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German Pages 331 Year 1990
BIRGER P. PRIDDAT
Hegel als Ökonom
Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann
Heft 403
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Hegel als Okonom
Von
Birger P. Priddat
Duncker & Humblot . Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der "Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung"
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Priddat, Birger P.: Hegel als Ökonom / von Birger P. Priddat. u. Humblot, 1990 (Volkswirtschaftliche Schriften; H. 403) ISBN 3-428-06964-1 NE:GT
Berlin: Duncker
Alle Rechte vorbehalten
© 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41
Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-06964-1
Vorwort
Über Hegels Ökonomie in der Rechtsphilosophie gibt es viele Ausführungen und Anmerkungen in den philosophischen und politologischen Kommentaren, aber noch keine eingehendere Untersuchung, die die Struktur seines ökonomischen Konzeptes, seine Einordnung in die damalige ökonomische Theorie und seine staatswissenschaftlich-cameralistische Grunddisposition im Zusammenhang würdigt. Das vorliegende Buch ist ein erster Versuch zu diesem Thema, der gegenüber den meisten bisherigen Kommentaren den Vorteil nutzen konnte, die verschiedenen, jetzt erst herausgegebenen Vorlesungsnachschriften mit auswerten zu können. Wenn K.-H. Iltings Satz zutreffen sollte, Hegel sei der philosophische Protagonist der modernen Verfassungswirklichkeit (Ilting (V) S. 19), gilt diese Aussage für die Ökonomie Hegels aber nur bedingt, nämlich in der Frage nach den institutionellen Voraussetzungen der Marktwirtschaft unter dem Gesichtspunkt, die Wohlfahrt des allgemeinen Besten zu verwirklichen. Hegel ist der Philosoph nicht der Wirtschaftstheorie, sondern der Wirtschaftsordnung bzw. -verfassung, der die Lösung der Aporie der bürgerlichen Gesellschaft in der Ständeordnung der Korporationen sucht. Dieses Buch ist entstanden im Rahmen anderer Arbeiten und Forschungen des von der Volkswagenwerk-Stiftung geförderten Projektes "Antike in der Moderne / Aristoteles in der modernen Ökonomie", das von 1985 - 1988 von Prof. Dr. U. Bermbach am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg betreut wurde. Ihm und der Volkswagenwerk-Stiftung bin ich sehr zu Dank verpflichtet wie vielen Freunden und Bekannten, vor allem meiner Frau, nicht zuletzt dem Verlag Duncker & Humblot dafür, dieses Buch in den Verlag aufgenommen zu haben, der Hegels erste Gesamtausgabe 1833 ediert hatte. Der "Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung" danke ich für die freundliche Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Hamburg, den 18.1.1990
Birger P. Priddat
Inhaltsverzeichnis
1. Der Status der Ökonomie bei Hegel ......................................................... 9 2. Smith und Hegel - Markt und Staat ......................................................... 22 3. Ökonomie und Moral .................................................................................. 36 4. Arbeit und Nachfrage ................................................................................. 42 5. Kontingenz und Sicherheit ......................................................................... 53 5.1 Die Krisentheorie ................................................................................. 61 5.2 Die Struktur der Hegeischen ökonomischen Analyse ..................... 75 5.3 Ökonomische Konsequenzen der Hegeischen Analyse .................. 81 5.4 Unscheinbare Polizei: Fehlende Wirtschaftspolitik ....................... 84 5.4.1 Die öffentlichen Güter (I) ............................................................... 95 5.4.2 Die öffentlichen Güter (11) .............................................................. 99 5.4.3 Das Versagen der Armenpolizei .................................................... 108 6. Vermögen versus Kapital .......................................................................... 117 6.1 Das Luxus-Problem ............................................................................. 123 6.2 Die Exportlösung ................................................................................. 134 6.3 Hegels Kapitaltheorie ......................................................................... 139 Exkurs zu Adam Smiths Politischer Ökonomie .................................... 157 6.4 Das "allgemeine Vermögen". Zur Rechtsphilosophie des Volkseinkommens ............................................................................... 168 6.4.1 Justi, Hegel, Hermann, Schmoller. Ein Zusammenhang ........... 176 6.4.2 Besitz, Eigentum, Vermögen
......................................................... 185
7. Die alternative Wirtschaftsverfassung der Korporation ...................... 194 8. Tugend und Gerechtigkeit ........................................................................ 219 9. Die Steuern und der Staat ......................................................................... 245 Exkurs zur Ökonomie der Stände bei Hegei ......................................... 272 10. Das politische Vermögen ........................................................................ 278 11. Quintessenz ............................................................................................... 308 Literatur .......................................................................................................... 319
1. Der Status der Ökonomie bei Hegel Das Marxsche Urteil, Hegel stehe auf dem Standpunkt der modernen Ökonomie, d. h. auf dem der Nationalökonomie seiner Zeit,1 hat sich bis in die heutigen Interpretationen erhalten.2 Hegel ist daran nicht unschuldig. In den Grundlinien der Philosophie des Rechtes von 18213 führt er Adam Smith, Jean-Baptiste Say und David Ricardo als "staatsökonomische" Schriftsteller ausdrücklich an4 und erwähnt Smiths Prinzip der "Teilung der Arbeit. Damit erschöpfen sich aber bereits die direkten Verweise auf die englische klassische Ökonomie. Alles weitere muß aus der Argumentation erschlossen werden. Die Neigung der Intepretatoren, Hegel zu einem wenn auch modifizierten Anhänger der klassischen Ökonomie zu machen, hält bis heute an. Es bedarf aber einer gewissen Ungenauigkeit, die starke Komponente polizei- und wohlfahrtstaatlicher Ökonomie zu übersehen, die in Hegels Konzeption der Wirtschaft vorhanden ist.5 P. Chamley hat als einer der wenigen diesem Aspekt eingehendere Betrachtung gewidmet,6 wenn er ihn auch auf den Einfluß begrenzt, den James Steuarts "Staatswirthschaft,,7 auf Hegel in seiner Berner Zeit machen konnte. Hegel hatte 1799 einen Kommentar zur deutschen Ausgabe (1767) von Steuarts "Untersuchungen" geschrieben.8 Nach seinem Tode ist dieses Ma1 Marx (I) S. 269. 2 Siehe bei: Lukacs Bd. 2, S. 496; Freyer S. 6ff.; Heller S. 126ff.; Riedel (I) S. 75ff.; Avineri S. 176ff.; Hösle S. 142; auch: Maker (I) S. 4; Gallagher S. 160. 3 Hegel (I). 4 Hegel (I) § 189. 5 Siehe die Gliederung in Hegel (I) 2. Abschnitt: Die bürgerliche Gesellschaft. A. Das System der Bedürfnisse, B. Die Rechtspflege, C. Die Polizei und K.?rporation. Über die cameralistischen Traditionselemente in der Hegelschen Polizei-Okonomie siehe die Ausführungen bei: Maier S. 236ff. 6 Siehe aber auch neuestens: Waszek (V) chap. 4ff. und Tribe (111). 7 Siehe: Steuart. Zum Verhältnis von Smith und Steuart siehe: Perelman; siehe auch: Tribe (I) S. 133 ff.; Waszek (I) und Waszek (V) chap. 5. 8 Die neueste Bestätigung siehe: Heidegren S. 180.
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nuskript verlorengegangen. Es gibt dazu nur noch eine Notiz von K. Rosenkranz: "Alle Gedanken Hegels über das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, über Bedürfnis und Arbeit, über Teilung und Vermögen der Stände, Armenwesen und Polizei, Steuern usw. konzentrierten sich endlich in einem glossierenden Kommentar zur deutschen Übersetzung von Stewarts Staatswirtschaft, den er vom 19. Februar bis 16. Mai 1799 schrieb und der noch vollständig erhalten ist. Es kommen darin viele großartige Blicke in Politik und Geschichte, viele feine Bemerkungen vor. Stewart war noch ein Anhänger des Merkantilsystems. Mit edlem Pathos, mit einer Fülle interessanter Beispiele bekämpfte Hegel das Tote desselben, indem er inmitten der Konkurrenz und im Mechanism~ der Arbeit wie des Verkehrs das Gemüt des Menschen zu retten strebte". Durch die Lektüre Steuarts ist Hegel nicht nur das erste Mal mit der Ökonomie, sondern zugleich auch mit deren gouvernemental-merkantilistischen Spielart bekannt geworden, was die nachfolgende Lektüre Smiths in der gleichen Weise beeinflussen konnte wie das Gros der deutschen Ökonomen seiner Zeit, die, bei aller emphatischen Aufnahme der Smithschen Kapitalwirtschaftstheorie, in der Frage des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft skeptisch blieben. lO In diesem Sinne ist eh. Taylors Feststellung - "Hegel hatte die Schriften der britischen politischen Ökonomen gelesen und sich ausführlich mit ihnen beschäftigt, besonders mit James Steuart und Adam Smith, deren Werke ins Deutsche übersetzt worden waren,,11- ein irritierender Hinweis, wenn er Steuart und Smith ins Einheitsgewand der englischen Klassik kleidet. Beide sind sie britisch, aber in den ökonomischen Konzeptionen konträr. Die Spannung zwischen der staatswirtschaftlich-cameralistischen Disposition der deutschen Ökonomie des 18. Jahrhunderts, die in Steuarts politischer Ökonomie aufscheint, und der durch die englische Klassik erneuerten jungen Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre des frühen 19. Jahrhunderts bestimmt Hegels Rezeption der Ökonomie weit mehr als eine bloße Beschäftigung mit der Klassik. Mit Steuart hat Hegel einen für die Ökonomie des 18. Jahrhunderts hervorragenden Analytiker der Marktprozesse kennen9 Rosenkranz (I) S. 86 (Die ältere Schreibweise schwankte zwischen Steuart und Stewart). Zu Hegels Steuart-Rezeption siehe: Höhne S. 304 ff.; Chamley (I); ebenso: Chamley (11); und neueren Datums: Chamley (III); auch: Plant. 10 Siehe dazu besonders: Grünfeld; Graul; Schmidt.
11 Ch.Taylor S. 566. Während über Adam Smiths Einfluß auf Hegel die Interpreten sich
hinreichend ausgelassen haben, rückt James Steuart erst seit P. Chamleys Untersuchungen genauer in den Aufmerksamkeitsbereich; siehe neuestens dazu: Waszek (V).
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gelernt, der in seiner staatswirtschaftlichen Grundhaltung aber von J usti oder Sonnenfels, um die bekanntesten cameralistischen Autoren der Zeit zu nennen, im Prinzip nicht zu unterscheiden ist. Hegel befmdet sich zwar - so mag die korrigierte These danI). lauten - auf dem Niveau der Ökonomie seiner Zeit, aber nicht auf dem englischen, sondern auf dem deutschen, wenn bei ihm smithianische Marktökonomie - im System der Bedürfnisse - und cameralistische Polizei und Korporation eine Synthese eingehenP Genauer gesagt betreibt Hegel die Reflektion der cameralistischen Polizeitheorie auf dem Niveau der klassischen Ökonomie, und zwar nicht allein auf dem Fundament Smiths und Says, sondern auf dem der klassischen Kritiker der Klassik: Th.R. Malthus und J.C.L. Simonde (de Sismondi). Von einem direkten Einfluß Ricardos ist dagegen bei Hegel nichts zu fmden, aber es ist signifIkant, daß der deutsche Philosoph in der Frage der wirtschaftlichen Entwicklung den gleichen Pessimismus wie Malthus und Ricardo zeigt - allerdings, wie sich erweisen wird, aus durchaus anderen Gründen. Diese Interpretationen sind jetzt erst möglich geworden, nachdem etliche Vorlesungsnachschriften der Hegeischen Rechtsphilosophie veröffentlicht worden sindP In den Erläuterungen, die Hegel seinen Zuhörern zu den Paragraphen seiner Rechtsphilosophie gab, werden der ökonomischen Wissenschaft seiner Zeit entliehene Argumentationsstrukturen verwendet, die es erlauben, manche Sätze der Rechtsphilosophie von 1821 auf ihren ökonomischen Gehalt hin zu verstehen und zu prüfen. Die Schwierigkeiten der Interpretation entstehen zum einen daraus, daß Hegel nirgendwo explizit auf die von ihm verwendete Literatur hinweist, zum anderen aus den Schwierigkeiten der ökonomischen Wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts, die in Deutschland den Übergang von der Cameralistik in die National-Ökonomie zu bewerkstelligen hatte: "Das wirtschaftliche Handeln wurde nicht mehr länger mit dem Handeln des Staates gleich gesetzt, 12 "So brach sich schon in der Zeit vor 1800, als die Romantik gegen den Liberalismus mobil machte, die Aufnahme der Smithschen Gedanken am Staatsdenken des Cameralismus. Die Rezeption des Smith durch Cameralisten wie Sartorius und Hufeland besteht in Wirklichkeit nur sehr bedingt. Untersucht man die Smithinterpreten, so fällt sogleich die Fülle der Ausnah· men und Klauseln auf, mit denen sie Smith' Gedanken umgeben. Eine wirkliche Durchbrechung der Tradition ergab sich so nicht. Die produktiven Leistungen der Volkswirtschaftslehre des frühen 19. Jahrhunderts sind in ihrer staatlich-geschichtlichen Haltung durchaus eine Werkfortsetzung des Cameralismus" (Müller-Armack S. 195). 13 Zitiert wird aus folgenden Nachschriften der Hegeischen Rechtsphilosophie: Hegel (III), Hegel (IV), Hegel (V), Hegel (VI), Hegel (XVI).
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sondern als Ergebnis des Handelns menschlicher Subjekte verstanden, die ihre, im Prinzip unbegrenzten, Bedürfnisse zu befriedigen versuchen. 'Gute Regierung' wurde durch Verkehr ersetzt, durch die freie Interaktion von Wirtschaftssubjekten, in der durch die gegenseitige Bedürfnisbefriedigung eine Ordnung etabliert wird".14 Doch was sich ex post als wohldefinierter Übergang beschreiben läßt, war zu Hegels Zeit noch ein im Fluße befmdlicher Prozeß,15 in dem die von den Engländern vorausgesetzte Freiheit des bürgerlichen Wirtschaftssubjektes ein problematischer Topos blieb. Man muß umgekehrt beachten, daß erst die Philosophie des sogenannten deutschen Idealismus das Freiheitsthema energisch aufwarf, indem sie das Verhältnis von Bürgerfreiheit und sittlicher Gemeinschaft so reflektierte, wie es den deutschen Usanc,;:en und Traditionen angemessen war. Die Freiheit des Subjekts, die große Initiation der Französischen Revolution, war in Deutschland an die Freiheit der Stände gebunden, die Hegel nicht außer Kraft setzen, sondern modernisieren wollte. Hegels Darlegungen zur Ökonomie fmden sich im Teil Ades 2. Abschnitts des 3. Teils der Rechtsphilosophie von 1821, der mit Sittlichkeit überschrieben ist. Der 2. Abschnitt Die bürgerliche Gesellschaft teilt sich auf in: A: Das System der Bedürfnisse, B: Die Rechtspflege und C: Die Polizei und Korporation. Im 3. Abschnitt des 3.Teils werden im Teil A: Das innere Staatsrecht dann die fmanzwissenschaftlichen Aspekte behandelt. Das System der Bedürfnisse enthält Hegels Konzeption der Marktwirtschaftsgesellschaft. Der Titel ist besonders ausgesucht, um das System der (bloßen oder natürlichen) Bedürfnisse vom System der Sittlichkeit, das in Polizei, Korporation und Staat aufgeteilt ist, abzugrenzen. Für die Wirtschaftstheorie verwendet Hegel ausdrücklich den Terminus M Tribe (I) S. 208f. (eigene Ubersetzung; B.P.).
15 Siehe zu diesem Prozeß: Tribe (I) chap. 8; ebenso: Hufeland Bd. 1 Einleitung S. 3-11; ebenso: Rau (V) 3. Bd., S. 222-239. "In den Benennungen der Wissenschaften, welche die Regierungssorge für den Erwerb betreffen, ist eine große Vieldeutigkeit immer noch vorherrschend, so daß man sich immer erst über ihren Gebrauch verständigen muß. Die Lehre von der Volkswohlstandspflege, von Vielen Nationalwirthschaftslehre genannt, wird von Anderen noch mit dem Ausdruck Staatswirthschaftslehre bezeichnet. Daß dies unpassend ist, liegt am Tage, denn es ist ja von keinerWirthschaft des Staates die Rede." (S. 231) Hegel gehört, in Raus Diktion, zu den" Anderen", aber das sind mehr nur semantische Kautelen, denn in der Struktur dessen, was die Wirtschaft ausmache, folgt Hegel im Prinzip dieser Rauschen Gliederung (ohne daß damit behauptet ist, daß er sie kenne): die reine Ökonomie wird im "System der Bedürfnisse" von allen staatlichen Regulationen getrennt, die als "Polizei und Korporation" der Rauschen "Volkswirthschaftspflege" und in den Ausführungen über die "Finanzen" der Rauschen "Staatswirthschaft" (die hier im engeren Sinne gemeint ist) entsprechen.
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"Staatsökonomie".16 Doch ist daraus nicht auf eine staatswirtschaftliche Tendenz zu schließen,17 weder auf spezifIsch fmanzwirtschaftliche noch auf staatsinterventionistische Absichten. "Staatswirthschaft" ist ein von J.H.G.JustilS - dem, neben J.Sonnenfels, großen Systematisateur der Polizei- und Cameralwissenschaften des 18. Jahrhunderts - für die Gesamtheit der ökonomischen Wissenschaften eingeführter Ordnungsbegriff. Die "Staatswirthschaft" umfaßt die "systematische Abhandlung aller ökonomischen und Kameralwissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfodert werden", wie der Untertitel lautet. Die Ökonomie ist noch politische Ökonomie in dem Sinne, daß "die Staatskunst ( ...) also offenbar (dazu dient) das Vermögen des Staats zu erhalten,,?9 Zwar hat, wie Hegel noch gleichsam in Justischer Diktion angibt, "die Staats-Oeconomie ( ... ) die Gesetze anzugeben nach denen das System der Befriedigung aller Bedürfnisse regiert wird",20 aber dieses Regime ist nicht das des Staates, sondern das der "Nothwendigkeit": Die Staats-Oeconomie "hat so zunächst vor sich Individuen mit ihren unendlich mannigfaltigen Bedürfnissen, die von dem Zufall, der Willkür, Einbildung, Geschicklichkeit pp abhängen, eine unendliche Menge von Besonderheiten. Was vorliegt sind lauter Zufälligkeiten, lauter Willkür, aber dieß allgemeine Wimmeln von Willküren erzeugt aus sich allgemeine Bestimmungen, sie werden regiert und gehalten von einer Nothwendigkeit, die von selbst da hineintritt. Dieß Nothwendiife darin aufzufassen, zu erkennen ist Gegenstand der Staats-Oeconomie". Wenn Hegel hier die "Staatsökonomie" mit seiner Theorie des "Systems der Bedürfnisse" identifIziert, weiß er, daß er weder den älteren Begriff der Staatswirtschaft, wie Justi ihn verstand, verwendet, noch seine reduzierte Fassung, die die Staatswirtschaft auf die Staatshaushaltslehre oder Finanzwissenschaft festlegte. Zwischen "Staatswirtschaft" im engeren und "Staatsoeconomie" im weiteren Sinne liegt die theoretische Differenz, die durch die neue englische political economy in die Wirtschaftlehre gebracht wurde. Im 16 Hege! (I) § 189; ebenso: Hege! (IV) S. 117; Hege! (III) S. 152; Hege! (V) S. 587; Hege! (VI) S.486. 17 Wie richtig K.-H. IIting in seinen Erläuterungen zu Hege! (XVI) anmerkt: Er!. 201 auf S. 319. 18 Justi. 19 Justi (I) S. 60. 20 Hege! (VI) S. 486. 21 Hege! (VI) S. 486f.
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Begriff des "Systems der Bedürfnisse" ist nicht mehr die Einheit der Wohlfahrt von Gesellschaft und Staat präjudiziert, sondern die Funktion des Marktes benannt, die (privaten) Bedürfnisse aller zu erfüllen. "Es ist aber nicht die Staatswirtschaft, wovon wir hier sprechen, wo das Allgemeine für das Allgemeine ist,,;2 sondern, ist zu ergänzen, jene Staatsökonomie, die mit der political economy Smiths darin identisch ist, daß sie das Besondere für das Allgemeine
nimmt.
Was Hegel im vorletzten Zitat oben die "Nothwendigkeit" nennt, "allgemeine Bestimmungen" in das "allgemeine Wimmeln von Willküren" zu bringen, ist verwandt mit J. Steuarts Überzeugung, daß in den Wandlungen des Wirtschaftslebens eine größere Verhältnismäßigkeit herrschen müsse,z3 Der Justische Begriff der Staatswirtschaft, der die individuellen Interessen nach dem Wohlfahrtskriterium des salus publicus organisiert, bleibt der bestimmende Maßstab. Praktisch wird bei Hegel die "Staatsökonomie" - das "System der Bedürfnisse" - als ein System der reinen Volkswirtschaftstheorie behandelt, während "Polizei und Korporation" zur angewandten Volkswirtschaftslehre24 gehören (mit Einschränkungen, die später noch genauer erörtert werden: wenn nämlich in der Korporation dem Marktwirtschaftsinstitut eine neue Eigentumsstruktur gegeben wird). Die von K.H. Rau kodifIzierte Ordnung der Wissenschaft in Volkswirtschaftstheorie, Volkswirtschaftspflege bzw. -politik und Finanzwissenschaft bleibt der akademischen Ökonomie Deutschlands bis heute erhalten.
22 Hegel (IV) S. 117; ausdrücklich wird später auch immer von der Wissenschaft der "neue-
ren" Zeit gesprochen (Hegel (I) § 189), die die "Gesetze des Verkehrs" analysiert (Hegel (III) S. 152). Das ist genau dieselbe Definition, die K.Tribe für die junge deutsche Volkswirtschaftstheorie des frühen 19. Jahrhunderts gefunden hat: " 'Good govemment' was displaced by Verkehr, the free interaction of economic subjects in which order was produced out of a mutual satisfaction of need." (Tribe (I) S. 209).
23 Von Bergmann S. 9.
24 Über den Herausbildungsprozeß von "reiner" und "angewandter" Wirtschaftslehre (in Anlehnung an Kants Unterscheidung) bei Walther, Klipstein, Gavard, Schmalz, Bensen, Weber etc. siehe: Tribe (I) S. 160ff. 1808 definiert L.Krug in dieser engeren Weise: "Die Staatsökonomie, Staatswirthschaftslehre oder Staatsfinanzwissenschaft giebt die Art und Weise an: wie das Staatseinkommen und Staatsvermögen - öffentliches Einkommen und Vermögen - auf die dem Wohlstande der Nazion am wenigsten schädliche Art zusammengebracht, und zu den öffentlichen Zwecken auf die dem Nazionalwohlstande zuträglichste Art verwendet werden müsse." (Krug § 1).
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Während B. Weber 1803 noch in cameralistischer Manier die "Polizei" zur "Staatsökonomie" rechnet,25 ist sie bei Hegel ein Organ der "bürgerlichen Gesellschaft". Allein die Finanzen gehören in Hegels Konzeption in der "rechtsphilosophischen" Ökonomie zu den (inneren) Staatsangelegenheiten, während Rau 182526 die Volkswirtschaftstheorie, die Polizei (Volkswirtschaftspflege) und die Finanzen unter den neuen Oberbegriff der "Oeffentliehen Wirtschaftslehre,,27 faßt, um davon - in veränderter, funktionaler Gliederung - die "bürgerliche Wirtschaft" als Privatwirtschaft abzutrennen. Raus funktionale Systematik hat die politischen Einteilungskategorien aufgegeben, die bisher, und auch bei Hegel, die Nationalökonomie beherrschten. Der Staat wird nun funktional in den Objektbereich des Wirtschaftlichen hineingenommen, die Wirtschaft nicht mehr nach gesellschaftlichen und politischen Aufgabenfeldern unterschieden.28 Hegel dagegen behält die Hegel gehört, nach Art und Weise seiner Gliederung der ökonomischen Materien, eindeutig ins ältere Spektrum der deutschen Ökonomie - zum Übergangsfeld von der Cameralistik zur Nationalökonomie29 _, bevor sie zur Volkswirtschaftslehre kodifiziert wurde. Natürlich ist es möglich zu behaupten, daß Hegel "die Rezeption der Nationalökonomie in ihrer fortgeschrittensten Gestalt,,30 betrieben habe, aber, muß man hinzufügen: in der rechtsphilosophisch-kritischen Absicht, die Grenzen der marktwirtschaftlichen Autonomie staatspolitisch zu reflektieren31 - ohne allerdings, entgegen der landläufigen Auffassung, die staatliche wirtschaftspolitische Intervention zu fördern. Rudimente cameralistischer Ökonomie mischen sich mit den kritischen Positionen Malthus' und Simondes de Sismondi gegenüber der klassischen Ökonomie Smiths und Says. 25 B.Weber; genauer dazu: Tribe (I) S. 162ff. 26 Rau (VI). 27 Im Unterschied zur "bürgerlichen Wirtschaftslehre", die "Erwerbslehre" und "Haushaltslehre" umfaßt. 28 In seinen späteren "Grundsätzen der Volkswirthschaftslehre" (Rau (11) 1855) begründet Rau dies damit, daß vermieden werden müsse, "das Eigenthümliche der Wirtschaftsangelegenheiten verschwinden" und die "politische Ökonomie ( ... ) sich zur Staatswissenschaft ausdehnen" (Rau (11) S. 58) zu lassen. 29 Tribe (I) chap. 8 30 Riedel (I) S. 76 31 Die Einschätzung, die Hegel in diesem Punkt widerfährt, zeigt die extremsten Widersprüche: Was H.Freyer 1921 als nebensächliche Interventionsmomente im prinzipiell smithianisch-mechanistischen Wirtschaftssystem bei Hegel ansah (Freyer S. 56 und 57), war zuvor, bei Wolzendorff, als reaktionäre Restauration des Polizeistaates des 18. Jahrhunderts verurteilt worden (Wolzendorff, S. 105f.; in Bezugnahme auf: Haym, bes. S. 385, auch S. 361 - 386).
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In seiner 1874 erstmals veröffentlichten Geschichte der National-Oekonomik Deutschlands kann W.Roscher deshalb rückblickend resümieren, daß die ökonomische Theorie Hegels für die deutschen Nationalökonomen "unmittelbar" von geringer, "mittelbar" aber - und darauf begrenzt er die Wirkung - seine staatswirtschaftliche Tendenz von großer Bedeutuni2 sei. Damit beschreibt Roseher zwar sehr wohl den Einfluß, den Hege! im 19. Jahrhundert auf die Ökonomie ganz allgemein ausüben konnte, aber zugleich auch das Mißverständnis, das sich darin offenbart, daß Hege! als Apologet oder doch zumindest als Befürworter einer staatswirtschaftlichen Tendenz gesehen wurde, was sich, bei genauerer Untersuchung, nicht halten lassen wird: jedenfalls nicht im Sinne einer Tendenz der Staatsinterventionspolitik. Hegel ist ein Theoretiker der Wirtschaftsverfassung, d. h. des Verhältnisses von Recht und Ökonomie; den systematischen Kontext der ökonomischen Darlegungen im Rahmen einer "Rechtsphilosophie" darf man nicht aus den Augen lassen. Die Ambivalenz von Staatswirtschaft und freier Güter-Markt-Sphäre, der sich die Autoren der jungen deutschen Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre zu Anfang des 19. Jahrhunderts ausgesetzt fanden, ohne weiterhin Cameralisten oder blinde Adepten Adam Smiths sein zu wollen, beschreibt G. Hufeland 1807, wenn er - meiner Kenntnis nach als einziger deutscher Ökonom in diesen frühen Jahren - in seiner Grundlegung der Staatswirthschaftskunst auf Hegel eingeht.33 Hufeland - einer der berühmteren, und, angeregt von Say, eigenständigeren Smithianer der deutschen Nationalökonomie - findet sich von Hegel "in 32 Roscher (I) S. 925; er fügt hinzu, "daß die große Ungenauigkeit, oft Lüderlichkeit seiner Definitionen eine gerade für Nationalökonomen sehr üble Schule bildet" (Roscher (I) S. 925). A. Friedrichs (Friedrichs Teil 4) emphatische Analyse des großen Einflusses Hegels auf die historische Schule ist dagegen allerdings nicht ohne genauere Prüfung zu übernehmen, da sie die Verwechslung von Hegels Staatsidee mit dem faktischen Nationalstaat betreibt. Siehe auch noch dazu: Scheuner; Lübbe. Der Staatsgedanke Hegels findet bei verschiedenen Nationalökonomen Resonanz: so bei C.F. Schüz, W. Roscher, K Knies, B. Hildebrand, F. Lassalle, G. Schmoller, H. Eisenhardt (siehe dazu: Müssiggang S. 86, 97, 114f., 125, 210; bei: Eisermann S. 142f., 172f., 20U.; und bei: Friedrichs 4. Teil. Friedrichs' Ausführungen sind vorsichtig zu nehmen, da sie unzulängliche Analogieschlüsse zum "Lichtfreund Hegel" (S. 383) ziehen). Ein späterer Einfluß anderer Art - der der Hegeischen Geschichtsphilosophie - auf Alfred Marshall soll hier nicht unerwähnt bleiben; siehe dazu: Niemeier. 33 Hufeland 1. Theil, S. 91; Hufeland bezieht sich in der Fußnote auf Hegels Aufsatz: "Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts" in: Kritisches Journal der Philosophie, Bd. 2, Stück 2 und 3, 1802 -1803 (siehe sonst: Hegel (VII)).
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der von mir (Hufeland; B.P.) urgirten Unabhängigkeit der Güter-Sphäre von Recht und Staat,,34 hinreichend für sein eignes Anliegen bestätigt, die Marktwirtschaft als zwar der höheren sittlichen Totalität des Staates unterworfenes, "in seiner Bildung von ihm aber unabhängiges,J5 System beschrieben zu fmden. Hufelands Blick auf Hegel ist hier noch sehr viel schärfer als der des späten Roscher. Hegel trennt die bürgerliche (Privat-) Wirtschaftssphäre ("System der Bedürfnisse") von der (öffentlichen) Staatsrechtssphäre ("inneres Staatsrecht"); die Wirtschaftspolizei bleibt ein im Prinzip historisch vorübergehendes Institut des Staates, dessen Regulationsaufgaben in die Selbstverwaltung der Korporation übergehen sollen ("Polizei und Korporation"). Damit bringt Hegel - gegenüber der staatswirtschaftlichen Disposition der Cameralökonomie und gegenüber der auf privaten Eigentumsverfügungsrechten fundierten freien Marktallokation der englischen political economy eine dritte Wirtschaftsverfassungsvariante ins Spiel, die in der Korporation beide Elemente vereinigt, indem sie das Eigentumsrecht unbedingt beibehält, aber seine kollektiven Schranken im sittlichen Institut des "Gemeinsinns" prononciert. Was Hufeland in der Hegeischen Formulierung der Autonomie der Marktwirtschaft als "Negativität", die der "positiven Totalität" des Staates unterworfen bleiben muß, im Prinzip anerkennt, legt P. Chamley heute als eine Hegeische Reanimation eines aristotelischen Prinzips36 aus, in dem die mo34 Hufeland S. 91. 35 Hufeland S. 92; VOllständig lautet das Zitat, S. 91 beginnend: Bei Hegel seien "von der sittlichen Totalität und dem Leben des Staates, als gerader Gegensatz, gesondert 'die physischen Bedürfnisse und Genüsse, die für sich wieder in der Totalität gesetzt, in ihren unendlichen Verwicklungen Einer Nothwendigkeit gehorchen, und das System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit in Ansehung der physischen Bedürfnisse und der Arbeit und Anhäufung für dieselbe, und dieses als Wissenschaft, das System der politiSChen Ökonomie, bilden'. - weit entfernt, daß dasselbe hier als aus dem Staate ausgegangen vorgestellt würde, fährt der Verfasser vielmehr fort: 'da dieses System der Realität ganz in der Negativität und in der Unendlichkeit ist: so folgt für sein Verhältnißzu der positiven Totalität, daß es von derselben ganz negativ behandelt und seiner Herrschaft untelWorfen bleiben muß' u.s.w. Diesem widerspreche ich keineswegs, und fahre dann fort, daß dem höhern untelWorfene, aber auch in seiner Bildung von ihm unabhängige, System weiter zu untersuchen" (Hufeland zitiert hier aus: Hegel (VII) S. 152). 36 Chamley (11); zu den aristotelischen Konstitutionselementen bei Hegel, speziell zur Politik und Ökonomie, siehe: IIting (I); Riedel (11); auch: Ritter (I); Gallagher S. 159 ff. Kritisch gegen die aristotelische Reinterpretation Hegels: Euchner S. 175, Fn. 2.
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derne Anerkennung der autonomen Sphäre der Marktwirtschaff7 mit ihrer alten Subordination unter den Primat der Politik und, in der Form der im Staat repräsentierten Sittlichkeit, der Ethik, einhergehe. Hegels Lesart der klassischen Ökonomie bleibt cameralistisch getönt;38 genauer: seine liberale, rechtsstaatliche Auffassung der frühen Schrift Die Verfassung Deutschlands von 1800-1802, die das absolutistische Verständnis vom Staat als einer Maschine39 gegen ein modernes auswechselt, "wo die oberste Staatsgewalt so viel als möglich der eigenen Besorgung der Bürger überläßt",4O radikalisiert sich im System der Sittlichkeit von 1802/03 und in der Jenaer Realphilosophie in die Dichotomie, einerseits die freie Marktallokation und andererseits die Negation der gesellschaftlichen Einheit anzuerkennen. Was hier, zuletzt 1804/05, als Trennung von Volk und Wirtschaft in emphatischer Philosophie gegen die früh-liberale Haltung neu41 konzipiert wird, bleibt die Basis der rechtsphilosophischen Argumentation von der Heidelberger Vorlesungsnachschrift von 1817/18 an bis zur Von Griesheimschen Nachschrift von 1824/25. Der ökonomische Kern der Rechtsphilosophie erfährt nur zwei wesentliche Änderungen: Seit der anonymen Berliner Nachschrift von 1819/20 treten 37 R. Plant zeigt, wie Hegel unter Steuarts Einfluß von der aristotelischen zu einer modernen Gesellschaftskonzeption findet (Plant). Zur Einordnung in den nationalökonomischen Kontext siehe auch: Priddat (I) und (11). 38 In seiner frühen Schrift "Die Verfassung Deutschlands" (1800-1802) (Hegel (VIII)) bietet Hegel eine scharfe Kritik des cameralistischen Polizeistaates, die "das Grundvorurteil, daß ein Staat eine Maschine mit einer einzigen Feder ist, die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mitteilt" (Hegel (VIII) S. 481), angreift. Hegel denkt hier noch ganz liberal im Sinne des reinen Rechtsstaates: "Es ist hier der Ort nicht, weitläufig auseinanderzusetzen, daß der Mittelpunkt als Staatsgewalt, die Regierung, das, was ihr nicht für ihre Bestimmung, die Gewalt zu organisieren und zu erhalten, also für ihre äußere und innere Sicherheit notwendig ist, der Freiheit der Bürger überlassen und daß ihr nichts so heilig sein müsse, als das freie Tun der Bürger in solchen Dingen gewähren zu lassen und zu schützen, ohne Rücksicht auf Nutzen; denn diese Freiheit ist an sich selbst heilig." (Hegel (VIII) S. 482; siehe dazu auch: Höhne S. 305ff.) Später, wir werden es genau darlegen, wird dieser Wirtschaftsliberalismus zurückgenommen, wie es folgendes Zitat prägnant zeigt: "Die Regierung ( ... ) (hat) nach innen ( ... ) das Wohl des Staates und aller seiner Klassen zu besorgen und ist Verwaltung; denn es ist nicht bloß darum zu tun, daß der Bürger ein Gewerbe treiben könne, er muß auch einen Gewinn davon haben; es ist nicht genug, daß der Mensch seine Kräfte gebrauchen könne, er muß auch die Gelegenheit finden, sie anzuwenden. Im Staate ist also ein Allgemeines und eine Betätigung desselben." (Hegel (IX) S. 530). 39 Hegel (VIII) S. 481. 40 Hegel (VIII) S. 484; siehe besonders die Polemik gegen die cameralistische Radikalität der totalen Staatsfürsorge (Hegel (VIII) S. 48lff.), die sich S. 484 als gegen Preußen gerichtet erweist. 41 Über den Unterschied siehe: Höhne.
