes ist als der Versuch, das Lebendige aus dem Toten abzuleiten,
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hebung des Abstrakten im Konkreten ist zugleich die Erinnerung der Einheit von creatio ex nihilo und creatio continua: daß »das Moment des Andersseins selbst Moment der Idee ist«29, alle Dinge in Gott ihr Sein haben30 – und daß sich Gott an die ewigen Wahrheiten hält. Für die beobachtende Vernunft freilich bleibt jenes wahrhafte Sich-Finden der Vernunft in der Natur ein Jenseits. Das Glück dieser Stufe ist so freilich auch nur ein scheinbares: Sie zielt als erster Aufhebungsversuch des unglücklichen Bewußtseins auf Totalität ab, aber sie findet sich nicht als Vernunfttotalität (das wäre das Begreifen der wahrhaften Einheit des Subjektiven und Objektiven), sondern der Vernunftinstinkt kommt nur zu sich als Verstand und methodisch errichteter Verstandeswelt. Es ist die Vernunft, die sich nicht als Idee, als Begriff, der sich seine Wirklichkeit gibt, sondern im Sinne der formalen Logik interpretiert. So ist die Vernunft, wie sie uns hier unmittelbar auftritt, von sich selbst entfremdet. In der Welt als ihrem Anderen sich zwar heimisch wissend, sich selbst aber entfremdet. Dies ist der Widerspruch, den die beobachtende Vernunft manifestiert. Wenn es daher in der bekannten Wendung zu Beginn des Vernunftkapitels heißt: die Vernunft ist »die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein« (179), so ist diese Formulierung nicht nur affirmativ zu verstehen, sondern es wird hier – im Sinne der Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit – zugleich der Mangel dieser Stufe unmittelbarer Vernunft ausgesprochen31: Die beobachtende Vernunft ist es, die es unternimmt, die Realität, d. h. die von Liebrucks so bezeichnete Welt der Positivität zu erstellen. Und von dieser Welt der Positivität her interpretiert sie sich zugleich selbst. Sie ist es noch nicht, sich selbst als das Wirkliche, dasjenige was wirkt, also als die Wirk-
mithin das Lebendige überhaupt zu streichen. Ich verweise hier auf den Abschnitt »Hegel und die Evolution« in: Thomas S. Hoffmann, Philosophische Physiologie, a. a. O., 447 ff. 29 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, a.a. O., 247. 30 So heißt es etwa auch bei Thomas von Aquin: »Gott ist in allen Dingen, nicht als Teil ihres Wesens, auch nicht als eine ihrer Eigenschaften, sondern wie das Wirkende in dem ist, auf das es wirkt. […] Diese Wirkung nun setzt Gott in den Dingen nicht nur in dem Augenblick, da sie zu sein anfangen, sondern solange sie im Sein erhalten werden« (Summa theologica I, 8, übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Bd. 1, Graz 1982, 142 f.). 31 Bekanntlich sind Realität und Wirklichkeit bei Hegel so wenig Synonyma wie Richtigkeit und Wahrheit. Realität ist kurz gesagt dasjenige, was der Verstand im Sinne der ersten übersinnlichen Welt erreicht, das ruhende Sein, die Objektivität, von der Kant spricht, die Welt der Positivität (Liebrucks), die Welt der exakten Wissenschaftlichkeit, dasjenige, was der Fall ist (Wittgenstein). Wirklichkeit dagegen ist demjenigen zuzusprechen, was der verkehrten Welt angehört: dem Lebendigen und dem Selbstbewußtsein, das sich selbst Bewegende, das sich selbst Verursachende, sich selbst Bestimmende.
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lichkeit im Sinne des Organismus und des Ich (zweite übersinnliche Welt) zu begreifen. Beide Seiten, die Größe und die Schranken dieser Stufe, sind also in dieser Wendung enthalten: zum einen das Glück des Bewußtseins, das Sein als das Seine zu wissen, zum anderen nicht zu sich selbst als aller Wirklichkeit, sondern eben nur zu sich selbst als aller Realität gekommen zu sein. (4) Was aber bedeutet dies näher, zu sich als aller Realität (eben im Unterschied zur Wirklichkeit) gekommen zu sein? Es bedeutet, daß die theoretische Vernunft – und jetzt knüpfe ich wieder bei der Frage an, worin die eigentliche Bedeutung dieser Stufe liegt –, wie sie uns hier auftritt, keineswegs im Zeichen der aristotelischen Theoria, der Schau der Vernünftigkeit des natürlichen und sittlichen Kosmos, steht, sondern sie steht vielmehr im Zeichen der Anwendung, der Nutzbarmachung, der Technik. Der beobachtenden Vernunft geht es in ihrem Tun weniger um Selbsterkenntnis als vielmehr um das Erstellen einer widerspruchsfreien Erscheinungswelt – der Welt der neuzeitlichen und modernen Naturwissenschaftlichkeit32. Die eigentliche weltgeschichtliche Geburtsstunde der beobachtenden Vernunft wird demnach in der Verschmelzung von Naturwissenschaft und Technik33, d. h. der Herauslösung der exakten, mathematischen Naturwissenschaftlichkeit aus der (durch den Nominalismus geschwächten) Naturphilosophie aristotelischer Tradition in der Neuzeit bestehen. Hier ist wichtig festzuhalten, daß diese Herauslösung nur durch die methodische Ausblendung der inneren Teleologie aus dem Naturbegriff möglich wurde – denn nur als bloß mechanisches, physikalisches und chemisches Objekt ist Natürliches mathematisierbar, d. h. behandelbar und beherrschbar. Eingeleitet wurde diese Ausblendung mit der neuzeitlich-dogmatischen Gegenüberstellung von Kausalität im Sinne des Mechanismus und Zweckmäßigkeit im Sinne der Selbstkausation, d. h. mit der Verselbständigung der Sphäre der causae efficientes gegen die causae finales. Die Abstraktion auf material- und wirkursächliche Zusammenhänge hin ist für die technische Wissenschaftlichkeit notwendig – wenn sie denn ihren Gegenstand beherrschen will. Wir halten fest: Das Sich-Suchen der beobachtenden Vernunft in ihrem Anderen steht nicht im Zeichen der Theoria, sie ist vielmehr als eine erste Besitznehmung desselben durch die Vernunft zu interpretieren. Von da her 32
Darin sehen wir im übrigen wiederum einen Zusammenhang mit dem in den Anfangspassagen des Vernunftkapitels kritisierten kantischen Idealismus. Denn hier wird phänomenologisch das zentrale Motiv der theoretischen Philosophie Kants, nämlich die Bedingungen der Möglichkeit des Erstellens der natura formaliter spectata systematisch aufzuweisen, aufgenommen. 33 Vgl. Kurt Hübner, »Technik«, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1974, Bd. 5, 1476 f.
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sind auch Hegels Wendungen – das Bewußtsein weiß »das Sein als das Seine« (185), die Vernunft geht an die »Besitznehmung des ihr versicherten Eigentums und pflanzt auf alle Höhen und in alle Tiefen das Zeichen ihrer Souveränität« (186) – zu verstehen. Die erste und unmittelbare Form der Vernunft steht in diesem Sinne dann zunächst im Zeichen des abstraktesten Momentes des Selbstbewußtseins, des begehrenden Bewußtseins. Die Besitznehmung der Welt ist ein erstes Negieren des Gegensatzes von Ich und Welt – freilich auf dem Boden der Gewißheit des Bewußtseins, alle Wahrheit zu sein. Von da her, dieser ersten Besitznehmung der Welt, erklärt sich auch, daß diese Wissenschaftlichkeit – geschichtlich gesehen – schon mit Francis Bacon Moment der Aufklärung ist, die ja darin besteht, alles Ansich in ein Füruns zu verwandeln. Der aufklärerische Nützlichkeitsprimat geht von vornherein mit jenem Operationalisierungsprimat der technischen Wissenschaftlichkeit zusammen. Damit sind wir schon bei dem nächsten Punkt angelangt, nämlich bei der Frage: (5) Welches ist der Zweck dieser Besitznehmung der Welt, mithin die Notwendigkeit derselben? Die Aufklärung weist – äußerlich teleologisch reflektierend – auf den Nutzen von Wissenschaft und Technik für den Menschen, also auf die endliche Zweckmäßigkeit hin. Darin spricht sich insofern Wahres aus, als jene Form der Wissenschaftlichkeit der Sphäre der Praxis untergeordnet ist. Die Besitznehmung der Welt steht im Zeichen der sich realisierenden Freiheit. Die Technik, d. h. die zu sich gekommene neuzeitliche Naturwissenschaft, ist das Bezwingen der Naturnotwendigkeit durch die Freiheit zum Zweck der Freiheit. D. h. aber: Die Wahrheit der Naturbeherrschung ist die Selbstbestimmung im Sinne der Praxis und des objektiven Geistes. Nicht zufällig tritt also »mit jener Wissenschaftlichkeit … das Bewußtsein des Menschen als ›letzten Zweckes der Natur‹ (Kant) auf«34. Man kann hier wiederum an die Stufe des Selbstbewußtseins erinnern: Das Selbstbewußtsein als begehrendes kommt nicht zu sich; denn die Negation des Anderen war zugleich das Voraussetzen des Anderen. Die Wahrheit des begehrenden Selbstbewußtseins war so das anerkennende Selbstbewußtsein, womit die Sphäre des praktischen Selbstbewußtseins erreicht wurde (die wechselseitige Anerkennung wird erst im Begriff des Geistes realisiert). Diese Bewegung tritt nun – unter der Voraussetzung der Gewißheit des Selbstbewußtseins, alle Wahrheit zu sein – erneut auf. Die Naturbeherrschung (die Besitznahme von der Begierde her interpretiert) ist nur ein Moment an der praktischen Vernunft, der Selbstbestimmung. Ihre Bestimmung ist es daher, an der Bereitstellung der Bedingungen der äußeren Selbsterhaltung der Freiheit zu arbeiten. 34
Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 55.
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Schon Aristoteles35 weist darauf hin: Das Ich muß sich vom Kampf gegen die Naturnotwendigkeit, von seiner äußeren Bedürftigkeit und Abhängigkeit befreit haben, um konkretere Formen der Freiheitswirklichkeit erreichen zu können. Die äußere Selbsterhaltung der Vernunft wäre also jener Zweck, dem die beobachtende Vernunft als technische Wissenschaftlichkeit zu dienen hat. Die Vernunft ist sich hier selbst Herr und Knecht. Man kann dies prinzipiell so formulieren: Wenn Praxis und schließlich Theoria bzw. Episteme möglich sein können sollen, so ist Poiesis bzw. Techné vorausgesetzt. Darin hat die Sphäre der Naturbeherrschung, das Sich-Untertan-Machen der Erde auch – theologisch gewendet – ihre Rechtfertigung36. Dies bedeutet aber zugleich: die Besitznahme der Welt muß im Dienst der Praxis, der Sittlichkeit, sowie letztlich der Theoria stehen. Von Hegel her zeigt sich damit leicht die Abstraktheit sowohl einer aufklärerischen naiven Affirmation des Fortschrittsgedankens einerseits wie auch einer ebenso aufklärerischen abstrakten Technikkritik, die einen vermeintlichen Naturzustand des Menschen als das Gute ausspricht, andererseits. An ihrer Bestimmung – nämlich Mittel der äußeren Selbsterhaltung der Freiheit zu sein – hat alle technische Wissenschaftlichkeit ihr inneres Maß, das sie je neu zu treffen hat. So ergibt sich zugleich ihre Schranke: sie darf ihren Mittelstatus nicht vergessen, d. h. sich als Zweck gegen die Freiheit nehmen. Spätestens dann, wenn der moderne Mensch meint, folgendermaßen schließen zu können: ›alle Natur gehört mir, auch mein Bauch gehört mir, also darf ich abtreiben‹, wird deutlich, daß die Sphäre der technischen Wissenschaftlichkeit von vornherein nicht einfach indifferent gegen gut und böse ist. Die beobachtende Vernunft wähnt sich dagegen in ihrem Glück der Besitznehmung der Natur gleichsam als »supralapsarische« Vernunft, die meint, sich in einem ohne weiteres wertfreien Raum zu bewegen. So ist es auch kein Zufall, daß diese Wissenschaftlichkeit mit menschenverachtenden Ideologien zusammenzugehen vermag – solange sie nämlich vergißt, daß die Selbstfixation, die sie betreibt, also ihr Unternehmen, sich in den Dingen zu finden und festzuhalten, immer schon im Zeichen der äußeren Selbsterhaltung der Freiheit angesichts der Naturnotwendigkeit steht, sie mithin nur das abstrakteste Moment im Gang der zu sich kommenden Vernunft darstellt. Die beobachtende Vernunft weiß als technische Wissenschaftlichkeit unmittelbar um ihre Endlichkeit; um ihre Schranken weiß sie nicht.
35
Aristoteles, Metaphysik, I, 1, 981b14 f. Vgl. auch G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ThW Bd. 16, Frankfurt/Main 1969, 240. 36
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Einer Erinnerung der inneren Bestimmung technischer Wissenschaftlichkeit steht zunächst vielmehr dasjenige entgegen, was als die unsittliche Dynamik dieser Vernunftgestalt bezeichnet werden könnte. Diese besteht darin, daß das »Du kannst, weil du sollst« tendenziell zu einem: »Du sollst (darfst), weil du kannst« pervertiert wird. Zwei Momente sind hier festzuhalten: A) der Gestell-Charakter der Technik (Heidegger) überhaupt und zusammenhängend damit B) die tendenzielle Verselbständigung endlicher Zwecke und Interessen. Ein paar exkursartige Bemerkungen dazu, zunächst zum Gestell-Charakter, mögen hier gestattet sein! Hoffmann bringt diesen folgendermaßen auf den Punkt: »Tatsächlich liegt die eigentliche Problematik des technischen Artefakts oder überhaupt des technisch ›Machbaren‹ immer in dem Vorsprung von dessen faktischer Präsenz vor seiner gedanklichen Einholung; die Technik ist nur insofern ›Gestell‹, als die endlichen Zwecke, deren Erfüllung sie gewährt, mit dem eigentlich unbedingten Zweck z. B. im Sinne von Kants kategorischen Imperativ nicht vermittelt sind und ihn deshalb ›verstellen‹ kann«37. Es ist jener Vorsprung der lebensweltlichen Präsenz des technisch Machbaren, der die Relativität der endlichen Zwecke zunächst verstellt und vergessen läßt (weshalb dann auch einzelwissenschaftlich »fundierte« Weltbilder als Religionsersatz überhaupt erst »erfolgreich« auftreten können38). Die Endlichkeit, Relativität der Zwecke des Technischen muß daher je neu erinnert werden. Dieser Erinnerung steht allerdings die tendenzielle Verselbständigung endlicher Zwecke und Interessen entgegen, welche unmittelbar aus dem GestellCharakter dieser Vernunftgestalt folgt. Mit der Potenzierung des Verfügungswissens nämlich wird zwar auf der einen Seite die Notwendigkeit dieser Erinnerung an die Schranken des Technischen immer evidenter – man denke hier nur an das sog. »therapeutische Klonen«, bei dem völlig evident ist, daß der Mensch sich hier selbst, nämlich als Embryo, zum verbrauchbaren Mittel endlicher, beliebiger Zwecke herabsetzt (was freilich nur in der freiheitsvernichtenden Konsequenz jener wissenschaftlichen Weltbilder liegt, in denen sich der Mensch selbst zuletzt als Ding und Naturgegenstand interpretiert). Mit der potenzierten Machbarkeit verhärtet sich jedoch auf der anderen Seite auch jener Standpunkt, daß Verfügungswissen im Sinne des »Du sollst, 37 38
Hoffmann, a. a. O., 550. Ebd.
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weil du kannst« prinzipiell uneingeschränkt herzustellen und anzuwenden sei. Denn das potenzierte Verfügungswissen potenziert notwendig zugleich die Masse adhärierender endlicher Zwecke und Interessen, die Momenten des objektiven Geistes angehören und deren Unselbständigkeit in Bezug auf den unbedingten Zweck – die Ichwerdung des Ichs – miterfaßt sein will. Daß diese unsittliche Dynamik der Technik zu einem Kernproblem der modernen Welt geworden ist, gründet – sowohl systematisch-phänomenologisch wie auch geschichtlich betrachtet – näher darin, daß sie Moment des negativen und formellen Tuns der Aufklärung ist, welches Tun in der abstrakten Negation auch aller an und für sich geltenden Bestimmungen qualifizierter Freiheit besteht39. So ist es mehr denn je die (exoterische) Aufgabe der Philosophie, gegen diese eigentümliche Dynamik technischer Wissenschaftlichkeit das eigentliche Telos teleion zu erinnern, um das neben der Philosophie freilich auch das religiöse Bewußtsein bzw. die Theologie weiß. Denn: »Wissenschaft wird pathologisch und lebensgefährlich, wo sie sich aus dem Zusammenhang der sittlichen Ordnung des Menschseins verabschiedet und nur noch autonom ihre eigenen Möglichkeiten als ihren einzig zulässigen Maßstab anerkennt«40. Wie vollzieht sich nun diese Erinnerung der inneren Bestimmung technischer Wissenschaftlichkeit im Gang der Hegelschen Phänomenologie? Sie vollzieht sich indirekt. Die beobachtende Vernunft weiß unmittelbar nicht um ihre Endlichkeit, sie muß ihre Endlichkeit erst an ihr selbst, d. h. an ihrem Tun erfahren. (6) Die beobachtende Vernunft pflanzt zunächst »das Zeichen ihrer Souveränität« so auf, »daß wir an römisch-cäsarisches Gebaren erinnert sind«41. Heute erleben wir jenes römisch-cäsarische Gebaren nicht zuletzt in der Verwechslung einzelwissenschaftlich vermittelter, d. h. nicht totalitätsfähiger Weltbilder, die nicht zuletzt gegen das der Totalität verpflichtete religiöse Bewußtsein ins Feld geführt werden, mit der Wahrheit über die Welt als solcher. Die schon theoretische Endlichkeit der jeweiligen Modellbildung, damit zugleich die spezifische Bestimmung und die Schranken technischer Wissenschaftlichkeit scheinen aus dem Blick getreten zu sein und einem Dog-
39
Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 2, a. a. O., 333 ff. 40 Joseph Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg i.Br. 2003, 128 41 Liebrucks, a. a. O., 129.
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matismus in der Verfechtung von »wissenschaftlicher Erkenntnis« Platz zu machen, denen oft noch das schlichteste wissenschaftstheoretische Räsonnement (etwa im Sinne des Falsifikationismus) fremd ist. Hegel zeigt aber auf, daß die entsprechende Stufe ihre Endlichkeit (ihr nicht Überwunden-Haben des unglücklichen Bewußtseins) an sich selbst, an ihrem Scheitern erfährt – und dieses Scheitern erfährt die beobachtende Vernunft notwendig gerade dort, wo sie es mit der daseienden Vernunft zu tun hat: in der Betrachtung des Lebendigen und der existierenden Freiheit, also desjenigen, was im Sinne der wahrhaften Einheit in der Tat die Welt im Innersten zusammenhält. Blicken wir dazu kurz auf den Entwicklungsgang der beobachtenden Vernunft! Sie beginnt, erstens, mit dem unmittelbar Gegebenen, als Beobachtung der Natur, gefaßt als positive Einheit des Anorganischen und Organischen. Dieses ihr Tun selbst zum Gegenstand der Beobachtung erhoben läßt, zweitens, die Selbstbeobachtung als Beobachtung des Logischen selbst im Sinne der Fixation von logischen und psychologischen Gesetzen resultieren. Das bisherige, Natur und Geist verdinglichende Tun der beobachtenden Vernunft wird ihr dann, drittens, in dem Versuch gegenständlich, die Einheit von Natur und Geist im Sinne Physiognomik und Schädellehre zu fassen – hier kommt das verdinglichende Tun zu sich. In diesem Gang muß die beobachtende Vernunft die Erfahrung dessen machen, was Kant in der dritten Antinomie bezüglich der Freiheit und in der teleologisch reflektierenden Urteilskraft bezüglich des Lebendigen ausgeführt hat: daß das Organische als innere Zweckmäßigkeit und die Freiheit als Selbstbestimmung niemals Gegenstand der neuzeitlichen Naturwissenschaftlichkeit bzw. der empirischen Selbstbeobachtung sein kann. Was von sich her wirkt, was wirklich ist, das sich selbst Bewegende, das sich selbst Bestimmende, das kann nicht im Sinne der ersten übersinnlichen Welt erklärt werden. So stellt sich der Stolz dieser Stufe, im Sinne der »Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein« (179), an alles Sein als das Seine herangehen zu können, als, wie Liebrucks formuliert, »metaphysische stultitia«42 dar – denn es ist das Suchen des Lebendigen bei dem Toten, unaufgehobenes unglückliches Bewußtsein43. Die beobachtende Vernunft muß erfahren, daß jene Realität, welche die ihrige ist, d. h. das Reich dessen, was sich dem Gesetzgeben des Verstandes erschließt, nur ein Abstraktum ist,
42
Liebrucks, ebd. Metaphysisch, weil das Sich-Suchen der Vernunft in den Dingen der ersten Stellung des Gedankens zur Objektivität angehört. 43 So bleibt für den Standpunkt des Beobachtens auch Gott notwendig ein Jenseits – vgl. dazu die Ausführungen Hegels in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ThW Bd. 16, 169 f.
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daß ihr Erklären das Wirkliche – d. i. das Organische und das Ich – nicht erreicht, mithin daß sie sich als Vernunft, die sie ja an sich bereits ist, nicht erreicht, daß sie sich also nicht entspricht. Das geht ihr an der Beobachtung des Organischen und dem Ich indirekt, nämlich vermittelt über ihre Aporien im Erklären-Wollen, im Gesetzgeben auf. Im einzelnen ist dies hier nicht näher zu verfolgen; ich darf nur die Grundaporie der Beobachtung nochmals herausstreichen und von daher noch kurz auf die Aporetik der Beobachtung des Organischen hinweisen. (7) Die Grundaporie der naturbeobachtenden Vernunft ist es, daß das künstliche und das natürliche System einander zwar völlig entsprechen sollen, diese Entsprechung aber nicht gefunden werden kann. Denn die verständige Vernunft fixiert in der Form der Begriffspyramide spatiologisch die Momente des Begriffes gegeneinander: Die Gattung steht »über« der Art, die Art »über« dem Einzelnen (gegenwärtig kennt man etwa in der Biologie noch etliche »Zwischenstufen«). Dieses verständige Auseinanderreißen der Momente des Begriffes ist der Mangel der Begriffspyramide selbst und der Grund des Nicht-entsprechen-Könnens: Sie kennt das Allgemeine nur als bestimmtes, ruhendes Allgemeines, nicht als tätiges, sich in die Einzelheit kontinuierendes Allgemeines, mithin nicht – das ist entscheidend – die innere Zweckmäßigkeit. Daher fixiert die Begriffspyramide den in der Unmittelbarkeit bestehenden Schein des bloßen Nebeneinanders des anorganisch Seienden, des Lebendigen und der selbstbewußten Vernünftigkeit. Dem Organischen und der Ichheit soll daher in dieser Abstraktion gleichermaßen (das seinslogische) Sein zukommen. Daß das Anorganische insgesamt nur Moment am Lebendigen als wahrhafter, substanzieller Einheit (Monade) ist, daß weiters die Vernünftigkeit des animal rationale, die spezifische Differenz nicht bloß ein neues, irgendwie hinzukommendes Merkmal eines Tieres ist, sondern daß die spezifische Differenz vielmehr Negation des Gattungsbegriffes ist, also die Animalität nur Moment an der Freiheit ist, dies kann im Rahmen einer Begriffspyramide schlechthin nicht gefaßt werden. Vielmehr erscheint das wirkliche Vernünftige, das Lebendige und die Ichheit, der beobachtenden Vernunft als ein Gegenstand unter anderen44. Darin besteht sowohl der Grundmangel der Begriffspyramide, der Grund der Aporien, in welche die beobachtende Vernunft gerät, wie auch der Grund, warum sich die Vernunft in dem entsprechenden klassifikatorischen Tun letztlich nicht finden kann, sondern sich widerspricht. Das Ausmaß dieses Selbstwiderspruches ist auch das Ausmaß ihrer Entfremdung. 44
Dies entspricht dem Nebeneinander von allgemeinen und besonderen Naturgesetzen in Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft.
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Damit zur Beobachtung des Lebendigen: Das Lebendige ist nicht ein Gegenstand unter anderen, sondern gerade das Negieren des gleichgültigen Bestehens des anorganischen Außereinanders im Sinne der inneren Zweckmäßigkeit (Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion). In Bezug auf die Besonderung des Lebendigen in seine Gattungen und Arten ist daher auch die leibnizische Fensterlosigkeit der Monade ernst zu nehmen: Die Gestalt des Lebendigen, welche die naturbeobachtende Vernunft unmittelbar als Gegenstand vor sich hat und zunächst hinsichtlich wesentlicher Merkmale beschreibt und klassifiziert, gründet in der aus Material- oder Wirkursachen unableitbaren Plastizität des Organischen. Das Lebendige ist es, sich unter speziellen Bedingungen in »Arten« zu besondern – aus seiner Plastizität, d. h. der Kraft seiner eigenen Substanz heraus. In der Beantwortung der entscheidenden Frage nach der qualitativen Neuartigkeit der Formen des natürlich Lebendigen sind daher wesentlich auf bloße Material- und Wirkursachen reflektierende »Gesetze« wie dasjenige von Mutation und Selektion von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Dissipation der logischen Totalität in die Mannigfaltigkeit des Natürlichen, jener »Fluch der Natur«45, ist also ebensosehr als die natürlich daseiende Manifestation des Aufgehobenseins des Abstrakten im Konkreten zu fassen – ein Aufgehobensein, das sich eben als Reichtum46 bzw. näher als Naturschönheit erweist und die Natur der Betrachtung (im Sinne der Theoria) darbietet. In der Sphäre der Religion bzw. des absoluten Geistes ist, wie schon erinnert, »die Natur für den Menschen nicht nur diese unmittelbare, äußerliche Welt«, die Welt des Positivismus, sondern wesentlich »eine Welt, worin der Mensch Gott erkennt; die Natur ist so für den Menschen eine Offenbarung Gottes«47. Um die theoriaförmige Betrachtung des natürlich Seienden geht es freilich der beobachtenden Vernunft nicht, sondern zunächst um das vollständige Klassifizieren dieses Reichtums. Aber durch den Gegenstand selbst vermischen sich »Unterschiede und Wesentlichkeiten«, bilden sich stets »Übergänge und Verwirrungen« (191), die den formallogischen Eindeutigkeitsforderungen der verständigen Klassifikation entgegenstehen – es wiederholt sich 45
Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ThW 16, 333. »Indem nun das Anderssein als Totalität der Erscheinung bestimmt ist, so drückt es an ihm selbst die Idee aus […]« (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ThW 17, a. a. O., 247 f.) In diesem Zusammenhang spricht Hegel auch davon, daß die »göttliche Idee« als »Reichtum der endlichen Welt« erscheine (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 1, a. a. O., 114.). So ist auch mit Hegel von einem Lob Gottes in der Natur zu sprechen. 47 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ThW 17, 249. 46
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also der Widerspruch des Dinges, Eines zu sein und zugleich in seinen Eigenschaften Vieles zu sein48, und führt die beobachtende Vernunft in die Aporie. Man denke hier an nicht eindeutig fixierbare Formen zwischen den Gattungen und Arten des Lebendigen, vor allem an die Besonderung unterhalb der species infima, aber auch zwischen Anorganischem und Organischem (Viren). Hier steht die naturbeobachtende Vernunft vor einer Schranke – wobei sie meint, daß diese Schranke etwas Gegebenes sei. In der Tat aber ist dies nur die Schranke ihrer eigenen Verständigkeit49. Sie weiß nicht, »ob das an sich zu sein Scheinende nicht eine Zufälligkeit ist« (189), kann daher auch nicht wissen, daß der Zufall selbst notwendiges Moment der Natur ist50. Die beobachtende Vernunft muß daher (entsprechend dem Schritt von der Wahrnehmung zu Kraft und Verstand) in Bezug auf das Lebendige vom Beschreiben und Klassifizieren zum Erklären und Gesetzgeben fortschreiten – was nichts anderes ist als ein erstes »Hinaustreiben des subjektiven Geistes über ein geistloses Tun«51, der erste Schritt einer »Auferstehung der Vernunft vom Tode der Deskription«52. Der entscheidende Punkt hierbei ist allerdings: Die innere Zweckmäßigkeit – dasjenige also, was Lebendige zu einem analogon rationis macht – wird in diesem Erklären und Gesetzgeben nicht gefaßt, da es sich in Reflexionsbestimmungen bewegt: Inneres und Äußeres werden gegenübergestellt, um überhaupt gesetzmäßige Beziehungen zwischen beiden Seiten festhalten zu können. Dabei gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten, deren Scheitern Hegel aufzeigt: A) das Gesetzgeben in der Beziehung des Organischen auf das Anorganische; das Erklären des Lebendigen aus seiner anorganischen Voraussetzung geht nicht über die Behauptung eines »großen Einflusses« hinaus53. B) das Gesetzgeben in Beziehung des Organischen auf sich selbst: Die Momente der Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion sollen da als Innere in gesetzmäßige Beziehung zu ihren äußeren Manifestationen (Nervensystem, Muskelsystem, Eingeweide) gebracht werden. Dieses Erklären endet, wie Hegel zeigt, in Tautologien.
48
»Allein diese Ausbreitung der gleichbleibenden Bestimmtheiten, deren jede ruhig die Reihe ihres Fortgangs beschreibt und Raum erhält, um für sich zu gewähren, geht wesentlich ebensosehr in ihr Gegenteil über, in die Verwirrung dieser Bestimmtheiten« (190 f.). 49 Vgl. dazu Ungler, Organismus und Selbstbewußtsein, a. a. O., 57. 50 Vgl. dazu ebd., 34 f., 81. 51 Ebd., 57. 52 Ebd., 59. 53 Vgl. dazu ebd., 87.
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Das Gesetzgeben in Bezug auf das Lebendige scheitert kurz gesagt deshalb, weil das wahrhaft Innere, die Monade in ihrer Plastizität, nicht für sich als Äußeres fixierbar, daher durch keine Kausalitäts- und Bedingungskategorie einholbar ist. Die Momente der natürlich daseienden inneren Zweckmäßigkeit – Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion – sind nicht »von unten«, also vom Mechanismus, Physikalismus und Chemismus, ableitbar; die Innerlichkeit etwa des animalischen Selbstgefühls ist im Sinne der Fensterlosigkeit der Monade prinzipiell nicht aus wirkursächlichen Zusammenhängen heraus erklärbar54. Diese Schranke gilt prinzipiell auch – trotz alles wissenschaftlichen Fortschrittes seit Hegels Zeit – für die modernen Formen beobachtender Vernunft. In der Moderne tritt, wie eingangs erwähnt, der technische Charakter der beobachtenden Vernunft in ihrem Erklären und Gesetzgeben, aber auch schon im Beschreiben und Klassifizieren akzentuierter hervor als noch zur Zeit Hegels. So wird etwa in der Biochemie das wahrhaft Innere, welches das Äußere begründen soll, als der genetische Code, der sog. Bauplan des Lebendigen, angesetzt. »Bewiesen« wird dies dadurch, daß aus einer Veränderung des Genotyps eine Veränderung des Phänotyps erfolge. Aus diesem wirkursächlichen Zusammenhang von Genotyp und Phänotyp sollen die Formen des Lebendigen erklärt werden. Das Lebendige wird also von der Sphäre des Werkherstellens her interpretiert. Warum? Weil, so Hegel, die beobachtende Vernunft den Zweck nur als gewußten, nicht aber als den daseienden Zweck im Sinne der Entelechie kennt. Sie muß daher den Zweck in der Betrachtung des Lebendigen in einen »äußeren Verstand«, einen Werkmeister setzen. Gegenwärtig ist dieser äußere Verstand nicht mehr der göttliche Verstand, an dessen Stelle das ingeniöse Gespenst einer hypostasierten Evolution getreten ist, jenes die sog. Stammesgeschichte bestimmende planlos-kontingente Spiel von Selektion und Mutation, aus welchem die Formen des Genotyps wiederum im Sinne angeblicher wirkursächlicher Gesetzmäßigkeiten erklärt werden sollen. Wir sehen also: Der Evolutionismus knüpft entscheidend an die technisch vermittelte Vorstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen Phänotyp und Genotyp an55. Durch das angeblich gesetzmäßige Spiel von Selektion 54
Daher ist auch das Anschauen des Schönen irreduzibel auf wissenschaftliches Beobachten, Sezieren, Analysieren usw. 55 Peter Janich, »Naturgeschichte und Naturgesetz«, in: ders., Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Wege zum Kulturalismus. Frankfurt am Main 1996, 181–199, spricht für den Evolutionismus von Hypostasierungen »auf der Grundlage eines aktuellen Wissens, dessen Wahrheitskriterium letztlich der Erfolg technischer Eingriffe in komplexe Fortpflanzungsgeschehen ganzer Populationen sind. Dies gilt insbesondere für
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und Mutation soll sich das Nebeneinander der Gattungen und Arten in der Begriffspyramide als ein Auseinander erklären lassen, als ein deszendenztheoretischer Stammbaum, der das Anorganische, Organische und den Menschen umfassen soll. Daran zeigt sich, daß die Evolutionstheorie nichts anderes ist als das in, kantisch gesagt, schlecht-metaphysischem Überschwang vergegenständlichte eigene Tun des Eliminierens der inneren Teleologie, woraus letztlich nur jene Tautologie des Erklärens des Einen aus dem Anderen resultiert: Die Ähnlichkeit des »Bauplanes« soll die Phylogenese beweisen, die Stammesgeschichte wiederum die Bauplanähnlichkeit. In diesem tautologisch-zirkulären Konstrukt meint man seit dem 19. Jahrhundert das wirklich natürliche System im Unterschied zu künstlichen Systemen wie denjenigen von Aristoteles oder von Linné gefunden zu haben. Aus sog. »einfachen« Formen sollen die »komplexeren« Formen abgeleitet werden können – bis hin zur angeblichen biochemischen Erklärung der »Entwicklung« des Lebendigen aus dem Toten (der Einheit aus der Mannigfaltigkeit). Wir müssen hier entsprechend unterscheiden: Das eine ist zunächst die technische Seite dieser Wissenschaftlichkeit, die sich etwa in der Rede vom »Genom« als Bauplan des Lebendigen klar ausspricht. Indem das Lebendige als biochemischer Funktionskomplex, d. h. als Aggregat gefaßt wird, wird es zugleich operationalisierbar gemacht. Zwar kann die Monadizität des Lebendigen durch das Festhalten von angeblichen oder tatsächlichen wirkursächlichen biochemischen Zusammenhängen niemals erklärt werden. Sobald aber das Lebendige bloß im Sinne der äußeren Zweckmäßigkeit (»Bauplan«) betrachtet, dabei letztlich auf den Chemismus reduziert wird, öffnet sich am Lebendigen die Seite des Beherrschbaren und Nützlichen. Die Interpretation des Lebendigen von der Sphäre des Werkherstellens her ist also insofern konsequent und auch notwendig. Der Biochemie geht es ja zuletzt um nichts anderes als die Operationalisierung des Lebendigen. Der moderne Biochemiker mag zwar meinen, daß es ihm nur um »Theorie« gehe; in der Tat hat sein Tun Mittelcharakter, nicht zuletzt etwa für die Medizin. Das ist die eine, die »positive« Seite: die relative Notwendigkeit der verständigen Betrachtung des Vernünftigen. Die andere Seite allerdings ist, daß die technisch-wissenschaftliche Vernunft durch ihre unsittliche Dynamik ihre abstrakten Modellvorstellungen zu Pseudo-Ontologien verselbständigt. Indem aber in diesen Pseudo-Ontologien (wie etwa im Evolutionismus) nichts anderes als Formen von Selbstdie erklärenden Tieferlegungen eher phänomenalen Züchterwissens durch die Formulierung von Gesetzen, von den Mendelschen Gesetzen der Kombination dominanter und rezessiver Merkmale bis hin zur sogenannten ›Entzifferung des genetischen Codes‹ in der molekularen Genetik« (195).
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entfremdung fixiert werden, konterkariert diese Wissenschaftlichkeit ihre ureigenste Bestimmung: nämlich der Freiheit und ihrer Selbsterhaltung zu dienen. Die verständige Betrachtung des Vernünftigen wird verselbständigt, mithin die Entfremdung der Vernunft von sich fixiert. (8) Wir halten abschließend fest: Sobald die beobachtende Vernunft als wissenschaftlich-technische Vernunft es unternimmt, sich über das anorganische Dasein hinaus des Lebendigen und sogar des Geistes, der Freiheit erklärend und gesetzgebend zu bemächtigen, auf »Totalität« geht und sich gemäß diesem Anspruch durchführt, verliert sie sich in Aporien, ihr Tun hebt sich an ihm selbst auf (das Erklären wird tautologisch). Darin muß das Bewußtsein erfahren, daß – wie es bei Kant heißt – der Newton des Grashalmes56 niemals aufstehen wird, daß das verdinglichte Lebendige nicht das wahrhaft Lebendige ist, das verdinglichte Ich nicht das wahrhafte Ich ist. So erfährt das Selbstbewußtsein, daß es sich im Sinne der absoluten Abstraktion vielmehr von aller Dingheit, aller Objektivität einschließlich seiner Leiblichkeit unendlich unterscheidet, ja daß die absolute Abstraktion als erstes Moment der Freiheit allem Beobachten immer schon vorausgesetzt ist. D. h. solange die Vernunft als beobachtende ihre adäquate Objektivität in der Natur sucht, hat sie vergessen, daß sie diese nicht schon unmittelbar an der ersten Natur hat, sondern zunächst im Sinne der zweiten Natur (Sittlichkeit) hervorbringen muß. Sie muß daher erfahren, daß die Vernunft nicht schon unmittelbar ihr adäquates Sein vorfinden kann, sondern dieses zunächst ihre eigene Aufgabe, ihr Soll (Fichte) ist. Dazu jedoch muß diese Bewußtseinsstufe die Hölle der Verdinglichung und Entfremdung bis zur äußersten Konsequenz – im Rahmen der Phänomenologie ist dies die Physiognomik und Schädellehre – durchlaufen, kulminierend in dem Urteil, daß das Ich ein unmittelbares Ding ist, der Geist ein Knochen. In diesem letzten Scheitern des sich Findenwollens in der Welt, an diesem Punkt äußerster Verdinglichung und Selbstentfremdung ist zugleich der weiterführende Wendungspunkt erreicht: »Jenes Urteil, so genommen wie es unmittelbar lautet, ist es geistlos oder vielmehr das Geistlose selbst. Seinem Begriffe nach aber ist es in der Tat das Geistreichste« (577). Denn »in der Tat ist in diesem unendlichen Urteile das Ding aufgehoben; es ist nichts an sich, es hat nur Bedeutung im Verhältnisse, nur durch Ich und seine Beziehung auf dasselbe« (ebd.). 56
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Frankfurt/Main 1974, § 75, 352.
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Diese Erinnerung an das Gesetztsein des Daseins, mithin das befreiende Sich-Erheben des Selbstbewußtseins zum transzendentalen Gesichtspunkt bedeutet zugleich, daß die Vernunft ihr widersprüchliches Wesen, welches sie im Glück der ersten Besitznahme der Welt vergessen hatte, erinnert. Denn sie hat sich zunächst als ruhendes Sein interpretiert, welches dinglich fixiert werden kann. Darin manifestierte sie aber nur den Widerspruch, heimisch in der Welt zu sein und zugleich von sich selbst entfremdet zu sein. Dies, daß das unmittelbare Heimischsein in der Welt im Sinne der ersten Natur in Wahrheit Entfremdung bedeutet, wird ihr nun selbst gegenständlich. Das vernünftige Selbstbewußtsein erinnert sein widersprüchliches Wesen, sich selbst als Negativität, als Einheit von Sein und Werden: Die Vernunft ist und ist zugleich auch nicht, nämlich in ihrer Unmittelbarkeit noch nicht wahrhafte Vernunft – es ist dies nichts anderes als der Widerspruch im Begriff unmittelbarer Freiheit57. Die Vernunft ist sich selbst zunächst Aufgabe – damit ist das Reich der praktischen Vernunft, zunächst das Reich des Sollens, des zu verwirklichenden Zweckes erreicht. Die natürliche Welt, die das Bewußtsein hat, ist nun auch als eine dem Bewußtsein äußere Welt gesetzt, sie sinkt im Rahmen der Moralität zum Material der Pflicht (Fichte) herab. So zeigt sich, daß die Vernunft in Wahrheit nicht Stasis, ruhendes Sein ist, sondern vielmehr die Bewegung der Einbildung des Sollens in das Sein, die Negation der Natürlichkeit im Sinne der Selbstbestimmung. Damit erweist sich, daß die Wahrheit der in dem Gang der beobachtenden Vernunft unternommenen Besitznehmung der Welt die Selbstbestimmung ist, in der das Ich sich zunächst in der absoluten Abstraktion von seinem Leib unterscheidet und ihn als Mittel der Freiheit ergreift, um diese in die äußere Realität einzubilden – im Gange der Phänomenologie freilich zunächst im Sinne einer abstrakten Selbstverwirklichung. Erst in der sittlichen Welt, also im Zeichen der sich konkret ausgestaltenden Freiheit, wird ein wahrhaftes (wenngleich noch endliches) Heimischsein des vernünftigen Selbstbewußtseins erreicht sein: »In diesem Inhalt der sittlichen Welt sehen wir die Zwecke erreicht, welche die vorhergehenden substanzlosen Gestalten des Bewußtseins sich machten; was die Vernunft nur als Gegenstand auffaßte, ist Selbstbewußtsein geworden, und was dieses nur in ihm selbst hatte, als wahre Wirklichkeit vorhanden. – Was die Beobachtung als ein Vorgefundenes wußte, an dem das Selbst keinen Teil hätte, ist hier vorgefundene Sitte, aber eine Wirklichkeit, die zugleich Tat und Werk des Findenden ist« (339).
57
Theologisch wäre hier auf den Sündenfall hinzuweisen.
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Solange die Vernunft meint, unmittelbar in der Welt heimisch sein zu können, sich als Ding festhalten zu können, solange wird sich auch ihr Streben nach Totalität notwendig als tendenziell schrankenlose Begierde nach technischer Herrschaft über den Gegenstand und seiner Verwertung manifestieren. Je stärker sie sich in ihrem Entfremdetsein einhaust, desto schrankenloser und willkürlicher führt sich ihr Operationalisierungsprimat an Mensch und Natur durch.
Hegels Kritik der Metaphysik der Naturwissenschaften Luca Illetterati (Padua)
0. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft1 behauptet Kant, daß jede Naturwissenschaft notwendigerweise eine Metaphysik der Natur impliziert: »Eigentlich so zu nennende Naturwissenschaft setzt zuerst Metaphysik der Natur voraus«2. Und wenn die Naturwissenschaft eine Untersuchung dessen ist, was in der Natur als solcher als ein Objekt der Erfahrung gegeben wird, dann betrifft demgegenüber die Metaphysik der Natur das, woraus der Begriff einer Natur im allgemeinen besteht: die »Principien der Nothwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört«3; d. h., in anderen Worten, die Bedingungen und die Voraussetzungen, die es der Naturwissenschaft ermöglichen, die Natur selbst als etwas Gegebenes zu untersuchen. So wird für Kant ein Begriff wie zum Beispiel der der Materie, der für die Naturwissenschaften maßgeblich und grundlegend ist, von diesen vorausgesetzt und als etwas Gegebenes angenommen. Seiner begrifflichen Natur nach wird er jedoch von jenem reinen Teil der Wissenschaft erörtert, welcher eben die Metaphysik der Natur ist. Jede Naturwissenschaft – in dem Maße, wie sie notwendigerweise eine Reihe von Begriffen verwendet, die sie als elementar akzeptiert und entsprechend auf Grund ihrer Notwendigkeit nicht in Frage gestellt hat – impliziert
1
Folgende Kürzel werden in diesem Beitrag verwendet: MAdN I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Akademie-Ausgabe Bd. IV, Berlin 1968 KdU I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe Bd. V, Berlin 1968 JS II G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe II, Gesammelte Werke Bd. 7, hg. von R.P. Horstmann und J.H. Trede, Hamburg 1971 JS III G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III, Gesammelte Werke Bd. 8, unter Mitarbeit J.H. Trede, hg. von R. P. Horstmann, Hamburg 1978 PhG G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke Bd. 9, hg. von W. Bonsiepen und R. Heede, Hamburg 1980 Enz. 1830 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Gesammelte Werke Bd. 20, hg. von W. Bonsiepen und H.C. Lucas, unter Mitarbeit von U. Rameil, Hamburg 1992. 2 MAdN 469. 3 Ebd.
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deshalb eine Metaphysik und setzt sie voraus. Daß die moderne Naturwissenschaft in der Regel eine Voraussetzung von Metaphysik in ihrer Arbeit bestreitet, bedeutet laut Kant keinesfalls, daß sie tatsächlich darauf verzichten könnte, sondern eher, daß sie von ihr Gebrauch macht, ohne es zu wissen: »Alle Naturphilosophen (…) haben sich daher jederzeit (obschon sich selbst unbewußt) metaphysischer Principien bedient und bedienen müssen, wenn sie sich gleich sonst wider allen Anspruch der Metaphysik auf ihre Wissenschaft feierlich verwahrten«4. Im folgenden soll gezeigt werden, in welchem Sinne die Phänomenologie des Geistes als ein Versuch interpretiert werden kann, die vornehmlich unbewußten metaphysischen Voraussetzungen ans Licht zu bringen, die die verschiedenen auftretenden Erkenntnishaltungen auszeichnen, wobei diese jene Form der Subjektivität als Hauptdarsteller haben, die das Bewußtsein ist, d. h. jene Form der Subjektivität, die sich vom Gegensatz gegen das Objekt her bestimmt, auf das es seine Erkenntnisabsicht richtet. Und eben weil der Hauptdarsteller des Weges der Phänomenologie des Geistes das Bewußtsein ist – d. h. eine Wissensform, die noch nicht auf der Höhe des reinen Wissens ist, sondern die entscheidend noch von der Gegenüberstellung des Ich und seines Objekts geprägt ist –, kann man in dem phänomenologischen Weg zugleich Hegels Kritik an all jenen Denk- und Wissensformen beobachten, die von einer Metaphysik gekennzeichnet sind, derzufolge die Wahrheit auf etwas anderem als der Vernunft gründet und die folglich die Wahrheit als Entsprechung zwischen der erworbenen Kenntnis und dem gegebenen Objekt versteht. In dem Maße also, in dem die Naturwissenschaften die konstitutive Struktur des Bewußtseins widerspiegeln – indem sie die Natur als ein anderes und von der Subjektivität, die es denkt, getrenntes Objekt verstehen –, stellen sie eine der Wissensformen dar, die von dem phänomenologischen »Filter« geprüft werden. Im einzelnen werden wir in erster Linie kurz untersuchen, in welchem Sinne Hegel sich auf dem phänomenologischen Weg kritisch mit den philosophischen und epistemologischen Grundsätzen sowohl der klassischen Wissenschaft – und ich meine damit vor allem die Tradition des Newtonianismus – als auch der romantischen Naturphilosophie auseinandersetzt. Von dieser Auseinandersetzung ausgehend und mit besonderem Augenmerk auf die Beobachtung der Natur, wo Hegel die beobachtende Vernunft als 4
Ebd., 472. Es ist klar, daß Kant hier »Naturphilosophen« nennt, die wir Naturwissenschaftler nennen würden. Vgl. hierzu auch Enz. 1830, § 246: »Was Physik genannt wird, hieß vormals Naturphilosophie«.
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eine Figur im Moment Vernunft behandelt, möchten wir, zweitens, die im wesentlichen philosophischen Eigenschaften der Hegelschen Kritik an einigen Formen der Naturwissenschaft seiner Zeit hervorheben, vor allem die an einigen Formen jener Wissenschaft des Lebendigen, der Biologie, die sich, wie bekannt, gerade im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert einen eigenen Platz eroberte. 1. Die Gegenüberstellung eines klassischen und eines neuen Modells der Wissenschaft, das sich als Alternative präsentiert – die romantische Wissenschaft – wird von Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ins Spiel gebracht, also dort, wo ausdrücklich die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des philosophischen Vorgehens gestellt wird und wo die gesamte sich auf das Gefühl gründende Kultur – die nicht im Begriff, sondern im Gefühl oder jedenfalls in der Unmittelbarkeit die Möglichkeit sucht, das Absolute zu erreichen – einer radikalen Kritik unterzogen wird. Gegen diese »Überzeugung des Zeitalters«, nach der »das Absolute nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut«5 werden soll, richtet sich Hegel in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes. In diesem Zusammenhang jedoch erkennt Hegel an, daß diese Form sozusagen der noch unreife Keim ist, aus dem eine neue Wissenschaft geboren werden wird. Da die romantische Kultur aber erst ein Keim ist, muß sie überboten werden, um ihre Vollendung zu erreichen. »Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen« – bemerkt Hegel auf den ersten Seiten der Vorrede – »daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist«6; aber genau wie ein Embryo muß diese neue Periode sich noch erfüllen und ausbilden: »Das erste Auftreten ist erst seine Unmittelbarkeit oder sein Begriff. So wenig ein Gebäude fertig ist, wenn sein Grund gelegt worden, so wenig ist der erreichte Begriff des Ganzen das Ganze selbst. Wo wir eine Eiche in der Kraft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer Äste und den Massen ihrer Belaubung zu sehen wünschen, sind wir nicht zufrieden, wenn uns an dieser Stelle eine Eichel gezeigt wird. So ist die Wissenschaft, die Krone einer Welt des Geistes, nicht in ihrem Anfange vollendet«7. Hegel sieht in der wissenschaftlichen Kultur seiner Zeit zwei verschiedene Arten, das wissenschaftliche Wissen zu verstehen; die eine davon erweist sich als je das Gegenteil der anderen: zwei epistemologische Modelle, zwei wis5 6 7
PhG 12. Ebd., 14. Ebd., 15.
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senschaftliche Paradigmata, wie man sagen könnte, die in vielerlei Hinsicht in Hegels Interpretation als Signaturen zweier Epochen erscheinen. Das erste Modell ist das, welches wir auf die klassische Tradition des Newtonianismus zurückführen können, die, laut Hegel, »auf den Reichtum des Materials und die Verständlichkeit [pocht]«, während das andere, eben gesichtete und im weitesten Sinne auf die romantische Naturphilosophie zurückzuführende Modell den intelligiblen Charakter verachtet »und auf die unmittelbare Vernünftigkeit und Göttlichkeit [pocht]«8. Diese zweite Haltung, die in vielfacher Hinsicht eine Tochter der Kantischen Idee einer Metaphysik der Natur ist, stellt tatsächlich eine Überholung der ersten dar, d. h. die Naturphilosophie hat tatsächlich ein reelles Bedürfnis der Wissenschaft ans Licht gebracht: das Bedürfnis nämlich, die Natur außerhalb einer Metaphysik des Gegebenen zu denken, die sie als getrennte und tote Gegenständlichkeit denkt, um sie vielmehr in ihrer Beziehung zum Ganzen zu denken, indem sie vor allem ihre Elemente innerer Lebendigkeit aufwertet. Trotzdem hat sie – die Naturphilosophie – noch keine echte Wissenschaft hervorgebracht. Und den Grund dafür scheint Hegel gerade darin zu finden, daß die Naturphilosophie sich weigert, jenes intellektualistische Vorgehen in sich aufzunehmen, es zu überholen ohne es auszulöschen, das als typisch für die klassische Wissenschaft betrachtet wird. Es ist eben die Verachtung für den Verstand und den Anspruch, über dessen typisches Vorgehen hinauszugehen, ohne gleichzeitig dessen wesentliche Funktion aufzunehmen, sowie die Anmaßung, sich auf eine höhere Stufe zu stellen, die die romantische Kultur am Ende dazu führt, die Entbehrung »der allgemeinen Verständlichkeit« und den »Schein, ein esoterisches Besitztum einiger Einzelnen zu sein«, zu erzeugen9. Einerseits muß für Hegel also das Modell der Newtonschen Tradition in einem ursprünglicheren Wissen aufgehoben werden: dieses Wissen ist in der Lage, die Natur nicht nur als eine Menge von Objekten zu denken, die als selbständiges und unabhängiges Anderssein erfahren und angetroffen werden. Andererseits ist das sogenannte romantische Modell zwar Träger dieses rechtmäßigen Bedürfnisses, erweist sich aber als völlig unfähig, eine Form des Wissens zu erzeugen, die wahrhaft als Wissenschaft betrachtet werden kann – und das eben auf Grund der Vernachlässigung und der Verachtung der klassischen wissenschaftlichen Methode. Der fehlende intelligible Charakter und die damit verbundene Esoterik der Lehren bilden nämlich, laut Hegel, die Eigenschaften der Unwissenschaftlich8 9
Ebd., 16. Ebd., 15.
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keit: »Die verständige Form der Wissenschaft ist der Allen dargebotene und für Alle gleichgemachte Weg zu ihr«10. Wenn deshalb das Modell der romantischen Naturphilosophie ein echtes und ursprüngliches Bedürfnis ans Licht bringt, da es das erste Anzeichen der Notwendigkeit zur Aufhebung einer partiellen und einseitigen Haltung ist – also die klassische Wissenschaft der Tradition Newtons –, dann erweist es sich auch gleichzeitig als eine Haltung, die in Wirklichkeit unfähig ist, dieses Bedürfnis zu vollendeter Befriedigung zu führen, indem sie sich hinter einer formellen Konstruktion verschanzt, die eine »äußerliche und leere Anwendung der Formel« ist und nur dazu in der Lage, sich »nach einer oberflächlichen Analogie«11 auszudrücken. 2. Wenn diese Skizze den Hintergrund erschließt, der es uns gestattet, die Koordinaten der Hegelschen Kritik an den metaphysischen Voraussetzungen der wissenschaftlichen Kultur der Romantik zu erfassen, aber auch Hegels nicht ohne weiteres absehbare Haltung gegenüber der wissenschaftlichen Tradition Newtons, so betrachtet Hegel die verschiedenen Formen, mit denen das Bewußtsein eine Erkenntnisbeziehung zur Natur aufbaut, im Moment der beobachtenden Vernunft, das eben der Beobachtung der Natur gewidmet ist. Um jedoch die hintergründigen Eigenschaften der beobachtenden Vernunft zu verstehen, ist es notwendig, auf die Stelle zu achten, an der sie sich auf dem Weg der Phänomenologie des Geistes entwickelt. Die beobachtende Vernunft steht am Anfang des Moments Vernunft, welches seinerseits eines der bedeutendsten Momente des gesamten phänomenologischen Wegs ist. Da sie aus der Tilgung der verschiedenen Spaltungen entsteht, die das Selbstbewußtsein bilden, zeigt sich die Vernunft gleich als eine erste entschiedene Aufhebung der geteilten Struktur des Bewußtseins: »als Vernunft, seiner selbst versichert, hat es [das Selbstbewußtsein] die Ruhe gegen sie empfangen und kann sie ertragen; denn es ist seiner selbst als der Realität gewiß; oder daß alle Wirklichkeit nichts anders ist, als es; sein Denken ist unmittelbar selbst die Wirklichkeit; es verhält sich also als Idealismus zu ihr«12. Und sofort danach erklärt Hegel: »Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins alle Realität zu sein: so spricht der Idealismus ihren Begriff aus«13. Nur daß in Wirklichkeit das, was das Bewußtsein hier erfährt, nicht die Aufhebung der Entgegensetzung von Sein und Denken ist – eine Aufhebung, 10
Ebd., 15. Für Hegel ist nämlich die Vernunft ohne Verstand nichts, während der Verstand ohne Vernunft immerhin etwas ist. 11 Ebd., 37. 12 Ebd., 132 13 Ebd., 133
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welche den Grund bildet, aus dem sich erst das reine Wissen der philosophischen Wissenschaft artikuliert – sondern eher das, was man als eine Weise der Nachahmung dieser Aufhebung definieren könnte. In der Behauptung der Vernunft, alle Realität zu sein, gibt es nämlich keine echte und konkrete Aufhebung der Bewußtseinsstruktur und folglich der Trennung zwischen dem Selbst und seinem Objekt, welche die Wesensart selbst des Bewußtseins darstellt. Sicherlich sieht die Vernunft nun sich selbst in der Realität; aber eben weil die Vernunft hier ein Moment des Bewußtseins ist, ist die Realität, in der sie sich zu befinden wähnt, trotzdem ein Objekt, das sich ihr in Form der Gegenüberstellung zeigt. Wenn es auch in vielerlei Hinsicht möglich ist zu sagen, daß der tiefste Kern der Hegelschen Philosophie gerade in der Aufhebung der Trennung zwischen Begriff und Wirklichkeit und demzufolge in der Rechtfertigung der Untrennbarkeit von Denken und Sein – jenseits einer einfachen metaphysischen Voraussetzung – liegt, so ist die Kritik an der sozusagen banalisierten Auffassung dieser Identität ein entscheidender Moment im komplexen Aufbau der Hegelschen Philosophie. Die Frage führt unausgesprochen auf den grundlegenden Knotenpunkt, der sich als Problem durch die gesamte Philosophie nach Kant zieht: das Verhältnis zwischen Denken und Realität; d. h. sie führt auf die Frage, ob die Objektivität der Wirklichkeit von kategorialen Koordinaten abhängt, die ihr vom Subjekt auferlegt werden, oder ob man vielmehr diese Objektivität rechtfertigen kann, indem man irgendeine Form der Unabhängigkeit der »Welt« gegenüber einer Auffassung rettet, die als ihre »mentalistische« Herabsetzung erscheinen könnte14. Eine ernsthafte Betrachtung der der Vernunft gewidmeten Seiten in der Phänomenologie des Geistes ist unter diesem Gesichtspunkt einerseits das beste Gegenmittel gegen eine Interpretation, die Hegels Philosophie als 14
In diesem Sinne muß man sich einigen, wenn man von der Hegelschen Philosophie als von einer Radikalisierung des transzendentalphilosophischen Ansatzes Kants spricht. John McDowell hat zum Beispiel beobachtet, daß, wenn die Kantische Haltung sich einerseits tatsächlich dem Risiko aussetzt, daß die kategorialen Erfordernisse im transzendentalphilosophischen Ansatz das Aussehen eines einfachen subjektiven Ansatzes annehmen, sich andererseits zugleich die Hegelsche Haltung als eine Radikalisierung Kants zeigt, und zwar nicht, weil sie die Äußerung einer Tendenz zur Rekonstruktion der objektiven Wirklichkeit als eines Niederschlags von absolut spontanen Bewegungen des Verstandes wäre, sondern weil sie von Kant ausgehend dazu tendiert, dem in der Kantischen Haltung impliziten Subjektivismus zu entkommen (vgl. J. McDowell, »L’idealismo di Hegel come radicalizzazione di Kant«, in: Hegel contemporaneo. La ricezione americana di Hegel a confronto con la tradizione europea, hg. v. L. Ruggiu/I.Testa, Mailand 2003, 451–477).