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überproduktionstheoretische Analyseelemente in Erscheinung, die eine bedingte Präzisierung der Marktwirtschaftskritik gestatten. Und zudem wird die wirtschaftspolitische Regulationsfunktion der Polizei, die nach der frühen Minimierung der Staatsfunktion im System der Sittlichkeit eine quasi-cameralistische Renaissance erfahren hatte, insbesondere an der Frage der "Armenpolizei" wieder zurückgenommen, um der korporativen Wirtschaftsverfassung größeren Raum zu geben. Möglicherweise - genaueres wird die Erörterung selbst bringen - gehen in die Rechtsphilosophie von 1821 und in ihre ihrem Themenkreis zuzuordnenden Nachschriften neuere stagnationstheoretische (Malthus, Owen, Simonde) Überlegungen ein, was aber den älteren Generalnenner der Schriften von 1802-1805 nicht ersetzt, sondern nur ergänzt. Wir haben in der Ökonomie Hegels eine mehr oder minder durchgehende Argumentationsstruktur, die ihre ersten, entscheidenden Impulse aus der Lektüre James Steuarts bis zum Schluß nicht leugnet, so daß wir, wenn wir Hegel als Ökonomen betrachten, das ganze Oeuvre heranziehen können, um seine Positionen herauszustellen; auf die vorhandenen Modifikationen wird jeweils gesondert hinzuweisen sein. Im Folgenden soll, 1. nachdem die Ordnung des Verhältnisses von Markt- und Staatswirtschaft bei Hegel (im Vergleich zu den Einflüssen Smiths und Steuarts) dargelegt worden ist (Abschnitte 2 - 5 ), 2. Hegels eigener Ökonomie-Begriff untersucht werden, d. h. besonders die Differenz von Vermögen und Kapital mit ihren Konsequenzen für die Analyse industrieller Entwicklungsprozesse (Abschnitt 6), 3. um schließlich genauer analysieren zu können, was Hegel selbst eine notwendige Öffnung der Schere zwischen arm und reich nennt - seine ökonomische Theorie des Problems, das man später, und zwar in Anknüpfung an ihn, die "sociale Frage" nannte.42 Hegels Lösung beruht auf einem Konzept der korporativen Wirtschaftsverfassung (Abschnitte 7 - 10). Somit ist die Rezeption und Darstellung der damaligen Ökonomie von seiner Kritik zu unterscheiden, die Hegel auf rechtsphilosophischen Fundamenten entwickelt: Daß die kapitaltheoretisch begründete klassische Ökonomie das allgemeine Vermögen der Gesellschaft unterbewerte, d. h. beson42 F.Rosenzweig gelangt sogar zu der Behauptung: "Mit dieser Lösung der sozialen Frage läßt Hegel die zeitgenössische Theorie weit hinter sich" (Rosenzweig, Bd. 2, S. 126), was sich als Fehleinschätzung erweisen wird. Genauer hierzu, mit besonderem Blick auf des Hegelschülers E.Gans' Fortbildung dieses Themas: Waszek (11); vorher bereits: Lübbe S. 72 ff.
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ders die gebildete Arbeit als Lohnarbeit auffaßt, ohne ihr einen Eigentumswert zuzusprechen, womit die Arbeiter als unselbständiger Stand von der historischen Möglichkeit der allgemeinen Freiheit und Sittlichkeit ausgeschlossen werden. In Konsequenz dieser rechtsphilosophischen Deduktion fordert Hegel eine andere Wirtschaftsverfassung, die - als Korporation - Gemeinsinninstitutionen bereitstellt, d. h. eine andere mikroökonomische Basis der Ökonomie postuliert. Die sittliche Institution der korporativen Wirtschaftsverbände (der Stände) impliziert eine andere Primärverteilung der Einkommen, die politisch am Ideal einer Mittelstandsgesellschaft orientiert ist. Die Frage, ob Hegel auf dem Standpunkt der modernen Ökonomie seiner Zeit stehe, schließt die weitergehende Frage ein, wie modern Hegel sein konnte, welche Entwicklungen er sah bzw. antizipierte, wie das Verhältnis von Staat und Wirtschaft sich auszubilden habe. H.-D. Kittsteiner hat sich dazu in einer skeptischen Interpretation versucht: "Wenn die neue Bewegung der 'historischen Zeit' konstituiert wird von dem 'Wachsen des Einkommens und des Kapitals in jedem Land', d. h. durch den Prozeß der Kapitalakkumulation, die 'Rechtsphilosophie' die Geschichte aber in moralphilosophischer Absicht der Möglichkeit nach auf eine Gesellschaft von freien und kleinen EigentÜMern hinauslaufen läßt, so erspart sie sich erstens eine begriffliche Einsicht in die von ihr im übrigen auch bemerkten Schwierigkeiten, die einer Ausbreitung von Zivilisation, Aufklärung und Moral durch alle Klassen entgegenstehen, vor allem aber erscheint die Frage nach dem bewegenden Zentrum jener neuen 'bürgerlichen Gesellschaft' nicht in ihrem Problemhorizont" ~3 Ist das Hegels Aporie? Die leitende Fragestellung unserer Untersuchung der HegeIschen Ökonomie will keiner Ableitunä der Logik des Ökonomischen aus der Wissenschaft des Geistes nachgehen, sondern einem anderen Aspekt, der erneut noch einmal die Frage nach der Rezeption der Ökonomie aufnimmt: Was hat Hegel von der ökonomischen Wissenschaft seiner Zeit überhaupt gekannt, was hat er übersehen, was ignoriert? Hier ist der Ort, um - für seine Ökonomie "zu entscheiden, ob Hegels Optionen unter einem sachlichen Gesichtspunkt
43 Kittsteiner S. 211. Das Smithzitat siehe: Smith (I) S. 89. 44 Diese Aufgabe bliebe einer Analyse des Reichtumsthemas in Hegels "Phänomenologie des Geistes" von 1807 vorbehalten - eine Aufgabe, der sich die vorliegende Arbeit bewußt
enthält, weil sie die Analyse des Verhältnisses von Philosophie und Ökonomie bei Hegel erfordert.
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wirklich akzeptabel sind",45 ohne allerdings die Systematik seiner rechtsphilosophischen Analyse zu vernachlässigen.
45 Hösle S. 142.
2. Smith und Hegel - Markt und Staat
Außer in § 189 der Rechtsphilosophie wird Adam Smith nur zweimal noch zitiert: 1. im Fragment 22 der "Geistesphilosophie" von 1803/04 - mit Ausführungen zur arbeitsteiligen Produktion von Stecknadeln in einer englischen Manufaktur; 1 2. in der Vorlesungsschrift anonymer Hand von 1819/20 - ebenfalls das Stecknadelbeispiel (als Beleg für innerbetriebliche Produktivitätssteigerung). 2 Diese sparsamen Hinweise lassen noch nicht davon sprechen, daß Hegel das Smithsche Konzept "der freien Marktwirtschaft in sein philosophisches System integriert" 3 habe. Dennoch ist es richtig, wenn auf die Bedeutung der Rezeption der englischen Ökonomie bei Hegel insistiert wird: sie ist allerdings umfassender, und zugleich kritischer, als der Verweis auf die Arbeitsteilung. Adam Smiths Konzeption der autonomen, d. h. vom politischen Regime unabhängigen Marktallokation4 - the system of naturalliberty -, besteht in
1 Hegel (11) S. 323; siehe den selben Text in: Hegel (XI) S. 333f. 2 Hegel (III) S. 158f.; ohne Smith zu zitieren wird das Beispiel in der Nachschrift von 1817/18, Hegel (IV) S. 127, in der von 1822/23, Hegel (V) S. 609, und in der Nachschrift von 1824/25, Hegel (VI) S. 502, vorgetragen. Genauer dazu: Waszek (V) S.l28ff. 3 Avineri S. 176. 4 Die Redeweise von einem Smithschen System der Marktallokation folgt V. Walsh/H. Gram: "In appraising this charaterictics of Smith's work it is crucial to stress our distinction between two sorts of a general equilibrium model (and, therefore, two sorts of allocation): (1) a model in which resources are given, i.e. parametric, and the object of the analysis is to show how these given resources are allocated; and (2) a model in which (variable) amounts of commodities are being produced and allocated as inputs to yield more of the same commodities, in order to maximize surplus. Observe that in both types of model a concept of allocation plays a role. ( ... ) Tbe first model, where resources are simply given, and the whole economic problem is seen as that of allocating them among alternative uses, is, in effect, the model developed by Walras and the neoclassics ( ... ). But this is not what 'allocating' means for Smith. In the Wea/th of Nations the problem is to produce the right quantities of the various input commodities, and to allocate them in such a wayas to encourage growth. ( ...... ) Tbus, we recognize the just claims of those who stress Smith's contribution to the development of 'allocation' theory, but nevertheless point out that is was in the allocation of surplus output and not of 'given resources' that Smith was interested: a daymanic theory in which the role of the freelyoperating markets is to allocate the surplus available as capital stock so as to put in motion the greatest quantity of productive labour" (Walsh/Gram S.63).
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seiner Grundidee in der Koinzidenz von individuellen Interessen und allgemeinem Wohl, ohne daß andere als ökonomische Intentionen (politische oder moralische) der Handelnden eine Rolle spielen. Es funktioniert, wie von einer "unsichtbaren Hand" gelenkt, in "unintendierter Koordination"~ "Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch diese so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen (annual revenue) im Jahr so groß wie möglich wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl (publick interest), noch weiß er, wie hoch der eigne Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt der ausländischen zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. Auch für das Land selbst ist es keineswegs immer das schlechteste, daß der einzelne ein solches Ziel nicht bewußt anstrebt, ja, gerade dadurch, daß er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufiger das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit (publick good), haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan".6 Freier Wettbewerbsmarkt und Nicht-Intervention des Staates bedingen einander? Smiths berühmte Stelle des "Wealth of Nations" beschreibt allerdings keine allgemeine, gesellschaftstheoretische Systemfunktion, sondern ist strikt begrenzt auf die Handlungen der Kapitalinvestoren, woraus folgt, daß nicht jede ökonomische Handlung zur allgemeinen Wohlfahrt beiträgt, wie z. B. die Nichtinvestitionen von Vermögensbesitzern. Vornehmlich richtet sich 5 KIiemt S. 146. 6 Smith (1) 4. Buch, 2. Kap., S. 370f.; der englische Text nach: Smith (11) vol. 1, S. 456. In der deutschen Version der Epitomatoren Smiths, z. B. bei G.Sartorius, liest es sich 1806 wie folgt: "Der letzte und einzige Grundsatz besteht nun: in der vollkommensten Freyheit für alle und jede, so lange sie nicht die Gesetze der Gerechtigkeit übertreten, ihr Capital und ihren Fleiß auf die ihnen vortheilhafteste Weise anzuwenden, und mit anderen Menschen in Concurrenz zu bringen. Der Vortheil, den die Befolgung dieses Grundsatzes gewährt, ergibt sich aus der Kenntnis von den Elementen des National-Reichthums. Indem jeder seinem eigenen Vortheile nachjagt, befördert er den des Ganzen" (Sartorius (I) S. 120 f.). Sartorius' Zitat ist eine Übersetzung von Smith (11) S. 582. 7 Das Zitat mit der berühmten "invisible hand" steht im Kontext der Theorie des freien Außenhandels. Smith wendet sich hier gegen die "merkantilistische" Sorge, daß nur HandeIsprotektionismus (durch Schutzzölle, Handelsmonopole in den Kolonien, etc.) den Reichtum des Landes steigern würde.
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Smith an dieser Stelle gegen staatswirtschaftliche Eingriffe in die Marktwirtschaft. Der Staat solle sich zwar nicht generell, aber derjenigen wirtschaftspolitischen Eingriffe und Regulierungen enthalten8, die das "system of natural liberty" selber effizienter lösen könnte? Hegel stellt Smiths invisible hand in verschiedenen Versionen vor. Sie sind für Hegel die gültige Beschreibung des Systems der Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft. In der 1821 veröffentlichten Fassung der rechtsphilosophischen Vorlesungen hat Hegel Smiths Markt-Allokationstheorem in § 199 auf folgende Art übernommen: In der "Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um". Die Gegenseitigkeit von Arbeit und Bedürfnisbefriedigung erinnert eher 8 Die Staatsaufgaben lauten bei Smith: 1. äußerer (militärisch gesicherter) Schutz, 2. Rechtssicherheit, 3. publick institutions, d.h. öffentliche Güter zu erstellen, die dadurch definiert sind, daß sie zu erbringen niemandes privates Interesse wäre. Da sie aber notwendig seien, sind sie folglich politische und keine rein ökonomischen Güter. Zu den Staatsaufgaben bei A. Smith siehe: Smith (11) vol. 11, S. 687 und 723. Siehe dazu auch: Wille/Gläser, Stigler S. 222ff.; Ostrom. "For Smith, political obligation rests psychically on non-rational deference, the principie of authority, and it rest rationallyon utility. But its main weight in practice plainly falls causallyon the principle of authority. For him political duties, as men actually experience them, are preponderantlyvertical obligations to sovereigns, not, as they are with Locke, horizontal obligations to our fellows" (Dunn S. 132f.). Die "horizontal obligations" sind bei Smith für die "commercial society" reserviert. 9 "So veranlassen also private Interessen und Präferenzen den einzelnen ganz von selbst, daß er sein Kapital dort einsetzt, wo es gewöhnlich dem Land den größten Vorteil bringt. Sollte es nun aber auf Grund dieser natürlichen Neigung zuviel davon in dem Erwerbszweig investieren, werden ihn Rückgang des Gewinns in dieser Branche und Anstieg in allen anderen unverzüglich dazu anhalten, die falsche Aufteilung zu ändern. Ohne jeden staatlichen Eingriff führen daher private Interessen und Neigungen die Menschen ganz von selbst dazu, das Kapital eines Landes so in allen vorhandenen Wirtschaftszweigen zu investieren, daß die Verteilung soweit wie möglich dem Interesse der Bevölkerung entsprechen wird. Die verschiedenen Eingriffe, die das merkantilistische Wirtschaftssystem empfiehlt, stören alle notwendigerweise mehr oder weniger diese natürliche und günstige Verwendung des Kapitals" (Smith (I) S. 531). Nach einer sinngemäßen Wiederholung des eben Zitierten folgt S. 582: "Gibt man daher alle Systeme der Begünstigung und Beschränkung auf, so stellt sich ganz von selbst das einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit (system of naturalliberty) her. Solange der Einzelne nicht die Gesetze verletzt, läßt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann und seinen Erwerbsfleiß (industry) und sein Kapital im Wettbewerb mit jedem anderen oder einem anderen Stand entwickeln oder einsetzen kann. Der Herrscher wird dadurch vollständig von seiner Pflicht entbunden, bei deren Ausübung er stets unzähligen Täuschungen ausgesetzt sein muß und zu deren Erfüllung keine menschliche Weisheit oder Kenntnis jemals ausreichen könnte, nämlich der Pflicht oder Aufgabe, den Erwerb privater Leute zu überwachen und ihn in Wirtschaftszweige zu lenken, die für das Land am nützlichsten sind."
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an J. Steuarts Gleichgewicht von Angebot (work) und Nachfrage (demand), worauf wir gleich genauer eingehen. Der Umschlag der "subjektiven Selbstsucht" in allgemeine Allokationseffizienz konnotiert dagegen moralische mit ökonomischen Begriffen. Der Satz ist nicht gleich als Smithianische Quintessenz zu identifizieren.lO In der Griesheim-Nachschrift von 1824/25 (ebenso aber in der von Hotho 1822/23) wird Hegel genauer: "Der Zweck eines jeden geht zunächst auf Befriedigung seiner Besonderheit, aber was er für sich thut ist auch ein Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse eines Anderen, es kann dieß ohne Bewußtsein geschehen, oder das Individuum kann immer nur sein Interesse dabei im Auge haben, dieß ist die Natur der Sache,,!l Die Befriedigung der Bedürfnisse der anderen in Verfolgung ausschließlich der eigenen, ohne ein besonderes oder reflektiertes Bewußtsein davon zu haben, d. h. ohne individuelle, moralische Gewissensverpflichtung,12 war die Pointe des Smithschen Theorems: Die effiziente Markt-Allokation des Systems der "naturalliberty" braucht weder vervollkommnete Bürgertugenden noch Gemeinsinn noch Sympathie. Im System der Sittlichkeit von 1802/03 - der ersten Schrift Hegels, die sich der Thematik systematisch widmet, die er später in der Rechtsphilosophie ausbaut - wird die "invisible hand" Smiths noch als "fremde ( ...), wenig erkennbare, unsichtbare, unberechenbare Macht,,13 angeführt. In der vorher zitierten Passage von 1824/25 wird dagegen das "system of naturalliberty" zur "Natur der Sache" der Allokation. 10 N.Waszek zitiert dasselbe Beispiel (neben anderen) und spricht von der "reciprocity of sociallabour" (Waszek (I) S. 65). Hegels Formulierung - "ein System allseitiger Abhängigkeit" (Hegel (I) § 183)- wird auch von Waszek als eine Übertragung der englischen, ökonomischen Konzeptionen angesehen: "What Hegel here reproduces is the socio-economic model of universal interdependence of particularized labour and the free exchange of its products, as it was put fOIWard by Steuart and Smith" (Waszek (I) S. 65). Die betonte Kopula ist eine kritische Anmerkung zu P. Chamley (Chamley (111)), der einen Einfluß Smiths auf Hegel meinte ausschließen zu können, weil die Lockesche Werttheorie Smiths bei Hegel nicht rezipiert würde (Zum Einfluß Lockes auf Smith siehe neustens: Alvey). 11 Hegel (VI) S. 504; ebenso in: Hegel (V) S. 614.
12 "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers eIWarten wir das, was wir
zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil" (Smith (I) S. 17). Siehe zu diesem Problem bei Smith: Gauthier.
13 Hegel (X) S. 13ff.
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Hegel bleibt aber - im Gegensatz zu Smith, der in seiner "invisible hand"Passage vom Interesse und Wirken der Kapitalinvestoren redet - auf der Stufe eines allgemeinen Tauschzusammenhanges stehen: bei einem arbeits- und interessengeleiteten System der gegenseitigen Vermittlung der Bedürfnisse. Das ist zwar eines der Implikate des Smithschen Prinzipes, aber noch nicht seine ökonomische Ausformung. Es geht in der Smithschen Ökonomie schließlich nicht allein um die Explikation einer freien MarktwettbewerbsgeseIlschaft, sondern um deren spezifIschen kapitalwirtschaftlichen Prozeßmodus. Wenn Smith vom Wohlfahrtseffekt der privaten Kapitalinvestitionen spricht, ist nicht nur die allgemeine - um in Hegels Terminologie zu sprechen - "Befriedigung der Bedürfnisse der anderen" benannt, sondern zugleich auch der Beschäftigungseffekt, d. h. die Befriedigung des Bedürfnisses nach Arbeit. Dabei wird nicht jede Arbeit als reichtumsfördernd anerkannt. Indem Smith zwischen produktiven und unproduktiven Arbeiten unterscheidet und indem nur die ersteren als ökonomisch relevante ausgezeichnet werden, ist die Befriedigung des Bedürfnisses nach Arbeit an die Bedingung gebunden, die Beschäftigung durch Kapitalinvestition zu erreichen. Was Hegel von Smith übernimmt, ist das abstrakte Prinzip der sich wechselseitig vermittelnden Tauschgesellschaft,14 das aber um die eigentliche ökonomische Dimension beschnitten bleibt - um die der Kapitalakkumulation. Das hat die Konsequenz, daß Hegel die dem Smithschen dynamischen Gleichgewichtswachstum endogenen Beschäftigungseffekte nicht sieht, um sie anschließend dann normativ einklagen zu müssen. Diese Halbierung hat Auswirkungen auf Hegels Rezeption, wie wir sehen 14 Zum Tauschvertrag, definiert Hegel im 1. Teil seiner Rechtsphilosophie, "gehören zwei Einwilligungen über zwei Sachen: ich will nämlich Eigentum erwerben und aufgeben. Der reelle Vertrag ist der, wo jeder das Ganze tut, Eigentum aufgibt und erwirbt und im Aufgeben Eigentümer bleibt" (Hegel (I) Zusatz zu § 76; siehe ebenso § 75). Dieses Verlieren des besonderen Eigentums und das gleichzeitige Behalten der allgemeinen Eigentumskompetenz macht die Ambiguität der Hegelschen bürgerlichen (Tauschmarkt-)Gesellschaft aus. Der wechselseitig vermittelte Wille (Hegel (I) § 74) der handelnden Bürger realisiert sich nur solange in einer Vermittlung (d.h. in einem Marktgleichgewicht), solange überhaupt Einkommen entstehen, die nachfragefähig sind. Genauer: die "Bedürfnisse" lassen sich nur dann vermitteln, wenn "Arbeit" zuvor Produkte erstellt hat, die ein Angebot bilden. Mangelt es an •Arbeit", wie Hegel die Konsequenz aus der Industrieökonomie ziehen wird, kann die Tauschgesellschaft nicht mehr die Vermittlung der "Bedürfnisse" gewährleisten. Der rechtlich möglich gewordene freie Wille wird durch die ökonomische Realität in seinen idealen Vermittlungen gehindert. Die Frage nach den rechtlichen Bedingungen freien Tauschhandels verwandelt sich in die Frage nach den ökonomischen Bedingungen zureichender Beschäftigung.
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werden. Hegel nennt folgerichtig die bürgerliche Gesellschaft das System der Bedürfnisse und nicht, wie es in Smithscher Weise heißen müßte, System der Produktion. Smith kommt es zwar ebenfalls darauf an, die gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt zu sehen, aber die Beschäftigung der Armen 15 wird nicht als Vermittlung der Bedürfnisse gesehen, sondern als ein positiver Effekt der Kapitalakkumulation. Nur die Erweiterung der Produktion und die Steigerung der Produktivität können letztendlich die Bedürfnisse nach Beschäftigung und Einkommen aus Beschäftigung befriedigen. Jede andere Form der ökonomischen Vermittlung wäre ein Redistributionsunternehmen, das lediglich den vorhandenen Reichtum verteilen würde (ein System der Gerechtigkeit auf dem konstanten Niveau der verbleibenden Arml1;t), anstatt eine verbesserte Einkommensverteilung aus dem Sozialproduktszuwachs herbeizuführen. Der Terminus der "Vermittlung", den Hegel verwendet, weist auf eine bewußte Aktion, gleich ob sie durch die Polizeiökonomie oder durch den Staat, d. h. bei Hegel, durch ein sittliches Handlungsbewußtsein, vollzogen wird. Der Smithsche Versuch, die Ökonomie als ein "natürliches" System zu beschreiben, ist dagegen ein völlig anderes Unterfangen, dessen Voraussetzungen Adam Ferguson, der philosophische Lehrer Smiths, beschreibt: "Die Menschen folgen in ihrem Streben, irgendwelche Unzulänglichkeiten zu beheben oder situationsgebundene, naheliegende Vorteile zu erlangen, ihren jeweiligen Eingebungen, doch gelangen sie dadurch in Situationen, die sie auch unter Anstrengung ihrer Einbildungskraft nicht hätten voraussehen können, und setzen so wie die Tiere ihren Weg auf einer naturbestimmten Bahn fort, ohne deren Ende absehen zu können. (... ) (Auch; B.P.) Nationen schlittern in institutionelle Regelungen hinein, die in der Tat das Ergebnis menschlicher Handlungen bilden, ohne aus der Ausführung eines Planes zu erwachsen".16 Auf die Differenzen zwischen Hegels bewußtseinsphilosophischer und Smiths naturalistischer, genauer: systemtheoretischer Grundlegung der Ökonomie kommen wir noch zu sprechen. Hegels Schema der Marktallokation ist keine Smithsche Kapitalwirtschaft, sondern ein Schema arbeitsteiliger Tauschwirtschaft aristotelischen Musters - in deutscher, cameralistischer Umprägung. Zwischen die antike Zweiteilung von Familie (oikos) und Staat (polis) rückt die moderne bürgerliche Gesellschaft allerdings in der bestimmten Absicht, die aristotelische Tradition der Unterordnung der ökono15 Hont S. 298ff. 16 Ferguson S. 187; zitiert nach der Übersetzung des Verfassers in: KIiemt S. 143; siehe auch dort über den Zusammenhang von Ferguson und Smith. Ebenso in: Von Hayek.
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mischen Sphäre in die einer relativen Autonomie zu verwandeln~7 A Die Familie ( oikos - Aspekt) B Die Bürgerliche Gesellschaft (koinonia - Aspekt) C Der Staat ( polis - Aspekt ). Die cameralistische Note kommt in der Differenzierung der bürgerlichen Gesellschaft selbst zum Ausdruck: B 1 System der Bedürfnisse (§§ 189-208) B 2 Rechtspflege (§§ 209-229) B 3 a) Polizei (§§ 231-249) b) Korporation (§§ 250-256). B 4 Finanzwissenschaft (in den §§ zur "gesetzgebenden Gewalt": § 299). Rechtspflege und Polizei sind prima fade die staatlichen Repräsentanzen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Sie übernehmen diejenigen Aufgaben, die das System der Bedürfnisse nicht erfüllt. Ausdrücklich ist der Geltungsbereich des freien Marktsystems eingegrenzt auf das, was es zu leisten imstande ist; diese Leistung erfüllt aber nicht alle Anforderungen, die ein Staatswesen seinen Mitgliedern gewähren müsse. Der Hegeische Staat steht - als allgemeiner Wille18 - in der Ordnung über der bürgerlichen Gesellschaft. Dagegen haben die Korporationen eine besondere Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft, die zwar ebenfalls ihre Aufgaben dort wahrzunehmen haben, wo das System der Bedürfnisse (der Markt) versagt, aber als freiwillige Vereinigung der Bürger (ihrer Stände) zum Zweck ihrer Interessenregulation. Für die Korporationen definiert Hegel: "Das Vernünftige der Korporationen ist, daß das gemeinsame Interesse, dies Allgemeine, in bestimmter Form wirklich existiere".19 Diese vernünftige Vereinigung der ständischen Bürgerinteressen in der 17 Siehe dazu die Gliederung in der Rechtsphilosophie von 1821; "Die Institutionen. die
Hegel hier unter dem Titel "Sittlichkeit" beschreibt (Familie. Bürgerliche Gesellschaft. Staat). sind durchaus als Erneuerung der antiken Idee der "Sittlichkeit" unter den vor allem durch die christliche Religion geschaffenen Bedingungen eines primär individualistischen Selbstbewußtseins, also als 'sittlicher Staat', aufgefaßt und gedeutet." (Ilting (II) S. 245).
18 Hegel (IV) § 123; ebenso in Hegel (I) § 257. 19 Hegel (IV) § 121.
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Korporation ist das Gegenteil des Smithschen Marktallokationssystems; sie ist vielmehr synonym mit der Deftnition der öffentlichen Wohlfahrt (publick good), die James Steuart vorgeschlagen hatte: "Die Vereinigung aller privaten Interessen ist es eben, was Wohlfahrt bildet".20
di~
öffentliche
Steuarts Lesart ist noch der älteren politischen Auffassung verpflichtet, die die bewußte Verbindung der Interessen (bzw. ihre polizeylich ordinierte) anspricht. Auch Hegel hält sie für die allgemeinere Deftnition: "Die Vereinigung als solche (ist) ( ...) selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck" des Staates. Als "objektiver Geist" aber ist der Staat "das an und für sich Vernünftige des Willens", "ob es nun von Einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht".21 Dagegen ist die bürgerliche Gesellschaft, die bis zu Hegels Zeit mit dem Staat durchaus noch ineins gesetzt werden konnte,22 strikt abgesondert. Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft haben nur "ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke",23 die zwar - über die Markttauschvermittlung - auch alle anderen privaten Zwecke jeweils befriedigen können, aber nicht den allgemeinen Zweck, den der Staat allein (und näherungsweise die Korporationen) repräsentiert. Die Allgemeinheit der bürgerlichen Markt-Vermittlung bleibt formell, eine Angelegenheit des äußeren Verstandes- oder Notstaates. Der Staat repräsentiert bei Hegel den "allgemeinen Willen", der einen höheren Status hat gegenüber der Zufälligkeit der marktlichen Willensvermittlung und gegenüber der Vereinigung vieler einzelner Willen in der Korporation.24 Es wird deutlich, daß die Smithsche Markt-Allokation für Hegel kein allgemeingültiges Konstitutionsprinzip der Gesellschaft sein kann. In der Kritik Hegels an den Sozialvertragstheorien naturrechtlicher Provenienz (speziell an Rousseau und Fichte) wird implizite auch Adam Smiths markt-
20 Steuart 1. Bd., 2. Buch, S. 229f.; siehe ebenfalls den Cameralisten J.H. von Justi: "Der Nutzen des gemeinen Wesens und unserer eigener Vorteil ist also genau miteinander verbunden, dass solche allerdings zugleich und nebeneinander befördert werden können." (Von Justi; zitiert nach: Von Bergmann S. 22).
21 Hegel (I) § 258.
22 Siehe dazu: Riede! (III). 23 Hegel (I) § 187. 24 Siehe dazu: Horstmann.
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wirtschaftliche Wohlfahrtskonzeption in Frage gestellt:25 "Allein indem er (Rousseau; B.P.) den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens (wie nachher auch Fichte) und den allgemeinen Willen (den Staat; B.P.) nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewußtes hervorgehe, faßte, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkü~ Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat". Hegels Interpretation der naturrechtlichen Sozialvertragslehre, die er an ihren moderneren Vertretern - Rousseau und Fichte - leistet, stellt prononciert den "allgemeinen Willen" (Rousseaus volonte generale) gegen das "Gemeinschaftliche" (volonte de tous), die sittliche BeWUßtheit der Staatsbürger (citoyens) gegen das Aggregat der vielen Willen beliebiger Präferenz (der bourgeois). Die Analogie zur invisible hand Smiths wird möglich, wenngleich auch ein signifikanter Unterschied bleibt. Jenes Gemeinwohl, das als Ergebnis der beliebigen, für Hegel: zufälligen, Handlungen der Individuen als Aggregat eines anonymen Prozesses zustandekommt, ist noch eine Stufe tiefer anzusiedeln als der "bewußt" eingegangene Gesellschaftsvertrag, demgegenüber das Smithsche laisser-faire nicht einmal ein Bewußtsein der "Vereinigung der Einzelnen" bietet. Was so - unbewußt - herrscht, ist Willkür, unfreier Wille, 25 Man muß hier genau differenzieren: Smith ist, ebenso wie Ferguson, kein Vertreter der sozialvertraglichen Verfassungsbildung (Dunn S. 132). Wie Ferguson - "Keine Verfassung wird aufgrund von Übereinkunft gebildet, kein Staat durch die Umsetzung eines Planes" (Ferguson S. 187; in der Übersetzung K1iemts (K1iemt S. 143); zur Differenz der HegeIschen und der englisch-liberalen Rechtskonstitution siehe auch: Maker (1) S. 5 ) - hält Smith die politischen ebenso wie die ökonomischen Institutionen für Ergebnisse nicht-intentionalen HandeIns, auf die faktisch reagiert wird und die das Handeln bestimmen, ohne daß sie in ihrer emprischen Gestalt gewollt worden sind. Damit verbunden ist ein Konzept geschichtlich-zivilisatorischen Fortschritts. "Both Hume and Smith, in different ways, vindicate an extremly strong theory of human practical reason: the theory, that is, that the rational grounds for human action are, within the laws of physical nature, reasons internal to individuals, restrained from chaos or arbitrariness solely by the causal processes of society. All good reasons for human action and human effort are founded on this single blunt (if complicated) fact that human beings hold certain beliefs. And any reasons ( ...) which are not founded on this fact cannot be good reasons. This is certainIya very modem view" (Dunn S. 121). 26 Hegel (I) § 258. Man kann, kritisiert O.Höffe diese Ansicht, "jene Befürchtung Hegels als unbegründet zurückweisen, ( ...), nämlich daß mit dem Gesellschaftsvertrag die Staatsbegründung zu einem ökonomischen Tauschgeschäft erniedrigt werde, das für den Begriff eines sittlichen Gemeinwesens unangemessen sei (Rechtsphilosophie § 75). Der Gesellschaftsvertrag in legitimatorischer Absicht besteht zwar in einem Tausch; sein Gegenstand sind aber nicht Waren, Dienstleistungen oder Kapitalien, sondern Preiheitsverzichte. Und diese Verzichte sind kein willkürlicher Gegenstand, sondern die Bedingung der Möglichkeit einer Preiheitskoexistenz" (Höffe S. 449).
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reine Triebbefriedigung, die sich wechselseitig hemmt. Hegel setzt dagegen den Einwand, daß es nichts Beliebiges sein könne, Mitglied eines Staates zu heißen~7 "Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem vereinigt wird, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. - Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen":S Die "Sittlichkeit" ist Hegels positiver Begriff der "als Selbstzweck erfahrenen Intersubjektivität,,:29 "die ungeheure Vereinigung der Selbstständigkeit der Individualität".30 "Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck", hatten wir oben zitiert. Damit ist bedeutet, "daß ein Zustand rein subjektiver Selbstbestimmung nicht die affirmativste Struktur des objektiven Geistes ausmachen kann, sondern daß ihm die Objektivierung der Freiheit in Institutionen entschieden vorzuziehen ist - und zwar erstens, weil Institutionen ein Medium stabiler Intersubjektivität darstellen, Intersubjekti27 Für Hegel ist der Staat "als Wirklichkeit des substantieIlen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantieIle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein" (Hegel (I) § 258). 28 Hegel (I) § 258.
29 "Hegel polemisiert gegen Kant und Fichte, weil er in ihren Systemen eine fundamentale
Vernachlässigung der Intersubjektivität erkennt. So zeigt sich die Unwahrheit der beiden unvermittelten Grundkategorien der praktischen Philosophie der beiden subjektiven Idealisten - also von Recht und Moral- nach Hegel gerade darin, daß in keiner der zwei Sphären eine als Selbstzweck erfahrene Intersubjektivität ausgebildet werden kann (a): Im Recht herrscht bei Kant und Fichte ein berechnender Egoismus aIlein auf ihren Eigennutz kalkulierender Teufel (b), ein totales Mißtrauen gegen den anderen (c), der nur als Grenze der eigenen Freiheit erfahren werden kann; das Grundgesetz des rechtlich geordneten Staates ist nach Fichte ausdrücklich: 'Liebe dich über aIles, und deine Mitbürger um deiner selbst wiIlen'. Diese Konzeption geißelt Hegel in der Differenzschrift als 'System der Atomistik der praktischen Philosophie'; der Staat erinnere hier mehr an eine Maschine als an einen Organismus. Bei Fichte fehle 'die voIlständig lebendige Gemeinschaft der Individuen in eine(r) Gemeinde'; gerade darum gehe es aber, 'die Gemeinschaft der Personen mit anderen ( ...) wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben' anzusehen" (Hösle S. 140; die Fußnoten beziehen sich auf folgendes: (a) Theunissen; (b) Kant c) Fichte 3.244).
30 Hegel (I) Zusatz zu § 31.
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vität aber etwas Höheres ist als Subjektivität, und zweitens, weil allein auf diese Weise die Wirklichkeit des Rechts garantiert ist, die im Zustand der Moralität der immer neu zu fällenden Entscheidung einer Subjektivität anheimgestellt ist, einer Subjektivität, der um so weniger zu trauen ist, als ihrem Bedürfnis nach Herausstellung der eigenen Partikularität, der Hervorhebung des eigenen Ichs in höchstem Maße zentrifugale Kräfte eignen,,?l An diesen grundsätzlichen Erwägungen scheitert für Hegel auch die Idee der Smithschen Wirtschaftsgesellschaftskonstitution durch den Markt, mit der Folge, daß einer gemeinschaftlichen Bestimmung oder einer staatlichen Regulation in der Marktwirtschaft Raum gegeben werden müsse, weil die Aggregation der individuellen Interessen zu einem gemeinsamen Wohl sonst der Zufällig- oder Beliebigkeit überlassen bliebe.