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eine Art extremen Subjektivismus’ auffaßt, der irgendwie unausgesprochen sowohl in Kants als auch in Fichtes Transzendentalismus zu finden sei; andererseits ist sie ein Hinweis darauf, das gesamte System Hegels als den Versuch zu interpretieren, aus dem Netz eines subjektiven Idealismus herauszukommen, der über eine innere vernünftige Struktur der Wirklichkeit keine Rechenschaft abzulegen vermag, ohne sie als Produkt mentaler Tätigkeit zu denken. In diesem Sinne kann die Kritik am Idealismus als Bewußtseinsgestalt nicht nur als eine Kritik am Subjektivismus Kants oder Fichtes betrachtet werden, sondern auch als eine Kritik an jeder Art von Übertragung der Hegelschen Philosophie selbst in Bewußtseins- oder subjektivistische Begriffe, als eine Antwort im Sinne der Idee, die das ganze System Hegels stützt: danach enthält die reine Wissenschaft »den Gedanken, insofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist, insofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist«15. Idealismus und Subjektivismus erscheinen also als miteinander verflochtene und unentwirrbare Begriffe, und man kann sagen, daß das Verhältnis, das die Hegelsche Philosophie mit dem Idealismus verbindet, im wesentlichen dasselbe ist, das sie mit dem Begriff des Subjektes verbindet. Hegels Philosophie kann sicherlich als eine Philosophie interpretiert werden, die im Begriff des Subjektes einen ihrer Angelpunkte findet, aber dann muß man auch sagen, daß sie eine radikale Kritik der verschiedenen Formen des Subjektivismus darstellt, die besonders den Geist der Moderne prägen. Ebenso kann man von Idealismus in bezug auf das Hegelsche Denken nur sprechen, solange man sich der radikalen Kritik bewußt ist, der Hegel den Idealismus als Bewußtseinsstruktur unterzieht16. Wenn es stimmt, daß der Idealismus für Hegel eine wesentliche Eigenschaft jeder wahren Philosophie ist, da er die Idee verkörpert, daß das Endliche das ist, was auf Grund seiner Natur auf etwas Anderes als sich selbst verweist, dann kann das Endliche auf keinerlei Weise als etwas Selbständiges gedacht werden. Auf diese Weise verweist der Idealismus auf das, was jede endliche Bestimmung daran hindert, sich als etwas Unendliches oder Absolutes zu denken17. Aber da der Idealismus
15
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik. Die Lehre vom Sein (1832), in Gesammelte Werke, Bd. 21, hg. von F. Hogemann und W. Jaeschke, Hamburg 1985, 33. 16 In diesem Sinne tut William Maker Recht daran, die Grundlage von Hegels Ablehnung einer Haltung, die er »metaphysischen Idealismus« nennt, in der Überholung der Gegenüberstellung zu identifizieren, die die Struktur des Bewußtseins selbst ist: vgl. W. Maker, »The Very Idea of the Idea of Nature, Or Why Hegel is not an Idealist«, in: Hegel and the Philosophy of Nature, ed. by S. Houlgate, New York 1998, 1–27. 17 Enz. 1830, § 95 Anm.
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den subjektiven Anspruch ausdrückt, die Wirklichkeit sei etwas, das für das Subjekt ist, ist er zugleich eine Haltung, von der sich die wahre Philosophie befreien muß, um wirklich Philosophie zu sein18. Dann darf also nicht überraschen, wenn die beobachtende Vernunft und somit die Beobachtung der Natur ihre Entwicklung eben in diesem Zusammenhang finden. Der leere Idealismus der Vernunft muß, gerade weil er in jedem Sein »das reine Mein des Bewußtseins« aufspüren muß, laut Hegel »zugleich absoluter Empirismus« sein, und das, weil »für die Erfüllung des leeren Meins (…) seine Vernunft eines fremden Anstoßes [bedarf]«; ein wahrnehmbarer und vorstellbarer Inhalt, den man sich zueignen und dem gegenüber man sich behaupten muß19. Die Eigenschaften der idealistischen Vernunft spiegeln sich folglich entschieden in der Erkenntnishaltung der beobachtenden Vernunft wider. Wie wir zu zeigen versuchen werden, ist das, was die Beobachtung der Natur der Vernunft auszeichnet, ein Prozeß zunehmender ›Rationalisierung‹ der Natur, der geschieht, indem er ihr von außen Strukturen auferlegt, die sie intelligibel machen können und die in diesem fortschreitenden Erlangen eines intelligiblen Charakters der Natur es der Vernunft ermöglichen, sich in ihr wiederzuerkennen, ohne jedoch jemals in ihr (d. h. in der Natur) die Vernunft, die ihr immanent ist, wahrhaft wiederzuerkennen. 3. In der Beobachtung der Natur werden in einer Reihe, die typisch für den ganzen phänomenologischen Weg ist, die verschiedenen Arten skizziert, die die Annäherung des Bewußtseins an die Welt der Natur auszeichnen. In dieser Reihe kommen deshalb die unbewußten metaphysischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft ans Licht20. 18
Das ist der Subjektivismus, den Hegel in der Philosophie Kants und Fichtes findet, und auf den er bereits in den Jenaer Schriften die Aufmerksamkeit gelenkt hat. 19 Vgl. PhG 136. 20 In Wirklichkeit zieht sich die Auseinandersetzung des Bewußtseins mit der Natur durch verschiedene Stellen der PhG. Schon die Entleerung des nur augenscheinlichen Reichtums der sinnlichen Gewißheit ist die Entleerung eines Erkenntnismodells, das vorgibt, sich nur auf die unmittelbare Kraft des besonderen und aktuellen Gefühls zu stützen. Eine ähnliche Rolle übernimmt auch die Dialektik, die sich im Innern der Wahrnehmung zwischen dem Ding und seinen Eigenschaften entwickelt. Ein konkreteres Niveau, auf dem sich die Erkenntniseigenheiten auch der Naturwissenschaften in ihrer wesentlichen Struktur zeigen, ist sicher das, auf welchem auf dem phänomenologischen Weg die typische Haltung des Verstandes gekreuzt wird, so daß es manchmal möglich erscheint, den Verstand im allgemeinen mit dem Geist dieser Wissenschaften zu interpretieren. Trotzdem sind sowohl der Verstand als auch die sinnliche Gewißheit und die Wahrnehmung Momente, die die ganze Erkenntnis in ihrer Komplexität betreffen. Sie stellen für die Entwicklung des Wissens in seiner Gesamtheit notwendige Phasen dar und können folg-
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Die einfachste Haltung, von der die Beobachtung der Natur ausgeht, ist das, was Hegel das Beschreiben der Dinge nennt. Das ist ein Sammeln und Speichern der Dinge der Natur und in gewisser Weise eine erste Form der Aneignung ihres Objektes von Seiten der Vernunft. Schon dieses Beschreiben hat jedoch nichts Naives. Die Handlung des Beschreibens ist nicht einfach eine passive Handlung, wie sie auf den ersten Blick erscheinen könnte. Durch die Beschreibung produziert die Vernunft nämlich in Wirklichkeit eine erste Form der Verallgemeinerung, d. h. eine Aufhebung des Dings aus seiner Einzigartigkeit. In dem Moment, in dem das Ding in das Gedächtnis aufgenommen wird, wird es in seiner tatsächlichen Einzigartigkeit aufgehoben21. Und wie schon in der sinnlichen Gewißheit, so ist es auch hier, in der Beschreibung des Dings, die »göttliche Natur« der Sprache, die diesen Prozeß der Verallgemeinerung ausführt: In dem Moment, in dem das Ding zum Wort wird, ist es nicht mehr einfach eine Einzigartigkeit außerhalb des Bewußtseins, sondern es ist bereits auf ein erstes, wenn auch nicht definitives Niveau der Allgemeinheit gehoben worden22. Das, was jedoch diese Form der beobachtenden Vernunft zur Aufhebung führt und somit die innere Grenze dieser Tätigkeit ist, zeigt sich laut Hegel in der Unfähigkeit des Beschreibens, zu wissen, »ob das an sich zu sein Scheinende nicht eine Zufälligkeit ist«23; in der Unfähigkeit also des einfachen Beschreibens, zu unterscheiden, was dem Ding als sein wesentliches Merkmal zugehört und was hingegen in ihm nicht wesentlich und damit zufällig ist. Aus diesem Grund geht die Vernunft von der einfachen Beschreibung des Dings zu einer komplexeren und ausgefeilteren Art des Beschreibens über, die sich als Suche nach Merkmalen gibt, d. h. nach dem, was dem Ding als seine Eigenschaft angehört. Auf diese Weise wird nun das klassifizierende Vorgehen der Vernunft als Haltung der beobachtenden Vernunft bestimmt. Die Ablösung des Dings von seiner tatsächlichen Einzigartigkeit macht so einen weiteren Schritt nach vorn: »Durch diese Unterscheidung in das Wesentliche und Unwesentliche« – behauptet Hegel – »erhebt sich der Begriff aus der sinnlichen Zerstreuung empor«24. In dieser Vorgehensweise kann man jedoch verschiedene Klassifizierungsformen unterscheiden, je nach den Bezugspunkten, die grundlegend für die lich nicht als eigene und wesentliche Momente nur der Erkenntnis der Natur verstanden werden. 21 Ebd., 139. 22 Vgl. ebd., 70. 23 Ebd., 140. 24 Ebd., 140.
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taxonomische Organisation sind. Aber vor allem entsteht für das Bewußtsein das Problem, ob diese Klassifizierung eine ist, die das System der Natur selbst widerspiegelt, oder ob sie dagegen ein künstliches Schema darstellt, das auf Grund seiner Einfachheit der natürlichen Ordnung übergeordnet wurde. Deshalb befindet sich das Bewußtsein nun in jenem »Schwanken, ob das, was für das Erkennen das Wesentliche und Notwendige ist, es auch an den Dingen sei«25. Es ist offensichtlich, daß Hegel sich hier bei der Beschreibung dieser Situation des Bewußtseins auf die berühmte Debatte über die klassifizierenden Systeme bezieht, in die im Laufe des 18. Jahrhunderts viele Wissenschaftler in fast allen europäischen Ländern verwickelt waren und die ihre Hauptakteure in dem schwedischen Botaniker Linné und in dem französischen Naturforscher Buffon fand. Aber – um zu Hegels Worten zurückzukehren, der hier eine begriffliche Interpretation dieses Moments in der Geschichte der Wissenschaft liefert – das Problem, das sich hier dem Bewußtsein stellt, ist: die Merkmale, durch die die Klassifizierung möglich wird, »sollen nicht nur wesentliche Beziehung auf das Erkennen haben, sondern auch die wesentlichen Bestimmtheiten der Dinge, und das künstliche System dem Systeme der Natur selbst gemäß sein, und nur dieses ausdrücken«26. Und trotzdem besteht die wahre Grenze dieses Klassifizierungsverfahrens – und daher kommt wahrscheinlich auch seine Unfähigkeit, sich zu einem wirklichen System zu entwickeln, d. h. zu einem System, das die Natur in ihrer Komplexität widerspiegelt und nicht nur ein intellektuelles Schema ist – darin, daß die Merkmale, auf die es stützt, immer »ruhende Bestimmtheiten« sind, also Merkmale, die den Charakter, die Besonderheit oder den speziellen Unterschied eines bestimmten Naturwesens festlegen, aber die 25
PhG 140. Das Problem der Künstlichkeit des klassifizierenden Systems und der Suche nach einer »Natürlichkeit« war, wie bekannt, bereits ein Problem von Linné. 26 Ebd., 140. Kritik an Linnés klassifizierendem System wurde nicht nur von Buffon geübt, sondern auch von vielen anderen Naturforschern, die nicht unbedingt aus dem Kreis des Autors der Histoire naturelle stammten: sie hoben die Künstlichkeit hervor, die dem taxonomischen Vorgehen des schwedischen Wissenschaftlers zu Grunde lag. Linné hatte nämlich als einzige Grundlage des Systems die Fortpflanzungsorgane genommen, er hatte nur eine Eigenschaft des natürlichen Wesens ausgewählt und aus diesem einzigen Element die wesentliche Eigenschaft jenes Wesens gemacht, und damit alle anderen, ihm gehörenden Eigenschaften entfernt. Das, was sowohl Buffon als auch die anderen Wissenschaftler unterstreichen, ist in diesem Sinne die Unmöglichkeit, eine Eigenheit als mehr oder weniger wesentlich im Vergleich zu einer anderen zu definieren, und folglich die Künstlichkeit eines Vorgehens, das nicht die Komplexität der morphologischen, physiologischen aber auch umwelt- oder verhaltensbedingten Eigenheiten berücksichtigt, die einem natürlichen Organismus eigen und wesentlich sind.
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sich sofort als unfähig herausstellen, jene grundlegenden Eigenschaften des Dings darzustellen und auszudrücken, welche mit Hegels Worten »verschwindende Momente« sind27. Aber gerade von dieser Grenze ausgehend, sucht der Vernunftinstinkt »nach dem Gesetze und dem Begriffe« der Natur28; wenn auch unbewußt – also ohne diese Grenze tatsächlich erfahren und verinnerlicht zu haben – macht er sich auf den Weg, die Natur in ihren tiefsten und wesentlichsten Verhältnissen zu verstehen. Das, was für die beobachtende Vernunft auf diesem Weg die Wahrheit des Gesetzes, das sie in bezug auf die Natur schafft, rechtfertigt, ist kein dem Gesetz inneres Element, ist nicht die innere Notwendigkeit oder der Zwang des Begriffs, sondern für sie die Erfahrung. Das Element, das das Gesetz im Horizont der beobachtenden Vernunft begründet, ist also etwas Äußeres, d. h. es erscheint dem Bewußtsein als Gesetz nur insofern es der Erfahrung entspringt oder jedenfalls seine Rechtfertigung innerhalb der Erfahrung findet. Das Problem des phänomenologischen Wegs ist jedoch, was für die Bewußtseinsform der beobachtenden Vernunft die Erfahrung bedeutet. Was bedeutet es, daß ein Gesetz in der Erfahrung gründet? »Daß die Steine, von der Erde aufgehoben und freigelassen, fallen, dazu fordert es gar nicht, daß mit allen Steinen dieser Versuch gemacht werde; es sagt vielleicht wohl, daß dies wenigstens mit sehr vielen müsse versucht worden sein, woraus dann auf die übrigen mit größter Wahrscheinlichkeit, oder mit vollem Rechte nach der Analogie geschlossen werden könne«29. Die Möglichkeit, das Gesetz in der Erfahrung zu verankern, also das Einzelne auf das von dem Gesetz geforderte Niveau des Allgemeinen zu erheben, liegt folglich für die beobachtende Vernunft nicht so sehr in der Erfahrung selbst – hier ist Humes Lehre offensichtlich – als vielmehr in der Analogie, d. h. in der Möglichkeit der Vernunft, mit Hilfe einer logischen Figur einen besonderen Inhalt in einen allgemeinen umzuwandeln. Und trotzdem bemerkt Hegel: »Allein die Analogie gibt nicht nur kein volles Recht, sondern sie widerlegt, um ihrer Natur willen, sich so oft, daß nach der Analogie selbst zu schließen, die Analogie vielmehr keinen Schluß zu machen erlaubt. Die Wahrscheinlichkeit, auf welche sich das Resultat derselben reduzieren würde, verliert gegen die Wahrheit allen Unterschied von geringer und größerer Wahrscheinlichkeit; sie sei so groß, als sie will, ist sie nichts gegen die Wahrheit«30. 27 28 29 30
Ebd., 142. Vgl. ebd. 142. Ebd., 143. Ebd., 143.
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Natürlich ist die Analogie, gegen die sich Hegels Kritik hier richtet, nicht die Analogie Platos, die er in der Differenzschrift gelobt hatte, und wahrscheinlich auch nicht jene Analogie, die das formelle Vorgehen der Anhänger Schellings durchzieht und das Hegel so vehement auf den Seiten der Vorrede bekämpft; es handelt sich wohl eher um jene Form der Analogie, die als metaphysische Stütze der wissenschaftlichen Methode Newtons fungiert und die zum Beispiel die dritte der Regulae Philosophandi begründet, die Newton dem dritten Buch der Principia mathematica voranschickt. Hier sagt er, daß jene Eigenschaften, die man nicht vermehren und nicht reduzieren kann und die alle Körper betreffen, mit denen man experimentieren kann, als Eigenschaften aller Körper betrachtet werden müssen, und dies – das ist Newtons Voraussetzung in der Erklärung der Regel –, weil man sich nicht von der Analogie der Natur entfernen darf (nec a Naturae analogia recedendum est), da sie einfach und immer sich selbst angemessen zu sein pflegt. Die beobachtende Vernunft überdenkt nicht radikal die Begriffsstrukturen, die sie begründen, d. h. sie überdenkt nicht die metaphysischen Voraussetzungen, auf die sie ihre Argumentation stützt: trotzdem akzeptiert sie diese Gesetze als Wahrheit und sucht folglich, so Hegel, in dem Experiment deren Beweis. Dem Experiment widmet Hegel einige sehr interessante Betrachtungen. Es stellt nämlich einen Prozeß dar, durch den das Gesetz vom sinnlichen Element gereinigt wird und so zu seiner begrifflichen Form erhoben wird, ohne daß dieselbe beobachtende Vernunft sich dessen tatsächlich bewußt wäre. Ihr erscheint nämlich das Experiment wie das Instrument und das Verfahren, anhand deren das Gesetz »in sinnliches Sein getaucht« wird31 – indem es so in der Konkretheit des Wirklichen Gestalt annimmt und alle abstrakten Eigenschaften verliert, die es von der Erfahrung getrennt erscheinen lassen könnten. Dennoch, sagt Hegel, können wir im Gegensatz zum Bewußtsein in diesem Prozeß sehen, daß in ihm eben das sinnliche Sein verloren geht: »Die negative Elektrizität, zum Beispiel, welche etwa zuerst als Harzelektrizität so wie die positive als Glaselektrizität sich ankündigt, verliert durch die Versuche ganz diese Bedeutung, und wird rein zur positiven und negativen Elektrizität, deren jede nicht einer besonderen Art von Dingen mehr angehört«32. Das Experiment erscheint also als eine Verankerung der Gesetze in der sinnlichen Tatsächlichkeit – und so ist es für das Bewußtsein der beobachtenden Vernunft –, aber es bildet in Wirklichkeit einen weiteren entscheidenden Schritt vorwärts in der Rationalisierung der Erkenntnis der Natur. 31 32
Ebd., 143. Ebd., 144.
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Dieser Prozeß hatte mit dem Gelangen des Dings zur Sprache begonnen und erreicht nun mit dem Experiment die Entstehung von Begriffen, die selbständig und unabhängig von dem sinnlichen Sein sind, von dem sie gleichwohl abstammen. Das Experiment stellt eine Befreiung des Gesetzes von seinem sinnlichen Sein dar, da durch es (wie im Beispiel der Elektrizität) eine Befreiung der Prädikate von ihren Subjekten erfolgt; diese Prädikate erobern eine Unabhängigkeit von ihren sinnlichen Äußerungen und nehmen so einen selbständigen Wert an. Im Experiment will man nicht beweisen, daß wir das einzelne sinnliche Element erfahren, sondern daß das allgemeine Element im erfahrenen Ding sein Modell und sein Beispiel findet. Diese Prädikate, die von ihrem sinnlichen Sein befreit und nun allgemein wurden, sind, wie Hegel mit der wissenschaftlichen Terminologie seiner Zeit sagt, das, was man Materien nennen kann, »welche weder Körper, noch Eigenschaften sind«; also kein »seiendes Ding«33, sondern vielmehr etwas Allgemeines, ein begriffliches Element, das sich von seiner sinnlichen Einzigartigkeit befreit hat34. Auf eine bestimmte Weise – ohne es zu wollen und ohne es wirklich zu wissen – hat sich die Bewußtseinsform der beobachtenden Vernunft durch diese Reinigung des Gesetzes vom sinnlichen Element bis zum Begriff erhoben. Die interne Bewußtseinsstruktur der beobachtenden Vernunft – durch die sie eine Subjektivität ist, die immer einer ihr äußeren Objektivität gegenübergestellt ist – bewirkt, daß der Begriff für sie »als eine besondere Art von Gegenstand« erscheint. Dieser offenbart sich der beobachtenden Vernunft in jenem Gegenstand, der so ist, daß er in seiner Struktur und in seiner Wesensart »den Prozeß in der Einfachheit des Begriffs« widerspiegelt und besitzt; dieser Gegenstand ist das Organische35. 4. In der Untersuchung des Anspruchs dieser beobachtenden Vernunft, die Welt des Lebens, das Organische, auf ein System von Gesetzen zurückzuführen, setzt Hegel sich mit einigen der meistdiskutierten Themen der Wis33
Ebd., 144. Das Wort Materie, um das auszudrücken, was sich in dem Moment darstellt, in dem sich die Prädikate von ihren Subjekten befreien, ist auf den ersten Blick nicht einfach in Relation mit der Realität zu setzen, die es bezeichnen will. Seine Verwendung in der wissenschaftlichen Sprache der Zeit war jedoch üblich mit eben jener Bedeutung, die wir hier in Hegel finden. W. Bonsiepen und R. Heede erinnern hierzu in den Anmerkungen zur kritischen Ausgabe der Phänomenologie an ein Handbuch der Zeit, das Hegel in seiner privaten Bibliothek besaß und in dem wir Begriffe wie »Wärmematerie«, »Lichtmaterie«, »elektrische Materie« usw. finden (vgl. F. A. C. Gren, Grundriß der Naturlehre, 4. verbesserte Ausgabe, Halle 1801, § 530, § 639, § 1229). 35 Vgl. PhG 145. 34
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senschaft seiner Zeit auseinander: von der Möglichkeit als solcher, eine selbständige Wissenschaft des Lebendigen zu begründen, bis hin zum Verhältnis derselben zu den physischen und chemischen Wissenschaften. Die Aufgabe einer Wissenschaft, die ihr Augenmerk auf das Studium des Organismus lenkte, bestand darin, durch die Bestimmung der besonderen Wesensart des Lebendigen diese Wissensform auf dasselbe Niveau der Wissenschaftlichkeit wie das des physikalischen Wissens zu erheben. Treviranus schreibt nämlich: »Erst in den neuesten Zeiten, fieng man an zu ahnden, daß die Lehre von der lebenden Natur mit eben der Rechte, wie die von der leblosen, zum Range einer eigenen Wissenschaft erhoben zu werden verdiene«36. Das Problem bei der Verwirklichung dieses Projektes liegt natürlich in der Besonderheit des Objektes dieser Wissenschaft, der Welt des Lebens, deren Status – so radikal anders als das der anorganischen Natur – einen ihm angemessenen Begriffsapparat zu verlangen scheint. Man kann nicht einfach ein Kategoriensystem von den physisch-chemischen Wissenschaften entlehnen und es auf ein so grundlegend verschiedenes Objekt wie dem der Wissenschaft des Lebendigen anwenden, ohne damit Gefahr zu laufen, die verschiedenen Bereiche gegeneinander zu nivellieren, d. h. die Eigenschaften des einen an die des anderen anzupassen. Das ist beispielsweise die Sorge eines Wissenschaftlers wie Bichat, der sich in den Recherches physiologique sur la vie et la mort bemüht, den Charakter der Gesetze, die das Lebendige betreffen, von den physikalischen Gesetzen zu unterscheiden. Er behauptet, daß »die Physiologie wesentlich mehr Fortschritte gemacht hätte, wenn in sie nicht Ideen eingeführt worden wären, die von den sogenannten Nebenwissenschaften abgeleitet wurden, aber die im Wesentlichen unterschiedlich sind«37, und er erhofft sogar für die Gesetze des Lebendigen die Entstehung neuer Kategorien und – durch diese – einer neuen Sprache. Die traditionelle wissenschaftliche Sprache, die nach dem Vorbild der physikalisch-mathematischen Wissenschaften geformt wurde, verweist laut Bichat kontinuierlich auf Begriffe, die dem Bereich des Anorganischen angehören und die demnach nicht angemessen das ausdrücken können, was im Besonderen den Bereich des Lebens auszeichnet. Physik und Chemie sind nämlich Wissenschaften, die »durch einen immensen Raum von der Wissenschaft der organisierten Körper« getrennt werden, »denn
36
G.R. Treviranus, Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte, I, Göttingen 1802, 4. 37 F. X. Bichat, Recherches physiologique sur la vie et la mort, 4. Band der Encyclopédie des Sciences Medicales, Paris 1835, 24. Die erste Ausgabe von Bichats Werk wurde 1800 in Paris veröffentlicht.
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zwischen ihren Gesetzen und denen des Lebens gibt es einen riesigen Unterschied«38. Ausgehend von diesem problematischen Horizont, d. h. von der Bestimmung des Begriffs des Lebendigen, bewegt sich Hegels Argumentation. Das Bewußtsein der beobachtenden Vernunft gelangt zur Auseinandersetzung mit dem Organischen auf dem Weg der Phänomenologie des Geistes, da es sich, wie gesagt, durch einen gewundenen und nicht ganz bewußten Prozeß bis auf das Niveau des Begriffs erhoben hat: der Begriff erscheint ihm jedoch als Bewußtsein, als in jenem Objekt verkörpert, welches der Organismus ist. Dieses Objekt des Organischen zu sein ist das besondere Element der Haltung auf diesem Niveau der Bewußtseinsorganisation, da sie es, in dem Moment, in dem sie es als Objekt versteht, es als gespalten und vom Begriff getrennt denkt. Die zunehmende Entfernung vom sinnlichen Element, das eine Darstellung auf dem Weg der Vernunft findet, führt die Vernunft selbst nicht zur Anerkennung der objektiven Struktur des Begriffs. Diese Anerkennung würde eine definitive Aufhebung der Oppositionsstruktur des Bewußtseins mit sich bringen, welche hingegen weiterhin von der beobachtenden Vernunft – auch vor dem Organischen – wiedergegeben wird. Wie bekannt, ist der Begriff in der spekulativen Interpretation Hegels eine Einheit von unterschiedlichen Merkmalen, in der jedes Moment untrennbar von den anderen ist. Der Organismus ist für Hegel Begriff, da er eine Struktur ist, die im Wesentlichen als eine Einheit unterschiedener Teile verstanden werden kann. Deshalb ist er eine Einheit mit sich selber auch in seinem Verhältnis zum Anderen, d. h. auch in seiner Spaltung, in seinem Sich-anders-werden bleibt der Organismus immer er selber. Das Lebendige ist keine Zusammensetzung von festen Bestimmtheiten – die alle voneinander getrennt sind – sondern mit Hegels Worten Flüssigkeit; darum sind seine Teile nicht so sehr Bestimmtheiten als Momente, also Bestimmungen, die nichts sind außerhalb der Beziehung zwischen sich selbst und der Gesamtheit, von der sie Teil sind39. 38
Ebd. In diesem Sinne unterscheidet Bichat zwischen physikalischen Eigenschaften wie Elastizität, und genuinen Lebenseigenschaften wie Sensibilität oder Kontraktilität. Zu dem Verhältnis zwischen physikalischen Wissenschaften und den Wissenschaften des Lebens sowie insbesondere zur Benutzung von Begriffen, die die Wissenschaften der organisierten Körper normalerweise gegenüber den ersteren anwenden oder zu den Analogien mit den physikalischen oder chemischen Phänomenen, anhand deren oft die Phänomene des Lebens interpretiert werden, bemerkt Bichat: »Es wird also eine extrem unexakte Idee sein zu sagen, daß die Physiologie die Physik der Tiere ist«, denn wenn das so wäre, dann könnte man umgekehrt genauso sagen, »daß die Astronomie die Physiologie der Sterne ist« (ebd.), aber das würde die Physik als verdrehend betrachten. 39 Im Abschnitt ›Einfache Beziehung‹ der Logik und Metaphysik von 1804/05 schreibt
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In der in den Jahren unmittelbar vor der Phänomenologie des Geistes (also zwischen 1805 und 1806) ausgearbeiteten Naturphilosophie hatte Hegel das Organische als eine Struktur definiert, die dadurch charakterisiert ist, daß »die Teile, d. h. Momente, das Ganze hervorbringen«40. Deshalb ist es unmöglich, die Teile in ihrem Getrenntsein vom Ganzen zu denken, so wie es nicht möglich ist, das Ganze als eine einfache Summe seiner Teile oder als etwas von ihnen Getrenntes zu denken. Das Organische, sagt Hegel, »die Bewegung seines Werdens«, ist so daß es in seiner Abwicklung in Einheit mit sich selbst bleibt41. »Das Leben« – sagt Hegel ebenfalls in der Naturphilosophie von 1805/06 – »ist wesentlich diese vollkommene flüssige Durchdringung aller Teile desselben«42. Das Organische ist folglich ein Begriff in seiner Eigenschaft als Flüssigkeit, da seine Teile, wenn sie aus dem Ganzen gerissen werden, aufhören zu sein, und das Ganze ist nichts außerhalb dieser Beziehung zwischen den Teilen43. Aber gerade diesen Charakter des Begriffs und der Flüssigkeit kann die phänomenologische Vernunft – und mit ihr die Hintergrundstruktur der Naturwissenschaften, die sich der Welt des Lebendigen zuwenden – nicht erfassen, und die Gesetze, die die beobachtende Vernunft diesem neuen Objekt gegenüber hervorbringt, zeigen sofort ihre Unfähigkeit, das Wesen des Organischen zu erfassen. Es ist offensichtlich, daß, wenn die beobachtende Vernunft aus der Bewußtseinstrennung zwischen Begriff und Realität besteht, das wirkliche Objekt sich ihr nur in Form von etwas dem Begriff selbst Entgegengesetzten zeigen kann. Die erste Weise, auf die die Vernunft das Gesetz im Innern der Welt des Lebens sucht, ist die Beobachtung der Beziehung zwischen dieser organischen und der anorganischen Welt; darum bemerkt die beobachtende Vernunft hier die Art, auf die die organische Struktur in sich die äußere Umwelt widerspiegelt. Die Beobachtung dieser Beziehung zwischen dem Organismus und dem Anorganischen, welches als Umwelt verstanden wird, in dem dieser Organismus lebt, bringt Gesetze hervor wie das, laut dem »nordische Tiere ein
Hegel: »Ein System von Momenten ist eine Einheit Entgegengesetzter, die nichts ausser dieser Entgegensetzung, ausser diesem Verhältnisse sind« (JS II, 20). 40 JS III, 109. 41 Ebd., 109 42 Ebd., 119. 43 Die Beziehung zwischen den Teilen im Innern des Organismus ist also nicht nur einfach eine Beziehung der Wechselwirkung, sondern eben des Begriffs. Im Gegensatz zur Wechselwirkung bringt der Begriff nicht nur Gegenseitigkeit und Kreisbewegung, sondern auch Zweck und Entwicklungsrichtung mit sich.
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dickbehaartes Fell haben«44, oder von noch ärmerem Inhalt wie das, laut dem »die Tiere, welche der Luft angehören, von der Beschaffenheit der Vögel, welche dem Wasser, von der Beschaffenheit der Fische sind«45. Gesetze dieser Art, die Hegel der Biologie von Treviranus und insbesondere dem Kapitel Physische Verbreitung der Thiere entnimmt46, entpuppen sich sofort lediglich als mutmaßliche Gesetze. Sie sind nämlich einerseits unfähig, die extreme Vielfalt der organischen Welt in sich aufzunehmen (weshalb man immer eine Ausnahme finden kann, die sie widerlegt), und andererseits etablieren sie zwischen der organischen und der anorganischen Natur keinen notwendigen Zusammenhang, sondern nur eine oberflächliche Beziehung, die sich mit vagen Bestimmungen ausdrückt wie – auch diese Treviranus entnommen – der von einem »großen Einfluß«47. Hegels Kritik in diesem Bereich bewegt sich also auf zwei Stufen: Die erste ist sozusagen empirisch in dem Sinne, daß sie das Unvermögen des Gesetzes aufzeigt, auf befriedigende Weise die komplexe Vielfalt der organischen Welt zu behandeln; die zweite ist hingegen begrifflich in dem Sinne, daß sie die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen den beiden Teilen der Beziehung in Frage stellt, indem sie zeigt, daß »die Momente der Beziehung selbst gleichgültig gegeneinander« bleiben »und keine Notwendigkeit« ausdrükken48. Diese beiden Stufen, auf denen Hegel seine Kritik ausspielt, sind allerdings nicht voneinander getrennt. Wenn ein Gesetz nicht in der Lage ist, die große empirische Vielfalt zu berücksichtigen, dann liegt das daran, daß es eine Beziehung aufstellt, die nicht in dem Ding selbst liegt, sondern die ihm sozusagen von außen auferlegt ist. Der von der beobachtenden Vernunft etablierten Beziehung fehlt also das, was eine wahre Beziehung ausmacht, d. h. die innere Notwendigkeit, auf Grund deren es zwischen den aufeinander bezogenen Teilen eine innere Spannung gibt, die sie zueinander zieht; so braucht jeder der beiden Teile, um gedacht werden zu können, den anderen. Aber in Beziehungen wie der, laut der die nordischen Tiere ein dickbehaartes Fell haben, ist die innere Notwendigkeit komplett abwesend, da die Glieder der Beziehung keine Form
44
PhG 145. Ebd., 145. 46 Vgl. G.R. Treviranus, Biologie II, 157–174, insbes. 168. 47 PhG 146. Der Ausdruck, auf diesen Zusammenhang bezogen, befindet sich in der Biologie (Bd. II) von Treviranus auf 171: »Das merkwürdigste Beyspiel von dem großen Einflusse, den der Wohnort auf diesen hat …« (meine Kursivierung). 48 PhG 146. 45
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von Gegenseitigkeit zeigen: »so liegt im Begriffe des Nordens« – sagt Hegel mit einer gewissen Ironie – »nicht der Begriff dicker Behaarung«49. Eben weil sich die beobachtende Vernunft als unfähig erweist, die Notwendigkeit als etwas Inneres zu erfassen, gibt es in ihrer Beobachtung Platz für das, was Hegel die teleologische Beziehung nennt: »eine Beziehung, die jeden Bezogenen äußerlich, und vielmehr das Gegenteil eines Gesetzes ist«50. Es ist sofort offensichtlich, daß die teleologische Beziehung, die hier scharf von Hegel kritisiert wird, etwas Anderes als der wahre Zweckbegriff ist, der für ihn vielmehr das dem Organischen eigene Wesen ist. Was diese Unterscheidung betrifft, wird sie von Hegel der Kritik der Urteilskraft von Kant entnommen, der, wie bekannt, schon auf den ersten Seiten der Analytik der teleologischen Urteilskraft auf klare Weise eine bloß relative Zweckmäßigkeit der Natur und eine Zweckmäßigkeit unterscheidet, die hingegen »eine innere Zweckmäßigkeit des Naturwesen ist«51: die relative Zweckmäßigkeit ergibt sich, wenn ein Wesen oder ein natürliches Ereignis auf den Nutzen eines Anderen abzielen, und es handelt sich somit um eine äußere Zweckmäßigkeit, die nicht im Inneren der Dinge selbst liegt, sondern »dem Dinge selbst, dem sie beigelegt wird«52 nur eine relative und zufällige Zweckmäßigkeit ist. Eine innere Zweckmäßigkeit gibt es hingegen, wenn dasselbe Ding »von sich selbst Ursache und Wirkung ist«53, wenn also der Zweck, den es verwirklichen soll, das ist, was es von Anbeginn war, wenn das, wonach das Ding strebt, nicht etwas Anderes als es selbst ist, sondern die Verwirklichung dessen, was es ist. Hegels Anstrengung, innerhalb des Zweckbegriffs seine Bestimmung, wie es an sich ist (Zweckbegriff, d. h. innere Zweckmäßigkeit), und wie es für den Vernunftinstinkt ist (teleologische Beziehung, d. h. relative oder äußere Zweckmäßigkeit) zu unterscheiden, besteht nicht nur darin, das, was bereits in der Kritik der Urteilskraft enthalten war, weiterzuentwickeln, sondern über Kant hinauszugehen: Er zeigt, daß der Zweckbegriff der organischen Natur selbst immanent ist und daß der Zweck keineswegs etwas äußeres ist: »Das Organische zeigt sich als ein sich selbst Erhaltendes und in sich Zurückkehrendes und Zurückgekehrtes. Aber in diesem Sein erkennt dies beobachtende Bewußtsein den Zweckbegriff nicht, oder dies nicht, daß der Zweckbegriff
49 50 51 52 53
Ebd., 146. Ebd., 146. KdU 367. Ebd., 368. Ebd., 370.
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nicht sonst irgendwo in einem Verstand, sondern eben hier existiert, und als ein Ding ist«54. In diesem Sinne fällt Kant in die äußere teleologische Beziehung, da er die Zweckmäßigkeit als eine subjektive Weise auffaßte, wie das Bewußtsein bestimmte Naturprodukte beobachtet, nicht aber als eine für die Natur dieser Produkte wesentliche. Das, was die beobachtende Vernunft (und mit ihr folglich auch die Vernunft im Sinne Kants) nicht erfassen kann, ist, daß die Zweckmäßigkeit des Organischen – da es auch in der Beziehung zum Anderen sich selbst bewahrt – so ist, daß das Organische selbst der eigene Zweck ist. Die beobachtende Vernunft hingegen, für die – eben als Bewußtsein – der Begriff außerhalb des Wesens liegt55, kann nicht über die Äußerlichkeit der teleologischen Beziehung hinausgehen, d. h. über die, die Kant die relative Zweckmäßigkeit nannte. Dadurch, daß sie die notwendige Beziehung zwischen dem Handeln des Organischen und dem Zweckbegriff nicht erfaßt, wandelt das Bewußtsein, das das Organische beobachtet, dieses Handeln in etwas um, das dem Zufall ausgeliefert und absolut ohne Gesetz ist, womit es den Organismus auf ein noch niedrigeres Niveau herabsetzt als das einer Maschine, »denn diese hat einen Zweck, und ihre Wirksamkeit hiedurch einen bestimmten Inhalt«56. 5. Wenn die beobachtende Vernunft sich der Notwendigkeit bewußt wird, die Opposition Kants aufzuheben – in dieser Opposition ist einerseits die Zweckmäßigkeit in der Bestimmung der lebenden Natur zugelassen, aber andererseits wird sie nicht in ihr, der lebenden Natur, sondern außerhalb von ihr gedacht –, so geschieht dies jedenfalls durch eine weitere Opposition:
54
PhG 148. PhG 146. 56 Ebd., 148. Hier ist der kritische Bezug auf Kant offensichtlich, dessen Untersuchung der organisierten Wesen der Natur anhand der Anwendung des teleologischen Urteils dahin strebt, den Unterschied zwischen der Wesensart des künstlichen Wesens – in seiner Bildung von der äußeren Zweckmäßigkeit gestützt – und der des Lebendigen, das im Gegensatz zur Maschine seinen Zweck nicht außerhalb, sondern in sich selbst habe, herauszuarbeiten. Indem er aber den Zweck nicht als konstitutives Element des Lebendigen anerkennt, sondern nur als eine Art und Weise des Subjektes, ihn sich intelligibel zu machen, verwandelt Kant nach Hegel den Organismus in etwas, das auch im Gegensatz zur Maschine in seiner konstitutiven Struktur keine innere Notwendigkeit hat. Für die Maschine ist nämlich der Zweckbegriff konstitutiv, und auf dieser Basis versteht man ihre Organisation. Für das Lebendige, bei dem die Zweckmäßigkeit keine konstitutive Rolle spielt, erscheinen seine Organisation und der Prozeß seines Selbsterhaltes in der Tat zufällig und ohne innere Notwendigkeit. 55
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die von Äußerem und Innerem. Und dies wiederum geschieht, weil die Beobachtung des Bewußtseins, das unfähig ist, die begrifflichen Bestimmungen in ihrer Flüssigkeit zu erfassen, »die Momente in der Form des Seins und Bleibens (sucht)«57. Kant hatte den Zweckbegriff – verstanden als nützlichen Grundsatz des Subjektes für die Untersuchung und das Erfassen bestimmter Phänomene, aber nicht für deren begriffliche Bestimmung – und die Natur in ihrer Tatsächlichkeit von einem Anderen getrennt, das für den menschlichen Verstand in seinem organisatorischen Prinzip unergründlich ist. Diese Trennung ist für die beobachtende Vernunft die Trennung zwischen einem Innern, welches der organische Zweckbegriff ist, und einem Äußeren, welches der Organismus in seiner Tatsächlichkeit ist. In der Bestimmung des Inneren und des Äußeren wird erstere in der Folge zum Begriff des organischen Lebens, »die einfache Seele, der reine Zweckbegriff oder das Allgemeine«58, während das Äußere dasselbe Leben ist, aber im Element des Seins, »in dem ruhenden Sein des Organischen«59, wie es sich also als konkrete Gestalt und anatomisches System gibt. Ausgehend von dieser Unterscheidung und folglich vom Unvermögen, die Objektivität des Begriffs zu erfassen, besteht das nun von der beobachtenden Vernunft aufgestellte und festgelegte Gesetz in der Entsprechung des inneren Begriffs und der äußeren Tatsächlichkeit. Die organischen Haupteigenschaften im Sinne der zeitgenössischen Physiologie, d. h. die Sensibilität, die Irritabilität und die Reproduktion60, können so auf der einen Seite als Inneres, als Arten des Selbstzwecks des Organischen angesehen werden – Strukturen, durch die das Organische sich selbst erhält –, auf der anderen Seite aber als Äußeres, als »wirkliche Teile«, d. h. als »organische Systeme«61. So kann die Sensibilität als Nervensystem verstanden werden, die Irritabilität als Muskelsystem und die Reproduktion als Menge der Organe, die die Erhaltung des Individuums und der Art ermöglichen. »Der Gedanke von Gesetzen dieser Art« – sagt Hegel entschieden – »[erweist sich,] keine Wahrheit zu haben«62. Der wesentliche Charakter dieser Eigenschaften ist nämlich seiner Meinung nach der, allgemeine Flüssigkeit zu sein, darum geht »die Sensibilität […] über das Nervensystem hinaus, und 57
Ebd., 149. Ebd., 150. 59 Ebd., 150. 60 Die Bestimmung dieser organischen Eigenschaften ist vor allem dem Werk Albrecht von Hallers zu verdanken. 61 PhG 151. 62 Ebd., 151. 58
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durch alle andere Systeme des Organismus hindurch«63, denn sie ist, da sie ein allgemeines Moment ist, ungetrennt und unzertrennlich sowohl von der Reaktion, oder Irritabilität, als auch von der Reproduktion. Hegel drängt es hervorzuheben, daß diese Funktionen eigentlich nicht voneinander trennbar sind, daß man alles, was man ihnen zuordnen kann, eben so gut anderen zuordnen kann. Sie sind andererseits jedoch an sich noch nicht einmal als anatomische Systeme zu unterscheiden: als solche sind sie nur Teil einer Leiche, nicht eines Lebewesens. Struktur und Funktion sind hingegen unzertrennliche Momente einer lebendigen Realität, die allein ihnen eine intelligible Bedeutung gibt. Die beobachtende Vernunft sieht also nicht, daß die Eigenschaften des Organischen flüssige Momente des Begriffs des Organismus sind, welche als solche ungetrennt und unzertrennlich voneinander sind. Deshalb ist die Sensibilität an sich – ohne die Irritabilität und ohne die Reproduktion – nichts oder nur etwas Totes, d. h. nichts Organisches. Wenn diese wesentlichen Lebensfunktionen »verdinglicht« werden, geht ihr Unterschied, der qualitativ ist, ins Reich der Größe über und ruft damit den Verlust der spezifischen organischen Flüssigkeit und das Entstehen von Gesetzen hervor, die einem Begriff wie dem des Organischen strukturell unangemessen sind. Ein Beispiel dieser Unangemessenheit unter diesem Gesichtspunkt scheint der Versuch zu sein, den Carl Friedrich Kielmeyer in seiner berühmten Rede von 1793 Über die Verhältnisse der organischen Kräfte untereinander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, und die Gesetze und Folgen dieser Verhältnisse unternimmt64. Dieser Text hat, wie bekannt, einen außerordentlichen Einfluß auf die nicht nur naturwissenschaftliche Kultur in den Jahren zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts ausgeübt. Die Absicht Kielmeyers ist hier eben die, Gesetze zu finden, die die Beziehungen zwischen den organischen Kräften regeln, dabei im Besonderen die Beziehungen zwischen Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion65. Seine Vorgehensweise ist eben das, was Hegel auf diesen Seiten der Phänomenologie des Geistes kritisiert.
63
Ebd., 152. C. F. von Kielmeyer, »Über die Verhältnisse der organischen Kräfte untereinander in der Reihen der verschiedenen Organisationen, und die Gesetze und Folgen dieser Verhältnisse«, in: Gesammelte Schriften, hg. von F. H. Holler, Berlin 1938, 59–101. Zur kritischen Bibliographie über Kielmeyer vgl. K. T. Kanz, Kielmeyer-Bibliographie, Stuttgart 1991. 65 Der Hauptzweck in Kielmeyers Rede ist es, in seinen eigenen Worten, das folgende zu finden: »welches sind die Verhältnisse dieser Kräfte untereinander bei den verschiedenen Gattungen von Organisationen, und nach welchen Gesetzen ändern sich diese Ver64
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Um die Gesetze zu finden, die diese Beziehungen regeln, ist es notwendig – laut Kielmeyer –, zu allererst nur eine von den anderen isolierte Kraft und sie erst anschließend in Einheit mit den anderen Kräften des Individuums zu betrachten. Aber das bedeutet für Hegel, diese Kräfte als etwas Anorganisches zu behandeln, als trennbare und getrennte Bestimmtheiten, nicht aber als Momente eines Begriffs, die gerade auf Grund ihres spezifischen organischen Status nur in ihrer Beziehung verstanden werden können. Aus dieser Beziehung herausgenommen, verlieren sie jedoch ihre Besonderheit und sind nicht mehr sie selbst. Daß die Hauptlebensfunktionen nicht voneinander zu trennen sind, bedeutet für Hegel dabei natürlich nicht, daß zwischen ihnen kein Unterschied besteht. Im Gegenteil ist ihr Unterschied absolut notwendig – nur muß er begrifflich sein und damit qualitativen Charakter haben66. Eine Vernunft, die unfähig ist, den begrifflichen und qualitativen Unterschied zu erfassen, erzeugt Gesetze, nach denen zum Beispiel, so Hegel, »Sensibilität und Irritabilität in umgekehrtem Verhältnisse ihrer Größe stehen, so daß wie die eine wächst, die andere abnimmt«67, worin ein ausdrücklicher Bezug auf eines der Gesetze liegt, die Kielmeyer in seiner Rede verkündet: »Die Irritabilität nimmt, der Permanenz ihrer Äußerungen nach geschätzt, zu, wie die Schnelligkeit, Häufigkeit oder Mannigfaltigkeit der Empfindungen abnimmt«68. Kielmeyer zufolge entwickelt sich nämlich in dem Moment, in dem diese organischen Kräfte in Beziehung miteinander treten, eine Art gegenseitiger Ausgleich. Wenn man also die, die Kielmeyer die allgemeinste der organischen Kräfte nennt, betrachtet, d. h. die Kraft der Reproduktion, und man sie in Beziehung zu den anderen Kräften sieht, dann ergibt sich, daß »je mehr alle Arten von Äußerungen der Reproduktion in einem Organismus vereinigt
hältnisse in den Reihen der verschiedenen Organisationen ab« (C. F. von Kielmeyer, Über die Verhältnisse der organischen Kräfte, a. a. O. 67). In Wirklichkeit nennt Kielmeyer außer diesen drei Kräften auch die Kraft der Sekretion und die Kraft des Antriebs, jeweils definiert als »die Fähigkeit, aus der Saftmasse dieser selbst unähnliche Materien von bestimmter Beschaffenheit wiederholt an bestimmten Orten abzusondern«, und als »die Fähigkeit, die Flüssigkeiten in den festen Teilen in bestimmter Ordnung zu bewegen und zu verteilen« (ebd., 69–70). 66 Vgl. PhG 152. 67 Ebd., 152. 68 C. F. von Kielmeyer, Über die Verhältnisse der organischen Kräfte, 80. Man muß bedenken, daß gerade diese Idee Kielmeyers von Schelling im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, aufgenommen und erörtert wird (F. W. J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, zit., 203). Man kann also nicht ausschließen, daß gerade Schelling die Zielscheibe ist, die Hegel durch Kielmeyer hier treffen will.
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sind, desto eher ist Empfindungsfähigkeit ausgeschlossen, und desto eher weicht selbst Irritabilität«69. Laut Hegel sieht eine Bemerkung wie diese nicht die interne Beziehungsstruktur dieser Kräfte, auf Grund deren jede sie selbst nur in ihrer Beziehung zu den anderen ist, und doch ist sie nichts außerhalb dieser Beziehung. In diesem Sinne ist also jede Kraft an sich auch die anderen, und sie kann von ihnen nicht getrennt werden, ohne daß sie damit selbst aufgehoben wird: »so sind die organischen Momente gleich unzertrennlich in ihrem Realen, und in ihrer Größe, die die Größe desselben ist; eines nimmt nur mit dem andern ab und nimmt nur mit ihm zu, denn eines hat schlechthin nur Bedeutung, insoweit das andere vorhanden ist«70. Die Gesetze, die von dieser Eigenheit der Momente der organischen Kräfte absehen, werden für Hegel nur ein »leeres Spiel des Gesetzgebens«, das »allenthalben mit allem getrieben werden [kann], und beruht überhaupt auf der Unbekanntschaft mit der logischen Natur dieser Gegensätze«71. In diesem Gesetzgeben geht gerade das Ding verloren, seine Besonderheit, das, was es zu dem macht, was es ist, und nichts Anderes. Deshalb gilt im Falle des Organischen: »den Gegensatz der Momente so aufgefaßt, wie er in dem Dasein ist, so sinken Sensibilität, Irritabilität, Reproduktion zu gemeinen Eigenschaften herunter, die gegeneinander ebenso gleichgültige Allgemeinheiten sind, als spezifische Sphere, Farbe, Härte, und so fort«72. Da Bestimmungen wie die der Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion hingegen »durchdringende flüssige Eigenschaften« sind, können sie – laut Hegel – keinen richtigen »realen Ausdruck« haben73. In der Unterscheidung der anatomischen Systeme wird der Organismus als etwas Totes behandelt, und das, was man über eine Leiche sagen kann, ist nicht dasselbe, das man über ein Lebewesen sagen kann: »Da das Sein des Organismus wesentlich Allgemeinheit oder Reflexion in sich selbst ist, so kann das Sein seines Ganzen, wie seine Momente nicht in einem anatomischen Systeme bestehen, sondern der wirkliche Ausdruck und ihre Äußerlichkeit ist vielmehr nur als eine
69
C. F. von Kielmeyer, Über die Verhältnisse der organischen Kräfte, 90. PhG 153. 71 Ebd., 153. Hier taucht die Kritik Hegels am Formalismus der Naturphilosophie wieder auf, der eben in der Anwendung eines festen Schemas von Analogien und Oppositionen besteht, die nicht derselben Natur des Dings entstammen, in diesem Fall den Momenten des Organischen, sondern die ihm von außen auferlegt werden. Hegel hat sich bisher vor allem auf Kielmeyer bezogen, aber hier zielt er allgemeiner, aber von der Kritik an Kielmeyer ausgehend, auf Schellings Art. 72 Ebd., 154. 73 Ebd., 155. 70
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Bewegung vorhanden, die sich durch die verschiedenen Teile der Gestaltung verläuft, und worin das, was als einzelnes System herausgerissen und fixiert wird, sich wesentlich als fließendes Moment darstellt«74. 6. Die Unmöglichkeit, Gesetze in bezug auf die organische Welt aufzustellen, und zwar auf die Weise, auf die die beobachtende Vernunft sie sucht, kommt mithin daher, daß die Momente des Organischen, um solche Gesetze zu erzeugen, als voneinander getrennt gedacht werden und somit der Flüssigkeit entbehren, die ihre besondere Eigenheit ist, also das, was sie organisch werden läßt. In dem Moment, in dem die organische Welt Objekt der Beobachtung dieser Bewußtseinsform wird, verliert sich das, wofür sie – die Vernunft als Gestalt des Bewußtseins – ihren Weg gegangen ist, und das ist »die Vorstellung eines Gesetzes«75. Denn typisch für das Gesetz der beobachtenden Vernunft ist die Vorstellung der Seiten ihrer Opposition als ruhiger Seiten, als fester Bestimmungen. Wenn alle Versuche, das Organische auf ein Gesetz zurückzuführen, zum Scheitern verurteilt scheinen, dann bedeutet das aber nicht, daß das Organische, der Bereich des Lebendigen, nicht zu fassen wäre, daß er auf Grund seiner Natur unmöglich mit einer rationellen Erklärung zu verstehen wäre. Vielmehr bedeutet es, daß sein Erfassen nicht durch die Zurückführung auf Gesetze geht; daß also das Gesetz für Hegel nicht die angemessene Form ist, durch die es eine rationelle Erklärung erfahren kann76. Das Gesetz ist im Allgemeinen eine Beziehungsform, in der die in ihr vereinten Relata trotzdem außerhalb von einander bleiben, auf eine Weise, auf die die Vereinigung, die das Gesetz erreicht, nur eine gesetzte, aber nicht wirklich erreichte Vereinigung ist77. Auch wenn das Gesetz den Versuch darstellt, eine notwendige Beziehung zwischen heterogenen Elementen zu etablieren, bleibt es für Hegel doch nur die Bezeugung des Bedürfnisses, das Äußere von dem, was in ihm verbunden wird, aufzuheben, aber es ist nicht die angemessene Form für diese Aufhebung. Das, was es als Gesetz in Beziehung setzt, zeichnet sich jedenfalls weiterhin strukturell durch gegenseitige Fremdheit aus.