"Die Besonderheit für sich ist das Ausschweifende und Maßlose, und die Formen dieser Ausschweifung selbst sind maßlos. Der Mensch erweitert durch seine Vorstellungen und Reflexionen seine Begierden, die kein geschlossener Kreis wie der Instinkt des Tieres sind, und führt sie in das schlecht Unendliche. Ebenso ist aber auf der anderen Seite die Entbehrung und Not ein Maßloses, und die Verworrenheit dieses Zustandes kann zu seiner Harmonie nur durch den ihn gewältigenden Staat kommen,,?2 Die Vermutung, die sich hier andient, ist diese: daß Hegel das Smithsche "system of natural liberty" als ein gleichsam Hobbessches natu"echtliches System auffaßt und als solches kritisch prüft. Nun sind allerdings weder A.Ferguson (Smiths philosophischer Mentor) noch A.Smith selbst Naturrechtstheoretiker. Smiths Konzept einer "natürlichen" Verwirklichung individueller Interessen innerhalb der Gesellschaft setzt keinen normenstiftenden Vertrag voraus, sondern reguliert die Wahrung aller individuellen Interessen durch einen Ausgleich aller Profitraten, die die moralphilosophisch beklagte Maßlosigkeit der Kapitalwirtschaft ökonomisch aufhebt. Hegel dagegen sieht die bürgerliche Gesellschaft als eine prozessierende Vertragsgemeinschaft an, deren einzelne Kontrakte legal und efftzient sein mögen, ohne aber das reflektierte Niveau eines "allgemeinen Vertrages" zu erlangen, der alle, auch die aktuell je nicht kontraktfähigen Interessen, durchsetzen könnte. 31 Hösle S. 141 f.; es folgt: "Der tiefste Sinn von Hegels Sittlichkeitslehre scheint mir also zu sein, daß eine Theorie des normativ Verbindlichen in einer Theorie von Institutionen gipfeln muß, die als Selbstzweck gedeutet werden und deren Aufhebung in einer utopischen Zukunft nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert wäre." 32 Heget (I) Zusatz zu § 185.
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Seine Kritik des Sozialvertragsgedankens, daß ein allgemeiner Wille immer den Willen, d. h. das sittliche Bewußtsein zu dieser Allgemeinheit voraussetze, und nicht als Aggregat der einzelnen Willen verstanden werden dürfe, weil das nur wieder eine Partikularität (dieses besonderen allgemeinen Willens) zum Ausdruck brächte, zieht daraus die Konsequenz, sittliche Institutionen zu etablieren, die das Bewußtsein der Allgemeingültigkeit des Sittlichen instandsetzen sollen. Die Notwendigkeit der Vermittlung der Gesellschaft, entstanden aus der logischen Definition der allgemeinen Vernunft einer im Prinzip freien Handlungsgesellschaft, betrifft Fichtes und Rousseaus Sozialkontraktskonzeption ebenso wie Smiths "natürliches" Handlungssystem, so daß wir das Smithsche System in der Hegelschen Rezeptionsperspektive als ein quasi naturrechtliches wiederfmden: als ein perennierendes Sozialvertrags-System der bürgerlichen Gesellschaft, das aus sich heraus nicht in der Lage ist, die allgemeine Vernunft, die Voraussetzung ihrer Selbstkonstitution bleibt, zu reflektieren und in den Handlungen auszuweisen. Logisch folgt daraus die Trennung von Staat und Gesellschaft bzw. genauer: die Trennung von in Hinblick auf die Reflektion der allgemeinen Vernunft unbewußter Handlungsgesellschaft und politischer Repräsentanz der Vernunft selbst. Der "Trieb des Staates", formuliert HegeI1817/18, "ist, alle besonderen Interessen aufzuheben in das Interesse der Allgemeinheit,,?3 Diese Aufgabe aber wird bei Smith gerade nicht dem Staat, sondern der bürgerlichen oder commercial society zugewiesen. Smiths Staatsbegriff ist gegenüber der älteren politischen Theorie reduziert auf eine funktionale Regierungsagentur der Gesellschaft selbst. Als von vornherein gesellschaftliches Organ ist er den Kriterien der gesellschaftlichen Wohlfahrt unterstellt, d. h. in seinen ökonomischen Funktionen darin zurückzunehmen, wo die commercial society selber ihre "natürlichen" Kompetenzen besser und effizienter wahrnehmen kann. Der Staat verliert die theologisch nachgelassene Aura des Omnipotenten und beschränkt sich auf die Funktion eines Agens der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Aufgabe beschränkt sich auf die Wahrung der Rechtssicherheit und den Rest an öffentlichen Aufgaben allgemeinwirtschaftlichen Charakters, die
33 Hege) (IV) S. 227.
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das formale Vertrauen in die Ausführungsmodalitäten wirtschaftlichen Handelns zu gewährleisten haben. Der Smithsche Staat wacht über die Dispositionsfähigkeit seiner Mitglieder, nicht über ihre Dispositionen.34 Die rechtliche Basis des wirtschaftlichen Handelns garantiert keinen Realisationserfolg. Hegel dagegen will die ökonomische Sicherung des Handlungserfolges rechtlich durchsetzen lassen und sieht dieses Prinzip in der Wirklichkeit des 'klassischen' Systems der neuen Ökonomie scheitern. Denn die rechtliche Perspektive der Ökonomie ist bei Hegel notwendig von der genuin ökonomischen Perspektive getrennt. Hegel und Smith verwenden verschiedene Ökonomiebegriffe. Eine Smithsche Wachstumsökonomie kann das, was an Versorgung aktuell nicht gelingt, aus der zukünftigen Steigerung des Sozialprodukts zur kompensierenden Einkommensverteilung anbieten. Die Hegeische Versorgungsökonomie dagegen sorgt sich vordringlich um die aktuelle Einkommensverteilung und deren Beschaffung, muß aber notwendigerweise die individuell unterschiedlichen Erwerbsniveaus ausgleichen - ein Vorgang, der (wenn er nicht aus sittlichem Bewußtsein der Beteiligten von selbst geschieht) staatlich - d. h. genauer: polizeilich oder korporativ - verordnet werden muß. Da Hegel in grundsätzlicher Anerkennung der bürgerlichen Handlungsfreiheit keinen (Fichtesehen) Polizeistaat etablieren will, muß er die Freiheit der Wirtschaftsbürger in einen institutionellen Kontext verlagern, der es erlaubt, von beWUßter Anerkennung des allgemeinen Wohls, d. h. der Beschäftigung und Einkommenserlangung aller nicht nur ZU reden, sondern sie zu realisieren. Nicht die - kontingenten - Resultate des Wirtschaftsprozesses, sondern die - bewußt steuerbaren - Voraussetzungen der Erlangung mehr oder minder homogener Einkommensresultate seien sittlich zu regulieren. Daß dabei, wie wir sehen werden, sittlich auch meint, gerecht zu sein, d. h. nach unterschiedlichem Leistungsvermögen unterschiedliche Einkommen zu beziehen, darf nicht davon ablenken lassen, daß Hegel am englischen Wirtschaftssystem die Kompetenz, Arbeit und Einkommen für alle zu erzeugen, negativ einschätzt und folglich nach Formen einer normativen Wirtschaftsverfassung sucht, die dem konstatierten generellen Marktversagen entgegentreten können. 34 Diese Behauptungen beziehen sich allein auf die Ökonomie, nicht auf Smiths ganzes System, dessen moralische und juridische Teile eine hochdifferenzierte Analyse eigener Valenz bieten (siehe die Diskussion und Literatur in: Haakonssen).
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Daß auch Smith die Bereitstellung öffentlicher Güter aus dem Marktversagen begründef5 und sie nicht allein auf die private Produktion von Kollektivgütern begrenzt, sondern der staatlichen Administration dort, wo sie effizient handelt, durchaus Lob zollt,36 hängt nach J. Viners Urteil damit zusammen, daß Smith die deutschen Erfahrungen einer effizienten öffentlichen Verwaltung nicht genügend kannte; es "würde vielleicht Smiths Opposition gegenüber Staatseingriffen in die Industrie gemildert haben,,~7 Hegel dagegen hatte diese Erfahrungen und konnte J. Steuarts Kompetenz des "wise statesman" dem "allgemeinen Stand" der beamteten Bürokratie übereignen. 38 War möglicherweise die englische Administration inkompetenter als die deutsche? Beruht Hegels Differenz zu Smith auf Erfahrungen mit der Administration, die Smith, auf seinen insularen Kreis beschränkt, nicht machen konnte? In einem gewissen Sinne muß einem solchem Umstand Rechnung getragen werden, aber nicht als empirische Gegebenheit, sondern als Faktum anderer Rechtsordnungen, die die mögliche Effizienz der Wirtschaftspolizei als Resultat einer anderen Wohlfahrtskonzeption zu interpretieren hat. Darin steht Hegel Steuart, der im Tübinger Exil die deutsche cameralistische Praxis kennenlernen konnte, sehr viel näher als Smith,39 wie im folgenden näher zu erörtern sein wird.
35
Waszek (V) S. 192.
36 postal services, aber auch die Wirtschaftsverwaltungen Venedigs und Amsterdams (Smith (11) vol. 2, 2, S. 818); siehe dazu auch: Waszek (V) S. 178.
37 Viner S. 142.
38 Über die Affinität des Steuartschen "statesman" mit der Hegeischen Bürokratie siehe: Waszek (V) S. 179. 39 Siehe dazu die Chamley (I, 11) vortrefflich ergänzende Analyse Waszeks (Waszek (V) S. 171ff. , bes. aber S. 182ff.).
3. Ökonomie und Moral Hegel stellt sich, in seiner Kritik des kantischen Moralbegriffs, auf den Standpunkt der Kritik des bloßen moralischen Wollens. Insofern steht er auf dem Standpunkt der Ökonomie seiner Zeit, als er die moralische Kritik der Ökonomie nicht teilt. Auf der anderen Seite aber sind die Ergebnisse der wirtschaftlichen Allokation nur dann legitim, wenn sie vernünftig und sittlich sind. Um ein solches Urteil fällen zu können, sind die Sphären des Ökonomischen und des Sittlichen analytisch zu trennen. Die Ökonomie muß - im "System der Bedürfnisse" - als eine autonome Sphäre auf die von ihr bewerkstelligten Ergebnisse befragt werden können. Die 1819/20-Nachschrift zeigt schon die Allokationsmetapher der Druckfassung von 1821, die die EffIzienz des Marktmodells der Wirtschaft gegen moralische Kritik verteidigt: "So geschieht es, daß, indem das Individuum durchaus nur selbstsüchtige Zwecke hat, dasselbe zugleich die Bedürfnisse aller befriedigt. Dies ist in jeder Hinsicht etwas Wichtiges. Ein Mann von Reichtum in alten Zeiten unterstützte andere direkt; er speiste Arme und tränkte sie, kleidete die Nackten. Die andere Verwendung des Reichtums ist, wenn derselbe zum Luxus verwendet wird. Diese Verwendung hat die höhere Wirkung, daß die anderen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nur erhalten unter der Bedingung, daß sie tätig sind. Den reichen Mann, der viel auf sich und seinen Genuß verwendet, kann man vom moralischen Standpunkt aus tadeln und sagen, er solle seinen Überfluß den Armen zugute kommen lassen; dies tut er auch, aber auf eine vermittelte, vernünftige Weise".l Die traditionell gute Absicht, helfen zu wollen - die zufällige, karitative
1 Hegel (III) S. 160; siehe ebenso: Hegel (V) S. 615f.; und: Hegel (VI) S. 497 : "Der Reiche schafft sich vielerlei an giebt viel Geld aus, man sagt er könne es den Armen geben, er thut aber in der That dasselbe als wenn er Wohlthaten thut und es ist so viel moralischer Geld nur gegen Arbeit auszugeben, als durch Schenken, es ist zugleich die Freiheit des Anderen damit anerkannt. " Längst aber hatte Hegel dies schon in seinem "Naturrechtsaufsatz" von 1802/03 thematisiert (Hegel (VII) S. 135). Den Tenor dieser Haltung finden wir bei J.Steuart: "Die Mildtätigkeit ( ...) ist gleichsam eine verfeinerte Menschlichkeit; daher besorge ich, sie müsse immer unzuverlässig sein." (Steuart Bd. II, S. 8).
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Wohltätigkeit - verwandelt sich in eine allgemeine, gesellschaftliche Aufgabe der Ökonomie.2 Durch das Markt-Allokations-System wird der Wunsch nach Luxus zur Nachfrage nach höherwertigen Produkten und nach Arbeit, d. h. in Investition und Beschäftigung, verwandelt, und erzeugt damit ein ökonomisches Einkommen, das das entwürdigende Almosen vollständig ersetzen kann. Die Tugend der caritas, nach der ein Reicher den Überfluß (superfluum) seines Einkommens über das hinaus, was er standesgemäß braucht (necessarium), den Armen zu geben habe, die damit ihren notwendigen Lebensunterhalt betreiben könnten? ist abgelöst von einem Konzept der Einkommensgerechtigkeit, die allerdings eine Wirtschaftsgesellschaft voraussetzt, in der jeder, der arbeiten will, auch Arbeit oder Beschäftigung frodet. Darin zeigt sich, wie ein vordem rein moralisches Phänomen seine Lösung nicht mehr unabhängig von ökonomischen Untersuchungen froden kann. Was vordem allgemeine moralische Maxime sein konnte, differenziert sich jetzt nach der Höhe des allgemeinen Beschäftigungsniveaus. In der Heidelberger Version der rechtsphilosophischen Vorlesungen, die P. Wannenmann 1817/18 mitgeschrieben hat, bringt Hegel das Zusammenspiel von Arbeitsteilung, Marktallokation und Wohltätigkeit auf seinen Begriff:
"Der Wohltätige hat die Absicht, anderen zu helfen, und es hängt dies von seiner Willkür ab, aber in diesem System der Vermittlung (d. h. der Markt-Allokation; B.P.) ist der, welcher für sich sorgt, auch für andere sorgend, er handelt für sich und sorgt für andere; ( ... ) Der, welcher sein Geld für seine Bedürfnisse ausgibt, gibt den anderen sein Geld, macht ihnen aber zur Bedingung, ihre Pflicht zu tun, fleißig zu sein, und er gibt ihnen ein richtigeres Gefühl ihrer selbst als der, welcher sein Geld wegschenkt an die Armen, denn der Arme, welcher Almosen erhält, hat nicht das Gefühl seiner Selbstständigkeit. Es ist dieser notwendige Zusammenhang dieser Vermittlung, daß der, welcher für sich sorgt, auch für die anderen sorgt".4 2 In seinen Ausführungen zur "Reformation" in den "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" wird dieser Vorgang bereits früh angelegt: "Die Arbeitslosigkeit (d.h. die Muße der Mönche, B.P.) hat nun auch nicht mehr als ein Heiliges gegolten, sondern es wurde (seit der Reformation; B.P.) als das Höhere angesehen, daß der Mensch in der Abhängigkeit durch Tätigkeit und Verstand und Fleiß sich selber unabhängig macht. Es ist rechtschaffener, daß, wer Geld hat, kauft, statt es an Faulenzer und Bettler zu verschenken; denn er gibt es an eine gleiche Anzahl von Menschen, und die Bedingung ist wenigstens, daß sie tätig gearbeitet haben. Die Industrie, die Gewerbe sind nunmehr sittlich geworden, und die Hindernisse sind verschwunden, die ihnen von seiten der Kirche entgegengesetzt wurden. Die Kirche nämlich hatte es für eine Sünde erklärt, Geld gegen Interessen (Zinsen; B.P.) auszuleihen; die Notwendigkeit der Sache aber führte gerade zum Gegenteil" (Hegel (IX) S. 503). 3 Siehe dazu: Steuer S. 62ff.
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Hegels Plädoyer für die Ökonomisierung der Moral, für eine gesellschaftliche Ökonomie, die allen ihren Mitgliedern Arbeit und Einkommen beschafft, anstatt die Willkür der privaten (und der staatlichen) Wohlfahrt herrschen zu lassen, entspringt der Kritik des Kantischen Moralgesetzes~ "Ausdruck dieser asozialen, tendenziell solipsistischen Ausrichtung der Kantisch-Fichteschen Ethik ist nach Hegel auch ihr gesinnungsethischer Ansatz, den er als Ausdruck eines hemmungslosen intellektuellen Egoismus begreift: Nicht darum geht es dieser Moralität primär, etwas für alle Beteiligten Affirmatives zu erreichen; höchstes Ziel ist es, daß ich mir gut vorkommen kann".6 Nur dann, wenn der Egoismus7 "sich hier in die Sorge und den Erwerb für ein Gemeinsames, ( ...) (in ein) Sittliches" verändert, ist "etwas für alle Beteiligten Affirmatives erreicht" .8 Die Bedingung dafür ist ein allgemein sittlicher Habitus, der aber im Prinzip den privaten Zwecken der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft entgegensteht. Die oben genannte Ökonomisierung der Moral kann nicht mit einem Gesinnungswandel ins Sittliche verwechselt werden, sondern ist vielmehr mit der objektiven Möglichkeit der ökonomischen Marktinstitution das private Zweckhandeln in Koinzidenz mit dem allgemeinen Zweck, anderen ihre Subsistenz zu verschaffen - in Zusammenhang zu bringen, was "nicht im Bewußtsein dieser Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als solcher
4 Hegel (IV) S. 138f.; siehe auch: Hegel (XII) S. 265. 5 In der Phänomenologie des Geistes wird Kants kategorischer Imperativ, daß je mein Wollen auch jederzeit allgemeines Gesetz werden können sollte, als Gesetz eines einzelnen Bewußtseins von zufälligem und willkürlichem Inhalt bezeichnet, das "das Gesetz seines Herzens zur allgemeinen Ordnung" (Euchner S. 164; siehe dazu: Hegel (XII) S. 275ff.) machen wollte. Das, was wir in Hinblick auf die Rechtsphilosophie bei Hegel das Smithsche Theorem genannt haben, ist in der Phänomenologie - ausdrücklich zur Definition des Reichtums· ein Kant-kritisches Implementat fundamentaler Bedeutung: "Reichtum. Ob er zwar das Passive oder Nichtige ist, ist er ebenfalls allgemeines geistiges Wesen, ebenso das beständig werdende Resultat der Arbeit und des Tuns Aller, wie es sich wieder in den Genuß Aller auflöst. In dem Genusse wird die Individualität zwar für sich oder als einzelne, aber dieser Genuß selbst ist Resultat des allgemeinen Tuns, so wie er gegenseitig die allgemeine Arbeit und den Genuß aller hervorbringt" (Hegel (XII) S. 368). 6 Hösle S. 141. 7 Die individuelle Habsucht, avaritia (die vordem zur Buße die caritas verlangte). 8 Hegel (I) § 170; siehe dazu auch: Kraus S. 32f. Auf welche Weise Hegel in seiner Kritik der Kantschen Moral mit dem Begriff der Sittlichkeit an Aristoteles wieder anzuknüpfen sich bemüht: siehe: Ritter.
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liegt".9 Folglich ist der Markt im Prinzip eine sittliche Institution: "Es ist rechtschaffener, daß, wer Geld hat, kauft, wenn auch für überschüssige Bedürfnisse, statt es an Faulenzer und Bettler zu verschenken; denn er gibt es an eine gleiche Anzahl von Menschen, und die Bedingung ist wenigstens, daß sie tätig gearb8itet haben. Die Industrie, die Gewerbe sind nunmehr sittlich geworden".1 Was Hegel hier schlichtweg sittlich nennt, ist dieselbe Konnotation von Ökonomie und Ethik, die Adam Smith im "invisible hand"-Konzept vorschwebt, denn: "Die Arbeitslosigkeit (Muße, B.P.)hat nun (...) nicht mehr als ein Heiliges gegolten, sondern es wurde als das Höhere angesehen, daß der Mensch in der Abhängigkeit durch Tätigkeit und Verstand und Fleiß sich selber unabhängig macht".11 Doch ist die "sittliche" Industrie in diesem Kontext noch weitgehend unbestimmt. Später wird Hegel sie bloßfonnell nennen, weil ihr das Wesentliche fehlt, um reell zu werden: die bewußte Anerkennung. Von dieser Position kann er die Marktgesellschaft - gleichsam als "unsittliche Sittlichkeit" kritisch sehen, wogegen sie für Adam Smith die höchste Form bleibt: die entmoralisierte, funktionale Erfüllung der moralischen Ansprüche. Den positiven Effekt des Marktes betonen beide gleich; der negative bei Hegel besteht darin, daß die Marktinstitution ihre Mitglieder unterhalb des Niveaus erlangbarer Freiheit plaziert: sie handeln ohne (sittliches) Selbstbewußtsein. Smith wendet sich in seiner "Theory of Moral Sentiments" ausdrücklich gegen J.J. Rousseaus Klage wider die unmoralischen Reichen, die mit ihrem Luxuskonsum den Armen die notwendigen Lebensmittel entzögen: "Es sei wahr, wie die Moralisten behaupten, daß die Reichen 'einzig und allein die Vergütung ihrer eigenen Einbildung und unersättlichen Begehren suchen', aber ihre Mägen seien nicht größer als die der Armen. Durch ihren Nahrungsmittelkonsum könnten sie die Armen nicht verhungern lassen, wie Rousseau unterstellte, wenn er ein Bild malte, in dem 'die privilegierten Wenigen ihre Schlünder mit Überfluß (superfluities) vollstopfen, während die hungernde Mehrheit nach den einfachsten Lebensmitteln lechzt'. Der Konsum der Reichen und Armen an Grundnahrungsmitteln wäre kein 'NullSummen-Spiel'. Die Nachfrage der Reichen setze einen Zyklus von Produktion und Beschäftigung in Gang, der 'durch eine unsichtbare Hand' eme 9 Hege! (I) § 187. 10 Hege! (IX) S. 503. 11 Hege! (IX) S. 503.
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Wirtschaftsgesellschaft (commercial society) anleite, 'fast dieselbe Verteilung der notwendigen Lebensmittel (necessities of life) zu erreichen, wie sie erlangt worden wäre, wenn die Erde in gleiche Abschnitte unter alle Bewohner verteilt wäre'. So, 'ohne es zu beabsichtigen noch es zu wissen', und gewiß ohne es aus Wohltätigkeit zu wünschen, erfüllen (die Reichen) die Interessen der Gesellschaft und beschaffen Mittel für die Vermehrung der Species".12 Den wealth of nations, d. h. nicht nur der Reichtum an und für sich, sondern auch die im Smithschen Reichtumskonzept implizierte Beteiligung aller Eigentumslosen durch Beschäftigungserwerb an ihm und an seinem Wachstum, wird nach Smith ohne moralische Absicht, d. h. "natürlich", erzeugt. Das alte ethische Modell, wonach die Wohlfahrt der Gesellschaft nur durch die Tugendhaftigkeit ihrer Mitglieder befördert werden könne,13 ist in ein ökonomisches verwandelt.14 Hegel nimmt diesen Aspekt Smiths wohl auf, aber gibt ihm eine spezifische Pointe: daß es ehrrührig sei, Almosen zu geben wie zu nehmen. Allein der, der aus seiner Arbeit Einkommen bezieht, behält seine Würde.15 Hier ist die moralische Gesinnung, die Smith aus der Ökonomie herausstrich, wieder als Arbeits-Tugend eingeführt (die allein Unabhängigkeit verspricht). Das aber hat Konsequenzen,16 deren vordringlichstes Resultat darin besteht, daß nicht die moralische oder tugendhafte Haltung des Wirtschaftssubjektes (darin geht Hegel Smith konform), sondern seine institutionelle (rechtliche, sittliche) Einbindung die Wohlfahrtsergebnisse schafft, die ein ethisches Konzept der modemen Wirtschaftsgesellschaft verlangen müsse. Daß die
12 Hont!Ignatieff S. 10f.; bei A. Smith siehe in der "Theory of Moral Sentiments" ( Smith (III) IV, 1.10; im ·Wealth of Nations" (Smith (11) IV, ii. 9). Zur Relation von Smith und Rousseau siehe: West, Winch S. 99 und Alvey S. 6, Fn. 6. 13 Hont/Ignatieff S. 44. 14 Reid hält Smiths Ökonomie für eine moralische Institution: "Indeed, the market as an institution is endowed with a framework that intends to make the pursuit of individual self-interest desirable from aglobai social perspective. For this reason, the pursuit of gain within a free market may be seen as an aspect of virtue." (Reid (IV) S. 162). Smith selber war skeptischer. Der Preis für den Fortschritt der "commercial society" wäre mit einem Niedergang der "intellectual, social, and martial virtues" zu bezahlen (Smith (11) vol. 2, S. 782). Siehe dazu: Waszek (V) S. 194. 15 Waszek weist darauf hin, daß Hegel Steuarts Unterscheidung zwischen "free labour" und "slavery" nicht nur kennt, sondern extensiv nutzt (Waszek (V) S.l64f.), was die Fürsorge des Staatsmannes für denjenigen einschließt, "who is willing to work for his bread, but who can find no emploment" (zitiert aus Ssteuart bei: Wwaszek (V) S. 186). 16 Siehe dazu Kap.8 dieses Textes.
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bürgerliche Gesellschaft, wenn sie Bestand haben will, einer ethischen Ordnung unterliegt, bleibt für Hegel offensichtlich, aber er insistiert darauf, daß die moralischen Kräfte der Einzelnen allein nicht ausreichen, sie zu erzeugen. Nicht die Moral, sondern die (sittlichen) Regeln erzeugen eine Wohlfahrt, die dem Selbstbewußtsein der Mitwirkenden konform geht. Das ist die entscheidende Differenz zu Smith: "natural liberty" versus Freiheitsbewu ßtsein.
4. Arbeit und Nachfrage
In einer Betrachtung der Stände-Gliederung der Wirtschaft fmdet Hegel: "hier ist also die Wurzel, durch die die Selbstsucht sich an das Allgemeine, an den Staat knüpft, dessen Sorge es sein muß, daß dieser Zusammenhang ein gediegener und fester sei".1 Spätestens jetzt zeigt sich, daß Hegels Konzept der politischen Ökonomie "keine prästabilierte Harmonie zWischen Privatinteresse und Gemeinwohl" in der Art Adam Smiths ausbildet, sondern möglicherweise "letztlich in der von der Vernunft geforderten Einheit zwischen Individuum und Staat wurzelt. (...) Hegels Gesellschaftslehre - und darum auch seine Wirtschaftslehre setzt die der Vernunft immanente Teleologie voraus und betrachtet das Gesellschafts- und Wirtschaftsleben als einen Teil der Entwicklungsgeschichte des Geistes, der gerade im wirtschaftenden Menschen eine gewaltige Teilentwicklung seiner Selbstbefreiung erlebt".2 M. Riedel faßt diese etwas pathetische Formulierung der staatsäkonomisehen Konzeption in eine vorsichtigere Interpretation: "Die Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft zur modernen Wirtschaftsgesellschaft, wie sie mit dem 'System der Bedürfnisse' vorgezeichnet ist, wird bei Hegel gebrochen durch die Schranken, welche die Tradition der Politik ihrer Verfassung setzt"? 1
Hegel (I) Zusatz zu § 201.
2 Kraus S. 14. Höhne interpretiert den selben Zusammenhang bereits sehr viel genauer: "Eine sich selbst überlassene Freiheit der Wirtschaft bedeutet aber zugleich ihre Verabsolutierung und bringt durch den immer schärferen Kampf um den Besitz schließlich den Charakter der Natur zum Ausdruck: so entstehen sittliche Gefahren, für den einzelnen wie für den Träger der Sittlichkeit, den Staat. Hegel begegnet dieser Gefahr, indem er die von ihm anerkannte wirtschaftliche Freiheit des Individuums durch ein höheres Gesetz reguliert, durch das die Wirtschaft der Sittlichkeit angepaßt wird. Es istdie Aufgabe des Staates, das Bedürfnis der Individuen mit dem Interesse der Gesamtheit in Einklang zu bringen. So biegt Hegel die neuen Gedanken wieder um und stellt unter Aufnahme der Smithschen Ideen eine Synthese her zwischen der älteren Staatswirtschaft und dem Spiel der freien Kräfte, freilich in dem Maße, daß die Aufgabe des Staats nur ein gelegentliches Eingreifen in gröbste Mißstände bedeutet und deshalb mehr zufällig ist, so daß der Kern des englischen Gedankens bestehen bleibt und bloß Nachteile des neuen ökonomischen Systems aufgehoben werden sollen" (Höhne S. 308). So angemessen auch die Schlußfolgerungen Höhnes sind, so wenig ist es die Prämisse, daß der Staat die Bedürfnisse der Individuen zu regulieren häte. Das werden wir genauer zu erörtern haben.
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1817/18 defIniert Hegel die Aufgabe der "Polizei" als staats-politische, externe Lösung der Kontingenzen der Markt-Allokation, die Smith als endogenen Prozeß verstanden hatte:
"Aber jeder setzt sein Interesse zum alleinigen Zweck und läßt sein Interesse dem Interesse eines anderen Standes entgegentreten; aber die Polizei muß nun beschränken und Gleichgewicht zwischen allen zu halten suchen".4 Daß der Markt eine Tendenz entwickle, die den Interessen einzelner Individuen, nicht aber dem allgemeinen Besten dient, ist ein Erbe der aristotelischen Tradition der Ökonomie, die bis in die Cameralistik hineingewirkt hatte.5 Doch die Skepsis gegen die Möglichkeit, daß das autonome MarktGleichgewicht ohne die regulatorische Intervention der Polizei zustandekommt, hat Hegel aus seiner Lektüre J. Steuarts in Bern, wie P. Chamley vermutet. So wie Steuart in seiner Tübinger Zeit die damalige deutsche Ökonomie des 18. Jahrhunderts - d. h. die Cameral- und Polizeiwissenschaften kennengelernt hatte, könnte sie Hegel aber ebenso auch der Lektüre zeitgenössischer deutschen Ökonomen entnommen haben. Schließlich reservierten selbst die enthusiastischsten deutschen Smithianer dem Staat weiterhin eine wichtige Funktion der wirtschaftlichen Regulierung~ Aber welche? Sie hängt ab von der DefInition der individuellen Rechte in Staat und Gesellschaft, d. h. von der gesellschafts theoretischen Konzeption und von ihrer ökonomischen Vermittlung. Hier aber gerade nimmt Hegel gegen die z. T. noch in cameralistischer Terminologie einhertretenden Vorstellungen einer "Staatsglückseligkeit" und gegen die - auf den Fundamenten Pufendorfs und Wolffs deutsch moderierten - naturrechtstheoretischen Begründungen der "Staatswirthschaftslehre,,7 eine Position ein, die auf seiner Kritik des Naturrechts schlechthin basiert. Wir werden darauf zurückkommen; Hegel erscheinen die deutschen Naturrechtsökonomen des späten 18. Jahrhunderts ebenso abstrakt wie Smiths political economy. An Steuart aber hat Hegel einen vorklassischen Vertreter der politischen Ökonomie, der die staatswirtschaftliche Komponente mit einer hochdifferenzierten Markttheorie verbin-
3 Riede! (IV) S. 270. 4 Hegel (IV) § 117. 5 Siehe bei: Brückner. 6 Siehe dazu: Priddat (I); besonders aber: Grünfeld; ebenso: Graul; neuestens: Schmidt. 7 Siehe dazu: Tribe (I) Kap. 6-8.
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den konnte. Steuart rechnet, nach G.Hufelands Urteil 1807, "vieles zur Staatswirthschaft, das meines Erachtens anderen Theilen der Staatskunst angehört. (... ) So besteht nach Steuart der ganze Gegenstand der Staatswirthschaft in der Sorge für Unterhalt, für Hndere Bedürfnisse und für Beschäftigung eines jeden in der Gesellschaft". Die Sorge des politischen Ökonomen um Nahrung und Beschäftigung für alle9 ist identisch mit dem älteren Wohlfahrtszweck der cameralistischen Polizei- und Staatswirtschaftstheorie. lO Im Gegensatz zu Smith traut Steuart dem Markt nicht zu, alle Bedürfnisse zu befriedigen und die Wirtschaft zu entwickeln.11 Steuart ist noch von. der älteren Idee eingenommen, daß die Wirtschaft, für sich belassen, im Prinzip zu Fehlallokationen tendiere, weil ihr der einigende, vernünftige Wille fehle. Aufgabe des Staatsmannes sei es deswegen, diese Abweichungen zu antizipieren und Instabilitäten zu korrigierenP Steuart entfaltet ein Idealbild des aufgeklärten Staatsmannes, dessen Rolle darin besteht, für die Wirtschaft eine Balance zu halten, die "great 8 Hufeland S. 6f.; Hufeland bezieht sich auf Steuart: "Das Hauptziel dieser Wissenschaft (der Politischen Ökonomie; B.P.) ist, für alle Einwohner einen gewissen Vorrat an Unterhaltsmitteln zu sichern und jeden Umstand zu vermeiden, der dies unsicher machen könnte; für alles vorzusorgen, was zur Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft notwendig ist und die Ein· wohner (voraussgesetzt, daß es freie Leute sind) so zu beschäftigen, daß sich gegenseitige Beziehungen und Abhängigkeiten unter ihnen bilden, so daß jeden sein eigner Vorteil dazu veranlaßt, den Bedürfnissen des anderen abzuhelfen"(Steuart Bd. I, S. 23). 9 "Um einen genauen Begriff davon zu geben, was ich unter Volkswirtschaftslehre verstehe, habe ich das Wort erklärt, indem ich den Gegenstand dieser Kunst bestimmt habe, die darin besteht, jedes Mitglied der Gesellschaft mit Nahrung, anderer Notdurft und Beschäftigung zu versorgen. ( ... ) Allen Mitgliedern einer Gesellschaft eine passende Beschäftigung zu verschaffen, heißt so viel, als jeden Zweig ihrer Tätigkeit zu gestalten und zu leiten" (Steuart Bd. I, S. 38f.). Zum cameralistischen, bedarfswirtschaftlichen Begriff der Nahrung siehe: Tribe (I) S. 90; ebenso dazu: Hellmuth S. 138f. 10 Siehe dazu: Tribe (11); ebenfalls: Tribe (I) S. 35ff.; Vom Bruch (I) S. 95ff. (siehe dort auch die Literaturübersicht). Hegel selber verwendet den Generaltopos der Cameralisten vom "allgemeinen Besten" (siehe: Merk; ebenso: Sternberger) in seiner Begründung der Polizeiaufgaben: "Beide Seiten sind zu befriedigen, und die Gewerbfreiheit darf nicht von der Art sein, daß das allgemeine Beste in Gefahr kommt" (Hegel (I) Zusatz zu § 236). Siehe auch seine Definition des "allgemeinen Besten" in § 126. 11 Perelman S. 4TIf.; siehe dazu auch: Fatton Jr. 12 Tribe, Keith: Tbe 'Smith reception' and the function of translation, S. 133ff. in: Tribe (I) S. 139f. "James Steuart had been educated in the language of continental natural jurisprudence and had spent some of bis years as a lacobite exile in Tübingen, where he became familiar with the german science of 'police' - Polizeiwissenschaft. ... While he is often understood as a paternal traditionalist, he was nearly as accomplished an analyst of the economy as a natural process as Smith. What he denied insistently was that the 'natural course of things' in the long term should constitute the definitive guide for the 'art' of economic policy. He said that natural causes should never be allowed to run unchecked when the effects would be followed by injustice" (Hont/Ignatieff S. 18f.). Ebenfalls: Sen, chap. 9; und: Meek.
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vibrations" oder "harmful revolutions" ausschließt: "Wie bereits früher Boisguillebert, ist J ames Steuart von der Überzeugung durchdrungen, dass in den Gestaltungen und Wandlungen des sozialen, speziell des wirtschaftlichen Lebens eine gewisse Verhältnismäßigk,eit herrschen muß. (Er ist) der Ansicht, dass jene Bedingung gesellschaftlichen Gedeihens nur durch staatliche Regelung zu erzielen ist ( ...) insbesondere für die Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage. ( ...) Der Staatsmann ( ...) muss stets die Bewegungen der beiden Waagschalen genau beobachten und regeln, indem das Prinzip seiner Tätigkeit zu bilden hat 'die Unterstützung der allmählichen Vermehrung der Nahrungsmittel, der Bevölkerung, des Angebots und der Nachfrage'. Kleine Schwankungen der Wage hat er zu gestatten.( ... ) Sobald aber die einseitig auftretende Konkurrenz mit einer Störung des Gleichgewichts droht, hat der Staatsmann die leichtere Schale zu belasten, jedoch nur in Fällen äußerster Not die schwerere zu entlasten. Wenn also die Nachfrage überwiegt, so muß die Ausfuhr gefördert werden. Statt der Ausfuhr kann nun aber der Staatsmann den Luxus im Inland ermuntern, denn der Luxus - d. h. die zum Leben nicht notwendige Konsumtion der Reichen - ist ein Prinzip, welches Beschäftigung schafft und denen Brot giebt, welche die Bedürfnisse der Reichen befriedigen" P Wirtschaftliche Regulation verbindet Steuart mit politischer Stabilisierung - die Grundidee einer politischen Ökonomie im älteren politischen Sinne. Er leugnet nicht, "daß das Prinzip des Selbstinteresses die Bemühungen für eine aktive Bevölkerung leite; dennoch ist Steuart sehr viel stärker an den möglichen Instabilitäten interessiert, die aus dem unbeaufsichtigten Spiel der genannten privaten Interessen entstehen, und an der Notwendigkeit, die für den Staatsmann darin besteht, das öffentliche Interesse nicht mit dem automatischen Produkt der individuellen Aktivitäten identisch zu setzen,,:4 Dieser Aspekt wird bei Hegel dann zum wichtigsten Motiv für die Kritik der Marktgesellschaft. Steuart defIniert das Verhältnis von Angebot (work) und Nachfrage (demand) als das zweier Größen, die von einer "politischen Waage" gewogen werden: 15 "Da also der Grundsatz gilt, eine mäßige Zunahme von Nahrungsmitteln, Einwohnern, Arbeit und Nachfrage aufrecht zu erhalten, so muß der Staatsmann die kleinen Schwankungen des Gleichgewichts dulden, die 13 Von Bergmann S. Uf. 14 .. Tribe (I) S. 140 (eigene Ubersetzung B.P.). 15 Steuart Bd. I, S. 294ff. und S. 305ff.; siehe dazu auch: Von Bergmann S. 9ff.
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beiden Kontrahenten durch die abwechselnde Konkurrenz vorteilhaft sein können; so oft aber die Konkurrenz so lange auf einer Seite bleibt und mit einer gänzlichen Zerstörung des Gleichgewichtes droht, muß er es mit geschickter Hand versuchen, die leichtere Waagschale zu beladen, und darf nie, außer im größten Notfalle, etwas von der schwereren Waagschale wegnehmen" .16 Speziell diese Differenz zwischen kleinen, normalen Schwankungen des Gleichgewichts und zwischen der "Umstfuzung" desselben,l? der entgegengewirkt werden müsse, finden wir in Hegels System der Sittlichkeit von 1802/03 übernommen: "Beides muß aus der AnschauUng, aus dem Ganzen desjenigen bestimmt werden, was ein Mensch notwendig braucht, und dieses ist teils der rohen Natur, nach den verschiedenen Klimaten, teils der gebildeten, was im Durchschnitt in einem Volke für die Existenz für notwendig erachtet wird, zu erkennen. Es geschieht von selbst durch die Natur, das sich das richtige Gleichgewicht teils unter unbedeutenden Schwankungen erhält, teils, wenn es durch äußere Umstände stärker gestört ist, durch größeres Schwanken sich wieder herstellt. Aber eben in dem letzten Falle muß die Regierung der Natur, welche eine solche Bewegung des Überwiegens hervorbringt, durch empirische Zufälligkeiten, schneller - wie unfruchtbare Jahre, - oder langsamer - wie Emporkommen derselben Arbeit in anderen Gegenden, und Wohlfeilheit, die in anderen das gleichmäßige Verhältnis des Überflusses zum Ganzen aufhebt -, entgegenarbeiten und, da die Natur die ruhige Mitte aufgehoben hat, dieselbe und das Gleichgewicht behaupten" .18 Das Gleichgewicht, das die Regierung gegen "größeres Schwanken" bei Hegel wiederherstellen solle, ist allerdings ohne jene ökonomischen Spezifikationen, deren umständliche Beschreibungen Steuarts Werk füllen. Wohl gehören die kleinen Schwankungen (von Angebot und Nachfrage) durchaus zur Natur der Sache der automatischen Marktregulation. Unentschieden bleibt aber für Hegel in diesem Stadium, ob die größeren Schwankungen endogener oder exogener Art sind. Aber sie stören den idealen Wettbewerb, so daß die Regierung einzugreifen hat, um die Marktautonomie wieder herzu16
Steuart Bd. I, S. 312; ebenso S. 353 und S. 500.
17 Steuart Bd. 1., S. 302. "There is a preoccupation with intervention ist policies in Steuart's 'Principles'. Steuart did not trespass against the conditions for intervention ( ... ), especially the required rnarket failure, but he sawrnarket failure everywhereor, at least, ist dangerous possibiIity. The rnarket rnechanisrns, Iike the wheels of a watch, should be left alone as long as they function properly, but, according to Steuart, they 'are continually going wrong'" (Waszek (V) S. 188). 18 Hegel (X) S. 9lf.
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stellen.19 Steuarts Befürchtung, daß die ungehinderte Verfolgung individueller Interessen Konflikte und Ungleichgewichte verursachen würde,20 hatten wir bereits in Hegels Definition der Polizei, die das Gleichgewicht zwischen den Interessen halten solle, Eingang fmden sehen. Dem anderen Steuartschen Postulat, daß die Ökonomie ein Gleichgewicht "zwischen Arbeit und Nachfrage,,21 herzustellen habe, wollen wir im folgenden genauer nachgehen: Es ist der wichtigste Zugang zur ökonomischen Konzeption Hegels, die - auf den ersten Blick - eine staatswirtschaftliche Regulation des Systems der Bedürfnisse in Hinblick auf jene Nachfragestruktur anzustreben scheint, die Vollbeschäftigung garantiert. In Steuarts Ökonomie jedenfalls gehört jede Form von Beschäftigungspolitik zu den Verpflichtungen des Staatsmannes~2 "Arbeit und Nachfrage" ist Steuarts ausdrückliche Umformulierung von Angebot und Nachfrage: anstelle von "supply" setzt er "work", was er damit begründet, "daß es die Interessen der Arbeiter (workmen) sind, die den Hauptgegenstand unserer Erörterungen bilden".23 "Steuart unterscheidet hier, wie man sieht, noch nicht zwischen Unternehmern und Arbeitern. Das Wort workman lässt sich vielleicht noch am besten durch Handwerker übersetzen. Auch das Wort work ist nicht genau wiederzugeben, da es offenbar den Sinn nicht allein von Arbeitsleistung, sondern auch den von Arbeitsresultat (Werk!) besitzt".24 In diesem Sinne ist der Gewinn, der aus dem Absatz der Güter entsteht, ebenso Profit aufs investierte Kapital wie aufs eingesetzte Arbeitsvermögen und - entschiedener - mit dem Einkommen der Arbeiter-Unternehmer identisch. Der Steuartsche "statesman" - "Steuarts ewiges Eingreifen des Staatsmannes", wie G. Hufeland sich mokierrs- reguliert in seiner wirtschaftspolitischpolizeilichen Gleichgewichtsherstellung Einkommen und Beschäftigung uno actu. Die Smithsche Unterscheidung zwischen Kapitaleignern und Lohnarbeitern greift hier noch nicht; sie bleibt auf die von Produzenten (Handwer19 Ohne allerdings Steuarts Vorschlag einer steuerlichen Redistribution der Einkommen aufzunehmen (siehe: Steuart Bd. I. S. 504). 20 Tribe (I); siehe allgemein auch: Perelman. 21 Steuart Bd. I, das 10. Kap. des 2. Buches, S. 294ff., auch S. 358 und S. 361. 22 Steuart Bd. I, S. 38, 53, 110. Siehe auch bes.: Waszek (V) S. 188f. 23 Zitiert nach: Von Bergmann S. 9, Pn. 1. 24 Von Bergmann S. 9, Pn. 1; siehe dieselbe Einschätzung bei: Meek S. 16. 25 Hufeland S. XI, Pn. von S. X.
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ker-Unternehmern) und Konsumenten (rentenbeziehenden Grundvermögensbesitzern) beschränkt. Anstelle einer caritativen Redistributionswirtschaft, die die Armen aus den Einkommen der Reichen alimentiert, d. h. ihre Arbeitslosigkeit subventioniert, setzt Hegel auf den Anspruch der modemen Ökonomie, wie er ihn bei Smith et al. findet, der den Reichtum als Kapital in produktive Agentien und die Armen in Beschäftigte (Lohnarbeiter oder Selbstständige) verwandelt, die mit ihrem Einkommen Anspruch auf die Teilnahme am Sozialprodukt haben.26 Da das Sozialprodukt - Heget nennt es "allgemeines Vermögen" bzw. allgemeiner "Fond" - eine abgeleitete Größe der Produktivität der nationalen Wirtschaft darstellt, sind die Einkommen an das Wachstum dieses Sozialprodukts gekoppelt, womit die Idee einer Bedarfsdeckung sich wandelt in eine potentiell unbegrenzte Nachfrage (die real durch die Kaufkraft der Einkommen begrenzt ist, so wie das Einkommen selbst durch die Menge und Art der Beschäftigung). So sehr Hegel Adam Smiths ökonomischer Innovation der autonomen Markt-Allokation auch Anerkennung zollt, so wenig ist er - aus Gründen, die im folgenden entwickelt werden sollen - in der Lage, ihre Konsequenzen wahrzunehmen. Hegels Befürchtungen gehen darauf hinaus, eine Anwendung des Smithschen Wirtschaftssystems als gesellschaftliches Desaster erfahren zu müssen, weil es, als System der Willkür, d. h. der Interferenez nichtvernünftiger Einzelwillen, systematisch nur ein unbewußtes Ergebnis produzieren kann, das zwar den Reichtum steigern kann, aber nicht für alle d. h. die sich sittlich-vernünftig Verhaltenden bestraft. Folglich liegt es auch nicht in der Kompetenz der vernünftigen Personen, durch ihr Handeln ein sittlich ausgewiesenes Wohlfahrtsergebnis herzustellen, wenn die Menge der vernünftigen Personen ein Untergruppe der Gesellschaft darstellt. Die sittliche Vernunft muß allgemein gelten, was notwendig den Staat ins Spiel bringt. Der sittliche Anspruch, jeder solle sich sein Einkommen erarbeiten können, um der Würdelosigkeit persönlicher Abhängigkeit bzw. politischer Herrschaftswillkür zu entgehen, ist weder durch Moral noch durch Rechtspflege und auch nicht durch das "Zufälligkeiten" herstellende "System der Bedürfnisse" zu sichern, sondern allein durch den Staat, der in der Not 26 Siehe dazu: Brown.
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durch die Polizei _ hilft. 27 Auf die Art dieser "Hilfe" des "Not"-Staates kommt es allerdings an: ob die Armut und Not durch Sozialtransfers oder durch Arbeits- und daran gekoppelte Einkommensbeschaffung behoben wird. Es scheint so, als ob der bei Hegel notwendige Sozialstaat kein Wohlfahrtsstaat ist, der Sozial-Transfers verteilt, sondern prima facie der Beschäftigungspolitik verpflichtet ist. Die Gründe für die beschäftigungspolitische Direktive sind aber bei Hegel nur sehr allgemein dem Versagen der Markt-Allokation zuzuschreiben. Der wesentliche Grund ist ein rechtlicher, der über seine besondere Rechtsmaterie die Ökonomie ins Spiel bringt: Das Recht auf Subsistenz. Das Recht auf Subsistenz ist durch das Recht auf Arbeit substituiert. So schreibt Hegel: "Wenn Arbeitslose vorhanden sin~ so haben diese ein Recht zu fordern, daß ihnen Arbeit verschafft wird". Die Anwendung dieses Menschen-Rechtes aber hat ökonomische Implikationen. Während die Realisation des Subsistenz-Rechtes nur die Staatswirtschaft i.e.S., d. h. die Sozialbudgets des Wohlfahrtsstaates unmittelbar betrifft (wenn man alle Redistributionseffekte beiseite läßt), ist das Recht uf Arbeit - scheinbar nur eine Präzisierung des Subsistenzrechtes - nicht mehr allein rechtlich einzulösen, sondern nur durch eine allgemeine Wirtschaftspolitik, die das Verhältnis von Investition, Nachfrage, Einkommen und Beschäftigung für die ganze Wirtschaft reguliert. Die Realisation eines Rechtes auf Arbeit erfordert eine Ökonomie der Vollbeschäftigung und damit - dies ist die Schwelle, an der eine Rechtsphilo27 •Aber es kann dennoch etwas Zufälliges eintreten, daß für andere nicht gesorgt ist: die Not. Im allgemeinen muß der Staat der allgemeinen Not durch Anstalten vorbeugen, aber es kann auch eine subjektive Not eintreten, wo der Gesinnung geholfen werden soll durch Rat und Tat; aber besser ist es, wenn auch für die einzelne Not der Staat sorgt. Gewöhnlich wollen zwar die Menschen lieber ihre Willkür im Helfen in der Not der anderen haben, als den Staat durch allgemeine Verordnungen helfen zu lassen, und es tritt doch der freie Wille auch hier ein, wenn der Einzelne dieses Sorgen des Staates für ein Vernünftiges ansieht; und so kann er, dieser Verordnung nützend, WOhltätig sein. Das subjektive Helfen muß soviel (wie) möglich vermindert werden, weil subjektiv helfend man, statt zu nützen, schaden kann" (Hege I (IV) S. 139; ebenso S. 159). Bei dem Klassiker J.B. Say liest es sich so: "Haben die Unglücklichen ein Recht auf die Unterstützung der Gesellschaft? Diese Frage hat man öfters abgehandelt. Es scheint, als ob sie nur in so fern ein Recht darauf hätten, als ihr Unglück eine nothwendige Folge der eingeführten gesellschaftlichen Ordnung ist. Wenn die Entblößungvon allem Nothwendigen, die gänzliche Unfähigkeit, etwas zu verdienen, ein Werk der gesellschaftlichen Einrichtung ist: so ist die Gesellschaft einem solchen Unglücklichen Unterstützung schuldig; aber dabey müßte erst noch bewiesen werden, daß die gesellige Ordnung ihm nicht zugleich Mittel und Wege eröffnet hätte, seinen Uebeln zu entgehen· (Say Bd. 11, S. 258). 28 Hegel (III) S. 192.
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sophie ihre reine, staatswissenschaftliche Struktur aufgeben und die Ökonomie, wie Hegel es vorexerziert, integrieren muß - die Rücksichtnahme auf den jeweils modernsten Wissensstandes der ökonomischen Theorie. Dies gelingt Hegel nicht bzw. ist - im Gegensatz zu A. Smith - nicht seine Absicht. Die sittlich-rechtliche Forderung nach Arbeit für alle wird nicht konsequent auf ihre ökonomische Voraussetzung geprüft. Die Einheit von Wissenschaft - als konkretem Inhalt - und Recht - als konkreter Form - der bürgerlichen Gesellschaft29 soll nach Interpretatorenmeinung auf eine Koinzidenz von Ökonomie und Gerechtigkeit hindeuten. 3O Aber Recht, Politik und "allgem~iner Wille" des Staates werden nicht im Allokationskontext überprüft. Sie bleiben ein hierarchisch gegliederter Ordnungszusammenhang, innerhalb dessen an die Wirtschaft wohl Forderungen gestellt, aber keine Lösungen erarbeitet werden, so daß Hegel, letztendlich ratlos, Aporien feststellt. "In dem Dilemma zwischen einer die reichen Klassen belastenden Sozialpolitik, die mit bewußtem Verzicht auf entsprechende Arbeitsleistung der anwachsenden Armut aus dem akkumulierten Sozialprodukt zu steuern sucht, und einer auf Erweiterung der Produktion bedachten Wirtschaftspolitik, die neue Arbeitsgelegenheiten zu schaffen sucht, sieht Hegel Gefahren auf beiden Seiten. Geht im ersteren Falle 'das Gefühl der Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre' verloren, so wird im zweiten Falle 'die Menge der Produktionen vermehrt, in deren Überfluß und dem Mangel der verhältnismäßig selbst produktiven Konsumenten gerade das Übel besteht, das auf beide Weisen sich vergrößert' (R.§ 245),,~1 Hegel hat ein oft zitiertes Bild entworfen, das die Dichotomisierung der bürgerlichen Gesellschaft aufzeigt: "Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befmdet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. - Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhanges der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer - denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen - auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit der Abhängigkeit und Not der Empfmdung und des Genusses der weiteren Frei29 Kraus S. 22. 30 Kraus S. 22; siehe auch: Hege) (I) § 229. 31 Kraus S. 26.
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heiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt" .32 Die Beschreibung der längerfristigen Wachstumseffekte der bürgerlichen Gesellschaft in § 243 ist die strengste Smith-Kritik, die wir bei Hegel finden: I. Erstens wird hier die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt, wie sie sich entwickeln würde, wenn der Staat nicht regulierend eingriffe - nämlich bei "ungehinderter Wirksamkeit" des Systems der Bedürfnisse, des Marktes.
11. Zweitens stellt die scheinbar objektive Entwicklung der Einkommensdisparitäten im Zusammenhang mit dem dem Zitat folgenden § 244 ein politisches Argument vor, das - besonders im Zusatz zu § 244 - die Furcht vor dem wirtschaftlich erzeugten "Pöbel" mit der Furcht vor Revolution konnotiert 33_ eine ganz der aristotelischen Tradition der politischen Theorie verpflichtete Verknüpfung von Fragen der Vermögensstruktur und -verteilung und von politischer Stabilität.34 Zwar steige der Reichtum im allgemeinen, aber er verteilt sich ungerecht, erzeugt eine wachsende Öffnung der Einkommensschere von arm und reich. Diese Smith-kritische Version impliziert, daß der allgemeine Reichtumszuwachs einseitig ein Zuwachs der Gewinne der reichen Erwerbsgruppe ist. Die gedoppelte Allgemeinheit ist der Kern der Argumentation. Hegel trennt hier den Smithschen Marktallokationszusammenhang in zwei disparate Bestandteile auf: 1. in die "Verallgemeinerung des Zusammenhanges der Menschen durch ihre Bedürfnisse" - eine bedarfsdeckungswirtschajtliche Perspektive, und 2. in die 'Weisen, die Mittel für diese (Bedarfsdeckung; B.P.) zu bereiten
32 Hegel (I) § 243. 33 "Die niedrigste Weise der Subsistenz, die des Pöbels, macht sich von selbst: ( ... ) Die Ar· mut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesell· schaft, die Regierung usw. Ferner ist damit verbunden, daß der Mensch, der auf die Zufälligkeit angewiesen ist, leichtsinnig und arbeitsscheu wird, wie z.B. die Lazzaroni in Neapel. Somit ent· steht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht. Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende." (He. gel (I) Zusatz zu § 244). 34 Siehe dazu: Priddat (IV).
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und herbeizubringen" - eine gelderwerbswirtschaftlichtf5 Perspektive, genauer: die Smithsche Kapitalakkumulation, denn die angesprochenen "Mittel" sind die Kapitalien. Erst dieser spezifische kapitalwirtschaftliche Modus der neuen Ökonomie bzw. die Kombination bei der Wirtschaftsformen erbringt den "größten Gewinn". Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß Hegel einen normalen Gewinn ebenso für selbstverständlich erachtet36 wie eine effiziente Versorgungswirtschaft, die alle vernünftigen Bedürfnisse erfüllt. Eine solche Konklusion schließt wieder zwei Tatbestände ein: a) daß die Armen nur ein Subsistenzeinkommen haben. Lohn- und Einkommenssteigerungen sind in diesem ökonomischen Konzept nicht vorgesehen bzw. kontingente Ereignisse. b) So geraten die Armen, wenn sie - als unselbständig Beschäftigte - keine Arbeit haben oder - bei kleinen selbständigen Handwerkern - wenn der Absatz ihrer Produkte zurückgeht, in Existenznot. Hegel jedenfalls sieht keine ökonomische Lösung, wenn er über die längerfristige Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft raisonniert. Zwar ist auch die englische Klassik im Prinzip eine Theorie kurzfristiger Marktanpassungen von Kapital und Beschäftigung. Über diesen Gesichtspunkt hinaus aber war ihr "eine wachsende Wirtschaft die unabdingbare Voraussetzung, um das Los gerade der Ärmsten der Armen zu verbessern. Nur dann nehme die Nachfrage nach Arbeitskräften schneller zu als das Angebot und nur dann sei mit Lohnaufbesserungen zu rechnen. Diese Auffassung wurde allgemein von den zeitgenössischen Nationalökonomen geteilt; sie gilt sozusagen als die Auffassung der englischen Klassiker schlechthin"?? Hegel bleibt diese smithianische Wachstumsvision fremd. 38 Seine Einsichten in die Smithsche Ökonomie führen ihn nicht zu deren Aussichten.
35 "Man kann unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten wirtschaften. Einmal zur Dekkung eines gegebenen eigenen Bedarfs. ( ... ) Gegenüber der Wirtschaft zur Deckung des eigenen Bedarfs ist die zweite Art des Wirtschaftens Wirtschaft zum Erwerb: die Ausnutzung des spezifisch ökonomischen Sachverhalts: der Knappheit begehrter Güter, zur Erzielung eigenen Gewinns an Verfügung über diese Güter" (Weber S. 199 f.; ebenso S. 31 und S. 500). Siehe auch das Weber/Sombart-Kapitel in Priddat (11). 36 Hegel (IX) S. 530. 37 Starbatty S. 112; siehe dazu auch: Richardson S. 350ff. 38 Siehe dazu später noch Teil 6. 3 (nebst dem Exkurs) dieses Buches.
5. Kontingenz und Sicherheit Die bürgerliche Gesellschaft steht bei Hegel in der Verpflichtung dessen, was vordem und traditionell die Versorgungsaufgabe der Familie war. "In der bürgerlichen Gesellschaft wird dieses (familiale; B.P.) Verhältnis ein andres. Indem sie das Vermögen der Individui ausmacht, so hat sie zuerst die Pflicht, dafür zu sorgen, daß demselben diese Möglichkeit erhalten wird. Dies ist die höhere Sorge, welche der Verwaltung obliegt. Sie hat dafür zu sorgen, daß den Individuen Möglichkeit gegeben ist, durch Arbeit das Ihrige zu verdienen. Wenn Arbeitslose vorhanden sind, so haben diese ein Recht zu fordern, daß ihnen Arbeit verschafft wird. Die bürgerliche Gesellschaft hat aber dann ferner die unbedingte Pflicht, für das Individuum, welches unfähig ist, sich zu erhalten, Sorge zu tragen"~ Hegel formuliert ein Subsidaritätstheorem,2 in dem die höhere Ebene jeweils die Versorgungsaufgaben zu übernehmen hat, die die niedere nicht zu erfüllen im Stande ist. Damit ist zugleich umgekehrt gesagt, daß kein polizeioder staatswirtschaftlicher Eingriff erfolgen darf, wenn die untergeordnete Ebene ihre Versorgungsaufgabe selbständig lösen kann. Das Bedarfswirtschaftsprinzip dominiert, aber es wird geöffnet für die Hereinnahme der neuen Markt-Erwerbs-Wirtschaftsform, solange die Marktallokation die ihr gestellte höhere Norm zu erfüllen in der Lage ist. Im Falle ihres Versagens allerdings treten höhere Instanzen in kraft. Das Problem, das sich Hegel damit stellt, ist die auf dem analytischen Niveau der modernen Ökonomie nicht mehr rückgängig zu machende Frage nach der ökonomischen Kompetenz der das Marktversagen kompensierenden Instanzen. Zwischen den rechtlichen Versorgungsansprüchen und den ökonomischen Realisierungsformen ist nicht mehr frei zu entscheiden, dajede andere Beschäftigungs- und Einkommensverteilung die Kenntnis und Abschätzung der längerfristigen Wirkungen dieser Maßnahmen erfordert, bevor man behaupten kann, daß sie eine wirkliche Kompensation darstellen. Doch stellt 1 Hegel (111) S. 192; siehe auch: Hegel (IX) S. 530. Das Recht auf Arbeit ist eine Spezifikation des Rechtes auf Subsistenz seit der Französischen Revolution; siehe dazu: Baruzzi S.26ff. 2 Siehe dazu andeutungsweise: Maier S. 237.
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sich Hegel diesem Problem, wie wir sehen werden, nicht. Er schreibt, wie sich immer wieder vergegenwärtig werden muß, keine Ökonomie, sondern eine Rechtsphilosophie, die die rechtlichen Bedingungen jeder Ökonomie untersucht. So hat die Polizei (d. h. die administrative Repräsentation des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft) die Versorgungsaufgabe der Familie im Prinzip weiterzuführen, wenn dem System der Bedürfnisse seine Vermittlungen nicht gelingen. Diese Subsidaritäts-Logik ist cameralistischen Ursprungs; der Markt erscheint als ein Versorgungsinstitut unter anderen, der Staat als das allgemeine. Ist der Staat bei Hegel ein Versorgungsinstitut, wie es in der Sentenz "die Polizei ist eine Vorsehung,J- zum Ausdruck kommt? Die Verpflichtung des Staates, dem Recht auf Arbeit Realität zu verschaffen, kann mit dem Hinweis auf die ältere, cameralistisch-polizeiliche "Nahrungssorge" des Landesvaters für seine Landeskinder nicht erschöpfend erklärt werden. Der Pflicht der Gesellschaft korrespondiert ein Recht auf Arbeit. Hegel gibt diesem Recht eine (naturrechtskonforme) Begründung aus dem "Recht zu Leben",4 das in dieser Form das allgemeinste Menschenrecht darstellt. Das Recht auf Arbeit wird als sittlich-allgemeine Forderung an die Ökonomie herangetragen. 1817/18 begründet Hegel das Recht auf Arbeit durch eine appropriatioFormel, die - ähnlich der John Lockes - den Menschen gestattet, um zu leben, durch Arbeit Eigentum zu schaffen. Da aber die Erde längst schon vollständig in Besitz genommen ist, kann das Appropriationsrecht, über Locke und über das Grundeigentum hinaus,5 sich nur auf das gesellschaftliche Vermögen richten.6 Diese Formel ist hochbedeutsam. Sie besagt, daß das Recht auf Vermögen in einer Industriewirtschaft nicht mehr auf die Sicherheit des agrarischen, "natürlichen" Einkommens aus Grund und Boden zu bauen sei, sondern auf das der Arbeit, was die rechtliche Forderung an die Wirtschaftsordnung stellt, nunmehr das "allgemeine Vermögen" der bürgerlichen Ge3 Hegel (VI) S. 588. 4 Hegel (IV) S. 160. 5 Zu Lockes ökonomischer Konzeption siehe: Priddat (III). 6 "Das allgemeine Vermögen der Gesellschaft macht für den Einzelnen die Seite der unorganischen Natur aus, und diese soll sich ihm so präsentieren, daß er sie in Besitz nehmen kann; denn die ganze Erde ist okkupiert, und dadurch ist er an die bürgerliche Gesellschaft gewiesen, denn an der Erde hat er ein Recht dadurch, daß er das Recht des Lebens hat." (Hegel (IV) S. 16Of.).
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seIlschaft als allgemeinen Fond der Einkommen genauso zu handhaben wie das "natürliche" Einkommen: maßvoll und gerecht (wenn das formelle Recht reell werden soll). In dieser rechtlichen Ausgangsbestimmung hat die Kritik Hegels an der "Zufälligkeit" der marktwirtschaftlichen Einkommensentstehung und -verteilung einen ihrer wesentlichen Gründe. Das Recht auf Arbeit begründet sich auf die aus dem allgemeineren Recht auf Leben legitimierte Teilhaberschaft am allgemeinen Vermögen. In der zitierten Passage ist von ökonomischen Gründen keine Rede und, in Hinblick auf die Rezeption der englischen modernen Ökonomie jener Zeit, keine Konkretisierung des Smithschen kapitalwirtschaftlichen WachstumsmodeIls zu sehen. Das dynamische Verhältnis von Kapitalinvestition, Lohnerhöhung, Nachfragesteigerung, verbunden mit Beschäftigungs- und Populationsanstieg,7 das in Smiths Ökonomie Vollbeschäftigung zu erreichen verspricht, wird von Hegel nicht in Anspruch genommen. Hegel redet nur allgemein vom Anstieg der Bevölkerung und der Industrie, damit des Reichtums, nicht aber von einem allgemeinen Anstieg der Einkommen.8 Die Möglichkeiten steigender Arbeitsnachfrage9 - als endogenes Ergebnis der Wachstumsdynamik - bleiben bei Hegel oberflächlicher Schein der Marktbewegungen, die in Wirklichkeit - durch ihren industriellen Trend zu erweiterter Arbeitsteilung und technischem, arbeitsersetzenden Fortschritt10 - zunehmende Arbeitslosigkeit hervorrufen. Von Anfang an verfolgt Hegel diese Linie: "Die Vereinzelung der Arbeit vergrößert die Menge des Bearbeiteten; an einer Stecknadel arbeiten in einer englischen Manufaktur 18 Menschen (am Rande: Smith S. 8); jeder hat eine besondre und nur diese Seite der Arbeit; ein Einzelner würde vielleicht nicht 120, nicht eine machen können; jene 18 Arbeiten unter 10 Menschen verteilt, machen 4000 des Tages; aber auf die Arbeit dieser zehn, wenn sie unter 18 arbeiten, würden 48000 in einem Tag (kommen). Aber in demselben Verhältnisse, wie die produzierte Menge steigt, fällt der Wert der Arbeit. Die Arbeit wird um so ab7 Lowe (1) S. 193ff. Letztlich ist es im Smithschen System "die Attraktion zusätzlicher Arbeitskräfte im Rahmen der unterstellten Technologie, die ein dynamisches Gleichgewicht garantiert und jede Diskrepanz zwischen Faktomachfrage und Faktorangebot ausschließt. Wachsende Produktivität ruft wachsende Beschäftigung und wachsendes Einkommen hervor und schafft sich damit ihre eigene Nachfrage" (Lowe (I) S. 199). Siehe ebenso: Eltis (I), Eltis (11) und: Samuelson. 8 Die Differenz von Reichtum und Einkommen, die hier angedeutet ist, bezeugt einen Einfluß Says (und Simonde de Sismondis; siehe dazu Abschnitt 6.4.1 dieses Buches). 9 Lowe (I) S. 194ff. 10 Siehe dazu: Hegel (11) S. 33lff. und ebenso: Hegel (IV) S. 167.
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Kontingenz und Sicherheit solut toter, sie wird zur Maschinenarbeit, die Geschicklichkeit des Einzelnen um so unendlich beschränkter, und das Bewußtsein der Fabrikarbeiter wird zur letzten Stumpfheit herabgesetzt; und der Zusammenhang der einzelnen Art von Arbeit mit der ganzen unendlichen Masse der Bedürfnisse (wird) ganz unübersehbar und eine blinde Abhängigkeit, so daß eine entfernte Operation oft die Arbeit einer ganzen Klasse von Menschen, die ihre Bedürfnisse damit befriedigen, plötzlich hemmt, überflüssig und unbrauchbar macht".u
Hier ist - 1803/04 - allerdings noch nicht, wie später dann 1817/18 und 1821 in der Rechtsphilosophie, von der Ersetzung der Arbeit durch Maschi-
nerie12 die Rede, sondern nur von der Wertminderung der Arbeit: d. h. von der Senkung des Lohnes bis zur totalen DequalifIkation, bis zur Arbeitslosigkeit (im erlernten Beruf). Die "blinde" Abhängigkeit13 - ein neues Prädikat Hegels für die "invisible hand" Adam Smiths - erscheint als Ursache dafür, daß Arbeit und Bedürfnisse, Produktion und Konsumtion nicht ins Gleichgewicht geraten können. Die zwei Seiten der modernen Ökonomie: Gemeinschaftlichkeit durch Marktallokation und Abhängigkeit von ihren Verteilungsergebnissen verleiten - zusammen mit der "Blindheit" bzw. "Unübersichtlichkeit" dieser Allokation - dazu, einer richterlichen Instanz die Übersicht und die Regierung zuzuweisen - dem Staat bzw. der Polizei. Das Marktsystem gewährt wohl formelle, aber keine reelle Freiheit. Den "Gelderwerb als ruhige Leidenschaft",14 wie A.O.Hirschman die neue Tugendlehre des Handels des 18. Jahrhunderts charakterisierte, fmden wir bei Hegel wieder der älteren moralphilosophischen Skepsis anheimgefallen - ein Phänomen, das um 1800 weder auf Hegel noch überhaupt auf Deutschland beschränkt ist?5 11 Heget (11) S. 333f. Was hier wie Marx' Begriff der "toten Arbeit" erscheint, weist bei Heget aber nicht auf eine Arbeitswerttehre (Landau S. 182): siehe dazu in der Rechtsphilosophie von 1821 § 63 (inklusive des Zusatzes) und § 196. Ebenfalls dazu: Winflied (I) S. 11Iff. und: Winfietd (11) S. 46. 12 Heget (IV) S. 127 und S. 167; ebenso: Heget (I) § 198. 13 Heget (X) S. 91. 14 Hirschman (I) S. 72ff. 15 "About 1789, a wedge was driven through this bourgeoning universe (der Theorie eines "commercial humanism" im 18. Jahrhundert; B.P.), and rather suddenly we begin to hear denunciations of commerce as founded upon soullessly rational calculation and the cold, mechanica1 philosophy of Bacon, Hobbes, Locke and Newton. How this reversal of strategies came about is not at present weil understood. lt may have had to do with the rise of an administrative ideology, in which Condorcet, Hartley, and Bentham tried to ereet a science of legislation on a foundation of highly reductionist assumptions." (Pocock S. 50).
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Hegel erklärt: "Das Bedürfniß und die Arbeit in diese Allgemeinheit erhoben bildet so für sich in einem großen Volk ein ungeheures System von Gemeinschaftlichkeit, und gegenseitiger Abhängigkeit; ein in sich bewegendes Leben des Todten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und her bewegt, und als ein wildes Thier einer ständigen Beherrschung und Bezähmung bedarf,.16 Auf verschiedenste Weise kommt Hegel auf das Phänomen der Marktbewegungen, des für ihn vemunftlos Zufälligen, der Unsicherheit des Markthandelns unter dem Gebot der allgemeinen Versorgung zurück. 17 "Das wilde Thier" ist der Leviathan, der im "Kampf um Anerkennung" den Staat ausbildet18 - "die absolute Regierung ist die ruhende Substanz der allgemeinen Bewegung".19 In der Rechtsphilosophie von 1821 scheint diese emphatische Beschreibung von 1803/04 verschwunden zu sein, aber in der Griesheim-Nachschrift von 1824/25 wird das alte Thema wieder - ausdrücklich zur Definition der Wirtschaftstheorie - in den Kommentar aufgenommen: "Was vorliegt sind lauter Zufälligkeiten, lauter Willkür, aber dieß allgemeine Wimmeln von Willküren erzeugt aus sich allgemeine Bestimmungen, sie werden regiert und gehalten von einer Nothwendigkeit, die von selbst da hineintritt. Dieß Nothwendige darin aufzufassen, zu erkennen ist Gegenstand der Staats-Oekonomie. Es scheint z. B. der Preis der Arbeit, 16 Hegel (11) S. 334. 17 "Der Wert (der Totalität der Befriedigung) selbst hängt vorn Ganzen der Bedürfnisse
und vorn Ganzen des Überflusses ab; und dieses Ganze ist eine wenig erkennbare, unsichtbare, unberechenbare Macht, darum, weil sie in Beziehung auf die Quantität, eine Summe unendlich vieler Einzelheiten ist und in Beziehung auf die Qualität aus unendlich vielen Qualitäten zusammengesetzt ist. Diese Wechselwirkung des Einzelnen auf das Ganze, was aus dem Einzelnen besteht, und des Ganzen wiederum als Ideelles auf das Einzelne, als den Wert bestimmend, ist ein beständig auf- und niedersteigendes Wogen, in welchem die Einzelheit, bestimmt durch das Ganze als einen hohen Wert habend, seine Masse anhäuft, und dadurch ein Überfluß ins Ganze des Bedürfnisses aufgenommen wird" (Hegel (X) S. 90; siehe auch S. 95). Das "Ganze der Bedürfnisse" ist die Nachfrage, das "Ganze des Überflusses" - ein Terminus der surplus-Theorie ist das Angebot; die Schwankungen sind die konjunkturellen Bewegungen der Mengen und Preise ("das unendliche Schwanken im Wert der Dinge" (Hegel (X) S. 95)) - in philosophischer, nicht in ökonomischer Terminologie.