74
Ebd., 155. Ebd., 156. 76 Vgl. hierzu M.H. Hoffheimer, »Hegel’s Criticism of Law«, in: Hegel-Studien Bd. 27, 1992, 27–52. 77 Vgl. L. Illetterati, Commento, in: G. W. F. Hegel, Sul meccanismo, il chimismo, l’organismo e il conoscere, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von L. Illetterati, Quaderni di Verifiche 7, Trient 1996, 77–137, insbes. 80–84. 75
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Der Beweis, daß das Leben nicht auf ein Gesetz zu reduzieren ist, setzt sich also nicht zum Ziel, das Leben aus der Möglichkeit eines rationellen Verständnisses zu entlassen, so als ob es etwas Unaussprechliches wäre, das sich jeder Form der Regelmäßigkeit entzöge. Es ist vielmehr, wenn überhaupt etwas, dann das Gesetz, das sich auf diesem Weg als unangemessen erweist, jene Wesensart zu erfassen – d. h. die des Lebendigen –, die immer Prozeß und nie ein Produkt ist; die um zu sein – um sich also als Prozeß zu erhalten – kontinuierliche Verwandlung ihrer selbst und demzufolge permanente Störung des Gleichgewichts und Entfernung von einem Ruhezustand ist. In diesem Sinne verweist das gescheiterte Zurückführen des Organischen auf ein Gesetz auf die Notwendigkeit, eine begriffliche Form auszuarbeiten, die die Struktur des Gesetzes aufhebt – des Gesetzes nämlich als einer Beziehung von statischen und festen Bestimmungen; eine begriffliche Struktur, in der die innere Notwendigkeit des Verhältnisses seiner Seiten erscheint; eine Struktur, die in der Lage ist, die Bewegung auszudrücken, auf Grund deren jeder Teil zum anderen strebt und nur er selbst ist, solange er in dieser Beziehungsbewegung zum anderen steht: ein Gesetz also, um es mit Hegels Worten zu sagen, das die Form des Gesetzes aufhebt und »die Unruhe des Begriffes« beinhalten kann78. Da aber diese Aufhebung für die beobachtende Vernunft die Aufhebung der Bewußtseinsstruktur, aus der sie besteht, bedeuten würde, bleibt ihr nach dem Scheitern aller ihrer Versuche, das Organische zu erfassen, nur das Meinen, durch das sie nach dem anfänglichen Anspruch auf Gesetzgeben »auf das Beschreiben und Hererzählen von Meinungen und Einfällen der Natur beschränkt (ist)«, da sie nur »allenthalben Anfänge von Gesetzen, Spuren von Notwendigkeit, Anspielungen auf Ordnung und Reihung, witzige und scheinbare Beziehungen darbieten« kann79. Eine so beschaffene Vernunft kann es »nicht über artige Bemerkungen, interessante Beziehungen, freundliches Entgegenkommen dem Begriffe hinausbringen. Aber die artigen Bemerkungen sind kein Wissen der Notwendigkeit, die interessanten Beziehungen bleiben bei der Interesse stehen, (…); und die Freundlichkeit des Individuellen, mit dem es an einen Begriff anspielt, ist eine kindliche Freundlichkeit, welche kindisch ist, wenn sie an und für sich etwas gelten will oder soll«80.
78 79 80
PhG 156. Ebd., 166. Ebd., 166.
Hegels Kritik der Metaphysik der Naturwissenschaften
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7. Das Scheitern der beobachtenden Vernunft gegenüber dem Organischen zeigt also deutlich die innere Grenze dieser Form des Bewußtseins. Am Anfang haben wir hervorzuheben versucht, daß die Behandlung der Beobachtung der Natur und somit allgemein der Erkenntnishaltung der Naturwissenschaft im Inneren des Moments Vernunft artikuliert wird, und zwar direkt nach der Behandlung des Idealismus, der als besonderes Merkmal dieses phänomenologischen Moments erscheint. Hegels Kritik scheint in der Tat danach zu streben, die idealistische metaphysische Voraussetzung (idealistisch im Sinne des Bewußtseins) ans Licht zu bringen. Diese gehört eben jener Form des Bewußtseins an, die scheinbar als Anpassung an die gegebene Erfahrung auftritt, oder die vorgibt, sich selbst auf eine Gegebenheit zu stützen, die sich in Wirklichkeit als mit kategorialen Mitteln gebaut und geformt offenbart; Mittel die die Naturwissenschaft einfach voraussetzt, ohne darüber nachzudenken. Die Vorgehensweise der Naturwissenschaften ist weit entfernt davon, in diesen Wissenschaften eine Spiegelung der Natur zu erzeugen. Sie bildet vielmehr einen Prozeß, der sich durch die Beschreibung, die Klassifizierung und die Gesetzgebung als einen Prozeß der fortschreitenden Unterwerfung der Natur zeigt. Dieser Prozeß der Unterwerfung der Natur erreicht seinen äußersten Punkt in der Beobachtung des Organischen; die Unmöglichkeit jedoch, das Leben auf ein Gesetz zurückzuführen – d. h. das Leben auf die kategorialen Strukturen zu beschränken, die dem intern gespaltenen und geteilten Gefüge des Bewußtseins gehören –, enthüllt das Merkmal dieser Erkenntnishaltung, ihre unbewußte metaphysische Voraussetzung, das, was sie in ihrer Wesensart ausmacht, d. h. den Versuch des Bewußtseins, sich in dem Objekt zu erkennen, indem es sich dieses aneignet. Unter diesem Gesichtspunkt versteht man auch, warum Hegel sowohl der empiristische Impuls der Tradition Newtons als auch der konstruktivistische Apriorismus Kants und dessen naturphilosophische Radikalisierungen als zwei Aspekte ein und derselben metaphysischen Annahme erscheinen, die das denkende Subjekt einem Objekt gegenüberstellt und die die Erkenntnis als einen Prozeß der Anpassung des einen an das andere auffaßt. Es ist kein Zufall, daß Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, dort bei der Behandlung der Stellungen des Gedankens zur Objektivität, Empirismus und Kritizismus zusammen betrachtet, geht er doch davon aus, daß für beide Denkweisen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die Allgemeinheit und die Notwendigkeit sich als etwas Subjektives erweisen, daß also die Objektivität der Erkenntnis in jedem Fall das Resultat eines subjektiven Zwangs ist; bei Hume gründete er auf der einfachen Gewohnheit, bei Kant hingegen auf den aprioristischen Formen der Subjektivität.
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Der Idealismus ist die grundlegende Eigenschaft der Wesensart der Vernunft als Moment des Bewußtseins. Dabei haben wir auch unterstreichen wollen, wie Hegels Kritik am Idealismus des Bewußtseins eine Art Gegenmittel gegen eine idealistische Interpretation seiner Philosophie in subjektivistischem Sinne darstellt. So ist auch der Weg der Beobachtung der Natur eine Art Gegenmittel gegen die Tendenz, die Naturphilosophie Hegels als einen (subjektivistischen) Versuch zu interpretieren, die natürliche Wirklichkeit von logischen Kategorien abzuleiten. Dabei würde sie komplett die Arbeit überspringen, die die Wissenschaften an der Natur ausführen, und sich gewissermaßen als eine alternative Auffassung zu der der Naturwissenschaft anbieten. Es ist offensichtlich, daß demnach die Naturphilosophie eine noch extremere Fassung jener Formen der Unterwerfung der Natur bilden würde, deren implizite Metaphysik Hegel hingegen in der Phänomenologie des Geistes radikal in Frage stellt. Die Kritik an der Erkenntnishaltung der Naturwissenschaften, so wie sie sich in der Beobachtung der Natur artikuliert, zielt nicht darauf, den von den Naturwissenschaften erreichten Resultaten die Legitimation zu entziehen, um eine alternative Form der Annäherung an die natürliche Realität zu bieten, die dann in der Naturphilosophie als zweiter Teil des Systems der philosophischen Wissenschaften konkret würde. Das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie ist bei Hegel weder ein Verhältnis gegenseitigen Ausschlusses noch ein Wettbewerb. Im Gegenteil erkennt Hegel ausdrücklich der naturwissenschaftlichen Arbeit die Rolle einer Voraussetzung zu, die notwendig zur Entstehung einer philosophischen Betrachtung der Welt ist. Damit zeigt er auch ausdrücklich, daß die Idee an sich einer Naturphilosophie intim mit der konkreten Arbeit der Naturwissenschaften verflochten ist. Aufgabe und Absicht der Naturphilosophie ist es nämlich nicht – wie Hegel manchmal interpretiert wird –, die Natur von der Logik abzuleiten, sondern vielmehr die Resultate der Naturwissenschaften anzunehmen und zu diskutieren in dem Versuch, sie außerhalb einer metaphysischen (subjektivistischen oder idealistischen) Annahme und im Sinne der Selbstbestimmung des Begriffs zu rechtfertigen81. In der Anmerkung zu § 246 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften behauptet Hegel bekanntlich: »Nicht nur muß die Philosophie mit der Natur-Erfahrung übereinstimmend sein, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung«. Die Philosophie geht also von der Arbeit der Naturwissenschaften und von 81
Enz. (1830), § 246.
Hegels Kritik der Metaphysik der Naturwissenschaften
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der Anerkennung von deren Resultaten aus. Aber ihre Aufgabe besteht dann darin, diese Resultate in der Notwendigkeit des Begriffs zu begründen: »Ein anderes aber ist der Gang des Entstehens und das Vorbereiten einer Wissenschaft, ein anderes die Wissenschaft selbst; in dieser können jene nicht mehr als Grundlage erscheinen, welche hier vielmehr die Notwendigkeit des Begriffs sein soll«82. Einerseits stellt dieser Versuch, »nach der Selbstbestimmung des Begriffs« – also philosophisch – die von der Wissenschaft verwendeten oder von ihr erzeugten Begriffe zu rechtfertigen, die Naturphilosophie auf ein Argumentationsniveau, das sich von dem der Naturwissenschaften unterscheidet und ihm nicht übergeordnet werden kann; andererseits übernimmt dieses nächste Argumentationsniveau, das philosophische, eine vornehmlich kritische Rolle gegenüber der Naturwissenschaften, denn es stellt den Begriff in Frage, auf den diese Wissenschaften gründen, wie wir im Falle der Wissenschaften des Organischen gesehen haben. Gewiß wendet sich die Philosophie mit dieser Kritik nicht unmittelbar an die Naturwissenschaften, um sie zu ersetzen. Die Philosophie kann in den Wissenschaften das kritisieren, was über diese hinaus geht, kann jene Metaphysik in Frage stellen, die – wie Kant schon bemerkt hatte – wenn auch unbewußt einen unvermeidlichen Hintergrund für jede wissenschaftliche Praxis darstellt. Freilich: den – übrigens nicht akzeptierten – Hintergrund einer Erfahrung in Frage zu stellen, mithin etwas, was eine bestimmte Argumentationsform als bekannt und als Grund voraussetzt, in Frage zu stellen, ist für jene Praxis oder diese Argumentation niemals etwas Harmloses.
82
Ebd., § 246, Anm.
Das geistige Tierreich oder das schlaue Füchslein Zur Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft in Hegels Phänomenologie des Geistes Klaus Vieweg (Jena) In Goethes berühmtem Tierepos, Goethes Reineke Fuchs, agieren die Tiere im Weltenlauf mit menschlichen Charakterzügen, im Mittelpunkt das schlaue, listige, betrügerische und skrupellos egoistische, nur sein Spiel spielende Füchslein. Goethe beschreibt die überlieferte Reineke-Geschichte als die »unheilige Weltbibel«1, wohl in Anspielung auf den biblischen Fuchs, der im Weinberg wühlt, mit welchem dann Luther in der gegen ihn gerichteten päpstlichen Bannbulle verglichen wurde – »Herr, ein Fuchs ist in deinen Weinberg eingedrungen«. In seiner Adaption des Reineke-Stoffes, der Goethe zufolge »von gestern und heut« sei, trage sich »das Menschengeschlecht in seiner ungeheuchelten Tierheit ganz natürlich vor«2. Damit bin ich beim Stichwort »geistiges Tierreich«, ohne aber mit diesem durchaus plausiblen Verweis auf Goethes Erzählung aus dem Königreich der Tiere eine neue These über den direkten Hintergrund des Topos vom »geistigen Tierreich« suggerieren zu wollen. Die Rede vom geistigen Tierreich, vom Menschengeschlecht in seiner Tierheit sollte aus dem Gesamtkontext der Phänomenologie erschlossen werden, ausgehend von der Verknüpfung der Dimensionen des Animalischen und des Geistigen. Der Abschnitt zur an und für sich selbst reellen Individualität, in welchem als erste Gestalt das geistige Tierreich thematisiert wird, fungiert zugleich als Abschluß des Vernunft-Kapitels, als Nahtstelle und Übergang zum Geist-Kapitel. Hier wird eine entscheidende Bestimmung der Struktur von Geist generiert, die Einheit von beobachtend-theoretischer Vernunft und tätig-praktischer Vernunft – die »einfache Identität der Subjektivität des Begriffs und seiner Objektivität«3. Es geht um die Überwindung des Dualismus von Theoretischem und dem Praktischen, von theoretischer und praktischer Vernunft, somit um einen für Hegel entscheidenden Schritt zur endgültigen Überschreitung des Bewußtseinsparadigmas, auf einem Wege, 1
Goethe, Reineke Fuchs. In zwölf Gesängen, in: Goethe, Werke (Berliner Ausgabe), Bd. 3, 441–579; Anmerkungen zu Entstehung und Überlieferung des Reineke Fuchs. Goethe, Werke (Berliner Ausgabe), Bd. 3, 798. 2 Ebd. 801–802. 3 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Theorie-Werkausgabe (=ThW), Frankfurt/Main 1968 ff., Bd. 10, 228.
Das geistige Tierreich oder das schlaue Füchslein
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an dessen Abschluß die erste, einfache inhaltliche Bestimmung des Geistes steht. Einige Aspekte dieser Schlüsselstelle in Hegels Jenaer Jahrtausendwerk sollen auf der Basis einer möglichst genauen, ‚textnahen‘ Rekonstruktion der Hauptstufen des Argumentationsganges herausgestellt werden. Ausgehend von der bekannten These von der speziellen Relevanz des Praktischen in diesem Lehrstück versuche ich eine Interpretation, die mit einem steten Seitenblick auf korrespondierende Überlegungen in Enzyklopädie und Rechtsphilosophie operiert. Herangezogen werden auch die Darstellungen über die Einheit von theoretischem und praktischem Geist im freien Geist, somit der Übergang zum Begriff des »objektiven Geistes«, zu Hegels philosophischer Theorie des Handelns und der Geschichte.
I. Grundsätzliche Bemerkungen zur Struktur des Argumentationsganges – Die Einheit von beobachtender und tätiger Vernunft Die Gestalt der an und für sich reellen Individualität ergibt sich aus der Aufhebung der zwei entgegengesetzten Bestimmungen des vernünftigen Selbstbewußtseins – der beobachtenden und der tätigen, tuenden Vernunft. Das vernünftige Bewußtsein geht in sich zurück und wirft so »allen Gegensatz und alle Bedingungen seines Tuns ab«4. die Bewegung der Individualität wird als die Realität des Allgemeinen erfahren5. Diese Individualität hat Hegel zufolge die Wirklichkeit an ihr selbst, ist somit vernünftiges und freies Selbstverhältnis, insofern es sich nicht auf ein Anderes, sondern nur auf sich selbst bezieht. Die vorherigen konträren Gestalten der beobachtenden und tätigen Vernunft hatten sich als je einseitige erwiesen und zu dieser neuen Form getrieben. In der beobachtenden Vernunft kehrte sich die anfängliche Unselbständigkeit in die Selbständigkeit um, das vermeintliche Sichbestimmt-Finden, das An-sich der Naturnotwendigkeit als Vorfinden einer Außen-Welt erfährt in der Form des Lebendigen, des Tierischen als Tätigem, seine erste Negation, das Animalische gilt als erste Negation der Naturnotwendigkeit6. Die Ohnmacht entpuppt sich als Macht, das Knecht-Sein als Herr-Sein, die vernünftige Animalität impliziert das Instinktive in Form bewußtloser Zwecktätigkeit, bildet das bewußtlose Dasein der Vernunft, eine 4
PhG (zitiert nach ThW Bd. 3) 293. PhG 291. 6 Vgl. dazu Tommaso Pierini, »Die Beobachtung der Natur«, in: Klaus Vieweg/Wolfgang Welsch: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main 2008. 5
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für sich seiende Subjektivität, Individualität als subjektive Allgemeinheit, als Allgemeinheit des Lebendigen7. Auf der anderen Seite kippt das selbständige Selbstbewußtsein, das praktische Weltverhalten als Für-sich-sein des Ich, welches sich im Gegenstand als Selbst weiß, in die Unselbständigkeit. Lust und Tugend stürzen in das Fremde der Notwendigkeit und des scheinbar übermächtigen Weltlaufs, in ein wesenloses Spiel von Gewinn und Verlust der Einzelheit, in die selbst- oder ich-lose, tierische Zufälligkeit. Somit wird hier noch keine zureichende Allgemeinheit gewonnen. Das für das skeptische Selbstbewußtsein charakteristische Oszillieren zwischen Autonomie und Heteronomie wiederholt sich auf höherer Ebene, als permanenter Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, um eine Formulierung von Friedrich Schlegel aufzugreifen. In der jeweiligen Einseitigkeit beider Gestalten manifestiert sich die Unhaltbarkeit der Opposition von Theoretischem und Praktischem, die Vernünftigkeit des Einsseins von theoretischer und praktischer Individualität. In Enzyklopädie und Rechtsphilosophie wendet sich Hegel ausdrücklich gegen diese Trennung von Denken und Wollen, beide enthalten die Einheit des theoretischen und praktischen Verhaltens in sich – die Willensbestimmung ist zuerst innere Bestimmung, die vorgestellt bzw. gedacht werden muß; das Denken ist zugleich ein Tätigsein. In jeder Tätigkeit sowohl des Denkens als auch des Wollens finden sich beide unterschiedenen Momente vereint. An prominenter Stelle, im § 5 Rechtsphilosophie tritt dies besonders deutlich hervor, wenn Hegel die erste Bestimmtheit des Willens in rein theoretischer Diktion beschreibt: reine Unbestimmtheit, reine Reflexion des Ich in sich, schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst8. Im Abschnitt zum praktischen Geist in der Enzyklopädie akzentuiert Hegel die Absage an das Getrenntsein von Willen und Wissen, der Weg des Willens zum objektiven Geist sei das Erheben zum denkenden Willen, einen Inhalt sich zu geben, den er nur als sich denkender haben könne9. In diesem Eins-Sein, dem Rückgehen des Selbstbewußtseins in sich selbst, hat es die abstrakte Gewißheit, alle Realität zu sein, es handelt sich um ein Fürwahr-Halten, das noch zur Wahrheit erhoben werden muß, das den Begriff von sich noch gewinnen muß, in der Sprache der Rechtsphilosophie – die 7
Im Animalischen erkennt Hegel das »in sich reflektierte Selbst der Einzelheit, die in sich seiende subjektive Allgemeinheit‘, im Empfindenden die ‚unmittelbar allgemeine, einfach bei sich seiende und sich erhaltende Individualität: die existierende Idealität des Bestimmtseins« (Enzyklopädie, ThW Bd. 9, 430, 432). 8 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ThW Bd. 7, § 5. 9 Hegel, Enzyklopädie, ThW Bd. 10, § 469.
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abstrakte Gewißheit des Willens von seiner Freiheit ist noch nicht die Wahrheit desselben. Den jetzt fixierten Startpunkt zur Betrachtung des geistigen Tierreichs, eben diese Gewißheit der Individualität, alle Realität zu sein, daß der Prozeß der Individualität die Realität des Allgemeinen ist, vergleicht Hegel durchaus treffend mit der »Bewegung eines Kreises, welcher frei im Leeren sich in sich selbst bewegt, ungehindert sich erweitert, bald verengert und vollkommen zufrieden nur in und mit sich spielt«10. In dieser Form der spielenden, artifiziellen, selbstgewissen Subjektivität tritt schon die Grundstruktur des Geistes hervor – prozessuale Selbstbestimmung, Freiheit als sich entfaltendes Selbstverhältnis, Begründung als fortgehender Rückgang in den Grund, schon hier veranschaulicht durch den Kreis. Allerdings hat die Geist-Struktur hier noch eine defiziente Verfassung, nämlich als zunächst nur einfache, unmittelbare Einheit. II. Das geistige Tierreich Inhaltlich zielt Hegel mit diesem Topos auf ein Doppelwesen ähnlich der ägyptischen Sphinx, einem Tierleib mit Menschenkopf, welcher des Herausringens des Geistigen aus dem Natürlichen symbolisiert, auf ein hybrides Gebilde, eine Amphibie aus Animalität und Geistigkeit11. Dies läßt sich sowohl durch den Bezug auf vorhergehende und nachfolgende Textstücke der Phänomenologie belegen als auch durch Parallelen zu entsprechenden Überlegungen in der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie. Die Ambiguität prägt bereits das skeptische Selbstbewußtsein, das als wahrhafte Gewißheit seiner selbst, als Gewißheit seiner Freiheit und zugleich als partikulares, zufälliges Bewußtsein auftritt, als selbstbestimmend-geistiges und verlorenes Selbstbewußtsein in einem, das zwischen des Scylla der reinen Subjektivität und Selbständigkeit und der Charybdis der Unterwerfung unter die Zufälligkeit der Widerfahrnisse hin und her schwankt. Hegel spricht deshalb dort vom »tierischen Leben«, einer Vorform der vernünftigen Tierheit, des geistigen Tierreichs. Im späteren Religionskapitel spielt Hegel
10
PhG 293 In der Ästhetik verwendet Hegel das Bild des Menschen als einer »Amphibie«, welche in zwei ‚Welten‘ lebt: zum einen auf dem Lande, in der Welt der Natur, der belebt-blühenden Wirklichkeit, wo der Mensch von Naturtrieben bedrängt und beherrscht werde und zum anderen im Reiche des Gedankens und im Wasser der Freiheit (Vorlesungen über die Ästhetik, ThW Bd. 13, 80–81). 11
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anläßlich der Tierreligion auf das Animalische als Partikulares und Subjektives an, auf die im Tierischen hervortretende Individualität, welcher in der Religion geistig-symbolische Gestalt verliehen werde12. Im Kontext der Darstellungen zum praktischen Geist und zum Willen werden Partikularität und Zufälligkeit im Begriff der Willkür thematisch, die Willkür repräsentiert die Zufälligkeit im Praktischen. Sie bildet ebenso ein Zwischenwesen, den Widerspruch zwischen dem Willen als bloß natürlich, animalisch bestimmten, der Zufälligkeit der Triebe und Neigungen und dem an und für sich freien Willen. Die Willkür korrespondiert darin mit der Vorstellung, speziell mit der in der Abhandlung zum theoretischen Geist vorgeführten Willkür der Einbildungskraft, einer Mitte zwischen Anschauung und Denken, der Vergeistigung der Anschauung und der Veranschaulichung des Geistigen. In beiden Fällen registriert Hegel ein Amalgam von Bestimmt-Einzelnem und Abstrakt-Allgemeinem, eine bloße Synthese, noch keine spekulative Einheit. Die ‚an sich reale Individualität als einzelne und bestimmte verknüpft sich mit der Realität, als welche sie sich zwar weiß, welche aber eine abstrakte, allgemeine Realität ist, ohne Erfüllung und Inhalt, nur als leerer Gedanke13. Die ursprüngliche, einfache, natürliche, tierische Bestimmtheit der Individualität vergleicht Hegel mit dem unbestimmten Tierleben, geprägt einerseits von einem durchsichtigen, allgemeinen Element der bestimmten Individualität, anderseits von der Entfaltung der bestimmten Unterschiede und der reinen Wechselwirkung mit sich in dieser Verwirklichung. Das Tierische, indem es sich in seiner Einzelheit erhält, »begeistet«, »vergeistigt« in seinem Tun die Natur, insofern es sich die Unmittelbarkeit der Subjektivität »einverleibt«. Das Animalische erweist in seinem Tun das Endliche als ein Verschwindendes, repräsentiert den naturwüchsigen Idealisten, was Hegel mit seiner Rede von der »Weisheit der Tiere« ausdrücklich konzediert. In ihrem Tun bewegen sie sich auf der Ebene der Eleusinischen Mysterien, worin die Endlichkeit als Wahrheit der sinnlichen Dinge hervortritt14. Sie verbleiben als fühlende und anschauende Subjektivität zugleich wesentlich im Reich der Zufälligkeit, vermögen das Natürlich-Triebhafte nicht frei-willent12
Vgl. Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main 2000,
227. 13
PhG 294. PhG 91. Das animalische Leben (physis – bewußtlose Zwecktätigkeit) gilt als »höchster Punkt der Natur«, besonders hervorgehoben wird das Vermögen zum Setzen des Ortes und der Zeit (»Herrschaft über die abstrakte Idealität von Raum und Zeit«) sowie die Stimme der Tiere, in welcher die Empfindungen im abstrakte Elemente von Raum und Zeit gegenständlich werden. Enz., ThW Bd. 9, 430–436. 14
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lich in ein Ich als dem Seinigen zu setzen, sie wissen den Zweck noch nicht als Zweck, wollen noch nicht den freien Willen.
III. Das Tun der reellen Individualität Aufgrund der selbstrelationellen Verfaßtheit dieser Individualität konstituiert das Tun kein Anderes, es vollzieht sich die »reine Form des Übersetzens aus dem Nichtgesehenwerden in das Gesehenwerden«, das Übersetzen aus der Form des noch nicht dargestellten in die des dargestellten Seins«15. Dies umschließt den Weg von der bloßen Möglichkeit zum Wirklich-Unendlichen, die Verwirklichung in einer gegenständlichen Äußerlichkeit ist die Individualität selbst. Auch hier korrespondiert die praktische Dimension mit der theoretischen, das Komplement haben wir in der zeichenmachenden Phantasie, welche die Bedeutung vergegenwärtigt, veranschaulicht, ins Dasein bringt. Die ursprüngliche Weise der reellen Individualität, ihr unmittelbares Wesen als bestimmte Partikularität, manifestiert sich in der Freiheit des Charakters, der positiven Seite des Pyrrhonismus, dies gilt als einziger, ausschließlicher Inhalt des Zwecks und als Realität, als Art des individuellen Lebens, als Lebensform, die sowohl das Signum der formalen Selbstbestimmtheit als auch das der Willkür und Zufälligkeit trägt. Im Vollzug dieses Zwecks, im Tun dieser Partikularität offenbart sich die Überwindung des Bewußtseinsmodells und der notwendige Transfer zum Skeptizismus. Die pyrrhonische Lebensform enthält die dezidierte Gleichgültigkeit gegen die Notwendigkeit der Natur, die Auflösung einer solchen natürlichen Notwendigkeit. Dies gilt in bestimmter Weise auch für den modernen Nachfolger der alten Pyrrhoniker, dem Idealismus, in beiden Formen wird die vermeintlich vorhandene, angeblich unmittelbar gegebene Wirklichkeit zum Schein bzw. zum Erscheinenden herabgestuft. »›Es ist‹ erlaubte sich der Skeptizismus nicht zu sagen; der neuere Idealismus erlaubte sich nicht, die Erkenntnisse als ein Wissen vom Ding-an-sich anzusehen; jener Schein sollte überhaupt keine Grundlage eines Seins haben, in diese Erkenntnisse [des Idealismus] sollte nicht das Ding-an-sich eintreten«16. Das realistische Postulat einer vorfindlichen, unabhängigen Natur, der Mythos vom Gegebenen fällt. Die partikulare Individualität weiß die Welt als ihre, hat sich in dieser selbst dargestellt und gefunden, versteht sich darin als freie. 15 16
PhG 293. Hegel, Wissenschaft der Logik, ThW Bd. 6, 20.
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An dieser Stelle beginnt jedoch die forcierte Offenlegung der Unzulänglichkeit dieser Gestalt, die skeptische Unterwanderung des animalisch Geistigen, die skeptische Unterminierung der partikularen, der skeptisch-subjektiv idealistischen Subjektivität. Im Zentrum dieses Geltendmachens der Negativität, wogegen diese Form nicht gewappnet ist, steht der Begriff des Werkes, dem erhebliche Bedeutung für Hegels philosophische Theorie des Handelns, für seine Philosophie der Geschichte, der Kunst und der Religion zukommt. Es vollzieht sich der folgenschwere Schritt der Objektivation des Individuell-Subjektiven durch Tun und Handeln, eben der Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist. Die Welt gilt als Werk der subjektiven, spielenden Individualität, sie ist Werke schaffendes Tun, Werk-Schöpfer, allerdings noch nicht Werk-Meister. In der Erfahrung des Werkes, eines Bestimmten, einer vom Tun frei entlassenen, daseienden, äußeren Wirklichkeit kommt die Achillesferse der skeptisch-solipsistischen rein-spielenden Subjektivität, die Defizienz der formalen Selbstätigkeit und des abstrakt-leeren Allgemeinen klar in den Blick. Da jetzt das Allgemeine des Bewußtseins gegen die gesetzte Bestimmtheit, Besonderheit, Endlichkeit steht, das Tun hat diese Unterscheidung selbst konstituiert, ergibt sich die Möglichkeit des Vergleichs mit anderen Werken und anderen Individualitäten, aber eben nicht die Möglichkeit der substantiellen Bewertung beider, keineswegs die Chance der Frage nach der Geltung. Es fehlt der Maßstab zur Beurteilung der Werke. Auf diese Unmöglichkeit der Fixierung eines solchen Maßstabes der Prüfung hatte Sextus Empiricus bekanntlich heftig insistiert, und in seiner Nachfolge alle Vertreter eines konsequenten Relativismus, Subjektivismus oder Perspektivismus. Das bloße Vollbringen um des Vollbringens willen zählt, das Wählen der Triebe und Neigungen, der bloße Vollzug einer zufällig-willkürlichen Lebensform soll sich selbst genug sein – ein praktischer Relativismus, dem im Progressus ad infinitum sein Schicksal widerfährt, in der Erfüllung der selbstverliebt-spielenden Individualität am St. Nimmerleinstag. Ein solches Spielen bleibt letztlich ohne Resultat und ein perpetuierendes Unentschieden. Im Blick auf das Recht als Werk der Freiheit, als Dasein des freien Willens, exponiert Hegel (an anderer Stelle) das Prinzip der einen Geltung, der Objektivität, der Wahrheit. Die sich auf das Vorstellende und Vieldeutige gründende Form der spielenden Subjektivität kann nicht ohne gravierende Probleme auf die Sphäre des Praktischen übertragen werden. In letzterer können keinesfalls mehrere Gesetzbücher oder Verfassungen Gültigkeit haben, es können nicht mehrere weltliche Regenten walten17. Ein 17
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ThW Bd. 16, 383. Auch
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Werk der Welt, der Geschichte ist nicht per se ein Werk der Freiheit, nur weil es sich der Akteur als Resultat seines Tuns zuschreibt, nicht jedes Werk kann als Werk der Kunst Akzeptanz finden, nur weil es der vermeintliche Artifex kreiert hat. Wiederum korrespondierend zum theoretischen Geist und der dortigen Rede vom dunklen, nächtlichen Schacht, der dunklen Seite der Intelligenz, formuliert Hegel hier the dark side of action, die in der Unbestimmtheit des Willens sich gründet. Es geht um den Vorgang des reinen Übersetzens aus der Nacht der Möglichkeit, der Domäne der Willkür, in den Tag der Gegenwart, um den Transfer vom abstrakten An-sich in die Bedeutung des wirklichen Daseins, es werde nur vergegenwärtigt, was in jener Nacht schlief 18. Dieser dunkle Schacht war die Schatztruhe des theoretischen Geistes, der dunkle Brunnen der Intelligenz, die über diese versunkener Bilder-Sammlung zunächst noch keine freie Verfügung besaß, hier im praktischen Geist liegt in diesem Nächtlich-Dunklen sowohl der »Urkeim alles Daseins« als auch die Unbestimmtheit, das Neutrale, die Potentia des willkürlichen Entschließens. Alle Bestimmtheiten sind im Status der Virtualität enthalten, dem existierenden, an sich Allgemeinen, worin das Verschiedene noch nicht als diskret gesetzt ist19, die Bestimmtheiten sind als »bewußtlose«, da erst mit dem Unterscheiden, dem Setzen von Differenz im Lichte der Gegenwärtigkeit das Tun fortgehen kann. Wie in der Einbildungskraft, so liegt auch im reinen, willkürlichen Entschluß zugleich die Möglichkeit der Schaffung von Ungeheuern, der Zerstörung der Freiheit, des Verfehlens der Autonomie, da eben noch keine zureichende Bestimmung des freien Wollens und Tuns erreicht ist. Eben aufgrund dieser Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie der Potentia zum Tun des Guten und Üblen wurde dieses freie Wesen nach christlicher Vorstellung aus dem Paradiese, aus dem Reiche des Unschuldigen und des Tätigkeitslosen, aus »dem Garten der Tiere« 20, vertrieben. Im schlechthin vergänglichen Werk, in der geschaffenen Welt stellt sich die Realität der Individualität eben nicht als vollbracht, sondern als stets verschwindend dar. Das Selbstbewußtsein erfährt die Unangemessenheit seines leeren Begriffs und der Realität, es wird zu dem, was es in Wahrheit ist, – würde der Relativist und Perspektivist wohl einen perspektivistischen Richter ablehnen, der spielend und wie es ihm gerade gefällt auswählt, nach welchem Rechte, nach welchem Gesetzbuche, nach welchem Rechtsgrundsatze er jetzt gerade entscheidet. 18 PhG 299. 19 Hegel, Enzyklopädie, Bd. 10, 260. 20 PhG 562.
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sein leerer Begriff von sich selbst muß verschwinden21. Die Wahrheit der an sich realen Individualität liegt im Grundwiderspruch des Werkes, in welchem sich einerseits Zufälligkeit und Willkür manifestieren und das Werk als eine aus dem Begriff verschwundene, fremde Wirklichkeit, wieder als eine Außen-Welt erscheint. Zugleich ist keineswegs das Verschwinden das Perennierende, das schlechthin Gültige oder Wahre, sondern das Verschwinden verschwindet mit dem Werke selbst. In dieser Negation der Negation, die leeren Objektivismus wie leeren Subjektivismus überschreitet, sieht Hegel das Innerste des spekulativen Idealismus, den letzten Quellpunkt aller Tätigkeit und allen Bewußtseins, den Gedanken der Unendlichkeit als sich auf sich beziehender Negativität, dessen Explikation in der Wissenschaft der Logik erfolge22. In dieser Anwendung der Negativität auf die Negativität haben wir die für Hegel einschlägige, typische Argumentation gegen den skeptischen Relativismus, gegen die egoitäre Subjektivität, das Argument der Relativität wird gegen das Argument der Relativität gerichtet, dies, daß alles Wissen relativ sei, trifft auch auf diesen Satz zu. In dem für die Grundlegung seiner Rechtsphilosophie fundamentalen § 6 lesen wir eine klassische Formulierung dieses Kerngedankens: Die abstrakte Allgemeinheit oder Unbestimmtheit ist selbst zugleich nur ein Bestimmtes. Insofern es sich um die Abstraktion von aller Bestimmtheit handelt, ist diese nicht ohne Bestimmtheit, eben ein Abstraktes zu sein, macht ihre Bestimmtheit und Endlichkeit aus. Als Resümee dieses Argumentationsschrittes wäre mit Hegel festzuhalten: Das vernünftige Selbstbewußtsein reflektiert sich in sich aus seinem vergänglichen Werke und behauptet seinen Begriff und seine Gewißheit als das Seiende und Bleibende gegen die Erfahrung von der Zufälligkeit des Tuns23. Als wahres Werk kann das bislang so bestimmte Werk nicht anerkannt werden, als Werk der Wahrheit kann nur die Einheit des Tuns und des Seins, des Wollens und des Vollbringens gelten. Darin erfährt das Selbstbewußtsein seinen Begriff, in welchem die Welt, die reelle Wirklichkeit ein Moment darstellt. Dieses wahre Werk, das Hegel als die »Sache selbst« beschreibt, ist das schlechthin Bleibende, Absolute, hat seine Substanz, seinen Grund im Geist, im Denken und repräsentiert somit das Prinzip des absoluten Idealismus – das Unendliche oder Absolute als sich auf sich beziehende Negativität, als Geist. In der »Sache selbst« wird die Gestalt der geistigen Tierheit überschritten, die Welt tritt als geistige Wesenheit hervor, das geistige Tierreich wird verlas21 22 23
PhG 301, 302. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ThW Bd. 7, 55. PhG 303/304.
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sen und das einheimische Reich des Geistes betreten. Gegenstand, Werk oder Welt werden erkannt und an-erkannt und zwar als eine Einheit von freier Gegenständlichkeit und der Geistigkeit. Der Geist hat sich als das Eigentliche, Substantielle des Selbstbewußtseins, als dessen Begriff erwiesen.
IV. Die Unmittelbarkeit der Sache selbst Auf der erreichten Stufe befindet sich die Sache selbst zunächst im Status der Unmittelbarkeit, sie ist bloß formale, abstrakte Allgemeinheit in der Weise des einfachen Wesens, welches die einzelnen Momente zwar in sich schließt, aber zu diesen bestimmten Momenten gleichgültig steht, die als solche auseinander und aus der Sache fallen. Es erwächst der unvermittelte Gegensatz zwischen dem reinen Tun Aller und dem einzelnen Tun, weder dem einen noch dem anderen kann allein wahre Subjektivität zugemessen werden, sie stehen gleich-gültig, gleich-wertig zueinander, befinden sich im Zustand der Gleich-Gültigkeit, der Isosthenia. Das Spiel der Individualität avanciert zum Spiel der Individualitäten24, womit eine neue Form der Zufälligkeit und Willkürlichkeit eintritt. Das wahre Werk, die Sache selbst kann Resultat des eigenen Tuns, des Spiels der Partikularität oder Ergebnis des Tuns für das abstrakte Allgemeine sein. Das Zielen in eine Richtung verfehlt die andere, die Individualität betrügt so stets sich selbst und auch die anderen. Eine Auflösung dieser vermeintlichen Aporie kann nur mittels der Einsicht sowohl in die Beschränktheit der Einzelheit in Form isolierter Partikularität als auch der Einseitigkeit der leeren, abstrakten Allgemeinheit gelingen, mittels der denk-gestützten Konstitution einer Einheit von Für-sich-Sein und Sein-für-Andere. Das einzelne, partikulare Selbstbewußtsein muß seine Welt, seine Wirklichkeit als seine und als die Wirklichkeit Aller wissen, diese Art von Einsicht oder von Wissen nennt Hegel das »Wesen aller Wesen«, die Kategorie im Singular. Die Durchdringung von Individualität und Allgemeinheit, das Aufheben der mit dem Animalisch-Natürlichen verbundenen Unmittelbarkeit und Partikularität ins Allgemeine ist Angelegenheit des Gedankens, der Intelligenz, verlangt die Präsenz des Denkens, die Einsicht in die Identität von Sein und Ich, von Ich und Sein. Das Selbst versteht sich als allgemeines Selbst, die »Sache selbst« wird als allgemeine Substanz vorgestellt. Handeln muß nach Maßgabe des Allgemeinen, Sittlichen erfolgen, die »Sache selbst« wäre in Gestalt der auf dem Anerkanntsein des Individuellen fußenden, sittlichen Substantialität zu wissen. 24
PhG 298.
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Klaus Vieweg
Aber dieses Wissen hat nur den Status des formellen Wissens erreicht, eben die mit dem Terminus »Wesen« schon angezeigte Stufe, ein Reflexions- oder Verstandeswissen, dessen Leistungen und Grenzen Hegel in seiner Wissenschaft der Logik scharfsinnig demonstriert. Es wurde zwar eine höhere Stufe der Allgemeinheit erklommen, an die Stelle der abstrakten Allgemeinheit, die außer dem Einzelnen diesem gegenüber steht, rückt die Allgemeinheit der Reflexion, deren Kern die Gemeinschaftlichkeit oder Allheit bildet. Somit mißlingt das vollständige Abwerfen der Unmittelbarkeit. Es wird offenkundig, daß sowohl der Schein des Skeptizismus wie auch die Erscheinung im Idealismus den ‚ganzen mannigfaltigen Reichtum der Welt zum Inhalt haben. Der ganze Umfang der mannigfaltigen Bestimmtheit dieser Welt wird in sich begriffen, somit entkommt auch der transzendentale Idealismus der Unmittelbarkeit nicht durchgängig, Schein und Erscheinung sind unmittelbar bestimmt, der Inhalt wurde nur aus der Sprache des Seins in die Sprache des Scheins übersetzt. Somit scheitert das Unterfangen der vollständigen Überwindung der reinen Unmittelbarkeit. Die inhaltliche Bestimmung seines Werks widerfährt dem Pyrrhoniker, der Inhalt seines Scheins ist ihm bloß unmittelbar gegeben. Das Setzen des Nicht-Ich soll zwar Bestimmtheit des Ich sein, erweist sich aber als bloßes Hinzukommen, als Beschränkung und als bloßes Postulat25. (Laut Klaus Düsing enthält diese Argumentation Hegels Diagnose eines grundlegenden Widerspruchs im transzendentalen Idealismus, des Gegensatzes zwischen der einfachen, unmittelbaren Einheit von Ich und Realität und der Abtrennung des Äußeren vom vernünftigen Ich26). Das absolute Ich soll für sich das Wahre sein, die Beschränkung, das Endliche könne nur hinzukommen, nicht schlüssig abgeleitet werden, so der Kern der schon von Friedrich Schlegel gelieferten Kritik an den beiden ersten Sätzen von Fichtes früher Wissenschaftslehre. Hegel sieht in diesem subjektiven Idealismus eine moderne Variante des Skeptizismus, dieser habe in der modernen Zeit – so Hegel – die Form, »das Selbstbewußtsein oder die Gewißheit seiner selbst als alle Realität und Wahrheit auszusprechen«27. Mit Hinweis auf die spezielle Darstellungsweise rekurriert Hegel in seiner Wissenschaft der Logik auf diese Kritik: »Diese Reflexionsbestimmungen in Form von Sätzen galten als allgemeine Denkgesetze, die allem Denken
25
Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, ThW Bd. 6, 20–21; Grundlinien der Philosophie des Rechts, ThW Bd. 7, § 6. 26 Klaus Düsing, Der Begriff der Vernunft in Hegels Phänomenologie, in: Phänomenologie des Geistes, hg. v. Dietmar Köhler und Otto Pöggeler, Berlin 2006, 151 ff. 27 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ThW Bd. 20, 270.
Das geistige Tierreich oder das schlaue Füchslein
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zum Grunde liegen, an ihnen selbst absolut und unbeweisbar seien, von jedem Denken unmittelbar und unwidersprochen als wahr anerkannt und angenommen werden«28. Und genau dieses unausweichliche Zurückgeworfenwerden auf das unmittelbar Unreflektierte ergibt sich aus dem Tun des formellen Wissens, das praktisch sich Gesetze gibt und dann theoretisch sich als urteilende Instanz geriert. Zum einen liege in der Rede von der Beschränkung meiner Freiheit oder Willkür, daß sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, nur die negative Bestimmung der Beschränkung, zum anderen laufe die positive Bestimmung im allgemeinen Vernunftgesetz auf die bloß formelle Identität und den Satz des Widerspruchs hinaus29, verharre also in Reflexionsbestimmungen. Diese Überlegungen in den Passagen zur gesetzgebenden und gesetzprüfenden Vernunft, die hier aus Zeitgründen nicht näher zur Debatte stehen, werfen die Individualität auf die sittliche Substanz als das Rechte, das Recht im Sinne des unmittelbaren Wissens der sittlichen Substanz zurück, auf ein an und für sich seiendes Allgemeines, das jetzt aufgrund der Überwindung des Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft endlich zu Recht als das Vernünftige bezeichnet werden darf und daß nur auf spekulative Weise gefaßt werden kann30. Mit anderen Worten: Es hat sich schlüssig ein Wissen ergeben, das eine spekulative Einheit der substantiellen, antiken Polis-Sittlichkeit und der ebenfalls für sich nur einseitigen frei-spielenden Individualität zu denken vermag, eine Einheit der freien Subjektivität und der diese Freiheit realisierenden Gemeinschaft, einen Gedanken, den Hegel an vielen Stellen als Prinzip der Modernität schlechthin auszeichnet. Dies Ganze, die Vernunft selbst, ist darin Geist, erfüllt jetzt die Struktur des Geistigen, muß also als Geist genommen werden. Sie ist sich – so Hegel an prominenter Stelle, am Anfang des Geist-Kapitels der Phänomenologie – selbst als »ihrer Welt und der Welt als ihrer selbst bewußt«31 – eine Kernbotschaft des monistischen Idealismus. Der Zusammenhang der drei Leitbegiffe »Geist«, »Welt« und »Geschichte« tritt hierin hervor. Sich gründend auf dieses Fundament können die Gestalten der Welt als Stufen der Selbstbestimmung freier Wesen in den Blick kommen, die Geschichte der Welt als Werk der Freiheit, die Weltgeschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Dies ermöglicht Antworten auf die Frage, unter 28 29 30 31
Hegel, Wissenschaft der Logik, ThW Bd. 6, 36. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ThW Bd. 7, 81. Ebd., 75. PhG 324.
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welchen Prinzipien die Freiheit zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet werden kann. In dem bis hierher generierten spekulativen Verständnis des Geistes als eines freien und denkenden, in einem solchen Monismus sieht Hegel die alte Kluft zwischen theoretischem und praktischen Geist, den Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft überwunden. Diese Einheit des sich im Tun durchsetzenden Denkens und des auf dem Denken sich gründenden Tuns akzentuiert Hegel in seiner Bestimmung des freien Willens, in welchem das wahrhaft Unendliche, absolute Wirklichkeit und Gegenwart habe. Der Wille ist ein freier, insofern er schlechthin bei sich ist, sich auf nichts als sich selbst bezieht, und so alle Verhältnisse der Abhängigkeit von etwas Anderem, alle Heteronomie abstreift. Er ist aber darin auch wahr oder die Wahrheit selbst, weil sein Bestimmen darin besteht, in seinem Dasein, in seiner Welt, als sich Gegenüberstehendes zu sein, was sein Begriff ist.32 Das Selbstbewußtsein, das durch das Denken sich erfaßt und darin das Zufällige und Unwahre überschreite, gilt als das Prinzip des Rechts, der Sittlichkeit. Wer von Sittlichkeit spreche und das Denken exkludieren wolle, der – so der emphatische Ausruf und die Warnung Hegel – öffne den Weg in die Gedankenlosigkeit und die Barbarei, raube den Menschen alle Wahrheit und alle Würde. In diesem Sinne ergeht am Schluß von Goethes Reineke Fuchs der Appell, daß Jeder das Böse vom Guten zu scheiden möge und sich zur Weisheit bekehre, um die Gestalt des Menschengeschlechts in seiner ungeheuchelten Tierheit hinter uns zu lassen. Insgesamt öffnet der Gedankenweg den Blick darauf, daß der Geist die vorherigen Gestalten als einseitige, isolierte Momente zur Voraussetzung hat, daß der skizzierte Fortgang im Kern ein Kreis, ein Rückgang in den Grund war, in den Grund, welcher der Geist selbst ist, somit ein Schritt in der Begründung eines monistischen Idealismus der Freiheit. Um den Kreis dieser Überlegungen zur Überwindung des Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft zu schließen, gestatte ich mir zum Schluß auch einen Rückgang, nämlich zum Anfang und zu Goethe: Ein schlaues und geistreiches Füchslein, dieser Hegel.
32
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ThW Bd. 7, 75.
Formen moralischer Freiheitsbetrachtung Gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft Michael Wladika (Wien/Heidelberg)
Will man das Auftreten moralischer Freiheitsauffassung verstehen, so empfiehlt es sich, von der allgemein leicht aufzufassenden und in concreto dann so vielfältig schwer vollziehbaren Einsicht auszugehen, »daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung«1.
Alle Umstandslosigkeit ist immer bezogen auf bestimmte Umstände, genauer auf die relative Anfänglichkeit, Unmittelbarkeit neuer Erfahrungsformen. Das ist das eine. Das andere ist dies, daß alle Reflexionskultur davon abhängig ist, daß sie nicht, mit dem späten Fichte gesprochen, zu Ende reflektiert2. Uns interessiert zunächst das erstere, im weiteren dann vor allem das letztere. I. Moralische Freiheitsbetrachtung Moralische Freiheitsbetrachtung, für wie selbstverständlich sie sich und wir sie heute vielfach nehmen mögen, ist unendlich vermittelt. Sie ist, zunächst, wenn wir knapp und systematisch sprechen, eine wesenslogische Angelegenheit, wobei, breit gesagt, die grundsätzlich wesenslogischen Erfahrungsformen in den Abschnitten ›Selbstbewußtsein‹ und ›Vernunft‹ der Phänomenologie des Geistes vor uns stehen. Diese Abschnitte vermögen das Ich als wesenslogisches Prinzip nicht grundsätzlich zu transzendieren. Das Ich als wesenslogisches soll als reines Prinzip, als oberster Nagel zur Aufhängung aller rein wesenslogischen Bestimmungen wie Bestimmtheiten dienen. Zu diesem Behuf wird es letztlich als unmittelbares Selbstbewußtsein gefaßt, welches es nicht gibt, welches vielmehr aus Eindeutigkeitsgründen gefordert ist. Hegel spricht vom Ich als wesenslogischem etwa so: 1
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, in: Werke, 20 Bde., auf der Grundlage der Werke v. 1832–1845, Redaktion E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt/M. 1986, Bd. 5, 66 (=ThW). 2 Siehe J.G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. Vorgetragen im Jahre 1812, in: Sämmtliche Werke, hg. I. H. Fichte, Berlin 1834/35 u. 1845/46, Nachdruck Berlin 1971, Bd. 10, 325 f.
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Michael Wladika
»Ich bin somit die unmittelbare Negativität«3.
Und: »Diese Idealität, dies Feuer, in dem alle Bestimmungen sich aufzehren, ist auf diesem Standpunkte noch unvollendete Negativität. … Ich allein bin selbst noch positiv, da doch alles nur durch Negation soll affirmativ werden. Der Standpunkt widerspricht sich so selbst. Er setzt die Idealität als Prinzip, und das die Idealität Vollführende ist selbst nicht ideal«4.
Dieser Anfangspunkt der Wesenslogik nun ist der Anfang des Selbstbewußtseins in der Phänomenologie, reine Selbstgewißheit, welche unmittelbare, ursprüngliche Selbstgewißheit ist. »Der notwendige Fortgang von den bisherigen Gestalten des Bewußtseins, welchen ihr Wahres ein Ding, ein Anderes war als sie selbst, drückt eben dies aus, daß nicht allein das Bewußtsein vom Dinge nur für ein Selbstbewußtsein möglich ist, sondern daß dies allein die Wahrheit jener Gestalten ist«5.
Wo dem Ich sein Wahres ein ihm anderes ist, ist es ›Bewußtsein‹. Wo es eingesehen hat, daß ›das Bewußtsein vom Dinge nur für ein Selbstbewußtsein möglich ist‹, ist es ›Selbstbewußtsein‹, ›idealer, bodenloser Boden‹, und, wo von dieser Voraussetzung aus an die Erforschung der theoretischen und praktischen Welt gegangen wird, ›Vernunft‹. Wo es eingesehen hat, daß das Selbstbewußtsein die nun nicht mehr nur subjektive, sondern objektive Wahrheit der Dinge ist, ist es ›Geist‹. Auf daß es Geist werden kann, ist erforderlich der Weg von der Gewißheit zur Wahrheit des Selbstbewußtseins, der Weg von der Selbstgewißheit zur Selbsterkenntnis. In ihm hebt sich die Unmittelbarkeit von Selbstbewußtsein auf, wobei Reinheit und Unreinheit gemeinsam wachsen. Man kann sich sogar so ausdrücken, daß im letzten, für uns unmittelbar gegenständlichen Kapitel des Vernunftabschnitts erst die Spitze moralisch-wesenslogischer Subjektivität erreicht ist. Hegel hinsichtlich des Vernunftabschnitts, auf die Bewegungen des ›Unglücklichen Bewußtseins‹ zurückblickend: »[Das Bewußtsein hat] sein Fürsichsein aus sich hinausgerungen und es zum Sein gemacht«6.
3 4 5 6
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: ThW, Bd. 16, 181. Ebd., 183. Hegel, Phänomenologie des Geistes (=PhG), in: ThW, Bd. 3, 135. Ebd., 178.
Formen moralischer Freiheitsbetrachtung
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Dies Sein wird die ganze ›Vernunft‹ hindurch noch nicht objektives Selbstbewußtsein sein. Deswegen bleiben deren Bewegungen wesenslogische, solche, in welchen über die Unmittelbarkeit von Ich nicht wirklich hinausgegangen wird. Deswegen bleibt, typologisch gesprochen, der Idealismus auch der praktischen Vernunft der Phänomenologie subjektiver Idealismus. Die Vernunft ist das Selbstbewußtsein, das in Wahrheit für sich sich als subjektives nicht verlassen hat, aber durch das an sich vorgegangene Sichmit-sich-Zusammenschließen stark genug geworden ist, sich mit Objektivem zu beschäftigen. Das Ich ist hier als Ich immer noch subjektiv geblieben, objektiv wird es im Geist. Dies Subjektiv-Bleiben breitet sich nun letztlich in moralischer Freiheitsauffassung aus. Für diese kann uns für immer am bequemsten das Kantische Denken stehen, das der kopernikanischen, der transzendentalphilosophischen Revolution. Wir fragen transzendentalphilosophisch und in moralischer Freiheitsbetrachtung nicht nach den Dingen, den Weltinhalten, den Tugenden, wir sagen nicht, was diese sind. Wir fragen vielmehr zunächst, was erforderlich ist, wenn unter formallogischen Voraussetzungen Erkenntnis von Gegenständen möglich sein soll. Was hier erforderlich ist, ist prinzipiell zu setzen. Soweit in bezug auf die theoretische Philosophie. In der praktischen Philosophie7 fragt Kant entsprechend nach den Bedingungen der Möglichkeit ethisch guter Selbstbestimmung. Welches sind die Voraussetzungen dafür, daß ich von einer Handlung kritikfest sagen kann, sie sei gut? Man kann, wenn man sich nur an das diesbezüglich Bekannteste erinnert, leicht sehen: In Beantwortung der Frage nach dem Guten können wir nicht von bestimmten Inhalten, die vorweg als gut angesetzt werden, auch nicht von bestimmten Tugenden ausgehen. Vielmehr ist reflexionslogisch ganz konsequent allein »die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung«8 als dasjenige zu qualifizieren, welches das praktische Gesetz zum praktischen Gesetz macht, welches das Gute zum Guten macht. Die Gesetzlichkeit selbst ist hier zum Gesetz erhoben. »Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektiv-praktischen Prinzipien d. i. Maximen entweder gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken, 7
Natürlich gibt es hier nicht zu verhandelnde Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen Kantischer theoretischer und Kantischer praktischer Philosophie. Die praktische kommt im Verhältnis zur theoretischen, wie besonders Bruno Liebrucks (Sprache und Bewußtsein, Bd. 3: Wege zum Bewußtsein. Sprache und Dialektik in den ihnen von Kant und Marx versagten, von Hegel eröffneten Räumen, Frankfurt/M. 1966, bes. 368–379) herausgearbeitet hat, einigermaßen metaphysisch daher. 8 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 49.
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oder es muß annehmen, daß die bloße Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zum praktischen Gesetze mache«9.
Maximen und Gesetze stehen nicht nebeneinander. Maximen sollen zugleich als Gesetze gedacht werden können; und sie haben bestimmte Inhalte. Die Gesetzlichkeit soll sich von sich zu bestimmtem Inhalt abstoßen und in diesem doch bei sich sein. Es handelt sich hier um Forderungen. Es geht um die anzusetzenden Bedingungen der Möglichkeit dessen, das ›Wörtchen‹ ›gut‹ einwandsimmun zu gebrauchen. Unter diesem Generalthema steht alles, was moralische Freiheitsauffassung konsequent entwickelt; diese buchstabiert jenes aus, ethisch, geschichtsphilosophisch, religionsphilosophisch. Kant hat gezeigt, daß die Verallgemeinerungsfähigkeit einer Maxime Moment ihrer Sittlichkeit sein muß10. Ein bloß besonderes Handeln ist kein sittliches Handeln und ist kein Handeln. Daß die Verallgemeinerungsfähigkeit einer Maxime allerdings mit ihrer Sittlichkeit zusammenfällt, wie dies Kant vorträgt und vortragen muß, wie es der Inhalt des kategorischen Imperativs ist, das ist – die moralische Ansicht von der Sache.
1. Der Ansatzpunkt gesetzgebender und gesetzprüfender Vernunft Der Ansatz-, der Anfangspunkt der Erfahrungsstufen, die wir hier betrachten wollen, ist charakterisiert durch a) Metaphysiktranszendenz, b) Aufgehobensein der Dichotomie von theoretischer und praktischer Vernunft und c) praktische Entsprechung von Selbst und Sache. a) Das Erste ist hier die Kantische Einsicht. b) Das Zweite ist die Einsicht, die sich ergibt, wenn über Kant hinaus, allein weiterhin rein transzendentalphilosophisch – also mit dem Jenaer Fichte – die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft gedacht und somit der Primat der praktischen Vernunft radikalisiert wird. c) Das Dritte ist die Einsicht, die sich ergibt, wenn über Kant hinaus reine Transzendentalphilosophie betrieben wird und – mit dem Jenaer Fichte – die metaphysischen Eierschalen bei Kant abgelegt werden, wobei man natürlich sehen kann, wie viel konkreter diese in der Phänomenologie stufenweise abge-
9
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 49. Ich verweise nur auf seine Argumentationen im Zusammenhang mit dem Depositum-Beispiel in der Anmerkung zu § 4 der Kritik der praktischen Vernunft (A 49 f.). 10
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arbeitet werden, nicht durch eine prinzipielle Reflexion entfallen, obwohl wir uns hier, im Vernunftabschnitt, ja weiterhin im Prinzipienbereich aufhalten, allein so, wie sich dieser auf ein Sein zurück- und vorbewegt. Ein wenig langsamer nun, vor allem von den Worten her, die wir direkt bei Hegel lesen: Die einfacheren Formen praktischer Vernunft sind zunächst einmal vorbei, jene, wie dies die ersten Worte des Kapitels ›Die gesetzgebende Vernunft‹ aufbewahren, in denen »die ursprünglich-bestimmte Natur des Individuums«11 noch ihre unmittelbar affirmative, »positive Bedeutung«12 hatte. Dies ist nun »verloren«13. Allein es scheint vorderhand gar kein Verlust, die ja wichtigen und auch bemühten Unterschiede und Bestimmungen, die uns von der Lust bis zur Sache selbst halten, sind einfach untergegangen. Denn wir denken jetzt wieder. Denken. Mit diesem ist die Freiheit da. Das ist zunächst einmal im Selbstbewußtsein so: »Denn nicht als abstraktes Ich, sondern als Ich, welches zugleich die Bedeutung des Ansichseins hat, sich Gegenstand sein oder zum gegenständlichen Wesen sich so verhalten, daß es die Bedeutung des Fürsichseins des Bewußtseins hat, für welches es ist, heißt denken«14.
Im Denken bin ich mir gegenständlich ansichseiend. Das ist – wohlgemerkt: im Selbstbewußtsein – die nächste Stufe, der Stoizismus als »die Freiheit, welche … immer … in die reine Allgemeinheit des Gedankens zurückkommt«15. So frei muß man erst werden. Das sind wir dann – in mehrfacher Hinsicht – moralisch gesetzgebend wieder. Dem Stoizismus ist das Herrschaft-Knechtschaft-Verhältnis gleichgültig geworden16. So der gesetzgebenden Vernunft »Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen«17. All diese großen Dinge, an denen uns doch so viel liegt und dann vor allem bildungsmäßig so viel liegen wird18. Es kann selbstverständlich erscheinen, daß dies ethisch
11
Hegel, PhG 311. Ebd., 311. 13 Ebd., 311. 14 Ebd., 156. 15 Ebd., 157. 16 Ich darf hier verweisen auf Michael Wladika, »›Ich bin der Kampf.‹ Das unglückliche Bewusstsein und seine misslungene Aufhebung in der Moderne«, in: Hegel-Jahrbuch 2004. Glauben und Wissen, 2. Teil, hg. A. Arndt et al., Berlin 2004, 267–274. 17 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 1/B 1. 18 Also im zweiten Drittel des Geistabschnitts. 12
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im Verhältnis zu einem »guten Willen«19 vollständig zu vernachlässigen ist; es ist es aber nicht, dies Für-selbstverständlich-Halten ist vielmehr Resultat, Resultat einer der Selbstbewußtseinsbewegung vom Knecht zum Stoiker entsprechenden Bewegung in der praktischen Vernunft20. Wir hörten eben: Dem denkend gewordenen selbstbewußten Ich hat dies, Ich, zugleich die Bedeutung des Ansichseins. Hier nun: »Die Kategorie ist an sich, als das Allgemeine des reinen Bewußtseins; sie ist ebenso für sich, denn das Selbst des Bewußtseins ist ebenso ihr Moment. Sie ist absolutes Sein, denn jene Allgemeinheit ist die einfache Sichselbstgleichheit des Seins«21.
So ist Sein nun praktisches Denken. Damit muß man kurz vergleichen, was im einleitenden Teil zum Vernunftabschnitt steht: »Die Kategorie, welche sonst die Bedeutung hatte, Wesenheit des Seienden zu sein, unbestimmt des Seienden überhaupt oder des Seienden gegen das Bewußtsein, ist jetzt Wesenheit oder einfache Einheit des Seienden nur als denkende[r] Wirklichkeit; oder sie ist dies, daß Selbstbewußtsein und Sein dasselbe Wesen ist«22.
Da sind viele Einseitigkeiten, die folgen, solche, die die beiden genannten Seiten nur auseinandertreten lassen, wie wir sie den Vernunftabschnitt hindurch verfolgen23. Jetzt ist erreicht: »Die praktische Vernunft, die für alle gültige Gesetze enthält, ist eine neue Stufe der Einheit von Selbstbewußtsein und Sein«24. Diese praktische Vernunft nun ist Auslegung bzw. Aussprechen – oder vielleicht doch besser Auslegung, um an die genaue systematische Stellung des ›Absoluten‹ im Gang der Wissenschaft der Logik auch von diesem Wort her zu verweisen25 – des Wahren eben als des nun für das Bewußtsein Absoluten, neben dem es kein Wissen und auch keine Interessen mehr hat: 19
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 1/B 1. Man muss als weitere, nicht äußerliche Entsprechung jene Bewegung vom Bildungs-, Entfremdungsabschnitt in die Moralität hinzufügen. 21 Hegel, PhG 311. 22 Ebd., 181. 23 Siehe dazu etwa auch kurz und sehr gut: Thomas Sören Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, 269 f., und Walter Jaeschke, HegelHandbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart Weimar 2003, 189 f. 24 Ludwig Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹. Ein einführender Kommentar zu Hegels ›Differenzschrift‹ und zur ›Phänomenologie des Geistes‹, Frankfurt/M. 2000, 166. 25 Siehe Hegel, Wissenschaft der Logik II, in: ThW, Bd. 6, 187–191. 20
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»Denn das Selbstbewußtsein kann und will nicht mehr über diesen Gegenstand hinausgehen, denn es ist darin bei sich selbst: es kann nicht, denn er ist alles Sein und Macht, – es will nicht, denn er ist das Selbst oder der Willen dieses Selbsts«26.
Wie ist diese Auslegung nun zunächst wirklich? Als Aristotelische Phronesis etwa? Als der Humesche ruhige Affekt des »allgemeinen Verlangens nach einem Guten und der Abneigung gegen das Übel (the general appetite to good, and aversion to evil)«?27 Als Kantische Gewissensprüfung? Hegel spricht bereits von »sittliche[r] Substanz«28 und dieser entsprechendem »sittliche[m] Bewußtsein«29; was sittlich ist, ist »unmittelbar anerkannt«30. Was kann da noch mangeln?
2. Systematische Leistung im Gang des erscheinenden Geistes Wir wissen nun immer bereits um die Allgemeinheitsbedeutung unserer Handlungen. Wie rein ist diese Allgemeinheit von Handlung, Maxime, Gewissen usf.? Wie prinzipiell? Wie geschichtslos? Man kann sagen, daß die systematische Leistung der Kapitel über die gesetzgebende und die gesetzprüfende Vernunft die einer Verunreinigung, die einer Vergeschichtlichung ist. Man kann hier weiter letztlich auch sehen, daß dies immer so ist, wo Kantisch eine bestimmte Pflicht abgeleitet werden soll. Immer transzendieren wir da die Unmittelbarkeit unseres Wissens um das Wahre qua Absolute31. Das liegt, so scheint es zunächst, noch nicht an der Bestimmtheit, die doch stets Unterschiedenheit und damit Vermitteltheit einschließt, selbst: Der reale Gegenstand der Vernunft, der den Unterschied zwischen sich und dem Bewußtsein, der aber keiner ist, in sich hat, »er teilt sich in Massen, welche die bestimmten Gesetze des absoluten Wesens sind. Diese Massen aber trüben den Begriff nicht«32.
26 27
Hegel, PhG 312. David Hume, A Treatise of Human Nature, II, II, 3, hg. P. H. Nidditch, Oxford 21978,
417. 28 29 30 31 32
Hegel, PhG 311. Ebd. Ebd., 312. Siehe Hegel, PhG 312. Hegel, PhG 312.
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Michael Wladika
Jede dieser Massen ist Kategorie, bestimmtes Sein, das praktisches Denken ist. Die gesunde qua allgemeine Vernunft, jene, die nicht durch die Fixiertheit einer Besonderheit gefesselt ist, weiß daher unmittelbar und spricht unmittelbar aus »bestimmte Gesetze«33. Das kann man alles doppelt lesen: Zum einen ist dies in einem absoluten Sinne so – wir werden es im wahren Geist wiederfinden34. Zum anderen ist all dies hier zunächst noch so zu denken, daß es einem Selbstbewußtsein aus sich heraus, also aus sich nicht konkretisierender Autonomie und daher zunächst einmal im weiten und leeren Reiche des nur Möglichen wandernd möglich sein können soll. Diese allgemeine Vernunft qua Möglichkeit, sie bringt keine Wirklichkeit hervor. Sie vermag nicht, sich zu verbesondern. Es gibt überhaupt nichts, welches sich schlicht zu verbesondern vermöchte. Das ist eine Allaussage. Damit aber ist es nichts mit dem Geben von Gesetzen. Doch auch das Prüfen »reicht … nicht weit«35. Denn dieses ist eine unmögliche Rückzugsbewegung. Setzen wir das wichtige Zitat gleich hier her: »Der einfachen Substanz – und ihr Wesen ist dies, einfache zu sein – ist jede Bestimmtheit, die an ihr gesetzt wird, ungemäß. Das Gebot in seiner einfachen Absolutheit spricht selbst unmittelbares sittliches Sein aus; der Unterschied, der an ihm erscheint, ist eine Bestimmtheit und also ein Inhalt, der unter der absoluten Allgemeinheit dieses einfachen Seins steht. Indem hiermit auf einen absoluten Inhalt Verzicht getan werden muß, kann ihm nur die formale Allgemeinheit oder dies, daß es sich nicht widerspreche, zukommen; denn die inhaltslose Allgemeinheit ist die formale, und absoluter Inhalt heißt selbst soviel als ein Unterschied, der keiner ist, oder als Inhaltslosigkeit«36.
Beide, gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft, zeigen zusammen – und dies ist ihre systematische Leistung –, daß prinzipielle, geschichtslose Auffassung von Handlungsbestimmung gerade dort, wo diese als notwendig allgemein, ja als notwendig absolut erkannt ist, unhaltbar ist.
33 34 35 36
Ebd. Siehe etwa gleich Hegel, PhG 328 f. Hegel, PhG 317. Ebd., 315 f.
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3. Grundsätzliche Grenze der praktischen Vernunft Praktische Vernunft vor ihrer Auflösung in den Geist ist charakterisiert durch bleibende Formalität, bleibend Wesenslogisches. Wo das Ich noch nicht eine Form von Geist, also von substantiell-subjektiver Wirklichkeit schlechthin ist, sondern vielmehr prinzipiell reflektierend dem Sein von Gemeinschaft und Geschichte gegenübersteht, da ist es nicht nur erst Gestalt des Bewußtseins und noch nicht einer Welt37, sondern, was unmittelbar damit zusammenhängt, letztlich inhaltsfrei. In einem werden Inhaltsfreiheit und Seinsmangel überwunden. Sie werden überwunden in jener Wirklichkeit, die Hegel ›Sittlichkeit‹ nennt. Sittlichkeit bedeutet die objektive Gestalt, die Freiheit in einer bestimmten Gemeinschaft immer schon gewonnen hat. Von ihr ist Freiheit als abstrakt rechtliche und als moralische – wie auch immer sie ausgebildet sind – abhängig und bestimmt. Sittlichkeit bedeutet die Einheit von Mensch und Menschheit als eine nicht nur gedachte, sondern ebensosehr wirkliche, als Gemeinschaft. Daß eine solche Einheit abstrakt rechtlicher und moralischer Freiheitsform vorausgesetzt ist, läßt sich auf einigermaßen leicht nachvollziehbare Weise in Erinnerung an die Bestimmung ›Anerkennung‹ einsehen, Anerkennung nämlich im Fichteschen und im Hegelschen Denken. Es ist solche sittliche Wirklichkeit der Freiheit nichts Kontingentes; allerdings macht sie sich auch nicht einfach von selbst38. Subjektive Verwirklichung der Freiheit ist letztlich nur möglich als allgemein wirkliche objektive, indem der Mensch also als Moment einer Gemeinschaft handelt. Jede seiner sittlichen Handlungen ist dann sowohl (in einem, untrennbar) seine und die der Gemeinschaft, in deren Zeichen er sich bestimmt, in der er steht. Der Inhalt der Handlung, zu dem der Mensch sich bestimmt, muß nicht nur allgemeiner, sondern auch wirklicher sein, er kann nicht nur ein Sollen, muß ebenso ein Sein sein. Sein Sein ist seinem Sollen vorausgesetzt. Das geht, um es eigens dazuzusagen, nachdem uns die Bewegung der praktischen Vernunft ja nicht vergeblich oder vergessen sein soll, in keiner Weise, um gleich die Subjektivitätsmomente zusammenzunehmen, gegen das Gewissen – so sehr dies manche meinen, Herbert Schnädelbach, auch in
37
Siehe Hegel, PhG 326. Ich darf verweisen auf meine Darstellung unter anderem des Zusammenhangs von Individualismus, Primitivisierung und Kosmopolitismus in »Entpolitisierung, Institutionenverfall. Überlegungen zur grundsätzlichen Bedrohung der inneren und äußeren Sicherheit«, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, 2/2003, 131–140. 38
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seinem in Vielem doch so hervorragenden Buch Hegels praktische Philosophie, wäre ein prominentes Beispiel.39 Das Gewissen ist praktisches Bewußtsein und somit Sollen bestimmter Pflicht. So ist es sich auslegend, und zwar bestimmt auslegend. Es ist kein bloßes Sein, kein bloßes Sollen, sondern Entwicklung dessen, was im Begriff der Freiheit liegt, der so Epochen40 seines Ausgelegtseins bildet, Stufen der »Erinnertheit dieses individuellen Ichs an seinen Grund, die Ichheit überhaupt«41. Nun ist diese Auslegung immer schon. Immer schon findet sich das individuelle Ich in einer Wirklichkeit als Ausgelegtheit von Freiheit – dies ist Hegels Begriff der Sittlichkeit, der sittlichen Substanz – vor, wobei dies Finden zugleich Setzen des Gewissens ist. Das erstere ist so notwendig wie das letztere; ansonsten fällt das individuelle Ich zum bloß empirischen, das Gewissen zur Willkür herab. Auch im Bereich der Ethik ist es sinnvoll und auch Pflicht, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Rad schon erfunden wurde. Ansonsten handelt man, von schon erreichtem Freiheitsniveau aus, willkürlich. Die Willkür aber ist schon den kategorischen Imperativ nicht ernst nehmend. Die Identität im individuellen Gewissen hingegen, die Identität von objektiv ausgelegtem Guten und subjektiver Gewißheit desselben, ist immer auf bestimmter Stufe wirklich. Das ist der praktischen Vernunft noch transzendent; das ist ihre Grenze.
II. Bestimmtere Inhalte und Formen moralischer Freiheitsbetrachtung Die Unmittelbarkeit allgemeiner praktischer Vernünftigkeit bringt das Ausgehen von Beispielen mit sich, diese Form unmittelbarer Betrachtung42. 39
Siehe Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt/M. 2000, etwa 345 u. ö. 40 Um Schellings Wort aus dem System des transzendentalen Idealismus hereinzunehmen: »Die Philosophie ist also eine Geschichte des Selbstbewußtseins, die verschiedene Epochen hat, und durch welche jene Eine absolute Synthesis sukzessiv zusammengesetzt wird.« (III. Vorerinnerung). 41 Franz Ungler, »Zu Fichtes Theorie des Gewissens«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. 12, Wien 1979, 212–235, 217. 42 Die Bezüge zur »sinnlichen Gewißheit« sind deutlich, werden von Hegel ja auch eigens angesprochen (siehe Hegel, PhG 312 f.). Interessant wäre im Zusammenhang eine Untersuchung der Stelle Hegel, PhG 328, an welcher Hegel in bezug auf das unmittelbare Wissen des sittlichen Seins qua sittlicher Welt den Übergang von sinnlicher Gewißheit zu Wahrnehmung anspricht.
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1. Jeder soll die Wahrheit sprechen. Die gesetzgebende Vernunft ist sich unmittelbar Einheit von Sein und Sollen. Bruno Liebrucks sagt dies wunderbar genau: »Sittlich sein heißt: werde der, der alle sein sollen«43. So spricht sie denn dies Gesetz aus. Aber es ist zu rein. So, wie das Bewußtsein, das hier spricht, zu rein ist. Das tritt ans Tageslicht: »Wie die sinnliche Gewißheit, so kann auch die sittliche unmittelbare Gewißheit nicht sagen, was sie meint«44. Erst allmählich, nicht ohne weiteres bringen wir die Momente zusammen, die in ›Jeder soll die Wahrheit sprechen‹ enthalten sind. Über die erforderliche Einschränkung auf jene Momente der Wahrheit, die gewußt werden, die Unbestimmtheit, ja »Zufälligkeit«45, die damit da ist, usf. Den »allgemeinen und notwendigen«46, also apriorischen »Inhalt«47, den die Form praktisch gesetzgebender Vernünftigkeit fordert, ihn bringen wir mit dieser Zufälligkeit so nicht zusammen. »Es ist klar, daß Hegel hier nicht das Kantische Lügenverbot als in sich widersprüchlich widerlegt, sondern ein bestimmtes sittliches Bewußtsein kritisiert: Die einfachen unbedingten Gebote sind in Wahrheit keine unmittelbaren Anweisungen, etwas Bestimmtes zu tun. Sie sind in sich mehrstufig und mannigfaltig situations- und umständebezogen«48.
2. Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Man sieht sogleich, daß dies Gebot auf dieser Stufe zwar gesprochen wird, allein es ist noch leichter, noch direkter ›unaussprechbar‹: Der Einzelne steht hier vor dem Einzelnen, welcher allerdings noch nicht als der Einzige gefaßt werden kann; es handelt sich um ein »Verhältnis der Empfindung«49, welches
43
Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5: Die zweite Revolution der Denkungsart. Hegel: ›Phänomenologie des Geistes‹, Frankfurt/M. 1970, 177. Vor allem das letzte Wort ist ganz genau. 44 Ebd., 179. 45 Hegel, PhG 313. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹, 168. 49 Hegel, PhG 314.
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sich praktisch vernünftig sogleich in ein solches des Verstandes verkehren muß. Damit aber ist dies Gesetz als unmittelbar ausgesprochenes sofort weg. »Solche Gesetze bleiben nur beim Sollen stehen, haben aber keine Wirklichkeit«50.
Allgemeines und Besonderes fallen eben nicht direkt, sondern immer geschichtlich vermittelt zusammen. Soll dies nicht so sein, so fallen sie nicht zusammen51. Das aber sollen sie Kantisch. Es ist somit problematisch, sich in bezug auf die eben zitierten Worte Hegels so auszudrücken: »Darin klingt zwar Hegels Kritik an Kants Verständnis von Sittlichkeit als einem nie ganz erfüllbaren Sollen an; aber entscheidend ist auch hier zunächst ein unmittelbares Verständnis sittlicher Gesetze als unbedingt gültiger, zugleich allgemeiner wie konkreter Handlungsanweisungen«52.
Eben dies unmittelbare Verständnis ist das Kantische Verständnis. Das ›ebensosehr‹ oder das ›zugleich‹, das zwischen Maxime und Gesetz zu schieben ist, es bleibt geschichtlich und damit überhaupt unentfaltet53. Wo ist denn die Nächstenliebe nicht nur ein Sollen? Wo hat denn die Nächstenliebe Wirklichkeit? Nicht dort, wo sie nur Gebot ist. Das Kantische praktische Denken, wie Hegel es eben gefaßt hat, es ist alttestamentarisches Denken54. Was darüber hinausführt, dazu mehr in II. 3. Zunächst aber noch eines zu der Formulierung des Gebotes der Nächstenliebe bei Hegel und einer diesbezüglichen frühen Textstelle. In Der Geist des Christentums und sein Schicksal entwickelt Hegel eine transdualistische Lehre von Freiheit qua Vereinigung. Zwei Kernsätze diesbezüglich: »Die Liebe selbst spricht kein Sollen aus«55. 50
Ebd., 315. Siehe dazu Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 3, 379 ff. 52 Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹, 169. 53 Man kann sich, auf den Beginn des Kapitels ›Die gesetzgebende Vernunft‹ blickend, salopp so ausdrücken: »Jetzt handelt es sich nur noch darum, jene für die Sittlichkeit insgesamt konstitutive Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besonderen am konkreten Fall zu verifizieren und den Aufweis der dabei auftretenden Schwierigkeiten.« (Frank-Peter Hansen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel: ›Phänomenologie des Geistes‹. Ein einführender Kommentar, Paderborn 1994, 94). 54 Vgl. dazu vielfältig Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: ThW, Bd. 1, 274–418, bes. diesbezüglich zu Abraham, und dazu auch gut Charles Taylor, Hegel, übers. G. Fehn, Frankfurt/M. 41998, 93. 55 Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, 363. 51
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Und: »Gott lieben ist sich im All des Lebens schrankenlos im Unendlichen fühlen«56.
Von daher nun: »Liebe deinen Nächsten als dich selbst heißt nicht, ihn so sehr lieben als sich selbst; denn sich selbst lieben ist ein Wort ohne Sinn; sondern: liebe ihn als [einen,] der du ist; ein Gefühl des gleichen, nicht mächtigeren, nicht schwächeren Lebens. Erst durch die Liebe wird die Macht des Objektiven gebrochen«57.
Selbstliebe ist sinnlos, ein Wort, das unmittelbar Widersprüchliches aussagt, so, wie dies bei jeglicher Form von gemeintem unmittelbarem Selbstbezug so ist. Einheit ist immer nur im Unterschied. Je vollkommener, um so mehr den Nächsten liebend. Nun ist all dies beim Hegel der Jahre 1798–1800 natürlich noch, wie man den Zitaten ja auch leicht ansieht, mit Dingen verknüpft, die er in der Phänomenologie nicht mehr vertreten möchte, vor allem mit der sehr starken Betonung des Gefühls. Dennoch ist das ›als‹ in der Formulierung des Gebotes der Nächstenliebe für Hegel weiter und bleibend wichtig. Es ist übrigens das Deutsch der Lutherübersetzung von Mt 22, 39. Kant zitiert in der Kritik der praktischen Vernunft58 auch so. »Deutbar ist diese Übersetzung freilich auch im Sinne einer betonten Identifikation«59. Wenn man die herangezogene Stelle aus den Theologischen Jugendschriften mitdenkt, so wohl mehr als nur so deutbar, vielmehr deutlich zeigend, daß die praktische Vernunft das Liebesgebot nur unterinterpretieren kann. 3. Das doppelte Liebesgebot Ich sprach in II. 2. davon, daß die Nächstenliebe erst dort nicht nur ein Sollen, sondern vielmehr ebensosehr Wirklichkeit sein kann, wo sie nicht nur Gebot ist, und ergänzte, das Kantische praktische Denken, wie Hegel es eben gefaßt hat, sei alttestamentarisches Denken. 56
Ebd. Ebd. 58 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 147. 59 Josef Schmidt, ›Geist‹, ›Religion‹ und ›absolutes Wissen‹. Ein Kommentar zu den drei gleichnamigen Kapiteln aus Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, Stuttgart/Berlin/ Köln 1997, 64. 57
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»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten« (Mt 22, 37–40). Und: »Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft (koinonia), am Brechen des Brotes und an den Gebeten« (Apg 2, 42). Gerade hier hebt sich ja auch der individualistische Ausgangspunkt auf, allerdings schon bestimmter religiös, was Hegel hier noch abhalten möchte. Ansonsten könnten wir mit dem Liebesgebot uns unmittelbar im Geist finden: Liebe individualistisch zu fassen ist unmöglich – Selbstliebe ist ein sinnloses Wort, wie wir hörten –, ohne Gesetz und Propheten aber, ohne ein Festhalten an der Gemeinschaft und deren einigermaßen entsprechender Auslegung und Ausrichtung aber auch keine reine Selbstreflexion. Nur und erst darin ist das Leben enthalten60. 60
Siehe Lk 10, 28. Um doch diesen großen Text auch hier zu zitieren: Benedikt XVI.: Deus Caritas Est, 12: »Das eigentlich Neue des Neuen Testaments sind nicht neue Ideen, sondern die Gestalt Christi selber, der den Gedanken Fleisch und Blut, einen unerhörten Realismus gibt.« Das kann man jetzt natürlich mit Vielem aus dem großen Buch Jesus von Nazareth, Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg 2007, anfüllen; immer wieder kann man sich sehr schön an jene eminenten Aussagen Hegels über das Ist, über die unmittelbare, die ganz historische Gegenwart, das Dasein Gottes erinnert fühlen (siehe Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: ThW, Bd. 17, etwa 274 f.). Nun ist dies bestimmt Hegels Denken entsprechend – sicher, außerchristlich finden wir den Weg ins Sein, den Weg also zum Begriff oder, nochmals nur anders gesagt: den Weg über den Nihilismus hinaus nicht. Es ist dies – neue Ideen da, die Gestalt Christi selber dort – der diesbezügliche religionsphilosophische Unterschied zwischen Lessing und Hegel. Zwei kleine Ergänzungen: a) Ich sprach vom Hinausfinden über den Nihilismus. Wenn wir dies kurz und leicht vorwegnehmend schon hier einsetzen dürfen: Kantische praktische Vernunft ist gesetzprüfende, nicht gesetzgebende Vernunft. Das ist freilich nicht die Kantische Ansicht von der Sache. Es ist aber jene Ansicht von der Sache, die Nihilismus als Resultat von Moralität ausspricht: Beim – aus Freiheitsgründen heraus notwendigen – vollständigen Abbau objektiver Freiheitsinhalte ist zuletzt, wenn dabei stehen geblieben wird, keine Antwort auf die Frage nach dem Warum? welches Inhalts auch immer mehr möglich. Man kann hier den wichtigen, ja eminenten Zusammenhang zwischen Kant und Nietzsche kurz so fassen: Was Kant rein transzendentalphilosophisch faßt, es wird von Nietzsche anthropologisch reduziert und radikal genommen. b) Ich sprach von jenem eminenten religionsphilosophischen Unterschied zwischen Lessing und Hegel. Der erstere: Wenn denn Offenbarung als Erziehung des Menschengeschlechts angesehen werden können soll, so mußte zu jener Zeit ein besserer Lehrer
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Solche Gesetze wie das der Nächstenliebe sind, so Hegel hier für den phänomenologischen Status ›Gesetzgebende Vernunft‹ sprechend, »nicht Gesetze, sondern nur Gebote«61. Nun ist es natürlich sofort schwierig zu verstehen – und deswegen wird auch so häufig diesbezüglich völliges Nichtverstehen bekundet –, wie Liebe geboten werden kann. In der Tat, man sieht leicht von dem Bisherigen her: Dies ist nur möglich, wo, nun direkt religiös gesprochen, Liebe christologisch-sakramental wirklich ist. Nun ist es so: Wenn Liebe Sein impliziert, so auch die Formen unmittelbaren Denkens, all die Formen desselben also, die nicht als jener Punkt transzendentalphilosophisch notwendigerweise zu fordernder reiner Selbstreflexion anzusehen sind, so natürlich auch die Form des Gefühls. Da mag sie mannigfaltig stehenbleiben. Dann gibt es Schwierigkeiten: »So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu verstehen, darin geboten wird, seinen Nächsten, selbst unsern Feind, zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohltun aus Pflicht, selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist praktische und nicht pathologische Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Teilnehmung; jene aber allein kann geboten werden62.
Freilich: Das ist nicht alles. Wichtig ist hier noch: Unser Bewußtsein unserer Freiheit konstituiert sich zwar explizit nicht gefühlsmäßig. Aber auch Kant spricht von »moralischem Gefühl«63. Dieses ist die Empfänglichkeit für Lust oder Unlust, bloß aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlungen mit dem Pflichtgesetze64. Dies moralische Gefühl – wohl zu unterscheiden von dem dann bereits durch den »Einfluß einer bloß intellektuellen Idee«65 gewirkten moralischen auftreten, dessen Lehre die vom Gottmenschen enthielt. Es ist dies eine Prinzipialisierung, eine Irrealisierung des Christentums, kurz: Lessing ist Transzendentaltheologe. Der letztere: Es mußte Gott selbst vollständig geschichtlich auftreten, weil dem Begriff das ›ist‹ nicht fehlt, wie man natürlich am deutlichsten am Beginn der Begriffslogik sehen kann. – Ich verweise zusätzlich nur eben auf das wertvolle Buch von Hansjürgen Verweyen, Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. Die Entwicklung seines Denkens, Darmstadt 2007. 61 Hegel, PhG 315. 62 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 13/B 13. 63 Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 35–37. 64 Ebd., A 35 f. 65 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 142.
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Gefühl – gehört zu den »natürliche[n] Gemütsanlagen …, durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden«66. Und nun entscheidend: »Das Bewußtsein derselben [dieser Gemütsanlagen] ist nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf das eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben aufs Gemüt, folgen«67. Also: Erst indem uns jenes intellektuell moralische Faktum Sittengesetz entgegentritt, innerlich entgegentritt, an (nicht aus) unserem Maximen-Bilden herausspringend nämlich, werden wir uns auch unserer Affizierbarkeit durch dieses und damit bestimmter moralisch relevanter Gemütsanlage bewußt. Ansonsten schliefe die immer. Zu Hegel: Ich denke: Man kann letztlich ›Jeder soll die Wahrheit sprechen‹ und ›Liebe deinen Nächsten als dich selbst‹ nicht auf einer Stufe abhandeln. Man müßte zumindest in einer Für-uns-Bemerkung deutlich machen, daß ›Liebe deinen Nächsten als dich selbst‹ nicht relativierbar ist, vor allem auch das Sein des Sprechenden und seines Nächsten enthält, während ›Jeder soll die Wahrheit sprechen‹ Resultat einer prinzipiellen und prinzipiell-voraussetzungshaften Reflexion zumindest sein kann.
4. Eigentum und Gütergemeinschaft Wir sind beim Prüfen der Gesetze. Denn die Entfernung des absoluten Inhalts in seinem Ausgesprochenwerden, welche ›Die gesetzgebende Vernunft‹ gezeigt hat, läßt Inhaltslosigkeit resultieren. Dies ist ein Verzicht, eine Herabsetzung68. »Was dem Gesetzgeben übrigbleibt, ist also die reine Form der Allgemeinheit«69.
Wir sehen: Die Gesetzlichkeit ist zum Gesetz erhoben. Dies ist erforderlich, weil wir ja eingesehen haben, daß gesetzgebend in Wirklichkeit wir »die gesetzgebende Vernunft an der allgemeinen gediegenen sittlichen Substanz«70 prüfen, nicht diese sich einfach ausspricht. Das tut sie jetzt; aber natürlich nur mehr auf formale Weise: 66
Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 35. Ebd. 68 »Die gesetzgebende Vernunft ist zu einer nur prüfenden Vernunft herabgesetzt« (Hegel, PhG 316). 69 Hegel, PhG 316. 70 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 180. 67
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»Das Allgemeine ist nicht mehr die seiende und geltende Substanz oder das an und für sich Rechte, sondern einfaches Wissen oder Form, welche einen Inhalt nur mit sich selbst vergleicht und ihn betrachtet, ob er eine Tautologie ist«71.
Bestehende, also dem Prüfen schon gegebene Gesetze werden als Maximen untersucht. Auch hier sind wir daher sogleich beim Beispiel. Soll Eigentum sein? Eigentum und Gütergemeinschaft können beide, so scheint es, und müssen hier auch als je »eine isolierte oder nur sich selbst gleich gesetzte Bestimmtheit«72 aufgefaßt werden. Bei entsprechend unmittelbarer Betrachtungsweise ist hier kein Widerspruch da. »In dieser Stellung des Bewußtseins zeigt sich nun aber die äußerste Spitze der Subjektivierung des sittlichen Wesens«73.
Betrachtet man hingegen etwas näher, also weitere Bestimmtheiten zur Kenntnis nehmend, die mit Notwendigkeit hereinkommen, wenn bei ›Eigentum‹ und ›Gütergemeinschaft‹ überhaupt gedacht wird, so sind da und dort sofort Widersprüche erkennbar74. Selbst hierin würde man sie natürlich finden: »Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte« (Apg 2, 44 f.). Nun ist freilich die Frage, wovon hier die Rede ist. Auch könnte man Einschlägiges aus den Vorlesungen über die Philosophie der Religion heranziehen. Wir bleiben bei der Form des Gesetzeprüfens: »Nach Hegel fragt das gesetzprüfende Bewußtsein …, ob der Inhalt eines Gebotes (also nicht: jeder Maxime) widerspruchsfrei im Sinne von ›sich selbst gleich‹ oder ›tautologisch‹ ist. ›Sich selbst gleich‹ heißt offenbar auch: für sich betrachtet, ›isoliert‹, nicht auf andere Gebote oder Zwecke bezogen«75.
Die gesetzprüfende Vernunft erfindet also falsche Inhalte; so, wie, bekanntlich, der isoliert vorgestellte sogenannte Begriff der 100 Taler ein falscher
71
Hegel, PhG 317. Ebd. 73 Klaus Erich Kaehler/Werner Marx, Die Vernunft in Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, Frankfurt/M. 1992, 221. 74 Siehe Hegel, PhG 317–319. 75 Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹, 170. 72
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Begriff ist76. So etwas existiert nicht für sich, ist ein Reflexionsgegenstand. So wird man es nicht gegen seine Entwicklung einfach halten können. »Allein wenn auf diese Weise das Nichteigentum widersprechend erscheint, so geschieht es nur darum, weil es nicht als einfache Bestimmtheit gelassen worden ist«77.
Entwickelt enthalten hingegen Eigentum und Nichteigentum Einzelheit und Allgemeinheit, und dies in mehreren Formen. Da müssen freilich, so zu sprechen, andere, weitere Maßstäbe entwickelt werden. Gesetze prüfend aber im Sinne der praktischen Vernunft werden sogar in der Tat Pflicht und Leidenschaft austauschbar – wie Hegel später im Gang der Phänomenologie aussprechen wird: »Denn die Leidenschaft ist ebenso fähig, als Pflicht vorgestellt zu werden, weil die Pflicht, wie sich das Bewußtsein aus ihrer unmittelbaren substantiellen Wesenheit in sich zurückzieht, zum Formell-Allgemeinen wird, in das jeder Inhalt gleich gut paßt, wie sich oben ergab«78.
Wie sieht das Kant?
5. Widerspruchsprinzip und praktische Wahrheit, Typen der Gewissensprüfung bei Kant Wer sich im Sinne des kategorischen Imperativs faßt, der denkt jede Absicht ganz konsequent, verallgemeinert sie also vollständig, und fragt sich, ob das Resultat dieser vollständigen Verallgemeinerung widerspruchsfrei gedacht (bei den vollkommenen Pflichten) oder widerspruchsfrei gewollt (bei den unvollkommenen Pflichten) werden kann. Hinterlegt jemand etwas bei mir und ich gebe es, wenn ich keine Strafe zu befürchten habe, nicht zurück – aufgrund einer entsprechenden Maxime79 –, so hebe ich, konsequent gedacht, verallgemeinert, das Hinterlegen auf 80. Gebe ich ein bewußt falsches, ein unehrliches Versprechen, so verpflichte ich
76
Siehe Hegel, Wissenschaft der Logik I, 90. Hegel, PhG 318. 78 Ebd., 343. Siehe dazu auch Schmidt, ›Geist‹, ›Religion‹ und ›absolutes Wissen‹, 92. 79 Beispielsweise dieser, »mein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern« (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 49). 80 Siehe Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 4, Anmerkung. 77
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mich (ich verspreche) und verpflichte mich doch nicht (indem ich unehrlich verspreche)81. Man muß nun allerdings festhalten, daß die Widerspruchsfreiheitstests, die Kant durchführt, ganz unterschiedlich voraussetzungshaft sind. Mitunter greift er zusätzlich auf eine Natur des Menschen oder auch auf weiteres als anthropologisch Einzustufendes zurück (1). Mitunter ergibt sich, daß bei als unerlaubt zu denkenden Maximen uns Erfreuliches wegfallen würde (2). Mitunter scheint sich direkte Widersprüchlichkeit zu ergeben (3). Diese Dinge in der sog. Anwendung des kategorischen Imperativs sind natürlich überaus problematisch; letztlich müßte Kant von seinem Anspruch her alle Begründung auf zumindest indirekte Weise rein auf (3.) zurückführen. Beispiele: Selbstmord: Die Maxime, sich das Leben zu nehmen, wenn bei längerer Frist mehr Übel als Annehmlichkeiten drohen, soll geprüft werden. Kann dies ein Naturgesetz werden? »Da sieht man aber bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden könne und folglich dem obersten Prinzip aller Pflicht gänzlich widerstreite«82. So die Begründung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Dies gehört in unseren Typus (1.). In der Kritik der praktischen Vernunft wird das Suizid-Verbot so begründet: »Ebenso wird die Maxime, die ich in Ansehung der freien Disposition über mein Leben nehme, sofort bestimmt, wenn ich mich frage, wie sie sein müßte, damit sich eine Natur nach einem Gesetze derselben erhalte. Offenbar würde niemand in einer solchen Natur sein Leben willkürlich endigen können, denn eine solche Verfassung würde keine bleibende Naturordnung sein«83. Das gehört zu unserem Typus (2.). Im Abschnitt ›Von der Selbstentleibung‹ der Metaphysik der Sitten heißt es: »Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten,84 ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, 81 82 83 84
Siehe Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 18 f./B 18 f. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 53f./B 53 f. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, B 76. Oder auch in seiner eigenen Person und in der Person eines anderen, was dann so
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aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abzuwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war«85. Dies gehört zu unserem Typus (3.). In der Tat ist im Gedanken der Selbstzweckhaftigkeit der Freiheit deren Unverfügbarkeit, wenn man dieses Wort hier brauchbar finden sollte, impliziert86. Ein allgemeines Gesetz, bewußt unehrlich zu versprechen, kann ich weder widerspruchsfrei wollen noch widerspruchsfrei denken, da es im Versprechen das Versprechen aufheben würde. Das gehört zu unserem Typus (3.). Man muß immer sehen, daß wir es bei Kant prinzipiell mit einer absoluten Begründung von Ethik zu tun haben, die sich auf nichts außerhalb der Freiheit stützt, auf keinerlei menschliche Natur, keine Inhalte, die wir der humanitas so zu geben pflegen. Ethik ist Selbstexplikation der Freiheit. Das ist alles. Und Kant versucht dies, wie in Beispielen kurz zu zeigen war, auf unterschiedlich weitgehende Weise konsequent durchzuführen. Und, um es im Zusammenhang abschließend herzusetzen, es ist bezüglich der gesetzprüfenden Vernunft immer zu bedenken: »Die Frage gegenüber dem Depositum ist nicht, ob kein Depositum wäre, wenn ich es an mich bringe, sondern ob ein Depositum überhaupt sein soll«87.
ist, »wenn eine schwangere Person sich selbst umbringt« (Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 71). 85 Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 73. 86 Man muß übrigens sehen – wir würden damit allerdings in Kants einschlägige kasuistische Fragen (Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 74 f.) einsteigen –, daß Kant damit nicht lehrt, daß Selbstmord schlechthin verboten ist; es kann sittliche, extrem starke Gründe aus dem Reich der Zwecke geben – Kant weist auf Friedrich den Großen hin, darauf, daß dieser stets Gift mit sich führte, »damit, wenn er in dem Kriege, den er persönlich führte, gefangen würde, er nicht etwa genötigt sei, Bedingungen der Auslösung einzugehn, die seinem Staate nachteilig sein könnten« (Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, A 74) –, die dies Verbot aufheben. Schlechthin verboten ist Selbstmord aus natürlichen, beliebigen, selbst nicht moralischen Zwecken. Dazu gut John Rawls, Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – Hegel, hg. B. Herman, übers. J. Schulte, Frankfurt/ M. 2002, 261. Das Ganze ist eine interessante Angelegenheit auch in Zusammenhang mit der so häufig erwähnten Problematik der Momentaneisierung des Verbots der Lüge. Siehe dazu Kants Text Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen und dazu Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/ M. 31995, 148 f., diesbezüglich gut auf Richard M. Hare verweisend (Freedom and Reason, Oxford 1963). 87 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 180.
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6. Sein »Sie [die Bestimmungen der sittlichen Welt] sind«88.
Es kann beispielsweise ein Fehler sein, nach der Entstehung eines Gesetzes zu fragen, ein Fehler aus intellektuellen Gründen. Es kann auch ein Fehler sein, es mit anderen oder ›Massen‹ von anderen Gesetzen zu vergleichen. Man kann Descartes’ diesbezüglich sehr kluge, wenngleich von ihm freilich im Letzten nicht durchdachte und auch gar nicht durchdenkbare Überlegungen zum Reisen und zum Fremd-Werden vergleichen, Entfremdungs-Dinge. Also das kann ein Fehler sein. Es kann allerdings auch ein Fehler sein, das Sein der Gesetze deswegen hervorzuziehen oder zu behaupten oder nachzuweisen, weil es sonst nicht klappt, wie uns dies etwa Alasdair MacIntyre vorführt. Also wird das bei Hegel nicht so sein. »Sie sind«89.
So wohl auch bei Fichte, wenngleich dieser die praktischen Konsequenzen doch nicht ganz gezogen hat. Aber man kann mit ihm sehen: Wir bewegen uns mit den höchsten Kantischen und eben auch den höchsten frühfichteschen Errungenschaften im Bereich reiner Prinzipien, reiner Vorausgesetztheiten, im, um das vielleicht eingängiger zu formulieren: »reflexive[n] Spiegelkabinett des Ich«90. Dieser Bereich ist unselbständig. Diese Unselbständigkeit spricht Fichte 1800 aus, diese Unselbständigkeit spricht Hegel, wie wir laufend sehen, jedenfalls 1807 aus. Man kann beider Gedankenbewegungen parallelisieren. Ich zitiere Fichte: »Was wäre denn das wahre Mittel, diesem Sturze der Realität, diesem Nihilismus91 zu entgehen? Das Wissen erkennt sich als bloßes Schema: darum muß es doch wohl irgendwo auf reiner Realität fußen92: eben als absolutes Schema, 88
Hegel, PhG 322. Ebd. 90 Gerhard Gamm, Der deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997, 70. 91 Man muss hier an das Ende des Zweiten Buches der Bestimmung des Menschen denken, und ebenso an die hier nicht aufzurollende Kontroverse bzw. besser vielfältige Beziehung zwischen Fichte und Jacobi. 92 Das ist ein ungeschickter Ausdruck, es klingt dies beinahe so, als ob rein Prinzipielles nun wiederum auf einem außerlogisch seiend sein Sollenden abgestützt werden sollte; aber die Folge korrigiert dies Mißverständnis. Freilich ist dies auch der Sache nach ganz so eindeutig nicht. Siehe dazu Wladika, »Fichtes Anweisung zum seeligen Leben: Seyn soll Person seyn«, in: Gedachter Glaube. Festschrift für Heimo Hofmeister, hg. M. Wladika, Würzburg 2005, 39–64. 89
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absolute Erscheinung sich erkennen. Man muß darum grade reflektiren bis zu Ende. Die Reflexion, als vernichtend die Realität, trägt in sich selbst ihr Heilmittel; den Beweis der Realität des Wissens eben selbst«93.
III. Die systematische Vergangenheit moralischer Freiheitsbetrachtung »Jenes unmittelbare Gesetzgeben ist also der tyrannische Frevel, der die Willkür zum Gesetze macht und die Sittlichkeit zu einem Gehorsam gegen sie. … So wie das zweite Moment, insofern es isoliert ist, das Prüfen der Gesetze, das Bewegen des Unbewegbaren und den Frevel des Wissens bedeutet, der sich von den absoluten Gesetzen frei räsoniert und sie für eine ihm fremde Willkür nimmt«94.
Die Unmittelbarkeit, die sittliche Substanz als »nur erst ein Wollen und Wissen dieses Individuums«95, hat sich aufgehoben, sich als reine Möglichkeit an einem Wirklichen erwiesen, von welchem her sie immer bereits subreptiv Gesetze gegeben und geprüft hat. Jetzt tritt dieses selbst hervor als »der absolute reine Wille Aller, der die Form des unmittelbaren Seins hat«96. Das Bewußtsein hat sich in seinen Tätigkeiten des Gebens und Prüfens von Gesetzen aufgehoben, inhaltlich und formal, und ist so nun Selbstbewußtsein der als solcher hervorgetretenen sittlichen Substanz. Damit stehen wir im wahren Geist, im wiedererreichten Sein. Außerhalb dieses Seins ist kein existierendes Ich.
1. Der Schritt der Rechtsphilosophie von der Moralität in die Sittlichkeit »[Die Individuen erreichen ihr sittliches, wahrhaft freies Sein teils] so, daß sie in den Institutionen, als dem an sich seienden Allgemeinen ihrer besonderen Interessen, ihr wesentliches Selbstbewußtsein haben, teils daß sie ihnen ein auf einen allgemeinen Zweck gerichtetes Geschäft und Tätigkeit … gewähren«97.
93
Fichte, Die Wissenschaftslehre. Vorgetragen im Jahre 1812, 325 f. Hegel, PhG 320. 95 Ebd. 96 Ebd., 321. 97 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, § 264, in: ThW, Bd. 7, 411 f. 94
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Die Gemeinschaftsformen, die ›Institutionen‹ heißen können, vornehmlich also Familie und Staat und weiter dann Momente der bürgerlichen Gesellschaft, sind Einheiten von Einzelnem und Allgemeinem. In ihnen werkt weder der abstrakt Einzelne für sich, noch steht er in einem ihn technisch Übergreifenden, in dem er seine Freiheit nicht als wirklich finden könnte. Über das abstrakt Einzelne und über das abstrakt Allgemeine kommen wir institutionell bzw. sittlich hinaus. Also ist die Freiheit des Menschen nur von ihrer Form als Sittlichkeit her wirklich. »[Wir müssen festhalten,] daß Menschen sich ihre Verfassung nicht als isolierte einzelne geben, sondern nur, soweit der ihnen bis dahin ins Bewußtsein gelangte objektive Geist [das Wissen um die Freiheit, das Gute, die substantiellen Zwecke, wie es in einer Gemeinschaft wirklich ist] darin beteiligt ist«98.
Handeln ist nicht gegen gemeinschaftliches Handeln, Ethik ist nicht gegen Geschichtsphilosophie fixierbar.
2. Der Schritt der Phänomenologie zur ›moralischen Weltanschauung‹ und über diese hinaus Wir sprachen zu Beginn von moralischer Freiheitsbetrachtung. Und wir sprachen vielfältig über diese, wie sie am Ende des Vernunftkapitels wirklich ist. Schließlich haben wir jetzt moralitätsbezüglich einen Blick in die Rechtsphilosophie hinübergeworfen. Man muß nun allerdings, Phänomenologieimmanent, zusätzlich noch zumindest das erste Kapitel der ›Moralität‹, wie sie als Geist wirklich ist, erwähnen: ›Die moralische Weltanschauung‹: »Das Selbstbewußtsein weiß die Pflicht als das absolute Wesen; es ist nur durch sie gebunden, und diese Substanz ist sein eigenes reines Bewußtsein; die Pflicht kann nicht die Form eines Fremden für es erhalten. So aber in sich selbst beschlossen ist das moralische Selbstbewußtsein noch nicht als Bewußtsein gesetzt und betrachtet«99.
Das moralische Selbstbewußtsein ist nicht mehr nur Selbstbewußtsein, sondern es ist geistige Wirklichkeit; daher ist es Einheit von Selbstbewußtsein und Bewußtsein. Was ist die moralische Weltanschauung als ebensosehr Bewußtsein?
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»Dies Anderssein ist einerseits, weil die Pflicht seinen einzigen wesentlichen Zweck und Gegenstand ausmacht, für es eine völlig bedeutungslose Wirklichkeit. Weil dies Bewußtsein aber so vollkommen in sich beschlossen ist, so verhält es sich gegen dies Anderssein vollkommen frei und gleichgültig, und das Dasein ist daher andererseits ein vom Selbstbewußtsein völlig freigelassenes, sich ebenso nur auf sich beziehendes Dasein; je freier das Selbstbewußtsein wird, desto freier auch der negative Gegenstand seines Bewußtseins«100.
Was uns entsteht, ist, wie man leicht sehen kann, wenn wir nun abstrakter und naiver formulieren wollen, als dies Hegel in der Zeit der Phänomenologie tut, so in etwa, wie wir das aus der Zeit seiner sog. Jenaer Druckschriften gewohnt sind, ein Dualismus, eine, zunächst, Form von Reflexionsphilosophie, von Entzweiung101. Man muß sehen: Diese Form entsteht in jedem Fall dann notwendig, wenn wir von Moralität als einer Form des Geistes zu sprechen haben. Anders scheint es zu sein, wenn wir die phänomenologische Bewegung im Vernunftabschnitt schließen lassen. Das aber geht nicht, wie wir inzwischen längst wissen. Man könnte natürlich ergänzend leicht ausführen, was an transvernünftigen Inhalten Kant und der frühe Fichte – und warum – aussprechen und ausführen. Vorläufig gilt in bezug auf das Verhältnis zwischen moralischem und natürlichem Anundfürsichsein102: »Dieser Beziehung liegt zum Grunde sowohl die völlige Gleichgültigkeit und eigene Selbständigkeit der Natur und der moralischen Zwecke und Tätigkeit gegeneinander als auf der andern Seite das Bewußtsein der alleinigen Wesenheit der Pflicht und der völligen Unselbständigkeit und Unwesenheit der Natur. Die moralische Weltanschauung enthält die Entwicklung der Momente, die in dieser Beziehung so ganz widerstreitender Voraussetzungen vorhanden sind«103.
Bei diesem Dualismus kann es nicht bleiben. Es bleibt auch nicht dabei. Kant und Fichte sprechen vom Primat des Praktischen. Ist die Natur Material unserer Pflichterfüllung? Oder ist sie so etwas wie die Naturseite unserer Freiheit104? Man wird sagen müssen: Zumindest und transzendentalphilosophisch konsequent zunächst das Erstere.
100
Ebd., 443. Siehe etwa vielfältig den Abschnitt ›Mancherlei Formen, die bei dem jetzigen Philosophieren vorkommen‹ in Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: ThW, Bd. 2, 15–51. 102 Siehe Hegel, PhG 443. 103 Hegel, PhG 443. 104 Damit sollen zwei Möglichkeiten, die sich von Fichteschen Schriften der 1790er 101
Formen moralischer Freiheitsbetrachtung
243
Dem seiner selbst gewissen Geist ist die Natur gleichgültig; er hört auf seine Pflicht. Aber das ist nicht genug; wir sind nicht mehr im Selbstbewußtseins- oder auch im Vernunftabschnitt. Der seiner selbst gewisse Geist ist zunächst die moralische Weltanschauung105. Damit aber wird die gesamte Postulatorik der praktischen Vernunft notwendig. Anders ausgedrückt: Die moralische Weltanschauung ist der Moralität notwendig. »Der Unterschied zwischen Hegels Auseinandersetzung mit der Kantischen Moralität im Vernunftkapitel und der im Geistkapitel liegt darin, daß die Vernunft von der Möglichkeit der Verwirklichung der vernünftigen moralischen Gesetze ausging106, der Geist aber davon, daß die Moralität die eigentliche Wirklichkeit darstellt und daß andere scheinbare ›Wirklichkeiten‹ auf sie zurückzuführen sind«107.
Ganz recht; der Geistabschnitt ist grundsätzlich transtranszendentalphilosophisch. Dies ist – und auch das können wir mit Hegel gerade hier lernen – auch die Postulatorik Kants und Fichtes. Dies hier ganz knapp und auch nur auf den ersteren bezogen: Die Freiheit rückt bei Kant notwendig ins Zentrum; warum das so ist, kann man leicht natürlich gerade in den Abschnitten über die praktische Vernunft der Phänomenologie lernen. Der Endzweck des Menschen liegt im Praktischen. Letzter Zweck des moralisch Handelnden ist das höchste Gut; dieses hat, ganz direkt gesprochen: das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zu seinen Voraussetzungen. So gibt Kant seine moralischen Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise. Weil der Mensch sich dem Sittengesetz unterstellt, ist er durch die Vernunft bestimmt, an die Unsterblichkeit der Seele und an die Existenz Gottes zu glauben. Kant spricht hinsichtlich dieser Lehren von Postulaten qua theoretischen Sätzen, die aus praktischen Gründen heraus anzunehmen sind108.
Jahre her ergeben, erwähnt sein, der Rechtslehre von 1796 einer-, der Sittenlehre von 1798 andererseits. 105 Zum Auftreten des Wortes ›Weltanschauung‹ bei Hegel siehe Schmidt, ›Geist‹, ›Religion‹ und ›absolutes Wissen‹, 72. »Der Begriff ›Weltanschauung‹ wird … in der Phänomenologie des Geistes nur dem Standpunkt der Moralität zugeordnet« (ebd.). Dies ist sehr klug und terminologisch genau von Hegel. 106 Hier müßte man noch besser sagen: ›daß die Vernunft Bedingungen der Möglichkeit moralitätsförmig freien Handelns aufstellte‹, um nämlich das Indikativisch-Imperativische stärker zum Ausdruck zu bringen. 107 Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹, 206. 108 Siehe Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 220.
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Michael Wladika
Die Inhalte dieser Sätze mit ihren Versöhnungen von Sollen und Sein allerdings führen über Moralisches hinaus, was dann weiter in Kants Religionsphilosophie ans Licht kommt.
3. Der Schritt der Phänomenologie in den ›Geist‹ Unsere Natur, wenn man so reden will, ist der Geist, welcher allgemein-einzeln ist. Wir müssen also natürlich allgemein handeln, gemäß allgemeinen Maximen und allgemeinen Handlungsweisen, um ganz knapp Kant und Aristoteles nebeneinander anzuführen. Nur sind diese niemals abstrakt-allgemein, vielmehr immer bestimmt. Diese Bestimmtheit ist nur dort keine willkürliche, wo sie das Aufgehobensein früherer Formen von Freiheitswirklichkeit darstellt. Dies ist allgültig. Es ist natürlich wahr, »daß wir Bewußtsein nicht begreifen können, ohne den Wechsel vom Individuum zur ›Substanz‹ zu vollziehen«109.
Allein das ist natürlich nicht nur eine epistemologische Angelegenheit – ein Individuum, das sich vollständig inhaltsfrei auf sich bezieht, kann es nicht geben. Es bezieht sich immer über seine anderen, von denen her es sich versteht, auf sich. Dies ist sein Geist-Sein. In diesem ist, freilich nicht in seinem nun im Gang der Phänomenologie gleich folgenden Anfang im antiken Griechenland, aber in diesem Geist-Sein, sofern es die Vernunft-Bewegungen konkret in sich hat, das Herausheben der reinen Selbstreflexion enthalten, diese Abstraktion. Inzwischen hat sich seine Fixierung aufgelöst. Die Ordnung, in die hinein diese sich aufgelöst hat, enthält natürlich viele Einseitigkeiten und auch Umkehrungserfahrungen. Aber sie ist die geschichtlich wirkliche Sittlichkeit.
109
Taylor, Hegel, 228.
Der wahre Geist. Die Sittlichkeit und ihre Auflösung in den Rechtszustand Michael Höfler (Wien)
In der Entwicklung der Formen des Beisichselbstseins des Bewußtseins in seinem jeweiligen Gegenstand ist schon im anfänglichen Selbstbewußtsein, nämlich in der Einheit seiner Verdopplung, in der das Bewußtsein in seinem Anderssein für sich selbst ist, »der Begriff des Geistes für uns vorhanden«1. Dieser in der Vervielfältigung des Selbstbewußtseins für uns schon vorhandene Begriff des Geistes ist die Einheit unterschiedener, »für sich seiender Selbstbewußtseine […] Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist« (145). Das »Ich, das Wir« ist, ist das anerkannte Selbstbewußtsein, sein Gegenstand ist »selbständig in dieser Negativität seiner selbst; und damit ist er für sich selbst Gattung, allgemeine Flüssigkeit« (144)2. Von dem verdoppelten Selbstbewußtsein bzw. von diesem Ich, das als anerkanntes Selbstbewußtsein Wir ist, heißt es am Beginn des Abschnitts »Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst«:
1
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, ThW 3, 145. Die Hegel-Zitate stammen sämtlich aus der Ausgabe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke: in 20 Bänden. Hg. E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt/Main 1986 (=ThW). Die nun folgenden HegelZitate werden nicht extra in einer Fußnote ausgewiesen, sondern die Angabe des Bandes und der Seitenzahl wird in Klammern neben das Zitat gesetzt. Bei den Zitaten aus der Phänomenologie des Geistes wird auf die Angabe des Bandes verzichtet und bloß die Seitenzahl angegeben. 2 Eine kurze Anmerkung von Fichte her: in seiner Grundlage des Naturrechts (1796) heißt es: »Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen […], sondern der einer Gattung« (J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: Werke Bd. 3, Berlin 1971, 39). Abgesehen davon, daß es den »Begriff eines Einzelnen«, welcher nichts Allgemeines ausdrückt (außer Namen etwa), nicht gibt, heißt das zunächst einmal, daß das lebendige Selbstbewußtsein an sich allgemein ist, wie das Sittliche allgemein ist, denn das anerkannte Selbstbewußtsein findet in der Negativität seiner selbst »Geist von [seinem] Geist, Fleisch von [seinem] Fleisch, es schaut sich in ihm als ein und dasselbe und als ein anderes lebendiges Wesen an« (Hegel, Differenzschrift, ThW 2, 19). Fichte spricht (einige Zeilen weiter in seiner Grundlage des Naturrechts) in bezug auf den Schöpfungsbericht ebenso diese Vervielfältigung an: »wenn es nothwendig sein sollte, einen Ursprung des ganzen Menschengeschlechts […] anzunehmen«, dann ist »also ein erstes Menschenpaar anzunehmen« (Fichte, Grundlage des Naturrechts, Werke 3, 39).