18 "In diesem System erscheint also das Regierende als das bewußtlose, blinde Ganze der Bedürfnisse und der Arten ihrer Befriedigungen. Aber dieses bewußtlosen, blinden Schicksals muß sich das Allgemeine bemächtigen und eine Regierung werden können." (Hegel (X) S. 91). 19 Hegel (X) S. 85; siehe auch: "Die Sittlichkeit ist daher den Völkern als die ewige Ge-
rechtigkeit, als an und für sich seiende Götter vorgestellt worden, gegen die das eitle Treiben der Individuen nur ein anwogendes Spiel bleibt." (Hegel (I) Zusatz zu § 145).
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der Preis der Industrie Artikel, der natürlichen Lebensmittel nur von der Zufälligkeit abzuhängen, es erscheint Alles in seinem unmittelbaren Dasein willkürlich und doch bestimmt sich alles auf nothwendige Weise. Die Staats-Oekonomie ist so eine interessante Wissenschaft die dem Gedanken Ehre macht, indem er aus dieser Masse von Zufälligkeiten die Gesetze fmdet".2O Die Gesetze, die die Ökonomie als Wissenschaft fmdet, sind aber nicht dem einzelnen, praktischen Verstand offenbar. Was 1802/03 im "System der Sittlichkeit" als das "bewußtlose, blinde Ganze der Bedürfnisse und der Arten ihrer Befriedigung" vorgestellt wurde, deren "Möglichkeit des Erkennens C...) nur des Grades fähig,,21 ist, wird in der Nachschrift von 1824/25 noch schärfer unterschieden: "Wie es einerseits das Versöhnende ist, in der Sphäre der Bedürfnisse (d. h. in der ökonomischen Sphäre; B.P.) dieß in der Sache liegende und sich bethätigende Scheinen der Vernünftigkeit zu erkennen, so ist umgekehrt dieß das Feld, wo der Verstand der subjektiven Zwecke und moralischen Meinungen seine Unzufriedenheit und moralische Verdrießlichkeit ausläßt. Er ist mit allgemeinen Maximen gegen die Willkür gekehrt, gegen die Zufälligkeit, hält sich bloß an diesen, stellt ihr das Moralische entgegen und sieht im ganzen System nur Willkür und Zufälligkeit, ohne das Scheinen der Vernünftigkeit darin zu erkennen".22 Die "Vernünftigkeit" der Marktökonomie ist nur ein "Scheinen", dem die Bedürfnisvermittlung nicht immer gelingt, weshalb - als Repräsentant der "allgemeinen Vernunft" - der Staat dann einzugreifen habe, wenn der Markt versagt. Das Individuum "selbst ist es was sich als Meister haben will in diesem Felde, seiner Thätigkeit soll ein freies Feld eröffnet sein und hier ist dieß freie Feld. Jedes Individuum ist in dieser Rücksicht auf sich selbst gestellt und das Maaß hat das Subjekt nach seiner Konduite zu fmden, eine denn noch nöthige Hilfe ist zu suchen in dem Allgemeinen, in der gemeinsamen BesorlnIDg in Rücksicht auf diese Sphäre, in den Korporationen, der Polizei".23"' Die Freiheit der Individuen soll unangetastet bleiben. Nur wenn sie ihr "Maaß" nicht finden, hat der Staat einzugreifen. Staat, Polizei und Korporationen sind stellvertretende Institute einer noch nicht institutionalisierten reellen Allgemeinheit bzw. der Sittlichkeit. Diese Legitimation des Staates und 20
Heget (VI) S. 487.
21 Heget (X) S. 91. 22 Heget (VI) S. 487; identisch mit einem Teil von Heget (I) § 189. 23 Heget (VI) S. 495.
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der gesellschaftlichen Instanzen von Polizei und Korporation zur Produktion meritorischer Güter24 ist nicht als eine Art staatswirtschaftlicher Erstellung zusätzlicher Güter für zusätzliche Bedürfnisse zu verstehen, sondern bei Hegel ausdrücklich Kompensation von Marktversagen. Es kommt Hegel besonders auf die Gründe an, die eine "gemeinsame Besorgung" durch Polizei und Korporation nötig machen können: dann nämlich, wenn die Verfolgung privater Zwecke kein sittlich qualifIziertes Wohlfahrtsresultat mehr erbringt, weil das Betragen bzw. die Haltung der Wirtschaftssubjekte nicht mehr sittlich bestimmt wird.2S Unter dieser Generalperspektive sind die genaueren ökonomischen Gründe des Marktversagens für Hegel von geringerer Bedeutung, wenn sie auf einen unsittlichen Habitus - die Erwerbssucht bei den Reichen und die Asozialität und Gewalt des Pöbels bei den Annen - zurückgeführt werden können. Es ergibt sich die unbefriedigende Konstellation, sachliche Gründe ökonomischer Analyse und Kritik nur soweit anführen zu brauchen, wie es zum Aufweis unsittlicher Institutionen und Handlungszusammenhänge nötig zu sein scheint. "Die Besonderheit für sich ist das Ausschweifende und Maßlose, und die Formen dieser Ausschweifung selbst sind maßlos. Der Mensch erweitert durch seine Vorstellungen und Reflexionen seine Begierden, die kein geschlossener Kreis wie der Instinkt des Tieres sind, und führt sie in das schlecht Unendliche. Ebenso ist aber auf der anderen Seite die Entbehrung und Not ein Maßloses, und die Verworrenheit dieses Zustandes
24 "Die meritorischen Bedürfnisse schließen ihrer Natur nach eine Einmischung des Staates in die Konsumentenpräferenz ein." (Musgrave S. 15). 2S "Die Reichen werden leichtsinnig, wollen noch mehr gewinnen, wagen, der Neid, dem der Trieb der Gleichheit zum Grunde liegt, dieß Alles ruinirt viele Menschen." (Hegel (VI) S. 495). Der aristotelische Ton ist prägnanter noch in der Nachschrift von 1817/18 (Hegel (IV) S. 131) zu vernehmen:
"Der Handelsstand, dessen Geschäft die allgemeine Vermittlung als Tausch der bereiteten Mittel gegeneinander ist, häuft Reichtümer auf; der Reichtum hat keine qualitative Grenze in sich, die Sucht desselben geht daher ins Unbestimmte und veranlaßt seinerseits wieder die Vervielfältigung der Bedürfnisse und Mittel" - das ist identisch mit Aristoteles' pleonexia-Kritik aus ökonomischem (1.) Teil der "Politik". 1802/03 finden wir hierfür noch eine emphatische Rhetorik: "Der erste Charakter des Standes des Erwerbs, daß er einer organischen absoluten Anschauung und der Achtung für ein obzwar außer ihm gesetztes Göttliches fähig ist, fällt hinweg, und die Bestialität der Verachtung alles Hohen tritt ein. Das Weisheitslose, rein Allgemeine, die Masse des Reichtums ist das Ansieh; und das absolute Band des Volks, das Sittliche, ist verschwunden, und das Volk aufgelöst." (Hegel (X) S. 94).
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Kontingenz und Sicherheit kann zu seiner Harmonie nur durch den ihn gewältigenden Staat kommen".26
Ist der Staat der (antike) Retter der modernen Entzweiung der Gesellschaft? Wenn es so erscheint, ist die Fragestellung selbst eine moralische, die der (antiken) pleonexia die andere, moderne Maßlosigkeit der Armut und Not parallel setzt. Damit argumentiert Hegel aber bereits nicht mehr im antiken Kontext, denn die individuelle Habsucht war kein Grund für die Armut, sondern für Untugend. Die Kausalrelation von 'maßlosem Reichtum/maßloser Armut' setzt voraus, daß die Wirtschaft der Gesellschaft als System verstanden wird, das wechselseitige Abhängigkeiten defIniert: d. h. als Allokationssystem. Aber - führt eh. Taylor an - "die bürgerliche Gesellschaft (ist) mit dem Problem konfrontiert, daß das zum Nutzen ihrer Mitglieder geschaffene ökonomische System weit davon entfernt ist, gänzlich durch automatische Mechanismen gesichert zu sein, trotz der guten Arbeit der 'unsichtbaren Hand'. Vieles kann fehlgehen, und die öffentliche Autorität muß im Namen des Nutzens der Individuen eingreifen".27
26 Hegel (I) Zusatz zu § 185. 27
Ch.Taylor S. 571.
5.1 Die Krisentheorie Zu den Ursachen der Krisen, die Arbeitslosigkeit erzeugen, zählt Hegel an erster Stelle den Umstand, daß das Nachlassen der Nachfrage nach bestimmten Produkten ganze Gewerbe in die Beschäftigungslosigkeit stürzen läßt: "Aber auch ganze Stände, ganze Gewerbszweige können in diese Armut fallen, wenn die Mittel, die dieser Teil der Menschen hervorbringt, nicht mehr abgehen, ihr Gewerbe ins Stocken gerät. In Rücksicht der Kombinationen, die der Einzelne nicht übersehen kann, muß nun der Staat sorgen".1J?, In ökonomischer Hinsicht sind zwei Aspekte besonders zu beachten: 1. ein Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf dem Gütermarkt, das 2. ein Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt verursacht. 29 Der Staat, der in dem obigen Zitat zur Intervention aufgefordert wird, hat beide Ungleichgewichte aufzuheben, und zwar in "Rücksicht auf die Kombinationen, die der Einzelne nicht übersehen kann", d. h. in besonderem Hinblick auf die Marktintransparenz und Informationsdefizite für die Gewerbe. Das ist noch ein cameralistischer Kammerton, wie K. Tribe ihn an Pufendorf für das 18. Jahrhundert zusammenfaßt: "Produktion und Tausch waren die natürlichen Eigenschaften einer menschlichen Form der Bedürfnisse, aber es war unnötig zu unterstellen, daß die Tätigkeit des Produzierens und Tauschens selbst einen Mechanismus besaß, der fähig war, eine optimale Ordnung des Wirtschaftslebens zu etablieren. Die Festlegung eines solchen Optimums und die Bereitstellung der Mittel, um es zu erreichen, war demzufolge als ausschließliche Aufgabe der Staatsregierung gedacht".3O Die Unberechenbarkeit des modernen Marktsystems, insbesondere unter
1J?, Hegel (IV) S 161; ebenso dort S. 133. 29 Wenn das Arbeitsangebot größer als die Arbeitsnachfrage ist, entsteht Armut. 30 .. Tribe (I) S. 30 (eigene Ubetsetzung; B.P.).
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Einbezug des internationalen Handels, gehöre zur Struktur dieser Wirtschaftsform: Die individuelle Handlungsfreiheit ist für Hegel zugleich ihre Negation, die die Erwartungen notwendig enttäuschen muß - es fehlen letztlich die institutionalisierten Gewißheiten, die individuelles wirtschaftliches Handeln und wirtschaftsgesellschaftliches Resultat als Einheit auffassen lassen. Ohne institutionelle Bindungen kann für Hegel das freie Handeln nur zufällige Ergebnisse erbringen, mit der Folge, daß die einen auf Kosten der anderen reüssierten. Das klingt wie die Übernahme einer älteren "merkantilistischen" Idee "der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen,,31- und findet 1802/03 seine Bestätigung: "Dieser Unendlichkeit (des Genusses im allgemeinen; B.P.) gegenüber steht die Besonderheit des Genusses und Besitzes, und da der mögliche Besitz, als welcher das Objektive der Potenz des Genusses ist, und die Arbeit ihre Grenze haben, ein bestimmtes Quantum, sind, so muß mit der Anhäufung des Besitzes an einem Orte derselbe an einem anderen Orte abnehmen" .32 Doch später, in der Rechtsphilosophie, wird dieser merkantilistische Topos mit den Mitteln der klassischen Ökonomie als Überproduktionstheorem formuliert. Daß der Staat (bzw. die Polizei in seinem Auftrag) das Gleichgewicht zwischen Produzenten und Konsumenten wiederherstellen soll,33 ist nicht nur eine Konsequenz aus der Kritik der autonomen Marktallokation, sondern zugleich ein Hinweis, auf welcher Ebene eingegriffen werden soll: an der Quelle der Arbeitslosigkeit, bei der Überproduktion. "Gleichgewicht" bezeichnet bei Hegel immer eine vernünftige Proportion von Arbeit und Bedürfnis; es ist kein ökonomischer Terminus, sondern ein rechtlich-normativer, der Rechtsansprüche mit Leistungspotentialen ins Verhältnis setzt. Es ist ein Ausdruck der abstrakten positiven Ökonomie Hegels oberhalb der konkreten ökonomischen Analyse (siehe Abschnitt 11). Die überproduktionstheoretische Begründung der Arbeitslosigkeit - wenn die hervorgebrachten "Mittel ( ...) nicht mehr abgehen" - ist in der anonymen Nachschrift von 1819/20 prägnant formuliert:
31 Montaigne, Essays, I, 21, zitiert nach: Oberfohren S. 24. 32 Hege! (X) S. 93. 33 Siehe: Hege! (I) § 236; ebenso: Hege! (IV) S. 159.
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"Es ist so zuviel Kapital vorhanden, und es wird mehr produziert, als die Nation verzehren kann. 34 Um dieses Überflusses willen muß die bürgerliche Gesellschaft suchen, daß sie ihren Handel ausbreite,,~5 "Eben die Armut der Arbeitenden besteht darin, daß das, was sie produzieren, keine Abnehmer fmdet".36 Deutlicher wird dies an anderer Stelle formuliert, aber mit einer unterkonsumtionstheoretischen Nuance: "Die Natur ist fruchtbar, aber beschränkt, sehr beschränkt, die Mittel der Menschen dagegen sind unendlich viel fruchtbarer, das durch die Arbeit hervorgebrachte Vermögen kann sich unendlich vermehren. An solchen Mitteln die hervorgebracht werden mangelt es nie, wohl aber an Konsumenten, an Bedürfnissen,,?7
Was hier für eine Unterkonsumtionserklärung38 gewonnen zu sein scheint, bleibt anderswo in ungeklärter Balance: "Die Menge der Produktionen wird dadurch vermehrt und das Uebel besteht grade im Uebermaß der Produkte und im Mangel der Konsumenten".39" In der veröffentlichten Fassung der Rechtsphilosophie von 1821 dagegen
fmden wir - im selben sachlichen Kontext - den "Mangel an Konsumenten"
34 Die gleiche Fonnulierung findet sich in Adam Smiths "Lectures of Jurisprudence" von 1766: "'Ibe consumptibility, ifwe may use the word, of goods is the great cause of human industry, and an industrious people will always produce more than they consume" (Smith (IV) S. 508). 35 Hegel (111) S. 199. 36 Hegel (III) S. 199. 37 Hegel (VI) S. 507. 38 Eine unterkonsumtionstheoretische Erklärung stellt auf einen Nachfragemangel ab, spezifischer aber auf einen Nachfragemangel der arbeitenden Klassen, d.h. auf eine Kritik der Subsistenzlohntheorie. Mit höheren Löhnen würde dem Elend der Arbeiter ebenso abgeholfen wie der Not der Produzenten, zuviel produziert zu haben. Bei Simonde des Sismondi liest es sich wie folgt: "Die Trennung von Eigentum und Arbeit hat zur Folge, daß nur die Einkünfte der Besitzenden steigen können; die der Arbeiter bleibt stets auf das Existenzminimum beschränkt. Infolgedessen ergibt sich daraus ein Mangel an Hannonie in der Nachfrage nach den Erzeugnissen. Mit einem gleichmäßigverteiiten Besitzstande und einem ungefähr gleichmäßigen Steigen der Einkommen würde auch eine gewisse Gleichmäßigkeit in der Vennehrung der Nachfrage Hand in Hand gehen." (Simonde: zitiert bei GidelRist S. 208). 39 Hegel (VI) S. 611; siehe ebendort auch S. 704f.; dagegen die Un;prungsfonnulierung in der "Rechtsphilosophie" von 1821 in Hegel (I) § 245, die anstelle der "Konsumenten" den Begriff der "produktiven Konsumenten" verwendet. Ist es nun eine Nachlässigkeit des Nachschreiben; oder eine Änderung des Konzeptes? "Produktive Konsumenten" ist ein Tenninus J.B.Says, den Hegel hier verwendet.
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durch die Formulierung des Mangels an "verhältnismäßigen selbst produktiven Konsumenten'.40 ersetzt. Der Begriff der "produktiven Konsumenten", den Hegel von J.B. Say übernommen hat,41 steht aber für den Investor, der sein Kapital nicht für den Konsum, sondern für die Ausweitung der Produktion verwendet. Was als ein Widerspruch erscheinen kann, ist logisch konsistent. Eine unterkonsumtionstheoretische Variante (im Sinne Simonde de Sismondis) gibt es bei Hegel nicht. Der "Mangel an Konsumenten" wird, als "Mangel an produktiven Konsumenten", zu einem Mangel an Investoren bzw. an Investivkapital. In diesem Fall bleibt die Analyse Hegels ganz in den Bahnen Says. Der Mangel an effektiver Nachfrage (A =FN) ist nicht identisch mit dem Mangel an Konsumnachfrage, sondern mit dem Mangel an Nachfrage nach Investitionsgütern. Doch fmdet sich keine Aussage Hegels, die auf diesen Tatbestand genauer hinweist. Denn auf der anderen Seite ist der "Mangel an Konsumenten" undifferenziert auf die Gesamtnachfrage bezogen. In dem obigen Zitat von 1819/20, wonach "die Armut der Arbeitenden darin besteht, daß das, was sie produzieren, keine Abnehmer findet", wird die Lösung der Überproduktion, da mehr produziert sei ("Überfluss"), "als die Nation verzehren kann", in der Ausweitung des Außenhandels gesucht~2 Dieses Theorem beschreibt den Kern dessen, was Hegel die Aporie der bürgerlichen Gesellschaft nennt. Die Nationalökonomie kann nicht das Einkommen schaffen, das das Überschußangebot abnimmt. Ziel der Exportlösung ist es, die "Armen wieder zur Arbeit und zur Möglichkeit, ihre Subsistenz zu gewinnen",43 zu bringen. Das dynamische Wachstumsgleichgewicht der Smithschen Ökonomie ist zwar nicht prinzipiell ausser kraft gesetzt. Für den internationalen Handelswettbewerb schließt auch Hegel ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage nicht aus. Insofern bleibt er - abstrakt dem Smithschen Konzept einer internationalen Wettbewerbsdynamik verhaftet. Aber mit der internationalen oder Außenhandels-Lösung wird die Beschäftigungsfrage völlig den "Zufälligkeiten" von im Prinzip uneinsehbaren Konstellationen preisgegeben; die "Menschen kommen auf eine äußerliche, empirische Weise zur AlIgemeinheit".44 Es bildet sich über diesen Prozeß 40
Hegel (I) § 245.
41 Siehe genauerTeil6.3 dieses Buches. 42 Hegel (III) S. 199. 43 Hegel (III) S. 199.
44 Hegel (111) S. 199.
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keine vom Staat getragene "allgemeine Sittlichkeit" aus. Reichtum und Tugend fallen auseinander.45 Das gewollte Resultat, Arbeit und Einkommen für alle zu erreichen, tritt ein, aber ohne besondere Rücksicht auf die sittliche Bildung der Wirtschaftsbürger, denn "diesem Übersichhinausgehen (der bürgerlichen Gesellschaft; B.P.) liegt nun unmittelbar die Gewinnsucht zum Grunde".46 Gehen wir aber wieder auf die ökonomische Struktur der Hegeischen Überproduktionskrise zurück. Ihre Ambivalenz zwischen dem allgemeinen Nachfragemangel (aller Konsumenten) und dem der "produktiven Konsumenten" (der Nachfrage der Investoren) weist darauf hin, daß Hegel zwischen Investitionsgüter- und Luxusgüternachfrage nicht besonders unterscheidet. In dem Zitat von 1819/20, in dem Hegel die positiven moralischen Effekte einer Luxusnachfrage betont,47 wird diese Nichtunterscheidung deutlich. Denn in derselben Nachschrift wird die "produktive Konsumtion", die explizite erst 1821 als Terminus auftaucht,48 bereits implizite, wie selbstverständlich verwendet:49 "Die Konsumtion soll überhaupt nicht blOß ein Negatives bleiben, sondern selbst wieder zur Produktion führen"~o Die DefInition ist so weit ausgelegt, daß beides - Investitionsgüter- wie Luxusgüternachfrage - umfaßt wird. In Hegels Augen sind beide Formen der Einkommensverwendung in der Lage, Beschäftigung zu schaffen: die Investition direkt, die Luxusnachfrage indirekt. Dennoch ist die Verteilung der Beschäftigungseffekte ungewiß. Während die Investitionen direkt Beschäftigung erwirken, ist die Luxusnachfrage möglicherweise auf Importe gerichtet, die eine nationale Überproduktion nicht kompensieren können. Die Exportlösung der Überproduktionskrise impliziert eine Reallokation der Produktionsfaktoren und eine neue Branchenverteilung. Hegel bleibt aber hierin völlig unbestimmt. Eine erhöhte Nachfrage nach inländischen Luxusprodukten braucht die Überproduktion der Manu45
Hegel sieht in der Internationalisierung des Handels nicht nur die negative, sondern auch eine positive Seite: "Es entsteht durch die Bedürfnisse und den Handel ein Weltinteresse; die Weltgeschichte zeigt die Seiten des sittlichen Ganzen, der Welthandel zeigt die Seiten des Verhältnisses als solche." (Hegel (111) S. 201). 46 Hegel (111) S. 199.
47 Siehe Abschnitt 3 dieses Buches. 48 Hegel (I) § 245.
49 Beide Begriffe ebenfalls in Hegel (VI) S. 610 und S. 611. 50 Hegel (111) S. 162.
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faktur- und Industriebranchen überhaupt nicht zu berühren, wenn verschiedene Güterqualitäten gemeint sind. Es wird nun folgender Gegensatz sichtbar: einerseits vom "Mangel der Konsumenten" im Sinne eines Mangels an effektiver Nachfrage, andererseits im Sinne eines Mangels an Investivkapital bzw. an Investoren zu reden, macht einen Gegensatz von Unterkonsumtions- und Überproduktionserklärung, der nicht den Eindruck erweckt, als ob Hegel eine bestimmte ökonomische Analyse vorzieht, sondern, im Gegenteil, die Heterogenität der ökonomischen Ursachen als besonderen Grund für das Versagen der modernen Wirtschaftsform annimmt. Zu den ökonomischen Ursachen der Überproduktion zählt noch ein dritter Grund, der in Hegels Krisentheorem aufscheint - eine Überkapitalisierung. Wenn die Arbeitenden für das, was sie produzieren, keine Abnehmer fmden, so läge das daran, daß "zuviel Kapital vorhanden (sei; B.,P.), und es wird mehr produziert, als die Nation verzehren kann".51 "Zuviel Kapital" heißt hier konkret: zuviel investiertes Kapital (und, möglicherweise, zuviel Geldkapital, das für investive Zwecke verliehen und nicht für (Luxus-)Nachfrage verausgabt wird). Da Kapitalinvestition auch für Hegel Beschäftigung impliziert, geht die Krisenaussage darauf hinaus, daß der Nachfragemangel das investierte Kapital nicht realisieren kann - und damit auch nicht die Arbeits-Vermögen. Die logische Konsequenz lautet: nicht die Höhe der Investitionen allein gewährleiste hohe Beschäftigung, sondern nur das Volumen derjenigen Investitionen, die langfristig ihr Angebot absetzen können. Das Wirtschaftssystem der bürgerlichen Gesellschaft könne zwar über hohe Gewinne und hohe Investitionsraten hohe Beschäftigungsraten erzeugen, wenn es aber kein Verfahren gibt, das Angebot und Nachfrage langfristig konstant ausgleicht, ist das temporär erreichte gestiegene Beschäftigungsniveau wieder gefährdet. Dem Wettbewerbsmarkt billigt Hegel nicht die Kompetenz zu, das gemeinte Gleichgewicht zu erreichen. Das "Zuviel" an Kapital interpretiert Hegel als Tatsache, daß "die bürgerliche Gesellschaft zu reich" sei, um der in ihr entstehenden Armut abzuhelfen. 52 Diese scheinbar paradoxe Formulierung gehört zum Krisentheorem dazu. Angesichts der Tatsache, daß die Arbeitenden arm, d. h. beschäftigungs- und einkommenslos, während manche Reiche zwar auch durch Konkurs ärmer, aber nicht unbedingt arm werden, und ein Rest der Reichen an 51 Heget (III) S. 199. 52 Heget (III) S. 199.
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der verbleibenden Produktion noch reicher wird,53 ist derjenige Reichtum, der trotz der resultierenden Armut bleibt und wächst, ein Luxus, den die bürgerliche Gesellschaft sich in sittlicher Hinsicht nicht gestatten dürfe. Dazu erinnern wir Hegels (ambivalente) Luxus-Definition, die aber in allen vorgetragenen Möglichkeiten immer darauf insistiert, daß nur der Luxus sittlich gerechtfertigt se~ der nicht auf Kosten der Arbeitslosigkeit anderer verausgabt wird. Umgekehrt gilt dann natürlich, daß jeder Luxus erlaubt sein muß, der Arbeit beschafft - Hegels ethische Pointe gegen die traditionelle, nur moralische Luxus-Kritik. Die Theorie der Überproduktionskrise ist letztendlich bei Hegel keine rein ökonomische Theorie, sondern eine - an einem ökonomischen Phänomen aufgezeigte - "unsittliche" Systemkonstellation der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten in gesamtgesellschaftlicher Verschwendung vergeudet, indem sie nur die KaEttal-Vermögen, nicht aber gleichgewichtig die Arbeits-Vermögen realisiert. "Zuviel Kapital", das zwar auf der einen Seite eine gestiegene Produktivität der Wirtschaft anzeigt, auf der anderen Seite aber eine dieser Produktivität nicht komplementäre Nachfrage, weist auf eine Entwertung der gesellschaftlichen Vermögen an Kapital und Arbeit. Wir werden in Abschnitt 6.3 auf Hegels Kapitaltheorie eingehen und zeigen, daß sie Smith umgeht und auf eine andere, nämlich auf eine Theorie des Volksvermögens abzielt?5 Wir haben bisher nur eine Komponente der Überproduktionskrisenerklärung erörtert: die Fehlallokation der Ressourcen durch Überinvestition in den einzelnen Branchen. Der Grund liegt für Hegel in der "Sucht des Gewinns",56 der dem zweiten Stand notorisch zukomme. Der Wettbewerbsprozeß des Marktes selektiert die gewinnsüchtigen Unternehmer ex post, so daß die großen Gewinnerwartungen ex ante, die viele ihr Kapital in die jeweiligen Branchen investieren ließe, zum Schluß ein doppeltes Ergebnis erbringen: 1. daß ein Teil der Unternehmer Absatz und Profit macht, während 53 Hegel (III) S. 194. 54 Das ist _ außerhalb der Hegeischen Konzeption, aber mit Blick auf sie - ähnlich RF.
Harrods Konzeption der "natürlichen Wachstumsrate": "Natural growth ( ... ) is conceived as a welfare optimum, in which resources are fully employed and the best available technology used." (Harrod S. 279).
55 Siehe später Abschnitt 6.4 dieses Buches. 56 Hegel (III) S. 266.
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2. ein anderer Teil auf den Status der Armen herabsinkt (Armut ist in diesem Zusammenhang ein Universalprädikat für jede wirtschaftliche Unselbständigkeit) . Diese Interpretation Hegels stellt auf das spezifische Verhältnis von Gewinnsucht und Unsicherheit - Hegels "Zufälligkeit des Erwerbs"- ab. Die "unsittlichen" Folgen der Arbeits- und Einkommenslosigkeit sind demnach systematische Folgen der Struktur der bürgerlichen Erwerbswirtschaftsform. Damit ist bei Hegel scheinbar eine andere Komponente der Überproduktionskrisenerklärun~ übergangen: So sehr Hegel die negativen Folgen der Maschinisierung,5 d. h. die arbeitssparenden Effekte der Maschinisierung auch kennt, so wenig werden sie unmittelbar für die Überproduktionstheorie verwendet. Die Maschinisierung dient Hegel vielmehr für die Beschreibung der Depotenzierung des Arbeits-Vermögens als "geistigem" Vermögen.58 Das Überproduktionskrisentheorem kommt ohne die Theorie eines arbeitssparenden technischen Fortschritts aus (ohne ihn auszuschließen). Wenn mehr produziert wird, als die Nation verzehren kann, ist zwar von einem Produktivitätseffekt die Rede, aber er braucht nicht aus dem technischen Fortschritt zu kommen; die organisatorischen Produktivitätseffekte zunehmender Arbeitsteilung reichen dafür völlig aus. Das Kapital, das "zuviel" vorhanden ist, ist nicht identisch mit einem in Maschinerie, sondern mit dem überhaupt investierten Kapital, d. h. vornehmlich mit dem in die Arbeiter verauslagten. Damit ist es klar, daß in dieser Version der Überproduktionskrisenerklärung an erster Stelle die aus dem gewinnsüchtigen Unternehmerverhalten hervorgehende Fehlallokation - das Ungleichgewicht zwischen Güter- und Faktormärkten - steht. Im Prinzip ist Hegels Analyse der Überproduktion/Unterkonsumtion denselben Schwierigkeiten verpflichtet, die jene Theorien haben, denen Hegel sie aller Wahrscheinlichkeit nach entnahm: der kritischen klassischen Ökonomie von Th.R. Malthus und J.c.L. Simonde (de Sismondi). Beide Ökonomen werden von P. Chamley als theoretische Ressource Hegels eher vermutet als nachgewiesen.59 57 Hegel (ßI) S. 159. 58 Denn das "Wesentliche, der eigentlich höhere Zweck der Arbeit, ist die Bildung, die für den Menschen daraus heIVOrgeht." (Hegel (III) S. 160). 59 Chamley (ßI); zu Malthus sagt er nur: "11 (Heget) ne eite pas Malthus" (Chamley (III) S. 133). Zu Simonde de Sismondi wird ein Indizienbeweis geführt: Hegel velWende den Begriff des Garantieeinkommens in der 1824/25-Nachschrift (Hegel (VI) S. 265) (Chamley (III) S. 133 und 138). Siehe dazu neuestens: Erdös S. 75ff.
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Dabei ist es offensichtlich, daß Hegels Vision der säkularen Stagnation, die auf die Überproduktions-!Unterkonsumtionserklärung baut, der kritischen Klassik seiner Zeit entspricht. Es gibt zwar keine unmittelbaren Hinweise, keine Zitate und nur wenige eindeutige semantische Homologien in Hegels Werk, aber der Typus der Überproduktions-!Unterkonsumtionserklärung weist auf Kenntnisnahme Hegels hin. In welcher Form Hegel davon Kenntnis erhalten hat, muß allerdings offen bleiben. Malthus, (z.T. auch Lauderdale), Owen und Simonde galten bis zu den klärenden Repliken Says und Ricardos als avancierte Kritiker des Smithschen (und des Sayschen) Oeuvres. Sie hatten Reputation. Sich auf sie zu berufen, war nicht nur ein Ausweis, sich mit der damals modernsten Ökonomie zu beschäftigen, sondern paßte Hegel durchaus in seine Steuartsche Disposition, das Gleichgewicht zwischen "Arbeit und Nachfrage" gesichert wissen zu wollen. "Malthus' Ansicht über das Krisenproblem ging dahin, daß infolge der Ungleichheit der Einkommensverteilung eine übermäßige Kapitalansammlung und Kapitalisierung der Profite stattfindet, die wiederum die Produktion stärker anwachsen lassen, als die Verbrauchsfähigkeit der Masse der Bevölkerung zunehmen kann".6O Was Malthus bereits 1798 gegen Smith einzuwenden wußte,61 hatte Simonde de Sismondi, in seiner Version, erst 1819 veröffentlicht.62 Während Malthus nur den klassischen Glauben an den Gleichgewichtsmechanismus der Marktwirtschaft bezweifelte, ging Simonde einen Schritt weiter und plädierte für Staatsintervention.63 Schumpeter wiederum bezweifelt, ob Malthus (und Simonde) überhaupt Krisentheorien erstellt haben und nicht vielmehr "Theorien der Stagnation und der langanhaltenden Arbeitslosigkeit"~ Das ist auch Hegels Sicht. Eine Krise im ökonomischen (konjunkturtheoretischen) Sinne ist bei ihm nicht formuliert, sondern, ähnlich wie bei einigen Spät klassikern, eine Stagnationstheorie. Hegel bezieht sich aber weder auf Malthus' Überbevölkerungstheorem noch auf Ricardos Theorie der sinken-
60
Stavenhagen S. 42.
61 Malthus (I); Malthus (11).
62
Simonde (de Sismondi), Noveaux Principes d'Economie politique, 2 Bde., Paris 1819 (nachdem er vorher" 1803, mit "La Richesse Commerciale" noch als Smithianer bekannt wurde).
63 Siehe dazu: Keller S. 99ff. 64
Schumpeter Bd. 1, S. 902.
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den Grenzerträge des Agrarsektors. Seine Vision der säkularen Stagnation die Aporie der bürgerlichen Gesellschaft, bei allem Reichtum das Problem der Armut nicht lösen, eher nur verschärfen zu können65 - beruht, wie wir zeigen werden, auf einer spezifischen normativen Disposition, die ökonomische Gründe wohl verwendet, nicht aber auf ihnen beruht. Malthus' Unterkonsumtionstheorie ist, nach Schumpeter, vom "Überspartypus": "Eine Stagnation tritt ein, wenn die Menschen so viel sparen und investieren, daß infolge des damit verbundenen Sinkens der Preise und Profite 'kein Anreiz mehr für eine weitere Produktionssteigerung besteht''',66 d. h. daß der Akkumulationsprozeß des Kapitals zum Erliegen kommt, auf dessen positive gesamtwirtschaftliche Effekte die klassische Ökonomie aufbaut. Eine ähnliche Erklärungsstruktur fmden wir in dem schon vorgebrachten Zitat aus der Nachschrift der Hegelsehen Rechtsphilosophievorlesung von
1819/20:
"Die Armut der Arbeitenden besteht darin, daß das, was sie produzieren, keine Abnehmer findet. Es ist zuviel Kapital vorhanden, und es wird mehr produziert, als die Nation verzehren kann. Um dieses Überflusses willen muß die bürgerliche Gesellschaft suchen, daß sie ihren Handel ausbreite".67 Die scheinbar paradoxe Formulierung, daß "zuviel Kapital" die Ursache sei für die Unfähigkeit, die Armut (qua Beschäftigung) aufzuheben, scheint mit dem Malthussehen Argument identisch zu sein, daß Preise (und damit die Kostendeckung) und Gewinnmöglichkeiten sänken, die Produktionsentwicklung stagniere und, in der Folge, erhöhte Arbeitslosigkeit eintrete. Die Betonung der fehlenden Nachfrage wäre dann so zu interpretieren, daß weder Investitionen noch (Luxus- )Konsum aus dem Sparfond getätigt würden. Hegel versagt sich aber im Gegensatz zu Malthus eine zusätzliche Nachfrage unproduktiver Konsumenten anzuregen. Doch sind Hegels ökonomische Gründe und Belege zu undifferenziert, um ihn der Rezeption einer der spätklassischen Stagnationstheorien eindeutig zuzuordnen. Die Hegelsehe Lösung der Überproduktionssituation durch Forcierung des 65
Hegel (I) § 245.