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Michael Höfler
Nehmen wir dieses Ziel, das der Begriff ist, der uns schon entstanden – nämlich das anerkannte Selbstbewußtsein, das in dem anderen freien Selbstbewußtsein die Gewißheit seiner selbst und eben darin seine Wahrheit hat –, in seiner Realität auf [also nicht mehr als eine bloße Gestalt des Bewußtseins] oder heben wir diesen noch inneren Geist [den Begriff des Geistes] als die schon zu ihrem Dasein gediehene Substanz heraus, so schließt sich in diesem Begriffe das Reich der Sittlichkeit auf« (264). In der Entwicklung des Vernunftbewußtseins ist uns die Erfahrung dessen geworden, was das Leben des Geistes in seiner unmittelbaren Wahrheit ist, da sich in der Vernunftbewegung das Sich-selbst-Erfassen des Geistes vollzog, indem die Gewißheit, alle Realität zu sein, zu ihrer Wahrheit gelangt. Das Resultat dieser Verwirklichung ist ein substantielles Verhältnis in subiecto3. Phänomenologisch wird diese wahrhafte Unendlichkeit für uns in der Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst, von welcher es heißt: »es ist der Geist, der die Gewißheit hat, in der Verdopplung seines Selbstbewußtseins und in der Selbständigkeit [Substantialität] beider seine Einheit mit sich selbst zu haben. Diese Gewißheit hat sich ihm nun zur Wahrheit zu erheben« (263). Mit der folgenden Wendung aus dem Abschnitt »Der Geist« wollen wir an das eben Zitierte anschließen: »Der Geist ist […] das Individuum, das eine Welt ist« (326)4. Die sittliche Substanz ist Subjekt geworden, indem der Geist, der »das Selbst des wirklichen Bewußtseins« (325) ist, »sich als gegenständliche wirkliche Welt gegenübertritt« (325). Allerdings muß sich der Geist, »insofern er die unmittelbare Wahrheit ist« (326) – und d.i. »das Individuum, das eine Welt ist« (326) –, erst vermitteln, in den Gegensatz treten, vervielfältigen, um als wirkliche Geister bzw. als »Gestalten einer Welt« (326) des unmittelbar sittlichen Lebens erfahren, was die absolute Notwendigkeit des Geistes ist. Das Selbstbewußtsein muß aus »diesem Glücke […], seine Bestimmung erreicht zu haben [d. i. der lebendige Geist der substantiellen Sittlichkeit]« (266), heraustreten, um »das Individuum, das eine Welt ist« (326)
3
Das »an sich allgemeine[s] Selbstbewußtsein« (264), d.i. für uns die Vernunft »als die flüssige allgemeine Substanz« (265), die ebensosehr für sich seiendes Selbstbewußtsein ist. 4 D.i. eine Wendung, die an das fr. 34 der pädagogischen Schriften Demokrits erinnert: »Der Mensch, eine kleine Welt«; diese Wendung ist z. B. wiederum für die Platonische Staatslehre von Bedeutung.
Der wahre Geist. Sittlichkeit und Rechtszustand
247
wiederum aufzuheben. Nicht das sittliche Individuum (Antigone, Sokrates)5 tritt aus der sittlichen Substanz heraus, sondern die »bestimmte sittliche Substanz« (267) – d. i. der »Geist in der Form des Seins« (267) – hat erst im Bewußtsein über das Wesen der realen Sittlichkeit eines freien Volkes ihre Wahrheit, »nicht aber unmittelbar in ihrem Sein« (267) – in dieser Unmittelbarkeit wird noch das Orakel aufgesucht. Das glückliche Bewußtsein wird erst durch das Unglück der Wirklichkeit zu einem »wirkliche[n] Selbst« (342).
Zum unmittelbaren Selbstbewußtsein der sittlichen Substanz Im Anschluß an die gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft ist das wirkliche Selbst des vernünftigen Bewußtseins die sittliche Substanz, diese ist »der absolute reine Willen Aller, der die Form des unmittelbaren Seins hat […] er ist und gilt« (321). Das einzelne Bewußtsein »hat sich als einzelnes aufgehoben, diese Vermittlung ist vollbracht, und nur dadurch, daß sie vollbracht ist, ist es unmittelbares Selbstbewußtsein der sittlichen Substanz« (321). Im unmittelbaren Selbstbewußtsein der sittlichen Substanz sind Unmittelbarkeit und Vermittlung identisch (oder von der Logik her formuliert): »einfache Identität des Seins in seiner Negation oder in dem Wesen mit sich selbst« (ThW 6, 214). Im unmittelbaren Selbstbewußtsein der sittlichen Substanz ist ihr Selbst unmittelbar mit dem geistigen Wesen identisch, durch es »sind die Unterschiede an dem Wesen […] unentzweite Geister […] die in ihren Unterschieden die […] Einmütigkeit ihres Wesens erhalten […] Sie sind, und weiter nichts« (321). In der Folge heißt es über die unbefangene Sitte, welche an und für sich als Festes, Unwandelbares gilt und dessen Boden »überhaupt das Geistige« (ThW 7, 46) ist, welches zunächst einmal als unmittelbar geistiges Leben erscheint: »So gelten sie [die Gesetze des unmittelbaren Wesens der Sittlichkeit] der Antigone des Sophokles als der Götter ungeschriebenes und untrügliches Recht: nicht etwa jetzt und gestern, sondern immerdar lebt es, und keiner weiß, von wannen es erschien« (322).
5
Antigone wurde ca. um 442 v. Chr. zum ersten Mal aufgeführt, Sokrates (469–399) war da ca. 27 Jahre alt.
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Bei Sophokles ist an dieser von Hegel zitierten Stelle (Antigone 456 f.) »das an und für sich ewige und notwendige Sein des Geistes« (ThW 7, 399) ausgesprochen. Daß diese untrüglichen Gesetze bzw. der Götter ungeschriebenen Gesetze »sind, und weiter nichts« (321), heißt, daß sie absolut notwendig sind. Von der absoluten Notwendigkeit heißt es wiederum in der Logik: »Das schlechthin Notwendige [im Unterschied zum real Notwendigen] ist nur, weil es ist; es hat sonst keine Bedingung noch Grund« (ThW 6, 215). Die absolute Notwendigkeit ist »einfache Unmittelbarkeit, welche absolute Negativität ist« (ThW 6, 215). Die absolute Negativität ist als die sich auf sich beziehende, einfache Unmittelbarkeit entzweite Einheit; oder phänomenologisch: »unentzweite Geister« (321). Das Sein, das sich selbst begründet, ist Unmittelbarkeit und Vermittlung in einem bzw. unmittelbare Wirklichkeit; oder phänomenologisch: »Sie sind, und weiter nichts« (321). Insofern können wir von der Sphäre des objektiven Geistes, in welcher das sich selbst bestimmende Denken als Wille bei sich selbst ist, sagen: »Sie ist da, es gibt sie, weil der Mensch als freier sich zum Gegenstand hat«6. Die unentzweiten Geister sind in der identischen Bewegung der Unterschiedenen entgegengesetzte »Weisen der sittlichen Substanz« (330), nämlich Staat und Familie bzw. Stadt (polis) und Haus (oikos).
Zur Phänomenologie des wahren Geistes »Der Geist ist hiermit das sich selbst tragende, absolute reale Wesen« (325). Der Geist ist causa sui, sich selbst tragend bzw. sich selbst dynamisierend. Geist kann nur durch Geist geboren werden, er kann sich nur in sich selbst unterscheiden und bestimmen. Das absolute, reale Wesen der Vernunft ist in seiner Wirklichkeit das Gemeinwesen, d. i. die wirkliche Substanz, die als das in seiner unmittelbaren Wahrheit aufgelöste Sein »das Selbst des wirklichen Bewußtseins« (325) ist. »Der Geist ist in seiner einfachen Wahrheit Bewußtsein« (327). Insofern er Bewußtsein ist, muß sich der Geist in sich selbst unterscheiden, sich vervielfältigen und sich darin auf sich beziehen. Zuvor hieß es für uns (im geistigen Tierreich), daß »das Handeln […] das Werden des Geistes als Bewußtsein [ist]. Was es an sich ist, weiß es also aus seiner Wirklichkeit« (296 f.). 6
Michael Wladika, »Der Begriff des Menschen als Voraussetzung aller Politik«, in: Armis et Litteris. Wiener Neustadt 2000, Bd. 6, 20.
Der wahre Geist. Sittlichkeit und Rechtszustand
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Durch das Handeln disjungiert sich der Geist zunächst einmal in seiner unmittelbaren Wahrheit »in die Substanz [das allgemeine Wesen] und das Bewußtsein derselben [ihre vereinzelte Wirklichkeit] und trennt ebensowohl die Substanz [in das menschliche und göttliche Gesetz] als das Bewußtsein« (327) in seiner jeweils sittlichen Bedeutung, in die sich das Wesen disjungierte. Durch Handeln bringt das Selbstbewußtsein als »die unendliche [sich auf sich beziehende] Mitte« (327) in der sittlichen Handlung seine ansichseiende Einheit mit der Substanz als Wirklichkeit hervor, d. i. (rechtsphilosophisch ausgedrückt) der »zur vorhandenen Welt und zur [zweiten] Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit« (ThW 7, 292), der der Zweck des Handelns ist. Im Handeln entwickelt sich die Phänomenologie der Freiheit und der Begriff des Rechts ist das Dasein des freien, substantiellen Willens bzw. das Dasein der selbstbewußten Freiheit im Sinne des guten Lebens, welches die zweite Natur des Menschen ist. Bei Hoffmann heißt es bezüglich der substantiellen Sittlichkeit: »Die substantielle Sittlichkeit ist im Zusammenhang der Phänomenologie des Geistes auch eine Antwort auf Kants praktische Vernunft, die ja eine für alle Subjekte gemeinschaftliche Welt stiften wollte«7. Eine für alle Subjekte gemeinschaftliche Welt ist im Abschnitt »Die sittliche Welt« phänomenologisch erreicht. Ziehen wir zur Illustration dessen die Menschheit-in-individuo-Formulierung des kategorischen Imperativs heran: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«8. D. i. keine bloß transzendentalphilosophische Formulierung. Die »Menschheit […] in deiner Person« ist der sich selbst tragende Geist, der »in der Vielheit des daseienden Bewußtseins« (329) wirkliche Substanz ist, insofern sie »das im Selbst aufgelöste Sein ist« (325). Die Menschheit in individuo ist das »Gemeinwesen, welches für uns bei dem Eintritt in die praktische Gestaltung der Vernunft überhaupt das absolute Wesen war und hier in seiner Wahrheit für sich selbst als bewußtes sittliches Wesen und als das Wesen für das Bewußtsein, das wir zum Gegenstande haben, hervorgetreten ist« (329).
7 8
Thomas Sören Hoffmann, Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, 272. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1991, 79.
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Im unmittelbaren Wesen der Sittlichkeit sind Recht und Sittlichkeit noch ungetrennt, insofern heißt es von diesem Gemeinwesen, daß es »in der Form der Allgemeinheit das bekannte Gesetz und die vorhandene Sitte« (329) ist und die Menschheit in individuo hat an diesem Wesen »die Bedeutung des Selbstbewußtseins überhaupt« (329). In Sophokles’ Antigone spricht der Chor diese Ungetrenntheit von Recht und Sittlichkeit, von menschlichem und göttlichem Recht im unmittelbar sittlichen Staat aus: »Sieh, er pflegt Des Landes Satzung und eidheiliges Recht Ehrenvoll; ehrenentblößt Sei, wer, dem Edlen nicht Gesellt, mit Trotz Frevel übt. Nimmerdar an meinen Herd Gelang er noch in meinen Rat, Tut er solches« (368 ff.)9. Die unmittelbare Wahrheit von Recht und Sittlichkeit »ist die offene, an dem Tage liegende Gültigkeit« (329) bzw. das »offenbar an der Sonne geltende Gesetz« (334). Da der wahre Geist in seiner einfachen Wahrheit Bewußtsein ist, muß das Bewußtsein seine Positivität als seine Unwahrheit erfahren, d. i. die Negation dieser unmittelbaren Wirklichkeit. In den verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs heißt es stets »handle« – in der sittlichen Welt heißt das: Handle sittlich oder wirklich allgemein. Solches Handeln konstituiert die sittliche Welt und die Menschheit in individuo; ein solches Handeln disjungiert mit der Notwendigkeit des Begriffs im disjunktiven Urteil den Geist, der ist, weil er ist, »in die Substanz und das Bewußtsein derselben« (327). In der Handlung wird aber das sich im Handeln auf sich beziehende Selbstbewußtsein, welches »an sich die Einheit seiner und der Substanz« (327) ist, »für sich« (327), wodurch es »die Einheit seines Selbsts und der Substanz als […] Wirklichkeit« (328) hervorbringt. Durch das Wirklichwerden dieser Einheit stellt sich auch an der Substanz 9
Sophokles, Antigone. Die meisten der folgenden Zitate aus den antiken Tragödien Sophokles’ (Antigone, König Ödipus) stammen aus: Aischylos ⋅ Sophokles ⋅ Euripides. Die großen Tragödien, Düsseldorf 1995. Hierbei wurden die Tragödien Sophokles’ von K. W. F. Solger aus dem Griechischen übertragen. Die aus dieser Ausgabe stammenden Zitate werden in Klammer neben das Zitat gesetzt, wobei der Klammerausdruck nur die Verszeile enthält. Einige Zitate aus Sophokles’ König Ödipus stammen aus der Übersetzung Hölderlins und aus der Übersetzung Hofmannsthals, diese Zitate werden jeweils explizit hervorgehoben.
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»die Natur des Bewußtseins, sich in sich selbst zu unterscheiden […] dar […]. Sie spaltet sich also in ein unterschiedenes sittliches Wesen, in ein menschliches und göttliches Gesetz. Ebenso [teilt sich] das ihr gegenübertretende Selbstbewußtsein« (328) Das Gemeinwesen wird durch die selbstbezügliche Disjunktion der sittlichen Substanz tätig bestimmt und ihre Momente werden handelnd verwirklicht. Das menschliche Gesetz ist das Gesetz des Gemeinwesens, das offenkundig ist, weil es aus dem Gemeinbewußtsein hervorgegangen ist und insofern öffentliches Recht ist. Dieser Geist einer sittlichen Welt hat in der Form der Einzelheit, in welchem das Gesetz wirklicher Geist ist, seine Wirklichkeit als »Gewißheit seiner als einfacher Individualität […] als Regierung« (329) oder als Souverän. Diese Gesetze sind z. B. die geschriebenen Gesetze Solons, deren Ansichsein bzw. deren Wahrheit die ungeschriebenen, ungewußten Gesetze sind.10 Dieses tellurische Gesetz ist unter anderem »durch die für die Entscheidung in der Wirklichkeit erforderlichen letzten Bestimmungen« (ThW 7, 34) positiv. Kreon spricht dieses Moment der Positivität dieses Rechts – »So lautet mein Gedanke« (207; oder: »Das ist mein Wille«) – als den selbstbewußten Willen Aller aus. Der Souverän ist die subjektive energeia der sittlichen Substanz. Allerdings tritt dem am Tage offenliegenden, geschriebenen Gesetz der sittlichen Staatsmacht, welche das Gemeinwesen »als das seiner bewußte wirkliche Tun« (330) ist, wodurch es das Moment der Bewegung des sittlichen Tuns ist, ein ungeschriebenes Gesetz, ein »natürliches sittliches Gemeinwesen« (330) als »die allgemeine Möglichkeit der Sittlichkeit überhaupt« (330) gegenüber. D. i. das göttliche Gesetz als der ansichseiende Begriff der sich bewußten Wirklichkeit des sittlichen Gemeinwesens, wodurch die geschriebenen Gesetze keine Willkürprodukte sein können, vielmehr hat das menschliche Recht »die Wahrheit und Bekräftigung seiner Macht an dem Wesen des göttlichen Gesetzes« (335), welches ebensosehr das Moment des Selbstbewußtseins an ihm hat, wodurch es in der sittlichen Handlung ebensosehr »in seinem Rechte als einzelne Individualität« (342) auftritt. Insofern kann Antigone sagen: »Auch hielt ich niemals deinen Spruch von solcher Kraft, Um über alle wandellos unschriftliche Göttliche Gebote, sterblich nur, hinauszugehen« (452 ff.). In der antiken Tragödie treten das geschriebene und das ungeschriebene, das menschliche und das göttliche Gesetz »in ihrer sittlichen Bedeutung« (338) 10
Solon empfing das Gesetz, das er den Athenern gab, von Minerva.
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als geistige Wirklichkeiten auf, welche »die sittliche Substanz sich [durch Handelnde] gibt« (338), aber keines »von beiden ist allein an und für sich« (339). In bezug auf die Gegliedertheit der einfachen Substanz des sittlichen Wesens bzw. in bezug auf die Besonderungen dieses Allgemeinen, wodurch dieses sich in sich unterscheidende und sich in seinen Unterschieden vermittelnde Allgemeine konkrete Allgemeinheit ist, können wir festhalten: »Die wirkliche Freiheit ist es, in seinem Anderen bei sich zu sein und dieses Andere ist einerseits die Natur, andererseits der andere individuell existierende Begriff. Im Begriff der Sittlichkeit ist beides enthalten, dem Naturtrieb wird seine – dem Geiste gegenüber – Fremdheit genommen, indem er durch die Freiheit formiert wird, ihm eine sittliche Bestimmung gegeben wird (Ehe, Familie), ebenso wird (worauf das eben Erwähnte schon hinweist) in der sittlichen Liebe die Atomizität und abstrakte Selbständigkeit der Person durch Freiheit aufgehoben (im Staat ist diese Aufhebung im Patriotismus wirklich – sie kann nicht durch die Staatsmacht hergestellt werden)«11. Die Institutionen des sittlichen Wesens können nicht bloß hergestellt werden (sie sind keine Hervorbringungen der Zunft der Sozialingenieure), denn sie sind absolut notwendige und insofern überhistorische Bestimmungen des sittlichen Geistes. Was sollte z. B. durch das »dynamisch verstandene Projekt der Herstellung einer Assoziation von Freien und Gleichen«12, also durch einen sogenannten Verfassungspatriotismus der Wirklichkeit nach hergestellt werden, wenn hier die Freien und Gleichen auf Grund der absoluten Notwendigkeit ihrer an und für sich seienden Grundlage schon als Freie und Gleiche vorausgesetzt werden, weil eben »der Staat der Natur nach [seinem Begriffe nach] früher als die Familie und als der einzelne Mensch«13 ist? Der Staat selbst ist nichts Machbares (auch wenn gegenwärtige Konstrukte diesen Anschein erwecken), er ist seinem Begriffe nach der Familie und dem einzelnen Menschen vorhergehend und die Freien und Gleichen hervorbringend, da die Freiheit immer nur in der Gemeinschaft (polis) wirklich ist und der Mensch die Bestimmungen der Freiheit immer nur gemeinschaftlich 11
Franz Ungler, Zur antiken und neuzeitlichen Dialektik, hg. v. Michael Höfler und Michael Wladika, Frankfurt/Main 2005, 131. 12 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main 1992, 642. 13 Aristoteles, Politik, Hamburg 1995, Bd. 4, 5 (1253 a 19 f.).
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verwirklicht. Zunächst einmal hat in der Familie »das Individuum in seiner natürlichen Allgemeinheit […] sein substantielles Dasein« (ThW 10, 319), während der einzelne Mensch an sich allgemein ist, aber zunächst einmal nicht für sich. Dieses Fürsichsein der Freien und Gleichen ist aber in dieser obigen, verfassungspatriotisch sein wollenden Wendung schon vorausgesetzt, d. h. daß diese obige Formulierung die Gemeinschaft schon voraussetzt. Weiters setzt eine Assoziation von Freien und Gleichen den Rechtszustand voraus, denn im Abschnitt »Der Rechtszustand« heißt es (im Unterschied zum lebendigen Geist des allgemeinen Werks, »das sich durch das Tun Aller und Jeder als ihre Einheit […] erzeugte« (325), welche ihr Fürsichsein ist): »dieser gestorbene Geist ist eine Gleichheit, worin Alle und Jede, als Personen gelten« (355). Das sittliche Wesen des lebendigen Geistes ist nicht herstellbar, es hat sich immer schon erzeugt und erzeugt sich immer, während die Gleichen nur als Gleiche (nur als Personen) gelten. Der Verfassungspatriotismus setzt alles, was er herstellen möchte, voraus.14 Gegenwärtig haben wir z. B. die Situation, daß sich eine Staatenaggregation auf die Suche nach einer gemeinsamen Verfassung (bzw. nach einem Reformvertrag)15 begeben hat und nach wie vor begibt, denn daß der Mensch »ein Vereinswesen ist, liegt amtage«16. Dabei ist aber nicht zu übersehen, daß das Sich-Zusammenschließen der Menschen ein unveräußerliches Recht des daseienden Geistes ist, das nicht in ihrem Belieben liegt, sondern ein absolut notwendiger Vernunftschluß (causa sui) ist, der als unendliche Rückkehr in sich im sittlichen Handeln sein Dasein gewinnt17, während der Vertrag »α) von der Willkür« (ThW 7, 157) ausgeht und: »β) der identische Wille, der durch den Vertrag in das Dasein tritt, ist nur ein durch sie gesetzter, somit nur gemeinsamer, nicht an und für sich allgemeiner« (ebd.). Sittliche Freiheit kommt dem Menschen qua Vernunftwesen zu – und nicht dem Menschen qua Naturwesen. Dies wird mitunter nicht gesehen, z. B. von
14
Darüber hinaus ist eine vorübergehende patriotische Verfaßtheit z. B. eher (wie man in Deutschland zur Zeit dieses Vortrages erleben konnte) durch eine Fußballweltmeisterschaft herstellbar als durch einen sogenannten Verfassungspatriotismus. 15 Hier sollte angemerkt werden, daß die Substanz der Sittlichkeit die Freiheit ist – und nicht der Vertrag. 16 Aristoteles, Politik, a. a. O. 4 (1253 a 9 ff.). 17 Vgl. dazu die Ausführungen zur causa sui oben S. 248!
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einigen Vertretern der »Vertragstheorie des Staates«18. Vertragstheorien des Staates und relativistische Staatstheorien, welche diejenige Voraussetzung übersehen, daß nämlich der Geist durch den Geist geboren wird, wodurch er causa sui ist – wodurch er sich auch nicht gegen das ungeschriebene, göttliche Gesetz indifferent verhalten19 kann, was auch Aristoteles in seiner Politeia wiederholt zum Ausdruck bringt –, übersehen damit, daß der Geist als endlicher oder als daseiender das absolut »reale Wesen« (S. 325) ist, welches die Sphäre des Vertrages nicht zu seiner Voraussetzung hat. Zu solchen Theorien können wir mit den letzten Worten des Chors aus Antigone sagen: »Hoch raget gewiß vor Gütergenuß Die Bedachtsamkeit. Frevle drum nie Gegen die Gottheit« (1348 ff.). Oder mit den Worten Heraklits (ca. 550–475) ausgedrückt: »Ernsthaft gesprochen: Man muß bauen auf das allem Gemeinsame, wie eine Stadt auf ihr Gesetz, und noch viel fester. Denn alle menschlichen Gesetze ziehen ihre Nahrung aus dem einen Göttlichen«20. Ein Gemeinwesen, das nicht »an dem göttlichen Gesetze seine Kraft und Bewährung« (339) findet bzw. das das, was der Götter ist, entweiht – »Frevle drum nie gegen die Gottheit« (so heißt es in Antigone 1349 f., während Kreon abgeführt wird) –, wird wohl in der Bewegung des objektiven Geistes nicht allzulange bestehen können, da sowohl diese Bewegung als auch die sittliche Gesinnung Voraussetzungen hat, welche als verletzt uns »In gewaltigem Schlag doch büßend einmal Den Empörungsmut« (1351 f.)21. 18
Etwa bei John Rawls in seiner Geschichte der Moralphilosophie, Frankfurt/Main 2002, 466 ff. 19 In diesem Zusammenhang könnte angemerkt werden, daß immer häufiger die staatsschädigende Rede erhoben wird, daß man den Begriff der Familie etwas erweitern und modifizieren müsse, ihn an die Gegebenheiten und Lebensanforderungen der modernen Welt anpassen müsse. 20 Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, 136. 21 In der Enzyklopädie (1830) haben wir einen solchen »Hinweis auf die Grenzen des Rechts« ausgesprochen, wenn es über dieses Verhältnis von Staat und Religion heißt: »Der Staat beruht nach diesem Verhältnis auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen. […] Die Sittlichkeit ist der göttliche Geist als innewohnend dem Selbstbewußtsein in dessen wirklicher Gegenwart als eines Volkes und der Individuen desselben; […] es kann nicht zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalte und Inhalte nach davon verschiedenes sittliches, geben« (ThW 10, 355 f.). In diesem Zusammenhang könnte auch an den Paulinischen Brief an die Römer erinnert werden, wo es über dieses Verhältnis von Staat und Religion heißt:
Der wahre Geist. Sittlichkeit und Rechtszustand
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Die unsittliche Sittlichkeit von seiten des sich verabsolutierenden und staatsschädigenden Staates haben wir in der antiken Tragödie z. B. in der Figur des Kreon22 auftretend, wenn es von ihm (mit der entsprechenden Antwort Haimons) etwa heißt: »Kreon: Hat anders jemand oder ich des Landes Macht? Haimon: Nicht wäre Stadt mehr, welche nur ein Mann besitzt. Kreon: Wird nicht des Herrschers Eigentum die Stadt geschätzt? Haimon: Gut. Froh beherrsche dann allein das öde Land« (736 ff.).
Kreon interpretiert die Staatsgewalt als von der Bindung an das göttliche oder ungeschriebene Gesetz unabhängig. Über diese Selbstverabsolutierung eines Moments der sittlichen Substanz können wir mit Jesaja 59,13 f. sagen: »So weicht das Recht zurück, die Gerechtigkeit bleibt in der Ferne«23. Zu solchen, die in der Sphäre der Sittlichkeit ihre Selbstverabsolutierung betreiben, spricht der Chor in König Ödipus (Uraufführung ca. 425 v. Chr., aus der Übersetzung Hölderlins) mit der Autorität göttlichen Wissens: »Die Prophezeiungen flieht er, Die, aus der Mitte der Erd, Allzeit lebendig fliegen umher« (479 ff.).
»Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt« (Röm 13, 1): »Aber das [Röm 13,1] muß sie [die staatliche Gewalt] auch wissen. Wenn sie es vergißt, verabsolutiert sie sich, wird sie zur Willkür. Für die Ideologen, denen es um das Streichen der Freiheit zu tun ist, ist es daher Pflicht, sich gegen die Religion zu wenden bzw. auch Religion und Staat als gegeneinander indifferent anzusehen« (Isolde und Michael Wladika, »Ein Meistersinger muß er sein – Voraussetzungen des Gemeinschaftslebens«, in: Freie Argumente, Wien 4/1999, 115). 22 Die Momente der sittlichen Substanz werden in dieser Untersuchung mehr von der Seite Kreons her betrachtet. 23 Die Willkür sich verabsolutierender staatlicher Gewalt (Kreon) ist die unsittliche Sittlichkeit eines Momentes der sittlichen Substanz, sich nicht als Moment aufzufassen, sondern als das abstrakt Ganze, das keine substantiellen Unterschiede gelten läßt. Das Schicksal eines solchen sich als das Ganze auffassenden Moments ist seine Unselbständigkeit, da der Staat (nicht nur) an der Familie sein Bestehen hat (wie auch umgekehrt). Dieses abstrakte Phänomen sich verabsolutierender Momente tritt gegenwärtig z. B. unter dem Schlagwort der political correctness auf, welche sich kraft ihrer selbst als korrekt gebärdet. Es liegt im Begriffe des Staates, der ein Moment der sittlichen Substanz ist, sich in einem die Institution der Familie bewahrenden Sinn (conservare) – und nicht in einem die Institution der Familie negierenden Sinn (negare) – zu verhalten. Ein solches Verhalten, gegen das sich Kreon stemmt, erhebt (elevare) den Staat zu sich selbst, wie sich die Familie zu sich selbst erhebt, indem sie im Staat aufgehoben ist, wogegen sich wiederum Antigone (sich als species infima auffassend) stemmt und dadurch ebenso das Schicksal ihrer Unselbständigkeit erfährt.
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Es ist die tätige Schuld Kreons, daß die unentzweiten Geister die Einmütigkeit ihres Wesens verlieren: »Hierdurch verwandelt sich die Vollbringung des offenbaren Geistes in das Gegenteil« (351). Dies wird Kreon letzten Endes auch erkennen und sein Bewußtsein umkehren: »Ach weh! Wohl lern ich nun durch Schmerzen!« (1271 f.). Illustriert wird uns dieser, seine vermeinte Selbständigkeit betreffende Erkenntnisprozeß Kreons anhand seines Bestattungsverbots gegen Polyneikes. Diesen Fortschritt im Bewußtsein dessen, was die Freiheit ist, sieht auch der Seher Teiresias in Antigone: »Denn den Sterblichen Ist zwar Verirrung freilich allezeit gemein; Doch wer verirrte, dieser wird kein Törichter Und Ratentblößter bleiben, wenn, in Übel er Gestürzt, es heilet und den Sinn sich wenden läßt« (1023 ff.). Über dieses notwendige Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit heißt es bei Plotin: »unentrinnbar ist das göttliche Gesetz, welches in sich trägt die kommende Vollstreckung zugleich mit dem Urteil«24. Kreon hat Polyneikes den Göttern der Unterwelt vorenthalten, dafür muß er seinen Sohn (Haimon) hingeben, er hat (durch seine Selbstverabsolutierung) den Göttern der Oberwelt Antigone entzogen, sie lebendig begraben – wodurch sie schmerzlich die Einsamkeit der nächsten Stufe wie die Einsamkeit der vereinzelten Einzelheit, die dem Moment der Allgemeinheit gegenübergetreten ist, erfährt –, dafür muß er seine Frau (Eurydike) hingeben und die tragische Schuld am Untergang der unmittelbar sittlich Handelnden tragen, was ihm von Eurydike durch einen Boten (oder Diener) noch ausgerichtet wurde: »Als Täter aller dieser Schreckenstaten hat Die Arme sterbend noch zuvor dich angeklagt« (1312 f.). In König Ödipus wiederum heißt es über die Selbstverabsolutierung Kreons, der dadurch seine Familie ausgelöscht hat und dadurch wiederum den Staat auslöschen wird, wenn sich sein Sinn nicht ändert: »Hochmut gebiert frechen Herrscher. Ward von hochmutblinder Tat er überfüllt, Steilster Höhn drohenden Hang dann Steigt er empor und entstürzt in Elend, 24
Plotin, Enneaden IV, 3, 24, Hamburg 1962, Bd. 2 a, 223.
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Wo nimmer des Fußes Tritt aushilft. Den Erretterkampf der Stadt jedoch nun Trümmere niemals mir die Gottheit hin!« (873 ff.) Der Chor kündigt diesen durch die Rachegeister vermittelten Abfall dem tragisch schuldigen Kreon, der die Momente des Begriffs auseinanderreißen wollte, auch an: »denn es holen bald Der Götter Schäden bösen Sinn schnellfüßig ein« (1103 f.) Diese Negation, diesen Untergang der substantiellen Sittlichkeit, vernimmt der Seher Teiresias: »Denn als ich dort auf altem Vogelschauersitz Saß, wo der Schwärme jeder einzulaufen pflegt, Vernahm der Vögel fremden Laut ich da, Gekrächz Voll bösen Zorningrimmes und Verworrenheit« (999 ff.). Das heißt: »Die Wirklichkeit antwortet als das Schicksal und tritt den Handelnden als andere Seite, die von ihnen dadurch, daß sie infimae species bleiben, verletzt wird, entgegen«25. Die Wirklichkeit wird verletzt und antwortet als verletzte. Einerseits hebt Kreon als Hüter der Staaträson das Familienmitglied nicht auf, sondern tritt dem göttlichen Gesetz schroff (abstrakt) entgegen, andererseits bleibt Antigone in bloßer Familienpietät versunken. Dieser Widerspruch bzw. das Auseinandertreten von Allgemeinheit und Einzelheit wird den wahren Geist auflösen, denn die beiden Seiten begegnen sich als »infimae species«, wollen darin beharren und verletzen dadurch jeweils die andere Seite. Polyneikes, ein Bruder der Antigone, löst einerseits die Labdakidenfamilie26, diesen natürlichen Geist bzw. die »in sich beschlossene Familie« (338) sittlich auf, indem er diese »unmittelbare elementarische […] negative Sittlichkeit der Familie« (338) verläßt, »um die ihrer selbst bewußte, wirkliche Sittlichkeit zu erwerben und hervorzubringen« (338), wodurch sich wiederum der Staat erhält. Er setzt aber auch dazu an, die Polis-Sittlichkeit von Theben, deren Schicksal an das thebanische Herrscherhaus der Labdakidenfamilie geknüpft ist, aufzulösen, da er, von Etokles aus Machtgier vertrieben, die Tochter (Argeia) des Königs von Argos (Adrastos) ehelicht und mit sei25
Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Frankfurt/Main 1970, Bd. 5, 194. Labdakos ist der Großvater des Ödipus, Vater des Laios und Enkel des Kadmos, der Theben gründete. 26
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nem Schwiegervater gegen Theben in den Krieg zieht. Insofern gibt er der Polis-Sittlichkeit von Theben, »die selbst Individualität und wesentlich nur so für sich [ist], daß andere Individualitäten für es sind« (353), »die Kraft des Negativen zu fühlen« (353), durch welche die Brüder, Polyneikes als Angreifer und Etokles als Verteidiger, fallen.
Zum Bestattungsverbot In dem Bestattungsverbot für Polyneikes wird das höchste Recht des abstrakt menschlichen Rechts zum höchsten Unrecht (summum ius, summa iniuria), da Kreon meint, der alleinige (und wie wir an diesem Beispiel sehen werden: willkürliche) Hüter des Gemeinwesens zu sein; er gebärdet sich schon wie ein römischer Cäsar – dies ist wohl der fremde Vogellaut, den der Seher Teiresias schon vernommen hat. Zu diesem Bestattungsverbot, das sich gegen den Behüter des Herdes bzw. gegen den Sippenschützer, nämlich gegen Zeus Herkeios richtet, sagt (nach Haimon) das Volk von Theben einhellig Nein: »Nicht meinet Thebes vaterstädtisch Volk es so« (733). Im 23. Gesang der Ilias z. B. fordert der gefallene Patroklos Achilles im Traum auf, ihn zu begraben: »Auf, begrabe mich gleich, daß ich Hades’ Tore durcheile«27; dem Gesetz Solons gemäß bestatteten die Athener nach der Schlacht von Marathon (490 v. Chr.) die gefallenen Perser. Herodot berichtet über das Bestattungsverbot folgende Worte von Pausanias: »solches zu tun ziemt sich eher Barbaren [Ungesitteten, Gesetzlosen] als Hellenen, und selbst an jenen tadeln wir es«.28 Dieses Nein des Volks von Theben setzt das sogenannt glückliche Bewußtsein seitens der Thebaner angesichts der tragischen Kollision beider Mächte voraus, in welcher die eine Macht die jeweils andere verletzen wird. Die ungeschriebenen Gottgebote bzw. »alle wandellos unschriftliche Göttliche Gebote« (454 f.) sind die bewußtlose und stumme »Substanz Aller […]. Diese Mächte sind andere Gemeinwesen« (351). In diesem anderen Gemeinwesen verwirklicht sich z. B. »das [elementarische] Erkennen des gegenseitigen Anerkanntseins« (336), etwa das Erziehen der Kinder, um sie »aus der natürlichen Unmittelbarkeit, in der sie sich ursprünglich befinden, zur Selbständigkeit und freien Persönlichkeit und damit zur Fähigkeit, aus der natürlichen Einheit der Familie zu treten, zu erheben« usw. (ThW 7, 327 f.). 27 28
Homer, Ilias XXIII, 71. Herodot, Neun Bücher zur Geschichte IX/79, Wiesbaden 2004, 742.
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Diese Mächte als verletzt »zerstören das Gemeinwesen« (351 f.), wenn die staatliche Gewalt meint, daß auch diese anderen sittlichen Gemeinwesen ihr Bestehen nur im menschlichen Gesetz hätten, während dieses Gemeinwesen sein elementarisches Bestehen an der Familie hat29. Der Seher Teiresias spricht mit der Autorität des göttlichen Wissens den Eigensinn oder die Willkür Kreons30 und seine entsprechenden Folgen aus bzw. spricht er aus, daß die Verselbständigung des menschlichen Gesetzes in das Zu-Grunde-Gehen desselben führt: »Und so erkrankt nur diese Stadt um deinen Sinn« (1015) und: »Drum nehmen niemals unserer Opferbitten Flehn nun an die Götter« (1019 f.). Damit ist ausgesprochen: Kreon hat kein Recht mehr als Souverän bzw.: die Freiheit hat durch die Verselbständigungen der infimae species nicht mehr ihr adäquates Dasein. Insofern kann Haimon (als Verlobter der Antigone, als Sohn des Kreon und in sittlicher Sorge um die polis) zu Kreon sagen: »Drum weich im Unmut und verleih Nachgiebigkeit« (718). Mit der sich auflösenden staatlichen Gewalt Kreons löst sich auch seine Familie auf, da sein Wille, von dieser Sphäre abstrahierend, nicht mit sich handeln läßt: »Kreon: O schlechtes Kind, mit deinem Vater rechtest du? Haimon: Nur weil ich unrecht eben dich verirren sah. Kreon: Verirr ich also, ehrend nur mein Königtum? Haimon: Nicht ehrst du dieses, trittst du hin der Götter Recht«.
(742 ff.) Kreon ist im Begriffe höchstes Unrecht zu begehen, da er das menschliche Recht absolut, unbedingt, unumschränkt und ohne Korrektiv als der Willkür des abstrakten Souveräns anheimfallend interpretiert, wodurch er auch nicht imstande ist, göttliches Wissen zu vernehmen und es als Majestätsbeleidigung auffaßt; so sagt er auch zum Seher Teiresias: »O Alter, gleich den Schützen zielt nach einem Ziel Auf diesen Mann [Kreon selbst], ihr alle«. (1033 f.)
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Gegenwärtig gibt es die Tendenz, daß die staatliche Gewalt meint, auch die Erziehung der Kinder übernehmen zu müssen – Vorschule, Ganztagsschule usw., solche Einrichtungen werden wohl im Rahmen einer institutionalisierten Ökonomisierung notwendig auftreten müssen. Sich aber diesbezüglich den Fortschritt, dem die substantielle Orientierung fehlt, auf die Fahnen zu heften, ist trügerisch. 30 »So lautet mein Gedanke« bzw. »Das ist mein Wille« (207), und: »Niemals verkaufst du meinen Sinn« bzw. »Mein Wille läßt nicht mit sich handeln« (1063).
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Kreon, sich als unumschränkter Souverän interpretierend, klagt die anderen des Unrechts an, welches er begeht. Der Chor spricht die Katharsis durch die Erfahrung höchsten Unrechts aus, in der das menschliche Gesetz zu einem unmenschlichen wird: »Nun aber treibt, was ich sehe, Mich selbst über alles Gesetz hinaus, Und ich hemme den Quell der Tränen nicht mehr, Seh ich Antigone ziehn Zur alle bettenden Kammer« (801 ff., Übersetzung Hölderlins).
Zum Übergang des unmittelbaren Geistes in den Rechtszustand Durch die Erfahrung höchsten Unrechts bzw. durch die Erfahrung der Entfremdung von Allgemeinheit und Einzelheit gehen die Individuen, die eine Welt sind, in sich und hören auf »die lebendige unmittelbare Einheit der Individualität und der Substanz« (355) zu sein, und die Welt, die sie sind, ist nicht mehr »die selbst bewußtlose Substanz der Individuen« (355), sondern tritt der Subjektivität des Bewußtseins gegenüber. Der Geist, der »existiert und gilt« (329) existiert und gilt nicht mehr, er ist durch das tragisch verschuldete Schicksal der Unmittelbarkeit des sittlichen Bewußtseins zur einzelnen Individualität übergegangen, da die unmittelbar sittlich Agierenden (Kreon, Antigone) durch ihre tragischen Taten diesen Übergang verschuldeten. Ihr nun wirkliches Selbst »wird zu der negativen Bewegung oder der ewigen Notwendigkeit des furchtbaren Schicksals, welche das göttliche wie das menschliche Gesetz sowie die beiden Selbstbewußtsein[e], in denen diese Mächte ihr Dasein haben, in den Abgrund seiner Einfachheit verschlingt – und für uns in das absolute Fürsichsein des rein einzelnen Selbstbewußtseins übergeht« (342). Das »absolute Fürsichsein des rein einzelnen Selbstbewußtseins« (342) ist nun der Atomismus der Personen und »das Selbst als solches, die abstrakte Person ist absolutes Wesen« (546)31. Vorausblickend muß hier festgehalten werden: die abstrakt rechtliche Persönlichkeit wird wiederum ihre »Substanzlosig31
Hegel weist darauf hin, daß die Benennung »Person« (357) als Ausdruck der Verachtung aufgefaßt werden kann, wenn man dies etwa als Ausdruck wesenloser Wirklichkeit oder der Unwesentlichkeit des Anderen auffaßt. Dagegen kann die Benennung »Persönlichkeit« als Ausdruck wesentlicher Wirklichkeit oder der Wesentlichkeit des Betreffenden aufgefaßt werden.
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keit« (358 f.) erfahren, da der Atomismus (hier auf die Sphäre der Sittlichkeit bezogen) dem Begriff des Geistes widerspricht. Bei Hegel stellt sich Übergang der sittlichen Substanz in den Rechtszustand an lebendigen Volksgeistern dar, wir wollen nun versuchen, diese Bewegung in individuo zu bestimmen, und zwar in Gestalt der Töchter des Ödipus, als dieser selbst zu einem blinden Seher (Teiresias) geworden ist: Das abstrakte Recht der Substanzlosen ist es, das der schicksalsschwere Ödipus durch seine Blutschuld32 von Kreon für seine Töchter fordert, denn durch seine tragische Schuld heißt es in König Ödipus in bezug auf seine Töchter: »wird man euch verhöhnen. Dann wer freiet’ euch? Nein, wahrlich, niemand, Kinder; sondern euch verzehrt Das Alter fruchtlos, ehelos, unzweifelhaft« (1500 ff.). Die Töchter Ödipus’ sind durch seine Schuld nicht mehr der unmittelbaren Sittlichkeit fähig, kein unmittelbar Sittlicher wird sie mehr freien, insofern fordert Ödipus ein neues Recht, »worin Alle und Jede […] gelten« (355). Dieses neue Recht und der Übergang zu ihm müssen sich zunächst einmal unmittelbar darstellen, wodurch wir wiederum in die Lage versetzt werden, diesen Übergang in individuo zu bestimmen. In der Übersetzung des König Ödipus von Hugo von Hofmannsthal heißt es: »Weh! Mädchen! Bitter! Bitter! Wer nimmt euch Zum Weibe, wer ist frech genug und schwingt Die Schmach, die ungeheure Schmach als Mitgift Auf seine Schulter?« (1492 ff.) Ödipus erbittet für seine Töchter – »Nun aber bitt ich dieses dich inbrünstiglich« (1446) –, die substantiell sittlich das Gemeinwesen elementarisch erhalten sollen, aber nicht mehr können, ihr Selbst nun an sich als eine leere und einfache Allgemeinheit oder eine abstrakte Individualität anzusehen und sie als solche in einem Gemeinwesen, »dessen Lebendigkeit das einzelne Individuum, als Einzelnes, ist« (354), aufzuheben oder zu verallgemeinern, was den Übergang zu einer neuen Rechtsordnung bedeutet, in der die Individuen als Gleiche, als Personen gelten, die aus der Auflösung des sittlichen Geistes hervorgegangen sind. Insofern sagt Ödipus – »unser [Ödipus’] Schicksal gehe frei, wohin es will« (1458); in dieser Wendung ist eine sittliche Indifferenz zum Ausdruck gebracht – zu Kreon:
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Ödipus hat König Laios, seinen Vater, getötet und Iokaste, seine Mutter, geehelicht und insofern die sittliche Substanz der Familie tragisch aufgelöst.
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»Für sie, die Kinder […] nehme der dich an« (1459 […] 1466), denn: »Beweinen muß ich euch, kann euch nicht ansehn, Wenn ich den Rest des trüben Lebens denk Und wie Gewalt ihr leiden müßt von Menschen. Wo in Versammlungen der Städter mögt ihr gehn? Zu welcher Feier, wo ihr weinend nicht nach Hause geht, statt mit dem Festtagsreigen?« (1486 ff., Übersetzung Hölderlins) Ödipus bittet Kreon, seine Kinder aufgrund seiner Blutschande abstrakt anzusehen, sie als Personen anzusehen, sie privatrechtlich anzusehen. Auch hier ist es »Pflicht des Familienmitgliedes« (332) – wie es vorhin in bezug auf Polyneikes hieß –, daß »sein letztes Sein, dies allgemeine Sein nicht […] etwas Unvernünftiges bleibe […], sondern daß es ein Getanes und das Recht des Bewußtseins in ihm behauptet sei« (332). In der Übersetzung des König Ödipus von Hofmannsthal heißt es in bezug auf die nun isolierten Töchter des Ödipus: »Unfruchtbar welkt ihr hin, vergeblich Leben, Um nichts geboren, öde! Kreon! Kreon! Sie haben niemanden auf der Welt […] laß sie nicht im Land Umirren, Fürst, laß sie nicht betteln, Fürst, Sie sind von deinem Blut. Sie haben keinen Als dich. Versprich mir dies!« (1502 ff.) Diese Bitte des Ödipus an den Herrscher bzw. an die staatliche Gewalt, seine Kinder und Familienmitglieder fortan privatrechtlich anzusehen, ist wiederum durch das »allgemeine Blut der Familie« (355) selbst vermittelt: Kreon ist der Schwager des Ödipus. Etwas später sagt Kreon zu Ödipus, welcher nicht aus Theben verbannt wird, wodurch Kreon sein eigenes Gesetz für relativ (es gilt nun nicht mehr absolut) erklärt: »Wandle; doch die Kinder laß« (1527). Die Töchter des Ödipus sollen nun als Personen gelten und nicht mehr als Familienmitglieder, sie werden im Staate aufgehoben. Ihr Selbst soll nun nicht mehr als das in der Substanz aufgelöste Selbst gelten, ihr Selbst ist »spröde« (355) geworden, ihre unmittelbare Sittlichkeit substanzlos, sie gehen über zur Persönlichkeit des Rechtsbewußtseins, welche »die wirklich geltende Selbständigkeit des Bewußtseins« (355) sein soll. Dieses Gelten ist das »Verzichttun auf die Wirklichkeit« (355) in der »einfachen Freiheit seiner selbst« (163). Eine solche Person, ein Ich, das Ich ist, hat das Recht, als »das reine Eins seiner abstrakten Wirklichkeit« (356) zu gelten, wodurch das
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»Allgemeine, in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittert« (355) und deren Hüter ist nun die formelle Allgemeinheit eines Rechts, welches das individuelle Selbstbewußtsein, seine Sicherung des Lebens und seines Eigentums, sein Verfügen über einen an sich fremden Inhalt (über Sachen) zum Inhalt hat, welcher allerdings durch den Willen des anderen vermittelt ist. Das absolute Wesen in der Vervielfältigung der abstrakten Selbständigkeit, die »aus dem unmittelbaren Geiste« (356) hervorgegangen ist, in welchem der Geist unmittelbar im Gesetz vorhanden war, ist nun als »leere Allgemeinheit« (356) wirklich, worin die Person ein »Selbstbewußtsein von sich als vollkommen abstraktem Ich« (ThW 7, 93) hat. Der Hüter der Personen ist nun das abstrakte Recht, während es über den unmittelbar sittlichen Hüter zuvor noch hieß: »Doch meine Jungfrauen, meine leidbehäuften nur, Weil diesen niemals aufgestellt der Speisen Tisch War ohne mich, den Vater« (1462). Der Formalismus des neuen, abstrakten Rechts erhält die reinen Iche als »Selbstwesen« (355). Dieses abstrakte Recht ist die allgemeine Einheit der »Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten« (355). Dies Gelten ist die »abstrakte Allgemeinheit« (355) der Person als ihre »geistlose Selbständigkeit« (356), die »zu keinem Bestand kommt« (357). Das Recht der Person bzw. die Freiheit der Gleichheit realisiert sich im Vertrag, der wiederum die Realisierung des Eigentums ist, wodurch den Sachen, die das Andere der Person oder ein ihr fremder Inhalt sind, »dieselbe abstrakte Allgemeinheit« (357) aufgedrückt wird; über äußerliche Sachen bezieht sich das Ich auf sich und ihr abstrakt rechtliches Dasein ist mein Eigentum. Die so als Eigentum »bestimmte Wirklichkeit« (357), die einklagbar ist, hat einen positiven Wert »darin, daß es Mein […] als ein anerkanntes und wirkliches Gelten ist« (357). Im Vertrag ist das vermittelte Anerkanntsein der Person als Person realisiert, da sich der Vertrag auf eine Vielzahl von Personen (mindestens 2) bezieht und nicht bloß die Beziehung eines Willens auf eine Sache (und über diese vermittelt auf sich selbst) betrifft. Mein Wissen und Wollen, mein Gewußtes und Gewolltes, in das ich mein Wissen und Wollen gelegt habe, hat hier die Bedeutung des »an sich Allgemeinen« (357), aber das abstrakte Recht selbst ist »ohne eigentümlichen Inhalt« (357) und der wirkliche Inhalt »gehört also einer eigenen Macht an« (357). Im Eigentum soll die Freiheit ihr Dasein im Äußerlichen haben, vermittelt über die vorhandene Sache und den Willen des anderen heben sich die Subjektivität der Persönlichkeit und die Äußerlichkeit der Sache auf. Die Freiheit kann aber nicht über das Andere der Person, die Sache, gewonnen werden, sondern nur
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durch den anderen Menschen, am Eigentum gewinne ich nur das Dasein der Persönlichkeit, meinen bloß persönlichen Willen. Das Bewußtsein der zersplitterten und eigentümlichen Atome, welche die Gewißheit ihrer in sich selbst haben, erfährt sich wirklich im abstrakten Staat, der ihre substanzlose Form ist, in der es keine gemeinsame Selbstauffassung gibt. Schon vorausblickend stellen sich in bezug auf den Rechtszustand einige Fragen: a) Von wo her nehmen die Einzelnen ihren freien Willen? Das Individuum hat nur dann einen freien Willen, wenn es objektiver Geist ist, wenn es die Substanz in subiecto ist, d. h., wenn es bereits an und für sich bestimmt ist. D.i. die wahre Identität des Einzelnen und Allgemeinen oder ein an und für sich Allgemeines, welches kein Aggregat besonderer Interessen ist, sondern das System der Bestimmungen der Idee der Freiheit, wobei die Subjektivität selbst die absolute Form und die existierende Wirklichkeit der Substanz ist. b) Weiß ein solcher Staat, was er will bzw. will er den freien Willen, der den freien Willen will? Die Einheit dieser »Vielheit der persönlichen Atome« (357) ist in einem »geistlosen Punkt« (357) versammelt, der ebensosehr als »rein einzelne Wirklichkeit« (357) gilt und »das wirkliche Bewußtsein dessen, was er ist« (358) hat, nämlich die allgemeine Macht der Wirklichkeit zu sein, die aber »nicht die Einigkeit des Geistes« (358) ist. Insofern bedarf es einer Gewalt, damit sich die Bürger dem Staat nicht entfremden und umgekehrt, allerdings wird sich diese Gewalt als Rechtlosigkeit und als das Recht zerstörend erweisen, wenn sie die abstrakte Beziehung der Personen als Personen für sich sein soll. Diese Gewalt ist das Wesen ihres Formalismus, der seine Erfüllung an der äußerlichen Sache, an der Zufälligkeit des Inhalts hat, wodurch dieses Rechtsbewußtsein »seine vollkommene Unwesentlichkeit« (357) erfährt. Weiter als zu dieser wesenlosen Äußerlichkeit gelangt diese wesenlose Innerlichkeit nicht und der Rechtszustand bleibt eine äußerliche, gewaltvolle Beziehung von leeren Einsen. Eine solch bloß persönliche Beziehung der sittlichen Ethnien und der sittlichen Individuen auf dem Altar des Schlecht-Unendlichen ist das Pantheon der römischen Weltherrschaft als der Entfaltung der abstrakten Allgemeinheit der leeren Einsen, die ihre Substanzlosigkeit verwirklichen und erfahren müssen; sie erfahren, daß »dies allgemeine Gelten des Selbstbewußtseins die ihm entfremdete Realität ist« (359), die nicht der Staat ist. Das »Selbstbewußtsein als das reine leere Eins der Person« (356) ist die »in der sittlichen Welt nicht vorhandene Wirklichkeit des Selbsts« (359), welches als Person diese seine Leere als Wirklichkeit von außen erfährt und nun meint, diese fremde, äußere Wirklichkeit sich durch Bildung verinnerlichen zu können.
Phänomenologie, Philosophie und Geschichte: Zu Hegels Deutung der französischen Revolution Stephen Houlgate (Warwick)
I Die Phänomenologie des Geistes, so Hegel, stellt »die begriffene Geschichte« dar1. Bekannt ist jedoch, daß die Reihenfolge der Gestalten in der Phänomenologie der geschichtlichen Reihenfolge nicht genau entspricht2. Wie verhält sich also die Phänomenologie zur Geschichte? Die Gestalten, die in der Phänomenologie behandelt werden, sind meiner Meinung nach Gestalten, die sich in der Geschichte selbst manifestiert haben, entweder als »Gestalten einer Welt« (PhG 326) oder bloß als Momente einer solchen Welt. Manchmal haben sie sich in den politischen und sozialen Ereignissen einer bestimmten Epoche manifestiert (wie z. B. die absolute Freiheit); manchmal sind sie eher in Werken der Kunst oder der Philosophie zu erkennen (wie z. B. die »wahre« Sittlichkeit und die Moralität). In der Geschichte selber tauchten diese Gestalten »in der Form der Zufälligkeit« und »mit dem vollständigen Reichtume des Geistes ausgestattet« auf (PhG 590 f.). In der Philosophie der Geschichte werden sie auch als Produkte der Vernunft erkannt. In der Phänomenologie dagegen treten sie nicht als konkrete geschichtliche Gestalten, sondern als »aus dem Wissen neugeborene« auf (PhG 590). Diese Gestalten werden also dort weder durch geschichtliche Bedingungen noch durch geschichtliche Vernunft, sondern durch das Wissen oder das Bewußtsein als solches notwendig gemacht. Präziser formuliert werden die Gestalten durch die Erfahrung des Bewußtseins erzeugt. Diese Erfahrung ist aber keine empirische, wie wir sie im Alltag kennen. Sie ist die Erfahrung, die rein durch den Begriff, den das Bewußtsein von sich und seinem Gegenstand hat, notwendig gemacht wird. Solche Erfahrung ist daher diejenige, die das Bewußtsein durch seine eigene Auffassung des Gegenstandes sich selbst logisch auferlegt – die Erfahrung, die das Bewußtsein machen 1
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. E. Moldenhauer und K.M. Michel, Werke in zwanzig Bänden (=ThW), Bd. 3, Frankfurt am Main 1970 (=PhG), 591. 2 Siehe L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main, 2000, 72, und E. Weisser-Lohmann, »Gestalten nicht des Bewußtseins, sondern einer Welt – Überlegungen zum Geist-Kapitel der Phänomenologie des Geistes«, in: G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. D. Köhler und O. Pöggeler, Berlin 1998, 187 f.
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muß, wenn es streng an den Folgen seiner eigenen Weltanschauung festhält. Die Phänomenologie bietet daher eine »ideelle« Ableitung der Gestalten des Bewußtseins – eine Neugeburt solcher Gestalten im Gedanken rein aus dem unmittelbaren Wissen als solchem. Da dieses Wissen dasselbe Wissen ist, das sich in der Geschichte entfaltet, wenngleich rein für sich betrachtet, werden die Gestalten, die aus ihm abgeleitet werden, auch konkreten geschichtlichen Phänomenen entsprechen. Doch werden diese Gestalten in Abstraktion von ihrem geschichtlichen Reichtum dargestellt, gerade weil sie aus dem Wissen als solchem abgeleitet werden3. II Um das Eigentümliche der phänomenologischen Behandlung der Gestalten des Bewußtseins zu verdeutlichen, möchte ich jetzt die Analyse der absoluten Freiheit in der Phänomenologie mit der Analyse des entsprechenden geschichtlichen Phänomens – der französischen Revolution – in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte vergleichen. Wie im Laufe der Diskussion klar werden wird, sind die Unterschiede zwischen Hegels zwei Analysen auf methodologische Unterschiede zwischen den beiden Teilen seines Systems zurückzuführen. Sie sind nicht einfach dadurch zu erklären, daß sie zu verschiedenen Zeitpunkten verfaßt wurden4. Philosophie der Geschichte ist von Phänomenologie streng zu unterscheiden. Erstere als Teil der spekulativen Philosophie selbst befaßt sich nicht bloß mit der logisch notwendigen Erfahrung des Bewußtseins, sondern entfaltet, was durch die ontologische Idee – die dem Sein immanente Vernunft – notwendig gemacht wird. Insbesondere legt sie dar, wie die Idee die zeitliche Entwicklung des Bewußtseins der Freiheit bestimmt – die Entwicklung, die wir »Weltgeschichte« nennen5. Die Philosophie der Geschichte maßt sich 3
Elisabeth Weisser-Lohmann vertritt die Meinung, daß die geschichtlichen Gestalten, auf die Hegel während seiner Ableitung der »reinen« Gestalten abspielt, bloß »exemplarische Formen« seien, worin sich die abgeleiteten Gestalten des Bewußtseins wiederfinden lassen. Die absolute Freiheit wird wohl in der französischen Revolution manifestiert, könnte aber durchaus in anderen historischen Konstellationen begegnet werden; WeisserLohmann, »Gestalten nicht des Bewußtseins, sondern einer Welt« (207). Meiner Ansicht nach aber hat Hegel bei jeder Gestalt des Bewußtseins jeweils eine bestimmte historische, bzw. künstlerische oder philosophische Konstellation im Blick. 4 Für eine aufschlußreiche Diskussion der chronologischen Entwicklung der Hegelschen Auffassung der Revolution, siehe J. Schmidt, »Cabbage Heads and Gulps of Water«, in: Political Theory 26, 1 (1998), 4–32. 5 Für eine ausführlichere Diskussion der Unterschiede zwischen Hegels Phänomenologie und seiner Philosophie im allgemeinen siehe S. Houlgate, An Introduction to He-
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nicht an, alle Ereignisse der menschlichen Vergangenheit durch die Idee zu erklären, sondern beschränkt sich auf diejenigen Ereignisse, die durch das werdende Bewußtsein der Freiheit bestimmt sind. Wichtig ist aber, daß die Philosophie der Geschichte die Vernunft in den wirklichen geschichtlichen Begebenheiten aufzuzeigen versucht. In seinen Vorlesungen verweist Hegel auf verschiedene Bedingungen der französischen Revolution6. Erstens, die Tatsache, daß Frankreich nach der Reformation noch fest an der katholischen Kirche hielt, die ein »Positives gegen die Freiheit des Geistes« verkörperte (VPhG 903). Zweitens, die Tatsache, daß die Franzosen »das Volk des Gedankens und Geistes, aber des wesentlich abstrakten« sind (VPhG 905). Drittens, die Aufklärung, die den freien Willen als »die substantielle Grundlage alles Rechts« erkannt hat (VPhG 917–18, 921). Viertens, den harten Druck, der auf dem Volke lastete, und zuletzt die finanzielle Krise, die den französischen Staat in den 80er Jahren befiel (VPhG 925). Letztere gab Anlaß zur Unzufriedenheit und verschuf dadurch dem »neuen Geiste« der Freiheit die Gelegenheit, tätig zu werden. Da dieser neue Geist daraufhin die politische Ordnung umgewälzt hat, kann man in der Tat sagen, daß »die Revolution von der Philosophie« – vor allem von Rousseau – »ihre erste Anregung erhalten habe« (VPhG 924)7. Inwiefern Hegels Analyse der Bedingungen der Revolution zutrifft, wird uns hier nicht beschäftigen. Zu bemerken ist aber, daß Hegel sich nicht nur für die Vernünftigkeit (in seinem spekulativen Sinne), sondern auch für die konkreten geschichtlichen – d. h. politischen, religiösen, kulturellen und ökonomischen – Bedingungen der Revolution interessiert. Die Revolution selbst kann laut Hegel als die praktische Anwendung der höchsten Prinzipien des Denkens – der Prinzipien des freien Willens und der Gleichheit des Rechts – auf die daseienden Zustände betrachtet werden. Sie ist ja die »Gewalt« des Denkens gegen das Bestehende (VPhG 924). Die Grundsätze, die der Revolution zugrundeliegen, sind Grundsätze der Vernunft; sie werden aber »polemisch« gegen alles Bestehende gewandt (VPhG gel. Freedom, Truth and History, Oxford 2005, 48–66, 101–105. Für weiteres über meine Interpretation von Hegels Philosophie der Geschichte vgl. Houlgate, An Introduction to Hegel, 4–25, sowie S. Houlgate, »Die Weltgeschichte als der Fortschritt des Bewußtseins. Eine Interpretation von Hegels Geschichtsphilosophie«, in: Jahrbuch für Hegelforschung 4/5 (1998/1999), 199–219. 6 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Zweite Hälfte, hg. G. Lasson (1919), Leipzig/Hamburg 1923/1976 (=VPhG). 7 Siehe F. Furet, The French Revolution 1770–1814, trans. A. Nevill, Oxford 1996, 60: »A philosophical idea had become incarnate in the history of a people«, sowie W. Doyle, The French Revolution. A Very Short Introduction, Oxford 2001, 80: »the French Revolution really did represent the triumph of the Enlightenment«.
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925). Hierin liegt die ungeheure geschichtliche Bedeutung der Revolution: »solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut« (VPhG 926)8. Hegel beklagt aber, daß die Revolution im Namen einer Abstraktion der Freiheit durchgeführt wurde. Konkret verstanden erfordert die Freiheit als Recht (wie Hegel in seiner Rechtsphilosophie nachweist) eine klare Unterscheidung (wenn nicht absolute Trennung) zwischen der gesetzgebenden und der exekutiven Gewalt9. Darüber hinaus erfordert die konkrete Freiheit eine sittliche, rechtliche Gesinnung: »das Bewußtsein, daß die Gesetze und die Verfassung überhaupt das Feste seien, und daß es die höchste Pflicht der Individuen sei, ihre besonderen Willen ihnen zu unterwerfen« (VPhG 928). Die letzte Garantie der konkreten Freiheit ist daher die Bereitwilligkeit der Individuen, die objektiven Erfordernisse der Freiheit und des Rechts anzuerkennen. Nach dem abstrakten Begriff der Freiheit hingegen – der Freiheit des Liberalismus – haben nicht die objektiven Erfordernisse des Rechts, sondern die subjektiven Willen der Einzelnen Vorrang, denn die Freiheit ist eben als Freiheit des einzelnen Willens aufgefaßt. Der Staat wird daher nicht als eine rechtliche Institution mit ihrer eigenen Struktur begriffen, »der sich der Wille der einzelnen angemessen machen muß, [ … ] um freier Wille zu sein«; sondern »es wird [ … ] ausgegangen von den Willensatomen« und der Staat wird bloß als »Aggregat der vielen einzelnen« begriffen (VPhG 924). Diese Auffassung der Freiheit hat zur Folge, daß »die subjektiven Willen der Vielen gelten« sollen und alles durch ihre ausdrückliche Macht und Einwilligung geschehen soll: »Die Einzelnen als solche [sollen] regieren« (VPhG 932 f.)10. Nach Hegel
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Siehe Furet, The French Revolution 1770–1814, 86: »The 1789 Revolution had wanted to rebuild society and the body politic on the idea that the essence of man [ … ] was liberty«; außerdem 98: »this ambition for radical construction from scratch«. 9 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ThW Bd. 7, §§ 202–7, 250– 6, 273 ff. 10 Robert Wokler behauptet, daß Hegel den Unterschied zwischen diesem »liberalen« Begriff der Freiheit und den Freiheitsbegriff bei Rousseau übersieht: »Hegel never noticed that Rousseau’s account of the general will pertained specifically to a collective will [ … ] rather than to a compound of particulars«; R. Wokler, »The French Revolutionary Roots of Political Modernity in Hegel’s Philosophy, or the Enlightenment at Dusk«, in: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 35 Spring/Summer 1997, 86. Den »liberalen« Begriff der Freiheit (und des allgemeinen Willens) wird aber wohl von dem Abbé Sieyès, den Furet »the best symbol of the French Revolution« genannt hat, verteidigt. Nach Sieyès in seinem Traktat, »Was ist der dritte Stand?«, »individual wills are the sole elements of
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werden durch die Revolution die bestehenden Zustände im Namen dieses abstrakten Begriffes der Freiheit umgewälzt. Die Folgen hiervon sind aus der ersten revolutionären Verfassung klar zu ersehen. Auf der einen Seite sollte diese Verfassung das Königtum nicht abschaffen, sondern in ein konstitutionelles verwandeln. Es sollte beispielsweise der formelle Unterschied zwischen gesetzgebender und exekutiver Gewalt beibehalten werden. Andererseits, meint Hegel, wurde »die ganze Macht der Administration« effektiv in die gesetzgebende Gewalt gelegt, welche den souveränen Willen des Volkes, d. h. der Totalität der Einzelnen, vertritt. Die Versammlung blieb souverän, und der König konnte nur eine sekundäre Macht ausüben, die ihm durch die Versammlung delegiert wurde (VPhG 929)11. Darüber hinaus aber war die Verfassung mit einem Mißtrauen gegen die Dynastie behaftet. Die Verfassung war daher »ein innerer Widerspruch«, konnte so nicht bestehen und wurde gestürzt (VPhG 929). Mit der zweiten Revolution von 1792 und der Gründung der Republik sowie des Nationalkonvents wurde eine Staatsordnung eingeführt, die die Prinzipien der abstrakten Freiheit und der Volkssouveränität konsequent durchführte12. Die exekutive Gewalt verlor jegliche Unabhängigkeit und die Regierung »ging an das Volk«, zumindest der Theorie nach. In der Praxis ging sie an den Nationalkonvent und dessen Komitees, »und es handelte sich lediglich darum, welche Partei die Regierung an sich reissen würde« (VPhG 929). Damit, behauptet Hegel, hängen auch alle anderen Erscheinungen zusammen. Noch eine wichtige Erscheinung bleibt aber zu erwähnen, wenn wir den Gang der Revolution verstehen wollen. Nach den Prinzipien des Liberalismus besteht die Freiheit in der Freiheit des einzelnen Willens, d. h. des formellen eigenen Willens (VPhG 924). In der Republik – dem Staat des konsequenten Liberalismus – wird die Freiheit mit dem subjektiven Willen der Einzelnen schlechthin gleichgesetzt. Derjenige ist frei, dessen subjektiver Wille das innere Wollen der Freiheit selbst ist. Sol-
the general will« und »the will of a nation [ … ] is the product of individual wills, just as the nation is the assemblage of individuals«. Siehe J.H. Stewart, A Documentary Survey of the French Revolution, New York 1951, 50, 55, sowie Furet, The French Revolution 1770–1814, 45. 11 Siehe Furet, The French Revolution 1770–1814, 77–8, 92 f. 12 So hat Robespierre die zweite Revolution auch verstanden. Siehe R. Scurr, Fatal Purity. Robespierre and the French Revolution (London: Chatto and Windus, 2006), 196: »In 1792 it [the people of Paris] has raised itself with imposing sang-froid to avenge the fundamental laws of its violated liberty […]. It has put into action the principles proclaimed three years ago by its first representatives; it has exercised its recognised sovereignty«.
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ches innere Wollen heißt »Tugend« und die revolutionäre Republik wird als Republik der Tugend konzipiert (VPhG 929–30)13. Diese Tugend ist nicht die konkrete Gesinnung der Freiheit, die sich den objektiven Erfordernissen des Rechts unterwirft; sie ist die abstrakte Gesinnung, die in dem rein subjektiven Wollen der Freiheit besteht. Solche Tugend setzt die wahre Freiheit mit eben diesem bloß subjektiven Wollen, d. h. mit ihrer eigenen tugendhaften Gesinnung, gleich. Von ihrer Perspektive her, fehlt es daher anderen, die eine verschiedene Auffassung der Freiheit verfechten, völlig an wahrer Freiheit und Tugend. Die Tugend unterscheidet also »solche, die in der Gesinnung sind und solche, die es nicht sind« (VPhG 930). Die Partei der Tugendhaften – die Jacobins – betrachtet andere Parteien – wie die Girondins – nicht als Mitarbeiter im Kampf um die Freiheit, sondern als Feinde der Freiheit und der Revolution14. Solche Feinde haben aber keinen Platz in der Republik der Freiheit und müssen daher entfernt werden: sie müssen den Tod erleiden15. Die Tugend als innere, subjektive Gesinnung kann aber nur von der gleichen subjektiven Gesinnung erkannt und beurteilt werden. Das Wissen um die Feinde der Freiheit und des Volkes ist daher ein subjektives, unmittelbares Wissen – ein Verdacht, der sich durch sein bloßes Gefühl bestätigt und sogleich zur Verurteilung übergeht (VPhG 930)16. Die subjektive Tugend, die »bloß von der Gesinnung aus regiert«, bringt somit die fürchterlichste Tyrannei – den Schrecken – mit sich, da sie ihre Macht »ohne gerichtliche Formen«
13
Siehe F. Furet, »The French Revolution Revisited«, in: The French Revolution. Recent Debates and New Controversies, hg. G. Kates (1998), London 2006, 64: »[The Revolution] clothed the objective universe in subjective wills, in those who were either responsible agents or scapegoats according to the standpoint. Action no longer met with obstacles or restrictions, but only with adversaries, preferably traitors«. Nach William Doyle verwandelte sich die Republik erst nach dem Tode Dantons im April 1794 in die »Republik der Tugend«; W. Doyle, The Oxford History of the French Revolution, 2nd. hg., Oxford 2002, 275. 14 Siehe Furet, The French Revolution 1770–1814, 146: »a regime with no fixed laws, defined by a moral mission – to separate the ›good‹ from the ›bad‹«; Doyle, The Oxford History of the French Revolution, 394: »politicians still found it impossible to accept the legitimacy and good faith of their opponents«; sowie D. Andress, The Terror. Civil War in the French Revolution, London 2005, 126: »the persistent assumption was that one’s enemies […] were consciously and manipulatively seeking to do evil«. 15 G. Fife, The Terror. The Shadow of the Guillotine: France 1792–1794, London 2004, 239: nach Saint Just »The revolutionary government owed its enemies death and death alone«. 16 Siehe Furet, The French Revolution 1770–1814, 145: »his [Robespierre’s] moralistic turn of mind had instilled in him a veritable obsession with suspicion, through which he encountered the distinctive spirit of revolutionary democracy«.
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übt und die Feinde der Freiheit (wie es im Gesetz vom 22. Prairial heißt) auf Grund von »moralischer Evidenz« und das »Gewissen der Geschworenen« allein verurteilt (VPhG 930)17. Für Hegel also ist der Schrecken das Resultat des konsequent durchgeführten Liberalismus. Solcher Liberalismus, der auf der ausschließlichen Souveränität des Willens des Volkes – des Willens aller Einzelnen – besteht, konnte schon in der ersten Phase der Revolution keine unabhängige exekutive Macht dulden. Nach 1792 wurde der Anspruch des populären Willens auf ausschließliche Allmacht endlich erfüllt. Zugleich wurde die Freiheit nicht nur als Freiheit des Einzelnen, sondern auch als subjektive Gesinnung oder Tugend begriffen, die nur durch sich selbst unmittelbar, d. h. auf subjektive Weise, erkannt werden kann. Diese Freiheit mußte gegen Feinde der Freiheit verteidigt werden, da die Regierung notwendig an eine Partei fiel, die die Tugend und Freiheit ganz für sich beanspruchte und daher anderen Parteien absprechen mußte. Der Kampf gegen solche Feinde der Freiheit konnte aber auf gerichtliche Formen verzichten, da nur die subjektive tugendhafte Gesinnung solche Feinde entlarven konnte. Daher stammt der Schrecken. Im Schrecken sehen wir also nicht bloß die Konsequenzen einer durch den Krieg bedrohten Revolution, sondern den Triumph des allmächtig gewordenen, sich selbst als frei wissenden, subjektiven Willens über die objektiven Formen des Rechts. Diese Tyrannei mußte aber zugrundegehen, »denn […] alle Interessen, die Vernünftigkeit selbst war gegen diese fürchterliche konsequente Freiheit« (VPhG 930). Sie wurde durch eine neue »organisierte Regierung« – das Direktorium – abgelöst. Danach kam Napoleon an die Macht, der sich ganz Europa unterworfen und seine liberalen Einrichtungen überall verbreitet hat. Nach seinem Sturz wurde eine konstitutionelle Monarchie errichtet. Geschichtlich gesehen hat also, Hegel zufolge, die Revolution »Bankerott gemacht«, da der Umsturz des Throns, der erfolgt war, wieder zunichte gemacht wurde (VPhG 925, 931)18. Der Grund dafür ist nach Hegel leicht zu verstehen: »ohne Änderung der Religion kann keine politische Revolution erfolgen« (VPhG 931). Mit der katholischen Religion, meint Hegel, ist »keine vernünftige Verfassung möglich«, weil dem Katholizismus »der Begriff der Freiheit […] nicht als letzte absolute Verbindlichkeit« gilt (VPhG 926, 17
Für das Gesetz der Verdächtigen und das Gesetz vom 22. Prairial, siehe Stewart, A Documentary Survey of the French Revolution, 477–479, 528–531. Siehe auch Fife, The Terror, 155: »definition of ›enemy of the people‹ was left to the caprice or interpretation of those keeping watch on their fellow citizens«. 18 Siehe J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, Frankfurt am Main 1965, 20 f.
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928). Die Revolution hat aber die abstrakten Grundsätze des Rechts in die Tat umgesetzt, ohne auf Gesinnung und Religion zu rechnen (VPhG 929). Die Revolution hat daher keine tiefgreifende Emanzipation der Gesellschaft in Frankreich zustandegebracht, weil sie die Religion der Nation gar nicht reformiert und in die Richtung der Freiheit neu orientiert hat. Eine viel tiefgreifendere Revolution haben die protestantischen Länder mit der Reformation vollbracht (VPhG 925)19. Dennoch hat die französische Revolution »welthistorische« Bedeutung gehabt, denn sie hat die Menschen gelehrt, »daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren sollte« (VPhG 926). Dieses Prinzip mag wohl in katholischen Ländern »Bankerott gemacht« haben. In protestantischen Ländern, wie Deutschland, aber hat dieses durch die Revolution in die Welt verbreitete Prinzip das Bewußtsein des Rechts verstärkt und die Entwicklung der politischen Freiheit gefördert (VPhG 936–7). Die Revolution in Frankreich hat also dazu beigetragen, das befreiende Werk der Reformation außerhalb Frankreichs voranzutreiben. Soviel in Kürze zu Hegels Behandlung der Revolution in seiner Philosophie der Geschichte. Wenden wir uns nun seiner Phänomenologie zu!
III Zuerst einige Bemerkungen zur Methode von Hegels Phänomenologie20. Die Gestalten des Bewußtseins entwickeln sich auf logische Weise auseinander. D. h. die Erfahrung, die geschildert wird, wird durch den Begriff des Gegenstandes, den das Bewußtsein für die Wahrheit erklärt, notwendig gemacht. In dieser Erfahrung geht der neue Gegenstand aus dem ersten Bewußtsein des Gegenstandes hervor. Dieser neue Gegenstand entsteht notwendig, weil er nichts ist als der erste Gegenstand wie er in Wahrheit erfahren wird. Hegel drückt die Sache so aus: der Übergang vom ersten zum zweiten Gegenstande ist so zu verstehen, daß »das Wissen vom ersten Gegenstande, oder das Fürdas-Bewußtsein des ersten Ansich, der zweite Gegenstand selbst werden soll« (PhG 79).
19
Doyle erinnert jedoch daran, daß »the labours of France’s revolutionaries did introduce greater rationality and logic into the country’s affairs on a permanent basis [ … ] [and that] to all intents and purposes feudalism, and the profits lords made from it, had disappeared forever by 1794«, in: The Oxford History of the French Revolution, 393, 395. 20 Siehe auch Houlgate, An Introduction to Hegel, 48–66.
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Dieser Übergang ist aber in der Tat etwas komplizierter als hier angedeutet wird: denn die Erfahrung oder das Wissen des Bewußtseins um seinen ersten Gegenstand liefert nicht unmittelbar den zweiten Gegenstand. Vielmehr müssen wir als Phänomenologen den Übergang zur neuen Gestalt des Bewußtseins, die den neuen Gegenstand aufnimmt, machen. Was in der Erfahrung der ersten Gestalt des Bewußtseins entsteht, ist bloß »das Fürdas-Bewußtsein des ersten Ansich«. Wir gehen dann zur zweiten Gestalt über, für welche dieses Für-das-Bewußtsein des ersten Ansich eben einen neuen Gegenstand ausmacht. Der neue Gegenstand entsteht wohl durch eine Umkehrung des Bewußtseins; »diese Betrachtung der Sache ist [aber] unsere Zutat, wodurch sich die Reihe der Erfahrungen des Bewußtseins zum wissenschaftlichen Gange erhebt und welche nicht für das Bewußtsein ist, das wir betrachten« (PhG 79).21 In der Phänomenologie also verwandelt sich die Aufklärung nicht selber in die absolute Freiheit; noch wird sie als historische Bedingung dieser Freiheit aufgefaßt. Die Aufklärung geht logisch in die absolute Freiheit im Übergang, den wir machen, über.
IV Die Aufklärung ist nicht bloß eine Gestalt des Bewußtseins oder des Selbstbewußtseins, sondern eine Gestalt des Geistes. Sie bezieht sich daher weder bloß auf ein wahrnehmbares Ding noch auf ein anderes Selbstbewußtsein, sondern auf eine wirkliche Welt 22. Vor dem Übergang in die absolute Freiheit ist die Aufklärung zum Punkte gelangt, wo sie die ihr gegenüberstehende Welt als das »Nützliche« versteht. »Das Nützliche«, schreibt Hegel, »ist der Gegenstand, insofern das Selbstbewußtsein […] seinen Genuß […] in ihm hat« (PhG 430 f.). Die Aufklärung ist also das Bewußtsein, das sich vergewissert hat, daß die wirkliche Welt wesentlich für das Bewußtsein selbst da ist. In der Nützlichkeit also hat das Bewußtsein sich selbst als Zweck und Bezugspunkt der Welt begriffen und so seinen eigenen »Begriff« gefunden (PhG 431). Sein Selbstverständnis ist aber nicht unmittelbar: es sieht sein eigenes Selbst in der Nützlichkeit der Gegenstände reflektiert. Die gegenständliche Welt steht dem Bewußtsein zur Verfügung und bestätigt dadurch seine Gewißheit seiner selbst. Diese Welt, zu der sich das Bewußtsein verhält, bleibt aber eine von dem Bewußtsein unterschiedene; sie ist noch nicht 21
Houlgate, An Introduction to Hegel, 57. Siehe Hegel, PhG 326: »Gestalten einer Welt«, und Weisser-Lohmann, »Gestalten nicht des Bewußtseins, sondern einer Welt«, 190. 22
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unmittelbar mit dem Bewußtsein identisch, noch nicht die »unmittelbare und einzige Wirklichkeit« des Bewußtseins selber (PhG 431). Der bewußte Geist ist daher noch nicht wahrhaft selbstbewußter Geist geworden, weil sich das Bewußtsein noch auf die von ihm unterschiedene »Gegenständlichkeit des Nützlichen« bezieht. An sich aber ist die »Rücknahme der Form der Gegenständlichkeit des Nützlichen […] schon geschehen«, und das Bewußtsein bezieht sich nur auf sich selbst (PhG 431). Wieso? Weil gerade die Nützlichkeit des Gegenstandes auf das Bewußtsein verweist, dem der Gegenstand dient, und es dadurch zum Selbstbewußtsein verhilft. Das Nützliche hebt so seine eigene unabhängige Gegenständlichkeit auf, weil es eben diese Gegenständlichkeit in einem dienenden Sein-für-Anderes auflöst und dabei »nichts Eigenes mehr für sich« behält (PhG 431). In dem nützlichen Gegenstande sieht daher das Bewußtsein nicht etwas wahrhaft Gegenständliches und Unabhängiges, sondern etwas seinem eigenen Interesse dienendes, und dadurch sieht es – an sich wenigstens, wenn nicht explizit – nur sich selbst. Als Phänomenologen machen wir nun den Übergang zu einer neuen Gestalt des Bewußtseins, die sich explizit nur auf sich selbst bezieht. Diese Gestalt zieht sich nicht, wie der Stoizismus, aus der Wirklichkeit in das abstrakte Selbst zurück. Vielmehr sieht sie in der gegenständlichen Welt selber nur sich selbst und »seine unmittelbare und einzige Wirklichkeit«. Die Welt ist ihr eine solche, die in dem Fürsichsein selbst besteht. Diese neue Gestalt ist daher »das Schauen des Selbst in das Selbst« oder »das absolute sich selbst doppelt Sehen« (PhG 432), weil das Selbstbewußtsein einer Welt gegenübersteht, die tatsächlich seine eigene Welt ist, worin es als explizites Selbstbewußtsein verwirklicht wird. Diese neue Gestalt des Bewußtseins genießt die »absolute Freiheit«, weil ihr nichts gegenübersteht als sie selbst und die Welt, die sie ausmacht. Da dieses Bewußtsein sich als »das Selbst ebenso seiner als des Gegenstandes« auffaßt, begreift es sich als »das allgemeine Selbst«, nicht als »einzelnes Selbst, dem der Gegenstand ebenso als eigenes Selbst gegenüberstände« (PhG 432). Anders ausgedrückt schreibt sich das Bewußtsein keinen besonderen Willen zu, der der Wirklichkeit fremd wäre. Vielmehr sieht er seinen Willen in der Welt selbst realisiert. »Die Welt ist ihm [daher] schlechthin sein Wille«, und weil sein Wille ebenso der Wille der wirklichen Welt ist, ist dieser Wille allgemeiner Wille (PhG 432)23. 23
Der Begriff des »allgemeinen Willens« wird hier nicht einfach von Rousseau übernommen, wie Hinchman z. B. nahezulegen scheint, sondern durch die Logik der absoluten Freiheit erzeugt; siehe L.P. Hinchman, Hegel’s Critique of the Enlightenment, Gainesville, FL 1984, 143.
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Dieser Wille ist nicht bloß »der leere Gedanke des Willens«, weil er als Welt verwirklichter Wille ist oder, wie Hegel es ausdrückt, »reell allgemeiner Wille«. Die Wirklichkeit aber ist der Bereich der reell existierenden einzelnen Individuen. Der »reell allgemeine Wille« ist daher »der Wille aller Einzelnen als solcher« (PhG 432)24. Er ist der allgemeine Wille, der in jedem Einzelnen unmittelbar zu finden ist und nur als der Wille aller Einzelnen die Substanz der Wirklichkeit ausmacht. Die Welt, die durch diesen allgemeinen Willen oder dieses allgemeine Selbst erschaffen wird, ist daher eine, worin die Interessen der Einzelnen nicht bloß durch Andere vertreten oder »repräsentiert« werden. Sie ist im Gegenteil eine solche, worin »jeder immer ungeteilt alles tut, und was als Tun des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewußte Tun eines Jeden ist« (PhG 433). Die Welt der absoluten Freiheit besteht daher in einer unmittelbaren Einheit von allgemeinem und einzelnem Willen. Der allgemeine Wille ist der Wille in jedem Einzelnen, und jeder Einzelne hat nur den allgemeinen Willen zum Zweck. Überdies zielt der allgemeine Wille auf die Freiheit des einzelnen Willens ab, insofern sie das allgemeine Interesse aller Einzelnen ist. D. h. er fördert nicht die eigentümlichen Interessen bestimmter Einzelner, sondern die allgemeinen Aspekte der Freiheit des Einzelnen als solchen (z. B. seine allgemeinen Rechte als Einzelner). In dieser Welt der absoluten Freiheit setzen sich alle Einzelnen unmittelbar für diese allgemeinen Interessen ein. Sonst verbinden sie keine anderen besonderen Interessen, die von Mitgliedschaft in Korporationen oder Genossenschaften herrühren möchten. In der Welt der absoluten Freiheit gibt es deswegen keinen Platz für die besonderen »Massen« oder »Stände«, die zur früheren Welt der »Bildung« gehören (PhG 366). »In dieser absoluten Freiheit sind […] alle Stände, welche die geistigen Wesen sind, worein sich das Ganze gliedert, getilgt; das einzelne Bewußtsein, das einem solchen Gliede angehörte und in ihm wollte und vollbrachte, hat seine Schranke aufgehoben; sein Zweck ist der allgemeine Zweck, seine Sprache das allgemeine Gesetz, sein Werk das allgemeine Werk« (PhG 433)25.
24
Siehe K. Nusser, »The French Revolution and Hegel’s Phenomenology of Spirit«, in: The Phenomenology of Spirit Reader. Critical and Interpretive Essays, hg. J. Stewart, Albany, NY, 1998, 296: »Since the general will becomes actual, it also becomes every individual will«. 25 Siehe Furet, »The French Revolution Revisited«, 61: »[the Revolution] destroyed all the corps root and branch in order to leave only individuals confronting the state under the name of citizens«. Siehe auch Hegel, Rechtsphilosophie § 5 Zusatz.
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Hegels Text deutet an, daß diese Welt der absoluten Freiheit in der ersten französischen Republik, die 1792 gegründet wurde, zu finden ist. Sie entsteht erst, nachdem sich »diese ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit auf den Thron der Welt [erhebt]«, und sie wird durch die berüchtigte Idee des être suprème begleitet (PhG 433 f.). Dies wird durch den Brief Hegels an Niethammer bestätigt, worin steht, daß »die absolute Freiheit […] [die] rein abstrakte, formelle der französischen Republik« ist26. In der Philosophie der Geschichte interessiert sich Hegel für die ganze Revolution als geschichtliches Ereignis. Er beschreibt zuerst ihre geschichtlichen Bedingungen, dann die Periode der Nationalversammlung, und danach die Republik und den Schrecken. In der Phänomenologie hingegen analysiert Hegel nur die Republik. Er spielt zwar auf die »Aufhebung der unterschiedenen geistigen Massen« an, die schon 1789 und 1790 mit der Abschaffung des Feudalsystems und dem Gesetz Le Chapelier durchgeführt wurde (PhG 434)27. Er befaßt sich aber vor allem mit der Republik – der eigentümlichen Wirklichkeit, die durch die Revolution erbaut wird. Warum? Weil eben diese wirkliche Welt der absoluten Freiheit sich logisch (oder eher phänomenologisch) aus der Aufklärung ableiten läßt. In der Phänomenologie konzentriert sich Hegel daher darauf, die immanente Logik dieser wirklichen Welt darzulegen. Diese Logik wird durch das Verhältnis des allgemeinen und einzelnen Willens zueinander erzeugt. In der absoluten Freiheit steht dem Bewußtsein kein fremder, nützlicher Gegenstand gegenüber, »sondern der Gegenstand ist ihm das Bewußtsein selbst« (PhG 433 f.). Der einzige Unterschied, den das Bewußtsein enthält, ist also der »des einzelnen und allgemeinen Bewußtseins«. Dieser Unterschied ist ein für Hegel typischer, sich sowohl erhaltender als auch aufhebender Unterschied: »der allgemeine Wille geht in sich und ist einzelner Wille, dem das allgemeine Gesetz und Werk gegenübersteht. Aber dies einzelne Bewußtsein ist sich seiner ebenso unmittelbar als allgemeinen Willens bewußt« (PhG 434). Das einzelne Bewußtsein ist sich also bewußt, daß es vom allgemeinen Willen unmittelbar unterschieden ist, daß aber sein eigentümliches Werk darin besteht, zum allgemeinen Werk der ganzen Gemeinschaft beizutragen. 26
Briefe von und an Hegel, hg. J. Hoffmeister, 4 Bände, Hamburg 1952, 2: 28. Siehe auch H.S. Harris, Hegel’s Ladder, 2 Bände, Indianapolis, IN, 1997, 2: 388. Robert Wokler dagegen ist der Meinung, daß sich für Hegel die absolute Freiheit schon mit der Aufstellung der Nationalversammlung am 17 Juni 1789 »auf den Thron der Welt erhebt«: vgl. R. Wokler, »Contextualizing Hegel’s Phenomenology of the French Revolution and the Terror«, in: Political Theory 26, 1 (1998), 39. 27 Siehe Stewart, A Documentary Survey of the French Revolution, 106–10, 142–3, 165–6, 168–9.
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In der absoluten Freiheit ist das Bewußtsein einzelnes Bewußtsein, das (in seinen eigenen Augen) unmittelbar ein allgemeines Werk verrichtet. Dieses Bewußtsein verhält sich zu nichts Anderem als seiner eigenen Wirklichkeit und ist daher in Wechselwirkung nur mit sich selbst. Aus diesem Grunde entläßt es nichts aus sich, das die Gestalt »eines freien ihm gegenübertretenden Gegenstandes« annehmen würde (PhG 434). Es folgt daraus, meint Hegel, daß es bei diesem Bewußtsein zu keinem wahrhaft »positiven Werke« kommen kann. Das heißt nicht, daß ein solches Bewußtsein keine Gesetze erlassen oder Staatsaktionen unternehmen kann. Vielmehr heißt es, daß durch das einzelne Bewußtsein kein wahrhaft allgemeines Werk, das zugleich positiv oder konstruktiv ist, vollbracht werden kann. Hegel beschreibt zwei Arten von Werk, die dem absolut freien Bewußtsein offenstehen. Die erste ist das Werk, zu welchem sich solches Bewußtsein machen könnte, wovon es sich aber fernhält. Dieses Werk bestünde darin, den allgemeinen Willen nach seiner eigenen immanenten Notwendigkeit sich gestalten zu lassen. Ein derart frei entlassener allgemeiner Wille würde sich in besondere Staatsgewalten und Stände gliedern und dadurch einen organischen Staat (wie etwa in der Rechtsphilosophie auseinandergelegt wird) bilden (PhG 435). Ein solcher Staat hätte eine eigene Struktur, die durch die allgemeine Idee der Freiheit, nicht bloß durch die ausdrückliche Einwilligung aller Einzelnen, bestimmt und gerechtfertigt wäre. Sie wäre in diesem Sinne »frei von der einzelnen Individualität« (PhG 435), die den verschiedenen Zweigen des Staats zugeteilt wäre. Das würde aber bedeuten, daß sich die Individuen nur durch die Vermittlung besonderer Sphären am Leben des Ganzen beteiligen würden. Sie würden daher eine durch ihren besonderen Stand beschränkte Identität erhalten, und ihr Bewußtsein würde aufhören, ein unmittelbar »allgemeines Selbstbewußtsein« zu sein (PhG 435). Überdies würden die Einzelnen in einem solchen organischen Staat nicht mehr direkt am allgemeinen Tun des Staats teilnehmen, sondern durch Andere vertreten werden, die für das allgemeine Werk des Staats besonders zuständig wären. Die Einzelnen würden aber, von ihrer eigenen »absolut freien« Perspektive her, dabei um die Wirklichkeit betrogen werden, »das Allgemeine selbst zu vollbringen«. Wenn das Bewußtsein den allgemeinen Willen für sich entwickeln und einen organischen Staat bilden lassen würde, könnte durch die Einzelnen selbst kein unmittelbar allgemeines Werk vollbracht werden. Wie ist es aber in der wirklichen Welt der absoluten Freiheit, worin weder eine ständische Organisation noch eine klare Gewaltenteilung vorhanden sind? Auch hier, meint Hegel, ist es unmöglich, daß durch das einzelne Bewußtsein ein wahrhaft allgemeines Werk, das zugleich positiv ist, vollbracht wird. Der Grund
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hierfür liegt darin, daß »der allgemeine Wille […] nur in einem Selbst, das Eines ist, wirklicher Wille« ist und daher nur durch die Tätigkeit bestimmter Individuen in die Tat umgesetzt werden kann. »Dadurch aber sind alle anderen Einzelnen von dem Ganzen dieser Tat ausgeschlossen und haben nur einen beschränkten Anteil an ihr« (PhG 435). Die Ausführung des allgemeinen Willens ist daher nicht Tat »des wirklichen allgemeinen Selbstbewußtseins«, weil nicht alle Einzelne daran teilnehmen. In der absoluten Freiheit ist der allgemeine Wille »reell allgemeiner Wille« und daher mit dem reell existierenden einzelnen Willen unmittelbar identisch. Durch den einzelnen Willen kann aber kein wahrhaft allgemeines Werk, das zugleich positiv ist, unmittelbar vollbracht werden, entweder (wie im vorgestellten organischen Staat) weil das Werk der Einzelnen immer ein beschränktes, an einem bestimmten Stand gebundenes Werk wäre, oder (wie in der Welt der absoluten Freiheit selbst) weil das Werk der Einzelnen im Interesse des Allgemeinen die Tätigkeit der Mehrheit ausschliessen muss und daher nicht das wahrhaft allgemeine Werk aller Einzelner sein kann. Was bleibt dann dem Bewußtsein übrig? Kann ein wahrhaft allgemeines Werk überhaupt durch Einzelne unmittelbar vollbracht werden? Ja, aber nur wenn dieses Werk darin besteht, den allgemeinen Willen als explizit allgemeinen Willen gegen seine vermeinten Gegner – und zwar durch ihre Entfernung – zu verteidigen. Das wahrhaft allgemeine Werk des Bewußtseins in der Welt der absoluten Freiheit kann daher nur »das negative Tun« sein (PhG 435 f.). Der allgemeine Wille, der unmittelbar mit dem einzelnen Willen identisch ist, bewährt sich als wahrhaft allgemeiner Wille, dadurch daß er seine Allgemeinheit gegen diejenigen, die ihm entgegengesetzt sein könnten, durchsetzt. In einer Welt, worin alle Stände abgeschafft worden sind und es nur noch gleichwertige Einzelne oder »citoyens« gibt, ist der einzige Gegenstand, der sich von dem allgemeinen Willen unterscheiden kann, »die Freiheit und Einzelheit des wirklichen Selbstbewußtseins selbst« (PhG 436). Der allgemeine Wille muß sich also gegen Einzelne behaupten, insofern diese bloß Einzelne sind und sich noch nicht ausdrücklich für den allgemeinen Willen erklärt haben28. Der allgemeine Wille will vollkommen allgemein sein und, dieser unbeschränkten Allgemeinheit entsprechend, die ganze Welt der absoluten Freiheit bestimmen. Da er im Namen seiner Allgemeinheit das Ganze zu sein beansprucht, kann er nichts außer sich selbst zulassen. Der einzelne 28
Siehe Andress, The Terror, 130: »a quality Robespierre was to dub défiance – a revolutionary mistrust of all public figures who did not repeatedly and openly acclaim and demonstrate their popular and radical credentials«.
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Wille, insofern er bloß einzelner ist, muß daher entfernt werden. Ihm droht deswegen von Seiten des allgemeinen Willens »die ganz unvermittelte reine Negation« oder der Tod. Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit, worin sie ihre wahre Allgemeinheit beweist, ist daher der Tod – die völlige Vernichtung des wirklichen Einzelnen oder »die Negation des Einzelnen als Seienden in dem Allgemeinen« (PhG 436). Der allgemeine Wille kann aber, wie oben bemerkt wurde, nur durch bestimmte Individuen in die Tat umgesetzt werden. Solche Individuen können nicht umhin, eine »bestimmte Anordnung und Handlung« zu vollbringen und damit die übrigen Individuen aus ihrer Tat auszuschließen. D. h. sie stellen sich dadurch notwendig als eine Faktion dar, die einen bestimmten Willen hat und daher in der Tat dem allgemeinen Willen entgegengesetzt ist; und eben darin, daß sie eine Faktion bilden, »liegt unmittelbar die Notwendigkeit ihres Untergangs« (PhG 437). In ihren eigenen Augen jedoch gehört diese regierende Faktion zum wirklichen allgemeinen Willen: der allgemeine Wille allein ist in der Welt der absoluten Freiheit wahrhaft wirklich und sie sind ja diejenigen Individuen, die diesen wirklichen Willen am vollständigsten verkörpern. Der einzelne Wille, der dem wirklichen allgemeinen Willen entgegengesetzt ist und durch den Tod zu entfernen ist, kann daher – von der Perspektive der Regierung – kein wahrhaft wirklicher Wille sein. Das Individuum ist zwar ein wirkliches Individuum, aber sein Wille, insofern er dem Allgemeinen widersteht, kann nichts mehr als »der unwirkliche reine Wille« sein. Vom Standpunkte der Regierung also setzt sich das wirkliche Individuum dem allgemeinen Willen nicht durch wirkliches Handeln, sondern durch seine unwirkliche innere Absicht entgegen. Für die Regierung also gibt es »nichts Bestimmtes und Äußeres«, woran die Schuld der Einzelnen erkannt werden kann. Einzelne werden schuldig gesprochen, bloß weil der Regierung ihre inneren Absichten verdächtig sind (PhG 437)29. Der absolut freie allgemeine Wille erhebt den Anspruch, der einzige wirkliche Wille zu sein; dieser allgemeine Wille macht ja die Wirklichkeit der absoluten Freiheit aus. Der einzige Wille, der ihm entgegengesetzt sein kann, ist daher der unwirkliche, bloß unter Verdacht stehende einzelne Wille. Diesen unwirklichen einzelnen Willen gilt es in den Augen des allgemeinen Wil-
29
Siehe oben Anm. 17. Schmidt versteht wohl, daß »[the] sole crime [of those who are accused] is that of having been defined as something other than the general will«. Er behauptet jedoch – meiner Meinung nach, irrtümlicherweise – daß es die Ankläger, nicht die Angeklagten, sind, die »only an unreal pure will« haben. Siehe Schmidt, »Cabbage Heads and Gulps of Water«, 23.
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lens zu entfernen. Durch den Tod wird aber nicht nur die innere Absicht entfernt. Es wird der unmittelbar wirkliche einzelne Wille mitsamt seiner unwirklichen Absicht vernichtet. Daher spricht Hegel von der Reaktion seitens der Regierung gegen »diese Wirklichkeit, die in dem einfachen Inneren der Absicht liegt« – einer Reaktion, die »in dem trockenen Vertilgen dieses seienden Selbsts« besteht (PhG 437). Nach Hegel also schließt die absolute Freiheit notwendig den Schrecken ein. Der Schrecken ist nicht bloß eine Notmaßnahme, die ergriffen wird, um die Republik vor den Gefahren des Krieges zu schützen. Er ist die blutige logische Folge eines abstrakt allgemeinen Willens, der »allen Unterschied und alles Bestehen des Unterschiedes in sich vertilgt« (PhG 437)30.
V In der Welt der absoluten Freiheit ist der allgemeine Wille unmittelbar wirklicher oder »reell allgemeiner Wille«. Wirklich ist er als der Wille aller Einzelnen. Dieser allgemeine Wille bewährt sich aber als wirklich allgemeiner nur durch die Vernichtung des ihm entgegengesetzten, bloß einzelnen Willen. In dem Tode, zu dem er die bloß Einzelnen verurteilt, erkennt also der allgemeine Wille sein eigenes negatives Wesen. »Diese seine Realität findet aber das absolut freie Selbstbewußtsein ganz anders, als ihr Begriff von ihr selbst war«, denn zum Anfang faßte es den allgemeinen Willen als »das positive Wesen der Persönlichkeit« – d. h. als Boden der Freiheit aller Einzelnen – auf (PhG 437). Durch die Furcht, die das Bewußtsein vor diesem seinem eigenen negativen Wesen empfindet, schwört es dem Schrecken ab, läßt sich »die Unterschiede wieder gefallen« und bildet sich wieder (unter Napoleon) eine »Organisation der geistigen Massen« aus (PhG 438)31. Die Erfahrung des Schreckens führt aber zu einer weiteren Entwicklung des Bewußtseins, die logisch notwendig ist, der aber kein geschichtlicher Übergang entspricht.
30
Siehe Furet, The French Revolution 1770–1814, 140: »As early as 1789, the French Revolution could envisage resistance – real or imaginary – only as a gigantic and permanent conspiracy, which it must ceaselessly crush, by means of a people constituted as a single body, in the name of its indivisible sovereignty. Its political repertoire had never given the slightest opening to legal expressions of disagreement, let alone conflict. […] The Terror was a regime where men in power designated those who were to be excluded in order to purify the body of the nation«. 31 Siehe Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹, 204, und T. Pinkard, Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason, Cambridge 1996, 186.
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In dem Tode des bloß Einzelnen erfährt das Bewußtsein den Verlust seiner unmittelbaren Wirklichkeit. Es sieht diese »Wirklichkeit unmittelbar verschwinden und in das leere Nichts übergehen« (PhG 439). Sein ursprüngliches Verständnis des allgemeinen Willens wird dabei auch umgestoßen: was ihm zunächst als »das positive Wesen der Persönlichkeit« erschien, hat sich jetzt als eine negative zerstörerische Macht entblößt. Zugleich aber führt diese Erfahrung des Verlustes – logisch, wenn nicht geschichtlich – zu einem neuen Verständnis des allgemeinen Willens. Denn in der Erfahrung des Todes ist dem Bewußtsein in der Tat die Natur des wahrhaft allgemeinen Willens offenbar geworden. Die »Negativität« des allgemeinen Willens schlägt daher dem Bewußtsein – logisch, wenn nicht geschichtlich – »zur absoluten Positivität« um, und der »Verlust, den das Selbst in der absoluten Freiheit erfährt«, erweist sich dabei vielmehr als Gewinn (PhG 439–40). Das absolut freie Bewußtsein begreift sich als unmittelbare Einheit seiner Einzelheit mit dem allgemeinen Willen. Die Einzelheit macht die unmittelbare Wirklichkeit des allgemeinen Willens aus. Nun ist es dem Bewußtsein durch die Logik seiner Erfahrung klar geworden, daß der allgemeine Wille gerade durch das Verschwinden der Einzelheit seine wahre positive Allgemeinheit erlangt. Der wahrhaft allgemeine Wille ist also nicht mit dem unmittelbaren einzelnen Willen, sondern mit der »verschwundenen Unmittelbarkeit« identisch. Dieser wahrhaft allgemeine Wille ist daher nicht »reell allgemeiner Wille« oder »das unmittelbar seiende Wesen«, sondern reiner Wille, dessen Reinheit gerade in der »aufgehobenen Unmittelbarkeit« besteht (PhG 440)32. Wenn aber der wahrhaft allgemeine Wille überhaupt nicht mit dem unmittelbaren einzelnen Willen identisch ist, darf er gar nicht mehr mit dem revolutionären Willen gleichgesetzt werden, der als Regierung Einzelner die bloß Einzelnen zu Tode verurteilt. Vielmehr hat er sich in reines, inneres Wissen verwandelt. Noch eins ist nun zu erwähnen, um den logischen Übergang in die nächste Gestalt des Geistes zu verdeutlichen. Der allgemeine Wille als absolute Freiheit bildet eine wirkliche Welt. Er ist wirklicher Wille aber nur in den Willen Einzelner. Der wahrhaft allgemeine Wille, der durch das Verschwinden des einzelnen Willens entsteht, verzichtet dabei auf seine eigene Wirklichkeit. Er verwandelt sich demnach in einen unwirklichen inneren Willen. Die »sich selbst zerstörende Wirklichkeit« der absoluten Freiheit geht daher »in ein 32
Siehe J. Hyppolite, Genesis and Structure of Hegel’s Phenomenology of Spirit, übersetzt. S. Cherniak und J. Heckman, Evanston, IL, 1974, 460: »the terror of death shows […] that absolute freedom cannot be realized in an immediate form«; 467: »we must therefore leave the earth […] on which absolute freedom tried to actualize itself immediately«; 455: »what we have here is an internalization of absolute freedom, which cannot exist immediately«.
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anderes Land des selbstbewußten Geistes über, worin sie in dieser Unwirklichkeit als das Wahre gilt« (PhG 441). Die Gestalt des Geistes, der diese neue Auffassung des allgemeinen Willens ausdrücklich aufnimmt und für seine eigene Wahrheit erklärt, ist der moralische Geist. In der revolutionären Regierung wendet sich der durch die Einzelnen verwirklichte allgemeine Wille gegen Einzelne, die außerhalb des wirklichen allgemeinen Willens zu sein scheinen. Dieser in den Einzelnen verwirklichte allgemeine Wille erhebt den Anspruch die einzige wahre Wirklichkeit zu sein. Die Einzelnen, die unmittelbar wirklich sind, aber sich nicht am wirklichen allgemeinen Willen zu beteiligen scheinen, werden daher als unwirkliche Willen abgetan. Sie fallen außerhalb des allgemeinen Willens nicht wegen bestimmter Taten, sondern wegen ihrer von der Perspektive der Regierung verdächtigen Absichten. Im moralischen Geist hat sich der allgemeine Wille selbst zum unwirklichen Willen herabgesetzt, dadurch daß er sich die unmittelbare Verwirklichung durch die Einzelnen verweigert hat. Die Einzelheit stellt nun bloß die »durchsichtige Form« des reinen inneren allgemeinen Willens dar (PhG 440 f.). Im moralischen Geist bildet daher der allgemeine Wille keine wirkliche Welt der Freiheit, und schon gar nicht eine revolutionäre »Republik der Tugend«. Er bildet eher ein Reich des »unwirklichen« Gedankens und der Vorstellung, der der unmittelbar wirklichen Welt der Natur gegenübertritt. In diesem Bereich des moralischen Geistes, behauptet Hegel, hat sich »alle Gegenständlichkeit und Welt« in den »wissenden Willen« zurückgezogen (PhG 442). Dadurch aber erlangt der moralische Geist eine neue Unmittelbarkeit und Wirklichkeit, die in der »reinen Gewißheit seiner selbst« besteht. Ihr gegenüber tritt die »völlig bedeutungslose Wirklichkeit« der Natur auf, worin der moralische Geist seine Pflicht zu erfüllen und dadurch sich selbst vollständig zu verwirklichen strebt (PhG 443). Da aber die Natur der Erfüllung der moralischen Pflicht gleichgültig, ja unangemessen ist, bleibt dem moralischen Geist die erstrebte Verwirklichung versagt (PhG 444). Die Verwirklichung der Pflicht in der Natur bleibt ja der Zweck des moralischen Geistes. Dieser Zweck enthält aber nur den »Gedanken« der pflichtgemäßen Wirklichkeit. Die Harmonie der Moralität und Natur ist also bloß »gedacht als notwendig seiend, oder sie ist postuliert« (PhG 445). Die absolute Freiheit war sich dessen bewußt, eine wirkliche Welt auszumachen; der in den reinen inneren Willen zurückgezogene moralische Geist hingegen muß sich – vorerst zumindest – mit dem »unwirklichen« Gedanken oder Postulat seiner eigenen Verwirklichung begnügen33. 33
Lukács versteht den Übergang von der absoluten Freiheit zum moralischen Geist
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VI In der Philosophie der Geschichte zeigt Hegel, wie sich die Idee der Freiheit geschichtlich entwickelt. Seine Analyse der französischen Revolution fängt mit der Idee des Liberalismus an, worin die Freiheit als die allgemeine Freiheit aller Einzelnen begriffen wird (VPhG 924–5, 932–3). Die Revolution wird als die »Gewalt« dieser Idee konzipiert, die sich »polemisch« gegen die bestehenden Zustände wendet und sie umwälzt (VPhG 924–5). Zuerst skizziert Hegel die Folgen der Revolution von 1789 und die Widersprüche der daraus resultierenden politischen Ordnung. Was ihn dann in der Republik besonders interessiert, ist die Tatsache, daß die abstrakten Prinzipien der Freiheit dem subjektiven Willen einverleibt wurden und in der Gestalt der subjektiven Tugend auftraten (VPhG 929–30). Diese revolutionäre Tugend leitete den Schrecken ein, weil sie diejenigen, denen diese Tugend fehlte, als Feinde der Freiheit aus der Welt schaffen wollte und sich anmaßte, durch die tugendhafte Gesinnung allein »ohne gerichtliche Formen« solche Feinde ausfindig zu machen und zu verurteilen. In der Philosophie der Geschichte zeigt Hegel daher, wie die Prinzipien der »absoluten« Freiheit die Form der subjektiven, »moralischen« Gesinnung innerhalb der Republik selbst annahmen. Diese Vermoralisierung der Freiheit in der Revolution ist dadurch zu erklären, daß die Revolution die moderne Freiheit des individuellen Subjekts, des inneren Selbsts, die Erbe der Reformation ist, in die Tat umzusetzen bestrebt ist. Diese moderne Freiheit entwickelt sich in der Revolution nicht zu einem organischen Rechtsstaat, sondern nimmt eine abstrakte Form an. Sie drückt sich daher als die innere, subjektive Gesinnung der Tugend aus34. als einen historischen Übergang. Er behauptet, daß »The chapter on Morality […] represents, then, Hegel’s utopian vision of a Napoleonic Germany« nach der Revolution; vgl. G. Lukács, The Young Hegel, übers. R. Livingstone, London 1975, 503. Eine ähnliche geschichtliche Interpretation dieses Übergangs ist bei Robert Wokler zu finden: »In that vanished immediacy lies the universal will itself, which it now knows itself to be, insofar as it is a pure will […]. Here, I suspect, Hegel may be alluding both to Thermidor and then to the Directory, or perhaps even to the advent of the age of Napoleon, at any rate introducing a fresh notion of purely positive self-consciousness by way of yet another negation of a negation«; R. Wokler, »Contextualizing Hegel’s Phenomenology of the French Revolution and the Terror«, 38. Meiner Ansicht nach aber ist dieser Übergang ein rein logischer, und er entspricht keinem geschichtlichen Ereignis. Schmidt bietet überhaupt keine Erklärung dieses Übergangs an und behauptet bloß, daß »Spirit somehow finds an escape hatch that leads to the world of ›Self-Certain Spirit. Morality’«; Schmidt, »Cabbage Heads and Gulps of Water«, 24. 34 Siehe Hegel, VPhG 892–3, wo eine Verbindung zwischen dem revolutionären »Verdacht« und der »abstrakten Form der Innerlichkeit« hergestellt wird. Solche Innnerlich-
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In der Phänomenologie wird nicht die geschichtliche Entwicklung der Idee der Freiheit betrachtet, sondern die Erfahrung, die logisch durch die grundsätzliche Struktur des Bewußtseins notwendig gemacht wird. Der Abschnitt über die absolute Freiheit fängt mit dem freien Geiste an, der als allgemeiner Wille zu verstehen ist. Dieser allgemeine Wille wird als Wille aller Einzelnen konzipiert (wie im historischen Liberalismus). Was Hegel beschäftigt aber, ist nicht so sehr der Prozeß der polemischen Umwälzung der bestehenden Zustände durch diesen allgemeinen Willen, sondern vielmehr die wirkliche Welt selbst, die dieser Wille errichtet. Das rührt daher, daß Hegel im sechsten Kapitel der Phänomenologie nicht die historische Entwicklung der modernen subjektiven Freiheit, sondern die logische Entwicklung des Geistes durch verschiedene »Gestalten einer Welt« verfolgt (PhG 326). Nach Hegel wird durch die immanente Logik der wirklichen Welt der absoluten Freiheit keine subjektive Tugend notwendig gemacht. Deswegen spielt diese Tugend keine Rolle in der Ableitung und Erklärung des revolutionären Schreckens in der Phänomenologie35. Zwei Phänomene gehören zum revolutionären Schrecken. Erstens, die Tatsache, daß Missetäter aller Art zu Tode verurteilt werden, und zweitens, die Tatsache, daß der bloße Verdacht ausreicht, um Missetäter zu entdecken und zu verurteilen. Sowohl in der Philosophie der Geschichte als auch in der Phänomenologie duldet der revolutionäre Wille keinen von ihm unterschiedenen Willen, und er verurteilt demnach alle, die dem allgemeinen Willen entgegengesetzt zu sein scheinen, zum Tode. Der Grund, warum der allgemeine Wille sich durch den bloßen Verdacht berechtigt fühlt, seine vermeinten Gegner zu verdammen, ist aber in der Philosophie der Geschichte und der Phänomenologie verschieden. In der Philosophie der Geschichte reicht der Verdacht aus, um die Feinde der Freiheit zu entlarven, weil die Ankläger sich anmaßen, durch ihre eigene subjektive Tugend allein, die Feinde von den Freunden der Revolution unterscheiden zu können. In der Phänomenologie reicht der Verdacht aus, um die Feinde der Freiheit zu entlarven, weil von der Perspektive der Regierung her die vermeinten Gegner der Revolution sich durch ihren unwirklichen Willen, durch ihre bloße Absicht, dem Verdacht aussetzen. Ihre Schuld wird nicht durch diejenigen, die sich ihrer subjektiven keit wird sowohl in katholischen als auch in protestantischen Ländern gefunden. Sie tritt aber vor allem nach der Reformation auf und ist als Effekt der Reformation zu betrachten. Siehe auch Furet, The French Revolution 1770–1814, 144: »The deputy from Arras [Robespierre] endlessly extolled virtue: a quality which was no longer simply the civic selflessness of antiquity, but which constantly mingled with that heritage the subjective feeling of modern morality«. 35 Die Tugend wird aber im früheren Vernunftkapitel behandelt; siehe PhG 283–291.
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Tugend rühmen, festgestellt, sondern durch diejenigen, die sich selbst den »wirklichen allgemeinen Willen« zuschreiben (PhG 437). In der Phänomenologie, wie wir gesehen haben, geht die absolute Freiheit logisch in den moralischen Geist über, weil dieser moralische Geist die Idee des allgemeinen Willens als reinen inneren Willens aufnimmt. Nichts in der wirklichen Welt der absoluten Freiheit aber macht es notwendig, daß die absolute Freiheit selber in der moralischen Gestalt der subjektiven Tugend auftreten soll. Nur die geschichtliche Entwicklung des modernen Geistes zur »abstrakten Form der Innerlichkeit« (VPhG 893) und der subjektiven Moralität, die in der phänomenologischen Analyse der französischen Republik keine Rolle spielt, macht das Phänomen der revolutionären Tugend verständlich. Sind also die Analysen der Revolution in der Philosophie der Geschichte und der Phänomenologie miteinander vereinbar? Ja, auf alle Fälle. Die Phänomenologie untersucht die immanente Logik der wirklichen Welt der absoluten Freiheit. Sie beschreibt daher die »rein abstrakte, formelle [Freiheit] der französischen Republik« und läßt andere Aspekte der Revolution (wie ihren religiösen Hintergrund und den Kriegszustand in den 90er Jahren) außer Betracht36. Die Philosophie der Geschichte widerspricht nicht der Analyse der Phänomenologie, sondern betrachtet diese Republik in ihrem konkreten historischen Kontext. Die Republik tritt daher nicht bloß für sich, sondern als Moment der gesamten revolutionären Umwälzung des französischen Staats auf. Die Phänomenologie zeigt daher, daß allein die republikanische Wirklichkeit der absoluten Freiheit – ohne die subjektive Tugend miteinzubeziehen – den Schrecken notwendig macht. Die Philosophie der Geschichte zeigt darüber hinaus, daß in den eigentümlichen Zuständen der modernen Zeit (nach der Reformation und nach Rousseau) die absolute Freiheit die Gestalt der subjektiven Tugend annimmt, und daß diese Tugend auch den Schrecken mit sich bringt. Sie macht auch klar, daß der Schrecken nicht bloß zur Republik gehört, sondern zur Revolution insgesamt, weil er der konsequente Ausdruck des revolutionären Liberalismus ist. Die beiden Analysen der Revolution, die Hegel anbietet, sind wohl miteinander zu versöhnen, weil die geschichtsphilosophische Analyse die phänomenologische ergänzt37. 36
Briefe von und an Hegel 2, 28. Da Hegel in der Philosophie der Geschichte die Republik als den konsequenten Ausdruck des revolutionären Liberalismus versteht, würde er der Behauptung von Furet zustimmen, daß »[the Terror] was inseparable from the revolutionary universe, of which it had constituted one of the potentialities from the very beginning«; Furet, The French Revolution 1770–1814, 140. 37
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In der Phänomenologie schildert Hegel keine konkreten historischen Gestalten oder Übergänge38. Er untersucht nur die immanente Logik bestimmter »abstrakter« Gestalten des Bewußtseins und des Geistes, denen bestimmte geschichtliche Phänomene entsprechen, und er zeigt, wie sie sich logisch in der »ideell« rekonstruierten Erfahrung des reinen Bewußtseins auseinander entwickeln. Die Phänomenologie reicht also nicht aus, die konkrete geschichtliche Entwicklung des Geistes zu erklären. Sie zeigt aber wie bestimmte historische Phänomene, nicht nur durch die in der Geschichte sich entwikkelnde Idee der Freiheit, sondern auch durch die fundamentale Struktur des Bewußtseins selbst, notwendig gemacht werden. Auf diese Weise bietet sie eine einleuchtende phänomenologische Erklärung von bestimmten Aspekten historischer Phänomene an, die dem Historiker (und vielleicht auch dem Geschichtsphilosophen) verborgen bleiben muß.
38
Wokler dagegen glaubt, daß die Analyse in der Phänomenologie »[is] apparently intended by Hegel as a philosophical explanation of actual historical events«; Wokler, »Contextualizing Hegel’s Phenomenology of the French Revolution and the Terror«, 33.
Der Übergang von der Moral zur Religion im Gewissen Friedrike Schick (Tübingen)
Das Gewissenskapitel der Phänomenologie des Geistes als einen Übergang vom moralischen zum religiösen Bewußtsein anzusprechen, ist durch die Abfolge der Kapitel ebenso nahegelegt wie mißverständlich; treten doch religiöse Motive innerhalb des Moralitätsabschnitts (»Der seiner selbst gewiße Geist. Die Moralität«) nicht erst gegen Ende auf, sondern bereits in seinem Anfang, der »moralische[n] Weltanschauung«, in der die Kantische Postulatenlehre und damit die religiösen Annahmen der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der menschlichen Seele als weltanschauliche Implikationen des moralischen Selbstverständnisses thematisch werden. Mehr noch, der Standpunkt des Gewissens wird geradezu als kritische Reaktion gegen die Verlagerung der Wirklichkeit des Guten in ein Jenseits des Wirklichen eingeführt. Der Frage, ob und inwiefern der Standpunkt des Gewissens gleichwohl eine Endgestalt des Moralischen und eine Übergangsgestalt zu absolutem Geist und näher zur Religion darstellt, möchte ich im folgenden im immanenten Nachvollzug des Standpunkts des Gewissens (Teil I), der Realisierung seiner Dialektik für den Standpunkt selbst (Teil II) und seiner Aufhebung (Teil III) nachgehen. Um der Konzentration auf die immanente Logik dieses Standpunkts willen beschränke ich mich dabei auf seinen Gehalt und verzichte auf die Zuordnung zu theorie- und literarhistorischen Vorbildern1.
1
Die direkten Zeitbezüge behandeln: Emanuel Hirsch, »Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie. Ein Kommentar zu dem Abschnitte über die Moralität«. In: Carl Stange (Hg.), Die idealistische Philosophie und das Christentum. Gesammelte Aufsätze von Emanuel Hirsch, Gütersloh 1926, 117–139; mit Rücksicht auf Jacobis Woldemar: Gustav Falke, »Hegel und Jacobi. Ein methodisches Beispiel zur Interpretation der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegel-Studien 22 (1987), 129–142; mit Rücksicht auf Schellings Freiheitsschrift: Christian Iber, »Religiös begründete Moral in Hegels ›Phänomenologie‹ und Schellings ›Freiheitsschrift‹«, in: Hegel-Jahrbuch 2001 (Phänomenologie des Geistes, hg. v. Andreas Arndt/Karol Bal/Henning Ottmann in Verbindung mit Davor Rodin, Berlin 2002, Erster Teil, 225–231). Zeitbezug, interne Systematik und das Verhältnis des Gewissenskapitels der Phänomenologie zur Behandlung des Gewissens in Hegels Rechtsphilosophie behandelt Dietmar Köhler, »Hegels Gewissensdialektik«, in: HegelStudien Bd. 28, Bonn 1993, 127–141; leicht verändert wiederabgedruckt in: Dietmar Köhler/Otto Pöggeler (Hg.), G. W. F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Klassiker Auslegen Bd. 16, Berlin 1998, 209–226.
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I. Der Standpunkt des Gewissens: sein Ausgangspunkt, seine Charakteristik, sein Problem 1. Der Ausgangspunkt des Gewissens: Die moralimmanente Kritik der abstrakten Moralität Der Standpunkt des Gewissens wird eingeführt als interne Weiterentwicklung des moralischen Standpunkts auf der Grundlage einer Kritik an der ihm bis dahin anhaftenden Entgegensetzung zwischen moralischem Prinzip und individueller Befriedigung, zwischen Moral und Leben und damit auch der – in der moralischen Weltanschauung explizit gewordenen – Verjenseitigung oder Entwirklichung des Moralischen. Dem bis dahin entwikkelten Standpunkt selbst nämlich stellte sich das moralisch Gute als etwas dar, was unwidersprechlich sein soll und doch nicht wirklich werden kann, sein eigener Zweck als das selbständige Wesen gegen die Wirklichkeit, der ebendarin ihr eigenes, nicht moralisches Wesen attestiert ist. So bildete der moralische Standpunkt Doppelansichten sowohl von der objektiven Sphäre, in der gehandelt werden soll, als auch vom handelnden Subjekt aus, die beides in Gegensatz zueinander und in Gegensatz jeweils zu sich selbst versetzen. Diese Ansichten entwickelt Hegel im Ausgang von den (nicht nur) aus der zeitgenössischen Moralphilosophie geläufigen Topoi des Gegensatzes von Moralität und Glückseligkeit (für das Verhältnis des guten Willens zur äußeren Welt, der Sphäre seiner Realisierung), des Gegensatzes von Pflicht und Neigung (für das Verhältnis des guten Willens zu einer vorausgesetzten inneren Natur des Subjekts) und schließlich des Gegensatzes zwischen der Einheit von Pflicht und der Vielheit bestimmter Pflichten (für das Verhältnis des guten Willens zu sich selbst in der Wirklichkeit moralischen Handelns)2. Hegels theoretische Pointe liegt in allen drei Fällen in dem (hier nicht eigens verfolgten) Nachweis, daß die Notwendigkeit – auch: die Nichtauflösbarkeit – des Gegensatzes in der Ausgangskonzeption des moralischen Standpunkts selber begründet ist, daß das moralische Bewußtsein in dem, womit es sich als äußeren Bedingungen konfrontiert glaubt, in der Tat »seinen eignen Begriff entwickelt«3. Was ihm begegnet, so ließe sich Hegels Diagnose zusam2
Vgl. dazu die Anfangszüge des Kapitels »Die moralische Weltanschauung«, GW 9, 324–330; ThW 3, 442–452. – Im folgenden zitiere ich die Phänomenologie nach der Ausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke (GW) Bd. 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen/Reinhard Heede, Hamburg 1980. Zitatnachweise geben Seiten und Zeilen an. Ergänzend werden die Parallelstellen in der Theorie Werkausgabe (ThW): G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3, Frankfurt am Main 1970 angegeben. 3 GW 9, 330, 28; ThW 3, 450.
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menfassen, sind die Konsequenzen seines eigenen Ausschlusses essentieller Momente des Praktischen aus seiner Konzeption des Guten: Daß dem moralischen Subjekt die äußere Sphäre seines Handelns – die »äußere Natur« – in erster Instanz als eine dem moralischen Zweck gleichgültig gegenüberstehende Welt begegnet, ist nur die Kehrseite dessen, daß der moralische Zweck selbst durch seine negative Freiheit von der Welt bestimmt war. Daß ihm seine eigenen praktischen Antriebe, Bedürfnisse und Neigungen – seine »innere Natur« – in erster Instanz als negative und zu negierende Bestimmungen erscheinen, ist die Kehrseite dessen, daß der moralische Zweck selbst durch den Ausschluß inhaltlicher Bestimmungsgründe definiert war. Und daß ihm der Übergang von der Pflicht als solcher zu inhaltlich bestimmten Pflichten nicht gelingen will, ist die Kehrseite derselben definitorischen Abstraktheit des moralischen Zwecks. Dem beschriebenen moralischen Standpunkt selbst freilich liegt die analytische Rückbeziehung der von ihm konstatierten Gegensätze auf den Kern der eigenen Konzeption fern. Zugleich verbucht er die Gegensätze nicht einfach unter die Rubrik praktisch, durch die Tat, zu lösender Probleme, und das mit gutem Grund: Die durchgeführte praktische Negation der äußeren und der inneren Natur fiele mit der Negation der moralischen Subjektivität selbst zusammen4. Unter diesen Vorzeichen vollzieht sich der für unsere Rahmenfrage entscheidende erste Ausgriff des moralischen Standpunkts auf das Transzendente: Die Einheit der von ihm konstatierten Gegensätze gilt ihm nach Voraussetzung weder als objektiv – in seiner Wirklichkeit – gegeben noch als mögliches eigenes praktisches Programm. Die Einheit ist gegeben – 4
In Hegels Darstellung unterscheiden sich die Argumente im Bezug auf die äußere und im Bezug auf die innere Natur dabei wie folgt: Im Außenverhältnis des guten Willens greift das Argument: Wenn es erst noch einer praktischen Verknüpfung zwischen moralischem Handeln und Handlungserfolg in Termini individueller Befriedigung bedürfte, so wäre Moralität als der unbedingte Zweck desavouiert; revidiert nämlich wäre ihr Anspruch, selbst schon die Einheit von Selbstbeschränkung und Selbstverwirklichung des Subjekts zu sein. Deswegen nimmt das einschlägige Postulat der Harmonie von Moralität und Glück nicht den Ton der praktischen Forderung an, sondern artikuliert eine in seiner apparenten Nichterfüllung doch als erfüllt anzusehende Voraussetzung. – Für das Verhältnis des moralischen Subjekts zu seiner inneren Natur lanciert Hegel das Argument: Das moralisch Gute selbst ist zu sehr als Überwindung erststufiger praktischer Einstellungen konzipiert, um ohne sein widerständiges Gegenelement bestehen zu können. Ist es im ersten Fall unmittelbar die Form der praktischen Aufgabe, was der moralischen Konzeption zuwiderliefe, so ist es im zweiten Fall die Vorstellung der erfolgreichen Lösung der Aufgabe. Die beiden Argumente verhalten sich in gewisser Weise komplementär zueinander: Wo im einen Fall gar nicht erst auseinanderfallen darf, was dann praktisch zu vermitteln wäre, darf im anderen Fall nicht zusammenfallen, was nur in seinem Gegensatz zusammengehört.
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aber als nicht in der Wirklichkeit zu fassendes Wesen, als ein jenseitiges und darum (der Standpunkt der Moralität hat die Aufklärung im Rücken) nur gedachtes oder vorgestelltes Wesen: »Indem es [das Bewußtsein; F. S. ] aber diese Einheit als Gegenstand vorstellt, und noch nicht der Begriff ist, der die Macht über den Gegenstand als solchen hat, so ist sie ihm ein Negatives des Selbstbewußtseyns, oder sie fällt ausser ihm, als ein Jenseits seiner Wirklichkeit, aber zugleich als ein solches, das auch als seyend, aber nur gedacht wird« (GW 9, 331, 22–26; ThW 3, 451 f.). Der vollendende Zug dieser Weise der Transzendierung besteht dann darin, diesen gegenständlichen Bestand – der bis dahin nur der Bestand im Gedanken des moralischen Subjekts war – dem Denken eines göttlichen Subjekts einzubeschreiben und ihm damit Bestand jenseits des eigenen Denkens zu vindizieren. »Die Moralität also im moralischen Bewußtseyn ist unvollendet, diß ist es, was itzt aufgestellt wird, aber es ihr Wesen nur das vollendete reine zu seyn; die unvollendete Moralität ist daher unrein, oder sie ist Immoralität. Die Moralität selbst ist also in einem andern Wesen, als in dem wirklichen Bewußtseyn; es ist ein heiliger moralischer Gesetzgeber« (GW 9, 337, 22–26; ThW 3, 460). Der von ihm selbst konstatierten Unwirklichkeit von Moralität – dem Umstand, daß diese für ihn selbst an den Motiven, den Inhalten und Resultaten seines Handelns nicht als bestimmender Zweck wiederauffindbar war –, begegnet der moralische Standpunkt so zunächst mit der Stiftung einer ganz eigenen Art von Objektivität moralischer Güte. Was er als internen Charakter seiner Praxis nicht zu finden glaubt, verlegt er in das Tun einer jenseitigen absoluten moralischen Letztinstanz: in einen Gnadenakt Gottes. Dieses vorgestellte Ideal moralischer Subjektivität – das rein gute, dabei allwissende und allmächtige Subjekt – nimmt die menschlichen Taten nicht für das, was sie augenscheinlich sind, sondern so, wie sie gemeint sind, wie sie für den moralischen Standpunkt sein sollten5. Mit dieser Rehabilitierung des Subjekts angesichts seines moralischen Scheiterns ist einerseits ein Gedanke vorweggenommen, der noch für das ganze Gewissenskapitel bestimmend sein wird: der Gedanke der Verlagerung des Wesens einer Praxis in ihre Deutung; als was sie – letztlich, eigentlich –
5
Vgl. GW 9, 340, 30 – 341, 4; ThW 3, 464.
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zu gelten hat, soll nicht einfach dadurch bestimmt sein, was sie ist, sondern wesentlich dadurch, wie sie aufgefaßt, genommen, gedeutet wird. Andererseits erfährt dieser Gedanke im Ausgangspunkt des Standpunkts des Gewissens eine entscheidende Wendung: Als Gewissen stellt das menschliche Subjekt seine Rehabilitierung nicht mehr als Begnadigung durch einen übermenschlichen höchsten Richter vor. Es nimmt die darin vorgenommene Externalisierung moralischer Kompetenz zurück und revindiziert sich die Deutungshoheit in Fragen des moralischen Werts seiner Person und seiner Taten. Der Übergang zum Standpunkt des Gewissens liegt überhaupt in der Zurücknahme der vorigen Scheidung des Wesens vernünftiger Praxis (der »reinen Pflicht«) von ihrer Wirklichkeit. Auseinandergesetzt in explizite Kritik läßt sich dieser Übergang in Einwänden artikulieren, die aus der KantKritik vertraut sind: Die Pflicht wäre das nie zu Verwirklichende, die Wirklichkeit bloß das Spielfeld des pflichtvergessenen Eigennutzes? – Das kann doch nicht die Wahrheit über die Pflicht, die Wirklichkeit und beider Verhältnis sein. Eine Pflicht, die dadurch definiert wäre, daß alles, was mich, das handelnde Subjekt, ausmacht und angeht, zur Negation freigestellt wäre – das kann nicht der wahre Begriff von Pflicht sein. Eine Prinzipienethik, die die abstrakte Form der Selbstrelativierung propagiert, kommt nicht über die Schwelle der praktischen Verwirklichung, sie verurteilt sich selbst zum bloßen Gedankending, statt eine handlungswirksame Antriebskraft sein zu können; und zwar verurteilt sie sich zu dieser Ohnmacht, zum bloßen Schein des Praktischen ebendadurch, daß ihr Prinzip von der Negation von essentiellen Momenten des Wollens und Handelns zehrt: Wollen – aber dabei nichts für sich wollen; einen Zweck verwirklichen – aber so, daß der Zweck nicht der eigene ist – so etwas ist unmöglich. Und es ist nicht nur unmöglich, sondern enthält auch eine Art beleidigender Herabsetzung des moralischen Subjekts: als wäre, wofür dieses von sich aus ist, wofür es sich interessiert, engagiert, begeistert, ebendadurch der Moral entgegengesetzt oder doch mindestens moralisch in Quarantäne zu nehmen. Daß erst der solcherart reflektierende, an anderem relativierende Bezug auf das eigene Wollen, der Bezug auf Regeln, die die Abstraktion von den reflektierten Inhalten zu ihrem führenden Inhalt haben, das Subjekt zu einem moralisch guten oder praktisch vernünftigen machen soll – daran entdeckt das moralische Subjekt das Ressentiment gegen sich selbst, das sich doch eben als ungebrochen moralisch denkendes und handelndes Subjekt weiß. Diese beiden Intonationen der internen Kritik am Fixieren des Gegensatzes von Wesen und Wirklichkeit, von Prinzip und Interesse – die Kritik an der Unwirklichkeit des Prinzips und die Kritik am Ressentiment gegen das Subjekt – schließen sich auch leicht zusammen:
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Es muß doch möglich sein, daß der Mensch in Freundschaft mit sich selbst moralisch ist; daß er moralisch sein kann, ohne dazu ein Engel werden zu müssen, d.i. als statt gegen sein sinnliches Wesen; eine Moral, die dem nicht gerecht würde, wäre keine. Soweit die interne Kritik. Worin besteht nun die Alternative, die Neuerung desjenigen Standpunkts, den Hegel das Gewissen nennt?
2. Die Charakterisierung des Gewissens: Unmittelbarkeit und Subjektivierung Zunächst scheint das Gewissen durch eine alternative Betonung, eine neue Akzentuierung gekennzeichnet: Das Gewissen ist der Standpunkt der Einheit, der Harmonie von individueller menschlicher Selbstbestimmung und der Exekution des Rechten und Guten; es legt den Akzent darauf, daß es das Eigene sei, das von mir Ausgehende, von mir Betätigte, von mir Affirmierte, wonach ich mich richten und woran ich andere und mich selbst kritisieren kann und soll6. Damit ist klar, daß der Standpunkt des Gewissens den Rahmen des Moralischen nicht verläßt. So wenig er den Standpunkt einer Moral auf Kosten der Selbstverwirklichung duldet, so wenig liegt seine Neuerung in der einfachen Negation des Moralischen zugunsten des unreflektierten Interesses, so wenig ist er und will er sein der Standpunkt einer Selbstverwirklichung des Individuums auf Kosten der Moral. Sein besonderes Profil – auch: seine Entgegensetzung gegen die moralische Weltanschauung – hat der Standpunkt des Gewissens jedoch näher in einer Präsupposition von Unmittelbarkeit, die sich in Hegels Eingangsbeschreibung abzeichnet: »Es ist reines Gewissen, welches eine solche moralische Weltvorstellung verschmäht; es ist in sich selbst der einfache seiner gewisse Geist, der ohne die Vermittlung jener Vorstellungen unmittelbar gewissenhafft handelt, und in dieser Unmittelbarkeit seine Wahrheit hat« (GW 9, 340, 13–16; ThW 3, 464). Offenbar gibt das Gewissen keinen Kanon, keinen Regelkatalog menschenfreundlicher Moral oder moralischer Selbstverwirklichung heraus; es ist ihm nicht darum zu tun, im allgemeinen zu bestimmen, was denn anstelle der 6
Charakteristisch dafür ist Hegels Verschiebung der Terminologie: Die Rede von der Pflichterfüllung wird passagenweise abgelöst von der Rede vom Tun des Rechten. Vgl. GW 9, 343, 3 f.; ThW 3, 467.
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bloß abstrakten Allgemeinheit eines Moralprinzips der Selbstrelativierung die besonderen Weisen rechten Lebens wären. In dieser Hinsicht scheint der Standpunkt des Gewissens um nichts inhaltlicher oder konkreter zu sein als der Standpunkt abstrakter Moralität, der Standpunkt der reinen Pflicht. Das Gewissen stellt sich in diesem Sinn überhaupt nicht als System des Wissens um das Gute und das Rechte dar, sondern viel eher als eine methodische Stellung, eine Haltung, die darin besteht, sich im Einzelnen des darin gelegenen Allgemeinen unmittelbar gewiß zu sein. Dieser unmittelbare Zusammenschluß von Allgemeinheit und Einzelnem weist zwei zusammenhängende Seiten auf: erstens die intuitionistische Orientierung auf den je einzelnen Fall des Handelns und zweitens die Substitution der allgemeinen Prinzipien und des externen Gesetzgebers durch das einzelne handelnde und urteilende Subjekt. Zur ersten Seite: Wie gehandelt werden soll – das ist dem Standpunkt des Gewissens zufolge am einzelnen Fall unmittelbar abzulesen. Ich muß nicht im vorhinein um eine allgemeine Regel wissen, auf die der Fall erst noch bezogen werden müßte, um seiner moralischen Qualitäten und seiner moralischen Desiderate nach bestimmt werden zu können. Er selber ist, wie er geht und steht, moralisch sprechend. Die Wirklichkeit selbst tritt dem handelnden Subjekt als wohlunterschiedene Sammlung von Aufforderungen und antizipierten Bewertungen gegenüber. Und so muß der Fall nur noch zu derjenigen Wirklichkeit gebracht werden, die ihm als die gebührende, die sein-sollende, schon an der Stirn geschrieben steht: »Das Handeln als die Verwirklichung ist hiedurch die reine Form des Willens; die blosse Umkehrung der Wirklichkeit als eines seyenden Falles in eine gethane Wirklichkeit, der blossen Weise des gegenständlichen Wissens in die Weise des Wissens von der Wirklichkeit als einem vom Bewußtseyn Hervorgebrachten« (GW 9, 342, 22–26; ThW 3, 466 f.). Daß diese Unmittelbarkeitsannahme nicht widerspruchsfrei ist, zeichnet sich hier schon ab: Was schon ist, müßte nicht erst verwirklicht werden. Eine Neuauflage der am vorigen Stand inkriminierten Trennung von Wesen und Wirklichkeit des Handelns deutet sich an. Zur zweiten Seite: Das Subjekt, das einen konkreten Fall des Handelns vor sich hat, das ihn bemerkt, beurteilt, praktisch mit ihm umgeht, erhält auf dem Standpunkt des Gewissens eine herausragende Bedeutung für die Frage, wie der jeweilige Fall zu rezipieren und zu behandeln sei. Daß der Fall überhaupt für ein moralisch gesonnenes Subjekt ist, erscheint als Bedingung dafür, daß er moralische Qualitäten hat, und wie er für es ist, erscheint als entscheidend dafür, welche solcher Qualitäten er dann tatsächlich hat: »[…] das Wesen der
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Handlung, die Pflicht besteht in der Ueberzeugung des Gewissens von ihr« (GW 9, 345, 11 f.; ThW 3, 470). Die beiden eben skizzierten Aspekte des Gewissens, sein Intuitionismus und sein Subjektivismus, hängen auch nachvollziehbar zusammen: Die praktische Beurteilung einer Sachlage kann als objektive Eigenschaft dieser Lage selbst nur erscheinen, wenn die Lage ihrem Sein-für-mich unmittelbar gleichgesetzt worden ist. Denn selbstverständlich ist das nicht: Verhältnisse der Entsprechung oder Nichtentsprechung zwischen Wirklichkeit und Maßstab gar nicht mehr als solche Verhältnisse, die die selbständige Bestimmtheit der beiden Seiten voraussetzen, sondern gleich als einfache oder unmittelbare Bestimmungen der Sachlage selber zu verbuchen. So zu verfahren lebt davon, die Unterscheidung zwischen praktischer Bedeutung für mich und Ansich der Sache theoretisch zu annullieren – und ebendies geschieht in der Subjektivierung, die soeben als die zweite Seite der Haltung des Gewissens auftrat.
3. Interne Brüche des Gewissens im Verhältnis zur Wirklichkeit und zum Maßstab des moralisch Guten Zugleich widersprechen die beiden Seiten dieser Haltung einander: Nach der ersten Seite kommt dem Subjekt nur die Rolle des ausführenden Organs zu. Es läßt sich vom jeweiligen Fall sagen, was zu tun sei, und führt das aus; es richtet sich, so scheint es, einfach nach der Objektivität, ohne sie umgekehrt nach seinen Vorstellungen auszurichten. Nach der zweiten Seite erscheint dasselbe Subjekt hingegen als die Instanz, deren Bestimmtheit darüber entscheidet, wie und was diejenige Objektivität ist, nach der es sich richtet. Darüberhinaus enthält die zweite Seite auch für sich allein einen Widerspruch: Der Subjektivismus des Gewissens widerspricht der Objektivitätsform des moralischen Urteils – und ein solches ist der Spruch des Gewissens nach wie vor. Daß mir angesichts einer Lage dies oder jenes Bestimmte als zu tun geboten erscheint, will ich, indem mir dies so scheint, nicht als Grund dafür gelten lassen, daß dies zu tun tatsächlich geboten ist. Umgekehrt soll sich mein praktisches Urteil gerade nach etwas Objektivem, ihm Vorausgesetzten richten. Für diesen Widerspruch zwischen der Erhebung des moralischen Subjekts zum Kriterium moralischer Objektivität und der moralischen Objektivität selbst wird es in der weiteren Entwicklung des Gewissensstandpunkts ein Angebot zur Lösung geben. Die nach wie vor implizierte Form der Selbständigkeit des Richtigen, Guten, Billigen gegenüber dem darauf gerichteten Meinen findet sich bewahrt im Anspruch auf intersubjektive Anerkennung. Die
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subjektive Gewißheit des Rechthandelns hat – für diesen Standpunkt selbst – noch so etwas wie eine von ihr unterscheidbare Wahrheit vor sich, auf die sie sich bezieht. Ob mein Handeln nach Gewissen auch gilt, hängt nämlich davon ab, ob es gelten gelassen wird: »Das Gewissen hat die reine Pflicht oder das abstracte Ansich nicht aufgegeben, sondern sie ist das wesentliche Moment, als Allgemeinheit sich zu andern zu verhalten. Es ist das gemeinschaftliche Element der Selbstbewußtseyn, und dieses die Substanz, worin die That Bestehen und Wirklichkeit hat; das Moment des Anerkanntwerdens von den andern« (GW 9, 344, 31–35; ThW 3, 469 f.). Am Moment der Anerkennung wird der Standpunkt des Gewissens zum intersubjektiven Austrag des Widerspruchs kommen, den er an sich enthält und Hegel zunächst in objektiver Diagnose, als theoretischer Beobachter des Gewissens, analysiert. Näher entwickelt er ihn zum einen für den bestimmten Wirklichkeitsbezug des Gewissens, zum anderen für dessen besondere Weise, der Pflicht einen Inhalt zu geben7. Nach beiden Seiten zeigt sich, daß die Betätigung des Standpunkts unmittelbarer Einheit individueller Selbstverwirklichung und allgemeiner Pflichterfüllung durch gewissenhafte Selbstbestimmung den Gegensatz zwischen Individuum und Pflicht entgegen dem Selbstverständnis des Gewissens prolongiert: Der wirkliche Fall zerfiel dem Raisonnement der moralischen Weltanschauung in eine nicht auflösbare Pluralität entgegengesetzter moralischer Gesichtspunkte. Es war dies eine Mitgift des Wechsels von der Frage nach dem Zweck einer Praxis zur Frage nach ihrer Rechtfertigung, die einen vorab gewählten Gesichtspunkt der Billigung voraussetzt. Was sich der vormaligen moralischen Betrachtung als eine unendliche, also nicht zu verwirklichende Aufgabe darstellt, realisiert jetzt der Standpunkt des Gewissens durch Abschneiden des Raisonnements im Bewußtsein wirklichen Handlungsbedarfs: Allen Umständen und Folgen, allen Betroffenheiten gerecht werden zu wollen – das ist unmöglich; also auch nicht verlangt. Die Gesichtspunkte, auf die ich, der hier und jetzt zum Handeln Aufgerufene, den Fall wirklich beziehe, sind dann aber auch gefälligst als die entscheidenden, die einfach geltenden zu nehmen: so die eine Seite des Widerspruchs zwischen unterstellter Subjektivität und beanspruchter absoluter Geltung. Die andere Seite zeigt sich, wenn man auf dem erreichten Standpunkt der Frage nachgeht, woher solche Gesichtspunkte der Handlungsbewertung zu beziehen sind. Da lautet die Antwort des Standpunkts des Gewissens kurz 7
Zu beidem vgl. GW 9, 346 f.; ThW 3, 471–473.
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und bündig: Aus dir! Diese Antwort ist nichts anderes als die positive Kehrseite der Kritik an der Form der Pflicht als Erfüllen fremder Vorgaben, als Sich-Richten nach einem Äußeren – sei das Äußere ein persönlicher Herr, eine politische Herrschaft, die Macht des Geldes oder auch ein als an sich feststehendes moralisches Prinzip verfaßt. Nun ist die Losung moralischer Selbstbestimmung natürlich nicht weniger formell als etwa der kategorische Imperativ. Was ich in mir finde – darauf käme es erst noch an. Mit der Erhebung des unmittelbar Vorgefundenen werden, je nachdem, diejenigen Standpunkte ins absolute Recht gesetzt, weil vor Befragung geschützt und zum Ausgangspunkt des praktischen Urteils erhoben, die mir, wie und warum auch immer, eben schon in Fleisch und Blut übergegangen sind: die, wie Hegel mit Bedacht sagt, »sogenannte Sinnlichkeit« (GW 9, 347, 4; ThW 3, 473). Was am Fall als praktisch relevant herausgehoben wird und wie die allgemeinen Standpunkte beschaffen sind, die jene Selektion leiten – beides wird zu einer zufälligen Angelegenheit, beides variiert nach praktischen Vorurteilen des jeweiligen Subjekts; und zugleich wird dieses Verfahren gedacht als die Bestimmung und die Realisierung dessen, was sich im gegebenen Fall einfach, schlechthin, gehört: als Verwirklichung einer unwidersprechlichen moralischen Notwendigkeit.
II. Die Dialektik des Gewissens im Dialog zwischen handelndem und urteilendem Gewissen 1. Die Verlagerung der Einheit von individuellem und allgemeinem Willen in die anerkannte Rede Zum Standpunkt des Gewissens gehörte die dezidierte Ausrichtung auf praktische Äußerung; als ein Standpunkt des Handelns – gegen jede bloß theoretisierende Prinzipienreiterei – hatte sich der Standpunkt ja nicht zuletzt eingeführt. Fragt man nun, wie der Standpunkt für andere wird, wie also ein individuelles moralisches Subjekt für andere moralische Subjekte als solches faßbar, erkennbar wird, wird man die Antwort zunächst in seinem Handeln vermuten. Worauf es dem Subjekt ankommt, wird doch wohl in dem manifest werden, was es tut – sollte man meinen. Aber was das Subjekt tut und wie es das tut, verhält sich nun gerade nicht mehr eindeutig zu dem, worauf es dem handelnden Subjekt auf dem Stand des Gewissens ankommt. Da nämlich kommt es nicht einfach auf den bestimmten Inhalt der Handlung an, sondern genauer auf ein bestimmtes Verhältnis des Subjekts zu sich selbst, in das ein je bestimmter Handlungsinhalt zwar
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notwendig eingelassen ist, das in diesem aber nicht hinreichend bestimmt ist und das im Handeln allein dann auch nicht seine adäquate Äußerung finden kann: Das Handeln soll gelten als Betätigung individueller Subjektivität, die als solche zugleich allgemeiner Wille ist; und was allgemein ist, soll es dadurch sein, daß eine solche Subjektivität es als Sein-Sollendes setzt. Die Zirkularität – und damit: die Unbestimmtheit oder Inhaltsleere – dieses Gedankens führt dazu, daß das tatsächliche Handeln sich seinem Inhalt nach immer auch gleichgültig und zufällig gegenüber jenem allgemein intendierten Inhalt verhält. Fassen solcherart gesonnene Subjekte einander an dem auf, was sie tun und getan haben, muß ihr Urteil über das Handeln des anderen und das dadurch vermittelte Urteil über einander wiederum zufällig oder willkürlich ausfallen. Wenn so der Geist einer Handlung in dem, was sie ist, nicht objektiv, nicht wirklich wird – als deren Geist er gleichwohl festgehalten werden soll –, so wird er seine Objektivierung neben der Handlung, aber weiterhin auf sie bezogen haben. Diese zweite, neben das Handeln tretende Sphäre der Objektivierung ist die publik gemachte Interpretation des eigenen Handelns. Das Handeln wird vom Handelnden mit einem Geburtsbrief ausgestattet, der erst enthält und erklärt, daß dieses Handeln als ein allgemein anerkennenswertes aufzufassen ist – wobei »erklären« hier im Sinn des Deklarierens, nicht der theoretischen Klärung zu nehmen ist; von »Versicherung« spricht Hegel: »Die Handlung verwirklichen heißt hier nicht, ihren Inhalt aus der Form des Zwecks oder Fürsichseyns in die Form der abstracten Wirklichkeit übersetzen, sondern aus der Form der unmittelbaren Gewißheit seiner selbst, die ihr Wissen oder Fürsichseyn als das Wesen weiß, in die Form der Versicherung, daß das Bewußtseyn von der Pflicht überzeugt ist und die Pflicht als Gewissen aus sich selbst weiß; diese Versicherung versichert also, daß es davon überzeugt ist, daß seine Ueberzeugung das Wesen ist« (GW 9, 351, 37–352, 7; ThW 3, 480). In dieser redenden Begleitung des Handelns ist dokumentiert, daß der Standpunkt des Gewissens – in aller Betonung individueller moralischer Autonomie – nicht der Standpunkt eines weltabgeschieden für sich agierenden Subjekts ist, sondern der Standpunkt eines Subjekts, das erstens in gesellschaftlichem Verkehr steht, zweitens einen Unterschied macht zwischen unmittelbarem Interesse des Individuums und Gesichtspunkten seiner Rechtfertigung, an denen jenes erst noch bewährt sein will, und das drittens diese Gesichtspunkte eben auch als nicht nur die seinen, sondern als die allgemein, gesellschaftlich, anerkannten voraussetzt. Es dokumentiert sich, kurz gesagt, als ein verantwortlich handelndes Subjekt. Und so harsch im weiteren Verlauf
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solche Selbstdeutungen mit den moralischen Außenkommentaren kollidieren werden, so sehr ist erst einmal festzuhalten, daß in dieser Dokumentation tatsächlich ein allgemeiner Konsens artikuliert ist: »[…] die andern lassen die Handlung um dieser Rede willen, worin das Selbst als das Wesen ausgedrückt und anerkannt ist, gelten« (GW 9, 353, 11 f.; ThA 3, 481). Andererseits wird ebenderselbe allgemeine Konsens der Boden für den Auftritt eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen moralischer Selbstund Fremdbeurteilung. Die Entwicklung des Gegensatzes im moralischen Diskurs zwischen handelndem und urteilendem Gewissen, eine Entwicklung, die sich zugleich als Prozeß der Assimilation beider Pole zeigt, stellt sich so dar:
2. Die Entwicklung des Gegensatzes und der Gleichheit von handelndem und urteilendem Gewissen Der gewissenhaft Handelnde handelt nach dem eben Gesagten nicht nur, er rechtfertigt auch sein Tun. Diese Rechtfertigung hat die – aus wirklichen Diskursen jedem geläufige – Form der Beziehung des eigenen Tuns oder Vorhabens auf allgemeine Gesichtspunkte – d. h. hier: Gesichtspunkte eben nicht bloß des eigenen, sondern eines allgemeinen Wohls –, denen gerade ein solches Tun oder Vorhaben dienlich ist und die der Handelnde als die ihn maßgeblich leitenden statuiert. Hegel notiert an dieser Stelle, wie leicht, wie beliebig ein solches Rechtverfertigungsverfahren durchzuführen ist, und gibt ein Beispiel zur Illustration: »Ein Individuum vermehrt sein Eigenthum auf eine gewisse Weise; es ist Pflicht, daß jedes für die Erhaltung seiner selbst wie auch seiner Familie, nicht weniger für die Möglichkeit sorgt, seinen Nebenmenschen nützlich zu werden und Hülfsbedürftigen gutes zu thun. Das Individuum ist sich bewußt, daß diß Pflicht ist, denn dieser Inhalt ist unmittelbar in der Gewißheit seiner selbst enthalten, es sieht ferner ein, daß es diese Pflicht in diesem Falle erfüllt. Andere halten vielleicht diese gewisse Weise für Betrug; sie halten sich an andere Seiten des concreten Falles, es aber hält diese Seite dadurch fest, daß es sich der Vermehrung des Eigenthums als reiner Pflicht bewußt ist« (GW 9, 347, 24–32; ThW 3, 473 f.). Die bestimmte Art und Weise der Verfolgung des eigenen Wohls – die Vermehrung des privaten Eigentums – steht ja tatsächlich nicht bloß in Gegensatz zum Wohl anderer und zum Allgemeinwohl: es ist die allgemein anerkannte Form, für sich zu sorgen, und es ist verschränkt mit dem Wohl anderer. Im
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Rahmen der Eigentumsordnung gilt wirklich, daß ohne privaten Reichtum kein Wohltun, keine Freigebigkeit praktiziert werden kann. Das Einseitige der Betrachtung sticht ebenso ins Auge: Daß die Vermehrung des eigenen Eigentums ebensosehr die Seite des Gegensatzes zum Wohl anderer hat, bleibt abgeblendet. Die Selbstrechtfertigung selegiert, und sie verschiebt die Betrachtung ihrer Fälle von der Betrachtung des Inhalts (zu der die Frage gehörte, was für eine Weise der Sorge für sich selbst die Vermehrung privaten Eigentums sei) hin zu der Frage, ob die herausgehobene Seite der Pflichterfüllung auch das persönlich leitende Motiv des Handelnden gewesen ist. Und in dieser Frage ist der gewissenhaft Handelnde nach Voraussetzung mit sich im reinen. Nur ist es auf der anderen Seite für die moralische Fremdbeurteilung nicht weniger leicht – und nicht weniger beliebig –, an derselben Handlung oder ihren Ergebnissen das Moment der vom selbstlosen Dienst, der Pflichterfüllung, unterscheidbaren persönlichen Befriedigung des handelnden Subjekts festzuhalten, dieses Moment in Gestalt des in Wahrheit doch handlungsleitenden Motivs zu verdoppeln und auf diese Weise der Rechtfertigung die Verurteilung entgegenzustellen.8 Daß die Subjektivität des Handelnden überhaupt als zu befriedigende oder zu verwirklichende unfehlbar vorkommen wird, liegt am Begriff der moralischen Handlung selbst, in dem Dienst und Pflicht zugleich als das aus freien Stücken Getane gesetzt sind. Woran die moralische Handlung hier vom fremden moralischen Urteil eingeholt wird, ist der einfache Umstand, daß man die Pflicht nicht wollen kann, ohne das Verhältnis der Unterordnung immer auch aufzulösen: »Es kann sich keine Handlung solchem Beurtheilen entziehen, denn die Pflicht um der Pflicht willen, dieser reine Zweck, ist das Unwirkliche; seine Wirklichkeit hat er in dem Thun der Individualität und die Handlung dadurch die Seite der Besonderheit an ihr« (GW 9, 358, 29–32; ThW 3, 489). Die Diagnose enthält wiederum die Kritik: Was sich von sich selbst her von der Verwirklichung ausschließt, kann schlecht als Maßstab praktischer Bewertung wirklichen Handelns geeignet sein. Daß es zu solchen Konfrontationen, zur moralischen Verurteilung gegen die Selbstgewißheit des Handelnden kommt, ist mehr als eine bloße logische Möglichkeit. Das hängt mit dem Begriff des Gewissens selbst zusammen: Der Standpunkt des Gewissens akzentuiert in der Sphäre des Moralischen die Seite des Rechts der Subjektivität. Sein Credo lautet: Ich anerkenne keine Pflicht – außer der, die ich als das Meinige weiß. Der Standpunkt opponiert, 8
Das Selektive und das Tautologische dieses Verfahrens der Reflexion der Handlung in ein von ihr abstrahiertes Inneres faßt Hegel GW 9, 358, 12–29; ThW 3, 488 f.
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seinem Selbstverständnis nach, gegen eine bestimmte Form der Pflicht: die Form des äußeren Oktroi, die Form der Pflichterfüllung als Unterwerfung. Wenn nun die Form der Selbstnegation einfach dahinfällt, wenn die Erfüllung der Pflicht die Form annimmt, daß der Handelnde buchstäblich und einfach tut, was er will, dann ist nicht nur eine bestimmte Form der Pflicht, sondern die Form der Pflicht aufgelöst. Daß das gewissenhafte Handeln auf die moralische Kritik trifft, hier stelle sich jemand im Namen der Pflicht über sie, liegt insofern in der eigenen Fluchtlinie des Standpunkts des Gewissens. Das verurteilende Urteil ist durchaus konsequent – einerseits; andererseits aber ist es um nichts objektiver als die Akzentuierung des subjektiven Rechts, der Spruch des handelnden Gewissens. Der moralische Kommentar, der die Form der Pflicht als absolut zu nehmende Schranke individueller Selbstbestimmung hervorkehrt, kommt dem handelnden Gewissen gerade in dessen Gebrechen gleich: Erstens: Auf beiden Seiten löst sich der Anspruch auf, Handlungen oder Absichten seien nach gut oder böse zu unterscheiden. Die moralischen Grundprädikate sind nach dem jetzigen Stand ja beliebig verteilbar. Beider Urteile – das rechtfertigende im Namen des Selbst, das verurteilende im Namen des Selbst – sind kein Wissen, sondern äußerliche und tautologische Reflexionen über die beurteilte Praxis. Zweitens: Auf beiden Seiten erhält die Moralität ihr Dasein, ihr Leben, ihre Wirksamkeit nicht im Handeln. Beidemale ist sie aus der Wirklichkeit der Praxis zurückgezogen in die Reflexion und Rede darüber. »In beyden ist die Seite der Wirklichkeit gleich unterschieden von der Rede, in dem einen durch den eigennützigen Zweck der Handlung, in dem andern durch das Fehlen des Handelns überhaupt, dessen Nothwendigkeit in dem Sprechen von der Pflicht selbst liegt, denn dies hat ohne That gar keine Bedeutung« (GW 9, 357, 33–37; ThW 3, 487 f.). Drittens: Wie die Moralität ihr Dasein nicht im Handeln hat, so fällt umgekehrt der Zweck und Inhalt des Handelns außer die moralische Reflexion. Darin liegt implizit über die Praxis das allgemeine Urteil, sie sei von der Moral verlassen. Zum expliziten Standpunkt erhoben und in die Konsequenz des Rückzugs in die eigene Innerlichkeit geführt, wird dieser Gedanke zur Leitlinie der schönen Seele.9 Damit kehrt ausgerechnet jene Entwirklichung des Moralischen wieder, von der und gegen die die Entwicklung des Standpunkts des Gewissens ausging. Umso dringlicher wird die Frage der Auflösung der Dialektik des Gewissens. 9
Vgl. GW 9, 353, 36 – 355, 6; ThW 3, 482–484.
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III. Die Versöhnung – eine Aufhebung in Religion? Ihre nächste Grundlage hat die von Hegel vorgestellte Auflösung der Dialektik des Gewissens in der objektiv vorliegenden, eben diagnostizierten Gleichheit zwischen handelndem und beurteilendem Gewissen. Die Auflösung selbst wird nun darein gelegt, daß die beiden Kontrahenten ihre Gleichheit auch erkennen, voreinander bekennen und einander neuerlich und in neuer Weise anerkennen. Die Rede von der Erkenntnis ihrer Gleichheit bedarf allerdings der Qualifizierung. Die Selbsterkenntnis des betrachteten Bewußtseins fällt hier wie andernorts in der Phänomenologie nicht einfach mit der theoretischen Diagnose des Betrachters zusammen. Gewiß, der moralisch Handelnde und sein moralischer Kommentator kommen, jeweils durch die Betrachtung des geäußerten Standpunkts des anderen, zu kritischer Selbsteinsicht. Aber es kommt nicht dazu, daß die Beteiligten nun ihrerseits zu reinen Theoretikern des Gewissens würden und jenen kritischen Begriff des Gewissens reproduzierten, der sich in Hegels theoretischer Entwicklung ihrer Identität, ihres Gegensatzes und der Identität beider abgezeichnet hat. Wie verändern die Beteiligten ihre Einstellungen – zur Handlung, zu sich, zum anderen – stattdessen? Den Anfang macht das handelnde Gewissen: Es findet sich von seinem Kommentator, dem urteilenden Gewissen, »nicht nur aufgefaßt als ein Fremdes und mit ihm Ungleiches, sondern vielmehr jenes nach dessen eigner Beschaffenheit mit ihm gleich. Diese Gleichheit anschauend und sie aussprechend, gesteht es sich ihm ein und erwartet ebenso, daß das Andre, wie es sich in der That ihm gleichgestellt hat, so auch seine Rede erwiedern, in ihr seine Gleichheit aussprechen und das anerkennende Daseyn eintreten werde« (GW 9, 359, 11–17; ThW 3, 489 f.). Dieses »Eingeständniß des Bösen: Ich bins« (GW 9, 359, 24; ThW 3, 490) ist nach mehreren Seiten bedenkenswert. Zum einen handelt es sich sichtlich nicht um eine theoretische Kritik des eigenen und des entgegengesetzten Standpunkts. Das handelnde Gewissen gibt keine allgemeine Diagnose dessen kund, worin beider Gleichheit bestand – nämlich zunächst im Quidproquo von unmittelbarer Gewißheit und absolutem Geltungsanspruch. Vielmehr gibt es diese Gleichsetzung in seiner Rede praktisch auf, indem es sich als böse bekennt. In diesem Bekenntnis prolongiert es die Form des moralischen Urteils, indem es die eigene Subjektivität negativ unter den Maßstab der Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen subsumiert, sich als den vom Allgemeinen abgesonderten Willen be- und verurteilt. Zum anderen
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übernimmt das handelnde Gewissen ebenso offensichtlich nicht schlicht den Standpunkt seines Kommentators – es gibt nicht diesem statt seines eigenen vorigen Urteils recht. Daß es sich nicht um einen einfachen Tausch der Positionen handelt, geht aus dem angegebenen Grund seiner Revision hervor: Der Handelnde wird nicht einfach geständig, weil er in der Selbstgewißheit des anderen die Wahrheit des Falles anerkannt hätte – in ihrer Selbstgewißheit sind beide einander ja ohnehin gleich –, und auch nicht, weil er, durch den anderen aufmerksam gemacht, nun doch ein eigennütziges Motiv seines Handelns entdeckt hätte, das ihm zuvor verborgen geblieben wäre. Sein entscheidender Grund liegt vielmehr in der Anschauung des über ihn Urteilenden als eines ihm Gleichen; gleich nämlich darin, ihm, dem Handelnden, im Handeln wie in der Rede nichts voraus zu haben. Dieser Grund unterscheidet die Selbstverurteilung des handelnden Gewissens von der kommentierenden Fremdverurteilung: Was es an seinem Fall verurteilt, ist seinem Skopus nach allgemeiner. Es verurteilt an sich selbst ein Fürsichsein, das sich für es in der mißlungenen Einheit von Handeln und Rechtfertigen auf seiten des Handelnden ebenso äußert wie in der verweigerten Einheit beider auf seiten des Kommentars. Es verwirft die identische Selbstgerechtigkeit beider Standpunkte, indem es sich ins Unrecht setzt. Zu seiner Handlung nimmt das handelnde Gewissen damit ein eigentümliches Doppelverhältnis ein. Zum einen gilt: Meine Handlung ist gerichtet – wie könnte ich mich im Ernst böse heißen, ohne meine Taten zu verurteilen? Zum anderen ist der Richtspruch nicht dem besonderen Inhalt meiner Handlung geschuldet. Wenn der Kommentator als moralisch Urteilender es auch nicht besser weiß – so ist daran keine Alternative des Handelns ersichtlich, die man hätte ergreifen können, um gut statt böse zu handeln. Mein Handeln ist also gerichtet – aber nicht, weil es ein solches Handeln, sondern weil es Handeln aus dem Geist der Selbstgerechtigkeit war, weil es versehen war mit dem Anspruch, als dieses bestimmte Handeln die reine Verwirklichung des Guten zu sein. Verglichen mit der anfänglichen moralischen Verurteilung streift dieses Urteil die Form der praktisch gemeinten Kritik ab. Daß die an das Eingeständnis geknüpfte Erwartung einer reziproken Antwort von seiten des urteilenden Gewissens im Verlauf des Textes nicht sogleich erfüllt wird, ist konsequent. Die Form seines Urteils verlangt in einer Hinsicht geradezu die Enttäuschung dieser Erwartung. Ist das andere Subjekt erst einmal als eines dingfest gemacht, das das allgemein Geltende für seinen Eigennutz instrumentalisiert – als ein böses also –, dann sind auch seine Selbstkritiken und Schuldbekenntnisse sub specie dieser Instrumentalisierung einzuordnen. Es ist um nichts schwerer, in seinem Bekenntnis die Seite des Eigeninteresses ausfindig zu machen als in seinen Taten. Dieser
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Konsequenz folgend, verletzt das Urteil freilich einen Maßstab, den es als den seinen geltend weiß: Wenn der Mißbrauch des Allgemeinen im Handeln und im Reden außer seiner Person buchstäblich allgemein sind, dann ist der letzte Ritter des Guten vom verrückten Sonderling nicht mehr zu unterscheiden. Keine Anerkennung zu finden, ist für das urteilende Gewissen, ebenso wie für das handelnde, mehr als ein Unglück; es muß ihm nach seiner Voraussetzung nicht nur als Ausfall faktischer Geltung, sondern darin auch als Widerlegung seiner Gültigkeit gelten, weil es seinen Maßstab als das Wesen der wirklichen Praxis vertritt. Dieser Konsequenz folgend erfüllt das urteilende Gewissen die Erwartung seines Gegenübers – wiederum in nachdenkenswerter Weise: »Die Verzeyhung, die es dem ersten wiederfahren läßt, ist die Verzichtleistung auf sich, auf sein unwirkliches Wesen, dem es jenes andere, das wirkliches Handeln war, gleichsetzt, und es, das von der Bestimmung, die das Handeln im Gedanken erhielt, Böses genannt wurde, als gut anerkennt, oder vielmehr diesen Unterschied des bestimmten Gedankens und sein fürsichseyendes bestimmendes Urtheil fahren läßt, wie das Andre das fürsichseyende Bestimmen der Handlung« (GW 9, 361, 16–25; ThW 3, 492). Als Akt der Verzeihung ist der Schritt des urteilenden Gewissens, nicht anders als der des handelnden, von theoretischer Kritik und Selbstkritik ebenso unterschieden wie von der einfachen Übernahme der Ausgangsansicht seines Gegenüber. Das urteilende Gewissen begegnet dem Geständnis des anderen nicht mit der Erwiderung: Jetzt täuschst du dich und vorhin hattest du ganz recht. Immerhin heißt seine Revision Verzeihung – und was verziehen wird, ist in der Verzeihung als Verfehlung unterstellt. Die unterscheidende Eigenart dieses Schritts geht wiederum auf die besondere Art des Grundes zurück, der ihn motiviert: Der Urteilende seinerseits verläßt sein voriges Urteil nicht einfach deshalb, weil ihm die gegenteilige Versicherung, warum auch immer, mehr eingeleuchtet hätte. Er verläßt es, nachdem und weil der andere ihm sein Geständnis vorgelegt, darin die Gleichsetzung seines besonderen Wollens und Handelns mit einer Instantiierung des allgemeinen Willens revidiert und in der Verurteilung seines besonderen Wollens an diesem Maßstab den Maßstab selbst affirmiert hat. Für den Urteilenden ist gerade die Selbstdistanzierung, die Negation des Eigenen, Besonderen, die das Geständnis enthält, der Grund für das Verlassen des vorigen Urteils. Um dieser Selbstnegation des anderen willen hört das kommentierende Gewissen auf, sein Gegenüber, das andere Subjekt in toto unter die schlechte Meinung zu subsumieren, die es von dessen Handeln hatte. Sein entscheidender Schritt besteht also darin, in dieser
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Selbstnegation des anderen die Rückkehr zu jenem Allgemeinen gelten zu lassen, als dessen Sachwalter der Kommentator eingangs aufgetreten war: »Diß, das seine Wirklichkeit wegwirft, und sich zum aufgehobnen Diesen macht, stellt sich dadurch in der That als allgemeines dar; es kehrt aus seiner äussern Wirklichkeit in sich als Wesen zurück; das allgemeine Bewußtseyn erkennt also darin sich selbst« (GW 9, 361, 13–16; ThW 3, 492). Zugleich hat sich das kommentierende Bewußtsein damit selbst verändert, wenn wir dem vorletzten Zitat folgen: Seine Verzeihung sei »die Verzichtleistung auf sich, auf sein unwirkliches Wesen, dem es jenes andere, das wirkliches Handeln war, gleichsetzt«. Die Verzeihung enthält mithin auch das Moment einer indirekten Anerkennung der wirklichen Praxis, die vormals um der stets auffindbaren Form der individuellen Befriedigung willen als einzige Reihe von Verstößen erschien. Indirekt ist diese Anerkennung, weil sie wiederum nicht dem besonderen Inhalt einer in Rede stehenden Handlung verdankt ist, sondern sich erst in der Rückbeziehung der Handlung auf ihr Subjekt und dessen Läuterung ergibt. Im Licht von dessen Rückkehr zum Allgemeinen im Eingeständnis der Absonderung, gewinnt, so scheint es, auch sein Tun rückwirkend das Ansehen des Beitrags zur Verwirklichung des Guten. In diesem Punkt gewinnt das Subjekt ein Verhältnis zur Wirklichkeit zurück, das es unterwegs eingebüßt hatte: Es öffnet sich für die Anerkennung wirklichen Handelns und wirklichen Redens als Äußerungen des zuvor nur gemeinten Wesens. In der ausgesprochenen und rezipierten Verzeihung ist der Gang des Gewissens geschlossen, der Übergang vom seiner selbst gewissen zum absoluten Geist vollzogen: »Das Wort der Versöhnung ist der daseyende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegentheile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seyenden Einzelnheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist« (GW 9, 361, 22–15; ThW 3, 493). An diesem Ende haben sich auch die Elemente versammelt, die für die Beantwortung unserer Rahmenfrage von Belang sind. Fragen wir also noch einmal: Läßt sich in der durchgeführten Dialektik des Gewissens und ihrem Resultat ein Übergang von moralischen Selbst- und Weltkonzeptionen zu religiösen – oder auch: eine Einbettung oder Begründung der ersteren in letztere(r) – identifizieren? Und falls das so ist, wie unterscheidet sich dieser Übergang von der Präsenz des Transzendenten in der moralischen Weltanschauung, der Vorgängerkonzeption des Gewissens?