66 Schumpeter Bd. 1, S. 902f. (Schumpeter zitiert Malthus aus einem Brief; siehe Fn. 112 auf S. 903). Zu einer genaueren Darlegung der Malthusschen Überproduktionstheorie siehe: Von Bergmann S. 138ff.; zu der Schumpeterschen Aussage besonders S. 146f.; siehe auch: Starbatty S. l08ff.; ebenso: Spahn (I) S. 38ff.
67 Hegel (III) S. 199.
Krisentheorie
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(Außen-)Handels ist nicht von Malthus,68 eher eine ältere merkantilistische J. Steuarts69 oder, um einen der einfacheren Überproduktionstheoretiker herauszugreifen, von der Art H.Storchs: "Niemand wird in Abrede stellen, dass man, um verkäufliche Produkte herzustellen, nicht bloss die Mittel haben muss, dieselben zu erzeugen, sondern auch die Aussicht, dieselben zu verkaufen. Ebenso wie man nicht ohne Kapital produziert, so produziert man auch nicht ohne Nachfrage. Wenn nun jeder sein überflüssiges Einkommen ersparen wollte, wo käme die Nachfrage her, welche allein den Kapitalien Beschäftigung zu geben vermag? Sie könnte nur von auswärts kommen"!O Der AUßenhandel- wir kommen noch genauer darauf zurück - ist für Hegel eher ein Zeichen der Unfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Lebensgrundlagen für sich selbst zu lösen: d. h. nicht die vollständige Kompetenz einer wirklichen Gesellschaft und eines autonomen Staates zu haben, da eine Abhängigkeit von ausländischen Märkten und ihren Zufälligkeiten bliebe. Das "Zuviel" an Kapital, das Hegel konstatiert, ist fehlalloziierte Produktionskapazität, die auch durch Luxusnachfrage der inländischen Reichen nicht bedient werden kann. Das Malthussche "Überspar"-Argument, daß die Kapitaleigner weder zu investieren noch zu konsumieren geneigt sein könnten, greift nicht in Hegels Darstellung ein, da er den Reichen, wie wir noch sehen werden, durchaus den Hang zum Luxuskonsum nachsagt, ohne daß sich damit für Hegel die Aporie der bürgerlichen Wirtschaft auflöst. Hegels ökonomische Argumente sind eher denen der Ökonomie Simonde de Sismondis ähnlich: "Den Arbeitern fehlt die Kaufkraft, um die Erzeugnisse der Produktion aufzunehmen, während der Unternehmer und Kapitalist nicht sein ganzes Einkommen konsumiert, sondern einen Teil davon zurücklegt und durch dieses neugebildete Kapital die Produktion noch vergrößert. Damit hängt es auch zusammen, daß die Unternehmer, die im Inlande nicht den genügenden Absatz finden, den Versuch machen, auswärtige Märkte aufzusuchen, um dort ihre Waren zu verkaufen, eine Entwicklung, die aber 68 Malthus plädiert für eine Neuverteilung der Einkommensmöglichkeiten (Von Bergmann S. 154ff.) und für die Ausweitung des unproduktiven Konsums (S. 144f.), d.h. für inländische Nachfragehebung. 69 "Wenn das Angebot überwiegt, so muss die Ausfuhr gefördert werden" (Von Bergmann S. 12; aus: Steuart Bd. 1, S. 302ff. und Bd. 2, S. 298f.). 70 Storch (11) S. 160; zitiert nach: Von Bergmann S. 37. Storchs Argument steht hier repräsentativ für einen Argumenttypus jener Zeit, ohne daß damit irgendein direkter Zusammenhang mit Hegel angedeutet sein soll.
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für die heimische Industrie weit größere Gefahren in sich birgt, als der Absatz im Inland".71
Gegen Smiths Idee eines effizienten und selbstregulierenden Marktgleichgewichts setzt Simonde eine systematische Unterkonsumtionserklärung, deren Lösung letztlich nur durch Staatsintervention geschehen könne: Sie beruht auf der Annahme, "nach der kein Fortschritt in der Produktion von Nutzen ist, wenn ihm keine verstärkte Nachfrage vorausgeht. Die Konkurrenz ist wohltätig, wenn sie die Unternehmer dazu anspornt, die Erzeugnisse zu vermehren, um einer steigenden Nachfrage zu genügen. Im entgegengesetzten Fall ist sie von Übel. Denn wenn der Verbrauch stationär bleibt, so ist die einzige Wirkung der Konkurrenz, einem geschickteren Unternehmer oder einem, dessen Kapitalien größer sind, zu gestatten, seine Konkurrenten durch den niederen Preis zu ruinieren und sich ihrer Kundschaft zu bemächtigen; das Publikum aber hat keinen Vorteil davon, und nur zu oft bietet die Wirklichkeit dieses Bild; der Industrielle richtet sich nicht nach dem möglichen Vorteil der Allgemeinheit, sondern einzig und allein nach den Möglichkeiten, die sich ihm bieten, seinen persönlichen Gewinn zu vergrößern".72 Simonde übersieht hierbei, daß die Senkung der Güterpreise bei den Einkommen Kaufkraft freisetzt, die für andere Produkte die effektive Nachfrage erhöhen kann, so daß der Ausgleichsmechanismus, den Simonde an Smith und Say kritisiert, dennoch funktioniert. Simonde argumentiert bedarfs- bzw. versorgungswirtschaftlich, unter Auslassung der Innovation neuer Märkte. Die Differenzierungsleistung des Marktes bleibt unterbewertet: Er bedient nicht nur die vorhandene Nachfrage, sondern erzeugt neue. 71 Mombert s. 11 (siehe auch: Gidel Rist S. 208). Das Ungleichgewicht zwischen Produkti-
on und Konsumtion ist aber bei Simonde nur ein Aspekt der Krisenerklärung. Weitaus wichtiger ist ihm die Erklärung, warum die Arbeiter zu niedrige Löhne haben, um selbst die Nachfrage steigern zu können: sie stehen in Konkurrenz miteinander; durch arbeitssparende Maschinerie entstehe ein Arbeitsüberangebot (Gide/Rist S. 196f.). Vor Simonde hatte sehr viel stärker noch R Owen (1815, 1818) darauf verwiesen, "daß die herrschende Wirtschaftsordnung die Schuld an der Notlage der Arbeiterklasse trage. Die großen Fortschritte der Technik, die Einführung der Maschinen hätte die menschliche Arbeit entwertet, so die Kaufkraft der Arbeiterklasse herabgemindert, während die Produktionsleistungen gewaltig gestiegen seien. Als nach dem Aufhören der napoleonischen Kriege die Aufnahmefähigkeit der Absatzmärkte zurückging und nun die Produktion eingeschränkt werden mußte, behielt man die mechanische Kraft als die viel billigere bei und entließ die nun überflüssig gewordenen Arbeiter. So hing nach Owens Ansicht die damals herrschende Notlage der Arbeiter auf das engste mit dem Mißverhältnis von Produktion und Konsumtion zusammen" (Mombert S. 9). Ob hieraus, wie P.Chamleyes tat, allerdings ein Einfluß Owen's auf Hegel bestimmbar sei, muß offen bleiben. Die negativen Folgen der Mechanisierung sind ein viel erörterter Topos der Zeit.
72 Gide/Rist S. 199.
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Das Argument des Niederkonkurrierens fmdet sich bei Hegel häufig,73 aber es ist damit nicht gesagt, daß Hegel Malthus oder Simonde gekannt haben muß. Simondes Argumentation gibt dennoch einen wichtigen Hinweis auf Hegels Konklusion der Resultate der bürgerlichen Gesellschaft, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. In dem Moment, wo der Marktwettbewerb ein Verdrängungswettbewerb wird, entstehen monopolistische Strukturen als Ergebnis einer Erwerbssucht der Reichen. Hegels ökonomische Konzeption bleibt in letzter Instanz ambivalent. Das Faktum der mangelnden effektiven Nachfrage und das Faktum des "Zuviel" an Kapital werden nicht eindeutig in ökonomische Relationen aufgelöst. Die Nachfrage bleibt unspezifiziert. Wir werden sehen, daß sie bei Hegel - im Gegensatz zu Smith, wo die Nachfrage mit den im Rahmen der Produktivitätsentwicklung steigenden Lohneinkommen wächst - nicht aus dem Lohnfond stammen kann. Und wir werden sehen, daß auch der Luxuskonsum, den Hegel konstatiert, wenn er ihn kritisiert, nicht als Lösung des Nachfragemangels angesehen wird. Logisch bleibt nur die Möglichkeit, daß die Gewinne fehlinvestiert werden, d. h. in Produktionen, die im Wettbewerbsverlauf unrentabel werden, weil sie über die sinkenden Preise weder Gewinne noch Kosten erwirtschaften. Das Malthussche "Überspar"-Argument konnten wir ausschließen, da die vage Formulierung des "Zuviel" an Kapital immer im Zusammenhang mit der Produktion auftritt, d. h. als "Zuviel" an fehlinvestiertem Kapital, nicht aber an Sparfonds. Folglich kann Hegel für seine ökonomische Darstellung völlig auf die Interdependenzen von Güter- und Geldmarkt verzichten, d. h. auf die Zins-/Profitrelation. Sie wird bei ihm nirgends erörtert. Fehlallokationen der erwähnten Art zerstören nach Hegel das zur Norm erhobene Gleichgewicht von "Arbeit und Nachfrage"; die Produktionskapazitäten werden nicht ausgelastet, die investierten Kapitale nicht genutzt, die
73 "Indem sich hier Reichtümer sammeln, so wird durch die gesammelten Kapitalien die Möglichkeit zur Ausdehnung des Geschäfts noch vermehrt. Die Besitzer großer Kapitalien können mit einem geringem Gewinn zufrieden sein als die, deren Kapitalien geringer sind. Es ist ein Hauptgrund des großen Reichtums der Engländer" (Hegel (III) S. 194; ebenso dort S. 197: "Wenn die Waren wohlfeiler abgegeben werden, so werden dadurch die Gewerbe ruiniert"). "Je grö5ser ein Kapital ist, je grö5sere Unternehmungen sind damit auszuführen und mit um so geringerem Profit kann sich der Besitzer begnügen, wodurch wiederum das Kapital vergrössert wird. ( ...) Bei grosser Verarmung findet der Kapitalist viele Leute die für geringen Lohn arbeiten, dadurch vergrössert sich sein Gewinn und dieß hat wieder zur Folge daß die geringeren Kapitalisten in Armuth zurückfallen." (Hegel (VI) S. 609f.).
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Vermögen der bürgerlichen Gesellschaft nicht realisiert. Das ist die Zustandsbeschreibung, die in der eigentümlichen Formel von der Armut im Reichtum zum Ausdruck kommt.74 Die ökonomischen Gründe sind für Hegel Epiphänomene der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse, deren scheinbare ökonomische Notwendigkeit er als einen Zustand gesellschaftlicher Unbewußtheit und Unsittlichkeit charakterisiert. Die Unfähigkeit der geregelten Versorgung und der Stabilisierung der Lebensgrundlagen, die sich in den Krisenphänomenen zeigen, sind ihm Anlaß, die Marktwirtschaftsform der bürgerlichen Gesellschaft als eine unzuverlässige Institution zu· betrachten, der im Prinzip nicht durch ökonomische oder wirtschaftspolitische Initiativen, sondern durch Reflektion und Neuordnung der rechtlichen, politischen und sittlichen Institutionen zu begegnen ist. Hegel entwirft keine neue ökonomische Theorie (im Abschnitt System der Bedürfnisse der Rechtsphilosophie von 1821) und nur sehr bedingt eine Theorie der Wirtschaftspolitik (im Abschnitt Polizei), sondern sieht die Lösung in einer anderen Wirtschaftsverfassung (im Abschnitt Korporation).
74 Der Mangel an Nachfrage ist aber nur die eine Seite der Malthusschen Argumentation. Die andere Seite, die Angebotsknappheit, die in Form eines Mißverhältnisses von Bevölkerungsentwicklung und der langfristig begrenzten Nahrungsmittelproduktion als Malthus' Populationsökonomie berühmt geworden ist (siehe: Spahn (I) S.42 ff.), wird von Hegel nicht rezipiert.
5.2 Die Struktur der Hegeischen ökonomischen Analyse Hegels eher schlichte Gegenüberstellung von Überschußgüter menge und Konsumentenzahl - der "Mangel an Konsumenten" - ignoriert die Einkommensentstehungsanalysen der Ökonomie seiner Zeit, die das Verhältnis von Lohnhöhe, zahlungsfähiger Nachfrage, Beschäftigung und Produktionswachstum differenziert nach verschiedenen Sektoren untersuchen?5 Das scheinbar evidente factum brutum von Warenüberschuß und Konsumentenmangelläßt den Prozeßcharakter der modemen Wirtschaftsform übersehen: gegen Malthus' und später Simondes Behauptung eines allgemeinen Ungleichgewichtes weisen Say und Ricardo76 auf den Umstand hin, daß es jeweils nur partielle Ungleichgewichte zwischen Produktionsausstoß und Konsumentenpräferenzen geben könne77- eine allgemeine Stockung der Absatzwege sei undenkbar: "Man denke sich einen Menschen, der sehr geschickt und sehr fleißig ist, und alle Mittel besitzt, zu produzieren, Talent und Capitale; aber er sey 75 Für Th.RMalthus siehe dazu: Von Bergmann S. 138ff., bes. S. 143; für Smith siehe: Lowe (I). Siehe noch besonders die spätere Analyse der Smithschen Ökonomie im Text (Abschnitt 6.3 nebst Exkurs). 76 Ricardo S. 211f. 77 "In der gewöhnlich zitierten Form besagt das Saysche Theorem: Jedes Angebot schaffe sich eine eigene Nachfrage, die Vergrößerung des Angebots ziehe automatisch eine entsprechende Nachfrageausweitung nach sich" (Starbatty S. 106). Th. Sowell hat die Annahmen des Sayschen Theorems herausgearbeitet: "1. The total factor payrnents received for producing a given volume (or value) of output are necessarily sufficient to purchase that volume (or value) of output. 2. There is no loss of purchasing power anywhere in the economy, for people save only to the extent of their desire to invest and do not hold money beyond their transactions needs during the current period. 3. Investment is only an internal transfer, not a net reduction, of aggregate demand. The same amount that could have been spent by the thrifty consumer will be spent by the capitalists and/or workers in the investment goods sector. 4. In real terms, supply equals demand ex ante, since each individual produces because of, and to the extent of, his demand for other goods. 5. A higher rate of savings will cause a higher rate of subsequent growth in aggregate output. 6. Disequilibrium in the economy can exist only because the internal proportions of output differ from consumers' preferred mix - not because output is excessive in the aggregate" (SoweIl, S. 39ff.). In den ersten drei Positionen stimmten die klassischen Ökonomen mehr oder minder überein, aber an den letzten drei entlud sich die Kontroverse, besonders an der6., wie wir an Simonde sahen ( Sowell S.4Hf.).
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Kontingenz und Sicherheit der einzige gewerbfleißige Mann unter einem Volke, das, einige grobe Nahrungsmittel ausgenommen, nichts hervor zu bringen weiß: was soll er mit seinen Producten machen? - Er wird mit einem Theil davon die Quantität der ihm nöthigen gröbern Nahrungsmittel kaufen. Aber man setze, die Producte des Landes fangen an, sich zu vervielfältigen und zu vermannigfaltigen; augenblicklich wird er seine Producte unterbringen können, d. h. er wird sie gegen Dinge austauschen, theils um die Annehmlichkeiten seiner Genüsse zu vermehren, theils sich Vorräthe von Dingen zu sammeln, die er für nützlich hält. Was ich hier von einem gewerbfleißigen Manne gesagt haben, kann man eben so gut auf hundert tausend anwenden. ( ...) Hieraus folgt weiter, daß, wenn eine Nation zu viel Waaren von einer gewissen Art hat, das Mittel, sie los zu werden, darin besteht, daß sie daneben Waaren von einer andern Art erzeuge. Erst dann, wenn man keinen Gegenstand des Tausches im Lande mehr hervorbringen kann, wird die Ausfuhr vortheilhaft, oder auch, wenn sie ein Mittel ist, Producte zu kaufen, die das Land selbst nicht hervor zu bringen vermag. ( ...) Die vortheilhaftesten Verkäufe bleiben immer die, welche eine Nation unter sich selbst macht" 78
Says schlichte Feststellung impliziert, daß Produktion immer auch zugleich Konsumtion ist (daher die Unterscheidung zwischen "produktiver" und "unproduktiver" Konsumtion), was logisch den Schluß zuließe, daß eine partielle (genauer: sektorale) Überproduktion von Gütern ihre Ursache in einem (gesamtwirtschaftlichen) Mangel an Produktionen habe79 - mit der logischen Konsequenz, die Produktion auszuweiten, um die Gesamtnachfrage zu heben, wie McCulloch es 1821 auf den Punkt bringt: Der Zusammenbruch der Märkte sei "keine Konsequenz davon, daß die Produktion zu sehr, sondern daß sie zu wenig gestiegen sei", woraus er folgert: "Increase it more".80 Anpassungsprozesse von Kapital und Arbeit werden von Say und Ricardo wohl gesehen, aber nicht als manifeste, sondern als vorübergehende Erscheinungen betrachtet: Say und Ricardo wollen zeigen, daß die Nachfrage durch die Produktion, Malthus und Simonde, daß die Produktion durch die Nachfrage, insbesondere durch den Konsum begrenzt werde.81 Wenn die Nachfrage allein durch das Produktionsangebot limitiert ist, macht die theoretische Unterscheidung zwischen "produktiven" und "unpro78
Say Bd. I, S. 97f.
79 Siehe dazu die Ausführungen bei: Schumpeter Bd. I, S. 9Olf.
80
..
McCulloch S. 106f. (eigene Ubersetzung; B.P.).
81 Siehe dazu: Spahn S. 76f.
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duktiven" Konsumenten einen Sinn, weil die "produktive" Nachfrage mit der Neuinvestition identisch ist - J.B.Says berühmtes Gesetz, daß das Angebot sich seine eigene Nachfrage schafft.82 Die zweite, unterkonsumtionstheoretische Version bezweifelt, ob die "produktive" Konsumtion in der Lage sei, die wachsende Gesamtnachfrage, die zur Kontinuität dieses Prozesses notwendig ist, zu leisten, denn das hieße vorauszusetzen, daß alle Gewinne nicht nur gespart (Ausschluß der "unproduktiv" konsumtiven Verwendung), sondern auch reinvestiert werden würden. Akzeptiert man diese Bedingung nicht, bedeutet jedes Sparen einen Nachfrageausfall, der die in Hinblick auf die Kontinuität des Wachstumsprozesses ausgebauten Produktionspotentiale unterauslastet und devaluiert. Die "unproduktive" Konsumtion aus dem Gewinnfond ist ebenfalls eine Rückentwicklung der Kapitalakkumulation, die zwar durch Nachfrage in anderen Branchen ausgeglichen zu werden scheint, aber die Investitionsmöglichkeiten beschneidet. Malthus' Lösung, die unproduktive Konsumtion der unproduktiven Klassen zu fördern, betreibt eine Umverteilung der staatlichen, vornehmlich aber der agrarischen Einkommen in den Industriesektor. Hegels Rechnung ist - nach dem dargelegten Material - von einer anderen Schlichtheit: die Ausweitung der Produktion ermöglicht es zwar, größere Gütermengen auf dem Markt anzubieten, ohne aber die Zahl der Nachfrager genügend zu steigern. Hegels output-orientierte Betrachtungsweise vernachlässigt die inputs, die mit der Produktionsausweitung ebenfalls steigen. Nicht die Zahl der Nachfrager, sondern die Höhe der Nachfrage ist entscheidend. Die effektive Nachfrage ist nicht mit dem Konsum identisch. Selbst wenn die Zahl der Nachfrager konstant bliebe, ist sie zu differenzieren nach der Zahl der Konsumenten und nach der Zahl der Investoren. Wenn man, wie Hegel, den Konsumenten ein relativ konstantes Durchschnittseinkommen zuschreibt und selbst wenn man den Kapitaleignern ein nichtexzessives Konsumverhalten unterstellt, steigt die Nachfrage im Maße der Investitionszunahme. Der Nachfrageeffekt der Investitionen - auf den Say und Ricardo so sehr insistieren - ist von Hegel nicht ausreichend berücksichtigt. Das System der Bedürfnisse - nomen est omen - identifIziert in letzter Instanz die effektive Nachfrage mit den fInalen Konsumbedürfnissen, ohne die Produktionsbedürfnisse, die durch die Kapitalakkumulation sich beschleunigt ausweiten, 82 Unter der Bedingung, daß alle Faktoren des wirtschaftlichen Prozesses mobil und flexibel sind.
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systematisch zu berücksichtigen. So zwingt die rechtsphilosophische Logik, das Anwachsen der Produktionen als eine im Prinzip fehlgeleitete Bedarfsproduktion zu verstehen: nämlich als eine über das Gewinnmotiv vermittelte "Bedürfnisbefriedigung" der Produktionen selbst, anstatt auf den Bedarf aller Mitglieder der Gesellschaft ausgerichtet zu sein. Steuarts Gleichgewicht von "Arbeit und Nachfrage", das Güter- und Arbeitsmarkt uno actu behandelt, verleitet Hegel dazu, eine gleichgewichtige (d. h. in diesem Zusammenhang immer eine proportionale) Entwicklung von Produktion und Beschäftigung anzunehmen, d. h. das Spezifikum der Smithschen Kapitalwirtschaftstheorie außer Kraft zu setzen. Wegen der Produktivitätserhöhungen (durch effiziente, arbeitsteilige Organisation und Maschinisierung) erhöht sich die Beschäftigung nur unterproportional. Unter der Annahme, daß es weder Lohnerhöhungen (damit Steigerung der effektiven Nachfrage) noch genügend große Ausweitungen der Kapitalinvestionen in Produktionsunternehmen gibt, stehen sich im Endergebnis Güterüberschußmenge und ungenügende Konsumentenzahl gegenüber. Hegels ökonomischer Logik mangelt es an Einsicht in die ökonomischen Prozesse, die in der klassischen Ökonomie analysiert wurden. Zwei HauptdefIzite lassen sich benennen:
1. die Konstanz des Lohnniveaus und 2. der Mangel an Kapitaltheorie. (ad 1) Hegel betrachtet allein die (negativen) Effekte der Überproduktion, nicht aber ihre Entstehung, die mit einer erhöhten Nachfrage nach Arbeitern verknüpft ist, d. h. bei knappem Arbeitsangebot, mit Erhöhungen des Preises der Arbeit. Die daraus resultierenden zwischen- oder prozeßzeitlichen Nachfrageerhöhungen haben wiederum positive, akzelerierende Effekte auf die gesamtwirtschaftliche Produktion, was Hegel nirf:ends erörtert noch widerlegt. Auf seine "Lohntheorie" kommen wir zurück. 3 (ad 2) Daß Kapitalinvestitionen in Produktionsprozesse selber eine effektive Nachfrage erzeugen, kommt in Hegels ökonomischem Konzept nicht vor. In diesem Sinne ist sein Allokationsmodellabstrakt geblieben. Die Interdependenz von Märkten bleibt außerhalb seiner Wahrnehmung, so daß es scheint, als ob er den positiven Effekt der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsteilung des Smithschen Modells ignoriert. 84
83 Siehe Abschnitt 7 dieses Buches.
84 In seinen Beispielen bezieht Hegel sich auch ausschließlich auf die innerbetriebliche Arbeitsteilung.
Ökonomische Analyse
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Wenn man, wie Hegel, von einer allgemeinen Überproduktion ausgeht, sind natürlich Kapital- und Arbeitskräfteverlagerungen ohne Sinn. Daß Produktionseinschränkungen in einem Sektor die Investoren nicht zu hindern brauchen, in einem anderen, profitableren zu investieren und zu produzieren, setzt allerdings eine höhere Mobilität der Produktionsfaktoren voraus, als die traditionelle, ständische Vorstellung vom Wirtschaftsprozeß annehmen konnte. Auch von den Interdependenzen zwischen Güter- und Geldmarkt, zwischen Zins- und Profitrate ist in Hegels Konzept keine Rede, von der Wirkung der Markt-Preisrelationen auf die Einkommen nur kursorisch ein wesentlicher Teil der Smithschen, besonders aber der Ricardoschen politischen Ökonomie, wo Rente, Profit und Lohn in ihren Interdependenzen im Kontext der Marktpreisbewegungen analysiert werden~ Überhaupt reduziert Hegel die wesentlichen Relationen der Wirtschaft auf die Einkommensdisproportionen von ann und reich. Beide Einkommensklassen gehören dem "reflektierenden", zweiten Stand an. Der erste (agrarische) und der dritte (allgemeine, administrative) Stand scheinen - im Gegensatz zur klassischen Ökonomie, die sich darum besorgt, an der allgemeinen Produktivitätssteigerung auch die Grundrenten teilhaben zu lassen und den dritten Stand, die unproduktive Klasse, zu minimieren - für Hegel ökonomisch keine Rolle zu spielen.86 Das Allokationsproblem reduziert sich auf das des gewerblichen und Handelsstandes, während der Bauernstand der "Familie" und der allgemeine Stand dem "Staat" zugeschlagen sind - gesellschaftlichen Institutionen, die beide durch ihren autarken Status definiert werden. Die klassische Ökonomie, die das Verhältnis von Rente, Profit und Lohn untersucht,87 d. h. die Analyse aller Einkommensklassen und ihrer Wechselwirkungen, erscheint in Hegels Perspektive auf diejenige Klasse
85 Mit der einzigen Ausnahme, in der Hegel die Quantitätstheorie des Geldes knapp skizziert und notgedrungen von den Preiseffekten der GeldmengelWarenmenge-Relation Kenntnis gibt; aber nicht zum Zwecke werttheoretischer Analyse, sondern zur Begründung der besonderen Funktion des Handelsstandes (Hegel (IV) S. 133f.). 86 Mit der Ausnahme in der Nachschrift 1817/18 (Hegel (IV) S. 166), in der von einem wirtschaftlichen Disssens zwischen Bauern und Gewerbe die Rede ist: "Der Bauer will seine Früchte teuer verkaufen und der Handwerksmann sie billig haben", so daß die Polizei hier ausgleichen müsse durch Preistaxierung. 87 "Die Gesetze aufzufinden, welche diese Verteilung (die jeder dieser Klassen aus dem Gesamtertrag der Erde als Rente, Profit und Lohn zufallenden Anteile) bestimmen, ist das Hauptproblem der politischen Ökonomie" schreibt D. Ricardo im Vorwort zu seinen "Principles" (Ricardo S. 33).
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eingeengt, die seit Platon und Aristoteles im Visier der ethischen Skepsis steht: die Klasse der Händler und Gewerbetreibenden. Sie ist die ökonomisch produktive Klasse, aber zugleich auch diejenige, die die Disproportionalität von Produktion und Konsum kreiert. Die alte Spannung zwischen der "natürlichen" Produktivität des agrarischen Standes und der "künstlichen" Produktivität des industriellen Standes bleibt erhalten, und die theoretische Innovation der neuen politischen Ökonomie, eine gesamtwirtschaftliche Analyse zu betreiben, wird nicht in dem Maße aufgenommen, wie Ricardo es anbietet und wie eine ökonomische Logik hohen Allgemeinheitsgrades es erfordert. Die meisten ökonomischen Theorien, insbesondere die deutschen jener Zeit, sind den englischen Innovationen nicht kongenial.88 Dafür gibt es gute Gründe. Die deutsche ökonomische Entwicklung ist noch nicht industriell geprägt, die ökonomischen Verhaltensweisen sind noch der prämodernen Wirtschaftsweise verpflichtet, insbesondere aber sind die rechtlichen Voraussetzungen der Marktinstitutionen verschieden. Hegels Gründe sind allerdings keine ökonomischen, sondern gesellschaftstheoretische. Er möchte der Gesellschaft die von der neuen Ökonomie verlangte Mobilität89 ersparen und die Stände nicht nur an ihren gesellschaftlichen Ort binden, sondern auch an ihre gewordenen lokalen und regionalen Strukturen. Stadt und Land sind feste Plätze, die ihren Bewohnern weiterhin Nahrung und Auskommen geben sollen. Die "Abentheuerei" des Handels soll nicht allgemein werden und die Entwurzelung der Menschen von Grund und Boden - das eigentliche Skandalon der neuen Ökonomie, die auf das bodenlose Prinzip der "Arbeit" gestellt ist - nicht noch durch eine Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital einer erweiterten Unbeständigkeit anheimfallen.
88 "Eine wirkliche Durchbrechung der Traditionen ergab sich so nicht. Die produktiven Leistungen der Volkswirtschaftslehre des frühen 19. Jahrhunderts sind in ihrer staatlich-geschichtlichen Haltung durchaus eine Werkfortsetzung des Cameralismus." (Müller-Arrnack S. 195). 89 "Tbe assumption of the malleability of man is at the core of Smith's price theory, and survives todayas the axiom of perfect1y mobile labour." (Alvey S. 7).
5.3 Ökonomische Konsequenzen der Hegeischen Analyse Hegel ist, wie wir dargelegt haben, Anhänger einer einfachen Überproduktionstheorie. Wohl fmden wir bei ihm nachfragetheoretische Anmerkungen: "Ein viel Brauchender thut der bürgerlichen Gesellschaft mehr nutzen ( ... )".90
Aber solche Äußerungen stehen in einem normativen Kontext: "Die Verwendung des Reichtums ( ... ) zum Luxus ( ... ) hat die höhere Wirkung, daß die anderen die Befriedigun~ ihrer Bedürfnisse nur erhalten unter der Bedingung, daß sie tätig sind". 1 1819/20 wird hier noch auf der Basis der Ökonomie des 18. Jahrhunderts argumentiert: daß die Absatzstockungen durch Verringerung der Produktion und durch Vergrößerung des Luxuskonsums (der rentenbeziehenden Klasse) zu beseitigen seien - die einfache Version der Überproduktionstheorie,92 die nicht die Hebung des Lohnniveaus und der Gesamtnachfrage erörtert, wie es die Unterkonsumtionstheorien später vorschlagen werden. Normativ ist der Hegelsche Satz, weil er die nachfragehebende Wirkung des Luxuskonsums (d. h. der Nicht-Investition) nur dann zulassen will, wenn dadurch Beschäftigung erzeugt wird. Das Gleichgewicht von "Arbeit und Nachfrage", das Hegel sich von Steuart bewahrt, soll eingehalten bleiben, aber er übersieht die ökonomischen Komplikationen, die entstehen, wenn das Einkommen der Reichen zur Luxusnachfrage und nicht zur Kapitalinvestition verwendet wird, wie es (der Smithianer) J.B. Say formuliert: "Ein reicher Müßiggänger, der ein unermeßliches Einkommen alle Jahre verschlingt, (richtet) sein Land (zwar; B.P.) auch nicht zu Grunde: so trägt er doch nichts zur Vermehrung von dessen Wohlstand bey. Ein Rei-
90 Hegel (V) S. 615. 91 Hegel (III) S. 160. 92 Von Bergmann S. 29. Bei Steuart hieß es: "Ich muß daher bei solchen Gelegenheiten die Einführung des Luxus oder der überflüssigen Konsumtion als eine vernünftige oder moralische Folge des Ausfalls des auswärtigen Handels ansehen." (Steuart Bd. 1, S. 350).
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Kontingenz und Sicherheit eher, der nicht alle seine Einkünfte verzehrt, trägt aber dazu bey, und ein Reicher, der seine Capitale vermehrt, und noch oben ein sich auf eine nützliche Weise beschäftigt, trägt noch mehr dazu bey".93
Dies ist die Konsequenz aus Says Definition der "produktiven Consumtion": "Ein Consument ist nicht dadurch nützlich, daß er consumiert, sondern dadurch, daß er den Werth dessen, was er consumiert, wieder ersetzt.,,94 Hegel bezweifelt dies: "Das Bedürfniß aber der Waaren hat seine Grenzen, und ist solches Gewerbe überfüllt, so können dieß die Einzelnen nicht übersehen, gehen hinein und gehen zugrunde,,?5 Was prima facie wie eine sehr vage Gleichgewichtsbestimmung des Marktes aussieht, weist vielmehr auf eine cameralistische, zunftwirtschaftliche Determination der Anzahl der Gewerbe auf einem Markt, da die Intransparenz des Marktgeschehens eine "Leitung und Aufsicht" (wie Hegel die Aufgabe der Wirtschaftspolizei bestimmt) erfordert. Die Einzelnen sind keine Spieler, die im Roulette der "Zufälligkeiten" des Marktgeschehens ihre Existenz aufs Spiel setzen, sondern brave Familienväter, die für ihre ehrbare Arbeit auch ihren Unterhalt gesichert wissen wollen. Oder anders: nicht die ganze bürgerliche Gesellschaft kann sich aus Händlertypen zusammensetzen. Das Positivum der Gewerbefreiheit, Kapital und Arbeitskraft beweglich halten zu können, wird hier als Mangel erörtert - als Limitation der gehörigen "Nahrung", die ein Stand oder eine Zunft an seinem Platz beanspruchen kann, denn: "Der Gewerbsmann arbeitet nur für einen bestimmten Kreis".96 Deutlicher kann die cameralistisch-zünftige Begrenzung der HegeIschen Ökonomie nicht zum Ausdruck gebracht werden. Beide Aspekte - das ökonomische eines Angebot-Nachfrage-Gleichgewichtes und das zunftwirtschaftliche-polizeiliche der "auskömmlichen Nahrung" - vermischen sich. Kritisch wendet Hegel sich gegen die laisser-faire-Version der klassischen Ökonomie:
"Sagt man also: im Allgemeinen wird sich das Gleichgewicht immer wieder herstellen, so ist dieß richtig. Aber es ist hier ebenso ums Besondere als ums Allgemeine zu thun, ( ... ) sondern die Individuen als Besonderheit 93 Say Bd. 2, S. 207. 94
Say Bd. 2, S. 207.
95 Hegel (V) S. 698. Daß dies auch Malthus' Auffassung ist, siehe in: Von Bergmann, S. 144.
96 Hegel (IV) S. 133; ebenfalls in der Nachschrift von 1819/20: "Zunächst ist der gemeine
Handwerker zu erwähnen; dieser ist noch auf eine konkrete Weise beschäftigt. er arbeitet für die Bedürfnisse anderer Einzelner." (Hegel (IlI) S. 166) - im Gegensatz zur Arbeit der "Fabri· kanten".
Konsequenzen
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sind Zweck und haben eine Berechtigung. Von der bloßen Möglichkeit der Befriedigung lebt kein Mensch. Diese Möglichkeit der Versorgung führt viele Zufälligkeiten mit sich, durch die die Versorgung der Einzelnen verhindert wird".97 Wie Simonde de Sismondi bestreitet Hegel nicht die mögliche Existenz eines allgemeinen Gleichgewichtes, aber Sismondi weiß, wie Hegel, um die Schwierigkeiten dieses Anpassungsprozesses: "Allerdings stellt sich auf die Dauer ein gewisses Gleichgewicht ein, aber nur nach furchtbaren Leiden,,~8 Der "blühende Handel", erklärt Hege11822/23 den Hörern seiner Vorlesung, bietet "keine Sicherheit des Erwerbs". Anstelle der "Sicherheit eines gleichmäßig fortdauernden Gewinns" stagnieren die Preise und das wirtschaftliche Handeln hat sich auf diese "Zufälligkeiten" einzulassen.99 Die Intransparenz des Marktes, seine Unüberschaubarkeit für die Individuen erscheint Hegel als eine Unordnung der Lebenssicherheit bzw. des Einkommens. Hauptsächlich ist hier von Bedeutung, daß Hegel die "Zufälligkeit" der Markt-Preis-Bestimmung als eine im Grunde unsittliche Institution auffaßt, die die "Gesinnung ( ...) auf augenblicklichen Genuß" fördere. Anstatt allgemeine Bedarfsversorgung und langfristige Vorsorge zu treiben, hänge nun "der Luxus der Gewerbestände, die Genußsucht ( ...) mit der Zufälligkeit des Erwerbes zusammen" .100 Hegel betreibt hier dieselbe Luxuskritik, wie sie auch noch von den deutschen Smithianern gepflegt wird. 101 Das Antidotium gegen die pleonexia, das Hegel einen Absatz weiter anführt, ist aristotelischer Tönung: Mit dem "Schein des Reichtums" müsse nur derjenige "seine Anerkennung ( ...) veranlassen suchen", der "seine Ehre" nicht als Bürger in der "Corporation" 102 habe - ein Zustand der "schlechten" aristotelischen Verfassung der Oligarchie, in der der Reichtum gegen die Tugenden ausgespielt wird. Nur wo die Stände ihre Korporationen nicht zur Hervorbringung der angemessenen, ihrem Stand "natürlichen" Wirtschaftfgesinnung bringen, hat die Polizei die Aufgabe zu übernehmen, InformationsdefIzite und Risiken der Einkommensbeschaffung auf dem Markt zu mildern bzw. durch entsprechende Organisation vorzubeugen. 97 Hege! (V) S. 699. 98 Simonde de Sismondi, zitiert nach: GidelRist S. 99 Hege! (VI) S. 626 und 627. 100 Hege! (VI) S. 627.