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Im Rückvergleich mit der moralischen Weltanschauung zeichnet sich nun zunächst ein signifikanter Unterschied ab, der zugleich eine negative Antwort auf unsere Identifikationsfrage nahezulegen scheint: Es ist an diesem Ende nicht die Rede von einem göttlichen Wesen, dem sich die Protagonisten des Gewissens als apartem Subjekt gegenübersähen, auch nicht in der der moralischen Weltanschauung eigentümlichen Fassung des nur, wenn auch notwendig, Gedachten oder Vorgestellten. Der absolute Geist, von dem hier die Rede ist, ist kein Dritter, der ins Spiel gekommen wäre, sondern das gegenseitige Anerkennen selbst. Sollte die Konzeption des Absoluten in Termini eines personalen übermenschlichen Subjekts kriterial entscheidend für das Vorliegen von Religion sein, so gibt es keinen Grund, anzunehmen, die Protagonisten des Gewissens seien religiös geworden. Halten wir jedoch diese Kriterienfrage offen, fällt die Antwort nicht mehr eindeutig negativ aus. Das gegenseitige Anerkennen, das hier begegnet, weist nämlich charakteristische Züge von Transzendenz auf, die es von Anerkennungsverhältnissen des Rechts und des Rechtens unterscheiden. In diesen ist die Einheit von Selbstbeschränkung und Selbstverwirklichung als Verhältnis einander begrenzender Freiheitsspielräume gedacht, für deren Grenzsetzung rationale Legitimitätskriterien vorausgesetzt, gesucht und vertreten werden. Der Standpunkt des Gewissens war nun schon in seinem Ausgangspunkt die Rebellion gegen die darin angenommene Scheidung von Beschränkung und Verwirklichung des Selbst, und er mündet in eine Selbstnegation, die um einiges grundsätzlicher ist als eine Selbstbeschränkung des Erlaubten und Verbotenen. Wenn die Protagonisten hier ihr Fürsichsein darangeben – der eine »sein fürsichseyendes bestimmendes Urtheil fahren läßt, wie das Andre das fürsichseyende Bestimmen der Handlung« (GW 9, 361, 20–22; ThW 3, 492) –, so betrifft diese Preisgabe nicht nur den einen oder anderen bestimmten Geltungsanspruch, sondern die allgemeine Art und Weise, Geltungsansprüche zu erheben. Das Subjekt nimmt den allgemeinen Anspruch zurück, selbst, wie es geht und steht, die letztgültige bestimmende Instanz seines Handelns und seiner urteilenden Rede zu sein; im selben Zug freilich spricht es sich zu, in Geltungsfragen das letzte Wort zu haben. Die besondere Weise seiner Selbstnegation hat, wie wir sahen, eine ebenso grundsätzliche Selbstaffirmation zu ihrer Kehrseite. Der betrachtete Übergang scheidet noch einmal prinzipiell zwischen der Wirklichkeit des Subjekts – wie es handelt, was es will, was es meint, wie es ihm dabei ergeht – und dem, was es eigentlich ist, seinem Wesen: Was die Subjekte eigentlich sind, als was sie eigentlich gelten, zeigen sie einander, indem sie sich davon distanzieren, das jeweils praktisch wie theoretisch letztbestimmende Subjekt zu sein.
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Diese Selbsttranszendierung oder diese Scheidung von Wesen und Wirklichkeit des Selbst hat an dieser Stelle keine primär praktische Stoßrichtung mehr. Das tritt zutage, wenn man sich daran erinnert, in welchem Licht die Handlungen erscheinen, um deren Berechtigung es im Ausgangspunkt zu tun war. In der Frage, was im konkreten Fall zu tun und zu lassen sei, auch in der höherstufigen Frage, nach welchen Maßstäben oder mit welchen Verfahren solche Fragen zu beantworten seien, ist die Entwicklung des Standpunkts keineswegs zu dezidierten oder probeweisen Antworten vorangeschritten; und in der Versöhnung ihres Gegensatzes sind die Protagonisten auch sichtlich nicht mit solchen Fragen befaßt. Zugleich haben Eingeständnis, Verzeihung und Versöhnung durchaus ein Verhältnis zu den in Rede stehenden Handlungen. Was sich mit dem bestimmenden Urteil aufgehoben hat, ist die Form ihrer Klassifizierung oder Sortierung in gute auf der einen, moralisch schlechte auf der anderen Seite. Das Anliegen der eindeutigen Subsumtion mit angeschlossenen praktischen Konsequenzen wird abgelöst durch eine prinzipielle Doppelansicht: Als Äußerung des Eigenwillens sind Handlungen zu verurteilen – als Äußerungen eines Subjekts, das sich von seinem Eigenwillen trennt, zu bejahen. Die moralischen Grundprädikate des Guten und des Bösen legen gleichsam die Konnotation des praktisch Herbeizuführenden und des praktisch zu Vermeidenden ab, ohne an Relevanz das mindeste einzubüßen. Oder, um es genau zu sagen: Es gibt auf diesem Stand durchaus eine Praxis, die die Wirklichkeit gut und ihr Wesen wirklich macht; aber diese Praxis ist die bekennende, verzeihende, versöhnende Rede selbst. In den eben versammelten Merkmalen der wechselseitig vindizierten Wiedergewinnung des Subjekts in der Selbstpreisgabe – in der Wendung sowohl der Kritik wie der Affirmation ins Grundsätzliche und dem damit einhergehenden Verlassen der Sphäre praktischer Fragen –scheint mir in der Tat der Schlüssel zur Rekonstruktion und Analyse des Übergangs von Selbstkonzeptionen in Termini des Moralischen zu solchen der Religion zu liegen. Worauf dieser Typ der Rekonstruktion freilich nicht antwortet, ist die Frage, an die wir angesichts unserer zeitgenössischen Diskussionslagen vermutlich zuerst denken: die Frage, ob Moral religiöser Begründung bedarf. Ob es sich so verhält oder nicht, ist durch die Rekonstruktion nicht begründet; aber es läßt sich immerhin begründen, warum das so ist. In der Begründungsfrage ist das zu Begründende als ein Standpunkt vorausgesetzt, der, wenn er gilt, bedingterweise gilt, und der durch die Beibringung von Gründen nicht verändert wird. Das sind zwei zusammenhängende Binsenwahrheiten über das Verhältnis von Grund und Begründetem. Und in beiden Punkten verhält sich die Theorie der Phänomenologie charakteristisch anders zu den in ihr thematisierten Standpunkten. Der Standpunkt des Gewissens
Der Übergang von der Moral zur Religion im Gewissen
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wird nicht vorgestellt als einer, dem, nach bestandener Prüfung auf Widerspruchsfreiheit, nun noch und nur noch die Rechtfertigung seiner konstitutiven Prämissen oder Maximen fehlte. Das Movens der Theorie ist nicht der Mangel eines Grundes für den in Rede stehenden Standpunkt, sondern dessen Widerspruch. Der Argumentationsgang verhält sich, anders gesagt, nicht konservativ und begründend zu den Standpunkten, die seine Gegenstände sind, sondern begreifend. Und darin ist er von jedem Votum innerhalb der Alternative Autarkie der Moral oder Fundierung im Glauben in Anliegen, Methode und Durchführung unterschieden.
Präsenzformen der Religion in der Phänomenologie des Geistes Thomas Sören Hoffmann (Bonn)
Religion ist ein Thema, von dem in jüngerer Zeit aus den verschiedensten Gründen auch in der Philosophie wieder verstärkt die Rede ist. Man spricht von einer »Wiederkehr« von Religion oder auch davon, daß die Versuche einer rein säkularen Weltgestaltung erkennbar gescheitert seien; man reflektiert die Tatsache neu, daß Religion und Kultur enger zusammenhängen als ein religiös »neutraler« Fortschritts- und Kulturoptimismus lange Zeit wahrhaben wollten, und man bemerkt dabei auch, womöglich nicht ohne Neid, daß in der Religion Motivationspotentiale liegen, auf die ihrem Anspruch nach »rationale« Positionen im öffentlichen Raum in der Regel nicht ohne weiteres zurückgreifen können1. Trotz der Aktualität des Interesses ist jedoch nicht immer klar, was genau aus Sicht der Philosophie mit dem Stichwort »Religion« zu verbinden ist. Daß es sich für sie nicht einfach darum handeln kann, die Selbstdeutung der Religion zu übernehmen, liegt auf der Hand; Philosophie nähert sich der Religion vielmehr von eigenen Prämissen aus und versucht von diesen her zu verstehen, was der Sinn und auch die Grenzen dieses Phänomens sind. Aber auch so ist noch keineswegs ausgemacht, daß alle vom selben reden, wenn Religion das Thema ist, noch immer ist vielmehr die Breite dessen, was genau als Religion identifiziert werden kann, sehr groß. Ist Religion etwa primär von den subjektiven Vorstellungen her zu verstehen, die sich bestimmte Individuen über bestimmte für sie »letzte Fragen«, gestützt auf andere als wissenschaftliche Mittel, machen? Ist sie primär ein überindividuell-soziales Phänomen – etwa im Sinne einer Instanz der mehr oder weniger symbolischen Selbstreflexion von bestimmter Kultur,
1
Im Sinne einiger exemplarischer Literaturhinweise für die Aktualität des Themas mögen hier genügen: Karl Heinz Bohrer / Kurt Scheel (Hg.), Nach Gott fragen. Über das Religiöse (Sonderheft Merkur), Stuttgart 1999; Klaus Dethloff / Rudolf Langthaler / Herta Nagl-Docekal / Friedrich Wolfram (Hg.), Orte der Religion im philosophischen Diskurs der Gegenwart (Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie Bd. 5), Berlin 2004; Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i. Br. 20052; Gottfried Küenzlen, Die Wiederkehr der Religion. Lage und Schicksal in der säkularen Moderne, München 2003; Walter Schweidler (Hg.), Postsäkulare Gesellschaft. Perspektiven interdisziplinärer Forschung, Freiburg / München 2007.
Präsenzformen der Religion in der Phänomenologie des Geistes
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eines bestimmten Gemeingeistes? Ist sie fortbestehender Mythos im Zeitalter der Wissenschaft, der auch solange weiter bestehen wird, als Wissenschaft für sich alleine jene Existenzgewißheiten nicht vermitteln kann, deren es nicht zuletzt für das Handeln immer bedarf? Oder ist Religion am Ende tatsächlich nichts anderes als »falsches Bewußtsein«, sich forterhaltender Schein, um dessen Destruktion es der Philosophie immer an erster Stelle zu tun sein muß? Wie gesagt: Fragen und schon getroffene Vorentscheidungen in die eine oder die andere Richtung sind gerade auch im »postsäkularen« Gespräch über Religion oftmals alles andere als geklärt – mit allen Folgen, die ungeklärte Voraussetzungen für auf sie gestützte Verständigungsbemühungen notwendig haben. Gerade unter den gegebenen Umständen kann es sich dann nur lohnen, sich der systematischen Frage, was Religion sei, erneut zuzuwenden und dies nicht zuletzt mit Hilfe Hegels zu tun – mit Hegels Hilfe nämlich schon deshalb, weil gerade er wie kein zweiter die nachgerade konstitutive Vieldimensionalität des Religionsproblems durchschaut und thematisiert hat. Hegel wußte, daß Religion eine subjektive und eine objektive Seite, daß sie eine individuelle wie auch eine soziale Dimension hat, daß sie Erkenntnisansprüche geltend macht, dabei jedoch am Wissenschaftsideal nicht gemessen werden kann, daß sie praktische Imperative enthält, ohne auf »rationale Moral« reduzierbar zu sein – zuletzt auch, daß es in aller Religion zwar stets und in wie gebrochener Form auch immer ums Absolute geht, dies jedoch auch in ihr nicht geschichtslos anwesend ist, sondern sich auf dem Wege zu seiner auch der Form nach absoluten Präsenz noch befindet. Hegel kann uns entsprechend lehren, von Religion anders als nur vom herrschenden Vorurteil her zu reden – und hat dies auf besondere Weise mit seiner Phänomenologie des Geistes, der jetzt 200jährigen, getan, mit der wir uns hier beschäftigen wollen. Wir fragen dabei nach den »Präsenzweisen der Religion« in Hegels erstem Klassiker, nicht also ausschließlich nach dem Religionskapitel, sondern auch den anderen Orten, an denen im Gang des Werks die religiöse Dimension erscheint. I. Zur Sonderstellung des Religionskapitels Daß das Thema der Religion nicht nur in Hegels intellektueller Biographie überhaupt, sondern insbesondere auch im Kontext der Phänomenologie des Geistes (PhG) eine Sonderstellung einnimmt, ist ein offenbares Geheimnis und der Forschung, ja jedem aufmerksamen Leser des Hegelschen Klassikers auch ohne weiteres bekannt. Das Thema ist, wie wir wissen, bei Hegel von den Jugendschriften an zentral und hat in ihnen entscheidenden Einfluß auch auf
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Thomas Sören Hoffmann
die Ausbildung des Hegelschen Philosophiebegriffs genommen2. In der PhG zeigt sich dann schon an der Oberfläche eine methodologische Besonderheit des Religionskapitels, das sich nicht einfach bruchlos dem Gang der phänomenologisch durchlaufenen Bewußtseinsgestaltungen einfügt, sondern diese Gestaltungen und jenen Gang selbst auf bestimmte Weise noch einmal in sich spiegelt und rekapituliert. Die Religion hat dabei, wie sich zeigt, mehr mit der abschließenden Konstitution einer jeden einzelnen Stufe zu tun, als es zunächst den Anschein haben mag: einmal auf die Weise, daß die gleichsam »immanente Religiosität« einer jeden Stufe schon auf dieser selbst ihren sie selbst übersteigenden Grund oder die Totalität evoziert; zugleich aber auch so, daß mit der Religion überhaupt das Gefüge der verschiedenen Stufen selbst, ihr Ineinander-Übergehen, ihr Kontinuum thematisiert und begriffen ist. Daß der gerade als phänomenologische Mannigfaltigkeit von Bewußtseinsgestalten erscheinende Geist dennoch stets auch ein Geist ist, ist das Wissen nicht erst des absoluten, sondern bereits des religiösen Wissens, so außerbegrifflich es sich hier auch erst artikuliert. Hegel macht in der Einleitung zum Religionskapitel entsprechend sowohl darauf aufmerksam, daß es eine »Vorgeschichte« der Religion schon auf den früheren Stufen gegeben hat, wie er auch darauf hinweist, daß der Zusammenhang der Stufen und Gestalten, der verschiedenen »Bewußtseinswelten«, in denen das erscheinende Wissen auftritt, sich unmittelbar in der Sprache der Religion ausspricht. Der Religion als einer in diesem Sinne ersten selbstbewußten »Sprache der Totalität« eignet in phänomenologischer Hinsicht damit eine spezifisch integrative Funktion gerade auch in Beziehung auf die logischen Ungleichzeitigkeiten der pluralen Mentalitäten, in die sich das erscheinende Wissen zerlegt. Religion spricht überhaupt schon das Band, die Ur-Einheit oder den konstitutiven Grund dieser Mentalitäten aus, auch wenn sie dies in den verschiedenen Religionsformen selbst noch erst auf die Weise je der einen oder der anderen Bewußtseinsgestaltung, also auf die je 2
Religion ist für den jungen Hegel im Ergebnis seines Durchdenkens des Problems die entscheidende Gestalt einer lebendigen Antizipation der Totalität im Leben eines Volkes, damit aber auch der Selbstvergewisserung dieses Lebens. Religion bildet in gewisser Weise die Gewähr dafür, daß die Philosophie in jedem Fall ein reales Thema hat, dessen Bedeutung sich keineswegs auf den Kreis der im engeren Sinne Philosophierenden beschränkt oder überhaupt auf »Metaphysik« reduziert werden könnte. Wenn Hegel immer wieder darauf hingewiesen hat, daß Philosophie und Religion, recht verstanden, vom selben reden, heißt dies, daß sie beide denselben Realbegriff eines Absoluten fokussieren, das ebenso sehr schon bei uns ist wie aus allem Leben und Denken nicht weggedacht werden kann, ohne beide in ihrer Wahrheit zugleich aufzuheben. – Für den Entwicklungsgang des Hegelschen Denkens in den »Theologischen Jugendschriften« cf. Thomas Sören Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, 73–109.
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mit spezifischer Endlichkeit behaftete Weise des Bewußtseins, des Selbstbewußtseins oder des Geistes tut. Die konkrete Phänomenologie der Religion im Religionskapitel selbst hat dann die Aufgabe, die jeweiligen Inadäquatheiten, die in dem konkreten Artikulationsmodus des integrativen Grundes auf dem Niveau der bestimmten Religion liegen, in ihrer Dialektik aufzuzeigen, d. h. als Formen des selbst noch erscheinenden Wissens sich destruieren zu lassen und so das religiöse in das selbst nicht mehr der Erscheinung verhaftete absolute Wissen zu überführen. Die wesentlich bezüglich des ganzen Ganges des erscheinenden Wissens integrative Dimension der Religion betreffend, hat Hegel übrigens schon in der Selbstanzeige der PhG das folgende festgehalten: »Der, dem ersten Blicke sich als Chaos darbietende Reichthum der Erscheinungen des Geistes, ist [sc. in der PhG] in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht, welche sie nach ihrer Nothwendigkeit darstellt, in der die Unvollkommnen sich auflösen und in Höhere übergehn, welche ihre nächste Wahrheit sind. Die letzte Wahrheit finden sie zunächst in der Religion, und dann in der Wissenschaft, als dem Resultate des Ganzen«3. Das Zitat bringt klar zum Ausdruck, daß der Religion gemeinsam mit dem absoluten Wissen eine abschließende »sylleptische« Funktion, eine Funktion eben der Integration der anderen Wissensweisen auf dem Niveau ihrer »letzten Wahrheit« zukommt. Dieselbe Funktion des Religionsstandpunkts kommt in der PhG selbst in einer ebenso bekannten wie doch auch nach wie vor dunklen Stelle aus der Einleitung in das Religionskapitel zum Ausdruck, in der Hegel im Bild einer Knotenlinie, die sich in einen Bund von Linien verwandelt, eben die Perspektivenumkehr beschreibt, die mit dem Religionskapitel in Beziehung auf die bisherigen Bewußtseinsgestalten erfolgt. Die Stelle lautet wörtlich: »Auf diese Weise ordnen sich nun die Gestalten, die bis hierher auftraten, anders, als sie in ihrer Reihe erschienen […]. In der betrachteten Reihe bildete sich jedes Moment, sich in sich vertiefend, zu einem Ganzen in seinem eigentümlichen Prinzip aus; und das Erkennen war die Tiefe oder der Geist, worin sie, die für sich kein Bestehen haben, ihre Substanz hatten. Diese Substanz ist aber nunmehr herausgetreten; sie ist die Tiefe des seiner selbst gewissen Geistes, welche es dem einzelnen Prinzip nicht gestattet, sich zu isolieren und in sich selbst zum Ganzen zu machen, sondern diese Momente alle in sich versammelnd und zusammenhaltend schreitet sie in diesem gesamten Reichtum ihres wirklichen Geistes fort, und alle seine 3
Hegel, Selbstanzeige der Phänomenologie, in: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff. [GW], Bd. 9, 446.
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besonderen Momente nehmen und empfangen gemeinschaftlich die gleiche Bestimmtheit des Ganzen in sich. […] Wenn also die bisherige eine Reihe in ihrem Fortschreiten durch Knoten die Rückgänge in ihr bezeichnete, aber aus ihnen sich wieder in eine Länge fortsetzte, so ist sie nunmehr gleichsam an diesen Knoten, den allgemeinen Momenten, gebrochen und in viele Linien zerfallen, welche, in einen Bund zusammengefaßt, sich zugleich symmetrisch vereinen, so daß die gleichen Unterschiede, in welche jede besondere innerhalb ihrer sich gestaltete, zusammentreffen«4. An dem von Hegel hier verwendeten, oft schon als problematisch empfundenen Bild ist ohne nähere Erläuterung zunächst soviel klar, daß die Religion in jedem Fall die Funktion hat, den linearen Progreß der Bewußtseinsgestalten, den die PhG prima facie entfaltet, in eine übergeordnete Einheit hinein aufzuheben, als deren interne Momente diese Gestalten jetzt allesamt verstanden werden können. Dabei ist diese Aufhebung von grundsätzlich anderer Art als in den früheren Fällen, in welchen ebenfalls jeweils die neue Gestalt die Aufhebung ihrer Vorgängerin war, nämlich eine der anderen im Scheitern eines jeweiligen Geltungsanspruchs in der Erfahrung des Bewußtseins folgte. Ergaben die Gestalten oder, wie wir mit Rücksicht auf ihre interne Pluralität besser sagen, ergaben die Gestalthorizonte bzw. konkreten Exponenten zu Weltverhältnissen Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft und Geist bislang eine zwar dialektisch entwickelte, dennoch aber nur erst lineare Folge von Formationen des erscheinenden Wissens, so sind eben diese Gestalthorizonte jetzt reflexiv in logische Mitten des Ausdrucks ein und derselben Totalität in einer Mannigfaltigkeit von Gestalten verwandelt, die von einfachen sinnlichen Präsenzen bis zu Gestalten des Geistes reichen, in deren Erscheinungsfülle sich jedoch stets nur die eine »Tiefe des seiner selbst gewissen Geistes« artikuliert. In der Sprache der Jenenser Logik, speziell im Sinne von deren Methodologie kann man hier davon sprechen, daß das, was bislang das nur mit hypothetischer Notwendigkeit versehene Ergebnis der dialektischen »Konstruktion« war, nunmehr, auf dem Boden der Religion, als Funktion einer inneren Selbstunterscheidung der Totalität dargestellt werden kann und dadurch seine »Deduktion« findet; erst jetzt findet sich das »Erkennen« uneingeschränkt in seiner Realität, will sagen in aller nur möglichen Realität, aus der es zugleich zu sich zurückkehrt, so seine Wahrheit auch affirmierend5. Die durchlaufenen Gestalten bzw. Gestalthorizonte 4
GW 9, 366 f. Cf. für diesen methodologischen Hintergrund aus der Jenenser Logik und Metaphysik von 1804/05 den Abschnitt »Es ist gesetzt das Erkennen«, insbesondere die Passage GW 7, 116–125. 5
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verlieren in dieser Wendung ihre unmittelbare Normativität für das Weltverhältnis des Bewußtseins, sie werden zu Momenten des in ihnen jetzt seiner selbst bewußten, sich in ihnen darstellenden Geistes, der Tiefe der Erscheinung. Das Bild von der Knotenlinie hat dabei in der neueren Literatur Anlaß übrigens sogar zu einer eigenen Monographie gegeben, die sich der Feder von Luis Mariano de la Maza verdankt und die in der Tat eine ganze Reihe interessanter Aspekte rund um die Metaphorik von »Knoten« und »Bund« bei Hegel zu Tage gefördert hat6. Da es de la Maza am Ende jedoch nur bedingt gelungen ist, dem von Hegel letzte Plausibilität zu geben, möchte ich alternativ auf einen so weit ich sehe in der Hegelforschung noch kaum rezipierten Vorschlag zur Deutung verweisen, den Franco Chiereghin schon 1980 zur Diskussion gestellt hat7. Chiereghin verweist darauf, daß Hegels den Gang der PhG charakterisierende Formulierung von der »Reihe«, die »in ihrem Fortschreiten durch Knoten die Rückgänge in ihr bezeichnete, aber aus ihnen sich wieder in Eine Länge fortsetzte«, nicht einfach eine vage Metapher darstellt, sondern präzise das Bild einer verlängerten Zykloide (Radkurve) evoziert (Abb. 1),
Abb. 1 Einfache, verlängerte und verkürzte Zykloide (Radkurve)
das Bild also jener seit Galilei viel behandelten und bewunderten periodischen Kurve, die beim Abrollen eines Kreises auf einer Geraden durch einen außerhalb des Kreises gelegenen, ihm aber fest verbundenen Punkt entsteht. 6
Luis Mariano de la Maza, Knoten und Bund. Zum Verhältnis von Logik, Geschichte und Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes, Bonn 1998; cf. auch ders., »Die Metapher des Knotens als Leitfaden zur Interpretation der Phänomenologie des Geistes«, in: Dietmar Köhler / Otto Pöggeler (Hg.), G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Klassiker Auslegen Bd. 16), Berlin 2006, 229–243. 7 Cf. für das folgende Franco Chiereghin, Dialettica dell’assoluto e ontologia della soggettività in Hegel. Dall’ideale giovanile alla Fenomenologia dello spirito, Trient 1980, bes. 408–417.
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Läßt man den Kreis nun statt auf einer Geraden (also linear) vielmehr auf einem anderen Kreis abrollen, entstehen Epizykloiden, in denen die Linien und Knoten tatsächlich in einen »Bund« zusammengefaßt erscheinen (Abb. 2).
Abb. 2 (Einfache) Epizykloide
Damit jedoch nicht genug: mit den Epizykloiden sind zugleich jene Figuren evoziert, mit deren Hilfe seit Apollonios von Perge und Ptolemaios System in das scheinbare Chaos der Planetenbewegungen gebracht werden konnte. Auf der ptolemäischen Himmelskarte sind dann an sich die scheinbar chaotischen Gestirnsbahnen bereits »in einen Bund« zusammengefaßt, und es bedarf jetzt – so immer noch Chiereghin – nur des spezifisch neuzeitlichen Unendlichkeitsbewußtseins, wie es sich auch im infinitesimalen Zykloidenkalkül Ausdruck verschaffte, um die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nun grundsätzlich aus einem Prinzip heraus generieren bzw. darstellen zu können. Genau dieses Bewußtsein einer die distinkte Mannigfaltigkeit des endlichen Wissens aus sich heraus erzeugenden Unendlichkeit ist nun aber auch das Prinzip, das sich nach Hegel im Wissen der Religion ausspricht. Vermutend, daß Chiereghins Vorschlag trotz einiger Fragen, die auch er offenläßt, wohl in die richtige Richtung weist, daß wir also das Wissen der Religion als ein Wissen anzusehen haben, in dem zum einen die unmittelbaren Geltungsansprüche der bisherigen Weisen des Wissens aufgehoben sind, zum anderen aber diese Weisen als Weisen der Selbstvergewisserung des Unendlichen in konkreter Bestimmtheit dargestellt werden können, wollen uns nun Hegels Religionsbegriff, wie ihn die PhG auch über die methodologische Sonderstellung des Religionskapitels hinaus voraussetzt, in der konkreten Deutung weiter annähern.
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II. Zu Hegels Religionsbegriff Freilich: auch unabhängig von der soeben beschriebenen integrativen Funktion der Religion wie auch von der Scharnierfunktion des Religionskapitels für ihre Architektonik und Methode, verdient Hegels phänomenologischer Religionsbegriff in systematischer Hinsicht Beachtung. Hegel bahnt hier grundsätzlich neue Wege der Religionsphilosophie, die man durchaus als eine Revolutionierung des philosophischen Begreifens von Religion ansprechen kann. Nicht nur, daß es Hegel in der PhG, also noch vor der entwickelten Philosophie des Geistes, wie sie den späteren Vorlesungen über die Philosophie der Religion zugrunde liegt, gelingt, die Religion zugleich geschichtlich-genetisch und normativ, ebenso in der Pluralität ihrer Formen wie am Leitfaden einer Teleologie des sich steigernden Erkennens zu denken, einer Teleologie, deren Zielpunkt das auch in der Beziehung seiner absoluten Gründung maximal befreite Bewußtsein ist. Nicht nur, daß Hegel in der PhG der wohl erste Religionsphilosoph ist, der in seinen Begriff von Religion konsequent Religionsgeschichte und -soziologie, beide freilich nicht einfach in positivistischem Sinne, aufzunehmen vermag, der erste auch, der Religionskritik in konstruktiver Absicht mit Religionshermeneutik zu verbinden vermag, der erste zuletzt, der eine umfassende »Komparatistik« der Religionen, diese jedoch auf dem Boden des philosophischen Logos, betreibt. Alle genannten Elemente sind im späteren System mutatis mutandis und noch einmal mit mehr Material gesättigt ebenfalls anzutreffen, und gerade sie markieren hier wie dort Hegels grundstürzende Revolutionierung einer bis zu Kant im wesentlichen metaphysisch fundierten Religionsphilosophie, die sich gänzlich im Rahmen der »ersten Stellung des Gedankens zur Objektivität« bewegte und dabei als theologia rationalis, als alleine der Vernunft verpflichtete Rechenschaftsgabe von Gott auftrat. Die entsprechende Orientierung an einer reinen »Vernunftreligion« weicht jetzt, bei Hegel, einem komplexen nachmetapyhsischen Religionsbegriff, der in demselben Maße, wie er das Verstandesdenken der vorstellenden Metaphysik hinter sich läßt, sich zum einen in die Lage setzt, die »Positivität« der Religion, ihr unmittelbares Auftreten und Erscheinen in seiner ganzen Variationsbreite, in sich aufzunehmen. Noch einmal wichtiger ist jedoch das andere: daß bei Hegel die Überholung einer metaphysischen Fundierung von Religion eben nicht meint, daß Religion auf die Ebene eines rein subjektiv-beliebigen Vorstellens gedrängt wird, daß sie zur Privatmeinung oder (auf die Weise der Romantiker) zu einem bloß symbolischen Wissen, Fühlen oder Ahnen umgedeutet würde, in welchem sich allenfalls existentielle Befindlichkeiten oder Gestimmtheiten des Individuums wie auch Grundmetaphern des kulturellen Lebens reflektierten. Hegel
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hält auf allen Ebenen seiner Behandlung des Religionsthemas fest, daß Religion genauso, wie sie das geheime Band zwischen den verschiedenen Wissensformen betrifft, in denen wir leben, so auch selbst ein Wissen enthält, daß von keiner anderen Wissensform ohne weiteres könnte vertreten oder abgelöst werden. »Religion weiß« – und sich um ihr Wissen zu betrügen, wäre am Ende auch für die Philosophie nicht von Vorteil, die im wesentlichen nichts anderes weiß als die Religion, allerdings dieses Wissen in anderer, rein reflexiver, nicht noch gegenständlich gebundener Form besitzt. Es lassen sich damit drei Merkmale des neuen, gerade auch in der PhG zum Zuge kommenden Religionsbegriffs Hegels festhalten: (1) die Unabhängigkeit vom klassisch-metaphysischen Diskurs, insbesondere von jenem Komplex ontologischer Positionen aristotelischer Provenienz, denen sich dieser Diskurs bis in die Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts hinein durchgängig einschrieb; (2) die prinzipielle Öffnung für die in sich so gestaltenreiche historische Positivität der Religion bzw. die mannigfaltigen Formen des religiösen Bewußtseins, die doch keinen »religionswissenschaftlichen« Positivismus zur Folge hat; (3) zuletzt freilich auch – worauf noch näher einzugehen ist – ein Bewußtsein von dem in jedem Fall immer auch kognitiven Gehalt von Religion. Das zuletzt Entscheidende, auch gegen die meisten späteren Religionsphilosophien Unterscheidende bei Hegel ist, was hier der dritte Punkt benennt: daß Religion auch ihrem neuen, nachmetaphysischen Begriff nach einen Wissensanspruch und eine durchaus rationale Verbindlichkeit behält, in der sie dann auch die verschiedenen phänomenologischen Bewußtseinsstufen durchzieht, sich in ihnen als ihr gemeinsamer Boden und Horizont meldend. Sie behält diese Verbindlichkeit schon deshalb, weil sie die eingangs erinnerte methodische Bedeutung für das Zu-sich-Kommen des Wissens, für die Konstitution einer Sprache der Totalität, damit aber für die Selbstfindung des absoluten Wissens, d. h. der Philosophie als auf den absoluten Realbgriff bezogener Wissenschaft, überhaupt besitzt. Im Zuge dieser Konstitutionsbewegung tritt die Religion wie schon erwähnt bereits im Rahmen der besonderen Logiken der ihr formell untergeordneten, weil weniger komplexen Bewußtseinsgestalten der PhG auf. Wir verfolgen hier in Kürze dieses Auftreten der Religion in ihren verschiedenen Präsenzweisen, deren Abfolge uns zuletzt zum explizit religiösen wie dann zum absoluten Wissen geleitet.
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III. Stufen des religiösen Wissens Hegel macht zu Beginn des Religionskapitels darauf aufmerksam, daß der erste ‚Ort’, die erste Präsenzweise der Religion im phänomenologischen Stufengang schon das »Bewußtsein …, insofern es Verstand …, Bewußtsein des Übersinnlichen oder Innern des gegenständlichen Daseins« ist, sei8; ihren ersten Anhalt findet die Religion mithin dort, wo das Bewußtsein sich seines ersten, zunächst noch-sinnlich äußerlichen Objekts entledigt und dieses in den »idealen« Welthintergrund rein intelligibler Bestimmungen hinein aufhebt. Tatsächlich wäre eine Religion, die nicht überhaupt Negation des Sinnlichen ist, eine contradictio in adiecto, auch wenn dabei (wie auf der Stufe der Naturreligion noch der Fall) diese Negation zunächst in nichts anderem als einer Umdeutung des Sinnlichen zu einer Manifestation des Geistes als des Grundes des Sinnlichen überhaupt bestehen mag: dieses Sinnliche da ist jetzt nicht einfach Licht, Pflanze oder animalisches Lebewesen, sondern Manifestation des Geistes, des Weltgrundes oder wie immer man will überhaupt9. Diese einfache, die äußere Unmittelbarkeit gleichsam absorbierende Negativität alles religiösen Bewußtseins korrespondiert notwendig der Hegelschen Grundbestimmung der Religion, überhaupt das erste Selbstbewußtsein des Geistes, selbstbewußt existierende Geistigkeit zu sein. In allen, auch den einfachsten und sinnlichsten Weisen der Religion, weiß sich das Bewußtsein überhaupt als Geist, nicht als ein Sinnliches, nicht als ein nur Lebendiges, nicht nur als ein Naturgegenstand. Es weiß in dieser Hinsicht mehr als der nur erst unmittelbare Geist weiß, der sich in seine (eigene) Welt zwar verwickelt und in ihr entfremdet weiß, ihr jedoch nicht auf jene grundsätzliche Weise gegenüber zu treten vermag, wie erst das religiöse Bewußtsein es kann. Auf der Stufe des unmittelbaren Geistes gibt es entsprechend nur heteronome Bestimmung, oder das unmittelbare Selbstbewußtsein des Geistes ist das der Entfremdung. Erst das religiöse Bewußtsein als das tatsächlich zu sich gekommene Selbstbewußtsein des Geistes, das aber heißt: als das Selbstbewußtsein der lebendigen Totalität als solcher, ist entsprechend nicht mehr nur vom Geist her bestimmt, sondern selber geistig bestimmend. Das 8
PhG, GW 9, 363. Bekanntlich ist es das Prinzip der Feuerbachschen Religionskritik, in umgekehrter Bewegung alle Weisen der Parousie des Geistes auf in letzter Instanz sinnliche Gegenständlichkeit zu reduzieren. »Das göttliche Wesen, das sich in der Natur offenbart, ist nichts anderes, als die Natur selbst, die sich dem Menschen als ein göttliches Wesen offenbart, darstellt und aufdrängt«, heißt es in Feuerbachs Wesen der Religion (zit. nach: Ludwig Feuerbach, Das Wesen der Religion. Ausgewählte Texte zur Religionsphilosophie, Heidelberg 19833, 230). 9
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religiöse Bewußtsein ist, was dasselbe heißt, auch dem unmittelbaren (dem objektiven) Geist gegenüber noch einmal frei; es ist – wie übrigens auch die Beispiele der Antigone, der Glaubensgewißheit und des Gewissens zeigen – gerade in der Einbettung in eine geistige Welt dieser doch nicht ausgeliefert, sondern ihre (zunächst) einfache10 Negation. Religiöses Bewußtsein ist in diesem Sinne nach Hegel stets eine Weise konkreten Freiheitsbewußtseins, denn erst in ihm ist die nur unmittelbare Geschichte des Geistes, die als solche eben unmittelbar stets auch eine Entfremdungsgeschichte ist, in eine Perspektive der »Versöhnung« gestellt. Das heißt dann gewiß nicht, daß die erscheinende (und insofern selbst unmittelbar und endlich bestimmte) Religion nicht ebenfalls Entfremdungsmomente in sich enthalten könnte, d. h. durch den objektiven Geist, in dessen Gestalt sie erschien, auch in eine endliche Perspektive gebracht ist. Wohl aber heißt es, daß erst auf dem Boden der Religion überhaupt ein Selbstbewußtsein des Geistes und auch der Entfremdung entstehen kann, in dem Entfremdung im Zeichen ihrer Aufhebung und Überwindung aufgefaßt zu werden vermag. Die »Absorption« des Unmittelbaren durch die übersinnliche Welt des Verstandes stellt jedoch nur erst ein negatives, nicht schon ein positives Moment der Religion dar; die entsprechende einfache Negativität begründet, in der Logik der Stufe »Bewußtsein«, in der sie zunächst auftritt, zu Ende gedacht, als solche allenfalls eine abstrakte, den Naturalismus negierende Metaphysik, nicht aber schon eine eigentlich geistig-lebendige Welt, wie sie gelebter Religion entspricht11. »Das Übersinnliche, Ewige« des Verstandes oder der Metaphysik, wie es sich zum Beispiel in einem intelligiblen Reich der Naturgesetze darstellt, auf das sich der theoretisch erklärende Verstand zunächst stützt, ist nämlich nur erst »selbstlos; es ist nur erst das Allgemeine, das noch weit
10
Und in dieser Einfachheit freilich auch nur erst subjektive Negation. Der Märtyrer, der Reformator oder der aus Gewissensgründen sich gegen eine bestimmte Bildung des objektiven Geistes Stellende ist als historische Erscheinung zunächst unterlegen, d. h. nur eine beschränkte und subjektive Macht. Erst die Tatsache, daß er in Wahrheit Repräsentant des absoluten Geistes mitten im objektiven ist, der jenem nicht standzuhalten vermag, spricht seine eigentliche Rechtfertigung aus, die er selbst freilich nur im Glauben antizipiert. 11 Die Kontroverse etwa, die Hamann mit Kant ausfocht, ist (auch im Sinne Hegels) eben von dem Gegensatz zwischen metaphysischer und auf die lebendige Totalität verpflichteter Theologie her zu verstehen. Cf. dazu nur die Bemerkung in Hegels Rezension von Hamanns Schriften: »Es ist hier wundervoll zu sehen, wie in Hamann die konkrete Idee gärt und sich gegen die Trennungen der Reflexion kehrt, wie er diesen die wahrhafte Bestimmung entgegenhält« (Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/Main 1969 ff., Bd. 11, 324).
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entfernt ist, der sich als Geist wissende Geist zu sein«12. Die einfache Transzendenz des Verstandes korrespondiert in der Tat auch nicht schon einem Selbstbewußtsein, sondern nur erst einem vergegenständlichenden Bewußtsein, das sich noch erst als selbst nur ein Moment der Unendlichkeit (im Rahmen von »Kraft und Verstand«: des Lebens, in das das Kapitel mündet) begreifen muß. Religion, heißt dies für unseren Zusammenhang, kann ihrem Vollbegriff nach nicht unterhalb einer Bestimmung der unendlichen Reflexion gedacht werden; ihrem vollen Begriff nach gehört sie dem entsprechend stets dem Leben, nicht einfach der theoretischen Abstraktion an. Das Leben ist in gewissem Sinne Subjekt und Objekt der Religion zugleich, freilich so, daß dieses Subjekt-Objekt hier gerade auch durch seine innere Unendlichkeit zum Bewußtsein seiner selber gelangt und sich erkennt. Religion erweist sich dann als die unendliche Reflexion auf dem Niveau des Selbstbewußtseins: nicht zwar als das nur unmittelbare, noch in sich befangene Selbstbewußtsein der Begierde oder der praktischen und theoretischen Selbstaffirmation, wohl aber als das Selbstbewußtsein, das sich in seinem inneren Widerspruch erkennt und verunendlicht, das von sich weiß, daß es Begriff und Objekt, Subjekt und Substanz zugleich ist und eben daran als bloße Bewußtseinsgestalt zugrunde geht. Unter dem Titel des »unglücklichen Bewußtseins« hat Hegel in der näheren Ausführung das sich in seinem Widerspruch unendlich reflektierende und eben darin die Totalitätsgestalt der Religion antizipierende Selbstbewußtsein gezeichnet13, und er hat damit eine – mit Kierkegaard zu reden – Gestalt der »Verzweiflung«, der gespannten Nichtidentität skizziert, die in ihrer jetzt unmittelbar absoluten Negativität die Spannung auf das noch ausgeschlossene Selbst hin ist. Dem Selbstbewußtsein entspricht so eine Präsenzweise der Religion, die überhaupt in einem expliziten Selbstverhältnis besteht – so jedoch, daß im Spiegel dieses Selbstverhältnisses bzw. Selbstseins durch die eigene Negation hindurch die Totalität als der tragende Grund, daß hier überhaupt die absolute Identität oder der geistige Grund des Selbstseins schon sichtbar wird. Wir wissen dabei, daß Hegel in historischer Hinsicht mit der Figur des unglücklichen Bewußtseins den spätjüdisch-frühchristlichen Bewußtseinsstand geschildert hat, der seine Wahrheit in die noch sus12
PhG, GW 9, 363. Das unglückliche Bewußtsein ist das unmittelbare Leben des Widerspruchs, den das Selbstbewußtsein zunächst von sich abzuhalten versucht hatte, indem es die Kontradiktion auf zwei Bewußtseine aufgeteilt hatte. Das unglückliche Bewußtsein weiß, daß es die Kontradiktion eben nicht mehr exterritorialisieren kann, sondern daß es selbst sie ist. In seiner Selbstzerstörung aber wird sein Grund, das es »Umgreifende« oder die Totalität, sichtbar. Diese Totalität hat sich unmittelbar in der »Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein« (GW 9, 133), d. h. als (unmittelbare) Vernunft. 13
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pendierte endgültige Parousie verlegt, wobei das Bewußtsein selbst auf dem Wege des Verschwindens der gegenwärtigen Welt zu seiner wahrhaften Identität gelangt. Die Religion des Selbstbewußtseins ist so bereits eindeutig mehr als nur Metaphysik; sie ist die Religion der gelebten absoluten Negativität, dies freilich im Sinne einer noch aufgeschobenen absoluten Vermittlung, die als Vermittlung der Totalität dennoch bereits in den Blick getreten ist. Sie ist die Sehnsucht nach einem Leben der absoluten Einheit, das die mit dem Selbstbewußtsein gesetzten Fragmentierungen hinter sich läßt. Daß die Bewußtseinsweise »Vernunft« dann unmittelbar keine Religion kennt14, hat zunächst damit zu tun, daß Vernunft sich selbst als schon absolute Vermittlung nimmt und weiß, d. h. als jene eingetretene Parousie versteht, in deren Mangel das unglückliche Bewußtsein bestand. Vernunft transzendiert sich als solche nicht selbst, und alle Unmittelbarkeit vindiziert sie sich vielmehr als ihren Besitz statt sie zu übersteigen15. Entsprechend schwer tut sich aller Rationalismus mit der Religion, die er entweder (wie später, im Geistkapitel, die Aufklärung in ihrem Kampf mit dem Glauben) des Irrationalismus’ bezichtigt oder allenfalls als Instrument der Ethisierung (im Sinne etwa der Religionsphilosophie Kant) zu »retten« versucht. Tatsächlich aber erweist sich bei näherer Betrachtung die Vernunft als selbst der Vermittlung bedürftig; sie zeigt sich als eine Geistesgestalt, die zwar an sich ihre Genese wie auch ihre Aufhebung hat, beides jedoch nicht für sich zu setzen vermag. Hegel macht dies nicht zuletzt im Übergang zum Geistkapitel an der Aporetik der Kantischen Ethik deutlich, die als eine Ethik der für sich selbst reellen Individualität niemals zu einer Theorie überindividuell verbindlicher, sittlicher Lebensformen gelangt, wie wir ihrer doch bedürfen, um effektive historische Ordnungen denken zu können, denen sich auch das Individuum mitsamt der Genese seiner Individualität noch einschreibt. Auf der Ebene des Geistes versteht sich das Bewußtsein dann überhaupt in diesem Sinne als wesentlich nicht durch sich selbst (»autonom«), sondern durch das Andere einer äußeren Welt vermittelt. Das religiöse Moment, das dem Geist selbst innewohnt, kann dabei an Hand der drei Gestalten der Religion der Unter-
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Cf. PhG, GW 9, 363: »Das unmittelbare Dasein der Vernunft, die für uns aus jenem Schmerz [sc. des unglücklichen Bewußtseins] hervorging, und ihre eigentümlichen Gestalten haben keine Religion, weil das Selbstbewußtsein derselben sich in der unmittelbaren Gegenwart weiß oder sucht«. Der Identitätsstandpunkt der Vernunft läßt das für die Religion immer auch konstitutive Differenzbewußtsein nicht zu. 15 Hegel zeigt in diesem Sinne nicht zuletzt auf, daß der Empirismus der »beobachtenden Vernunft« nicht etwa empirisch induziert, sondern ein rationalistischer Standpunkt ist (ein Standpunkt übrigens, auf dem man die bereits erwähnte Feuerbachsche Religionskritik ansiedeln muß).
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welt oder des Schicksals, des Glaubens und zuletzt des Gewissens namhaft gemacht werden. Die Religion der Unterwelt, der etwa eine Antigone verpflichtet ist, beschwört, wenn man so will, die Totalität, indem sie die Erinnerung an das in einem absoluten Sinne Vergangene, das Nicht-Gesetzte, aber Setzende des Gegenwärtigen wachhält; sie erinnert das fremde Ansich, die uneingeholte Substanz, und relativiert das Gesetz und Geschehen des Tages eben an ihm. Wenn hier – sagen wir durch den Mund der Antigone – noch nicht das »Subjekt«, sondern erst der unmittelbare, darum aber auch sich selber entfremdete Geist spricht, konstituiert sich im Glauben bereits das Fürsichsein, das jetzt, aus dem entfremdeten Geist heraus, tätige Antizipation, nicht nur passive Erinnerung der Totalität ist. Hegel spricht vom Glauben – der seligmachenden fides im Sinne der Reformation – als einer Form der »Erhebung« über die Entfremdung, eine Erhebung, die ihren formellen Grund in der gewordenen »Sichselbstgleichheit«16 , der neuen Subjektivität des Bewußtseins hat. Gerade aber als unmittelbarer Ausdruck der Subjektivität ist der Glaube Denken, nicht etwa Fühlen und Ahnen; Hegel nennt es geradezu »das Hauptmoment in der Natur des Glaubens, das gewöhnlich übersehen wird«, daß der Glaube »Denken« und als solches »Bewußtsein des Wesens, das heißt, des einfachen Innern« ist17. Es ist dabei klar, daß der »Glaube«, der als denkende Sinnvergewisserung die unmittelbare Antwort auf die Welt der Entfremdung darstellt, nicht einfach den Besitz beliebiger oder gar unbegründeter Vorstellungen, also einen epistemisch schwächeren Status als das Wissen meinen kann; wenn die Reformatoren die fides salvatrix höher gestellt haben als alles menschenmögliche Wissen, so findet dies in Hegels Perspektive seine Berechtigung darin, daß in der Tat immer dann das »glaubende Denken« mehr weiß als das »wissende Denken«, wenn es gegen jenes das Wissen des Geistes um sich zur Geltung zu bringen vermag, im Wissen aber nur der selbstvergessene Geist am Werke ist. In diesem Sinne ist der Glaube dann auch subjektkonstitutiv, er kreiert ein Ich, eine intelligible Einheit, die in kraft des genuin religiösen Wissens um das Dasein des Geistes wie auch ihres reinen Anfangens bei sich die Negation der ganzen sie umgebenden Welt, ja der Beginn einer neuen zu sein vermag. In der Jenenser Geistphilosophie hat Hegel in nur scheinbar paradoxer Wendung davon gesprochen, daß gerade darin »das Denken als solches« »so hoch erhoben worden« sei, daß »um des Glaubens willen freudig in den Tod gegangen« wurde18. Man versteht diesen Satz nur dann angemessen, wenn man mit Hegel 16 17 18
PhG, GW 9, 287. A. a. O. 289. Cf. Systementwürfe III, GW 8, 285.
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Glauben und Denken nicht als Alternative, sondern als insofern identisch versteht, als mit dem »Glauben« eben ein Akt der rein intelligiblen Selbstvergewisserung des Geistes gemeint sein kann, eine Vergewisserung, die sich nicht auf äußere Instanzen und Gründe, sondern alleine auf das unmittelbare Selbstbewußtsein des Geistes stützt. Erst auf Grund dieser Koinzidenz von Glauben und Denken kann es übrigens auch zu jenem scharfen Konflikt zwischen dem Glauben auf der einen und der reinen Einsicht auf der anderen Seite kommen, der historisch etwa in der frühneuzeitlichen Konkurrenz der theologischen dogmatischen Lehrsysteme und dem Rationalismus insbesondere cartesischer Provenienz aufgebrochen ist und der sich in dem bereits erwähnten Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben, wie Hegel in bald darauf aufgreift, vollendet: denn handelte es sich hier nicht um konkurrierende Wissens- und Erkenntnisansprüche, verlöre der ganze Konflikt seinen Boden und beide Seiten könnten sich schiedlich-friedlich in die Reiche eines womöglich um so gefühlsgesättigteren glaubenden Nichtwissens einerseits, eines nüchternen, aufgeklärten Wissens zumindest um das Endliche andererseits teilen. Mit dem Glauben qua Denken als Wissensweise, die zudem als Gewißheitsweise des Geistes einen spezifischen Erkenntnisüberschuß enthält, liegen die Dinge jedoch anders; die Einsicht oder die Aufklärung richtet sich jetzt gegen ein bestimmtes Wissen, dessen formale Endlichkeit sie zwar aufweisen, dessen Gehalt sie jedoch nicht ohne weiteres zu substituieren vermag. Dabei unterliegt die Religion als eine zunächst immer auch unmittelbare Formation des (objektiven) Geistes der Aufklärung, die die unmittelbar religionslose Vernunft oder aber das abstrakte Jenseits des Verstandes nun als historische oder Weltgestalt neu zu etablieren versucht. Aber ähnlich, wie am Ende des Vernunftkapitels die Vernunft einsehen mußte, daß das Prinzip der Autonomie nicht dazu taugt, auch nur die schon existierende Vernünftigkeit zu erklären oder gar auf Dauer zu sichern, erfährt auch der aufgeklärte und im Gewissen zu sich befreite Geist, daß er als solcher ein noch einmal vermittelter, ein nicht in sich selbst, sondern erst in der Vermittlung bzw. der Versöhnung begründeter Geist ist. Der Geist der Versöhnung erst ist der absolute Geist und als dieser das Subjekt der Religion, die das Selbstbewußtsein eben dieses Geistes (nicht nur sein unmittelbares Sein) ist. Wenn man so will, kann man sagen: Religion ist die Aufhebung des unmittelbaren Autonomieanspruchs der Vernunft bzw. des (objektiven) Geistes in das an ihm selbst Autonome, nämlich den absoluten Geist hinein, um dessen dann auch in der Tat absolute Auslegung es im Religionskapitel jetzt noch geht. Die Religionsgeschichte muß sich als Weg hin zur absoluten Darstellung des Absoluten erweisen und hat eben darin ihr jederzeit auch religionskritisches Normativ. In beiderlei Hinsicht aber ist sie zugleich der
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Weg zur Schaffung eines Raums für das spekulative Erkennen, das absolute Wissen. IV. Rekapitulationen des erscheinenden Wissens auf der Stufe der Religion Das notwendig Freiheit konstituierende Selbstbewußtsein des Geistes, das, wie wir gesehen haben, Religion als Abstreifung der unmittelbaren Gewißheiten von der Sinnlichkeit bis zum nur objektiven Geist ist, konstituiert sich als unmittelbares zunächst im Gegensatz gegen das einfache Bewußtsein des Geistes, in dem sich das Individuum überhaupt in einer Welt und Wirklichkeit findet. Religiöses Selbstverhältnis und bewußtes Sein in der Welt stehen so in einer Spannung, die sich in einer Vereinigung beider Seiten noch aufheben muß: »Wie wir es nun wissen, daß der Geist in seiner Welt und der seiner als Geist bewußte Geist oder der Geist in der Religion dasselbe sind, so besteht die Vollendung der Religion darin, daß beides einander gleich werde, nicht nur daß seine Wirklichkeit von der Religion befaßt ist, sondern umgekehrt, daß er sich als seiner selbstbewußter Geist wirklich und Gegenstand seines Bewußtseins werde«19 . Ansich ist diese letzte Aufgabe insofern bereits gelöst, als die konkreten Momente der Weltlichkeit des Geistes – das Bewußtsein, das Selbstbewußtsein, die Vernunft und der Geist – selbst nichts anderes als die Konstituentien der Religion sind, weshalb sich diese in ihren differenten Präsenzformen in ihnen auch zu spiegeln vermochte. Was noch geschehen muß, ist, daß die Religion ihrerseits zeigt, daß sie sich in diesen verschiedenen Momenten frei zu finden, sie sozusagen aus sich selbst heraus darzustellen vermag. Genau dies aber ist der Inhalt des Religionskapitels der PhG selbst, dessen einzelne Schritte wir hier nur in äußerster Kürze andeuten. Am unmittelbarsten auf den phänomenologischen Stufengang bezogen ist die natürliche Religion: das sich sinnlich artikulierende Selbstbewußtsein des Geistes als der Wahrheit der Welt ergibt hier die noch ganz abstrakte Religion des Lichts, das wahrnehmende die Religion der differenzierten Naturgebilde, der Pflanze und des Tieres, während die dem Verstand verpflichtete Religion die des »Werkmeisters« (des platonischen Demiurgen oder des »rationalen Welthintergrundes«) ist. In der Kunstreligion haben wir es dagegen mit einer nunmehr subjektiveren, freilich sich erst noch in bestimmten, vom religiösen Subjekt geschaffenen Medien ausdrückenden Religion zu tun. Diese Medien reichen wiederum von ganz unmittelbar-sinnlichen Gebilden wie 19
PhG, GW 9, 364 f.
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dem abstrakten Idol oder dem unverstandenen Wort des Orakels über die lebendigen Gestalten der kultischen Feier bis hin zu den durchindividuierten Produkten des Geistes nach Art der großen dramatischen Sprachkunstwerke der Alten, der Tragödie und Komödie. Alle diese Religionsformen sind so freilich noch überhaupt »objektiv«, will sagen überhaupt gegenständlichweltlich gebunden; sie definieren sich darum auch noch immer von einem Gegensatz von religiösem Selbst- und weltlichem Objektbewußtsein her, der in der Geschichte der Religion abgearbeitet werden soll. Erst die »offenbare Religion«, die ihren Sitz jetzt wesentlich ohne unmittelbaren Objektbezug im Selbstbewußtsein des Geistes hat, hat dann allen Anhalt an äußerer Gegenständlichkeit abgestreift und damit zugleich – phänomenologisch gesprochen – das absolute Erkennen zu ihrem Inhalt gemacht. In diese letzte Weise der Religion hinein sind die Momente einer »weltlichen Welt« vollständig aufgehoben; erst sie spricht insofern wahrhaft die »Sprache der Totalität«, der keine Weise des erscheinenden Wissens mehr äußerlich ist und unvermittelt entgegensteht. Im »absoluten Wissen« – dem Auftritt der Philosophie auf der phänomenologischen Bühne – kann es dann nur noch darum gehen, gleichsam die »vorstellende« Grammatik der religiösen Rede, insofern diese formal noch immer vergegenständlicht (die also zwar nicht mehr eine unbewältigte Gegenständlichkeit außer sich hat oder sich an einer von ihr selber geschaffenen Gegenständlichkeit realisiert, dennoch aber eine neue Quasi-Gegenständlichkeit schafft), zu überwinden und auf diese Weise den Gegensatz und den Gegenstand des Bewußtseins überhaupt definitiv in den reinen Selbstvollzug des Erkennens hinein aufzuheben. Wenn das absolute Wissen als solches keine Religion mehr hat, so nicht deshalb, weil diese von ihm abstrakt zu negieren wäre, sondern alleine deshalb, weil es selber im Zeichen jener Parousie steht, deren Zeugin und Prophetin die Religion auf allen Stufen des erscheinenden Wissens, in allen ihren konkreten Präsenzweisen schon war.