101 Z.B. Rau (IV).
102 Hege! (VI) S. 627.
196.
5.4 Unscheinbare Polizei: fehlende Wirtschaftspolitik
Der Mangel an Nachfrage stellt post factum die "blinde" Produktion als überschüssige dar, insbesondere wegen der "Abhängigkeit großer Industriezweige von auswärtigen Umständen und entfernten Kombinationen, welche die an jene Sphären angewiesenen und gebundenen Individuen in ihrem Zusammenhang nicht übersehen können".103 Das läßt den UmkehrschlUß zu, daß, wenn die Produzenten gewußt hätten, wie groß der Bedarf gewesen wäre - indem z.B. die Wirtschafts-Polizei oder die Korporation (als Zunft) eine Zuteilung von Anbietern und (lokalen) Nachfragekontingenten arrangiert hätte -, die Überproduktion zu vermeiden gewesen wäre. Folglich sind hier auch "allgemeine Vorsorge und Leitung,,104 notwendig - in Form einer Aussenwirtschafts- und Handelspolitik. Die "blinde" Koordination des Marktes wird deshalb so pointiert herausgestellt, um der "bewußten" Koordination - weniger der der Polizei als vielmehr der der Korporation - die hohe Bedeutung einzuräumen, die wir an Hegels ökonomischem Konzept später herausarbeiten werden. lOS Das Telos ist eine sittliche Ökonomie, in der die Wirtschaftssubjekte ihr gehöriges Erwerbsmaß wissen. Solange sie nicht insoweit gebildet sind (Bildung ist des Staates Aufgabe), hat die Polizei vormundschaftlich einzugreifen~06 Sie ist eine - notwendige - Behelfsinstanz der Allokationspolitik, die die Bürger noch nicht in ihre eigenen Hände zu nehmen in der Lage sind. Die Funktion der Polizei ist eine historische - ein Übergangsinstitut. Hegel ist, gegen den öfter 103 Hegel (I) § 236. 104 Hegel (I) § 236. 105 Siehe dazu Abschnitt 7 dieses Buches. 106 E.Gans, Hegels Schüler, definierte 1832: "Der preußische Staat ist ein vonnundschaftli-
cher Staat". Das Besondere der Vonnundschaft liege darin, daß der Vonnupd nie im eigenen Interesse handele, sondern davon ausgehe, daß der Bevonnundete eigentlich selbsttätig handeln müsse. Nur soweit er dies nicht könne, tritt die Vonnundschaft in Kraft. Das System beruhte, wie Gans sagte, auf einer eigentümlichen Mischung "von Gewalt, die gehandhabt und von Freiheit, die dennoch nicht verworfen werden kann" (Gans (I) S. 471ff.). Nirgends wird der meritorische Charakter des Staates deutlicher. E.Gans bezieht sich ausdrücklich auf Heget. Siehe dazu ebenfalls: Ver Eecke S. 155: "Hegel's reflections upon the free market provide an iIIuminating understanding of the merit good problem" (Siehe genauer dazu in 5.4.2 dieses Buches).
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geäußerten Verdacht, kein Polizeistaatstheoretiker. Die "Möglichkeit" des Marktes ist noch nicht seine "Wirklichkeit", mahnt Hegel verschiedentlich an,l°7 um die Notwendigkeit für "polizeiliche Aufsicht und Sorge" betonen zu können: 108 als "Vorsorge gegen die in jenen Systemen (der Marktautonomie; B.P.) zurückbleibende Zufä1ligkeit"~09 Was wir bisher an staatswirtschaftlichem Anspruch bei Hegel vorgefunden haben, wird aber - und das ist die prima facie erstaunliche Kehrseite der Medaille - nirgends wirtschafts politisch konkretisiert. Hegels allgemeine Forderung, daß der Staat dort eingreifen solle, wo der Markt (bzw. die bürgerliche Gesellschaft) versage, hat nirgendwo in den Texten zur Rechtsphilosophie einen interventionspraktischen (sei es einen wirtschaftspolitisch, fmanzwissenschaftlich oder sozialpolitisch defmierten) NiederschlagPO Es gibt - entgegen allem Anschein1l1 - bei Hegel keine Theorie der Staatsintervention, wie sie für die damalige deutsche Nationalökonomie durchaus normal war, was wir an K.H.Rau repräsentativ ermessen können: 107 Hegel (III) S. 204. Ebenso: Hegel (V) S. 699: "Von der bloßen Möglichkeit der Befriedigung lebt kein Mensch. Diese Möglichkeit der Versorgung führt viele Zufälligkeiten mit sich, durch die die Versorgung des Einzelnen verhindert wird."
108 Hegel (V) S. 694f.; auch: Hegel (IV) S. 158.
109 Hegel (I) § 188.
110 Außer in der ersten Nachschrift 1817/18 (Hegel (IV) S. 132ff. und S. 165ff.) und in den frühen Texten zur späteren Materie der "Rechtsphilosophie" : siehe die Redeweise von "der Erschwerung des hohen Gewinns" in: Hegel (X) S. 94. Bei Hegel gibt es keine, wie man beim ersten Anschein vermuten könnte (so z. B. Plant S. 122), auf das 20. Jahrhundert vorausweisende Beschäftigungspolitik. Zwar gehen Hegel und Keynes, wenn man diesen Vergleich wagen darf, beide davon aus, "daß in einer kapitalistischen Marktwirtschaft mit dezentralen Investitionsentscheidungen die Koordinationsleistung der Märkte nicht ausreicht, um hohe Beschäftigung zu sichern", aber die keynesianische Konsequenz, "daß der Staat in Situationen der Unter- oder Überbeschäftigung die Nachfrage durch Geld- oder Fiskalpolitik steuern muß, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage entweder zu erhöhen oder zu vermindern" (Kromphart S. 165), ist nicht diejenige Hegels. Sie würde einen ökonomischen Zusammenhang von Güter-, Arbeitsund Geldmärkten voraussetzen, der den theoretischen Möglichkeiten der Klassik nicht entsprach (siehe dazu besonders: Spahn (I) Kap. 3 - 5). 111 K-H. Ilting hält - in seinem Kommentar zur Wannenmann-Nachschrift - dafür, daß Hegel "die in seiner Zeit noch übliche Bedeutung von 'Polizei'" verwende, die neben der Gefahrenabwendung (Ilting verweist auf das preußische Landrecht) die "Mehrung und Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt" beinhalte (Ilting in seinen Erläuterungen zu Hegel (XVI), Er!. 203 auf S. 319). Daß Hegel 1817/18 den "liberalistischen Gedanken, die Polizei müsse sich im wesentlichen auf Gefahrenabwendung beschränken" (dito), sich nicht zu eigen gemacht habe, kann für die frühen Nachschriften bestätigt werden; nicht aber für die Rechtsphilosophie von 1821 und die späteren Nachschriften.
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"Je beträchtlicher das Volksvermögen ist und je besser es sich unter die einzelnen Bürger vertheilt, desto eher kann die Gerechtigkeit, die Grundlage der Sittlichkeit, wurzeln, desto mehr Mittel zu jedem Zweige menschlicher Ausbildung bieten sich dar, desto mehr Empfänglichkeit für höhere Güter des Lebens wird angetroffen, und desto reichlichere Hülfsquellen fließen der Regierung für ihre Thätigkeit zu. Der Wohlstand des Volkes gehört demnach unter die Umstände, welche dazu beitragen, den Staat seiner Bestimmung näher zu führen. Wie aber die Regierung sich hiervon überzeugen muß, so kann sie auch nicht verkennen, daß der Volkswohlstand ohne ihre Hülfe nur gering seyn würde. Die Bestrebungen der Einzelnen mögen immerhin zur Verbesserung ihrer wirthschaftlichen Verhältnisse mächtig wirken, dennoch tragen zur Verstärkung des Erfolges die gute Rechtspflege, die gute polizeiliche Sicherheit und die Verhütung aller, von anderen Staaten herrührenden Unterbrechungen der Ruhe viel bei, und auch bei diesen Veranstaltungen bleiben noch etliche Hindernisse, Schwierigkeiten und Mißverständnisse übrig, welche eine unmittelbare Sorgfalt von Seiten der Staatsgewalt zum dringenden Bedürfniß machen. Dieser besondere Zweig der Re~erungsthätigkeit ist die Wohlstandssorge oder Volkswirthschaftspflege".l I Rau, der Doyen der jungen deutschen Volkswirthschaftslehre des frühen 19. Jahrhunderts - er wandelte sich von einem Cameralisten über die SmithRezeption zu einem liberalen Wirtschaftstheoretiker113 und prägte die nationalökonomische Lehrbuchliteratur -, soll hier nur Beispiel geben für die "staatswirtschaftliche Tendenz", die Volkswirtschaftspflege als ein besonderes Organ der älteren Polizei herauszuheben,114 das Wirtschaft~olitik betreiben sol1.115 So sehr Rau der Regierung - mit den Smithschen Argumenten - anrät, "in der Regel (der) Anwendung von Zwangsmitteln (zu) entbehren",116 ist für ihn auf der anderen Seite "nicht zu verkennen, daß es Fälle geben kann, wo die Regierung des allgemeinen Wohlstandes willen die Freiheit Einzelner in gewisse Gränzen ein112 Rau (VI) § 1. 113 Rosner, Tribe (I).
114 Rau (VI) Fußnote (f) von § 6. 115 1828 findet Rau noch, daß nur wenige Ökonomen zum Thema der Volkswirtschaftspflege gearbeitet hätten. Er nennt Schlözer (Industriepolitik), Kraus, von Soden, Costanz und Letz (neben impliziten Erörterungen bei Smith, Lueder, von Jakob, Storch, Oberndorfer, ~cardo, Say, Simonde de Sismondi) (Rau (VI) § 9). Allgemein zum Staatsinterventionismus der Okono· mie der Zeit siehe die entprechenden Kapitel in Keller; zur "staatswirthschaftlichen" Tendenz: Graul; Schmidt. Über die "altliberale" Position Raus siehe: Rosner. 116 Rau (VI) § 2.
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zuschließen befugt und selbst verpflichtet ist,,~17 Die liberale Einstellung und ökonomischer Sachverstand bewahren Rau davor, Interventionsgrundsätze aufzustellen. Er bleibt dabei, daß es "Fälle" und "Umstände" geben kann, die Vorsorge, aber auch Interventionen nötig machen. Die Wirtschaftspolitik ist abhängig von der Analyse der Wirtschaft selbst, um ihre Effekte abschätzen zu können. Bei allem Bedacht, den Rau empfiehlt, und bei aller ökonomischen Kompetenz, die er gerade für die Wirtschaftspolitik fordert, gehen die staatsinterventionistischen Vorschläge über das hinaus, was Hegel für rechtens hält. Vieles von Rau fehlt bei Hegel. Der § 236 der Rechtsphilosophie ist hierfür aufschlUßreich. Er definiert die Aufgaben der Polizei in einer die möglichen Extreme - absolutistische Wirtschaftspolizey cameralistischer Art und absolute freie Marktwirtschaft ohne jegliche staatliche Intervention - vermittelnden Art und Weise. "Die polizeiliche Aufsicht und Vorsorge hat den Zweck, das Individuum mit der allgemeinen Möglichkeit zu vermitteln, die zur Erreichung der individuellen Zwecke vorhanden sind. Sie hat für Straßenbeleuchtung, Brückenbau, Taxation der täglichen Bedürfnisse sowie für die Gesundheit Sorge zu tragen. Hier sind nun zwei Hauptansichten herrschend. Die eine behauptet, daß der Polizei die Aufsicht über alles gebühre, die andere, daß die Polizei hier nichts zu bestimmen habe, indem jeder sich nach dem Bedürfnis des anderen richten werde. Der Einzelne muß freilich ein Recht haben, sich auf diese oder jene Weise sein Brot zu verdienen, aber auf der anderen Seite hat auch das Publikum ein Recht zu verlangen, daß das Nötige auf gehörige Weise geleistet werde. Beide Seiten sind zu befriedigen, und die Gewerbefreiheit darf nicht von der Art sein, daß das allgemeine Beste in Gefahr kommt".118 Das Recht auf Arbeit ist hier das Recht auf Ausübung eines Gewerbes, das ebenso geschützt werden müsse wie das Recht der Konsumenten auf gute Leistungen und einwandfreie Ware. Beiden Seiten - Anbietern wie Nach117 Rau (VI) § 2. In § 4 erörtert Rau die Konsequenzen aus der Smithschen Wirtschaftsfreiheit, der er im Prinzip zustimmt: "Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß es Fälle geben kann, wo die Regierung des allgemeinen Wohlstandes willen die Freiheit Einzelner in gewisse Gränzen einzuschließen befugt und selbst verpflichtet ist, und zwar: 1) weil der Gewinn der Einzelnen nicht in allen Fällen mit der Vermehrung des Volksvermögens verbunden ist, sondern bisweilen bloß aus einer ungünstigen Vertheilung des Volkseinkommens besteht; 2) weil der augenblickliche Vortheil, welchen die Privaten zunächst im Auge haben, mit Besorgnissen oder gewissen Nachtheilen für die Zukunft verknüpft seyn kann; 3) weil der Widerspruch Einzelner, die eine angebotene volle Entschädigung anzunehmen verweigern, die folgenreichsten Verbesserungen hemmen könnte." (Rau (VI); weiter siehe § 5 ff.). 118 Hegel (I) Zusatz zu § 236.
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fragern - gerecht zu werden, ist zugleich Aufgabe der polizeilichen Aufsicht. Die Polizei kann nichts erzwingen, hat keine Interventionsmacht, 119 sondern vermittelt die "allgemeine Möglichkeit", individuelle Zwecke durchzusetzen bzw., im nächsten Paragraphen, "die Möglichkeit der Teilnahme an dem allgemeinen Vermögen". Möglichkeit der Teilnahme ist ein rechtlicher Terminus, der eher meint, Widerstände außer kraft zu setzen als die Mittel real bereitzustellen, die die allgemeine Teilnahme erforderte. Die Rechtsordnung gewährleistet die Legalität der individuellen Handlungsmöglichkeiten, die Ökonomie aber ist aufgefordert, deren Realisationsbedingungen und -verläufe zu analysieren. Worauf sich schließlich die Polizei beschränkt, ist in § 236 der Rechtsphilosophie von 1821 dargelegt: "Die verschiedenen Interessen der Produzenten und Konsumenten können in KoUision miteinander kommen, und wenn sich zwar das richtige Verhältnis im Ganzen von selbst herstellt, so bedarf die Ausgleichung auch einer über beiden stehenden, mit Bewußtsein vorgenommenen Regulierung" . Was sich wie eine Einleitung in eine Theorie der Staatswirtschaftspolitik ausnimmt, ist aber von vornherein allgemeiner gedacht: die Regulierung kann durch die Polizei des Not-Staates, aber auch durch die bewußte Koordination der Korporationen erfolgen. Wenn wir in den Ausführungen Hegels genauer suchen, finden sich nur drei Vorschläge: 1. zur Kontrolle der Warenqualität, 120 2. zur Armenpolitik121 und 3. zur "Vorsorge und Leitung" des AUßenhandels.122 Was in (3) wie ein Hinweis auf eine Außenwirtschaftsund Zollpolitik aussieht, wird ebenfalls nirgends konkretisiert (nur in der Nachschrift von 1817/18 ist das Beispiel bilateraler Handelsverträge aufgeführt, das aber später nicht wieder aufgenommen wird123). Das Beispiel der Taxation der Waren wird im Zusatz zu § 236 um das der Produktion öffentlicher Güter ergänzt - von der Straßenbeleuchtung bis zur Gesundheitsvorsorge. Es bleibt undeutlich, was Hegel unter "Taxation" der Waren versteht. In der cameralistischen Ökonomie ist die Taxation durchaus 119 Wie Sh. Avineri falsch behauptet. Aber sein Begriff der "Staatsintervention" ist bloß schlecht gewählt; er betont selbst, daß Hegels "Forderung nach staatlicher Einwirkung auf eine bloß äußere Kontrolle" beschränkt bleibt (Avineri S. 181). 120 Hegel (I) § 236. 121 Hegel (I) § 241-245. 122 Hegel (I) § 246. 123 "Nach dem Auslande muß der Staat suchen, durch Handelstraktate Vorteile für seine Untertanen zu erwerben." (HegeI (IV) S. 167).
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polizeilich-öffentliche Wert-und Preisbestimmung. l24 Preistaxen (z. B. für Getreide) waren ein legitimes Mittel cameralistischer Wirtschaftspolitik.125 In der Smithschen Konzeption aber werden die staatlichen Preistaxen als Deregulationen des Marktes aufgefaßt, die, anstatt niedrigere Preise allgemein zu machen, eher verhinderten, daß billige Preise durch Wettbewerb entstünden.l26 Hegels Tax-Preis-Begriff deckt sich aber vielmehr mit dem, den H.L. Jakob vorgetragen hat: "Verordnungen, wodurch der Preis gewisser Waaren gesetztlich bestimmt wird, heißen Taxen. Bestimmen die Taxen 1) den Preis einer Waare unter ihren natürlichen Preis: so wird die Waare nicht mehr erzeugt werden, oder ein Unterkommen in der Fremde suchen, wenn auf die Taxe streng gehalten wird, und die Waare wird bald fehlen. 2) Bestimmen sie den Preis dem natürlichen Erzeugungspreise gleich, so sind sie unnöthig, wo freye Concurrenz den Verkäufern gelassen wird. Taxen können daher nur öffentliche Anzeigen seyn, um welchen Marktpreis gewisse Waaren bey bestimmten Verkäufern wirklich zu haben sind, oder für welchen Preis mehrere Verkäufer sie liefern können und wollen,,~27
124 "Der für die ständische Gesellschaft so typische Vorstellungskreis vom 'iustum pretium' (behält im 18. Jhdt.; B.P.) seine Gültigkeit. Marktverkehrund Preisbildung sollen den Gesetzen der Gerechtigkeit und Billigkeit unterworfen werden; der Gesichtspunkt des ungehinderten Erwerbs hat hinter dem der zureichenden Nahrung zurückzutreten. DaIjes billigt daher der Obrigkeit das Recht zu, , heißt es weiter, (a). Aus denselben, der Sachlichkeit der bürgerlich-rationalen Wirtschaftsgestaltung feindlichen Motiven erstrebt Wolff die Konventionalisierung des Preises für die Arbeitskraft. So will er < auf jede Arbeit einen gewissen Preis gesetzt> sehen, (b). Und Gottsched, geleitet von dem Gedanken der und des auskömmlichen Lebens, plädiert für die obrigkeitliche Reglementierung sowohl des Preises für die Arbeitskraft wie auch des Preises für die Waren: < Gleichergestalt, wie man den Sachen einen gewissen Werth beygelegt >, heißt es bei ihm zustimmend, (c)." (Hellmuth S. 139; die Zitate sind aus: (a) DaIjes Bd. IIIS. 994; (b) Wolff §484; (c) Gottsched S. 144). 125 Siehe dazu: Hont/lgnatieff S. 13ff. 126 Was HegeI1824/25 registriert: Hegel (VI) S. 596f. 127 Jakob S. 98f. Ebenso, wenn auch kritischer, L.Krug: "Die gesetzlichen Taxen sind da nothwendige Uebel geworden, wo die Regierung durch Privilegien, Innungen, Monopole und Immunitäten die natürlichen Preisverhältnisse der Waaren gestört hatte; denn sie mußte nun, um solchen privilegirten Klassen ihr Uebergewicht über die Käufer nicht zu weit ausdehnen zu lassen, Berechnungen anstellen: zu welchem Preise jene ihre Waaren verkaufen könnten und sollten; da aber diese Berechnungen nicht riChtig seyn oder nicht richtig bleiben konnten, so wurde ( ... ) durch den Zusammenhang solcher willkührlichen Bestimmungen das unnatürliche Verhältniß noch fester gegründet" (Krug § 82f.).
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In den Nachschriften von 1817/18 und 1819/20 bleibt Hegel prima facie noch cameralistisch gesonnen, indem er zu den "gemeinschaftlichen Interessen" die Aufsicht über "solide Waren" und "gute Preise" zählt;28 wie es in der Nachschrift von 1817/18 beschrieben steht: "Nun muß auch das Allgemeine Vorsorge treffen, daß die Einzelnen ihre Bedürfnisse befriedigen können, Le. daß die Mittel in gehöriger Menge da sind und um nicht zu hohen Preis; aber ebenso muß auch das Allgemeine sorgen, daß die Preise nicht so tief sinken, daß der Fabrikant nicht bestehen kann".f29 Es ist damit ein konkretes Verfahren des "Ausgleichs" zwischen Produzenten und Konsumenten beschrieben, von dem in § 236 der Rechtsphilosophie gesprochen wird. Die Polizei tritt nicht als fakultative Obrigkeit in den Wirtschaftsprozeß, sondern handelt nach Regeln,die einer Idee der "ausgleichenden Gerechtigkeit" folgen - d. h. im Prinzip nach denselben Regeln, die für den Marktverkehr der bürgerlichen Gesellschaft gelten. Dieses Argument ist höchst entscheidend. Denn aus diesem Grunde ist die Polizei bei Hegel kein allgemeines Staatsorgan, sondern eine Veranstaltung der bürgerlichen Gesellschaft selbst;13O kein cameralistisches Obrigkeits organ, das allgemeine Willkür nur ausführt, sondern eine regelgebundene Institution, die mit ihren Mitteln versucht, die allgemeinen Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft dann zu erfüllen, wenn sie für sich selbst darin versagt. Damit ist zugleich festgestellt, daß die Polizei von ihrer Bestimmung her nichts weiter auszuführen in der Lage ist, als was die bürgerliche Gesellschaft selber hätte erreichen können. Ihre ökonomischen Mittel haben dieselben Wirkungen wie die der bürgerlichen Gesellschaft, was Hegel an der "Armenpolizei" demonstriert, die versagen muß, weil sie entweder die Armen auf das freiheitsund würdelose Niveau von Sozialtransferbeziehern herabsetzt oder aber, wenn sie die Armen in Arbeitshäusern beschäftigt, den Gewerben Konkurrenz macht und wieder Arbeitslosigkeit erzeugt. Der aus dem Recht auf Arbeit stipulierte Anspruch läßt sich nur gegen die Freiheitsrechte durchsetzen. Die ökonomische Aufhebung der Armut hat ökonomische Folgen. Die Synthese zwischen rechtlichem Anspruch und ökonomischer Realisation gelingt nicht und damit versagt auch die Polizei an einem entscheidendem Problem der bürgerlichen Gesellschaft. 128 Heget (III) S. 190. 129 Heget (IV) S. 166. 130 Die Potizei ist "der Staat, sofern er sich auf die bürgerliche Gesellschaft bezieht." (Heget
(III) S. 187).
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Daran zeigt sich allerdings auch, daß die Polizei nicht mehr das alte cameralistische Instrument staatsherrlicher Erzwingung131 ist, sondern eine an die Freiheitsbedingungen des Handelns der bürgerlichen Gesellschaft angepaßte Institution. "Freiheit des Gewerbes bleibt notwendig; das Eingreifen (des Staates durch die Polizei; B.P.) muß so unscheinbar als möglich sein - denn es ist das Feld der Willkür; der Schein der Gewalt muß vermieden werden und man soU nichts retten wollen, was nicht zu retten ist, sondern die leidenden Klassen anders beschäftigen" Y2 Die Position der "unscheinbaren Polizei" bleibt in Hegels Oeuvre durchgängig erhalten. Allerdings scheint die Forderung, "die leidenden Klassen anders zu beschäftigen", gegen die Interventions-Inkompetenz der Polizei zu sprechen, aber es ist eine Schlußfolgerung, die Hegel 1804/05 zieht und die in den späteren rechtsphilosophischen Texten nicht mehr auftaucht. Hier hat Hegel noch eine cameralistische Maxime übernommen (die nicht als staatliche Beschäftigungspolitik, sondern als ordnungspolitische Maßnahme der Polizei zu verstehen ist: aber nicht mehr als Einweisung in Arbeits- und Zuchthäuser etc., sondern eher der Art, den Zugang zu anderen Gewerben zu erlauben, d. h. die Reglements der closed shops der Zünfte staats-polizeilich aufzubrechen), während später bei ihm die cameralistische Wirtschaftspolizei gänzlich in moderne Sicherheitspolizei verwandelt ist. Der post-cameralistische Charakter der Polizei wird in der Rechtsphilosophie von 1821 und in den späteren Nachschriften besonders dadurch deutlich, daß von der Preisregulation - der letzten Instanz direkter Intervention keine Rede mehr ist: wohl zwar noch von der "Taxation",133 aber nurmehr in Hinblick auf "Fabrikaufsicht" zur "Güte"-Kontrolle.l34 Die Argumentation hat sich verschoben. Neben einer genauen Ausführung darüber, daß "dies ( ...) früher sehr reguliert (wurde)" und neben der Anmerkung, daß seit zwei Jahren die Engländer "alle Taxation der Lebensmittel" aufgehoben hätten, weil man darauf rechne, daß "die Concurrenz einen Mittelpreis zustande bringe der billig ist", werden nur wieder die polizei131 Siehe dazu: Wolzendorff (I1), bes. Kap. 3. 132 Hegel (XI) S. 252. 133 Hegel (V) S. 695. 134 "Gewicht, Breite der Waare"(bei Tuch), die "Beschaffenheit der gekauften Waaren", mit einer "Prüfung" des Lieferanten verbunden, ob er dem "Publicum ( ... ) die gehörige Waare" liefere" (Hegel (V) S. 695f.); daß es bei der Taxation vordringlich um die Qualitätskontrolle der Waren geht, wird in der Nachschrift 1824/25 (Hegel (VI) S. 596) bestätigt.
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ökonomischen Institutionen der "Aufsicht und Leitung" erwähnt, die wir schon kennen. Einzig die Aufsicht über die Pharmaka kommt neu hinzu. 135 Man hat dies so zu interpretieren, daß Hegel nur solche polizeiökonomischen Institutionen anführt, die fehlende Informationen über das Warenangebot beschaffen, d. h. die Relation von Warengüte und Preis überwachen, nicht aber die Preise regulieren. Hierin ist jeder selbst verantwortlich als Teilnehmer am monetären Marktprozeß. Eine Erörterung wirtschaftspolitischer Maßnahmen, etwa Subventionsvorschläge, Einkommensumverteilungen, Zollpolitik etc., fmdet nicht statt. Die Apothekenaufsicht ist ein besonderes Exempel der HegeIschen Argumentation. Sie zeigt die Kompetenz der Bürokratie: "Arznei ist ein allgemeines Bedürfniß, aber ob sie gut ist oder die rechte, das kann das Individuum nicht beurtheilen, das müssen die Pharmazeuten thun. So ist es auch ganz zweckmäßig, daß die Polizei die Aufsicht über die Gesundheit des Viehs führt, es sind in neuerer Zeit ganze Gegenden durch den Verkauf des Fleisches von krankem Vieh vergiftet worden. Diese Aufsicht kann grosse Schwierigkeiten haben und kann lange Zeit unnütz sein, aber beim Verdacht einer Epidemie muß sie da sein. Jedes noch so kleine specielle Interesse, das aber gemeinsam ist, kann von einer gemeinsamen Behörde beschützt, beaufsichtigt, garantirt werden,,~36 Wie auch schon in der Passage zuvor (über die Lebensmittelkontrolle) ist hierbei entscheidend, daß für die Qualitätskontrolle der Waren "besondere Kenntnisse" vonnöten sind, die den freien Umgang mit den Waren der Wirtschaft, die Konsumentensouveränität, dann begrenzen, wenn das Individuum ungewußt seine Gesundheit gefährdet. Was als prototypische Defmition der meritorischen Güter gelten kann das Interesse, das ein Mensch unterstelltermaßen an seiner Gesundheit haben müsse, vor seinem eigenen unbedachten Tun zu schützen -, ist bei Hegel darüberhinaus noch ein weiteres, nämlich die Kompetenz der Bürokratie, des Beamtenstandes herauszustellen. Die Kompetenz der Behörde beruhe auf dem allgemeinerem Wissen, d. h. konkret: auf der Anstellung von "Intelligenz" in der Bürokratie, dem "allgemeinen Stand". Beides ist bei Hegel eng verknüpft. Der allgemeine Stand der Administration hat die höhere Bildung, die den anderen Ständen offensichtlich fehlt. Wo - auf dem Markt - die individuellen Interessen mangels Bildung und Information die Erhaltung der individuelle Interessen realisierenden Person gefährden, kann die Bürokratie 135
Heget (VI) S. 596f.
136 Heget (VI) S. 597f.
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als eine Institution funktioneller Sittlichkeit den gefährlich-gefährdenden Aktionen der bürgerlichen Subjekte fundamentale Sicherheit geben. Die unvollständige Information auf den Märkten ist nach Hegel nicht durch verbesserte Transparenz der Preissignale, sondern allein nur durch sachliche Kompetenz, d. h. durch "Bildung" aufzuheben. Wer von der Natur der Sache nichts versteht, kann auch im eigenen Interesse nur zufällig richtig, ebenso aber falsch oder schlecht urteilen. Nicht die ungebildete Befriedigung der Bedürfnisse, sondern die Kenntnis dessen, was einem - im ständegesellschaftlichen Kontext - angemessen ist, mache die Kompetenz des modernen Wirtschaftsbürgers aus. Euphemistisch erscheint hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bürokratie als Körperschaft der regulativen Ideen, die die private Interessenzentriertheit in die allgemeinen Zwecke transformiert, die nicht das moralische Gefühl, sondern allein die sittliche Reflektion, die Vernunft, erreichen könne, die das Verhältnis des einzelnen Tuns zu dem der anderen sachlich beurteilt. 137 Die politische Ökonomie ist - im Gegensatz zu den englischen Protagonisten - keine Klassen- , sondern eine Ständeökonomie. 138 Der Immobilität des ersten oder agrikultur ellen Standes und der Mobilität des zweiten oder industriellen Standes steht der dritte oder allgemeine als regulativer bzw. korrektiver Stand gegenüber, dessen eigenes Interesse mit dem aller kongruent sei. Die Universalisierung der praktischen Vernunft in Adam Smiths invisiblehand-Ökonomie ist in ein nicht-starres Ständemodell zurückgenommen, in dem der dritte Stand nicht mehr durch Herkunft, sondern durch Bildung reüssiert. "Aufsicht und Leitung" sind ordnungspolitische Funktionen, die die Ein137 Für Hegel gibt es keinen Primat des Ökonomischen, keine Idolatrie des Marktes. Effizient ist, was der Natur der Sache entspricht. In einem Falle mag das der Markt selbst zu leisten; im anderen Falle die regulative Intervention der in der Beamtenschaft konzentrierten Intelligenz der Gesellschaft.
138 Hegel "verwendet nicht den Begriff der 'Klasse', sondern den älteren Begriff (der 'Stände'; B.P.), und wir folgen ihm hier, denn diese Gruppen werden nicht nur durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, sondern durch ihren Lebensstil differenziert" (Ch.Taylor S. 568). Doch ist dieser Begriff richtig gewählt? "Ist es möglich, Stände mit wirklich verschiedenen Lebensformen in einer Gesellschaft zu erhalten, in der es wirkliche Mobilität gibt und in der die Menschen frei sind, ihren Beruf zu wählen? Setzt nicht die unreflektierte Treue des agrikultureIlen Standes eine Lebensweise voraus, in die man hineingeboren wird? Nur in die beiden anderen Stände könnte man demnach frei eintreten. Allgemeine Mobilität trägt in hohem Maße zur Unterminierung des Status quo bei. Sie würde schließlich die Stände ganz zerstören." (Ch.Taylor S. 570, Fn. 169).
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Kontingenz und Sicherheit
haltung von Gesetz und Rechtsvorschriften zur Aufgabe haben, wie es prägnant schon 1804/05 formuliert wurde: "Die Polizei kommt hier hinzu - von Politeia, das öffentliche Leben und Regieren, Handeln des Ganzen selbst - jetzt herabgesetzt zum Handeln des Ganzen auf die öffentliche Sicherheit jeder Art, Aufsicht auf Gewerbe gegen Betrug. Durch sie wird das allgemeine Vertrauen realisiert, Vertrauen Z.B. beim Umtausch der Waren. Es sorgt jeder nur für sich, nicht für das Allgemeine; das ruhige Ausüben seines Eigentumsrechts und freie Disposition über sein Eigentum ist der mögliche Schaden für Andre. Polizei sorgt für Beschränkung hiervon, Verhütung von Schaden, auch davon, daß bloß nach Vertrauen verfahren wird. Polizei über Dienstboten sorgt, daß ein Kontrakt gemacht werden muß; Zünfte bestimmen die Rechte der Meister über Lehrlinge und Gesellen (so über Arbeitslohn und dergleichen)"P9 Die Vermeidung des "möglichen Schadens für Andre" wird allerdings 1804/05 noch strenger deftniert als in der späteren HegeIschen Polizeitheorie: dazu gehört, "die eine Tätigkeit zu erschweren, insofern sie zu sehr zum Nachteil der andern übergreift",140 was 1802/03 noch deutlicher gefaßt war in der polizeilichen Aufgabe der "Erschwerung des hohen Gewinns,,~41 Je stärker später - im Laufe der Entwicklung der rechtsphilosophischen Konzeption - das Überproduktionsargument herausgestellt wird, um so weniger wirtschaftspolizeiliche Funktionen dieser Art bleiben der HegeIschen Polizei. Einzig die Exportförderung wird immer wieder erwähnt, ohne im wirtschaftspolitischen Sinne genauer expliziert zu werden, was nach der Hegelschen Systematik auch nicht verwunderlich ist. Hebung des Exportes kann nur durch Handels-Verträge 142 bewirkt werden, die aber, von der Natur ihrer Sache her, zum "äusseren Staatsrecht" gehören, d. h. ihre Einhaltung ist ein bloßes "Sollen", ohne Garantie, von höherer Zufälligkeit.143 Die Polizei ist Ordnung-Polizei: eine Institution, die die Regeln des wirtschaftlichen Verkehrs überwacht, nicht aber, wie Hegel scharf an Fichte moniert, das Verhalten selbst.
139 Hegel (XI) S. 276. 140 Hegel (XI) S. 252.
141 Hegel (X) S. 94. 142 Hegel (IV) S. 167. 143 Hegel (I) § 332 und § 333; siehe auch besonders: Nachschrift 1817/18 (Hegel (IV)
S.248: "Weil nun von der Willkür ausgegangen wird, so beruhen die Verhältnisse der Völker auf Verträgen, die aber keine Garantie haben."
5.4.1 Die ötTentlichen Güter (I) Die Polize~ die in vielen allgemeinen Hinweisen Hegels die Aufgabe zu besitzen schien, das "allgemeine Beste", d. h. die allgemeine Wohlfahrt zu verwirklichen, hat keine wirtschaftspolitische Kompetenz. Sie ist Aufsichts- und Verwaltungsbehörde, d. h. in ihrer früheren, mächtigen Funktion der cameralistischen Polizei zurückgenommen, ohne signifikant neue und insbesondere wirtschaftliche Aufgaben zugewiesen zu bekommen. Nur die Herstellung von öffentlichen Gütern bildet eine Ausnahme. l44 Hegel formuliert: das "gemeinsame Interesse", die "allgemeinen Geschäfte und gemeinnützigen Veranstaltungen fordern die Aufsicht und Vorsorge der öffentlichen Macht".145 Aus Hegels Rechtsphilosophie wie aus den Nachschriften läßt sich ein Katalog der öffentlichen Güter zusammenstellen, der sich von den üblichen Beispielslisten seiner Zeit nicht unterscheidet: - "Wohnungen, Tempel, Straßen",I46 - "Straßenbeleuchtung, Brückenbau, Taxation der täglichen Bedürfnisse
144 "Polizei hat den Zweck, das Hervorgebrachte der einzelnen von den Zufälligkeiten zu reinigen; was bewußtlos hervorgebracht wird, soll nach den allgemeinen Zwecken und (zu allgemeinem) Nutzen erzeugt werden." (Hegel (XVI) S. 266). Der "allgemeine Nutzen" ist der der öffentlichen Güter. 145 Hegel (I) § 235; siehe ebenso: Hegel (III) S. 190 und: Hegel (VI) S. 597. Auch hier bleibt Hegel ganz im Definitionsbereich der deutschen Nationalökonomie. Bei L.H. Jakob werden "viele gemeinschaftliche Bedürfnisse (...) durch gemeinsame Güter befriedigt werden müssen. Dergleichen Bedürfnisse nennt man öffentliche ( ... ). Die Gesellschaft bedarf nähmlich 1) gewisser Grundstücke zur Erhaltung und Erleichterung der nothwendigen Communication aller Glieder, die sie also von dem Privath = Eigenthumsrechte ausschließen muß, als da sind: die Landstraßen und Wege, die öffentlichen Plätze und Spaziergänge, Brücken, Häfen, Gebäude u.s.w. 2) Mehrere öffentliche Dienstleistungen, welche theils der ganzen Gesellschaft, theils einzelnen Provinzen und Communen zugute kommen. Sollen diese öffentlichen Bedürfnisse befriedigt werden: so ist eine höchste Auffsicht nöthig, wodurch theils diese Bedürfnisse selbst näher bestimmt, theils die Mittel, sie zu befriedigen, ausfindig gemacht, die Beyträge der einzelnen Gesellschaften und Individuen, und was sonst einem jeden dabey obliegt, ausgeglichen und regulirt werden. Der Staat, und was zur Erhaltung desselben gehört, ist daher das erste und wesentlichste aller öffentlichen Bedürfnisse" (Jakob S. 327f.). 146 Hegel (X) S. 95.
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Kontingenz und Sicherheit sowie für Gesundheit" ,147 - "Bildung, Rechtspflege, Gesundheitsvorsorge",I48 - "Landstraßen, Häfen, Wasserkommunikation,,149 -
umfaßt im wesentlichen das, was auch schon bei A. Smith aufgeführt wurde. 150 Einzig in der Nachschrift von 1817/18 steht noch folgende Variante: "Straßen und Kanäle heben die Industrie".151 Die "Hebung", die hier noch erwähnt wird, ist jene der "Fabrikgesetzgebung", d. h. zum Teil durch staatliche Subventionierung, die durch Kredite, Steuererlaß oder Verleihung von Privilegien (Monopolvorteilen) geschieht. Später bringt Hegel diese Art der staatswirtschaftlichen Subventionierung nicht mehr in Anschlag, rechnet aber auf ihre Effekte bei der Produktion öffentlicher Güter. Eine spezifische ökonomische Einschätzung erfolgt nicht, was damit zu tun hat, daß diese Güter der Sphäre des Marktes von vornherein entzogen sind. Weder bei Smith noch bei Hegel kann es jemandes privates Interesse sein, öffentliche Güter herzustellen, da ihre Nutzung der Natur der Sache nach keinem privaten Verfügungs- oder Eigentumsrecht unterliegt. Öffentliche Güter sind, unter diesem Gesichtspunkt, öffentlich-rechtliche (der Kommunen) oder staats-rechtliche Güter (des Staates). Logisch ist das öffentliche Eigentum (an öffentlichen Gütern) eine rechtsphilosophische Konsequenz aus einem nicht erfolgten "Gebrauch". Eine "Benutzung", die die Sache nicht "in ihrem ganzen Umfange" gebraucht, läßt folglich etwas "übrig, was Eigentum eines anderen sein könnte".152 Hegels ususfructus-(Nießbrauch-)Begriff, der das Eigentum durch den "ganzen Gebrauch" defIniert und davon einen "teilweisen oder temporären Gebrauch" oder Besitz unterscheidet,153 läßt die Nutzung öffentlicher Güter als temporären oder partiellen Gebrauch des allgemeinen Eigentums oder Vermögens 147 Hegel (I) Zusatz zu § 236.
148 Hegel (I) § 241; in der Nachschrift von 1824/25 kommen noch hinzu: "Schulen" (Hegel (VI) S. 606), "Pockenimpfung" (Hegel (VI) S. 603) und "Rechts- und Gesundheitsschutz" (Hegel (VI) S. 606). 149 Hegel (VI) S. 595.
150 Smith (I) 5. Buch, 1. Kap., 3. Teil, 1. Abschnitt, S. 612ff.; daß das im Prinzip Smiths Katalog ist, siehe auch schon 1806 bei Sartorius S. 176. 151 Hegel (IV) S. 167. 152 Hegel (I) § 61. 153 Hegel (I) § 62.
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charakterisieren, und folglich die Polizei als ein Institut, das diese Güter bereitstellt, da auf sie faktisch niemand privaten Eigentumsanspruch erheben kann, weil er sie allein nicht vollständig nutzen könnte. Rechtslogisch hat der Markt dort, wo er die freie Eigentumsdisposition durch Konkurs oder Arbeitslosigkeit aufgibt, seine Kompetenz für den "ganzen Gebrauch" des "allgemeinen Vermögens" verloren, so daß andere Institutionen dieses Recht durchsetzen müssen und dürfen. Die öffentlichen Güter sind von vornherein auf die Kompensation von Marktversagen ausgelegt. Darin geht Hegel mit Smith konform. Aber der "gemeinschaftliche Gebrauch" ist bei Hegel auch mit einer nicht-privaten Erstellung verbunden, während Smith in seiner Detaillierung des Konzeptes der "publiek works" durchaus davon ausgeht, daß viele der öffentlichen Aufgaben durch private Unternehmer ausgeführt werden sollten. Diese scheinbar leichte Verschiebung zeigt, daß die funktionale Differenzierung von Privat- und öffentlichen Gütern bei Smith eine Reduktion, bei Hegel dagegen eine Installation und Stabilisation des dritten Standes, der Beamtenschaft, begrÜDdenläßt. Die allgemeine Deflnition der öffentlichen Güter in Hegels § 235 als "Mittel und Veranstaltungen ( ... ) für gemeinschaftlichen Gebrauch,,154 findet sich in fast derselben Diktion bei J.B.Say: "Die Bedürfnisse der Menschen sind nicht bloß auf solche eingeschränkt, die jeder Einzelne für sich oder in seiner Familie, oder in einer freywillig ausgewählten Gesellschaft befriedigen kann. Es gibt viele Bedürfnisse, die nicht anders als durch eine gemeinschaftliche Consumtion befriedigt werden können, d. h.: so, daß alle Personen, welche zusammen eine politische Corporation ausmachen, zugleich consumiren. Dergleichen Consumtion nenne ich eine öffentliche Consumtion" .155 Die politische Corporation Says wird bei Hegel (später) zur "Gemeinde", die vornehmlich öffentliche Güter herstellt;156 unterhalb der politischen Ebene übernimmt auf der anderen Seite die "Korporation" Aufgaben der Kollektivgüterproduktion. Dieser Schritt ist bemerkenswert. Was in den frühen Nachschriften bis zur Rechtsphilosophie von 1821 selbst allein und ausschließlich "Genossenschaft und Korporation" hieß,157 nimmt in der Erweiterung auf "Gemeinden" bzw. "Kommunen" - E.Gans nennt sie 1828/29 in Er154 Heget (I) § 235. 155 Say Bd. 11 S. 226.
156 Heget (VI) S. 621. 157 Heget (III) S. 202.
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gänzung und Interpretation Hegels "die höhere Korporation,,158 - einen anderen Charakter an: Die Korporation ist nicht mehr die versittlichende und ordnungspolitische Institution der Gewerbe-Selbstverwaltung, sondern eine verwaltungsrechtliche Instanz, in der die Kommune oder Gemeinde - als "ein kleiner Staat,,159- die Rechtsgewalt innehat und u.a. jetzt darüber entscheidet, ob innerhalb ihres Verwaltungskreises Korporationen, d. h. Zünfte, zugelassen werden sollen. l60 Diese Verschiebung der Aufgabenkompetenz der Herstellung öffentlicher Güter von der Polizei auf die Kommunen hängt damit zusammen, daß die Polizei kein Selbstverwaltungsorgan ist, sondern eine staatliche Exekutive, die vom dritten Stand erfüllt wird. In seiner Theorie der sittlichen Institutionen geht es Hegel nicht allein darum, daß der allgemeine Zweck realisiert wird, sondern das Prädikat "sittlich" verfügt eine bewußte Teilnahme der Individuen, so daß die Polizei in diesem engeren Sinne als vor-sittliche Institution, die keiner Anerkennung, sondern nur der Befolgung bedarf - durch solche ersetzt werden muß, die die sittliche Teilnahme gewährleisten: wirtschaftlich durch die Korporationen und politisch durch die Gemeinden. Logisch muß die Produktion öffentlicher Güter dann den Kommunen zufallen, denn die Korporationen haben einen anderen Allgemeinzweck - sie sollen die "Subsistenz der Individuen" sichern. 161 Der Wandel, der sich anzeigt, ist politischer Art. Der Polizei werden die öffentlichen Güter entzogen und den Kommunen zugeteilt, die, anders als die Polizei, selber ein Selbstverwaltungskörper sind, so daß schließlich die Polizei, aus der Struktur dieser Argumentation, rein auf die Rechtssicherung verwiesen wird, während ihre ehemaligen ökonomischen Aufgaben ganz an die nunmehr verdoppelten Selbstverwaltungskörperschaften fallen: an die Korporation und an die Gemeinden. Indem die Gemeinde einen Teil der Polizeiaufgaben übernimmt, nähert sie sich wieder - in Maßen - der politeia, aus der die Aufklärung die Polizei entlassen hatte.
158 Gans (11) S. 122.
159 Heget (VI) S. 621; siehe ebenso: Gans (11) S. 122. 160 Heget (VI) S. 621f. 161 . Heget (VI) S. 621.
5.4.2 Die öffentlichen Güter (11) Von W. Ver Eecke ist Hegel als ein früher Protagonist der modernen ökonomischen Theorie öffentlicher Güter identifiziert worden, der die Produktion von öffentlichen Gütern aus dem Marktversagen herleitet. 162 "Aus Hegels Sicht muß das ökonomische System, wie wir sahen, drei Güter liefern. Es muß diejenigen Güter und Leistungen beschaffen, die für die Befriedigung der Bedürfnisse (needs) nötig sind. Es muß die Möglichkeit schaffen, durch Arbeit Anerkennung zu erlangen. Es muß schließlich die vorläufige Form (relative Form) der Gemeinschaftlichkeit (sodal integration) schaffen, die letztlich nur im Staat erreicht wird".163 Die öffentlichen Güter, die die Polizei zusätzlich zu den privaten bereitstellt, werden mit den staatlichen Leistungen insgesamt identisch gesetzt. Ohne eine Theorie der öffentlichen Bedürfnisse aber sind die öffentlichen Güter vom Staat zwangsweise bereitgestellte meritorische. Folglich ist Hegel für Ver Eecke der logische Protagonist der Theorie meritorischer Güter .164 Doch sind die verschiedenen Voraussetzungen beider Konzepte zu beachten.
162 "The market mechanism, by overlooking extemalities, does not charge the full social cost of a product with undesirable extemalities, and does not pay the full social be ne fit for a product with positive extemalities. Contemporaty economic theoty argues that extemalities are a source of market inefficiencies. Such market inefficiencies leave room for improvement by govemment intervention. It is possible to argue that Hegel tried in an imperfect way to formulate the problem of public goods and extemalities under the title 'Police'. The public good's argument for govemmental help in the economic order can be formulated to include all areas of economic activity where there is a market failure. The argument would allow the govemment the opinion of choosing the best method of dealing with such inefficiencies. These methods could include setting up state monopolies (guaranteeing money supply), creating public utilities (gas or electric companies), producing itself the service (water supply), or creating legal obligations (imposition of pollution standards). The general a~ment for govemment intervention in the case of market failure is implicitly present in Hegel s thought. (...) Hegel's reflection upon the free market provide an illuminating understanding of the merit good problem." (Ver Becke S. 153 und S. 155). 163 .. Ver Becke S. 155 (eigene Ubersetzung); mit Bezug auf M. Olson Jr., P.A. Samuelson, J.G. Head. RA. Musgrave und Ch.E. McLure Jr. 164 Ver Becke S. 155f.
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Die moderne ökonomische Theorie öffentlicher Güter, methodisch auf das Prinzip individueller Entscheidung zwischen privaten und öffentlichen Gütern gestellt, operiert mit der Annahme, daß nur solche Güter öffentlich bereitgestellt werden, die von den Individuen im Prinzip präferiert, vom Markt aber nicht zur Verfügung gestellt werden. Die Öffentlichkeit bzw. der Staat erscheint als ein Kompensator einer spezifischen Fehlallokation des Marktes. Seine Legitimation erhält er aus dem Umstand, daß er im Prinzip vorhandene, aber nicht zur Geltung gelangende Präferenzen bedient. Die Produktion öffentlicher Güter wird hier, wenn wir sie aus der HegeIschen Perspektive betrachten, als eine gesellschaftliche Aufgabe verstanden, die nur dann vom Staat übernommen werden kann, wenn die bürgerliche Gesellschaft sie nicht zustandebringt. Sie kann die Produktion öffentlicher Güter aber gar nicht zustandebringen, da sie als Gesellschaft bürgerlicher Individuen kein gemeinschaftliches Bewußtsein besitzt. Folglich bedarf es besonderer Institutionen - der Polizei, der Korporation, der Gemeinde - , um die Gemeinschaftsbedürfnisse zu bedienen. Der meritorische Charakter der Polizei gilt für Zustände, in denen es eines gemeinschaftlichen bzw. "sittlichen" Bewußtseins ermangelt. Erst Korporation und Gemeinde sind Institutionen, die aufgrund freier Anerkennung ihrer gemeinschaftlichen Aufgabe die Bedingungen der Freiheit und der gemeinschaftlichen Verpflichtung zugleich erfüllen. In diesem Sinne kann es bei Hegel keine rein positive Theorie öffentlicher Güter geben, denn die Befriedigung öffentlicher Bedürfnisse ist nicht allein an die Geltung individueller Präferenzen auf öffentliche Güter gebunden, sondern vordringlich an die Existenz eines sittlichen Bewußtseins, aus dem allein die freie Einsicht in die Notwendigkeit dieser gemeinschaftlichen Art der Bedürfnisbefriedigung erwächst. Ver Eeckes Analogie verfehlt die HegeIschen Intentionen, weil sie auf diese Differenz nicht achtet. Die drei "öffentlichen Güter" - Bedarfsdeckung für alle, Selbstbewußtsein durch Arbeit und soziale Integration165 _, die Ver Eecke zu beschaffen dem Staat zur Aufgabe macht,l66 sind keine homogenen ökonomischen Güter, sondern eine Mischung von Rechts- und moralischen
165 "Satisfaction of human needs for all, possibility of self·recognition for all through work, and preliminary integration of individuals into social order." (Ver Eecke S. 157, Fn. 125). 166 "The govemment has the task of making the economic order reach the three goals it is supposed to meet. Hegel did not see how it was possible to do so successfully, but that did not prevent him from assigning the task to society and the state. " (Ver Eecke S. 157).
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Gütern: a) die sichere Bedarfsdeckung für alle ist das Rechtsgut auf Subsistenz, b) Selbstbewußtsein - Ehre und Anerkennung, ergo Würde - durch Arbeit ist ein Tugendgut: eine Verbindung von personaler Identität und Respektabilität, und c) soziale Integration ist ein sittliches Gut, das für Hegel allerdings inhaltsleer bleibt, wenn nicht auf den zitierten Nexus von Versorgungsrecht und Arbeitspflicht abgezielt wird. Wenn Ver Eecke die staatliche Produktion öffentlicher Güter bei Hegel als "Realisation der menschlichen Freiheit" 167 beschreibt, faßt er sie - wie J.M. Buchanan168- als moralische Güter in modernem Sinne, die - nach Effizienzkriterien bemessen - den Vorteil der "Stabilität" bringen.169 Im Prinzip wird hier der Nutzen fester Normen in der Senkung der Informationskosten beschrieben. Die Vereinbarungen, die die Menschen im Buchananschen Modell treffen, sind jene Normen (Konventionen), an die sie sich gemeinsam halten wollen zum Zweck der längerfristigen Optimierung ihrer Nutzen. Der "konventionelle Vertrag" regelt die Verfassungs- oder Grundrechte, der "postkonventionelle Vertrag" die Tauschvorgänge (Privatverträge) bzw. die Erstellung öffentlicher Güter. 170 Die Wahl der richtigen Verfassungen bestimmt über das Möglichkeitsspektrum effizienter postkonventioneller Vertragsgestaltung. Das Verfahren der Wahl von Verträgen ist dem der Wahl von öffentlichen Gütern gleich. Der Nutzen besteht in der für die "Entscheidungssphäre des einzelnen ( ...) vorhersehbare(n) Ordnung, Sicherheit und Stabilität,,~71 d. h. in einer "Verläßlichkeit der wechselseitigen Verhaltenserwartungen. Sie stellt im Zusammenleben der Menschen ein so hohes Gut dar, daß es alle anderen punktuell erzielbaren Vorteile überragt. ( ... ) Verhaltensbeschränkungen sind also die Investition, durch die jene Handlungsmöglichkeiten erweitert werden, die von den Menschen stärker präferiert werden. Oder anders gesagt: Die Vereinbarung weniger kostenträchtiger Handlungsbeschränkungen zum Zweck der Erweiterung höhergeschätzt~r Handlungs-
167 Ver Eecke S. 157. 168 Buchanan (I). Ver Eecke verweist auf S. 68-70 in Buchanans Werk (Ver Eecke S. 157, Fn.I24). 169 Zur Interpretation der "Iaws and institutions" bei Smith als öffentliche Güter: Buchanan (11). 170 Buchanan (I) S. 44.
171 Buchanan (I) S. 179.
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möglichkeiten ist das Modell" .172 Buchanan spricht in diesem Zusammenhang von einer "Kapitalguteigenschaft der Moral". 173 Diese Formulierung weist auf die Funktion der strategischen Klugheit, die die Fähigkeit umschreibt, insofern moralisch zu handeln, als man den möglichen Gegenwartsnutzen für einen höheren Zukunftsnutzen "investiert". Buchanans Versuch, ethische Normen der kollektiven Selbstbindung als öffentliche Güter zu behandeln,174 entspricht der älteren englischen Tradition der Moralphilosophie - einschließlich A. Smiths175 -, Sittlichkeit als Zunahme von Vertragssicherheit zu interpretieren. Dieses Moment der Ordnungszunahme - eine Art von zivilisatorischer Entropie - ist auch in Hegels Begriff der Sittlichkeit enthalten, aber auf die Prozeßgeschichte der Emanation des "Geistes", nicht auf die der "spontanen Ordnung" bezogen. Die schottische Moralphilosophie des 18.Jahrhunderts - Hume, Ferguson, Smith u.a.m. - "unterstellte, daß in bestimmten Zusammenhängen sozialer Interaktion spontane Kräfte wirken können, die, wie durch eine 'unsichtbare Hand', eine Korrespondenz zwischen konstitutionellen und willfährigen Interessen herstellen. Diese Konzeption beleuchtet die 'nicht-intentionalen' Unterschiede zwischen zwei Arten von Interesse. Sie vermutet, daß die Zwänge, die es rational machen, konstitutionell gewählten Regeln zuzustimmen, letztlich in gewisser Hinsicht ein unbeabsichtigtes, aber systematisches Nebenprodukt derjenigen Handlungen sind, die Personen im Streben nach ihren unmittelbaren Interessen tätigen, ohne in irgend einer Hinsicht ihre konstitutionellen Präferenzen zu beachten" .176 172 Homann/Suchanek S. 114f. Siehe auch bei D.C. North: "Wirksame moralische bzw. ethische Normen einer Gesellschaft sind das Bindemittel der sozialen Stabilität, die ein Wirtschaftsystem funktionsfähig macht" (North S. 48). 173 Buchanan (I) Kap. 7. Anstelle des "Konsums" freier individueller Nutzenmaximierung erbringt die "Investition" in moralisch-normative Restriktionen einen höheren Gesamtnutzen. 174 Siehe auch: McKenzie; "Ethical rule can make behavior among people within a group more predictable, and in this respect ethics is characteristicallysimiliar to the law. Knowing that others have agreed, implicitly or explicitly, to behave in certain ways, individuals can save on resources which would otherwise be used to determine how others will react to one 's own behavior, and to various circumstances. Tbe more generally accepted the rules are, the more efficiently an individual can move among and interact with others. Further, if people agree to refrain from such modes of behavior as lying, cheating, and stealing, the individual can save additional resources by not having to protect his property. Tbe need for govemmentally provided police protection, and the implied coercive power, is correspondingly reduced." (McKenzie S. 208). 175 Siehe dazu: Buchanan (11); kritisch: Winch S. 94ff. 176 VanbergIBuchanan S. 142.
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Insofern konnte Hegel Smiths "system of natural liberty" als ein gesellschaftliches Modell auffassen, das Verfassung und Normen im Verlauf des Prozesses mitbildet. Die Smithsche Gesellschaft läßt insofern ihre Mitglieder Erfahrungen des wirtschaftlichen Verhaltens machen, aber enthält kein (bewußtseins-)bildendes Moment, das für Hegel die Basis erstellt für eine "allgemeine Sittlichkeit" als jener "rechte(n) Gesinnung, bei der der Staat bestehen kann". Im Vergleich mit der Antike, betont Hegel, fehle der Moderne die "Gesinnung als Prinzip": "Platon in seiner Republik setzt alles auf die Regierung und macht die Gesinnung zum Prinzip, weshalb es denn das Hauptgewicht auf die Erziehung legt. ganz dem entgegengesetzt ist die moderne Theorie, welche alles dem individuellen Willen anheimstellt. Dabei ist aber keine garantie, daß dieser Wille auch die rechte Gesinnung habe, bei der der Staat bestehen kann".I77 Die Bildung von Staatsgesinnung oder "Staatsräson,,178 müsse gewährleistet sein. Sie ist, nach dem antiken Muster, die höchste Tugend. Wenn Hegel an der Smithschen Marktwirtschaftsinstitution kritisch vermerkt, daß sie nur Reichtum (und dessen Negation: Armut), also nur Werte und Produkte bzw. deren Mangel produziere, besteht er dagegen darauf, daß die wahren, sittlichen Institutionen der Gesellschaft Produkte und Tugenden hervorzubringen hätten. Das ist der signifIkante Unterschied: daß die Wahl der Institutionen selber an die Voraussetzungen der Sittlichkeit geknüpft ist. Die EffIzienz von gesellschaftlichen Institutionen ist bei Hegel keineswegs ausgeschlossen, aber das "Vernünftige" der Normen mißt sich nicht primär an der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten, sondern vorerst und unbedingt an der gelungenen vernünftigen Vermittlung von ökonomischer und sittlicher Anforderung, die Hegel sachlich nennt: "Wenn ich das Vernünftige will, so handle ich nicht als partikulares Individuum, sondern nach den Begriffen der Sittlichkeit überhaupt: in einer sittlichen Handlung mache ich nicht mich selbst, sondern die Sache geltend".179 In Fortsetzung desselben Zitates stellt Hegel unwillkürlich den Zusammenhang zu den öffentlichen Gütern wieder her, wenn er davon spricht, daß
177 Hege! (IX) S. 531. 178 Hege! (IX) S. 522.
179 Hege! (I) Zusatz zu § 15.
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"das Vernünftige ( ... ) die Landstraße (ist), wo jeder geht, wo niemand sich auszeichnet" . Auf der Landstraße der Vernunft kann jeder gehen, von ihrer Nutzung ist niemand ausgeschlossen. Doch die Landstraße als öffentliches Gut der Polizei ist vielmehr das Bereitstellen einer "allgemeinen Möglichkeit" als Voraussetzung für "die Erreichung der individuellen Zwecke",180 nicht aber schon die Verwirklichung der sittlichen Vernunft selbst. Die staatswirtschaftlichen öffentlichen Güter, deren Liste bei Hegel wir im vorherigen Kapitel vorgestellt hatten, sind lediglich Sekundäreffekte der Produktion des primären öffentlichen Gutes der allgemeinen Sittlichkeit selbst: der Landstraße der Vernunft. Daran schließt sich noch ein weiteres Problem. Der Rousseausche-naturrechtliche Sozialvertrag aggregiert die Willen der einzelnen zu einem Willen aller, aber nimmt keine besondere Rücksicht auf die immer schon geltenden, historisch etablierten Sitten. Die Erwartungen, die die Lebenspläne der Individuen geformt haben, werden aus der Perspektive der neuen Handlungsmöglichkeiten unterbewertet. Eine neue Norm kann diese "lokalen Übereinkünfte der ( ...) Ausgangssituation,,181 abschneiden. Die von der neuen Norm geformten "moralischen Einsichten müßten für die Praxis in der Tat folgenlos bleiben, wenn sie sich nicht auf die Schubkraft von Motiven und auf die anerkannte soziale Geltung von Institutionen stützen könnten".182 Hegels Begriff der Sittlichkeit fordert keine abstrakte universale Moral, sondern die Vermittlung bestehender Normen und Institutionen mit den im Kontingenzraum der Marktwirtschaft sich ständig verändernden subjektiven Präferenzen. Zwischen bekannten, erwartungsstabilen Handlungsordnungen und neuen Handlungsmöglichkeiten fördert die Sittlichkeit eine nicht-kontingente Handlungsgesinnung, die die Übergänge vom Bewährten zum Neuen nicht zu einem riskanten Spiel ausufern läßt. Deshalb bekommt bei Hegel das sittliche Bewußtsein seine hohe Bedeutung: es ist das Selbstbewußtsein des freien Bürgers, das vernünftig auf seine Verhältnisse reflektiert. Nur eine relativerwartungsstabilisierte bürgerliche Gesellschaft kann der individuellen Handlungsfreiheit einen Raum geben, der die bürgerliche Exis180 Hegel (I) Zusatz zu § 15. 181 Habermas S. 16. 182 Habermas S. 28.
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tenz nicht wegen der "Zufälligkeiten" der Handlungsbedingungen aufs Spiel setzt. Hegels Analyse bewegt sich im geschichtlichen Transformationsfeld der alten gesellschaftlichen Welt in die moderne. Wenn er das "reell Allgemeine" verwirklicht sehen will, ist damit immer aufbewahrt, daß alle Lebensformen ihre Geltung beanspruchen dürfen: die älteren handlungsstabileren ebenso wie die neueren innovativen. Die sittliche Grenze liegt dort, wo die neueren Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft die älteren ausselektieren, ohne daß deren Betreiber schon in der neuen Handlungswelt gebildet genug wären, um darin selbstständig und selbstbewußt ihre Existenz zu behaupten. Die Würde, selbstbewußt aus seiner Arbeit sein Einkommen zu beziehen, erfordert eine Tugend-Bildung neuer Art, die die kollektiven Normen nicht nur in der Wahl der Institutionen gewinnen, sondern vornehmlich in der Bildung der Gesellschaftsmitglieder. Bildung ist schließlich jene Kompetenz, nicht nur den Normen blind zu folgen, weil man ihren Sanktionen entgehen will, sondern innerhalb ihrer sich freiso bewegen zu können wie im Orientierungsraum der alten Sitten und Konventionen. In der heterogenen Übergangswelt vom 18. ins 19. Jahrhundert sind alle Lebens- und Handlungsformen in ihrer je konkreten "Besonderheit" einzubeziehen - gegen den abstrakten Totalitarismus der "natürlichen" Interessen Smiths et al. Erst diese entelechische Formbestimmung der "sittlichen Allgemeinheit" erschliesst die Hegelsche Behauptung, daß es "höchste Pflicht" sei, Mitglied des Staates zu sein.183 Denn nur unter der Voraussetzung, die abstrakte Universalbestimmung, Staatsbürger zu sein, in eine reelle Bestimmung dieses Status' zu verwandeln, kann von einer Gesinnung die Rede sein, die im Prinzip schon immer weiß, worauf hin sie das Handeln ausbildet. Die moderne Staatsgesinnungs-Tugend ist bei Hegel eine proleptische Haltung, die das je konkrete individuelle Tun unter die Reflektion einer bereits vorausgesetzten Allgemeinbestimmung stellt. Wenn wir diese Voraussetzungen machen, können wir Hegels "allgemeine Sittlichkeit" allerdings nicht mehr unter die moderne Rubrik der öffentlichen Güter ziehen, auch dann nicht, wenn die Normengenese selber als Prozeß der Erstellung eines öffentlichen Gutes begriffen wird. Denn es fehlt ein Entscheidendes: Die "sittliche Allgemeinheit" als öffentliches Gut zu begrei183 Hegel (I) § 258.
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Kontingenz und Sicherheit
fen, wäre für Hegel nur zulässig im Rahmen einer ethischen Gütertheorie, die die ökonomischen Güter als notwendige Kuppelgüter eines weiter dimensionierten Produktionsprozesses verstünde, in der die wirtschaftliche Unabhängigkeit zugleich die Ausbildung der ethischen Tugend - als habituelle Voraussetzung, unabhängig zu sein und zu bleiben - einschlösse. l84 Wenn es "höchste Pflicht" ist, Mitglied des Staates zu sein, kann das Recht der Freiheit nur "konkrete Freiheit"l85 sein: d. h. die Freiheit eines mitarbeitenden Staatsbürgers. Insofern wäre die neue Wirtschaftsform der bürgerlichen Gesellschaft einer abstrakten, schlechten Freiheit verpflichtet, wenn sie keine Vollbeschäftigung ermögliche, d. h. wenn nicht jeder Bürger ko-operieren kann. Die Kooperation ist weder als nur moralisch-gesinnungs ethische noch als nur auf die materiellen Erfolge gerichtete, sondern als "vernünftige" bestimmt, in der gesicherter Erfolg und Tugend bzw. "Stabilität" und "Würde,,186 eine Einheit bilden. Das aber ist in der "theory of institutional choice" nicht beabsichtigt. Wenn J.M. Buchanan Adam Smith gegen moderne ökonomische Interpretationen darin in Schutz nimmt, daß Smith "the well-being of a society ( ... ) as a function of its basic laws and institutions" 187 betrachtet habe, konstatiert er eine enge Verbindung von rechtlicher Voraussetzung und freier Marktallokation: "Law is antecedent to market co-ordination, to the economic activity of agents, to the working of Adam Smith's invisible hand. For those 'laws and institutions' which render private holdings secure against both external and internal agression and invasion, which enforce the performances of contracts, and which facilitate trade, Smith's treatment is wholly consistent with modern public good analysis". Worin Smith sich allerdings unterscheide, sei die Analyse einiger &artikularer Gesetze, die eher "public bads" als "public goods" darstellten, 1 d. h. eine Analyse der rationalen Wahl von "laws and institutions". Was Buchanan an Smith für die Analyse des Verhältnisses von Ökonomie und Recht wiederzugewinnen versucht, ist bei Hegel der "bürgerlichen Gesellschaft" längst koinzidiert. Ihm geht es aber nicht um die optimale 184 Oder, genauer (und in aristotelischen Begriffen), die Einheit der Tugenden als die gemeinschaftliche Ausbildung der dianoetischen (der Klugheit des wirtschaftlichen HandeIns, sein Interesse durchzusetzen) und der ethischen Tugenden zu verstehen. 185 Hegel (I) § 260. 186 Hösle S. 142. 187 Buchanan (11) S. 274. 188 Buchanan (11) S. 277.
Öffentliche Güter (Il)
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Wahl des Rechtes und der öffentlichen Institutionen, sondern um die Ausweitung nicht nur des Eigentumsrechtes, sondern der faktischen Anerkennung und Behandlung aller Gesellschaftsmitglieder als Eigentümer (einzig die Beamten, mit besonderen Gründen, ausgenommen). Hegels Alternative zur Smithschen "natural liberty" ist ohne Rekurs auf die ständische, korporative Wirtschaftsverfassung nicht vollständig zu erfassen.189 Die korporative Wirtschaftsverfassung ist der Versuch, die Autonomie der bürgerlichen Person nicht nur formell als rechtliche, sondern materiell als Verwirklichungs anspruch dieses Rechtes neu zu fassen. Das setzt voraus, den Begriff der "natural liberty" in einen anderen: der vernüftigen Freiheit umgesetzt zu haben.
189) Siehe Abschnitt 7 dieses Buches.
5.4.3 Das Versagen der Armenpolizei Wenn wir uns Hegels Anmerkungen zum Angebot-Nachfrage-Ungleichgewicht als Ursache der Arbeitslosigkeit ansehen, fmden wir in § 245 der Rechtsphilosophie die Quintessenz nicht nur der Ökonomik, sondern auch der Armenpolitik, wie der sozialpolitische Komplex damals allgemein hieß. Anders als in der frühen Verfassung Deutschlands, wo Hegel die Armenfrage durch Stiftungen und Spenden der bürgerlichen Gesellschaft selbst fürsorglich reguliert sah, 190 wird in der Rechtsphilosophie von 1821 die neue Armen politik erörtert, d. h. die staatlichen bzw. polizeilichen Maßnahmen, die allenthalben vorgeschlagen wurden, um das Pauper-Problem zu lösen. Hegels neuer Standpunkt ist durch eine ökonomische Reflektion gekennzeichnet: die sozialpolitischen Handlungen werden ebenso auf ihre moralischen Effekte wie auf ihre Allokationsfolgen geprüft. Der berühmte Paragraph lautet: "Wird der reicheren Klasse die direkte Last aufgelegt (über eine Armensteuer; B.P.), oder es wären in anderem öffentlichen Eigentum (reichen Hospitälern, Stiftungen, Klöstern) die direkten Mittel vorhanden, die der Armut zugehende Masse auf dem Stande einer ordentlichen Lebensweise zu erhalten, so würde die Subsistenz der Bedürftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der bürgerli-
190 "Die großen Summen, welche jährlich in einem großen Staat für die Armut verwendet werden, und die hierauf gehenden Einrichtungen von weitem Umfange, die durch alle Teile des Landes durchgreifen, werden nicht durch Auflagen, die der Staat angeordnet hätte, bestritten, noch auf seine Befehle die ganze Anstalt erhalten und geführt. Die Masse von Besitz und Einkünften, die hierher gehört, beruht auf Stiftungen und Gaben einzelner, so wie die ganze Anstalt, ihre Verwaltung und Betätigung ohne Abhängigkeit von der höchsten Staatsgewalt istj wie der größte Teil der inneren gesellschaftlichen Einrichtungen durch freies Tun der Bürger für jeden bestimmten Umfang von Bedürfnis sich gemacht hat und ihre Dauer und Leben sich mit eben dieser von keiner Eifersucht oder Ängstlichkeit der obersten Gewalt gestörten Freiheit erhält, nur daß die Regierung teils sie schützt, teils das üppige Auswachsen eines solchen Teils, wodurch er andere notwendige Teile unterdrücken würde, beschränkt." (Hegel (VIII) S.480 f.) Die Unabhängigkeit der Armen-Stiftungen durch eigenen, rentenfähigen Grundbesitz, neben den Spenden reicher GesellschaftsmitgIieder, läßt 1800/02 eine staatliche Armenpolizei als unnötig erscheinen. Die bürgerliche Gesellschaft ist in der Lage, ihr Armenproblem noch zu regeln. Auf jeden Fall garantiert die Einkommensunabhängigkeit der Stiftungen eine Marktneutralität der bürgerlichen Sozialfürsorge.
Versagen der Armenpolizei
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chen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre wäre; oder sie würde durch Arbeit (durch Gelegenheit dazu) vermittelt, so würde die Menge der Produktionen vermehrt, in deren Überfluß und dem Mang~l der verhältnismäßigen selbst produktiven Konsumenten gerade das Ubel besteht, das auf beide Weisen sich nun vergrößert. Es kommt darin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich gen~g ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt